Bourdieu und Luhmann: ein Theorienvergleich 351829296X, 9783518292969

Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann stellen für die Soziologie die beiden anregendsten Denker der jüngeren Vergangenheit

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German Pages 274 [273] Year 2004

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Table of contents :
Armin Nassehi und Gerd Nollmann
Einleitung: Wozu ein Theorienvergleich? 7

Erste Abteilung: Theoriekonstruktion und Theorieästhetik

Georg Kneer
Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorienvergleich 25

Christine Weinbach
... und gemeinsam zeugen sie geistige Kinder: Erotische Phantasien um Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu 57

Irmhild Saake
Theorien der Empirie. Zur Spiegelbildlichkeit der Bourdieuschen Theorie der Praxis und der Luhmannschen Systemtheorie 85

Gerd Nollmann
Luhmann, Bourdieu und die Soziologie des Sinnverstehens. Zur Theorie und Empirie sozial geregelten Verstehens 118

Armin Nassehi
Sozialer Sinn 155

Zweite Abteilung: Diagnosen

Ursula Pasero
Frauen und Männer im Fadenkreuz von Habitus und funktionaler Differenzierung 191

Anja Weiß
Unterschiede, die einen Unterschied machen. Klassenlagen in den Theorien von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann 208

Markus Schwer
Zwischen Engagement und Distanzierung. Zeitdiagnose und Kritik bei Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann 233

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 271
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Bourdieu und Luhmann: ein Theorienvergleich
 351829296X, 9783518292969

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Bourdieu und Luhmann Ein Theorienvergleich Herausgegeben von Armin Nassehi und Gerd Nollmann

Suhrkamp

Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann stellen für die Soziologie die beiden anregendsten Denker der jüngeren Vergangenheit dar. Dabei sind sie offensichtlich mit höchst unterschiedlichen Arbeitsweisen an ihren Gegenstand herangetreten. Bourdieu erwa gilt als Klassiker der Ungleichheitsforschung, während Luhmann Ungleichheit stiefmütterlich behandelte. Luhmann war ein begeisterter Begriffsarbeiter, während Bourdieu die Ausarbeitung eines Kategoriengebäudes als Abfallprodukt seiner empirischen Arbeit ansah. Die Beiträge dieses Bandes loten die vielfältigen Konvergenzen und Divergenzen in den Arbeiten der beiden Theoretiker aus, mit dem Ziel, zu. einer wechselseitigen Erhellung ihrer Werke zu führen. Armin Nassehi, geboren 1960, ist Professor für Soziologie an der Universität München. Im Suhrkamp Verlag ist erschienen: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft (2003, srw 1636). Gerd Nollmann, geboren 1967, ist wissenschafclicher Assistent für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie http://dnb.ddb.de suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1696 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004 Erste Auflage 2004 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schrifdiche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und RolfScaudt Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 3-518-29296-x

Inhalt Armin Nassehi und Gerd Nollmann Einleitung: Wozu ein Theorienvergleich?

7

Erste Abteilung: Theoriekonsuuktion und Theorieästhetik

Georg Kneer Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorienvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Christine Weinbach ... und gemeinsam zeugen sie geistige Kinder: Erotische Phantasien um Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu

57

lrmhild Saake Theorien der Empirie. Zur Spiegelbildlichkeit der Bourdieuschen Theorie der Praxis und der Luhmannschen Systemtheorie .....................

85

Gerd Nollmann Luhmann, Bourdieu und die Soziologie des Sinnverstehens. Zur Theorie und Empirie sozial geregelten Verstehens

n8

Armin Nassehi Sozialer Sinn

155

Zweite Abteilung: Diagnosen

Ursula Pasero Frauen und Männer im Fadenkreuz von Habitus und funktionaler Differenzierung

191

Anja Weiß Unterschiede, die einen Unterschied machen. Klassenlagen in den Theorien von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann

208

Markus Schroer Zwischen Engagement und Distanzierung. Zeitdiagnose und Kritik bei Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann

233

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

271

Armin Nassehi und Gerd Nollmann Einleitung: Wozu ein Theorienvergleich?

Wahrscheinlich hätte es beiden nicht gefallen. Weder Pierre Bourdieu noch Niklas Luhmann haben ihre soziologische Arbeit des Begriffs und am Begriff als Klassikerrekonstruktion oder theorienvergleichend aufgebaut. Und beide haben sich von jener merkwürdigen Textsorte fern gehalten, die einen Großteil der theoretischen Debatten der Soziologie ausmacht: Vergleiche über Theoriekonstruktionen anzustellen, detailreiche Konsistenzprüfungen vorzunehmen oder sich den lehrbuchstabilisierten Unterscheidungen unseres Faches zu unteIWerfen. Die mangelnde Qualität vieler Theorie-Lehrbücher geht exakt auf diese Form der »Theorie«-Arbeit zurück, deren Konflikte sich in jenen komplementären Begrifflichkeiten einrichten, die sie selbst erschaffen. Nun kann man das selbstverständlich als eine Entwicklung ansehen, die die Soziologie auf dem Weg zur »Normalwissenschaft« macht - wenn schon nicht in einem monoparadigmatischen Sinne, dann wenigstens integriert durch komplementäre Begriffsbildung mit intern stabilisierten Selbstverständlichkeiten. Die soziologische Alltagskommunikation weiß dann immer schon, was System- von Handlungstheorien unterscheidet, wie man objektivistisch oder eher subjektivistisch argumentiert, was ein Mikro- und was ein Makrophänomen oder was eine Struktur- und was eine Akteurstheorie ist, was nur Empirie und schon Theorie ist oder was nur Theorie und schon Empirie. Gerade an der neueren Theorieproduktion der Soziologie kann man dann beobachten, dass sich nicht mehr die Lehrbücher mit ihren didaktisch eingelebten Ordnungsvorschriften der Theoriearbeit anpassen, sondern diese jenen. Man denke nur an das Lieblingsspiel, Akteurs- und Systemtheorien zu versöhnen und zu ergänzen - und wir verzichten auf Literaturangaben, weil es nicht um die Diagnose von Despektierlichem geht, denn diese Debatten werden auf hohem Niveau geführt, nur eben allzu nah an den eingeführten Unterscheidungen. Nicht mehr ganz so genau lässt übrigens sich sagen, wo die Affirmation anfängt und wo diese schon kritisch ist - aber das liegt nur daran, dass man mit der Soziologie nicht mehr in der Weise po7

litisch-öffentlich überraschen kann, wie dies möglich (und offensichclich nötig) war, als die Soziologie ihre öffentliche Blütezeit erlebte. An diese Stelle wird in der veröffentlichten Meinung wahrscheinlich bald eine »kritische Genetik«, eine »demokratische Biopolitik« oder Vergleichbares treten. Dass das Textgenre des Theorienvergleichs, insbesondere in Qualifikationsarbeiten des Faches beliebt, dennoch so gut funktioniert, ist kein Widerspruch. Hier hat sich vielmehr ein Fach eingerichtet, das sich theoretische Debatten früherer Tage nicht mehr leisten muss, weil es bis zur Gesichtslosigkeit erfolgreich geworden ist. Wie die Soziologie mit der Gesellschaft hat diese mit ihrer Soziologie zu leben gelernt (vgl. Baecker 2004). Dass damit freilich auch Freiheitsgrade für die Soziologie entstehen, ist evident. Dass die Soziologie der letzten beiden Generat.ionen stärker dem politischen Koordinatensystem folgte und die internen Unterscheidungen sich diesem Koordinatensystem gegenüber als allzu irritierbar dargestellt haben, hat viele der soziologie-internen Konflikclinien stabiler aussehen lassen, als sie bei näherem Hinsehen dann wirklich sein konnten. Theoriedebatten können unter diesen Bedingungen erheblich produktiver stattfinden, weil man die ausgetretenen Pfade der lehrbuchhaften Basis- und Lieblingsunterscheidungen unseres Faches unterlaufen kann. Vor diesem Hintergrund bietet sich eine vergleichende Betrachtung der Werke von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann in dreifacher Weise an. Zum einen ist beiden gemein, dass sie sich den fachüblichen Dichotomien explizit zu entziehen versuchen. Zum anderen werden sie von weitem sicher als Protagonisten zweier Soziologien angesehen, die gemäß den Lieblingsunterscheidungen unseres Faches kaum weiter auseinander liegen könnten. Und schließlich fallen beide dadurch auf, dass sie sich gegenseitig so gut wie gar nicht zur Kenntnis nehmen - so kommt Bourdieu bei Luhmann letztlich nur als Reflex auf Begriffe vor, z.B. auf »distinction« (vgl. Luhmann 1997, S. I105) oder mit einem ironischen Hinweis auf »Bourdivinisten« (Luhmann 1995, S. 35) als Experten für die Dechiffrierung unpassender Kommunikation. Und auf den Stimulus »Luhmann« respondiert Bourdieu in einem Interview nur mit den üblichen Sehimpfvokabeln der späten Kritik an Parsons: Funktionalismus, Organizismus (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 134). 8

Ohne Zweifel hat diese Art wechselseitiger Ignoranz auch etwas damit zu tun, dass sich der Stil der beiden Soziologien radikal voneinander unterscheidet. So gilt Luhmann als distanzierter Beobachter, der die üblichen akademischen Bedürfnisse nach Kritik und lebensweldicher Anschlussfähigkeit, nach politischer Lokalisierbarkeit und praktischer Umsetzung so wenig bedient, dass es schon fast den Anschein hat, als sei exakt das der Horizont seines Denkens. Einen Zyniker hat man ihn oft gescholten - und wenn man der philosophischen Überlieferung über die Kyniker Glauben schenken darf, trifft dieser Vorwurf insofern, als sich bei Luhmann wie beiAntisthenes dessen.Wunsch nach Bedürfnislosigkeit und Unabhängigkeit mit körperlicher und geistiger Askese paart. Das Provozierende an Luhmanns Habitus jedenfalls war der gleichzeitig bescheidene und selbstbewusste Gestus. Bourdieu dagegen ist öffentlich als Kämpfer aufgetreten, bisweilen ganz und gar ohne Distanz. Er hat sich als Kritiker stilisiert, als politischer Intellektueller. Seine ganze Theorie atmet den Geist der Kritik an Distinktions- und Ausgrenzungstechniken, und er benutzt das gesamte Arsenal jener »Schimpfworte der Modeme« (Kieserling 2000), um sich zu positionieren. Aber auch Bourdieus Position ist damit nicht wirklich angemessen beschrieben. In dem erheblich zentralistischer und hierarchischer gebauten Hochschulsystem Frankreichs und in dem dem öffentlichen Intellektuellen erheblich aufgeschlosseneren Umfeld vor allem der französischen Hauptstadt hat Bourdieu eine Doppelrolle gespielt: Er war zugleich Inhaber einer der machtvollsten und zentralsten Positionen, die das französische Hochschulsystem einem Soziologen verleihen konnte - und zugleich der ätzendste Kritiker solcher Positionen; er war einer der bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen - und zugleich ein schonungsloser Analytiker solcher öffentlich wirksamen, machtvollen Sprecherpositionen. Wiewohl also Luhmann und Bourdieu im Hinblick auf ihre öffentliche Sichtbarkeit sowie bezüglich ihres wissenschaftlichen Habitus und ihrer Textsorten kaum unterschiedlicher sein könnten, treffen sie sich doch darin, dass beide eine eigentümlich selbstreflexive Position einnehmen. Was bei Bourdieu die Selbsterforschung, der soziologische »Selbstversuch« (Bourdieu 2002) ist, ist bei Luhmann die ironische Distanzierung - und beide schließen damit ein, was sie selbst tun. Vielleicht macht dies eine innere Verwandtschaft 9

der beiden Werke aus, die wir als eine Suche nach blinden Flecken und nach den Bedingungen eigener Möglichkeiten bezeichnen wollen. »In die Soziologie tritt nur ein, wer die Bande und Verhaftungen löst, die ihn gemeinhin an eine Gruppe binden, wer den Glaubensüberzeugungen abschwört, die unabdingbar sind, um dazuzugehören, wer jegliche Mitgliedschaft oder Abstammung verleugnet.« (Bourdieu 1985) Dieser Satz entstammt der Antrittsvorlesung, die Bourdieu am College de France am 23. April 1982 gehalten hat. Bourdieu trat hier nicht primär als jemand auf, der sein Publikum belehren wollte - das auch; er trat aber vor allem als jemand auf, der sein Publikum darüber belehrte, was ihn in die Lage versetzt, zu belehren. So sehr der zitierte Satz im ersten Moment an Karl Mannheims Figur der »freischwebenden Intelligenz« erinnert, deren epistemologisches Privileg darin besteht, der Seinsgebundenheit des Denkens wenigstens zeirweise entfliehen zu können, so sehr ist Bourdieus gesamtes soziologisches Werk durchdrungen von der Idee einer radikalen Gebundenheit jeglicher Praxis an ihren sozialen Ort, ihre soziale Formierung und ihren sozialen Sinn. Und es ist ein Werk, das zugleich mit entlarvendem Gestus seinen Gegenständen einen Spiegel vorhält und diese ihrer »illusio« ansichtig werden lässt. Die »illusio« erwa des wissenschaftlichen Feldes besteht für Bourdieu in dem Glauben, es sei so, wie es erscheint: als interesseloses Interesse an der Wahrheit, als Glaube an die Wahrheitsfähigkeit wissenschaftlicher Praxis und im Vertrauen auf die prinzipiell mögliche Objektivität des Erkennens. So wäre die »illusio« des Religiösen der Glaube an den Glauben, die des Politischen die Idee der Repräsentation und des Interessenausgleichs und die der Massenmedien die Absicht der getreuen Berichterstattung. Wenn all diese Felder nur so erscheinen, wie sind sie dann tatsächlich? Bourdieus Grundfrage lautet: »Was steckt hinter jenen Praxisformen und ihren kulturellen Selbstbeschreibungen?« Und seine Anrwort heißt: »Eine Ökonomie« - wohlgemerkt: nicht die Ökonomie. Bourdieus Materialismus fragt nicht wie der klassische Materialismus, wie sich die ökonomische Ökonomie, also Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, auf den überbaulichen Rest der Gesellschaft auswirkt. Bourdieus Materialismus ist erheblich radikaler: Er fragt ausdrücklich nach der Ökonomie solcher Praxisfelder, die gesellschaftlich nicht als ökonomische Felder anerkannt sind. Vielleicht macht diese Theoriekonstruktion den intellektuelIO

Jen Reiz Bourdieus aus. Es wird auf den klassischen linken Ökonomismus verzichtet, indem auch das Nicht-Ökonomische jeweils für sich ökonomisch erklärt wird. Es wird aber nicht auf den kritischen Gestus verzichtet und ebenso wenig auf die entlarvende Potenz jener »schrägen« Beschreibungen, die alle gesellschaftliche Praxis letztlich zum Gerangel um knappe Güter degradiert und alle Meistererzählungen der gesellschaftlichen Felder allenfalls als funktional stabilisierende »illusiones« will gelten lassen. Die Ökonomie des wissenschaftlichen Feldes besteht folgerichtig für Bourdieu nicht in einer irgendwie unterstellten Abhängigkeit des Wissenschaftlers von ökonomischen Rahmenbedingungen und seiner Konformität mit den Verhältnissen, sondern darin, dass die wissenschaftliche Praxis selbst ökonomisch wird. Es geht um den Kampf um wissenschaftliches Kapital, um Zugang zu Positionen, um das Ringen um knappe Ressourcen und Definitionsmacht, um Investitionsgewinne wissenschaftlicher Transaktionen, die in wissenschaftlicher Währung ausgezahlt werden: Reputation, Prestige und Position. Analog dazu hat Bourdieu ähnliche Beschreibungen anderer Felder angefertigt, also die Ökonomie der Politik, der Religion, der Kunst, der Bildung und der Medien beschrieben und darin überall dasselbe Muster aufgedeckt. Diese Felder sind Kräftefelder, in denen es um Kämpfe um die Bewahrung und Veränderung ihrer Kräfteverhältnisse geht und in denen - wie in jeder Ökonomie - die Kapitalien ungleich verteilt und nur dank ihrer Knappheit von hohem Wert sind. Dass Bourdieu diese Kapitalökonomien nicht auf ökonomisches Kapital beschränkt, sondern um kulturelle, soziale und symbolische Kapitalsorten ergänzt, ändert nichts an der ökonomischen Perspektive - im Gegenteil: Es erlaubt erst die Generalisierung der ökonomischen Begriffsarchitektur und die Respezifizierung dieser abstracta auf konkrete empirische Fälle. Und lange hat Bourdieu gezögert, auch das ökonomische Feld zu behandeln, denn wie sollte eine verfremdende Beschreibung der Ökonomie mit ökonomischen Begriffen auch möglich sein? Aber selbst in der Ökonomie gelingt es Bourdieu, eine »illusio« vorzufinden, die die eigentliche Ökonomie des Feldes verdeckt. So spottet Bourdieu treffend über den Finalismus ökonomistischer Handlungstheorien rationalen Entscheidens, deren Idee des nutzenmaximierenden Subjekts nur eine nützliche »illusio« darstelle, die die Formierung eben dieses II

Entscheidertyps durch den Markt und sein Kampffeld hervorbringe. Auch der Markt, der sich selbst als Ergebnis individueller Präferenzbildung beschreibe, bringt erst jenen lndividualicätstyp hervor, von dem her er sich erklärt - wie die Religion erst den Sünder erzeugt, den sie erlöse, die Kunst erst jene Innerlichkeit hervorbringt, als deren Entäußerung sie erscheine, oder die Wissenschaft die Figur des Genies erfindet, der sie Erkenntnisforcschricc zuschreibe. Als »Ausgeburt des Feldes« bezeichnet Bourdieu das Individuum, dessen Verhalten in einem Habitus zum Ausdruck komme, der die sozialen Verhältnisse inkorporiert hat. Der Habitus ist zwar das soziale Apriori, nicht aber bloße Voraussetzung, sondern auch Resultat jener Praxis, als deren Voraussetzung er erscheine. Bourdieu mache Unterschiedliches vergleichbar, mache seinen Begriffsapparat für fase alle gesellschaftlichen Gegenstände anwendbar und lässt damit eine Theoriekonscrukcion entstehen, die· weit mehr beinhalcec, als der kokettierende »Theoretiker wider Willen« einräumte, und die Bourdieu zu einem ebenbürtigen Partner ähnlicher Theoriekonscrukcionen mache, die sich - auch nach den großen Theoriedebaccen um die Konsolidierung der Soziologie als eigenständiger Disziplin - nicht mir begrifflichem Ad-hoc-Gebrauch zufrieden geben. Die Generalisierung der soziologischen Nomenklatur mittels einer ökonomischen Semantik erlaubt es Bourdieu, Wissenschaft, Politik, Religion, Kunst, Bildung und Medien als relativ eigensinnige und eigenlogische Felder zu betrachten. Darin ähnelt die Theorieanlage auf erstaunliche Weise der Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns. Diese ist ästhetisch ähnlich aufgebaut: Die hochgradige Generalisierung von Begriffen erlaubt eine Respezifikacion in unterschiedlichsten empirischen Feldern. Und ähnlich wie Luhmann den Funktionssystemen operative Autonomie und eine interne rekursive Anschlussfähigkeit zuschreibt, betont Bourdieu die logische Autonomie der sozialen Felder, deren jeweilige »Ökonomie« je eigenen Regeln und Logiken folge. Es wäre nun fahrlässig, die Gemeinsamkeiten der beiden Theorieanlagen zu übertreiben, aber wie Bourdieu ist es auch Luhmann darum zu tun, die jeweiligen Bedingungen von Praxis auf den Begriff zu bringen und zwar diejenigen Bedingungen, die sich dem Zugriff der Praxis selbst entziehen. Wie Bourdieu mit der Figur der »illusio« und eines dem Handelnden selbst nicht verfügbaren Habitus den blinden 12

Fleck der Felder aufzeigt, so betont auch Luhmann den blinden Fleck allen operativen Geschehens darin, dass geschieht, was geschieht, und dass jeweilige Gegenwarten für sich selbst letztlich intransparent bleiben müssen. Es wird sich im Einzelnen zeigen müssen, inwieweit hier tatsäGhlich ähnliche Theorieformen vorliegen - und genaueres Hinsehen wird die Ähnlichkeiten erheblich skeptischer beurteilen. Auf gleicher Augenhöhe freilich begegnen sich die beiden Theorien dort, wo beide ihren Gegenstand vollständig dynamisieren - der eine löst ihn in Praxis auf, der andere in Operationen. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns, des 1998 verstorbenen Bielefelder Soziologen, ist stets als Gegenpol zur kritischen Theorie und ihrer zum akademischen Normalzustand gewordenen Variationen aufgetreten, als die andere Seite, die sich den Bedürfnissen der kritischen Benennbarkeit der Welt, der lebensweldichen Verankerung der Kritik im Lebensgefühl ihrer Generation und der Umsetzbarkeit des theoretischen Gedankens in politisierbare Sätze stets verweigert hat. Sie kam stets eigentümlich verfremdend daher, kaum übersetzbar in die Sprachspiele des politischen Alltags, merkwürdig steril und doch nicht ohne ästhetische Attraktivität. Luhmann hat stets mit dieser Verweigerung gespielt und noch die üblichen Verdächtigungen stets ironisch in ihr Gegenteil zu verkehren vermocht. Und der Verdächtigungen waren viele: Konservatismus und unkritischer Geist, Fortsetzung des subjektphilosophischen Erbes und affirmativer Funktionalismus, für den - wenn schon nicht das Wirkliche das Wahre - das Mögliche doch das Plausibelste blieb. Heute freilich scheint die Systemtheorie eine neue Attraktivität - vor allem in der jüngeren akademischen Generation - zu entfalten, die man nur teilweise mit dem Vergessen jener zeitbedingten Konstellation der letzten Soziologengeneration erklären kann. Das Besondere der Systemtheorie scheint zu sein, dass sie die Verwobenheit ihrer selbst mit ihrem Gegenstand, diese Paradoxie des Enthaltenseins in ihrem Gegenüber, auf die Spitze treibt und alle Versuche früherer SoziologieVersionen fahren lässt, diese Paradoxie irgendwie aufzuheben - als Objektivität der Erkenntnis, als frei schwebende Intelligenz, als Kritik oder als Verankerung in einer wie auch immer historisch und theoretisch heruntergebrochenen Vernunfr. Der Gestus der Systemtheorie erwirbt sich seine theoretischen Freiheitsgrade gerade dadurch, dass er ohne Netz und doppelten Boden arbeitet. Wie die 13

Theorie nicht einmal den Anschein machen will, etwas anderes als eine selbsttragende, selbstreferentielle, sich selbst ermöglichende Konstruktion zu sein, mutet sie dies auch ihrem Gegenstand zu. Gesellschaft ist aus dieser Perspektive weder die Summe aller Menschen oder ihrer Beziehungen zueinander noch eine wie auch immer geartete stabile Struktur, sondern nichts anderes als ein sich selbst ermöglichender, sich selbst reproduzierender, ereignishafter Zusammenhang von Kommunikationen. Eine der schönsten Zumutungen Luhmanns lautet: »Menschen können nicht kommunizieren. Nicht einmal das Bewußtsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.« Dieser offenkundige Antihumanismus, dieser Spott gegen das Selbstbewusstsein des modernen Subjekts, das in der Tradition der Modeme der einzige Garant für Gewissheit zu sein schien, wird hier ironisch radikalisiert. Gesellschaft wird vorgestellt als ein komplexer Zusammenhang von Kommunikationsprozessen, der jene Sprecher, Subjekte, Individualitäten erst erzeugt, von denen wir vor kurzem noch gedacht haben, sie seien die Schöpfer jener Kommunikationsprozesse. Man wird die heutige Attraktivität dieser Art soziologischer Theorie nicht erschließen können, wenn man sie nicht in dem intellektuellen Kontext beobachtet, in dem sie für die jüngere Generation erscheint, die ihre wissenschaftliche Sozialisation nicht mehr im Gestus der Kritik genossen hat, sondern mit den Dezentrierungen, Dekonstruktionen und Paradoxien groß geworden ist, die vor allem das neuere französische Denken mit Foucau!t, Derrida und mit der Postmoderne für diese Generation zur selbstverständlichen Denkfigur hat werden lassen. Wiewohl es nicht diese Wurzeln sind, auf die sich die Systemtheorie stützt - das sind eher die amerikanische Kybernetik, die General Systems Theory oder die Kognitionswissenschaft -, radikalisiert die Systemtheorie doch exakt jene Denkfiguren. Wie die poststrukturalistische Zeichentheorie auf die radikale Immanenz alles Bezeichnens hinweist, auf die unhintergehbare Gefangenschaft allen Sprechens in der Sprache und auf die Unbenennbarkeit der Welt außerhalb von Benennungen, so verweist die systemtheoretische Kommunikationstheorie darauf, dass Kommunikationsprozesse geschlossene Systeme bleiben, aus denen auszubrechen nur wieder Kommunikation hervorbringt. So wie wir aus der Literaturwissenschaft längst wissen, dass die Intention eines Autors, selbst wenn er sie mitteilt, eben nur eine Mitteilung ist, also 14

wiederum Text, so kommt auch die Intervention eines Individuums im kommunikativen Geschehen der Gesellschaft nicht unmittelbar vor, sondern nur als Kommunikation, die von weiteren Kommunikationen abhängig ist. Das Attraktive an solchei;i Theorien der Geschlossenheit ist es wohl, das Signum jener Epoche auf den Begriff zu bringen, dem die historische Einsamkeit, das Selbsttragende, das Aushalten des regressus ad infinitum ohne göttliche, vernünftige oder natürliche Ankerplätze bis in die Epochenbezeichnung eingeschrieben ist. Das Modeme ist stets das Neue des Alten. Es verweist auf Schöpfung ohne Schöpfer, aber eben doch stets auf Neuschöpfung. Vielleicht bringt das das Lebensgefühl einer Generation auf den Begriff, die in Paradoxien, Dissonanzen und Zusammenbrüchen, in der Erwartung des Unerwartbaren jene Struktur entdeckt, die nur auf Geschlossenheit verweist. Die Modeme ist also kein Projekt mehr, sondern nur noch ein historisches Produkt. Gesellschaft ist dann nur noch die Gesamtheit aller Kommunikationen. Und indem Luhmann Kommunikation nicht an irgendwelche höherstufigen Erfolgsbedingungen wie Verständigung, Informationsübertragung oder wirkliches Verstehen bindet, bietet er einen Begriff an, der der empirischen Vielfalt des Kommunikationsgeschehens eher gerecht wird. Wer jemals an einem Gespräch wahrgenommen hat, wie sich das Gespräch nur dadurch fortpflanzt, dass weiter kommuniziert wird, weiß, wovon die Rede ist. Und wer je genau beobachtet, wie noch die einvernehmlichste Verständigung nur eine kommunikative Konstruktion ist, die dem Negationsrisiko weiterer Kommunikation ausgesetzt bleibt, wird keine Schwierigkeiten mehr haben, die Eigenlogik der Kommunikation anzuerkennen. Und selbst wer sagt, was er oder sie wirklich denkt, muss exakt dies tun: es sagen. In der Kommunikation wird nur dadurch verstanden, dass die Kommunikation kontinuiert. Erst so kommt der autopoietische Kommunikationsverlauf zustande, der sich immer neu rekursiv auf sich selbst bezieht. Der Fluch der Kommunikation ist, dass sie immer weitergeht, nie zu einem eigenen Ende kommen kann. Sie kann natürlich enden, aber nie aus eigener Kraft, weder durch erzielten Konsens oder letzten Dissens, weder durch erschöpfende Behandlung eines Themas, noch durch sonstige Erfüllung. Und wenn ein Ende von Kommunikationsprozessen in der Kommunikation vorkommt, dann eben nur, indem es wiederum kom15

muniziert wird, was das Ende hinauszögert, weil Kommunikation anschließt, also verstanden hat. Denn: Es muss verstanden werden, also weitergehen, und deshalb taugt gerade Kommunikation nicht als Medium der Versöhnung und Verständigung, gar als Vehikel der Erlösung und der Übereinstimmung. Luhmanns Denken kreist wie das von Bourdieu um die Grundfigur, dass es kein Entkommen gibt - kein Entkommen aus der Kommunikation, das nicht selbst wieder Kommunikation wäre, keine Leugnung der Praxis, die keine praktische Leugnung wäre, keine Opposition gegen die »illusio«, die nicht ihre eigene »illusio« bräuchte, keine Visibilisierung des blinden Flecks, die nicht selbst wieder einen blinden Fleck produzierte. Wir insistieren auf dieser sehr abstrakten Ähnlichkeit, weil sich in ihr jene Grundintuition konkretisiert, die die beiden Denker geradezu dazu zwingt, sich selbst, die eigenen Operationen, die eigene Praxis in ihre Theorie einzubauen. In diesem Sinne sind beide Theorien eminent empirische Angelegenheiten, weil sie letztlich mit einer methodisch kontrollierten Selbstbeobachtung arbeiten, die sich an sich selbst konkretisiert. Indem Bourdieu seine eigene Sprecherposition zum Thema macht und indem Luhmann seine eigene Theoriearbeit als Kommunikation eines Funktionssystems beschreibt, machen beide empirisch darauf aufmerksam, dass es tatsächlich kein Entrinnen gibt - und damit auch keinen Grund und keinen Anlass für die wirklich großen Gesten, wie wir sie aus wohlfeileren Zeitdiagnosen kennen, mit denen die Soziologie öffentlich reüssiert. Insofern erweist sich Bourdieus Position als die eines illusiomlosen Illusionisten und die Luhmanns als eines distanzierten Ironikers - beides ästhetische Figuren, die auf den Selbsteinschluss und die paradoxe Position als Gegenstand und Gegenstandsbeschreibung durch Dynamisierung des Gegenstandes (und der Beschreibung) reagieren. Vielleicht rührt diese Dynamisierung des soziologischen Gegenstandes bei beiden daher, dass sie ihr Werk jeweils im Horizont von Vorgängertheorien schreiben, zu deren Markenzeichen eher die Betonung von Stabilität und Struktur gehört. Bei Bourdieu ist dies die Abkehr von der Top-down-Logik der strukturalen Anthropologie Levi-Strauss', der er nichts weniger vorwirft als eine Verwechslung ihres widerspruchsfreien Modells der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst. Bei Luhmann ist es die Abkehr von den rein analytischen functional prerequisites der Parsonsschen Systemtheorie, deren 16

Hypostasierung eines feststehenden Sets von notwendigen Funktionen die Struktur sozialer Systeme immer schon voraussetzt. Nun reagieren beide Kritiken nicht mit einer prinzipiellen Abkehr vom Strukturalismus oder von der Systemtheorie. Vielmehr - und darin ähneln sich die theorieästhetischen Strategien - radikalisieren beide die Anliegen der Altvorderen und entziehen sich damit den fachinternen Erwartbarkeiten. So reagiert Bourdieus Kritik des Strukturalismus gerade nicht mit der erwartbaren Strategie, gegen die Struktur mit der Behauptung individueller Autonomie oder Ähnlichem zu kontern. Vielmehr verlege Bourdieu mit seinem Habituskonzept die Struktur selbst in den Akteur und seine Aktionen hinein und macht sich damit empfänglich für den Praxisaspekt der Reproduktion der Struktur. Die Struktur ist dann etwas, das sich praktisch bewähren muss, verändern kann und dynamisiert wird, aber dennoch als Struktur wirke. Analog zu dieser strukturalistischen Kritik des Strukturalismus findet sich bei Luhmann eine systemtheoretische Kritik der Systemtheorie. Auch hier wird nicht der Systemgedanke aufgegeben, sondern dadurch radikalisiert, dass die Struktur eines Systems nicht extern vorausgesetzt wird, sondern als Effekt der Systembildung selbst konzipiert wird. So weit die konkreten Soziologien der beiden Denker auch immer auseinander sein mögen, und so wenig das auch immer registriert werden mag, so frappierend ist doch die gemeinsame Anfangsbedingung ihres theoretischen Arbeitens. Beide haben, wie wir meinen, eine generationsrypisch ähnliche Erfahrung gemacht. Ihre normalwissenschaftliche Potenz haben die Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts letztlich durch Überwindung jener skeptischen ersten Generation zur Wende des 19. zum 20. Jahrhundert erfahren, für die Modernität noch eher eine merkwürdige Verlusterfahrung war. Nun aber schien man - im strukturalistischen Sinne-einen Algorithmus in der Hand zu haben, die Funktionsweise großer integrierter gesellschaftlicher Gebilde verstehen und in sie eingreifen zu können. Und im strukturfunktionalistischen Sinne fiel die Idee ultrastabiler Bestandserhaltung letztlich mit dem Selbstverständnis jener »Gesellschaften« zusammen, die zwar an Differenzierung laborierten und mit Pluralität umgehen konnten, sich aber sozialwissenschaftlich immer noch mit Allgemeinheitschiffren versorgen ließen. Die Sozialwissenschaften haben darauf mit radikaler Kritik reagiert - gegen Strukturalismus und Strukturfunktionalismus wur17

den der Charme der Kritik und die Attraktivität des individuellen Akteurs entdeckt, was in der Soziologie etwa mit dem fast völligen Verschwinden jenes Mainstreams Parsonsscher Provenienz zusammenfiel, der letztlich eine strategische Leerstelle hinterlassen hat. Anders freilich als die kritische Theorie oder die hermeneutische Wende in der Soziologie zeichnet Bourdieu und Luhmann aus, dass sie die offenkundigen Probleme des »Strukturdenkens« der ParsonsLevi-Strauss-Generation anders lösen wollten - mit einer Reformulierung des Strukturalismus und der Systemtheorie, wie unterschiedlich die Lösungen im Einzelnen auch immer aussahen. Unsere Frage also: Wozu ein Theorienvergleich? lässt sich so beantworten, dass in den Werken Pierre Bourdieus und Niklas Luhmanns zwei Soziologien aufeinander treffen, deren Ausgangspunkt durchaus ähnlich ist - und zwar nicht im Hinblick auf die üblichen lehrbuchstabilisierten Lieblingsunterscheidungen unseres Faches, sondern im Hinblick auf einen theoretischen Blick, der sich exakt mit diesen Lieblingsunterscheidungen nicht zufrieden gibt. Vor diesem Hintergrund können die beiden offenkundig unterschiedlichen Soziologien als Beispiele einer Form der Auseinandersetzung gelesen werden, die stark an der Theoriekonstruktion ansetzt und den Selbsteinschluss in den Gegenstand explizit reflektiert. Ein Vergleich der Werke der beiden Protagonisten legt zwei Vergleichsgesichtspunkte nahe, die sich zwar nicht völlig trennscharf differenzieren lassen, aber in den Beiträgen dieses Bandes als zwei mögliche Blickrichtungen deutlich werden. Die eine Hälfte der Beiträge geht eher von Theoriekonstruktionen, theorieästhetischen Figuren und grundbegrifflichen Vorentscheidungen aus, während die andere den Fokus zunächst auf unterschiedliche oder ähnliche Diagnosen scharf stellt, die sich aus den beiden Werken ergeben oder die mit ihnen erzielt werden können. Der eher theoriekonstruktive Block beginnt mit Georg Kneer., begriffstechnischem Vergleich der Felder- bzw. Differenzierungstheorie. Dieser Beitrag nimmt eine vergleichende Betrachtung der Differenzierungstheorien von Luhmann und Bourdieu vor und befragt sie entlang bestimmter Vergleichsgesichtspunkte aufldentitäten und Differenzen. Kneer interessiert sich gleichermaßen für die Konvergenzen und Divergenzen der beiden Differenzierungskonzeptionen. Im Anschluss an seine allgemeine Positionsbestimmung 18

von Luhmann und Bourdieu innerhalb der differenzierungstheoretischen Tradition geht Kneer ausführlich auf die system- bzw. feldtheoretische Klassifikation der modernen Differenzierungsordnung em. Wie der erste Beitrag mit dem Feld- und dem Differenzierungsbegriff zwei Grundkonzepte der beiden Theorien konfrontiert, kombiniert Christine Weinbach die Figuren der Person (Luhmann) und des Habitus (Bourdieu). Ihre These lautet, dass sich beide Figuren wechselseitig gut ergänzen. Zu diesem Zweck unternimmt sie eine Reformulierung des Habitusbegriffs aus der Sicht der Luhmannschen Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation. Der Habitus ist für Weinbach die andere, von Bewusstseinssystemen wahrnehmbare Seite der Form Person, die selbst wiederum einen Aspekt von Kommunikation darstellt. Mit Hilfe dieser Kombination will Weinbach die Wirksamkeit der Geschlechterdifferenz mit Blick auf die lnteraktionsebene in der funktional differenzierten Gesellschaft aufzeigen. Einen anderen Weg beschreitet Irmhild Saake. Sie setzt nicht an komplementären Begriffen an, sondern wählt als Vergleichsgesichtspunkt den Befund der Beobachterabhängigkeit der Beobachtung. Sie demonstriert, dass beide Theorien ähnliche Probleme damit haben, das Phänomen der empirischen Einschränkung von Kontingenz als theoretische Einsicht zu vermitteln. Wenn man Bourdieus Theorie als »Theorie des Eingeborenseins« liest und Luhmanns Theorie als »Theorie des Gedächtnisses«, wird als Gemeinsamkeit beider Ansätze das Interesse an der empirischen Bewährung standortgebundener Perspektiven sichtbar. Bourdieus Kritik am scholastischen Blick entschlüsselt sich so als Parteinahme für den authentischen Sprecher, wogegen sich mit Luhmanns Systembegriff auch noch die Kritik am scholastischen Blick radikalisieren lässt: Als Befund der Beobachterabhängigkeit auch der empirischen Beobachtung. Saakes Interpretation beider Ansätze als spiegelbildliche Annäherung an das gleiche Problem ermöglicht eine neue Lesart dieser beiden »Theorien der Empirie«. Auch bei Gerd Nollmann geht es um die Frage des Verhältnisses der beiden Theorien zu empirischer Forschung. Er beleuchtet den Begriff des Sinnverstehens und die Betrachtung sozialer Konflikte bei Luhmann und Bourdieu und plädiert dafür, beide Werke nicht als Konkurrenten zu betrachten, sondern als hilfreiche Beiträge zu 19

dem von Weber formulierten Anspruch, sinnhaftes Verhalten generalisierend zu erklären. Bourdieu nähert sich diesem Ziel mir einer explorativen Ethnographie Frankreichs, die sowohl sinnfremde Bedingungen menschlichen Verhaltens, etwa als kausaler Einfluss von sozialer Herkunft und klassenspezifischem Lebensverlauf, betrachtet als auch mit hermeneutischer Feinfühligkeit herausarbeitet, wie incergeneracionale Kontinuicäten in den einzelnen sozialen Beziehungen als subjektive Begründung eigenen Verhaltens erscheinen. Luhmann hat demgegenüber den Begriff des Sinnverscehens mit Befunden der Attributionsforschung verbunden. Er formuliert seine gegenstandsbezogenen Aussagen weitaus zurückhaltender als Bourdieu, aber durchaus so, dass daraus prüfbare Hypothesen für die empirische Forschung formuliert werden können. Armin Nassehi schließlich mache zunächst auf die praxistheoretischen Gemeinsamkeiten der beiden Theorien bzw. auf ihre operativen Theorieanlagen aufmerksam. Er zeigt, wie beide Theorien die üblichen Dichotomien der fachlichen Selbstbeschreibung der Soziologie unterlaufen. Zugleich wird als entscheidender Unterschied der beiden Soziologien herausgearbeitet, dass bei Bourdieu die Logik der Praxis erheblich enger gebaut ist als bei Luhmann, da Bourdieu lerzclich fase ausschließlich den sozialen Sinn als Movens gesellschaftlicher Dynamiken gelten lässt, während bei Luhmann eine breitere Anwendung unterschiedlicher Sinndimensionen wenigstens angelegt ist. Mit diesem Beitrag wird die erste Abteilung beschlossen. Die eher diagnostischen und gegenstandsbezogenen Auseinandersetzungen beginnen mit der Abhandlung von Ursula Pasero, in der die Äußerungen von Luhmann und Bourdieu zur Geschlechterfrage miteinander konfrontiert werden. Gerade hier scheine sich ein tiefer Graben zwischen inkommensurablen Sichtweisen auf die moderne Gesellschaft aufzutun. Luhmann betont die nur abgeleitete, sekundäre Rolle von Geschlecht hinter dem weltweit durchgesetzten Primat funktionaler Differenzierung. Demgegenüber habe Bourdieu mit unmissverständlicher Schärfe das ausgedrückt, was, so Pasero, heute zum Common Sense der Frauen- und Geschlechterforschung gehöre: die Annahme einer strikten Asymmetrie des Geschlechterarrangements, die eine zeitstabile, hierarchische Ordnung entstehen lässt. Pasero tastet beide Positionen gegeneinander ab und kommt zu dem allerdings nur als Hypothese für weitere Forschung 20

anzusehenden Schluss, dass der von Luhmann vorgelegte Kategorienapparat für die adäquate Beschreibung,jüngerer Tendenzen im Geschlechterverhältnis eine größere Offenheit und Eignung aufweist. Hat bereits die Thematisierung des Geschlechterverhältnisses das Problem sozialer Ungleichheiten im Blick, nehmen die letzten beiden Beiträge soziale Ungleichheit bzw. Phänomene der Exklusion und Ausgrenzung grundsätzlicher in den Blick. Zunächst ist es Anja Weiß, die Luhmanns und Bourdieus Verständnis von sozialer Ungleichheit einer vergleichenden Analyse unterzieht. Bourdieu, so Weiß, spricht zwar von Klassen, betont jedoch, dass es sich um »Klassen auf dem Papier« handele, die die Soziologie aus der Verteilung mehrerer Kapitalsorten rekonstruiert und die nicht notwendig in soziale Klassenbildung münden müssen. Heute sei umstritten, ob trotz einer Vielzahl sozialer Ungleichheiten noch soziale Lagen bzw. in sich konsistente Klassenlagen erkennbar sind. Ist man jedoch der Ansicht, dass zumindest eine Rekonstruktion von »Klassen auf dem Papier« möglich sein solle, so sei immer noch die Frage offen, ob soziale Ungleichheit als die primäre Strukturdimension moderner Gesellschaften angesehen werden soll. Gerade die letzte Frage werde von Luhmann und Bourdieu auf entgegengesetzte Weise beantwortet. Luhmanns gesamte Theoriebildung hebt darauf ab, ein Primat funktionaler Differenzierung in der heutigen Weltgesellschaft zu begründen. Demgegenüber hat Bourdieu wesentliche Teile seines Lebenswerks darauf verwandt, eine Klassenstruktur des sozialen Raumes selbst dort nachzuweisen, wo nicht einmal der aufgeklärte Beobachter sie vermutet hätte. Gleichwohl finden Bourdieu und Luhmann aber auch zumindest komplementäre Antworten zu bestimmten Problembereichen. Sie ersetzen die eindimensionale Sichtweise auf Produktionsverhältnisse und Klassenstrukturen durch eine Vielzahl von Ungleichheiten, die je nach den Feldern und Teilsystemen Unterschiedliches bedeuten. Markus Schroer schließlich widmet seinen Beitrag dem Zeitdiagnoseverständnis und Kritikbegriff in den Theorien von Bourdieu und Luhmann. Dabei geht es vor allem um die Thematisierung von Exklusion bzw. Ausgrenzung, die in beiden Fällen zu Irritationen geführt und neue Antworten provoziert habt. Während Luhmann fragt, ob sich Inklusion/Exklusion als neue Leitdifferenz vor die Logik funktionaler Differenzierung schiebt, bringt Bourdieu ein em21

pirisches Forschungsprojekt auf den Weg, das sich umfassend mit der Entstehung, dem Verlauf und den Folgen von Exklusion auseinander setzt. Anders als für Luhmann sind für Bourdieu vor allem politische Entscheidungen für Exklusion verantwortlich, die nur durch andere politische Entscheidungen korrigiert werden können. Trotz dieser im Detail unterschiedlichen Herangehensweisen, denen ein unterschiedliches Soziologieverständnis zugrunde liegt, halten am Ende beide in überraschender Übereinstimmung die Gefährdung der funktional differenzierten Gesellschaft für die entscheidende Herausforderung der Gegenwartsgesellschaft.

Literatur Baecker, D. (2004): Wozu Soziologie? Berlin. Bourdieu, P. (1985): Le1ron sur la le1ron, in: ders., Sozialer Raum und »Klassen«. Le1ron sur Ja le1ron. Zwei Vorlesungen, Frankfurc/M., S. 49-81. Bourdieu, P. (2002): Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurc/M. Bourdieu, P. / Wacquam, L. J. D. (1996): Reflexive Anthropologie, Frankfurc/M. Kieserling, A. (2000): Zwischen Wirtschaft und Kultur. Zum siebzigsten Geburtstag von Pierre Bourdieu, in: Soziale Systeme 6, S. 369-387. Luhmann, N. (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurc/M. Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurc/M.

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Erste Abteilung: Theoriekonstruktion und Theorieästhetik

Georg Kneer Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu Ein Theorienvergleich

Differenzierung gilt als ein Grundbegriff der Soziologie. Dabei meint der Terminus ein Doppeltes, er fungiert als Prozess- und Srrukturkategorie. Als Prozesskategorie bezeichnet der Begriff ein soziales Entwicklungsgeschehen, vorrangig den neuzeitlichen Umbau der Sozialordnung, der als Vorgang der Trennung bzw. Spezialisierung von Tätigkeiten, Institutionen und Handlungsbereichen begriffen wird. Als Strukturkategorie dient der Terminus zur Kennzeichnung einer charakteristischen Eigentümlichkeit sozialer Lebensverhältnisse unter den Bedingungen der Modernität. Aus dieser Sicht verfügt die moderne Gesellschaft über ein besonderes Ausmaß und bzw. oder einen spezifischen Typus sozialer Differenzierung. Wenn hier der Differenzierungsbegriff als basale soziologische Kategorie bezeichnet wird, dann soll damit nicht abgestritten werden, dass sich die Soziologie keineswegs zur Gänze auf eine differenzierungstheoretische Perspektive verständigt hat. Eine solche Sichtweise würde den mitunter deutlichen Einspruch übersehen, der gegen das Konzept vorgebracht worden ist. Dennoch dürfte es nicht falsch sein, dem Differenzierungsbegriff eine wichtige, wenn nicht maßgebliche Rolle innerhalb der sozial- und gesellschaftstheoretischen Diskussion zuzusprechen. Jedenfalls sind von den soziologischen Klassikern bis heute eine Vielzahl von Beschreibungen, Modellen und Erklärungsansätzen erarbeitet worden, die explizit oder implizit einen differenzierungstheoretischen Bezugsrahmen zugrunde legen. Insofern kann das Differenzierungskonzept auch nicht ausschließlich einem soziologischen Ansatz oder einer soziologischen Schule zugerechnet werden. Die Klassifikation des Differenzierungsbegriffs als grundlegende Kategorie der Soziologie soll somit auch einen Hinweis darauf geben, dass es sich hierbei um eine theorien- und schulenübergreifende Denkfigur handelt, die allerdings eine Vielfalt von unterschiedlichen, zuweilen äußerst disparaten Fassungen erfahren hat. Bei einer Aufzählung der einzelnen Richtungen und Ansätze, die 25

zur Ausarbeitung bzw. konzeptionellen Weiterführung differenzierungstheoretischer Überlegungen einen maßgeblichen Beitrag geleistet haben, dürften mit Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu auch die Namen der beiden soziologischen Denker nicht fehlen, die im Mittelpunkt dieses Bandes stehen. In Luhmanns Arbeiten kommt dem Differenzierungsbegriff, von seinen ersten Schriften bis hin zur Abfassung der ,reifen, Theorieversion, durchweg ein zentraler Stellenwert zu; dementsprechend stellt auch in der Auseinandersetzung mit der Theorie sozialer Systeme Luhmanns Differenzierungskonzeption einen ausgesprochenen Fokus dar (vgl. zuletzt Berger 2003; Schimank 2003). Dagegen konzentrierte sich die Rezeption von Bourdieus Schriften lange Zeit auf dessen Analysen von sozialer Ungleichheit, insbesondere auf seine Arbeiten zum Kapital- und Habitusbegriff. Damit wurde zunächst weitgehend ausgeblendet, dass sich auch Bourdieu, insbesondere im Rahmen seiner Theorie sozialer Felder, einer explizit differenzierungstheoretischen Perspektive bedient. Erst in den letzten Jahren hat man damit begonnen, diese Rezeptionslücke zu füllen und Bourdieus Theorie sozialer Differenzierung systematisch zu erschließen (vgl. Bohn/ Hahn 1999; Schimank/Volkmann 1999, S. 23 ff.; Kieserling 2000). Die folgenden Ausführungen sind an einer vergleichenden Betrachtung der Differenzierungstheorien von Luhmann und Bourdieu interessiert. Bei einem Vergleich handelt es sich um eine Beobachtungsoperation, die zwei Vergleichsobjekte entlang eines Vergleichsgesichtspunktes auf Identitäten und Differenzen hin befragt. Ein Theorienvergleich zielt somit auf die Explikation der Konvergenzen und Divergenzen von zwei oder mehreren Theorien. 1 Auf beides kommt es mir im Weiteren an. Dies sei ausdrücklich vermerkt, weil an anderer Stelle, insbesondere in den genannten Arbeiten zur Differenzierungstheorie von Bourdieu, den Übereinstimmungen ein größerer Stellenwert eingeräumt wird als den Unterschieden. Ferner sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der vorliegende Vergleich nur einige, allerdings für besonders relevant erachtete Teilstücke oder Ausschnitte von Luhmanns und Bour1

An dieser Stelle kann ich nicht näher auf die Voraussetzungen, Probleme und Ziele eines (sozialwissenschaftlichen) Theorienvergleiches eingehen. Eine methodische Reflexion hätte vor allem die Perspektivität und Koncextabhängigkeit einer komparativen Betrachtung zu reflektieren; vgl. hierzu ausführlicher Kneer (1999; 2003).

dieus Differenzierungstheorie thematisiert. Eine Vielzahl von Themen und Fragestellungen werden, aufgrund des vorgegebenen engen Rahmens, nur kurz gestreift oder bleiben ganz ausgespart; Letzteres gilt etwa für die Frage nach dem Verhältnis von Differenzierung und Integration oder der nach dem Zusammenhang von Differenzierung und personaler Individualisierung. Im Einzelnen sind die weiteren Ausführungen wie folgt gegliedert: Ausgehend von einer knappen Begriffserläuterung wird eine erste Positionsbestimmung der Ansätze von Luhmann und Bourdieu innerhalb der differenzierungstheoretischen Tradition unternommen (1). Anschließend gehe ich näher auf die system- bzw. feldtheoretische Klassifikation von Differenzierungsordnungen ein (II). Danach werden Luhmanns und Bourdieus Analysen von Funktionssystemen bzw. Teilfeldern der modernen Sozialordnung vergleichend thematisiert (III). Am Ende steht ein kurzer Ausblick (IV).

I. Wenn von Differenzierung die Rede ist, dann kann damit Unterschiedliches gemeint sein. In prominenter Weise dient der Begriff zur Bezeichnung der Arbeitsteilung bzw. der Rollendifferenzierung. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Verwendungsweisen. So wird etwa von einer Status- und Prestigedifferenzierung oder einer Differenzierung der Wertordnungen gesprochen, ebenso ist von einer Ausdifferenzierung milieuspezifischer Lebensstile, sozialer Institutionen, gesellschaftlicher Handlungsbereiche etc. die Rede. Die Kehrseite dieses inflationären Gebrauchs ist eine auffallende begriffliche Unschärfe. Nicht selten wird die Differenzierungsterminologie in einer unklaren, diffusen oder rein metaphorischen Weise verwendet; noch häufiger mangelt es an systematischen Erläuterungen und theoretisch gehaltvollen Präzisierungen. Die differenzierungstheoretischenArbeiten von Luhmann und Bourdieu verdienen allein deshalb Beachtung, weil beide eine sorgfältige Begriffsbestimmung vornehmen. Dies geschieht auf dem Wege der systematischen Verknüpfung bzw. Abstimmung des Differenzierungskonzepts mit einer Vielzahl weiterer Grundannahmen. Anders gesagt: Beide Denker, sowohl Luhmann als auch Bourdieu, behandeln den Differenzierungsbegriff streng als Theoriebegriff, somit als ein theoretisches 27

Konzept, das durch Bezug auf weitere Grundbegriffe der jeweiligen Theoriekonzeption bestimmt wird (vgl. Luhmann 1984, S. 12; Bourdieu/Wacquant 1996, S. 125). Bei Luhmann ist mit Differenzierung, zumindest in seinen späteren Arbeiten, ausschließlich Systemdifferenzierung gemeint.2 Soziale Systeme werden dabei als autopoietische Einheiten begriffen, die sich selbst produzieren, und zwar mit eigenen Operationen fortlaufend reproduzieren. Die Begriffe System und Operation verweisen somit wechselseitig aufeinander. Dadurch, dass kommunikative Operationen rekursiv aneinander anschließen, konstituiert sich ein soziales System, oder besser: eine Differenz von System und Umwelt. Der Begriff der Differenzierung bezeichnet nun eine Systembildung im System, also die Wiederholung der Differenz von System und Umwelt innerhalb des Gesamtsystems. Aus Sicht des Teilsystems stellt sich der Rest des umfassenden Systems als Umwelt dar. Die Einheit von Subsystem und (interner) Umwelt ergibt wiederum das Gesamtsystem - wenngleich in je verschiedener teilsystemrelativer Perspektive. Bei dem Vorgang der Systemdifferenzierung handelt es sich somit nicht um eine Zerlegung eines ,Ganzen, in seine ,EinzelteileUnten< sind weitere, interne Differenzierungen möglich. Das besagt, dass sich Unterfelder innerhalb der (ausdifferenzierten) Felder konstituieren können. 3 Soziale Differenzierung meint keineswegs stets und ausschließlich Differenzierung der Gesellschaft. Das erklärt, dass es Differenzierungstheorien gibt, die keinen expliziten Beitrag zur Gesellschaftstheorie leisten - und dies aus zwei Gründen: Zum einen lassen sich Prozesse der Ausdifferenzierung nicht nur an der umfassenden Sozialordnung ,Gesellschafo, sondern auch innerhalb anderer sozialer Gebilde beobachten. Mikro- und mesostrukturelle Ansätze, die 3 Bereits diese anfänglichen Überlegungen machen deutlich, dass ein detaillierter Vergleich der Differenzierungstheorien von Luhmann und Bourdieu ausführlicher auf eine Vielzahl ihrer weiteren sozial theoretischen Grundannahmen, insbesondere auf die Begriffe des sozialen Systems bzw. des sozialen Feldes, einzugehen hätte. Das kann hier nicht geleistet werden. Im Weiteren geht es allein um ausgewählte Themenfelder der Differenzierungsansätze von Luhmann und Bourdieu, etwa ihre Beschreibungen von Funktionssystemen und sozialen Feldern als ausdifferenzierten Teilbereichen der modernen Sozialordnung, nicht jedoch um einen generellen Vergleich des system- und feldtheoretischen Zugangs zum Sozialen.

Vorgänge der Trennung, Separierung und Verselbständigung etwa innerhalb von sozialen Gruppen oder Organisationen thematisieren, kommen deshalb auch weitgehend ohne den Begriff der gesellschaftlichen Differenzierung aus. Zum anderen lässt sich die (makrostrukturelle) Ausdifferenzierung von Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Kunst etc. auch studieren, ohne dabei von der Annahme eines gesellschaftlichen Ganzen auszugehen. Das berühmteste Beispiel hierfür bildet Webers Analyse des Auseinandertretens eigengesetzlicher Wertsphären, die den Gesellschaftsbegriff und damit die Vorstellung einer umfassenden Einheit des Sozialen ,oberhalb, der einzelnen Lebensordnungen explizit zurückweist. 4 Diese beiden Hinweise sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass für den differenzierungstheoretischen Mainstream, von Spencer über Durkheim und Parsons bis hin zum Neofunktionalismus unserer Tage, mit Differenzierung fast ohne Ausnahme gesellschaftliche Differenzierung gemeint ist. Für diese Theorietradition gilt also die Aussage einer engen Verzahnung von Differenzierungstheorie und Gesellschaftstheorie, auch wenn sich generell eine solche Auffassung nicht aufrechterhalten lässt. Luhmann knüpft in seinen Arbeiten ausdrücklich an die damit angesprochene gesellschaftstheoretische Lesart des Differenzierungskonzepts an. Der Gesellschaftsbegriff wird nicht aufgegeben, jedoch reformuliert, nämlich strikt antihumanistisch, antiregionalistisch und konstruktivistisch gefasst (vgl. Luhmann 1997, S. 35). Mit dem Begriff der Gesellschaft wird das umfassende Sozialsystem aller rekursiv aufeinander verweisenden Kommunikationen bezeichnet. Unter Bedingungen von Modernität ist mit Gesellschaft stets Weltgesellschaft gemeint. Die moderne Gesellschaft schließt alle anderen sozialen Systeme in sich ein. Zugleich gilt der Theorie sozialer Systeme die Gesellschaft als ein Anwendungsfall unter anderen, also als ein besonderer Systemtyp, neben dem bzw. in dem andere Systemtypen vorkommen. Insofern ist auch Systemdifferenzierung nicht mit gesellschaftlicher Differenzierung identisch. Ebenso wie Gesellschaften verfügen, so Luhmann, auch Organisationen und Interaktionen-Letztere allerdings in einem deutlich eingeschränkten Maße - über die Möglichkeit der internen Subsystem4 Allgemein zu Webers Soziologie als einer Soziologie ohne Gesellschaft vgl. Tyrell (1994); speziell zu Webers Konzept einer Differenzierung ohne Gesellschaft vgl. Schwinn (20m).

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bildung. 5 Diese Aussage darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Luhmann seine Differenzierungstheorie in erster Linie zur Beschreibung und Analyse des Gesellschaftssystems heranzieht. Nicht von ungefähr findet sich die am weitesten ausgearbeitete Fassung seiner Differenzierungskonzeption in seinem gesellschaftscheoretischen Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1997, S. 595 ff.). Aufgrund dieser Nähe von Differenzierungstheorie und Gesellschaftstheorie werden Luhmanns Arbeiten zumeist auch der Theorietradition von Spencer, Durkheim und Parsons zugeordnet. Das ist sicher nicht falsch, jedoch nicht die ganze Wahrheit. Das entscheidende Argument, dass diese Zuordnung nicht restlos aufgeht, ist weiter oben bereits genannt worden. Bei Spencer, Durkheim und Parsons wird der Vorgang der gesellschaftlichen Differenzierung als Dekomposition gedacht. Luhmanns emergenz- bzw. konstitutionstheoretische Fassung des Differenzierungskonzepts macht sich somit auch Überlegungen einer zweiten Traditionslinie zu Eigen, die Differenzierung als Konstitution und Verselbständigung von Kultur- bzw. Wertsphären beschreibt. Für dieses Begriffsverständnis stehen die Namen Dilthey und Weber, mit Abstrichen auch Simmel. 6 Insofern lässt sich sagen, dass die Theorie sozialer Systeme zwei Richtungen der differenzierungstheoretischen Tradition zusammenführt: Differenzierung meint für Luhmann, ähnlich wie bei Spencer, Durkheim und Parsons, stets auch gesellschaftliche Differenzierung, also Differenzierung nicht ,ohnevon oben, erfolgt. 7 Im Vergleich zu Luhmann macht Bourdieu einen auffallend 5 Problematisch erweise sich die Begriffsbildung bei Kieserling, der lnteraktionssysreme zunächsr als undifferenzierte Systeme definiert, anschließend jedoch verschiedene Mechanismen (Flüstergespräche, Anspielungsgebrauch) der internen Systemdifferenzierung innerhalb der Kommunikation unter Anwesenden diskutiert (vgl. Kieserling 1999, S.32/f). 6 Zur Unterscheidung von verschiedenen Tradirionslinien innerhalb der differenzierungstheoretischen Diskussion vgl. Tyrell (1998). 7 Die emergenztheoretische Formulierung ,von unten, bezieht sich allein auf das Verhältnis der Teilsysteme zum Systemganzen. Davon zu unterscheiden ist die Relarion zwischen Einzelelementen und System, die Luhmann mit einer konsriruri-

zurückhaltenden Gebrauch vom Gesellschaftsbegriff. Einzelne Kommentatoren haben hieraus den Schluss gewgen, Bourdieus Differenzierungskonzept eindeutig der Weberschen Traditionslinie zuordnen zu können (vgl. Kieserling 2000, S. 386; Tyrell 2002, S. 352). Auch diese Lesart gilt es, einer vorsichtigen Korrektur zu unterziehen. Zwar ist richtig, dass Bourdieus Differenzierungskonzept eine deutliche Affinität zu Webers Begriffsvorschlag aufweist. 8 Daneben gilt es jedoch, auf einzelne Anleihen aufmerksam zu machen, die der französische Soziologe beim differenzierungstheoretischen mainstream vornimmt. Bei der Explikation seiner Theorie sozialer Differenzierung verweist Bourdieu dann neben Weber etwa auch aufSpencer und Durkheim (vgl. Bourdieu 1998a, S.148). Parallelen zu dieser zweiten differenzierungstheoretischen Traditionslinie ergeben sich dadurch, dass Bourdieu den Begriff von einem gesellschaftlichen Insgesamt, von einem umfassenden sozialen Gebilde keineswegs vollständig preisgibt. Mitunter bedient er sich - im Singular als auch im Plural - explizit der Gesellschaftsterminologie (ohne allerdings über einen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff zu verfügen), wobei mit dem Terminus zumeist Nationalgesellschaften wie die französische, deutsche oder japanische Gesellschaft gemeint sind (vgl. Bourdieu 1984, S. 12; 1998a, S. 13). Vor allem mit seinem Konzept des nationalen sozialen Raumes greift Bourdieu das Anliegen der (klassischen) Gesellschaftstheorie auf, einen Begriff vom umfassenden makrostrukturellen Sozialzusammenhang zu formulieren.9 ln diesem Sinne bezeichnet er die ausdifferenzierten sozialen onstheoretischen Begriffiichkeit beschreibt, somit als aumpietische Erzeugung ,von oben, (vgl. Luhmann 1984, S.43). 8 Dafür spricht, dass Bourdieu den Anfang der 197oer-Jahre formulierten Begriff des religiösen Feldes, der später zu einer allgemeinen Theorie sozialer Felder erweitert wird, in (kritischer) Auseinandersetzung mit Webers Religionssoziologie gewinnt (vgl. Bourdieu 2000). Insbesondere beruft sich Bourdieu auf Webers herrschaftssoziologische Perspektive, in der religiöse Praktiken als eine Art lnteressenswettbewerb im Rahmen einer ,Ökonomie der Heilsgüter, interpretiert werden. Zugleich legt er Wert auf die Feststellung, dass sich die Beziehungen zwischen den religiösen Akteuren allein einer theoretischen Konzeption erschließen, die den objektiven Positionsrelationen nachgeht. Daran ist der (allerdings fragliche) Vorwurf gegen Weber geknüpft, dieser habe eine lediglich imeraktionistische Perspektive vertreten (vgl. Bourdieu 2000, S. 14; 2001a, S.291). Zur Auseinandersetzung von Bourdieu mit Webers Religions- und Herrschaftssoziologie vgl. auch Egger/Pfeuffer/Schultheis (2000).

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Felder als soziale Mikrokosmen, die »innerhalb des sozialen Makrokosmos« (Bourdieu 2001b, S. 41; vgl. auch Bourdieu/Wacquant 1996, S. 127) positioniert sind. 10 Insbesondere seine auf Diagrammen basierende Darstellung der Anordnung der einzelnen Felder und Unterfelder legt den Eindruck nahe, dass mit dem Begriff des sozialen Raumes das soziale Ganze gemeint ist, gleichsam das übergreifende soziale Feld, 11 das aus einer Vielzahl von Subfeldern besteht (vgl. Bourdieu 1998a, S. 68; 2001a, S. 203).

II. Differenzierungsvorgänge lassen sich unter verschiedenen Aspekten analysieren und klassifizieren. Innerhalb der differenzierungstheoretischen Tradition sind vor allem zwei Klassifikationsvorschläge prominent geworden. Die erste Vorgehensweise interessiert sich für das Ausmaß bzw. das Wachstum der Differenzierung, unterscheidet etwa zwischen einem geringen und einem hohen Differenzierungsgrad. Die zweite Vorgehensweise rückt dagegen die Differenzierungsform in den Mittelpunkt. Eine solche Sichtweise findet sich bereits bei Durkheim oder Spencer, die eine zwei- bzw. dreistellige Differenzierungstypologie entwerfen. Allerdings bleibt bei beiden Autoren die Klassifikation unterschiedlicher Differenzierungsformen eng an die Unterscheidung zwischen verschiedenen Differenzierungsgraden geknüpft. 9 An dieser Stelle werden die Begriffe des sozialen Raumes und des sozialen Feldes, wie auch weitgehend bei Bourdieu selbst, synonym verwendet (vgl. Schwingel 2003, S. 83); zum Versuch einer Abgrenzung der beiden Konfigurationsbegriffe vgl. Bohn (1991, S.27[). 10 Der Begriff des Mikrokosmos erweist sich nicht als unproblematisch, da Bourdieu damit die (fälschliche) Annahme suggeriert, die Analyse der Teilfelder falle in den Aufgabenbereich der Mikrosoziologie; mit Blick auf soziale Großkomplexe wie das Machtfeld oder das ökonomische Feld verbietet sich jedoch eine solche Auffassung. Luhmann dagegen beschreibt die gesellschafdichen Teilsysteme der modernen Gesellschaft als makrostrukturelle Gebilde mit globaler Reichweite und spricht kurz von Weltwirtschaft, Weltwissenschaft, Weltrecht etc. (vgl. Luhmann 2000a, S. 222). II In diesem Sinne spricht Bourdieu (1998a, S.49) davon, dass er »den gesamten sozialen Raum als ein Feld«, also als umfassende Konfiguration von objektiven Positionsrelationen beschreibt.

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Luhmanns Ausarbeitung des Differenzierungskonzepts folgt streng einer formentheoretischen Betrachtung (vgl. Luhmann 1997, S. 609 ff.). Eine unmittelbare Anbindung der Formenklassifikation an eine Typologie nach Differenzierungsgraden wird aufgegeben, so dass die Angabe der Differenzierungsform zwar noch Rückschlüsse auf den Komplexitätsgrad, nicht aber auf das Ausmaß der Differenzierung zulässt. Unter der Differenzierungsform versteht Luhmann das relationale Verhältnis der Teilsysteme innerhalb eines Gesamtsystems. Bezogen auf das umfassende Gesellschaftssystem werden mit der segmentären Differenzierung, der Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, der stratifikatorischen Differenzierung und der funktionalen Differenzierung vier Grundformen unterschieden. Dabei wird nicht vorausgesetzt, dass die Teilsystembildung im Gesellschaftssystem ausschließlich einem Formprinzip folgt. Vielmehr sind, so Luhmann, »Gemengelagen mehrerer Differenzierungsformen« (Luhmann 1997, S. 612) typisch. Vom Primat einer Differenzierungsform lässt sich sprechen, wenn ein Formprinzip den Einsatzbereich anderer Formen bestimmt. Die primäre Differenzierungsform gilt deshalb als die »wichtigste Gesellschaftsstruktur« (ebd., S. 6u). Diese Aussage macht noch einmal den zentralen Stellenwert differenzierungstheoretischer Überlegungen innerhalb von Luhmanns Gesellschaftstheorie deutlich. Der Begriff der Systemdifferenzierung zielt auf die Beschreibung und vergleichende Betrachtung grundlegender Gesellschaftsformationen. Obwohl Luhmann in erster Linie an den strukturellen Eigentümlichkeiten der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft interessiert ist, weist sein Anspruch doch deutlich darüber hinaus. Seine Differenzierungskonzeption befasst sich auch mit der Beschreibung und Analyse älterer, vormoderner Gesellschaften, insofern stellt sie zugleich »ein Theorieangebot an Ethnologen und Historiker« (Tyrell 2001, S. 513) dar. Bourdieu orientiert sich dagegen bei der Analyse sozialer Prozesse am Differenzierungsgrad. Entsprechend unterscheidet er zwischen undifferenzierten bzw. wenig differenzierten sozialen Gebilden und hochgradig differenzierten sozialen Einheiten (vgl. Bourdieu 1998a, S. 49). Gesellschaftliche Modernisierung stellt sich aus dieser Sicht, wie angedeutet, als »ein fortschreitender Differenzierungsprozeß« (Bourdieu 1998a, S.148) dar. Insbesondere mit dieser Auffassung nimmt Bourdieu eine gegenüber der Sichtweise Luhmanns deutlich 34

abweichende Perspektive ein. Luhmanns Beschreibung des Wandels der Differenzierungsformen legt den analytischen Schwerpunkt auf die Diskontinuitäten in der soziokulturellen Entwicklung. Demzufolge handelt es sich bei jedem Umbau der primären Form gesellschaftlicher Differenzierung, in evolutionstheoretischer Terminologie, um eine »Katastrophe« (Luhmann 1998, S. 616) der jeweils älteren Sozialordnung. Bourdieus Begrifflichkeit folgt dagegen stärker einer kontinuitätstheoretischen Lesart. Diese interessiert sich für die nicht unbedingt lineare, letztlich jedoch sukzessive Zunahme bzw. Abnahme des Differenzierungsgrades. 12 Dabei ist allerdings zu sagen, dass Bourdieu fast ausschließlich die Gegenwartsgesellschaften als differenzierte Sozialordnungen thematisiert. Ihm geht es in erster Linie um eine Analyse der einzelnen, ausdifferenzierten Felder innerhalb des sozialen Raumes, weniger um eine Analyse des historischen Vorgangs der Ausdifferenzierung. Bourdieus Differenzierungskonzeption ist, anders formuliert, primär Strukturtheorie, nicht Prozesstheorie. Selbst dort, wo es nicht allein um die Struktur, sondern ausdrücklich auch um die historische Genese eines Feldes geht (wie etwa in seiner Analyse des literarischen Feldes), findet lediglich die geschichtliche Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts Berücksichtigung. Aussagen zu historisch noch weiter zurückliegenden Sozialordnungen bilden in den Arbeiten Bourdieus eine Ausnahme. Jedenfalls liegen von ihm keine systematischen Analysen archaischer, antiker oder mittelalterlicher Sozialformen vor, die es mit Luhmanns Arbeiten zu vormodernen Differenzierungsformen, sowohl was den theoretischen Anspruch als auch die Detailliertheit der Einzelanalysen oder die Erklärungsreichweite betrifft, auch nur annäherungsweise aufnehmen könnten. Luhmann und Bourdieu gelangen, nicht zuletzt aufgrund der angesprochenen Unterschiede zwischen ihren differenzierungstheoretischen Grundbegriffen, zu deutlich voneinander abweichenden Beschreibungen der heutigen, modernen Sozialordnung. Luhmann beschreibt die Gegenwartsgesellschaft als ein primär funktional differenziertes System. Demzufolge errichten die einzelnen Subsysteme der modernen Gesellschaft ein Funktionsmonopol, d.h., sie spe12

Damit möchte ich Bourdieu keineswegs eine teleologische Sichtweise unterstellen. Auch die Auffassung eines Automatismus der Felderdifferenzierung wird von ihm explizit abgelehnt.

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zialisieren sich auf die Erfüllung ausschließlich einer gesellschaftlichen Aufgabe. Kein Subsystem, so Luhmann, kann für ein anderes einspringen, also die Funktion eines anderen Teilsystems mitbedienen. Aus Sicht der einzelnen Subsysteme - und nur aus dieser Sicht - kommt der jeweiligen Funktion, die im Teilsystem bearbeitet wird, ein Primat zu. Auf der Ebene des umfassenden Gesellschaftssystems wird dagegen eine für alle Teilsysteme verbindliche Rangordnung ausgeschlossen. Bei der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft handelt es sich um eine azentrische oder polyzentrische Sozialordnung, die über keine privilegierte Position, über kein Zentrum und keine Spitze verfügt. Zugleich damit entfällt die Möglichkeit einer konkurrenzfreien Repräsentation der Einheit der Gesellschaft. In der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft ist, sozialstrukturell betrachtet, kein Platz für eine gesellschaftsweit bindende, Autorität gebende Instanz vorgesehen. Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung knüpft, zumindest terminologisch, an einen Begriffsvorschlag von Parsqns an. Die ältere strukturfunktionalistische Version der Differenzierungstheorie hatte sich jedoch, wie zahlreiche Einwände belegen, gleich in mehrfacher Hinsicht als problematisch erwiesen. Hieran anknüpfend ist der Versuch unternommen worden, die gegen Parsons' Theorievorschlag formulierten Einwände auch auf die Konzeption Luhmanns zu übertragen (vgl. Schwinn 1995). Eine genauere Diskussion von Luhmanns Gesellschaftstheorie wird jedoch zu berücksichtigen haben, dass seine emergenztheoretische Fassung des Differenzierungskonzepts deutliche Modifikationen an Parsons' älterem Modell funktionaler Differenzierung vornimmt. Zunächst wird die theoretische Ableitung eines festen Funktionenkatalogs aus dem Begriff des (Handlungs-)Systems abgelehnt. Luhmann zufolge lassen sich Angaben über die Zahl und Charakteristika der funktionalen Teilsysteme nicht, etwa im Rekurs auf das AGIL-Schema, logisch deduzieren, sondern allein auf dem Wege der empirischen Analyse induktiv ermitteln (vgl. Luhmann 1988). Ferner werden Funktionen nicht, wie noch bei Parsons, als Bestandsvoraussetzungen des Gesellschaftssystems definiert; die ältere Vorstellung wird durch die Auffassung ersetzt, dass es sich bei Funktionen um gesellschaftliche Bezugsprobleme handelt (vgl. Luhmann 1997, S. 746). Funktionaler Bezug meint dabei nicht Selbstbezug der Gesellschaft, sondern Bezug des Subsystems auf ein Problem der Ge36

sellschaft. Die Gesamtgesellschaft gilt damit auch nicht länger als Ordnungsgarant, der einen festen Katalog an Bezugsproblemen vorgibt. Damit wird das Organismusmodell, an dem sich die ältere Theorie funktionaler Differenzierung orientiert hatte, insgesamt hinfällig. Die moderne Gesellschaft lässt sich nicht nach dem Vorbild eines menschlichen Körpers begreifen, in der die einzelnen Teilsysteme, ähnlich wie die körperlichen Organe, grundlegende Aufgaben erfüllen, die für den Fortbestand unverzichtbar sind. Trotz der Änderungen, die Luhmann an Parsons' Konzept funktionaler Differenzierung vornimmt, bleibt zu fragen, ob der Umbau weit genug reicht, um alle Probleme der älteren Theoriekonstruktion aus dem Weg zu räumen. Problematisch erweist sich vor allem die Auffassung, dass sich sämtliche Teilsysteme der modernen Gesellschaft auf ausschließlich eine, zudem nicht veränderbare Funktion spezialisieren. Vieles spricht dafür, dass sich diese Vorstellung weniger einer empirischen Analyse als vielmehr theorieinternen Zwängen verdankt. Orientiert man sich an den Reflexionssemantiken der einzelnen Subsysteme, so übernehmen diese zumeist eine Vielzahl von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben. Das politische System etwa reklamiert Zuständigkeit nicht allein für die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen, sondern beispielsweise auch für die Durchführung von Steuerungsmaßnahmen oder die Wohlfahrtssicherung. Luhmann begründet die Annahme der teilsystemischen Ausrichtung auf ausschließlich eine gesellschaftliche Aufgabe mit dem Hinweis, dass die Funktion einen unverwechselbaren Bezugspunkt der jeweiligen Selbstreferenz liefert (vgl. Luhmann 1997, S. 748). Diese Betrachtung blendet aus, dass die Subsysteme einen solchen Bezugspunkt, der die Identifizierung der eigenen Kommunikationen sicherstellt und damit eine operative Schließung ermöglicht, mittels unterschiedlicher Techniken ausbilden können; die Teilsysteme der modernen Gesellschaft verfügen, wenn man so sagen will, neben der Funktionsorientierung über funktionale Äquivalente zur Handhabung ihrer internen Selbstreferenz. Mit dem Hinweis auf die binäre Codierung der Teilsysteme hat Luhmann selbst auf eine derartige Alternative aufmerksam gemacht (vgl. auch weiter unten Abschnitt III., S. 43f.). 13 Ausgehend von dieser Über13 Einzelne Textstellen belegen, dass Luhmann mitunter der Codeorientierung einen höheren Stellenwert für die Hemellung eines Bezugspunktes einräumt als der Funktionsorientierung. »Die Ausdifferenzierung dieser Systeme wird nicht durch

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legung wäre zu fragen, ob die einzelnen Teilsysteme nicht über die Fähigkeit verfügen, zwischen verschiedenen Bezugspunkten (Funktion, Code, Medium, Semantik) gleichsam zu ,switchen,, also Einheitsgesichtspunkte auszuwechseln oder zu modifizieren, ohne dabei die operative Geschlossenheit aufzugeben (vgl. auch Stäheli 1996). Damit ist eine Forschungsperspektive angedeutet, die den endogenen Dynamiken der Teilsysteme bei der Handhabung ihrer Selbstreferenz nicht zuletzt in der Zeitdimension nachgeht; anders als Luhmann, der sich primär für den Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft interessiert und nur eher beiläufig die Transformationen der Subsysteme innerhalb der Modeme thematisiert (vgl. Schimank 2003, S. 2 74 f.), läge der Fokus hier auf den strukturellen Veränderungen des teilsystemischen Ordnungsgefüges der Modeme. Zu fragen bleibt, was ein derartiger Umbau noch übrig lassen würde von dem, was seit Parsons unter dem Konzept ,funktionale Differenzierung, firmiert; vielleicht steht mit dem Stichwort >polykontexcurale Differenzierung< längst eine Alternative bereit, die schon auf terminologischer Ebene die Autonomie der Teilsysteme und das Fehlen gesamtgesellschaftlicher Ordnungsvorgaben zum Ausdruck bringt - und somit auch eher dem Bild entspricht, das Luhmanns emergenztheoretische Fassung des modernen Differenzierungsarrangements nahe legt (vgl. auch Schimank 1998).

Aus der Sicht von Bourdieu stellt sich die moderne Sozialordnung nicht als funktional differenzierte Gesellschaft, sondern als hochdifferenzierter Makrokosmos dar. Diese Aussage ergibt sich bereits als Konsequenz aus der Absage an eine formentheoretische Betrachtung der einzelnen Differenzierungsordnungen. Die Theorie der Felder wird explizit als Gegenentwurf nicht nur zum älteren Organismusmodell, sondern auch zum Funktionalismus eingeführt (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 134). Überhaupt macht Bourdieu einen äußerst zurückhaltenden Gebrauch vom Funktionsbegriff, den Einheitsgesichtspunkt der Funktion, sondern durch das Differenzschema eines Codes ausgelöst.« (Luhmann 1987, S. 20) Aus der Sicht von Luhmann wird damit der funktionale Bezug nicht überflüssig, die Funktionsorientierung gilt ihm vielmehr als Garant einer evolutionären Stabilisierung der Teilsysteme. Dieser Auffassung liegt die meines Erachtens nicht unproblematische, bei Luhmann jedoch nicht näher begründete Prämisse zugrunde, dass einem binären Code ausschließlich eine Funktion (und umgekehrt) zugeordnet ist.

ohne allerdings vollständig auf den Terminus zu verzichten. So spricht er etwa von verschiedenen Funktionsgesetzen, die in den einzelnen Feldern zur Anwendung gelangen (vgl. Bourdieu 1993, S. 107). Auch wird nicht grundsätzlich abgestritten, dass sich einzelne Felder auf eine einheitliche Funktion hin spezialisieren können. Eine solche Ausrichtung wird jedoch als kurzfristiges Phänomen begriffen, als eher zufällige Begleiterscheinung einer spezifischen Konflikt- oder Konkurrenzsituation (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 135). In der Regel jedoch übernehmen die sozialen Felder eine Vielzahl von Aufgaben (vgl. Bourdieu 2000, S. 20), ohne dass sich eine eindeutige Zuordnung von sozialen Feldern und Funktionen einstelle. Zudem gilt für Bourdieu die Funktionsorientierung weder als Auslöser noch als Bezugspunkt sozialer Differenzierungsprozesse. Die einzelnen sozialen Felder, aus denen sich der soziale Makrokosmos zusammensetzt, folgen keiner Funktionslogik, vor allem sind sie »kein Produkt irgendeiner immanenten Eigenentwicklung der Struktur« (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 135). 14 Vielmehr meint soziale Differenzierung aus der Sicht von Bourdieu primär Differenzierung von Knappheiten und damit Differenzierung von Konflikten um Verteilung und Umverteilung spezifischer Knappheiten. Bei Feldern handelt es sich um soziale Sonderbereiche, die durch die Ausdifferenzierung von Verteilungskonflikten um verschiedene Kapitalsorten oder spezifische lnteressensobjekte wie Geld, politischen Einfluss, wissenschaftliche Reputation, künstlerisches Ansehen etc. zustande kommen. Wenngleich sich die einzelnen sozialen Felder oder Mikrokosmen weitgehend verselbständigen, somit einen mehr oder weniger großen Grad an Autonomie aufweisen (vgl. auch weiter unten Abschnitt Ill., S. 47 f.), so bleiben sie doch an Strukturvorgaben des sozialen Makrokosmos gebunden. Offensichtlich folgt Bourdieu nicht den Grundannahmen der Theorie funktionaler Differenzierung; mit gleichem Recht lässt sich jedoch bestreiten, dass seine Theorie sozialer Felder sich konsequent am Konzept der Polykontexcuralität orientiert. Damit sollen einige, 14 Das Zitat Bourdieus ist unmittelbar seiner Auseinandersetzung mit Luhmanns

Theorie sozialer Systeme entnommen. Gegenüber der Lesart von Bourdieu, der sämtliche Differenzen zwischen der struktural-funktionalen Systemtheorie von Parsons und der Theorie autopoietischer, selbstreferentieller Systeme ausblendet, gilt es, an Luhmanns Zurückweisung des älteren Funktionalismus zu erinnern.

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eher vordergründige, Parallelen nicht abgestritten werden. Diese ergeben sich schon dadurch, dass Bourdieu die sozialen Felder als eigengesetzliche Ordnungsräume beschreibt, die spezifische Zugriffsweisen auf die Welt entfalten. Die Ausdifferenzierung sozialer Felder wird jedoch von der Ordnungskonfiguration des sozialen Raumes strukturell überlagert. Überspitzt ließe sich sagen, dass aus der Sicht von Bourdieu der soziale Makrokosmos keineswegs darauf verzichtet, die Beziehungen zwischen den sozialen Feldern zu regulieren, sondern ihnen einen Platz im sozialen Ganzen zuweist. Der mehrdimensionale Sozialraum, in dem die sozialen Felder positioniert sind, ist deutlich gegliedert, besitzt privilegierte und benachteiligte Orte. Die Position, die ein soziales Feld einnimmt, ergibt sich somit als Resultat makrostruktureller Ordnungsvorgaben (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S.136). Die sozialen Felder und Teilfelder sind, anders formuliere, nicht ,alle gleich nah zu Gottgleich, und >ungleich, gewonnen wird. Segmentäre Differenzierung verweist etwa auf die Gleichheit, stratifikatorische Differenzierung dagegen auf die (rangmäßige) Ungleichheit der Teilsysteme. Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft kombiniert, so Luhmann, in einzigartiger Weise Gleichheit und Ungleichheit. 16 Funktionale Differenzierung betont zum einen die Gleichheit der Teilsysteme, da alle Subsysteme sich auf die Bearbeitung ausschließlich einer gesellschaftlichen Funktion spezialisieren. Funktionale Differenzierung meint zum anderen auch Ungleichheit, da die Teilsysteme unterschiedliche Funktionen erfüllen, sich also an verschiedenen Bezugsproblemen ausrichten. Luhmanns Analysen zu den Funktionssystemen wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Kunst, Politik, Familie, Massenmedien, Religion oder Erziehung lassen sich als konsequente Entfaltung der These lesen, dass die Gleichartigkeit des Verschiedenen ein zentrales Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft bildet. Die Aufzählung der Funktionssysteme erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ein solches Unterfangen wäre aufgrund der induktiven Vorgehensweise Luhmanns auch nicht möglich. In der sysremtheoretischen Literatur werden als weitere Kandidaten etwa die Medizin, der Sport, das Militär und die Sozialarbeit genannt, ohne dass sich hier bislang eine Einigkeit abzeichnen würde. Ähnlich wie Luhmann ist es auch Bourdieu darum zu tun, eine allgemeine Feldtheorie zu formulieren, die es gestattet, die sozialen Felder als vergleichbar zu behandeln. Aus seiner Perspektive weisen die Teilbereiche der modernen Sozialordnung, bei aller Heterogenität, eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Affinitäten auf, so dass sie sich mit einem einheitlichen theoretischen Vokabular beschreiben lassen. Der zunächst bei der Analyse der Religion erprobte Feldbegriff wird von Bourdieu daher sukzessive ausgeweitet und schließlich generell zur Analyse ausdifferenzierter sozialer Mikrokosmen verwendet. Seine Zurückweisung des Funktionsmodells geht einher mit der Absage an eine deduktive Ableitung der einzelnen Teilfelder. 16 Um eine bessere Vergleichbarkeit der Differenzierungskonzepte von Luhmann und Bourdieu zu ermöglichen, konzentrieren sich die weiteren Überlegungen, in den Worten Tenbrucks (1990), auf den Fall der Modeme.

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Die feldtheoretische Analyse eines sozialen Sonderbereichs hat sich im empirischen Forschungsalltag zu bewähren, eine Nennung sämtlicher Teilfelder bleibt somit auch in diesem Fall ausgeschlossen. Dennoch fällt auf, dass Bourdieu im Vergleich zu Luhmann zu einer zum Teil deutlich abweichenden Typologie gelangt. Das gilt weniger bezüglich seiner Beschreibungen des ökonomischen, wissenschaftlichen, rechtlichen, politischen und künstlerischen Feldes etc.; hier lassen sich zumindest terminologische Parallelen zwischen einer system- und feldtheoretischen Klassifikation erkennen. Anders stellt sich die Situation beim so genannten Feld der Macht als dominierendem »Raum der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalsorten« (Bourdieu 1998a, S. 51) dar; mit der systemtheoretischen Konzeption einer polykontexturalen Gesellschaft, deren einzelne Subsysteme autopoietisch geschlossen operieren, ist die Vorstellung eines hegemonialen Machtfeldes, das gleichsam die Spitze von mehreren anderen Teilfeldern bildet, schlichtweg unvereinbar. Ebenso wenig lässt sich zu Bourdieus (1990, S. 40) Auffassung eines allgemeinen »sprachlichen Feldes«, das eine Vielzahl anderer Felder überlagert, etwas Entsprechendes in der Systemtheorie finden. 17 Und schließlich bezeichnet Bourdieu auch organisatorische Einheiten wie Universitäten oder politische Parteienumstandslos mit dem Begriff des sozialen Feldes; eine weiter gehende Differenzierung, wie sie die Systemtheorie mit der Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen Subsystemen und Organisationssystemen anbietet, 18 wird von der Theorie sozialer Felder nicht systematisch ausgearbeitet. In ihren Analysen zu den einzelnen Sonderbereichen der gegenwärtigen Ordnung orientieren sich sowohl Luhmann als auch Bourdieu, jeder auf seine Weise, an einer sozialtheoretischen Grundfigur, die mit der Formel einer ,Gleichartigkeit des Verschiedenen, über17 Auch innerhalb Bourdieus eigener Begrifflichkeit erweise sich die Vorstellung ei-

nes sprachlichen Feldes als nicht unproblemacisch, das allein deshalb, weil bei diesem spezifischen Feldrypus eine Ait genereller Teilhabe vorliegt, die ansonsten bei der Konstitution von Feldern - Stichwort Grenzziehung- ausgeschlossen wird. 18 Allerdings relativiert Luhmann die angegebene Unterscheidung zwischen Funktionssystemen und Organisationssystemen mit seiner These einer mehr oder weniger eindeutigen Zuordnung von organisatorischen Einheiten zu gesellschafdichen Subsystemen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, stehe die Zuordnungsthese, konsequent gedacht, im Widerspruch zur Annahme einer operativen Geschlossenheit sozialer Systeme (vgl. Kneer 2001).

schrieben werden könnte. Aus der Sicht von Luhmann verfügen die Subsysteme der modernen Gesellschaft über zwei evolutionäre Errungenschaften, auf deren Basis ihre operative Schließung und Ausdifferenzierung zustande kommt: zum einen die bereits diskutierte funktionale Spezifikation, zum anderen, wie angedeutet, die Einrichtung einer je eigenen binären Codierung. Mit dem Begriff des binären Codes sind beobachtungsleitende Grunduncerscheidungen gemeint, mit deren Hilfe gesellschaftliche Teilsysteme Informationen gewinnen und strukturieren. Codes sind zweiwertige Unterscheidungen, die über einen positiven und einen negativen Wert verfügen. Dritte Werte sind ausgeschlossen. Binäre Codes bilden Zwei-Seiten-Formen, wobei die strikte Zweiwertigkeit ein Kreuzen der Seite erleichtert. Die Negation eines Codewerts verweist unmittelbar auf den Gegenwert (desselben Codes), nicht aber auf dritte Werte, führt also niemals aus dem System heraus. Die binäre Codierung sichert somit den Fortgang der systemischen Autopoiesis, zugleich resultiert aus ihr eine ausnahmslose Kontingenz der Phänomene. »Alles, was erscheint, erscheint im Licht der Möglichkeit des Gegenwertes: als weder notwendig noch unmöglich.« (Luhmann 1986, S. 79) Mit dem Hinweis auf die binäre Codierung der gesellschaftlichen Teilsysteme gibt Luhmann dem Vorschlag von Dilthey und Weber, in der von Kultur- oder Wertsphären die Rede war, eine differenztheoretische Fassung. Funktionssysteme wie Wissenschaft, Recht oder Wirtschaft orientieren sich nicht an obersten Werten, also etwa an Wahrheit, Gerechtigkeit und Reichtum, sondern an zweiwertigen Unterscheidungen, in diesem Fall an den binären Codes von wahr/unwahr, Recht/Unrecht sowie Zahlen/ Nicht-Zahlen. Insofern handelt es sich bei sozialen Systemen nicht um teleologische Einheiten, die einem Perfektionszustand entgegenscreben. Die Unterscheidung zwischen den beiden Codewerten wird im Verlauf der Systemoperationen nicht getilgt, sondern fortlaufend reproduziert. Als beobachtungsleitende Grundunterscheidungen beanspruchen Codes in Bezug auf ihren besonderen Sinnbereich eine allgemeine Relevanz. Insofern kombinieren binäre Codes Universalität und Spezifikation. Das Wissenschaftssystem etwa kann alles beobachten, bleibt dabei jedoch stets an die Unterscheidung von wahr und unwahr gebunden. Binäre Codes stecken den kontextuellen Rahmen ab, innerhalb dessen die einzelnen Subsysteme operieren. 43

eine zentrale Basisprämisse der Theorien sozialer Differenzierung, umstritten ist allerdings das faktische Ausmaß der reilbereichsspezifischen Autonomie. Mir Luhmanns Theorie sozialer Systeme liegt eine •strenge< Fassung des Autonomiebegriffs vor. Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene Systeme und in diesem Sinne autonome Einheiten. Als operativ geschlossene Einheiten erzeugen soziale Systeme fortlaufend ihre eigenen Operationen - und zwar mittels der selbstreferentiellen Bezugnahme auf vorhergehende Operationen und auf nachfolgende Operationen. Der Begriff der operativen Geschlossenheit lässt keine Gradualisierung zu (vgl. Luhmann 2000b, S. 51). Entweder erfolgt eine operative Schließung oder sie erfolgt nicht. Aus Sicht der Theorie sozialer Systeme macht es somit keinen Sinn, von relativer Autonomie, von mehr oder weniger Autonomie zu sprechen. Sobald sich ein soziales System als rekursives Netzwerk aneinander anschließender Kommunikationen konstituiert, operiert das System vollständig autonom. Autonomie meint allerdings nicht Autarkie. Autopoietische Systeme bleiben auf eine Vielzahl von Umweltvoraussetzungen angewiesen. Der Begriff der Auropoiesis verweist auf die operative und informationelle Geschlossenheit selbsterhaltender Systeme, er bezeichnet aber keine (kausale) Abgeschlossenheit. Insofern wird nicht bestritten, dass zwischen System und Umwelt vielfältige Interdependenzen und Kausalbeziehungen existieren. Das Gesagte gilt generell für autopoietische Sozialsysteme, gilt also auch für Funktionssysteme. Wissenschaft, Recht, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst etc. erreichen, so Luhmann, auf der Basis selbsrreferentieller Geschlossenheit eine vollständige Autonomie. Allein die Wissenschaft befindet darüber, was wahr und was unwahr ist, allein das Recht kann über Recht und Unrecht entscheiden. Die Subsysteme der modernen Gesellschaft erfüllen ihre jeweilige Funktion in selbständiger und eigendynamischer Weise. Damit werden Abhängigkeiten zwischen den Funktionssystemen nicht abgestritten. Aus der Exklusivität der Funktionserfüllung resultiert, dass die gesellschaftlichen Subsysteme wechselseitig aufeinander angewiesen bleiben. Die teilsystemischen Interdependenzen werden in Form struktureller Kopplungen realisiert (vgl. Luhmann 1997, S. 776 ff.). Die Einrichtungen struktureller Kopplungen heben die operative Geschlossenheit der Systeme nicht auf, sondern setzen sie umgekehrt voraus. »Insofern sind und bleiben die Funktionssysteme von-

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einander unabhängig und abhängig zugleich. Funktionale Differenzierung ermöglicht genau dies: Unabhängigkeiten und Abhängigkeiten aneinander zu steigern.« (Luhmann 1990, S. 298 f.) Die Auffassung einer Autonomie findet sich auch in Bourdieus Theorie sozialer Felder. In dieser Sicht stellt sich der Prozess fortschreitender Differenzierung, in dessen Verlauf sich eine Vielzahl sozialer Mikrokosmen bzw. Universen herausbilden, zugleich als ein Vorgang der zunehmenden Verselbständigung dar (vgl. Bourdieu 1998a, S.148 f.). Die einzelnen sozialen Felder bilden spezifische Spielregeln aus, sie besitzen je eigene Logiken und verfügen dementsprechend »über eine mehr oder weniger ausgeprägte Autonomie« (Bourdieu 1998b, S. 18). Die Eigendynamik der Felder macht sich unter anderem daran fest, dass sowohl die Stellungnahmen, die die einzelnen Teilnehmer vorbringen, als auch die Einsätze, um die gespielt bzw. gekämpft wird, nach jeweils feldspezifischen Prinzipien und Kriterien bewertet werden. Die sozialen Felder verfügen, in den Worten Webers, über innere Eigengesetzlichkeiten, die sich nicht auf die Regeln bzw. Ordnungsmuster anderer Felder reduzieren lassen. Die Autonomie eines Feldes zeigt sich an dessen Fähigkeit, »äußere Zwänge oder Anforderungen zu brechen« (ebd., S.19). Externe Versuche der Einflussnahme können ihre Wirkung nicht ungehindert entfalten, sondern nur entsprechend der feldspezifischen Logik, also ausschließlich durch die Vermittlung des Feldes. Bourdieus Explikation der Autonomie sozialer Felder weist, wie er selbst betont, gewisse Ähnlichkeiten mit Luhmanns Begriff der Selbstreferenz bzw. Selbstorganisation sozialer Systeme auf (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 134). Neben den Parallelen gilt es aber auch hier die Differenzen zwischen den beiden Theorien zu beachten. Anders als Luhmann unterscheidet Bourdieu, wie angedeutet, zwischen verschiedenen Graden der Autonomie. Soziale Felder können über mehr oder weniger Autonomie verfügen, somit einen unterschiedlichen »Brechungskoeffizienten« (Bourdieu 1998a; S. 62) aufweisen, der Auskunft darüber gibt, in welchem Ausmaß externe Erwartungen und Kräfte im Feld umstrukturiert werden. Der Autonomiegrad kann nicht nur zwischen verschiedenen Felder, sondern auch innerhalb ein und desselben Feldes variieren. So unterscheidet sich das Ausmaß der Autonomie eines Feldes »beträchtlich nach Epochen und nationalen Traditionen« (Bourdieu 1997, S. 44). Zudem können sich innerhalb eines Feldes zeitgleich ein unabhängiger 47

und ein abhängiger Bereich gegenüberstehen. Die Felder der Kulturproduktion sind gar der Ort, wie Bourdieu (2001a, S. 344) am Beispiel des literarischen Feldes zeigt, eines fortwährenden Kampfes zwischen den Prinzipien der Autonomie und der Heteronomie. Auf der Seite der Autonomie stehen die Künstler, die sich in.keiner Weise an den Zwängen des Marktes, 'an der Nachfrage des ,breiten Publikums, orientieren, sondern dem Grundsatz der L'art pour l'art folgen. Auf der Seite der Heteronomie sind dagegen die Künstler positioniert, die ihre Produktion an externen Anforderungen - sei es in Form direkter Aufträge, sei es in Form der anonymen Erwartungen des Marktes - ausrichten, in erster Linie also einen kommerziellen Erfolg anstreben bzw. erlangen. Soziale Differenzierung meint die Konstitution eigenständiger Bereiche, die sich voneinander abtrennen. Diese Auffassung bestreitet nicht, das wird zuweilen übersehen, die Existenz von Relationen zwischen den Teilbereichen, sie behauptet jedoch, dass die Redeweise von derartigen Beziehungen überhaupt nur Sinn macht, wenn sich abgesonderte Einheiten mehr oder weniger trennscharf identifizieren lassen. Innerhalb der differenzierungstheoretischen Diskussion kommt dem Sachverhalt der Grenzbildung deshalb eine entscheidende Rolle zu: Von eigenständigen Bereichen kann nur gesprochen werden, wenn diese über Grenzen verfügen, somit eine klare Unterscheidung getroffen wird zwischen dem, was zum jeweiligen Teilbereich dazugehört, und dem, was nicht dazugehört. Aus der Sicht der Systemtheorie bestimmen soziale Systeme selbst ihre Grenzen, »sie selbst differenzieren sich aus und konstituieren damit Umwelt als das, was jenseits ihrer Grenzen liegt« (Luhmann 1986, S. 23). Bei den elementaren Einheiten, aus denen Systeme bestehen, handelt es sich um Kommunikationen - und nicht etwa um Personen oder Handlungen. Die kommunikationstheoretische Fundierung der Theorie autopoietischer Systeme, die Luhmann vorschlägt, erweist sich auch für den Begriff der sozialen Differenzierung von entscheidender Bedeutung: Wer Akteure oder »Handlungen beobachtet, wird typisch mehrfache Systemzugehörigkeiten feststellen können« (Luhmann 1997, S. 608). Eine eindeutige Zuordnung gelingt aus systemtheoretischer Sicht allein bei Kommunikationen, genauer gesagt bei rekursiv vernetzten Kommunikationen. Nicht ausgeschlossen wird damit, dass an einzelnen Ereignissen mehrere Systeme beteiligt sind. Derartige Über48

schneidungen sind jedoch allein auf Ereignislänge möglich. Sie lösen sich auf, sobald berücksichtigt wird, dass die Einzelkommunikationen in rekursive Netzwerke eingelagert sind, die ihnen eine je systemeigene Vorgeschichte und Zukunft zuweisen, sie somit auf unterschiedliche Weise identifizieren. Der Einsatz binärer Codierungen erleichtert den Funktionssystemen, so Luhmann, eine rasche Identifizierun.g der eigenen Systemelemente. Das Wissenschaftssystem etwa besteht aus sämtlichen Kommunikationen, die sich an der Unterscheidung von wahr und unwahr, also an einer spezifischen Zwei-Seiten-Form orientieren. Zum wissenschaftlichen System gehören etwa nicht nur wahre Sätze - eine solche Auffassung wäre mit dem fallibilistischen Selbstverständnis der modernen Wissenschaft unvereinbar. Auch verwendet nicht jede wissenschaftliche Kommunikation die Bezeichnungen wahr oder unwahr; umgekehrt ist auch nicht jede Kommunikation, in der diese Wörter vorkommen, Bestandteil der Wissenschaft. Von einer wissenschaftlichen Kommunikation lässt sich Luhmann zufolge sprechen, wenn im Rückgriff auf weitere wissenschaftliche Operationen, insbesondere im Rückgriff auf Theorien und Methoden der Wissenschaft, Aussagen auf ihren Wahrheits- bzw. Unwahrheitswert hin überprüft werden. 23 Erst im Anschluss an diese Zusatzerläuterungen lässt sich die Frage erneut aufwerfen, inwieweit binäre Codierungen eine zweifelsfreie Identifizierung der Systemelemente ermöglichen und damit zur operativen Schließung der Teilsysteme beitragen. Ein mögliche Kritik könnte lauten, dass die Anwendung von Codes keineswegs eindeutig geregelt ist: Binäre Codes sind, wie gesehen, komplementär auf Programme angewiesen; dabei gilt es zu berücksichtigen, dass jeweils eine Vielzahl von Programmen existiert, die zu mitunter deutlich voneinander abweichenden Interpretationen hinsichtlich der Handhabung binärer Codes gelangen. Anders formuliert: Die Identifizierung von Systemelementen wird von Beobachtern vorgenommen, mit Blick auf die Vielzahl von systeminternen Perspektiven ist jedoch nicht zu vermuten, dass die Systeme stets mit einer einheitlichen Stimme sprechen. Bei einem Vergleich der einzelnen Funktionssysteme fallen zudem gravierende Unterschiede ins Auge; so hat etwa das Wirtschaftssystem mit der Identifizierung 23 Mir diesen Hinweisen reagiere ich auf entsprechende Einwände bei Berger (2003, S.223f.).

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systemeigener Ereignisse erheblich weniger Probleme als das Kunstsystem, in dem eine Art Dauerreflexion über die Aufnahme bzw. Abweisung von Kitsch oder Design geführt wird. Zu vermuten ist, dass die einzelnen binären Codes, die die Subsysteme verwenden, eine verschieden große Ambiguität aufweisen. Auch wenn aus diesen Überlegungen kein grundsätzlicher Einwand erwächst, so verweisen sie doch auf weitere Untersuchungen, in denen unter anderem der Frage nachzugehen wäre, über welche Zusatzeinrichtungen gesellschaftliche Teilsysteme bei der Bearbeitung von ,Grenzproblemen< verfügen. Die Frage der Grenzbildung besitzt auch für Bourdieus Theorie sozialer Felder eine erhebliche Relevanz. Bei einer ersten Sichtung fällt auf, dass Bourdieu, ähnlich wie Luhmann, die Grenzen der Felder nicht an Personen festmacht. Wenn die Theorie sozialer Felder von Akteuren spricht, dann sind damit keine Subjekte, vor allem keine ganzen Menschen, sondern Positionsinhaber gemeint (vgl. Bourdieu 1988, S. 59 ff.). Soziale Felder sind relationale Gefüge, die aus einer Vielzahl von Positionen (einschließlich der von den Feldteilnehmern erzeugten und aufeinander Bezug nehmenden Positionierungen) bestehen. Welche Positionen zu einem Feld dazugehören und welche nicht, wird vom Feld, oder besser: im Feld selbst entschieden. In der Sprache der Emergenztheorie ließe sich formulieren, dass die Grenzen des Feldes nicht von außen festgelegt sind, sondern intern bestimmt werden, d. h. aus fortlaufenden Machtkämpfen hervorgehen. Zu dieser generellen Auskunft, die Bourdieu formuliert, lassen sich in seinen Schriften allerdings zwei konträre Ausarbeitungen finden. In dem ersten Deutungsvorschlag, den Bourdieu unterbreitet, bedient er sich erneut seines konflikttheoretischen Vokabulars. Die Grenzen des Feldes sind demnach Gegenstand fortgesetzter Definitionskämpfe, in denen die Akteure über Fragen der (legitimen) Teilnahme streiten. Aus der Sicht von Bourdieu (2001a, S. 353 f.) findet insbesondere in den Feldern der kulturellen Produktion fortlaufend eine Auseinandersetzung über die Zulassungsvoraussetzungen statt und damit darüber, wer zum Feld gehört und wer nicht, wer zu Recht sich einen wahren Künstler, Schriftsteller, Gelehrten etc. nennen kann. Bei Feldern handelt es sich um soziale Gebilde, die zwar über Grenzen, jedoch - und damit anders als soziale Systeme - über keine eindeutigen Grenzen verfügen. Auch ist eine Generalinklusi50

on, von der die Systemtheorie spricht, nicht vorgesehen. Zu den Teilnehmern des Feldes rechnet Bourdieu allein die >professionellen Macher,, also die Produzenten von politischen Reden, literarischen Werken, wissenschaftlichen Forschungsberichten etc., wobei in den einzelnen Feldern selbst keine Einigkeit über den Zugang zu bzw. den Ausschluss vom Feld besteht. Mit seinem zweiten Deutungsvorschlag unterbreitet Bourdieu eine >»physikalische, Antwort« (Bourdieu 2001b, S. 33; Hervorhebung G.K.). Die Grenzen des Feldes befinden sich demzufolge »dort, wo die Feldeffekte aufhören« (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 131). Gegen dieses Verständnis lassen sich gleich eine Reihe von Einwänden formulieren: Zunächst wird bei dieser Begriffsfassung die Annahme von feldexternen Effekten eigentlich sinnlos - eine Konsequenz, die sich in dieser Form kaum halten lassen dürfte, denkt man etwa an die Vielzahl der Beschreibungen Bourdieus, in denen von feldübergreifenden Wirkungen die Rede ist, oder an seine Schlussfolgerung, dass sich die Teilnehmer eines Feldes bei ihren Positionskämpfen externen Einflüssen bedienen (vgl. Bourdieu 1998a, S. 66). Ferner bietet die >physikalische, Definition keine Handhabe, zwischen sinnhaften Vermittlungen und Kausalwirkungen oder, wie etwa Luhmanns Systemtheorie, zwischen internen (Reflexions-) Beziehungen und externen (Leistungs-) Bezügen zu unterscheiden. Und schließlich steht die zweite Begriffsfassung in deutlichem Gegensatz zu dem zuvor beschriebenen Verständnis. Das mag erklären, dass die Theorie der Felder hinsichtlich der Frage des Publikumzugangs (religiöse Laien, politische Wähler, Kulturinteressierte etc.) zu keiner einheitlichen Beschreibung gelangt ist. Bourdieu scheint die Unvereinbarkeit seiner beiden Antworten auf die Frage nach den Grenzen sozialer Felder selbst allerdings nicht bemerkt zu haben.

IV. Vor mehr als zweieinhalb Jahrzehnten hat Hartmann Tyrell (1978) in einem viel beachteten Aufsatz auf eine Vielzahl von Widersprüchen, Unschärfen und Ausarbeitungsdefiziten innerhalb differenzierungstheoretischer Ansätze hingewiesen. Die Situation stellt sich heute merklich anders dar: Wir verdanken den Arbeiten von Luhmann und Bourdieu eine deutliche Präzisierung der differen51

zierungstheoretischen Grundannahmen, Problemstellungen und leitenden Gesichtspunkte. Zudem haben beide die Anwendbarkeit ihrer konzeptionellen Vorschläge in detailreichen Einzelanalysen zu verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen erprobt. Mit Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft liegt auch so etwas wie ein systematisch durchgearbeiteter theoretischer Entwurf vor, den Tyrell eingefordert hatte. Mit diesem Resümee soll nicht abgestritten werden, dass auch die Differenzierungstheorien von Luhmann und Bourdieu an einer Reihe von Inkonsistenzen und offenen Fragen laborieren. Hierzu haben die vorstehenden Ausführungen einige Hinweise gegeben. Man wird jedoch kaum länger behaupten können, dass sich die sozialwissenschaftliche Verwendung des Differenzierungsbegriffs eines einfachen Analogieschlusses oder einer rein metaphorischen Redeweise verdankt. Vielmehr verfügen wir mit den Ansätzen von Luhmann und Bourdieu über zwei Angebote, die das Konzept der sozialen Differenzierung als eigenständigen Grundbegriff der Soziologie in theoretisch und begrifflich kontrollierter Weise entfalten. Das erklärt auch die Anschlussfähigkeit der beiden Differenzierungstheorien innerhalb der soziologischen Disziplin, wobei hier mit Anschlussfähigkeit neben konzeptioneller Weiterführung und empirischer Konkretisierung auch Überprüfung, Modifizierung und Kritik gemeint ist - also genau das, was den normalen Umgang mit wissenschaftlichen Forschungsprogrammen doch auszeichnen sollte. Wer hat nun Recht, Luhmann oder Bourdieu? Vieles spricht dafür, dass sich die Frage in dieser Abstraktionslage nicht sinnvoll diskutieren und entscheiden lässt. Aus diesem Grunde haben die vorstehenden Überlegungen von einem allzu direkten Vergleich abgesehen, der soziologische Theorien am Maßstab eines kategorischen Besser/Schlechter überprüft. Neben der Frage nach der Reichweite und den Problemen eines Theorievergleichs ist damit zugleich die Frage nach dem Umgang mit derTheorienvielfalt aufgeworfen. Die Soziologie hat sich bis heute nicht zu einem polykontexturalen Selbstverständnis durchringen können, das die Pluralität von Theorien nicht als Nachteil, sondern als Vorteil begreift. Stattdessen bemüht man sich um eine Verknüpfung unterschiedlicher Ansätze, um auf diesem Wege zu einem einheitlichen Paradigma zu gelangen. An dieser Stelle sei vor einer übereilten Kombination ausdrücklich gewarnt, als Resultat erhält man zumeist einen nur schwer verdauli52

chen Theorienmix. Die Ansätze von Luhmann und Bourdieu beschreiben Differenzierungsvorgänge auf der Basis divergierender Ausgangsentscheidungen und Begriffskonzeptionen, die sich nicht umstandslos zusammenbringen lassen. Die Überführung einzelner Theoriebausteine von einer Konzeption in eine andere gerät deshalb schnell in eine Schieflage, sie wird, in der Sprache der Differenzierungstheorie, dem spezifischen Eigensinn der Theorieperspektiven nicht gerecht. Mit dieser Auffassung werden vielfältige Kontaktpunkte zwischen der Systemtheorie und der Theorie sozialer Felder nicht bestritten. Auch hierzu finden sich in den vorhergehenden Ausführungen mehrere Hinweise. Vor allem wird nicht bestritten, dass Theorien voneinander lernen können. Namentlich die Differenzierungstheorien von Luhmann und Bourdieu verfügen über ein erhebliches Anregungspotential.

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Christine Weinbach ... und gemeinsam zeugen sie geistige Kinder: Erotische Phantasien um Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu 1 o. Vom soziologischen Eros Die Soziologien Niklas Luhmanns und Pierre Bourdieus erscheinen auf den ersten Blick als viel zu verschieden, um miteinander ins Gespräch kommen zu können. Zwar sind sie beide an der Analyse der modernen Gesellschaft interessiert. Aber während sich das analytische Interesse der einen an der Schönheit des Gedankens entzündet, strebt die andere eher der Idee vom ,richtigen< Leben nach. Dennoch möchte ich die beiden Ansätze in Kontakt miteinander bringen, überzeugt davon, dass am Ende keiner mehr das sein wird, was er zuvor war. Hier gilt das Wort, das Platon seiner Protagonistin Diotima in den Mund gelegt hat: »Nämlich indem er den Schönen berührt[ ... ] und mit ihm sich unterhält, erzeugt und gebiert er, was er schon lange zeugungslustig in sich trug [... ]. So dass diese eine weit genauere Gemeinschaft miteinander haben [... ], wie sie auch schönere und unsterblichere Kinder gemeinschaftlich besitzen« (Platon 2002, S. III f.). Das gemeinsame Kind entsteht durch die Einführung zentraler Begriffe der einen Theorie in die andere: Mit ihm lassen sich Fragen um Neutralität und Relevanz der Geschlechterdifferenz, wie sie sich uns heute stellen, neu beleuchten. Während Luhmann mit der funktional differenzierten Gesellschaftsform für ein Verständnis von Mann und Frau als einem Unterschied, der keinen Unterschied mehr macht, argumentiert, sieht Bourdieu die männliche Herrschaft über die Frauen in der modernen Gesellschaft durch die Sphären Öffentlichkeit und Privatheit fest verankert. Ein gemeinsamer Ausweg scheint mir die Berücksichtigung eines der funktionalen Differenzierungsform ähnlichen Bourdieuschen Gesellschaftsverständnisses zu sein, nämlich ihre Differenzierung in (Funktions-)Felder. Von hier aus lässt sich die Verwendung des 1

Ich danke Pascal Eitler und Alexa Geischövel für hilfreiche Anmerkungen.

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Luhmannschen Gesellschaftsbegriffs begründen und durch den Bourdieuschen Habitus, dem Mechanismus zur Herstellung und Reproduktion sozialer Ungleichheit, ergänzen. Der Habitus - ein Begriff, der in den lnteraktionskontext gehört - muss dann aber mit Luhmanns Form »Person« als Strukturmoment der Kommunikation konfrontiert werden. Mit der Verknüpfung dieser Begriffe ist die Stelle markiert, von der aus sich die lnterpenetration beider Theorien denken lässt: Gehört Luhmanns »Person« zum Kommunikationssystem, das letztlich körperlos operiert, so wird mit dem Habitus - vorausgesetzt, sein zweidimensionaler Charakter wurde zuvor ,vereindeutigt< -, der Bereich der Wahrnehmung abgedeckt, weil er ausschließlich den Bewusstseinssystemen als sozialer Körper zugänglich ist. So aneinander geschärft, zeigen die beiden Theorien, wie indirekt und implizit die Geschlechtszugehörigkeit als Kriterium bei der Verteilung von lnklusionschancen wirkt - und zwar trotz geschlechtsneutral gefasster funktionaler Differenzierungsform der modernen Gesellschaft. Beides, Neutralität und Relevanz der Geschlechterdifferenz, lässt sich dann innerhalb eines wenn auch erst durch die fruchtbare Begegnung der beiden Soziologien neu geschaffenen Theoriekonzepts denken.

r. Zur Geschlechterdifferenz bei Bourdieu und Luhmann Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann haben der Geschlechterdifferenz bekanntlich einen sehr unterschiedlichen Stellenwert innerhalb der Sozialwissenschaften eingeräumt. Während Bourdieu betont, »daß es mit der feministischen Kritik eine gänzlich neue, enorme empirische Arbeit gibt, die einen bedeutenden Schritt voran in den Sozialwissenschaften darstellt« (Bourdieu 1997b, S. 218), bezeichnet Luhmann ihre Ergebnisse als »wissenschaftlich uninteressante Tatsachenberichte« (Luhmann 1996, S. 58). Diese Einstellung wird durch ihre einschlägigen Publikationen zum Thema reflektiert. Während Bourdieu die Geschlechterdifferenz bei seinen empirischen Fallstudien kontextuell berücksichtigt und ihr darüber hinaus zwei systematische Arbeiten unter ein und demselben Titel »Die männliche Herrschaft« gewidmet hat (vgl. Bourdieu 1997a; 2001), findet man sie bei Luhmann, außer als zufälligen Kontextbe58

zug, explizit nur im Zusammenhang mit erotischer Liebe (Luhmann 1982) und im gegen die Frauenforschung polemisierenden, mittlerweile berüchtigten Aufsatz »Frauen, Männer und George Spencer Brown« (Luhmann 1996) berücksichtigt. Die Unterschiede sind letztlich ihren verschiedenen Erkenntnisinteressen und Theoriearchitekruren geschuldet. Für Bourdieu, der die Soziologie stets als politische Wissenschaft verstanden hat, steht nach eigenen Aussagen »[d]ie Konstruktion einer allgemeinen Theorie der symbolischen Herrschaft« im Vordergrund (Bourdieu 1997b, S. 220). Männliche Herrschaft gilt ihm hierbei als Sonderfall (vgl. Bourdieu 1997b, S. 219). Aus diesem Grunde muss ihre Analyse Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse sein: »Anders gesagt, ich glaube, es ist sehr wichtig zu sehen, daß es sich um ein allgemeines Modell handelt. Daraus folgt unter anderem, daß die Konstitution der women's studies als separates Spezialgebiet etwas sehr Gefährliches hat: Man löst einen besonderen Gegenstand heraus und trennt ihn von einer ganzen Klasse von Gegenständen ab.« (Bourdieu 1997b, S. 219) Luhmann dagegen sieht die soziologische Bedeutung der männlichen Herrschaft mit dem Umbau der stratifizierten Gesellschaft hin zur funktionalen Differenzierung als erledigt an und schlussfolgert: »Die moderne Gesellschaft bietet ein völlig verändertes Bild, und eben deshalb eignet sich die Unterscheidung von Männern und Frauen, soweit sie nicht funktionsspezifische Relevanz besitzt, nämlich Familienbildung ermöglicht, nur noch dazu, soziale Bewegungen zu stimulieren.« (Luhmann 1996, S. 120) Damit ist klar, dass sich das Gesellschaftsverständnis der beiden Theoretiker voneinander unterscheidet. Bourdieu insistiert darauf, die moderne Gesellschaft als Klassengesellschaft zu beschreiben, und verortet das asymmetrische Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern innerhalb der jeweiligen Klassen, sieht es also stets klassenspezifisch moduliert (vgl. Bourdieu 1982). Über diese Unterschiede hinweg jedoch findet sich das die Klassen transzendierende gemeinsame Moment im Geschlechterverhältnis in der Unterwerfung der Frau durch ihren Ausschluss aus der Sphäre der Öffentlichkeit, in der die Männer gegeneinander und mit unterschiedlichen, weil klassenspezifischen ,Waffen, um die gesellschaftlichen Ressourcen kämpfen. Die Folge ihres Ausschlusses aus diesem »Spiel« ist, »daß die Frauen dort nur in Gestalt von Objekten oder, 59

besser, von Symbolen in Erscheinung treten können, deren Sinn außerhalb ihrer selbst konstituiert wird und deren Funktion es ist, zum Fortbestand und zur Mehrung des im Besitz der Männer befindlichen symbolischen Kapitals beizutragen« (Bourdieu 1997a, S. 205). Gemeint ist damit, dass ihnen die Aufgabe obliege, den Status des Mannes, von dem sie abhängen, durch die Ausstattung des Hauses, der Kinder, der eigenen Person etc. gesellschaftlich sichtbar zu machen. Dieser Part ist, laut Bourdieu, auch der modernen Frau im Berufsleben zugewiesen, wo sie meist in den Bereichen der Präsentation, Repräsentation, Aufnahme und Empfang tätig ist. Ursächlich dafür ist der bereits von Levi-Strauss konstatierte Zusammenhang von Inzesttabu und Frauentausch, der die Frauen zu Objekten ohne subjektive Perspektive degradiert: »Genauso wie sie in den weniger differenzierten Gesellschaften als Tauschmittel behandelt wurden [... ], genauso sind sie auch heute in der Ökonomie der symbolischen Güter zuallererst als symbolische Objekte vertreten, die zur symbolischen Zirkulation prädisponiert und mit ihr betraut sind. Als Symbole sollen sie das symbolische Kapital der Gruppe in allem zur Darstellung bringen, was mit ihrem äußeren Erscheinungsbild zusammenhängt, Kosmetik, Kleidung, Auftreten usf.« (Bourdieu 1997a, S. 210) Für Luhmann dagegen gehört die strikte Verortung des Geschlethterverhältnisses qua Klasse und geschlechtlicher Arbeitsteilung in die stratifizierte Gesellschaft, deren hierarchisch angeordnete soziale Schichten segmentär in Familien differenziert sind. Die immanente Verknüpfung von primärer und interner Differenzierung wird durch das hierarchische Geschlechterverhältnis geleistet (vgl. Luhmann 1996, S. u5): Der Status des Mannes als Haushaltsvorstand (also nicht jeder Mann) und damit Repräsentant von Familie und sozialer Schicht verweist zugleich auf die hierarchisch geordnete gesellschaftliche Gesamtheit. Luhmann fasst das Geschlechterverhältnis hier als paradoxe Einheit einer Unterscheidung, die asymmetrisiert wird, indem der Mann der Frau gegenüber bevorzugt wird und damit zum Repräsentanten der Einheit dieser Unterscheidung (der Einheit der Differenz der Geschlechter in der Familie) in Bezug auf das Ganze (die Ordnung der Gesellschaft) avanciert. Damit regelt die Differenzierung der Gesellschaft in Schichten den Zugang zu den verschiedenen gesellschaftlichen Rollen und wird durch schichtinterne Personenkriterien wie Alter und 60

Geschlecht spezifiziert. Die heutige Gesellschaft beschreibt Luhmann als funktional differenzierte Gesellschaft, deren Charakteristikum die Vollinklusion aller Individuen in alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche ist - und zwar die Vollinklusion sowohl von Männern als auch Frauen. 2 Dabei stehen die verschiedenen funktional definierten Gesellschaftsbereiche gleichberechtigt nebeneinander, weil keiner die gesellschaftliche Funktion des anderen übernehmen oder repräsentieren könnte. Im Unterschied zur stratifizierten Gesellschaft sind die Individuen in keinem dieser Systeme beheimatet, sondern sind sie sozusagen nacheinander und temporär inkludiert. Aus diesem Grunde sind sie nicht mehr, anders als in der stratifizierten Gesellschaft oder auch Bourdieus Klassengesellschaft, auf die verschiedenen Funktionsbereiche verteilt; niemand wird, wie Luhmann gern anführt, sein Leben lang und pausenlos erzogen. Exklusiomindividualität ist vielmehr das zentrale Merkmal des modernen Individuums und die funktionale Differenzierungsform gleichsam die Bedingung der Möglichkeit für moderne Individualität. Das dabei von den Individuen - und zwar sowohl von Männern als auch von Frauen! - entsprechend spezifische psychische Kompetenzen in Richtung Selbstorganisation abverlangt werden, liegt auf der Hand. Die unterschiedlichen Implikationen dieses Gesellschaftsmodells für das Geschlechterverhältnis im Vergleich mit dem Bourdieus sind offensichtlich: Eine Unterteilung in eine private und eine öffentliche Sphäre, auf die Frauen und Männer in unterschiedlicher Weise verteilt wären, ist in Luhmanns funktional differenzierter Gesellschaft undenkbar. Für Bourdieu ist dieser Aspekt dagegen eindeutig und auch in der heutigen Gesellschaft noch Realität: »Unbeschadet der Veränderungen, die es durch die industrielle Revolution erfahren hat und von denen die Frauen je nach ihrer Stellung innerhalb der Arbeitsteilung in unterschiedlicher Weise betroffen waren, hat sich das System der grundlegenden Gegensätze erhalten. So hat die Trennung von männlich und weiblich ihr organisierendes Zentrum weiterhin in dem Gegensatz zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Haus, mit der Aufzucht der Kinder, und der Arbeit.« (Bourdieu 1997b, S. 185) Und: »Es versteht sich von selbst, daß die Grenze sich mit dem Eintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt 2

Zum Zusammenhang von Geschlechterdifferenz und politischer Inklusion vgl. erwa Weinbach (2002).

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verschoben hat; ohne daß sie aufgehoben wäre, da sich innerhalb der Arbeitswelt abgeschirmte Segmente herausgebildet haben.« (Bourdieu 1997b, S. 186) Von feministischer Seite wird Bourdieus Geschlechteranalyse nicht nur positiv beurteilt. Einigkeit besteht im Prinzip im Hinblick auf seine These, die Struktur der männlichen Herrschaft in Reinform besonders gut an den extrem patriarchalen Kabylen, einem bäuerlich lebenden Berbervolk Nordafrikas, studieren zu können. Angemerkt wird hierzu aber immer wieder, deren Geschlechterverständnis entspräche nicht den Geschlechterverhältnissen in der modernen Gesellschaft (z. B. Dölling/Steinrücke im Interview mit Bourdieu 1997b, S. 225). Hier seien Frauen keineswegs lediglich Objekte ohne subjektive Perspektive (vgl. z.B. Lovell 2000). Zwar wird stets darauf verwiesen, wie wichtig die Berücksichtigung bestehender geschlechtlicher Ungleichheiten sei und Bourdieus Bemühungen werden diesbezüglich gewürdigt. Bemängelt wird jedoch, Bourdieu simplifiziere das moderne Geschlechterverhältnis: Bourdieu verkenne, dass die Geschlechterverhältnisse in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr so problemlos und eindeutig funktionieren und sich die Geschlechtsidentitäten aufgrund konflikthaft gewordener Erwartungen verändert haben - und zwar genau deshalb, weil Frauen nicht ausschließlich in der Sphäre des Privaten verortbar seien (dazu McNay 1999). Aus der Sicht Luhmanns wäre hier zudem auf den heutigen lnklusionsstatus von Frauen hinzuweisen, der sich aufgrund der völlig verschiedenen Gesellschaftsstruktur in zentralen Punkten von denen der kabylischen Frauen unterscheidet: Frauen sind in die verschiedenen Funktionssysteme als Individuen mit eigenem Status inkludiert: ins Politiksystem (Wählerinnen, Politikerinnen), Rechtssystem (Rechtssubjekte), Wirtschaftssystem (Kundinnen, Arbeitnehmerinnen, Selbständige) etc. Sie sind mit deren verschiedenen Erwartungen konfrontiert, die sie als moderne Individuen zu bewältigen haben. Die sich daraus ergebenden individuellen Freiräume nutzen sie zur eigenen Lebensgestaltung: Sie können heiraten oder nicht, ihre Männer verlassen, viele Männerbekanntschaften haben, lieber mit Frauen leben, ihren Beruf wechseln, ihren Wohnort selbst wählen etc. Für die kabylischen Frauen dagegen gibt es keinen anderen als den ihnen traditionell zugewiesenen Lebensbereich. Dass Bourdieu diese Lebensverhältnisse nicht berücksichtigt und in seiner Geschlechteranalyse 62

z. B. Frauen, die einen eigenen gesellschaftlichen Status besitzen und vielleicht sogar eine führende Organisationsstelle einnehmen, nicht existieren, hat ihm den Vorwurf eingebracht, dass »[a)lthough Bourdieu acknowledges ehe destabilizing and potentially subversive effects that might arise from movement across fields, he fails to consider what this might imply for an understanding of modern gender identity« (McNay 1999, S. 106). Letztlich muss sich also neben Luhmann 3 auch Bourdieu den Vorwurf gefallen lassen, die Bedeutung der Geschlechterdifferenz in der heutigen Gesellschaft nicht angemessen erfasst zu haben. Während Luhmann die Relevanz von Geschlecht bei der Definition sozialer lnklusionsbedingungen in der funktional differenzierten Gesellschaft unterschätzt, ist bezüglich Bourdieu wohl eindeutig das Gegenteil zu konstatieren. Während für Luhmann klar ist, dass Männern und Frauen der Zugang zu den verschiedenen Funktionsbereichen auf gleiche Weise offen steht, insistiert Bourdieu darauf, dass Frauen aus den Feldern, in denen die Männer ihr ernstes Spiel um die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen spielen, entweder ausgeschlossen sind und daher nur indirekt, über ihren Ehemann, an ihnen teilhaben oder innerhalb dieser Felder nur untergeordnete Positionen einnehmen. Einen ,Mittelweg< zwischen diesen beiden Extremen zu finden, scheint mir die Hauptaufgabe aktueller Geschlechtertheorie zu sein. Dazu ist es notwendig, zwischen den geschlechtsneutralen und geschlechtlich definierten Lebensbedingungen von Männern und· Frauen zu unterscheiden. Die Geschlechtsneutralität von Gesellschaftsstrukturen ist im Anschluss an Luhmann durch die primäre funktionale Differenzierungsform unserer Gesellschaft vorgegeben. Auch in Bourdieus Gesellschaftstheorie findet man neben der gesellschaftlichen Differenzierung in Klassen recht unvermittelt eine weitere, Luhmanns Begriff von der modernen Gesellschaft sehr ähnliche Beschreibung der modernen Gesellschaft: Bourdieus Feldbegriff »bezieht sich auf das in der Modeme auffällige Phänomen der relativen Autonomie« und »der ,Eigenlogik< abgegrenzter sozialer Sektoren« {Krais/Gebauer 2002, S. 55). Entscheidet man sich dafür, diese funktionale Differenzierung, und nicht die Unterteilung in J Zur einschlägigen Kritik an Luhmanns Systemtheorie bezüglich ihrer Möglichkeit, die Geschlechterdifferenz zu erfassen, vgl. Berghahn (1994), Cornell (1996), Runte (1994), Teubner (20m).

Öffentlichkeit und Privatheit, zur Grundlage der Gesellschaftsbeschreibung heranzuziehen, gewinnt man in der Beschreibung eine erste geschlechtsneutrale Bedingung gesellschaftlicher Inklusion. Der Ort der Produktion und Reproduktion geschlechtlicher Ungleichheiten innerhalb dieser funktional differenzierten Gesellschaft ist auf der lnteraktionsebene zu finden. Mit ihrer Analyse befassen sich die folgenden Abschnitte. Dazu erweist sich die Einführung des Bourdieuschen Habitusbegriffs in das letztlich körperlos konzipierte Kommunikationskonzept Luhmanns als fruchtbar. Ich gehe damit indirekt der Aufforderung an Bourdieu von verschiedenen Seiten nach (McCall 1992; McNay 1999; Reay 1997), den Blick von der kabylischen Gesellschaft wegzunehmen und auf die zentralen Begriffe von Habitus und Feld für die Analyse des Geschlechterverhältnisses in der modernen Gesellschaft hin zu konzentrieren. Der nächste Abschnitt (Abschnitt 2) wird sich zuerst kritisch mit der Zweidimensionalität des Habitusbegriffs befassen und seine Reformulierung aus systemtheoretischer Perspektive vornehmen. Anders gefasst, lässt er sich sehr gut als Ergänzung der Luhmannschen Form »Person« verwenden (Abschnitt 3). Mit der Unterscheidung von Habitus und Person lässt sich das Verhältnis von Geschlechterdifferenz und Kommunikationsstruktur - und damit die Relevanz und Irrelevanz der Geschlechtszugehörigkeit für soziale lnklusionschancen - gut au&.eigen (Abschnitt 4). Schließlich ergänze ich das neu entwickelte Habitus/Person-Konzept mit der Kapitalsorte Gender und versuche, die Gründe für die lnklusionsrelevanz der Geschlechterdifferenz au&.uzeigen (Abschnitt 5).

2.

Der Habitus: Psyche und Soziales

Der Habitusbegriff Bourdieus ist als Ergebnis von Sozialisation durch Teilnahme an der funktional in verschiedene Felder differenzierten Gesellschaft stets als auf einer vorbewussten, körperlichen Ebene in das Individuum eingelassen gedacht, und als solcher ist er als ein Speicher gelebter Erfahrungen zu begreifen, aus dem sich das Individuum bedient, wenn es sich in der sozialen Situation verhält, eine Haltung zu ihr einnimmt. »Der Gewaltstreich [... ], den die soziale Welt gleichwohl gegen jedes ihrer Subjekte ausführt, besteht eben darin, daß sie in seinen Körper ein regelrechtes Wahrneh64

mungs-, Bewertungs- und Handlungsprogramm einprägt.« (Bourdieu 1997a, S. 168) Von manchen wird der Habitus auch als alternatives Konzept zur sozialen Rolle verstanden (vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 66; Meuser 1998, S. n6), da er nicht vom Gegensatz von Individuum und Gesellschaft ausgehe, sondern das Individuum immer schon als vergesellschaftet denke, während die soziale Rolle lediglich einen Ausschnitt des Individuums beleuchte. Anstelle vieler verschiedener Rollen, so wird argumentiert, habe jedes Individuum nur einen Habitus. Wie ist dann aber das Verhältnis zwischen Habitus und der in verschiedene Felder differenzierten Gesellschaft zu denken? Hatte nicht gerade die Rollentheorie genau auf diese Differenziertheit der modernen Gesellschaft hingewiesen? Gilt nicht das Individuum der funktional differenzierten Gesellschaft spätestens seit Simmel als fragmentiert? Schließlich ist es in differenzierten Gesellschaften geradezu unmöglich, »in den unterschiedlichsten situativen Konstellationen die unterschiedlichsten Verhaltenszumutungen mit einer ,Seinsform< zu beantworten, die die jeweilige Komplexität adäquat wiedergibt« (Bohn 1991, S.142). Von den Kritikern des Rollenkonzepts wird jedoch darauf bestanden, jedem Individuum nur einen Habitus zuzuschreiben. Versteht man den Habitus dabei als »ehe incorporation of ehe social into the body« (McNay 1999, S. 95), dann macht dies auch durchaus Sinn: Jedes Individuum besitzt nur einen Körper und, vermittels seiner individuellen und dennoch zugleich klassen- und geschlechtsspezifischen Positionierung in der Gesellschaft, auch nur eine Biographie, die zu seiner individuellen Bewusstseinsstruktur geführt hat: »Die fortschreitende Somatisierung der fundamentalen, für die soziale Ordnung konstitutiven Beziehungen führt schließlich zur Institution von [spezifischen] ,Naturen«Vollpräsenz< als Bestandteil der Interaktionssituation zu begreifen« (Bahn 1991, S. 107). Zudem: Geht man mit dem Habitusbegriff davon aus, dass er sich durch Teilnahme an verschiedenen Kommunikationen bildet, deren Zugang durch Klasse und Geschlecht mehr oder weniger determiniert ist, dann impliziert dies die sukzessive Aneignung von Eigenschaften in Abhängigkeit von den spezifischen Erwartungen der jeweiligen sozialen Situation. Der Habitus ist also das Ergebnis von Lernprozessen (vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 63). Wird dies übersehen, dann wird den Grundannahmen im Verständnis von Habitus und Feld widersprochen, da »der Habitus keine ahistorische Essenz ist und [da] Felder bzw. Situationen den Habitus auf eine bestimmte Weise erst ermöglichen« (Bahn 1991, S.108). Damit wird die »Relationierung Habitus/Feld« nicht wirklich ernst genommen (Bahn 1991, S. 107) und der Habitus in erster Linie als psychische Einheit in den Vordergrund gerückt. Dabei hat Bourdieu ihm an verschiedenen Stellen zugleich eine sehr viel stärkere soziale Bedeutung gegeben: »Die soziale Welt behandelt den Körper wie eine Gedächtnisstütze« (Bourdieu 1997a, S. 167), »wie einen Automaten, ,der den Geist mitzieht, ohne daß dieser dran denktreichhaltiger< angelegt, als die Person, da viele seiner Merkmale nicht explizit in die Kommunikation eingehen (müssen): Die Person der Kommunikation wird vorn Bewusst6 George Herbert Mead (1973) hat hier bekanntlich im Unrerschied zur individuel-

len Handlung von der sozialen Handlung gesprochen.

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sein als körperlicher Habitus mit allen Facetten individueller, klassen- und geschlechtsspezifischer Eigenarten wahrgenommen.

4. Geschlechterdifferenz und Kommunikationsstruktur Die Form des Habitus, d. h. die körperlich ausgedrückten sozialen Haltungen, die Bewusstseine als Personen der Kommunikation aneinander wahrnehmen, sind keineswegs willkürlich gewählt oder lediglich den spezifischen Erwartungen der jeweiligen Kommunikation geschuldet: Vielmehr können die Bemühungen des Bewusstseins, den kommunikativen Anforderungen als Person zu genügen, scheitern. 7 Die Kommunikation kann darauf ganz unterschiedlich reagieren: Sie kann solche Fauxpas übergehen, mit Immunreaktionen wie dem Konflikt oder gar der Exklusion der betreffenden Person antworten, schließlich kann ihr Fortbestand gefährdet sein. Sie legt daher Wert auf die Inklusion solcher Bewusstseinssysteme, die als angemessen sozialisiert beobachtet werden, die den ,richtigen, Habitus verkörpern können. Für Bourdieu verläuft Sozialisation immer klassenspezifisch, da der Zugang zu den verschiedenen Gesellschaftsbereichen durch die soziale Herkunft determiniert ist. Durch sie wird das Individuum mit einer klassenspezifischen Menge an ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital ausgerüstet und schränkt damit im Prinzip die biographischen Entwicklungsmöglichkeiten ein - was nicht bedeutet, dass z. B. sozialer Aufstieg unmöglich wäre: Die damit verbundenen Anstrengungen fließen jedoch unauslöschlich in den Habitus ein. ökonomisches Kapital drückt sich in materiellem Besitz aus. Dagegen besteht soziales Kapital aus »Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen« (Bourdieu 1983, S.190 (). Kulturelles Kapital existiert in drei Formen: in inkorporiertem Zustand (dauerhafte Dispositionen des Organismus), in objektiviertem Zustand (kulturelle Güter) und in institurionalisiertem Zustand (z. B. Titeln). In jeder Kommunikationssituation wird der 7 Erving Goffmans Studien (z. B. 1973) se,zen implizi, die Differenz von Bewuss,sein und Kommunika1ion voraus, wenn sie zeigen, wie erfinderisch die inkludier1en Bewusstseine sind, wenn es darum geh,, einen drohenden lmageverlus1 zu verhindern.

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Besitz an allen drei Kapitalsorten durch den Habitus zum Ausdruck gebracht: Kleidung symbolisiert ökonomisches Kapital, Auftreten, Sprachkompetenz und Wissen sind inkorporiertes kulturelles Kapital, und aktivierte soziale Beziehungen zeugen von sozialem Kapital. In kommunikativer Hinsicht relevant ist der kapitalienangereicherte, nur der Wahrnehmung zugängliche Habitus erst durch das »doing Status«, mit dem sich die Bewusstseinssysteme wechselseitig über mögliche Verhaltenserwartungen informieren: »Unbekannte signalisieren sich wechselseitig zumindest einmal Hinweise auf die wichtigsten Verhaltensgrundlagen: Situationsdefinition, sozialer Status, Intentionen.« (Luhmann 1987, S. 184) Der soziale Statuseiner Person, also die Erwartungen, die durch die Person gebündelt werden, ist für den Verlauf der Kommunikation, d. h. für ihr Selbstverstehen, instruktiv. Kommunikation versteht sich selbst, indem sie sich mit der Unterscheidung von Information und Mitteilung beobachtet: Eine Mitteilung wird in Mitteilung und Information unterschieden und auf diese Weise verstanden. Dabei kann die Kommunikation im Verstehen auf die Seite der Mitteilung (performativer Aspekt) oder auf die Seite der Information (konstativer Aspekt) Bezug nehmen. 6 Im ersten Fall (Mitteilung) thematisiert sie sich selbst, indem sie berücksichtigt, wie etwas mitgeteilt wurde. Im zweiten Fall (Information) dagegen bezieht sie sich auf ihre Umwelt und tut dabei so, als existiere diese außerhalb ihrer selbst. Oder anders ausgedrückt: Kommunikation, die sich selbst beobachtet, beobachtet sich als handelnd, Kommunikation, die ihre Umwelt beobachtet, beobachtet sich als erlebend (vgl. Luhmann 1975). Je nach Personenstatus lassen sich diesbezügliche Unterschiede im Kommunikationsverstehen beobachten. Ich möchte dies an der Geschlechterdifferenz verdeutlichen. Aus zahllosen Studien der Soziolinguistik und der Mikrosoziologie geht hervor, dass sich »Frauen und Männer[ ... ] offenbar in vergleichbaren Gesprächssituationen (tendenziell bis deutlich) nicht in derselben Weise an der Sprache [orientieren], um in Gesprächen zum Erfolg zu kommen« (Schnyder 1997, S. 171). Das lässt darauf schließen, dass sich Kommunikation auch in Abhängigkeit vom Geschlecht der mitteilenden Person versteht. Analysen von Kommunikationssituationen mit gleichgeschlechtlichen Personen zeigen (vgl. 8 Zur Unrerscheidung von performativer und konstativer Kommunikation vgl. Luhmann (1995c).

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dazu die Versuchsanordnung von Tannen 1997), dass die Kommunikation sich selbst auf unterschiedliche Weise beobachtet - und zwar nicht nur inhaltlich thematisch, wobei die Kommunikation mit weiblichen Personen eher persönlich-vertrauliche, mit männlichen Personen eher unpersönlich-sachbezogene Themen wählt. Darüber hinaus sind die Unterschiede auch struktureller Art. Bei Kommunikation mit männlichen Personen beobachtet sie sich überwiegend als handelnd und stellt den Mitteilungsaspekt in selbstreferentieller Hinsicht in den Vordergrund: Die mitgeteilte Information einer männlichen Person schließt eher nicht an den Informationsgehalt der Mitteilung ihres Vorredners an, sondern setzt gegen die mitgeteilte Information Alters die eigene unterschiedliche Perspektive. Die damit verbundene Konkurrenz um die Durchsetzung der verbindlichen Perspektive wird schließlich durch Unterordnung entschieden (vgl. Bischof-Köhler 1993, S. 271). Stattdessen überwiegt bei weiblichen Personen der erlebende Anteil, der an die Information angeschlossen und wodurch eine gemeinsam erlebte Welt hergestellt wird: Sie beziehen ihr Mitteilungsverhalten auf die mitgeteilte Information ihrer Vorrednerin und unterstützen sie somit, ohne sich selbst als Person mit einer eigenen, gegenüber der Perspektive von Alter divergierenden Perspektive auf die Welt hervorzuheben. Dadurch wird ein sozialer Konsens erzeugt, eine kommunikative Umwelt, auf die sich beide beziehen und die ihnen ein übereinstimmendes Erleben ermöglicht - und die normativ, durch Wertebezug, abgesichert wird (vgl. Flaake 1997, S. 70; Flohr-Stein 1992). Entsprechend dieser geschlechtstypischen Verstehensweisen unterscheidet sich das Körperverhalten der inkludierten Bewusstseine voneinander (vgl. Tannen 1997, S. 83 ff.), lassen sich weiblicher und männlicher Habitus deutlich voneinander unterscheiden: Im ersten Fall ist das eindeutig einander zugewandte Körperverhalten signifikant, dagegen wird im zweiten Fall eine Körperhaltung eingenommen, die den Eindruck von Desinteresse und Distanz vermittelt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit als Inklusionsbedingung oder Vorteil im Kampf um die gesellschaftlichen Ressourcen neu stellen. Hier sind die Überlegungen von Beate Krais (2000), die sich mit der Korrelation von geschlechtlichem Habitus 9 und Wissenschaftsfeld beschäf9 Bourdieu selbst tendiere dazu, den Klassenhabitus dem Geschlechtshabitus vorzuziehen (Bourdieu 1997b, S.221ff.). Andere (z.B. Krais 2000; Meuser 1998) da-

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tigen, interessant. Krais sieht die Struktur dieses Feldes im Anschluss an Bourdieu als ein Kräftefeld, das durch eine eigene feldspezifische Logik definiert ist und in dem um einen Einsatz gekämpft wird. Die Handlungen der teilnehmenden Individuen müssen dieser Logik folgen. Motiviert werden sie dabei durch die illusio, das ist der Glaube an dieses ernste Spiel im Feld, die als eine Art libidinöse Bindung (libido dominandi) an die Spielregeln ein entsprechendes Selbstverständnis der Individuen voraussetzt. Durch sie wird das konkurrierende soziale »Handeln weitgehend spontan, es folgt einer sozialen Logik, die intuitiv ,gewusst< wird, die den Individuen zur ,Natur, geworden ist« (Krais 2000, S. 39). lm sozialen Feld findet man somit einen »spezifischen Typus von Akteuren« (Krais 2000, S. 40), der sich durch seine Lust am Wettkampf und einen entsprechend ,kämpferischen, Habitus auszeichnet (Krais 2000, S. 44). Diese Lust am Wettkampf, in der es nicht nur um das Ausstechen des anderen, sondern auch um das Miteinander geht, ist als agonales Denken tief »in der westlichen Tradition der Suche nach Erkenntnis« verwurzelt (Krais 2000, S. 45). 10 Bourdieu

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gegen befürworeen letzteren Begriff. Meiner Ansiehe nach bevorzuge Bourdieu den Klassenhabitus deshalb, weil er den sozialen Status der Frau von dem des Mannes, dem sie ,angehöre,, abhängig mache. Ein ganz ähnlicher Grund liegt auch da vor, wo er Gender nicht als eine Form sozialen Kapitals berücksichtigt (ich komme in Abschnitt 5 darauf zurück), obwohl er selbst immer wieder herausstelle, dass die Geschlechtszugehörigkeit für den Zugang zu den verschiedenen Gesellschaftsbereichen sogar als lnklusionsbedingung verstanden werden muss. Für Bourdieu sind letztlich alle sozialen Felder durch die Logik des Kampfes, deren Urbild der Krieg ist, strukturiere. Was Bourdieu dabei jedoch unterschlägt, sind die funkcionsspezifischen Unterschiede der Funktionssystemkommunikationen, die in der Systemtheorie als symbolisch generalisieree Kommunikationsmedien gefasst werden. Meiner Ansiehe nach liege das daran, dass Bourdieu im Unterschied zu Luhmann keine Kommunikacionssyscemebenentrennung in Interaktion, Organisation und Funkrionssysceme bzw. Gesellschaft vornimmt. Anstatt das Wissenschaftsfeld als Referenz zu nehmen, sollte daher vielmehr die lnterakcion, und zwar die spezifisch durch eine wissenschaftlich geprägte Organisation gerahmte Interaktion, ins Blickfeld gerückt werden. Die Anforderungen an die Personen wissenschaftlicher Kommunikation werden somit aus zwei Quellengespeist: Wissenschaftliche Kommunikation verwendet das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Wahrheit und ist in Oriemierung an Theorien und Methoden programmiere. Organisationsstellen und persönliche Reputation werden aufgrund von Erfolgen bei der Herstellung und Darstellung von wahren Forschungsergebnissen und sozialen Kontakten vergeben. Um alle dieser verschiedenen Anforderungen kommunikativ bewälcigen zu können, sind Maßnahmen zur

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zufolge ist die libido dominandi ein Merkmal des männlichen Habitus,'' während sie der weibliche Habitus dagegen typischerweise nicht besitzt. Daher haben Frauen oftmals Probleme, sich in diesem Spiel zu behaupten, fühlen sie sich fremd und ausgeschlossen, 12 und werden ihre Leistungen nicht auf dieselbe Weise anerkannt. 13 Ihr Verhältnis von Frauen zur Wissenschaft ist auf einer anderen Ebene, eher sachorientiert, angesiedelt: »Sie machen sich lustig über die ,Hahnenkämpfe< unter Männern, sind peinlich berührt, von deren ,substanzloser Selbstdarstellung< oder leiden unter deren ,killing instinct< und der Anforderung, sich ebenso verhalten zu müssen« (Krais 2000, S. 47). Kurz und gut: Der weibliche Habitus >passt< nicht so gut mit den Erwartungen, die wissenschaftliche Kommunikation durch ihre Personen gebündelt sehen will, zusammen. Hier steht vielmehr mitteilungsorientiertes Verstehen im Vordergrund: Wissenschaftliche lnteraktionskommunikation erwartet das Konkurrenzverhalten ihrer Personen um die Durchsetzung der eigenen Perspektive. Bewusstseinssysteme mit weiblichem Habitus haben es »Sonderbehandlung von Interaktionen mit Ausmerzung oder Herabstufung inrerakrionstypischer Merkmale« erforderlich (Luhmann 1992, S. 241). Anders ausgedrückt: »Für die Entwicklung von wissenschaftlicher Wahrheirskommunikarion ist es deshalb wichtig, das, was normal ist, außer Kraft zu serzen und eine zunächst paradoxe Entwicklung einzuleiten, nämlich: die Konflikrbereirschaft zu erhöhen und die Diskredirierungseffekte des Konflikts abzuschwächen.« (Luhmann 1992, S. 242) 11 Auch wenn Bourdieu diese libido dominandi hier eher im psychischen Sinne versteht, so beziehe ich sie, als Konsequenz aus obiger Kritik am Habitusbegriff, auf den Habitus als soziales Körperverhalten: Die Freude am Wettkampf muss kommunikativ ausgedrückt und umgesetzt werden. 12 Wie z. B. Renate Mayntz berichtet: »Gestört hat mich an meinem weiblichen Minderheitenstatus vor allem, daß ich aus der zwischen männlichen Kollegen herrschenden Kameraderie ausgeschlossen blieb; manchmal kam ich mir im männlichen Kollegenkreis wie ein Zirkuspferd vor, auf dessen Kunststücke man stolz ist.« (Zir. n. Krais 2000, S. 46) 13 Vgl. dazu nur eine der unzähligen Studien zur abwertenden Einschärzung der Leistung von Frauen bei Wenneras/Wold (2000), die die angeführten Kriterien zur Beurteilung von männlichen und weiblichen Wissenschaftlerinnen bei der Vergabe von Habilitationsstipendien untersucht haben:»[ ... ] die einzige Gruppe von Frauen, die als ebenso kompetent beurteilt wurde wie Männer, wenn auch nur als ebenso kompetent wie die am wenigsten produktive Gruppe der männlichen Bewerber (Männer mit weniger als 20 Punkten Gesamtwirkung), war die produktivste Gruppe der Frauen, nämlich die Bewerberinnen mit wo und mehr Punkten Gesamtwirkung« (S. m).

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hier schwerer, sich als wissenschaftliche Persönlichkeit, deren Forschungsperspektive für die »scientific community« als verbindlich, weil zum Stand der Forschung gehörig, gilt, zu etablieren. Gilt also, dass der männliche Habitus im Wissenschaftsfeld als kompetenter und insgesamt ,passender< wahrgenommen wird als der weibliche Habitus, kommt man nicht umhin, einen strukturellen Zusammenhang von geschlechtlichem Habitus und der Person wissenschaftlicher Kommunikation anzunehmen. Daher können Bemühungen des Bewusstseinssystems, seinen Habitus an die kommunikativen Anforderungen als Person der Wissenschaft anzupassen, scheitern. Das bedeutet bei weitem nicht gleich seine formale Exklusion, notwendig thematisiert wird die ,Unpässlichkeit< solcher Habitus keineswegs, im Gegenteil: »Es gibt zahlreiche Differenzen, die sich im Wahrnehmungsbereich aufdrängen und im Kommunikationsprozess gleichwohl ignoriert werden müssen. Man denke hier nur an den Unterschied der Geschlechter und an die Empfindlichkeit, mit der in heutigen Kommunikationen darauf geachtet wird, dass er nicht auch noch die Kommunikation bestimmt.« (Kieserling 1999, S. 73) Die Folgen sind vielmehr kommunikationsexterner Natur: Sie werden sichtbar in den seltenen Diskussionsbeiträgen von Wissenschaftlerinnen auf Fachtagungen, in der Konzentration weiblicher Wissenschaftlerinnen auf die so genannte »Frauenforschung«, durch unbeabsichtigte Benachteiligung bei der Vergabe von Förderungsmitteln und Professuren etc. (vgl. auch Krais 2000, S.47).

5. Gender als Form kulturellen Kapitals? Wenn die ,richtige, Geschlechtszugehörigkeit als Merkmal zur Steigerung von lnklusions- und Kommunikationschancen angenommen werden muss, dann macht es Sinn, Gender in engem Zusammenhang mit den Bourdieuschen Kapitalsorten zu sehen. 14 Das Wissenschaftsfeld scheint ganz offensichtlich Habitus, die mit einer 14 »Why, rhen, not use construcced femininiry and masculiniry as [ ... ] capital?« (McCall 1992, S. 342) »Although forms of capital correspond to occuparional fields (e.g., literary capital, sciemific capital, etc.) they have gendered meanings because they are given form by gendered dispositiom. In this light, there must be a clear understanding of the relarionship berween capital, dispositions, and gender.« (McCall 1992, S. 342)

für männliche Habitus typischen Form inkorporierten kulturellen Kapitals ausgestattet sind, zu bevorzugen. Bourdieu hat immer wieder betont, dass die Kapitalien das Rüstzeug sind, das das Individuum bei seinem Versuch, sich im Feld zu positionieren, benötige, und dass die einzelnen Felder den Besitz bestimmter Kapitalsorten privilegieren. Trotz seiner Geschlechterstudien hat er Gender niemals in Zusammenhang mit den Kapitalien gebracht, »because of his understanding of women principally as objects in chat space, as repositories of capitals which are appropriated and deployed by men as assecs in their josdings for position wich one another« (Lovell 2000, S. 21). Doch entspricht Gender jenen Charakteristika, durch die der Kapitalbegriff definiert ist? Ausgangspunkt des Begriffs ist das Verständnis von Kapital als akkumulierter Arbeit, »enrweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ,inkorporierter, Form« (Bourdieu 1983, S. 183). Ihre Verteilungsstruktur entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, »d. h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird« (Bourdieu 1983, S. 183), und sie werden gewonnen, d. h., es braucht Zeit, um sie zu akkumulieren. Einmal im Besitz, schränken sie den Horiront an Handlungsmöglichkeiten ein und eröffnen ihn zugleich. Kapitalien können Profite produzieren, sie können sich selbst reproduzieren und wachsen. Schließlich sind sie konvertierbar: kulturelles und soziales Kapital sind in ökonomisches konvertierbar und umgekehrt ist soziales Kapital in kulturelles (z. B. Titel) konvertierbar. Passt dies alles auf Gender? In den Sozialwissenschaften versteht man aufgrund unzähliger empirischer Studien zur geschlechtlichen Arbeitsteilung und geschlechtsspezifischen Sozialisation in der Familie den Erwerb der Geschlechtsidentität als konstruktive Aneignung, die durch das »doing Gender« der Individuen konstitutiver Teil ihres Habitus geworden ist und ihre Kommunikationschancen determiniert (z. B. Hirschauer 1994). Daher scheint mir das inkorporierte kulturelle Kapital diejenige Kapitalsorte zu sein, der Gender am ehesten zugeordnet werden kann. Kulturelles Kapital wird durch Investition von Zeit und durch Zugang zu Bildungseinrichtungen gebildet und basiert nicht auf natürlichen Fähigkeiten. Seine Transmission findet in 77

Familien statt (Bourdieu 1983, S. 186), es ist körpergebunden und verinnerlicht und damit fester Bestandteil des Habitus (Bourdieu 1983, S. 187): »Die meisten Eigenschaften des kulturellen Kapitals lassen sich aus der Tatsache herleiten, daß es grundsätzlich körpergebunden ist und Verinnerlichung (incorporation) voraussetzt. Die Akkumulation von Kultur in inkorporiertem Zustand - also in der Form, die man auf französisch ,cu!ture,, auf deutsch ,Bildung,, auf englisch >cultivacion, nennt - setzt einen Verinnerlichungsprozeß voraus, der in dem Maße, in dem er Unterrichts- und Lernzeit erfordert, Zeit kostet. Die Zeit muß vom Investor persönlich investiert werden: Genau wie man sich eine sichtbare Muskulatur oder eine gebräunte Haut zulegt, so läßt sich auch die Inkorporation von Bildungskapital nicht durch eine fremde Person vollziehen.« (Bourdieu 1983, S. 186) Gender böte sich neben Bildung also durchaus als eine zweite Form inkorporierten kulturellen Kapitals an. Wie Bildung, so ist Gender, wenn auch nicht beliebig, steigerbar: Ein Habitus kann mit besonders viel Männlichkeit oder Weiblichkeit ausgestattet sein. Die Stereotypenforschung hat deshalb darauf hingewiesen, dass es neben den geschlechtlichen Globalstereotypen >typischer Mann, und >typische Frau< auch Substereotype gibt, die sich durch weniger Männlichkeit und Weiblichkeit auszeichnen (vgl. Eckes 1997). Ich verstehe unter geschlechtlichen Personenstereotypen »strukturierte Muster von Einstellungen zu persönlichen Attributen von Männern und Frauen« (Sieverding 1990, S. 54), die sowohl vom Bewusstsein bei der Wahrnehmung des Habitus als auch von der Kommunikation bei der Generierung von Erwartungserwartungen und der Thematisierung ihrer Personen verwendet werden: Das Bewusstsein orientiert an ihnen seine Haltung zu sich und Alter, und die Kommunikation gebraucht sie als semantisch spezifizierte Personen und versteht sie entweder als erlebend oder handelnd. Bezogen auf die Geschlechterdifferenz lassen sich, wie gesagt, deutliche Unterschiede aufzeigen: Weibliche Personen werden eher als erlebend, d. h. mit Selektions-Orientierung an Alter, und männliche Personen eher als handelnd, also mit SelektionsOrientierung an sich selbst, beobachtet. Daher wird Letzteren ein höheres Maß an Entscheidungs- und Selektionsfähigkeit unterstellt. Ein Weniger an Weiblichkeit und ein Mehr an Männlichkeit ist ein klarer Konkurrenzvorteil beim Kampf um die gesellschaftlichen Ressourcen. Weibliche Geschlechterstereotype, die diese ,Gender78

Mischung< aufzeigen, können sich bis zu einem gewissen Punkt entsprechend gut im ,männlichen Feld, behaupten. Ich möchte dies am Substereotypencluster »Karrierefrau« verdeutlichen. An ihm lassen sich die Steigerbarkeit von Gender, aber auch die Grenzen dieser Steigerbarkeit aufzeigen. Männliche Karrieristen oder Manager gehören zu den Stereotypen, die als die männlichsten gelten (vgl. Eckes 1997) und von Robert Connell (1999) als die Verkörperung hegemonialer Männlichkeit betrachtet werden. 15 Sie symbolisieren die typisch männlichen Eigenschaften »Aktivität, Kompetenz und Fähigkeiten, Durchsetzungsfähigkeit und Leistungsstreben« (Alfermann 1993, S. 304), bei denen es sich insgesamt um instrumentelle(= als Handeln geltende) Eigenschaften handelt. Auch die Charakterisierung von Karrierefrauen oder Managerinnen zeichnet sich durch ein gewisses Maß an Instrumentalität aus. Doch zeigt die Attributionsforschung, dass Erfolg und Kompetenz bei Frauen nicht aufFähigkeit, sondern auf Anstrengung zurückgeführt werden: »Frauen werden seit den 8oer-Jahren als engagiert, kräftig, korrekt beschrieben. Zweifellos wird auch Frauen Führungserfolg zuerkannt. Aber während Männer scheinbar selbstverständlich immer schon Führungsqualitäten besaßen, müssen Frauen ,kämpfen,, um tatsächlich ihre Arbeit zu meistern.« (Kirchler et al. 1996, S.159 f.) Daher gilt ihre Leistung als weniger berechenbar, ihre Entscheidungsfähigkeit absorbiert ein geringeres Maß an Unsicherheit. Denn ihre »erfolgversprechenden Eigenschaften [werden] als wesentlich instabiler empfunden [... ] als die Eigenschaften, die Männern zugesprochen werden« (Kirchler et al. 1996, S. 163). Auch wenn Karrierefrauen also weniger von der inkorporierten kulturellen Kapitalform Weiblichkeit besitzen und dafür mehr Männlichkeit, so ist dieser ,Mix< nicht beliebig herstellbar: Es ist kein Zufall, dass das Stereotyp ,Karrierefrau< nicht nur mit lnstrumentalität, sondern zugleich mit weiblicher Attraktivität gepaart ist. Denn physische Attraktivität von Frauen bewirkt einen höheren Grad an wahrgenommener Feminität (= Expressivität) was sich nachteilig auf sie auswirkt, wenn sie einen maskulin typisierten Beruf haben, und positiv, wenn sie einen feminin typisierten Beruf haben (vgl. Eckes 1997, S. 150, S. 177). Fehlt der Karrierefrau 15 Im Unterschied zu z. B. homosexuellen Männern, die jedoch laue Robert Connell (1999), im Unterschied zu Frauen, immer noch die »pacriarchale Dividende« einfahren.

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jedoch das attraktive Äußere als Indiz für ihre variable Umwelcbeziehung, aufgrund dessen ihr Anstrengung als Bedingung ihres Erfolges zugeschrieben wird, verliert sie das Maß an Feminität, das ihr Akzeptiertwerden in einer typischen Männerrolle erst ermöglicht. Die Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Frauen in statushohe männliche Positionen sind damit umrissen: Werden sie als attraktive Frauen beobachtet, wirken sie weiblich - und damit nur eingeschränkt kompetent. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass der Habitus einer >zu erfolgreichen< Frau unweiblich-aggressiv wirkt (Eckes 1997, S. 10 ff.). Ist Letzteres der Fall, dann ist die Grenze dessen erreicht, was das Karrierefrau-Stereotyp zu leisten vermag, nämlich die Annahme der Kommunikation trotz weiblichem Habitus. Letztlich gilc also: »Whatever gendered capital women possess in one respect, they lose in orhers.« (McCall 1992, S. 846) Im Unterschied dazu schließen sich Attraktivität und Kompetenz bei einem männlichen Habitus nicht wechselseitig aus, im Gegenteil: »An attractive man however escapes connotations of incompetence and may even consider it his duty eo enliven ehe workplace wich his stimulating presence.« (McCall 1992, S. 846) Wie die Klassenherkunft durch Erziehung und Bildung, so schlägt sich auch Gender dauerhaft im Habitus nieder und wirkt als eine weitere Form inkorporierten kulturellen Kapitals, das in Familie und Erziehungseinrichtungen, in allcäglichen Interaktionen erlernt wird und für die individuelle Positionsbestimmung in jeder Kommunikationssituation unhintergehbar ist. Es lässt sich steigern oder abschwächen und in Abhängigkeit davon lnklusionschancen wachsen oder sinken. Auf diese Weise wirkt Gender auch in der funktional differenzierten Gesellschaft, deren primäre Differenzierungsform geschlechtsneutral strukturiert ist und deshalb zu einer gegeneinander ausgerichteten Differenzierung von Bewusstsein und Kommunikation geführt hat, die es ihr erlaubt, den Körper auf funkcionsrelevante Teilaspekte zu reduzieren. Dennoch gelingt es ihren qua Funktionssysteme gerahmten lnterakcionssystemen nicht ,wirklichbegrenzten Rationalität«< (Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996, S.159). Das Konzept des Habitus dagegen versucht zu zeigen, dass das Handeln ein Geschehen ist, dessen sozialer Sinn die sinnhaften Reflexionen des Handelnden weit übersteigt. Bourdieu formuliere: »Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen« (Bourdieu 1987, S. 127) - und dieser Sinn liegt im Habitus begründet, in einer Verhaltensdisposition, die dem Handelnden offensichtlich vorreflexiv gegeben ist und der soziale Räume/Felder entstehen lässt, in denen der Habitus sich im Sinne bestimmter Anschlussfähigkeiten geradezu aufzwingt. Der Habitus, so die Quintessenz Bourdieus, wird nicht gewählt, sondern er stelle die Grundlage allen Wählens dar. Nun höre sich dies doch sehr verdächtig strukturalistisch an - der Habitus, besser: die Habitus wären dann die Programme, die sich in praxi entfalten und deren Entfaltung geradezu blind und unbegriffen erfolge. Allein, würde man Bourdieu so lesen, bliebe man doch in der billigen theoretischen Kontextur von Individualismus und Kollektivismus gefangen, die er ja gerade überwinden will. Ich sehe in Bourdieus HabitusKonzept vielmehr eine ähnliche Reaktion auf ein theoretisches Bezugsproblem, wie Luhmann es systemtheoretisch löst: die durch Günthers, in der sich bereits das Problem der selbsmagenden Strukcur allen Unterscheidens darsrellen ließe. Unberücksichtigt scheint Bühl aber die operative, temporalisierce Theorieanlage zu lassen, die die Entparadoxierung nicht nur als logisches Problem auffasst, sondern als operative Praxis, was ebenfalls bei Günther vorbereitet ist.

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operative Praxis selbst erzeugte Form sozialer Ordnung zu beschreiben. Nun ist es freilich kein Zufall, dass Bourdieu die Blindheit der Voraussetzung des Handelnden weniger in der sozialen Dynamik selbst lokalisiert. Wo bei Luhmann letztlich ein epistemologisches Argument ausgeführt wird, das logisch, i. e. über die Entfaltung von Paradoxien, aufgelöst wird, kommt bei Bourdieu der Körper ins Spiel. Dass Bourdieu sowohl metaphorisch als auch material immer wieder den Körper, das Inkorporierende und Inkorporierte des Habitus betont, scheint mir auf zweierlei hinzuweisen: Zum einen dient der »Körper« dazu, die nicht-intentionalistische Struktur des Handelns und der gesamten Verhaltensdisposition zu betonen. Der Habitus sei die inkorporierte soziale Struktur - und der Hinweis auf diese Kognition des Körpers ist auch ein Hinweis darauf, dass es Bourdieu vor allem darum zu tun ist, den Akteur zu dezentrieren, das intellektualistische Selbstmissverständnis des für sich selbst transparenten, über sich verfügenden und die Welt zum Objekt seiner Subjektivität machenden Heldenakteurs, der - um mit Freud zu sprechen - Herr im eigenen Haus sei. Körper lese ich nicht nur als das physikalisch-materielle Substrat eines räumlich vorkommenden Akteurs, sondern auch als Chiffre für etwas Vorfindbares, das man schwer negieren kann, das einfach da ist. Der Körper steht für ontologisches So-Sein, das sich der paradoxalen, selbsttragenden Dynamik entzieht - zumindest aus der Perspektive des Akteurs: »Was der Leib gelernt hat,( ... ) das ist man.« (Bourdieu 1987, S.135) Der Körper kennt - anders als Kommunikation - das Nein nicht, das es der Kommunikation erlaubt, zu negieren und doch weiter zu kommunizieren. Der »Körper« - sowohl in metaphorischer als auch in materialer Gestalt - dient Bourdieus Habitus-Theorie dazu, die nicht-intentionalistische Struktur der Überraschung der Praxis durch sich selbst auf den Begriff zu bringen. Handeln erscheint (zumindest einer solchen Beobachtung) hier letztlich als Erleben, was Bourdieus Orientierung am Bezugsproblem der Emergenz sozialer Strukturen aus der Praxis betont. Zum anderen macht der »Körper« aber auch darauf aufmerksam, wie sehr Bourdieus gesamte Theorie letztlich am Handelnden, am Akteur hängt. Er dekonstruiert zwar - wie die Systemtheorie - den Akteur als Effekt der sozialen Dynamik, so dass seine Handlungstheorie letztlich nicht handlungstheoretisch daherkommt. Aber zu169

gleich lokalisiere er die Dezentrierung des Akteurs in ihm selbst, in seinem Körper, der ihm ebenso blind vorausgesetzt ist wie die epistemologische Voraussetzung jeder selbsttragenden Struktur, wie Luhmann sie beschreibt. Anders als die Systemtheorie vermag die Habitustheorie freilich nicht vom Akteur als zentraler Figur lassen zu können und siedelt seine Voraussetzung dort an, wo ihn die cartesische Tradition nie vermuten durfte - am Körper, an der res extensa, was wiederum als begriffstechnischer Hinweis auf den geradezu inflationären Gebrauch der Raummetapher bei Bourdieu gelesen werden kann. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Stärke der Theorie Bourdieus besteht gerade darin, dass sie sich der Konzentration auf einen mit einer quasi autonomen Innenwelt ausgestatteten Handlungsträger entzieht und den Akteur nicht als Menschen modelliert, nicht als autonomes Subjekt, nicht als den Ursprung sozialen Sinns. All diese Zurechnungsformen bewegen sich innerhalb des cartesischen Rahmens, indem sie auf Kognitionen, Repräsentationen, Volitionen und Intentionen bauen, deren innere Unendlichkeit gewissermaßen den Ort darstellt, von dem her sich die Sinnhaftigkeit von Operationen erklären lässt. Bourdieu wendet sich davon radikal ab; er konzipiert in einer schönen Formulierung »das Individuum wie das Elektron [als] eine Ausgeburt des Feldes« (Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996, S. 138). Aber er orientiert sich theoretisch dann doch am Akteur, der aber nicht als Ursprung, auch nicht als Effekt, sondern als Element einer sozialen Dynamik angesehen wird. Dass Bourdieu all dies »im Körper der Akteure und in der Struktur der Situation« (Bourdieu 1998a, S. 7) lokalisiert, ist ein Hinweis darauf, dass der Akteur nach wie vor gebraucht wird, aber theoretisch entthront werden muss - aus dem Heldensubjekt wird der Körper. Gewiss wirkt meine Argumentation allzu weit weg von der unmittelbaren materialen Soziologie der beiden Theoretiker - aber deutlich sollte zumindest geworden sein, dass beide mit einem ähnlichen Problem beginnen, mit der Kritik strukturalistischer bzw. systemtheoretischer Modelle, um Strukturalismus und Systemtheorie ihrerseits als operative bzw. Praxistheorie zu reformulieren. Wenn ich bis an diese Stelle die Ähnlichkeit der operativen Theorieanlagen der beiden Theorien womöglich überzeichnet habe, wird hier nun deutlich, dass Luhmann und Bourdieu auf dem Boden dieses ge170

meinsamen Bezugsproblems dann doch sehr unterschiedliche Wege gehen. Luhmanns Lösung des Problems der Selbstanwendung und der operativen Genese von Strukturen wird epistemologisch durch die Beschreibung der Selbstplausibilisierung von Kommunikationsprozessen gelöst. Bourdieu dagegen entparadoxiert die Praxis des Akteurs, der die Praxis ebenso hervorbringt, wie er selbst durch sie hervorgebracht wird, durch die Anwendung und Dekonstruktion der cartesischen Dualität von Bewusstsein/Reflexion und Körper/Habitus. Dass Bourdieu diese Entparadoxierung am Akteur festmacht - im wahrsten Sinne des Wortes fest macht-, verweist darauf, dass seine Theorie des sozialen Sinns tatsächlich eine Theorie ausschließlich des sozialen Sinns ist- und darin kündigt sich die entscheidende Differenz zur Systemtheorie an.

4- »Sozialer« Sinn Beiden, Bourdieu und Luhmann, ist es darum zu tun, das sinnhafte Geschehen in der sozialen Welt als sozialen Sinn zu beschreiben. Und beiden geht es um die Dezentrierung des Akteurs, um die soziale Genese des Akteurs, dessen Sinnhaftigkeit als Akteur ein sozialer Sinn sei. In der Luhmannschen Systemtheorie erscheint die Handlung (und damit der Akteur als Adresse) als Ergebnis einer Zurechnung innerhalb von Kommunikationsprozessen. Die Umstellung von Handlung auf Kommunikation (vgl. Luhmann 1984, S. 191 ff.) dient theoretisch dazu, die soziale Genese des Sinnes einer Handlung auf den Begriff zu bringen. Diese Dezentrierung des Akteurs ist freilich keine Dezentrierung auf Kosten einer allgemeinen Systemstruktur, die der Handelnde nur passiv ablaufen lässt, sondern es ist die Dynamik der Kommunikation selbst, die Handlungen und damit Handelnde hervorbringt- in ihrem sozialen Sinn wenigstens. Ähnlich erfolgt die Dezentrierung bei Bourdieu, der im Habitus so etwas wie eine reziproke Verhaltenserwartung sieht, die freilich nicht »bewusst« und »intentional« hervorgebracht wird, sondern durch die Praxisform selbst, die als solche erst bei Abweichung für die Handelnden manifest wird: dann wird die blinde Selbstreferenz des Geschehens gewissermaßen unterbrochen, und die Akteure müssen »rationale« Entscheidungen treffen (vgl. Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996, S. 165). Auch hier entgeht Bour171

dieu wie Luhmann der Gefahr des strukturalistischen Objektivismus dadurch, dass er den Habitus sich in den Praxisformen selbst reproduzieren lässt. Oben habe ich bereits darauf hingewiesen, dass Bourdieu mit der körperorientierten Konzeption des Habitus die Dezentrierung des Akteurs am Akteur selbst festmacht, an seiner vorreflexiven Verhaltensdisposition nämlich, die in einem entsprechenden sozialen Raum/Feld erwartet wird. Luhmann dagegen lokalisiert den sozialen Sinn im kommunikativen Geschehen selbst, d. h. im Nacheinander kommunikativer Akte, deren Anschlussformen jene Struktur erzeugen, durch die sie sich selbst einschränken. Darin liegt nicht nur der entscheidende konzeptionelle Unterschied der beiden Theorien sozialen Sinns, sondern dieser Unterschied hat auch erhebliche Folgen für die beiden Soziologien. In Begriffen der Systemtheorie gesprochen steht Bourdieu gerade aufgrund seiner Dezentrierung des Akteurs am Akteur nur die Sinndimension des Sozialen zur Verfügung. Das Soziale des sozialen Sinns bei Bourdieu ist stets die Frage der Zurechnung, die Frage der eigenen Durchsetzungschancen, eine Frage des Kampfes um knappe Ressourcen und Positionen. Die Eigendynamik des Sozialen ist für Bourdieu ausschließlich eine soziale Eigendynamik in dem Sinne, dass Akteure sich in einem Feld ungleicher Verteilung von Chancen und Möglichkeiten bewegen und um Machtpotentiale kämpfen, die eigenen Chancen und Möglichkeiten zu verbessern. Sprechen, sagt Bourdieu (in Bourdieu/Wacquant 1996, S. 177 f.), sei immer ein Machtakt - wie jede andere Handlung auch in ihrem sozialen Sinn die Frage der sozialen Zurechnung, der sozialen Positionierung, der sozialen Ungleichheit berührt. Bourdieu lässt nicht einmal die sprachwissenschaftliche Entkoppelung der Sprache vom Sprechen/Sprecher gelten. Gegen die Saussuresche Illusion des Sprachkommunismus, also die Vorstellung, dass alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft über dieselbe Sprache verfügen, opponiert Bourdieu scharf. Diese Vorstellung suggeriere, »daß die Sprache kein seltenes Gut ist. Tatsächlich aber ist der Zugang zur legitimen Sprache völlig ungleich, und die theoretisch allgemeine und von den Sprachwissenschaftlern so großzügig auf alle verteilte Kompetenz wird in Wirklichkeit von einigen wenigen monopolisiert« (ebd., S. 181). Es sei hier nun nicht diskutiert, ob Bourdieus Kritik die Sprachwissenschaft in ihrer Gänze tatsächlich trifft, vielmehr wird an dieser Posi172

tion sehr deutlich, worin die Grundintuition der Bourdieuschen Soziologie liegt: Der soziale Raum, besser: die sozialen Räume werden von Herrschenden und Beherrschten, von Monopolisten und Massenkonsumenten, jedenfalls in erster Linie von Ungleichen bevölkert - und die Auflösung des Bezugsproblems der Bourdieuschen Soziologie, nämlich sich gegen einen starre strukturalistische Topdown-Logik zu richten, erfolgt durch die Entlarvung der Praxis als praktischer, echtzeitlicher Umsetzung einer »sozialen« Logik, deren Grundstruktur darin besteht, dass erreichbare Güter knapp sind, knapper als die Nachfrage jedenfalls. Was Bourdieu ohne Zweifel gelingt, ist, den sozialen Sinn der Ordnung sozialer Ungleichheit tatsächlich zu dynamisieren, d. h. ihn an konkreten Praxisformen anschaulich zu machen. So existiert für ihn soziale Ungleichheit eben nicht als schlichte Strukturvorgabe, sondern muss sich dem soziologischen Beobachter als Praxis zeigen, um angemessen beschreibbar zu sein. Die Logik des Sozialen ist für Bourdieu ausschließlich eine soziale Logik des ungleichen Zugangs zu knappen Ressourcen, der alle anderen Sinndimensionen untergeordnet bleiben. Sowohl die zeitliche wie die sachliche und räumliche Zurechnung und Organisation sozialen Sinns untersteht der Logik des sozialen Knappheitsaugleichs. Anders als in Luhmanns Systemtheorie, in der es eine offene empirische Frage ist, welche der Sinndimensionen eine Situation, ein System oder ein Bezugsproblem primär strukturiert, ist für Bourdieu der Vorrang der Sozialdimension immer schon ausgemacht. Letztlich ist dies vielleicht das einzige, aber dafür stabilste strukturalistische Erbe seiner Soziologie: dass sich die gesellschaftliche Praxis ausschließlich als Kampf um knappe Ressourcen darstellt. Ich habe meine Überlegungen mit den gänzlich unterschiedlichen Habitus von Luhmann und Bourdieu begonnen. Vielleicht wird nun deutlicher, dass dieser Unterschied keineswegs nur auf Geschmacksfragen, auf Fragen der entsprechenden Form der theoretischen Selbstinszenierung oder gar der politischen Präferenzen zurückgeht, wie man sicher gerne meinen könnte. Er ist vielmehr der zentralen theoretischen Figur geschuldet, die trotz aller Ähnlichkeiten in der Kritik strukturalistischer Denkfiguren an einem entscheidenden Detail auseinander fällt. Zeigt sich die Systemtheorie offen für die empirische Bedeutung der Strukturierung gesell173

schaftlicher Prozesse in der Sozialdimension neben denen sachlicher, zeitlicher und räumlicher Art, bildet für Bourdieu die Sozialdimension fast so etwas wie ein nicht-empirisches, mithin nahezu transzendentales Moment gesellschaftlicher Prozesse. 4 So gesehen, stellt sich die Bourdieusche Soziologie als erheblich traditionalistischer dar, als es zunächst den Anschein hat. Bourdieu gilt in der Fachdiskussion als derjenige, dem es gelungen sei, die Klassentheorie von ihrem Ökonomismus zu befreien (vgl. Honneth 1984; Necke! 20m) und die strukturierende Bedeurnng kultureller Formen und sozialer Netzwerke zu betonen (vgl. Müller 1986; 1992). Zugleich aber wird (vgl. nur Kieserling 2000) der merkwürdige theoretische Ökonomismus der Soziologie Bourdieus bemerkt. Und in der Tat formuliert Bourdieu seine Theorie in weiten Teilen in ökonomischen Begriffen: Da ist von Kapitalsorten die Rede, von Knappheit, Investitionen und Einsatz, nicht zuletzt von der »Ökonomie« der Praktiken. Sieht man also auf den ersten Blick eine Theorie, die zwar an der Idee der Klasse festhält, die Klassenverhältnisse aber nicht mehr nur über die Stellung zu den Produktivkräften und in den Produktionsverhältnissen erklärt, erscheint eine Theorie, die den Ökonomismus der frühen Sozialwissenschaften - sowohl der Marxschen als auch der nationalökonomischen Tradition - in die Schranken weist. Einern zweiten Blick jedoch wird gewahr, wie sehr Bourdieu geradezu einer Universalisierung des Ökonomischen das Wort redet. Für Bourdieu ist nicht mehr nur die Ökonomie ökonomisch strukturiert, sondern letztlich jegliche Form sozialer Praxis, die um die Verfügung über knappe Chancen und Ressourcen kämpft. Hatte der klassische Marxismus die Ökonomie der nichtökonomischen Sphären noch als Reflex auf das ökonomische Klassenverhältnis gedacht, bilden nach Bourdieu die unterschiedlichen Felder der Gesellschaft, ja jegliche soziale Praxis, eine je eigene Form der Ökonomie aus, die das Prinzip des ökonomischen Knappheitsausgleichs zum Algorithmus des Sozialen schlechthin macht. Die Theoriesprache Bourdieus ist eine ökonomische Sprache - allein die Währungen variieren; Geld gilt nur in der ökonomischen Ökonomie, nicht in den anderen. 4 Freilich gilt dieses Argument srreng genommen nur rheorietechnisch, denn in Luhmanns Gesellschafmheorie lässt sich sehr wohl ein konzeptioneller Vorrang der Sachdimension beobachten - zumindest im Hinblick auf die Theorie funktionaler Differenzierung (vgl. dazu Nassehi 2004b).

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In vergleichender Perspektive zur Theorie Niklas Luhmanns könnte die Entscheidung Bourdieus für diese Theoriefigur besonders plausibel nachgestellt werden. Es wäre sicher zu einfach, Bourdieu schlicht den ökonomistischen Traditionalismus klassischer marxistischer Perspektiven nachzusagen - schon die empirische Genese seiner Begrifflichkeiten aus der Analyse des vorindustriellen Algeriens ließe das nicht zu. Ich sehe vielmehr in der konzepti,;mellen Einschränkung seiner Perspektive auf die Sozialdimension eine fast unweigerliche Notwendigkeit, die Logik des Sozialen in ökonomischen Begriffen auszudrücken. Während Luhmann die Logik des Sozialen zunächst recht voraussetzungslos beschreibt - es komme zunächst nur auf die Frage der Anschlussfähigkeit an-, kann er sich empirisch dafür offen halten, welche Problembezüge soziale Anschlüsse entfalten. Und es gehört wenig soziologische Phantasie dazu, gerade in der polykontexturalen Gesellschaft der Gegenwart nicht nur auf soziale Problembezüge zu stoßen, sondern auch auf sachliche, räumliche oder zeitliche. Bourdieu dagegen legt sich darauf fest, dass der soziale Sinn 1 sich ausschließlich als Problem der Positionierung von Akteuren, als Kampf um knappe Güter, als Streben nach Positionen, als Konkurrenz und Streit um politische Partizipation und Repräsentation zeigt. Wer das Movens des Sozialen tatsächlich so in dem Streben von Einzelnen nach Gewinn im Sinne einer Positionsverbesserung fokussiert, wird von einer ökonomischen Theoriesemantik geradezu angezogen. Wenn es stimmt, dass die Funktion des Ökonomischen in der modernen Gesellschaft darin besteht, die Vorsorge mit knappen Gütern mit ihrer gegenwärtigen Distribution zu verknüpfen; wenn es weiterhin stimmt, dass diese Funktion nur durch die Verbindung einer quasi »natürlichen« Knappheit verfügbarer Güter und Leistungen und der »künstlich« erzeugten Knappheit seiner Repräsentation - üblicherweise in der Form des Geldes - erfüllt werden kann (vgl. Luhmann 1988, S. 63 ff.), lässt sich die Plausibilität von Bourdieus semantischem 5 Der französische Originaltitel dieses in meinen Augen thereorischen Hauptwerkes von Bourdieu (!987) laurer le sem pratique, also praktischer Sinn. Unfreiwillig sagr die deursche Überserzung Soziakr Sinn mehr, als wohl beabsichrigc war: dass sich der Sinn in gesellschafdichen Prozessen primär (und fasr ausschließlich) in der Sozialdimension zeigr und dass der Algorirhmus der gesellschafdichen Strukrur damir erfass, sei, dass Akteure in ihrer Praxis im Kampf um jene knappen Ressourcen des Sozialen stehen. 175

Ökonomismus durchaus nachvollziehen: Wenn das Soziale tatsächlich als ein Raum konzipiert wird, in dem es in erster Linie um Knappheiten geht, wenn dieser Raum nicht nur mit empirischen Knappheiten zu tun hat, sondern auch mit seiner Reflexion, seiner semantischen Repräsentation und sinnhaften Bedeutung, dann muss sozialer Sinn offensichtlich mit artifiziell erzeugten Knappheiten aufwarten. Und so erscheint dann sowohl Ökonomisches als auch Kulcurelles, Symbolisches und Soziales als Kapital, mithin als gesellschaftlich erzeugte Knappheit. Der Sinn von Bourdieus begrifflichem Ökonomismus besteht darin, diese gesellschaftlich erzeugte Knappheit auf den Begriff bringen zu können, um den sozialen Sinn tatsächlich ausschließlich in der Sozialdimension sehen zu können. 6 Mein hier vorgetragenes Argument soll nun zweierlei leisten: Zum einen soll es zeigen, wie konsistent und überzeugend Bourdieus Entscheidung für den semantischen Ökonomismus ist - zumindest auf dem Boden einer Theorie, die nur die Sozialdimension kennt. Zum anderen ist es letztlich ein perfides Argument. Denn sein performativer Gehalt soll weit über das hinausgehen, was hier vordergründig gesagt wird. Es weist nämlich - aus der Perspektive der Theorie Luhmanns, namentlich der Theorie funktionaler Differenzierung gesehen - darauf hin, dass soziale Anschlüsse offensichtlich nicht nur in der Sozialdimension, sondern auch in der Sachdimension strukturiert werden. Das Argument führt an sich selbst vor, dass die moderne Gesellschaft sich vor allem in der Sachdimension ihrer zentralen Funktionen strukturiert. Vorgeführt wird dies an Bourdieus eigenem Argument, das von der sachlichen Logik des Ökonomischen geradezu angezogen wird - einer sachlichen Logik, die sich insbesondere am Problem der zukünftigen Knappheit und der gegenwärtigen Distribution von Gütern orientiert. Dass dies - gerade ökonomisch - primär Folgen in der Sozialdimension hat, wider6 Zur Ergänzung: Luhmann macht darauf aufmerksam, dass sich mit der doppelten Orientierung der Wirtschaft an der Zukunftsvorsorge und der gegenwärtigen Discriburion Zeit- und Sozialdimension »wechselseitig belasten« (Luhmann 1988, S. 65}. Bourdieu macht auf diese Wechselseitigkeit durch seine Orientierung an Praxis aufmerksam. Die soziale Strukrurierung eines sozialen Feldes erfolgt über Ordnungsbildung durch Knappheitsmanagemenc, ihre zeitliche Komponente verweist auf die echtzeitliche, also gegenwarrsbasierte Praxis, in der Akteure sich behaupten (müssen}. Ich werde diesen Argumentationsstrang hier nicht weiter verfolgen - verwiesen sei vielmehr auf den daraus ableitbaren theoriestrategischen Sinn von Praxis für Bourdieu.

spricht diesem Gedanken nicht. Im Gegenteil: Es macht darauf aufmerksam, dass die gesellschaftliche Universalisierung der Sozialdimension als Grundalgorithmus des Sozialen eine Argumentation in ökonomischen Begriffen nahe legt. Ich möchte also an der Argumentationsstruktur Bourdieus zeigen, wie die Anschlussfähigkeit von Kommunikation jenen Zugzwängen einer funktional differenzierten Gesellschaft folgt, die eben nicht primär in der Sozialdimension strukturiert sind. Was zu zeigen ist, ist die empirisch beobachtbare Tatsache, dass sich die gesellschaftliche Struktur keineswegs nur in der Frage erschöpft, wie Knappheitsmanagement und Distributionslogik gesellschaftlich knapp gehaltener Güter organisiert werden. Vielmehr scheint sozialer Sinn auch sachlicher oder zeitlicher sozialer Sinn zu sein, der im Falle der funktional differenzierten modernen Gesellschaft für die Ausdifferenzierung von sachlichen Logiken führt, um die herum sich Funktionssysteme ausbilden und deren Nebeneinander das Grundkonstituens der polykontexcuralen Modeme ausmacht. Die alleinige Konzentration auf Knappheit und Distribution als Bezugsproblem sozialer Ordnung erscheint vor diesem Hintergrund als außerordentlich unterkomplex. Denn offensichtlich hat Bourdieu nur wenig Sinn für den sachlichen Sinn der Felder sozialer Praxis.

5. Felder und Funktionen Auf den ersten Blick könnte mein Argument freilich schon damit widerlegt werden, dass Bourdieu in seiner Theorie der Felder durchaus auch eine Art sachlicher Differenzierung der modernen Gesellschaft annimmt. Die Feldertheorie ähnelt in vielem einer Theorie funktionaler Differenzierung, nach der Bereiche wie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion, Wirtschaft oder Bildung sich insofern voneinander wegdifferenzieren, als sie unterschiedlichen Anschlusslogiken folgen, die in der Sprache der Systemtheorie der sachlichen Logik der Funktionen entsprechen. Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung nicht unähnlich, formuliert Bourdieu eine »Theorie der Felder«, die er mit der Feststellung beginnt, »daß in der sozialen Welt ein fortschreitender Differenzierungsprozeß stattfindet« (Bourdieu 1998a, S. 148), und zwar ein Differenzierungsprozeß, der nicht als eine Dekomposition einer gesamtgesellschaftlichen 177

Einheit in Teilfelder anzusehen ist, sondern auch bei Bourdieu durchaus als praxis- oder emergenztheoretische Figur gelesen werden kann. Felder konstituieren sich nach Bourdieu nicht durch eine strukturale Logik, also weder durch ein AGIL-Schema noch durch funktionale Äquivalente, sondern durch ihre je eigene Praxis. Gegen den Funktionalismus formuliert Bourdieu, die Existenz von Feldern bzw. ihre Arbeitsteilung sei »kein Produkt irgendeiner immanenten Eigenentwicklung der Struktur« (Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996, S. 135). Bourdieu betont des Weiteren, »daß es kein transhistorisches Gesetz der Verhältnisse zwischen den Feldern gibt« (ebd., S. 141), 7 und betont damit die emergente Struktur von Feldern. Gemäß seiner operativen, praxistheoretischen Theorieanlage lokalisiert Bourdieu die »Grenzen des Feldes [... ] dort, wo die Feldeffekte aufhören« (ebd., S. 131). Soziale Felder lassen so je »eine Art Welt für sich« (Bourdieu 2001a, S. 30) entstehen, deren interne Logik sich der eigenen Praxis verdankt und keiner irgendwie gearteten sozialen Gesamtstruktur geschuldet ist. Wie die Theorie funktionaler Differenzierung in systemtheoretischem Gewand zeichnet auch Bourdieus Theorie der Felder das Bild einer polykontexturalen Gesellschaft, die offensichtlich keinen Ort kennt, von dem her sich die Gesamtstruktur der Gesellschaft beschreiben ließe. Ein solcher Ort müsste gewissermaßen jenseits aller Praxis liegen - Bourdieus antistrukturalistischer Strukturalismus freilich kennt einen solchen Ort jenseits der Praxis nicht. Gesellschaft ist für Bourdieu also, ähnlich wie für Luhmann, eher ein Horizont, der - deshalb bietet sich die Horizontmetapher an - letztlich nicht erreichbar ist, aber noch im vergeblichen Bemühen um seine Erreichung sich selbst vollzieht. Einfacher gesagt: Es gibt keine Praxis außerhalb der Praxis, oder systemtheoretisch gesprochen: Jede Operation ist stets die Operation eines Systems. Nun geht es mir hier nicht darum, die Gemeinsamkeiten und 7 Mit dieser Formulierung reagiere Bourdieu unmittelbar auf eine Frage Lok Wacquants nach den Unterschieden zwischen der Luhmannschen Syscemcheorie und der Theorie der Felder. Deutlich lässt sich sehen, dass Bourdieu Luhmann offensichtlich als eine Are Pacsonsschen Strukcurfunkcionaliscen rezipiere. Er berücksichtige nicht, dass die gesamte Luhmannsche Theorie operativer, autopoietischer Systeme gerade gegen diese Art soziologischen Strukturalismus formuliert ist. Es scheint hier also weniger um eine wirkliche Differenz zu gehen, sondern eher um ein Rezeptionshindernis.

Unterschiede der differenzierungstheoretischen Motive Luhmanns und Bourdieus detailgenau und tiefenscharf zu beschreiben. 8 Vorstehende Bemerkungen dienen nur als Hinweis auf die bei Bourdieu durchaus vorhandene Idee einer sachlichen Form der Strukturierung der Gesellschaft, die auf den ersten Blick meinem Argument einer ausschließlichen Orientierung Bourdieus an der Sozialdimension widerspricht, denn die Differenzierung der Gesellschaft nach Feldern ist durchaus eine Differenzierung in der Sachdimension, also eine Differenzierung nach verschiedenen Aufgaben- und Tätigkeitsfeldern, nach verschiedenen Praxisformen, wenn man so will: nach verschiedenen Funktionen, selbst wenn man den Begriff vermeiden will. Anders freilich als in der Luhmannschen Differenzierungstheorie geht es in den Beschreibungen Bourdieus fast überhaupt nicht um die Frage der Logik der unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben. Während Luhmann sich in historischen Untersuchungen dafür interessiert, wie sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien und Codierungen um historisch kontingent entstehende Bezugsprobleme herum zu Funktionssystemen entwickeln, scheint Bourdieu die Existenz der Felder selbst kaum aus der sachlichen Logik ihrer gesellschaftlichen Bedeutung/Funktion zu verstehen. Dass etwa für Luhmann Probleme der kollektiven Bindung von Entscheidungen nach der Auflösung der Repräsentation der Gesamtgesellschaft durch Interaktion in Oberschichten zur Ausdifferenzierung eines politischen Systems geführt haben; dass die temporale Komplexität des Knappheitsausgleichs das Wirtschaften auf das Medium des Geldes fixiert; dass die Entkoppelung von Wahrheit und Repräsentation eine wissenschaftliche Form der Unwahrheitsgenerierung anregt; dass lncerdependenzunterbrechung von privatem Haushalt und Inklusion in Arbeitsorganisationen eine Auronomisierung von Bildung und Erziehung verlangt; all diese außerordentlich verkürzt wiedergegebenen Begründungen für die Entstehung von Funktionssystemen leitet Luhmann aus der Frage ab, wie sich bestimmte Formen kommunikativer Anschlussfähigkeit und Strukturierung durch die Lösung gesellschaftlicher Bezugsprobleme erklären lassen. Die Differenzierungstheorie Luhmannscher Prägung 8 Vgl. dazu aber den gründlichen begriffstechnischen Vergleich von Georg Kneer in diesem Band, der zu dem Ergebnis kommt, dass zwar ähnliche Motive vorliegen, aber durchaus nicht harmonisierbare Durchführungen. 179

ist damit eine Theorie, die ihre Vorgängertheorien vor allem darin weiterentwickelt, dass sie nicht einfach eine endliche Menge von Funktionen voraussetzt, die erfüllt werden müssen (vgl. Luhmann 1997, S. 743 ff.). Sie erweitert das kausalfonktionale Modell in der Weise, als die Entstehung von Funktionssystemen aus sich selbst heraus erklärt wird, also aus der Kumulation und Verdichtung bestimmter Formen der Anschlussfähigkeit, die sich systemisch dadurch schließen, dass sie bestimmte Formen der Anschlussfähigkeit wahrscheinlicher werden lassen. So bringt Geldzahlung weitere Geldzahlung hervor, wie die Bindung an Entscheidungen stets politische Gestalt annimmt und die Orientierung an Wahrheitsfragen an wissenschaftlicher Kommunikation kaum vorbeikommt. Auch diese Theorie soll hier nicht en detail expliziert werden - deutlich sollte nur werden, dass Luhmann das differenzierungstheoretische Motiv eng an die Frage der sachlichen Bezugsprobleme bindet und auch die Anschlusslogik der Kommunikation der Funktionssysteme über die bezugsproblemorientierte, codierte Form der Erhöhung von Anschlusswahrscheinlichkeit erklärt. 9 Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Differenzierungstheorien freilich ergibt sich aus den grundlegenden theorieästhetischen Anlagen. Während Luhmann die Frage der sachlichen, i. e. funktionalen Differenzierung von Anschlusslogiken im Blick hat, scheint Bourdieu keinerlei Sinn für die Frage zu haben, wie es zur Differenzierung der verschiedenen Felder kommt bzw. welchen sozialen Sinn diese Felddifferenzierung hat. Es scheint mir so zu sein, dass Bourdieu exakt dieser Frage überhaupt keinen sozialen Sinn bescheinigt. Denn sozialer Sinn, so habe ich oben herausgearbeitet, ist für Bourdieu tatsächlich ausschließlich Sinn in der Sozialdimension. So konzipiert er Felder eben nicht wie Funktionssysteme als soziale Aggregate, in denen bestimmte gesellschaftliche Bezugsprobleme bearbeitet werden - durchaus mit erheblichen Folgen in der Sozialdimension: soziale Ungleichheit, statusdifferenzierte Inklusion in Organisationen, Exklusionen oder Arbeitsteilungen usw. Während aus der Perspektive der Theorie funktionaler Differenzierung die Frage sozialer Ungleichheit und alle Fragen der Strukturierung von Kommunikation primär in der Sozialdimension als Folgeproblem der Differenzierung erscheint (vgl. Nassehi 2004a), 9 Zur funktionalen Differenzierung als Differenzierung in der Sachdimension vgl. Nassehi (2004b). 180

bilden für Bourdieu die Felder letztlich nur die Spielfelder, auf denen um soziale Positionen, um Einfluss, Macht und Herrschaft, um Ressourcen und Gewinne gekämpft wird. Bleibt bei Bourdieu letztlich die funktionale bzw. sachliche Beschreibung der Feldpraxis uncerkomplex, dient sie nur dazu, die Rahmenbedingungen für jenen sozialen Kampf um Positionen auf den Begriff zu bringen. Über die Struktur des wissenschaftlichen Feldes schreibt Bourdieu: »Festgelegt wird diese Struktur grosso modo durch die jeweils augenblickliche Verteilung wissenschaftlichen Kapitals. Es ist der Umfang dieses Kapitals, der den Akteuren (Individuen oder Institutionen) ihre eigentümliche Stellung im Feld zuweist, und sie bestimmen dabei die Struktur des Feldes im Verhältnis dieses besonderen Gewichts, das von dem aller anderen Akteure, also von seiner Verteilung im gesamten Raum abhängt.« (Bourdieu 1998b, S. 21) Die Struktur eines Feldes, so Bourdieu an anderer Stelle, »gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder« (Bourdieu 1993, S. 108), während die sachliche Dimension eines Feldes für Bourdieu sich allenfalls als illusio darstellt. Im Falle der Wissenschaft besteht die illusio etwa »im Wissenschaftsglauben, einer Art interesselosem Interesse und Interesse an Interesselosigkeit, das zur Anerkennung des Spiels bewegt, zum Glauben, dass es das wissenschaftliche Spiel, wie man sagt, wert ist, gespielc zu werden« (Bourdieu 1998b, S. 27). Die illusio, dass es in der Wissenschaft tatsächlich um die Wahrheit, im religiösen Feld um den authentischen Glauben (vgl. Bourdieu 2000), im Feld der Politik um die gemeinwohlorientierteste Entscheidung (vgl. Bourdieu 2001a) oder im künsderischen Feld um interesseloses Wohlgefallen an ästhetischer Schönheit gehe (vgl. Bourdieu 2001b), ist für Bourdieu freilich selbst wiederum Teil jener Fe/,dökonomien, nämlich jener Einsatz, jene Investition, zu der man bereit sein muss, um am Kampf um die besseren Plätze teilnehmen zu können. Bourdieu hat zwar Recht, wenn er sagt, dass man, wolle man einen Mathematiker im wissenschaftlichen Feld bezwingen, ihn mathematisch »widerlegen« (Bourdieu 1998b, S. 77) muss. Aber dass es in den Feldern womöglich noch andere Bezugsprobleme geben könnte, als dass Akteure sich bezwingen wollen, scheint mit Bourdieus Theorie nicht wirklich sichtbar werden zu können. Das einzige Bezugsproblem, das Bourdieu offensichdich kennt, ist das Bezugsproblem der Knappheit der Ressourcen und ihre komple181

mentäre symbolische Verknappung durch soziale Praxis. Ich habe oben beschrieben, wie Bourdieus ausschließliche Konzentration auf die Sozialdimension ihn geradezu dazu zwingt, das Bezugsproblem des Sozialen vornehmlich in ökonomischen Formen auszudrücken. Die Idee einer sachlichen Differenzierung der Gesellschaft in Felder dient Bourdieu nur dazu, die Rahmenbedingungen des Kampfes um knappe Ressourcen beschreiben zu können - und hier schließt sich dann auch der Kreis, dass Bourdieu deshalb nichts anderes bleibt, als doch im Stile eines Entlarvungstheoretikers sagen zu können, was dahinter steckt: die antiökonomische Ökonomie aller nicht-ökonomischen Felder nämlich. Aus der Perspektive der Theorie funktionaler Differenzierung gesehen, ist Bourdieu damit den beiden Theorieformen, die er am vehementesten bekämpft, näher, als es zunächst scheinen mag. Diese beiden Theorieformen sind einerseits die ökonomische Theorie rationaler Wahl, andererseits der Strukturalismus. Dem Strukturalismus ist Bourdieu insofern viel näher, als er glauben machen will, indem er die Logik aller sozialen Praxis tatsächlich auf den Algorithmus des Kampfes um knappe Ressourcen und Positionen konzentriert. Dies ist für Bourdieu das alleinige Movens des Sozialen, letztlich die Energiequelle, die die Gesellschaft mit Dynamik versorgt. Bourdieus Theorie ist damit doch eine Theorie, die entgegen ihres eigenen Anspruchs eine grundlegende Struktur voraussetzt, die letztlich alle Praxis anleitet: der Kampf um knappe Güter. Sachprobleme werden demnach stets in der Sprache der Sozialdimension ausgedrückt - und deshalb besteht ein innerer Zusammenhang zwischen Bourdieus sozialtheoretischen Grundannahmen und der erheblichen Politisierung seiner soziologischen Arbeit spätestens seit der Veröffentlichung seines Buches Das Elend der Welt (Bourdieu et al. 1997). Wie die Konzentration von Bezugsproblemen der Knappheit und sozialer Distribution ökonomische Codierung geradezu notwendig anzieht, legt die ausschließliche Deutung illusionärer (sie!) Sachprobleme in Probleme der Sozialdimension eine politisierbare Semantik nahe. Zumindest aus der Perspektive der Theorie funktionaler Differenzierung wird deutlich, wie Bourdieus Theorieformierung selbst als gesellschaftliche Praxis erscheint, die womöglich der illusio des Politischen unterliegt. 10 Letztlich bietet Bourdieus 10

Zum Gedanken der Praxis der Bourdieuschen Theorie vgl. den Beitrag von lrmhild Saake in diesem Band.

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Theorie also - besonders deudich werdend in der Theorie der Felder - eine politische Ökonomie aller nicht-ökonomischen Ökonomien an. Es ist dies eine letzdich strukturalistische Konzentration auf eine Grundcodierung, auf ein master narrative der Gesellschaft. Neben dem Strukturalismus hat Bourdieu vor allem die ökonomistischen Theorien rationaler Wahl als Gegner im Visier (vgl. Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996, S. 147 ff.). Bourdieu hat dabei zweierlei im Blick: Zum einen kritisiert er - sicher zu Recht - die Idee der ausschließlichen Zurechnung von Handlungen auf Motive und Introspektion; zum anderen kritisiert er, dass »die Theorie des rationalen Handelns das immanente Gesetz der Ökonomie zur universalen und universal realisierten Norm für adäquate Praktiken verkehrt« (ebd., S.157). Sicher kann man diesen Vorwurf so nicht an die Adresse Bourdieus weitergeben, aber mit allen ökonomistischen Theorien teilt Bourdieu das Problem, dass sie letzdich die Logik des Marktes, die Logik der Ökonomie, die Logik des Kampfes und der Interessendurchsetzung als gegeben voraussetzen müssen, um konkrete Handlungen entsprechend modellieren zu können. Wie man Rational-choice-Theorien vorwerfen muss, letzdich keine Theorie des Ökonomischen zu haben, weil die Welt immer schon als ökonomisch strukturiert erscheint, 11 scheint auch Bourdieu mit seiner Beschreibung der nicht-ökonomischen Ökonomien der Felder zumindest das Prinzip des Ökonomischen, das Prinzip des Knappheitsausgleichs als Grundmovens des Sozialen schlicht vorauszusetzen. 12 Vielleicht resultiert daraus im Vergleich zur Theorie funktionaler Differenzierung eine zwar stärker am Skandal orientierte Theorie denn auch der Skandal ist eine in erster Linie im politischen Raum funktionierende, sich an ein virtuelles Kollektiv richtende Kommunikationsform. Aber womöglich resultiert gerade daraus eine eher verharmlosende Theorie der Modeme. Bourdieus Theorie suggeriert, dass das Grundproblem der Modeme ein Distributions- und Partizipationsproblem sei - und damit steht er tatsächlich und ausdrücklich in der Tradition linker Theorie, selbst wenn er nicht müde wird, Illusionen über die Lösung wenigstens dieses Distributionsund Partizipationsproblems zu zerstören. n Vgl. dazu meine Kririk an Harrmur Essers Rezeprion der Systemtheorie (Nassehi 2003). 12

Von rationalistischen Handlungstheorien unterscheidet sich Bourdieu freilich deutlich in seiner Dezenrrierung des Akteurs.

Nicht in den Blick geraten dann alle Fragen, die die Theorie funktionaler Differenzierung als Folgeprobleme thematisiert - wie sich die Differenzen der Bezugsprobleme zueinander verhalten, wie ökonomische,politische,religiöseundwissenschaftlicheOptionssteigerungen (vgl. Nassehi 1999, S. 29 ff.) die Synchronisationsmöglichkeiten der Funktionssysteme unterminieren, wie Entscheidungsprobleme als strukturelle Sachprobleme sich von der traditionellen Logik ihrer sozialen Repräsentation lösen, wie Steuerung und Intervention sich den Mythen ihrer nationalstaatlichen und politischen Formierung entreißen, um nur wenige Themen wenigstens anzudeuten. Die Ähnlichkeit der beiden differenzierungstheoretischen Motive ist also nur eine oberflächliche Ähnlichkeit - die Systemtheorie jedenfalls erweist sich als erheblich weniger voraussetzungsreich. Sie begnügt sich damit, bloße Anschlussfähigkeit und Komplexitätsverarbeitung als grundlegendes Bezugsproblem des Sozialen anzuführen, und zeigt sich damit empirisch offener als Bourdieus Idee des sozialen Kampfes als Grundmotiv alles Sozialen. Hier komme ich also zu den grundlegenden Habitus der beiden Theorien zurück: Bei aller Ähnlichkeit der praxistheoretischen/ operativen Motive formieren beide Theorien Praxis bzw. Operationen völlig unterschiedlich - und kommen damit notwendigerweise zu völlig unterschiedlichen Beschreibungen der sozialen Welt. Ein letztes Vergleichsmotiv, an dem sich diese Differenz in der Ähnlichkeit studieren lässt, ist beider Bemühen um eine Soziologie der Soziologie. Beide gelangen auf ähnlichem Wege dorthin: Eine Theorie, die die Unausweichlichkeit der Praxis/der Operation als Grundvoraussetzung ansetzt, muss unweigerlich auf sich selbst stoßen, auf die eigene Praxis. Es ist vielleicht das größte Verdienst der beiden Theorien, dass sie die Soziologie selbst mit in die soziologische Beobachtung einschließen. Beide versuchen den sozialen Ort der Soziologie zu bestimmen - und sie kommen auch hier zu charakteristischen Unterschieden. Während für Bourdieu die Soziologie an sich selbst lernen muss, wie unausweichlich es ist, dass jegliche Praxis sich irgendwie daran beteilige, am Kampf um Herrschaftspositionen sich zu beteiligen (vgl. Bourdieu 1985), und dass sie gerade aufgrund der Aufdeckung dieses Zusammenhangs als »Störenfried« (Bourdieu 1996) erscheint, bleibt Luhmann erheblich nüchterner. Für ihn liegt die Querlage der Soziologie im Vergleich zu anderen Beobachtern der Gesellschaft darin, dass die Soziologie 184

ausschließlich wissenschaftliche Probleme lösen kann - und dass ihre Politisierung oder Pädagogisierung dann politisch oder pädagogisch erfolgen muss, was gerade auf die Differenzen der Anschlusslogiken verweist. Auch hier mag der Unterschied ein Detailunterschied sein - aber gerade daran hängt die ganze Unterschiedlichkeit der beiden Soziologien, die sich auf völlig unterschiedliche Bezugsprobleme kaprizieren.

6. Zum Schluss: Was lehrt uns der Vergleich? Sollen wir nun enttäuscht sein, dass sich manche Ähnlichkeit nur einem allzu oberflächlichen Blick verdankt? Oder soll man eine der beiden Theorien als Sieger aus dem Vergleich hervorgehen lassen und die Darstellung legt sicher nahe, wofür der Autor präferieren würde, würde er es tun? Oder lässt sich aus dem Vergleich etwas lernen? Theorienvergleiche sind oft langweilige und oberflächliche Angelegenheiten. Sie nehmen oftmals Äquivokationen zum Anlass, über Ähnlichkeiten und Unterschiede zu räsonieren - man kann dann wissen, was der eine und was der andere unter einer sozialen Rolle, einer Struktur oder einem Ereignis versteht und ob sich die Begriffe ohne Konsistenzverlust übersetzen lassen. Das eigentliche Thema solcher ästhetisch eher philologisch anmutenden Vergleiche sind dann nur die Texte als Texte. 13 Oder sie tun so, als gebe es bereits soziale Probleme oder Phänomene jenseits ihrer theoretischen Formierung, um sie dann in ihrer Thematisierung bei diesem und bei jenem zu würdigen. Theorienvergleiche können freilich auch dazu dienen, überhaupt auf die Form des theoretischen Arbeitens aufmerksam zu machen, darauf nämlich, wie Theorien überhaupt zu Plausibilitäten kommen, welche Probleme sie sich selbst bereiten und wie sie diese lösen können. Letztlich müssen Theorienvergleiche das tun, was man in der qualitativen Sozialforschung von der Interpretation von Daten verlangen sollte: Wie konstituiert sich soziale Praxis selbst, wie geht sie mit der Kontingenz ihrer eigenen Möglichkeit um, wie schränkt sie die Unwahrscheinlichkeit ihrer eigenen Möglichkeiten auf die Wahrscheinlichkeit ihrer kon13 Dafür gibt es inzwischen ein etabliertes Textgenre (vgl. etwa Greshoff/Kneer [Hrsg.] 1999; Greshoff/Kneer/Schimank [Hrsg.] 2.003).

kreten Wirklichkeit ein, welche Bezugsprobleme mutet sie sich selbst zu? 14 Bezogen auf solche Fragen, lässt sich an einem Vergleich zwischen Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu weniger studieren, ob beide zu ähnlichen Diagnosen oder theoretischen Figuren kommen oder nicht. Studieren lässt sich an einer solchen vergleichenden Perspektive, dass soziologische Theoriearbeit tatsächlich darüber entscheidet, was dem soziologischen Blick überhaupt erscheint. Dass etwa die sparsame, multidimensionale Form der Sinndimensionen bei Luhmann und die fast ausschließliche Konzentration Bourdieus auf die Sozialdimension keine Geschmacksfrage sind, sondern die unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkte markieren, macht darauf aufmerksam, wie oberflächlich es ist, die Arbeit der Soziologie nur an den Resultaten zu ermessen. Viel entscheidender ist der Anfang. Vielleicht gelingt es einer dezidiert theoretischen Perspektive auf die Soziologie besser, den Anfang in den Blick zu nehmen und dann etwas damit anzufangen. Denn dass die empirischen Ergebnisse von Forschung sich diesem Anfang verdanken, das lässt sich gerade an diesen beiden Theoretikern besonders deutlich sehen und zwar auf gleicher Augenhöhe.

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zieren versucht (vgl. Nassehi/Saake 2002).

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s.

188

Zweite Abteilung: Diagnosen

Ursula Pasero Frauen und Männer im Fadenkreuz von Habitus und funktionaler Differenzierung Auf den ersten Blick gibt es keinen Zweifel: Der Soziologe Pierre Bourdieu ist für die Genderforschung eine einschlägige Adresse. Sein Essay »La domination masculine« (1990) oder »Die männliche Herrschaft« (1997) drückt in unmissverständlicher Schärfe aus, was die Frauen- und Geschlechterforschung bereits Jahre vorher zutage gefördert hatte: Das Arrangement der Geschlechter ist strikt asymmetrisch gebaut und Frauen sind das zweite, nachrangige Geschlecht - Le Deuxieme Sexe (Beauvoir 1949). Eine solche, zugleich hierarchisch und komplementär angelegte Geschlechterordnung fußt für Bourdieu auf einem über viele Generationen hinweg währenden Tausch-Mechanismus, der vom dominanten, männlichen Geschlecht bestimmt und fortgesetzt wird und bislang noch keine neue Form gefunden hat. Die Frauenbewegung der 198oer-Jahre hat den Soziologen Niklas Luhmann zu einem ausgesprochen polemischen Essay (Luhmann 1988b) inspiriert, der in eine andere Richtung führt. Während Bourdieu weitgehend alle feministischen Annahmen und Vermutungen mit den von ihm entwickelten soziologischen Figuren zu bestätigen scheint, treibt Luhmann die geschlechtstypischen Aporien von Komplementarität und Differenz, von Hierarchien und Asymmetrien durch das Nadelöhr einer operativen Unterscheidungslogik und faltet sie auf. Niklas Luhmann kommt zu einem anderen Schluss als Pierre Bourdieu, weil er verdeutlicht, dass die hierarchisch gebaute Geschlechterdifferenz ein soziales Ordnungsmuster ist, das seine primäre Relevanz längst eingebüßt hat. Von der weltweiten Durchsetzung funktionaler Differenzierung der Gesellschaft ausgehend verliert die Repräsentation gesellschaftlicher Macht durch Männer ihren Sinn. Sie wird Selbstrepräsentation und damit pure Anmaßung (Luhmann 1988b; 2003, S. 28). Für Luhmann ist vielmehr eine Gegenposition zur Repräsentation vorstellbar, »die nicht auf einen bloßen Umtausch des Primats, also auf eine Ablösung in der Herrschaft, also auf eine Bestätigung der Hierarchie durch Nachfolge angewiesen ist« (ebd., S. 58).

Die Frauen- und Geschlechterforschung hat sich eher für die Architektur der Bourdieuschen Soziologie als für den systemtheoretischen Ansatz der Luhmannschen Soziologie interessiert, weil viele ihrer Befunde mit der Bourdieuschen Semantik vereinbar sind (exemplarisch: Krais/Gebauer 2002, S. 32 ff.; Krais 2001; Bourdieu 1997b, S. 218 ff.). Dies führt jedoch in die Verlegenheit, nicht nur den Primat funktionaler Differenzierung der modernen Gesellschaft auszuklammern, sondern auch die Luhmannsche Unterscheidung zwischen Funktions-, Organisations- und lnteraktionsphänomenen außer Acht zu lassen. Auf diese Weise kommt dem herkömmlichen, auf Komplementarität und Asymmetrie fußenden Arrangement der Geschlechter eine Bedeutung zu, die durch funktionale Differenzierung längst schon gebrochen ist. Was haben die Ansätze gemeinsam, wo gehen sie strikt auseinander? Beiden Soziologen gemeinsam ist ein konstruktivistischer Blick auf Gesellschaft, der eine je eigene, beobachterabhängige soziologische Semantik generiert, die durch ihre Distanz zu den vorgefundenen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft auffällt (Kieserling 2000). Beide Soziologen verabschieden die emphatische Vorstellung eines souveränen Subjekts: Bourdieu arrangiert weibliche und männliche Akteure im Fadenkreuz von sozialem Habitus und sozialem Feld und sortiert ihre Spielräume strikt hierarchisch nach Maßgabe ihres zugehörigen kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals. Luhmann hingegen bricht nicht nur mit einer subjekt-, sondern auch mit einer akteurszentrierten Perspektive von Gesellschaft. Er verlegt die Subjekte, die als psychische Systeme mit differenten Systemeigenschaften als wahrnehmende und keinesfalles kommunizierende Bewusstseinssysteme ausgestattet sind, gleich ganz in die Umwelt sozialer Systeme. Das ist folgenreich: Beide Systemtypen werden zwar als strukturell gekoppelt gedacht, aber strikt auseinander gehalten. Bewusstseinssysteme sind an Kommunikationen beteiligt, aber Kommunikation ist eine operative Leistung der sozialen Systeme selbst und gerade kein Ergebnis handelnder Individuen: »Kommunikation ist ein von Handlung abgehobener Prozeß, der Handlungen attribuiert, zurechnet, konstruiert, aber nicht selbst Handlung ist.« (Luhmann 2002, S. 302) Für Bourdieu ist Gesellschaft ein Phänomen, dessen charakteristische Struktur durch den Habitus (Bourdieu 1979, S. 181 ff.) der sozialen Akteure verkörpert und damit sichtbar und wahrnehmbar

wird - selbst dann schon, wenn Kommunikation noch gar nicht eingesetzt hat. Der Habitus fungiere dabei als ein System wahrnehmbarer Grenzen, Grenzen des Gehirns und der Handlungsrepertoires: »Wer den Habitus einer Person kenne, der spüre oder weiß intuitiv, welches Verhalcen dieser Person verwehre .ist«. (Bourdieu 1992b, S. 33) Ähnliche Lebensbedingungen »erzeugen« ähnliche Habitusformen. Der Habitus ist nicht nur ein kohärentes System von Handlungsschemata, sondern Ordnungsgrundlage für die Wahrnehmung, das Denken und die Vorstellungen (Bourdieu 1992a, S. 101). Es geht Bourdieu um eine soziale Materialität, um die Materialität der sozialen Dinge und die Materialität der sozialen Körper in ihrer Relation zueinander. Sie verkörpern ihre soziale Situierung in Form einverleibter Dispositionen, Bewegungen, Haltungen und diese wiederum verweisen sowohl auf soziale Positionen und soziale Abstände als auch auf einzuhaltende Regeln des Umgangs und der Wahrung von Distinktionen (Bourdieu 1979, S. 181 f., Fröhlich 1994, S. 34). Für Luhmann hingegen ist die Materialität von Körpern ein Phänomen der Wahrnehmung (Luhmann 1988a, S. 560 ff.; 1995, S. 13 ff.), das erst durch Kommunikation soziale Relevanz erhälc. Die Individuen der Gesellschaft haben Körper, das ist evident. Aber was als evident gilc, geht immer schon mit sozialen Formen und Semantiken einher - und dazu gehören auch geschlechtscypische Markierungen. Evidenz ist bereits ein Resulcat von Kommunikation, sonst würde die Vielfalc von Unterschieden nichts anderes als Dauerirritationen auslösen. Die Unmittelbarkeit, das »Ins-Auge-Springen« von Geschlecht, Alter oder Ethnizität läuft über Lern- und Konditionierungsprozesse, die ermöglichen, dass Formen und Schemata sozialer Unterscheidungen aufgerufen werden können. Auf diese Weise wird das Wahrgenommene nicht einfach nur geordnet, sondern aus dem Dauerfeuer von Irritationen in kommunikable - das heißt anderen mitteilbare und damit sozial geteilce - Unterscheidungsmechanismen überführe. Die Evidenz wahrgenommener Unterscheidungen ist damit alles andere als evident. Dies gilc auch für das Habitus-Konzept von Bourdieu. Das Arrangement der Geschlechter hat jedoch in seinem soziologischen Entwurf einen anderen Stellenwert, weil der antagonistisch komplementäre Charakter dieses Arrangements bereits schon soziale Welt sui generis ausdrückt und soziale Ordnung damit ihren An193

fang nimmt. Und die ist bei Bourdieu nicht anders als strikt hierarchisch zu haben. Die asymmetrische Form des Arrangements der Geschlechter fußt auf nichts anderem als auf basalen Schemata sexueller Arbeitsteilung (Bourdieu 1979, S. 193), wobei die geschlechtscypische Hierarchie nach innen und nach außen aufgefalcet wird wie das Spielzeug der Puppe in der Puppe. In der Luhmannschen Soziologie hingegen sind soziale Hierarchien anders verorcet und ein solcher Ort hängt von der primären Differenzierungsform der Gesellschaft ab. Während Individuen in einer stratifizierten Gesellschaft nach Ständen und damit über- und untergeordnet platziere waren, verliere dieser strikte Mechanismus in der funktional differenzierten Gesellschaft an Relevanz und wird elastischer und informeller. Während in der Ständegesellschaft Herkunft, Zugehörigkeit und darin noch einmal die Nachrangigkeit von Frauen gegenüber Männern so gut wie lebenslänglich galc, ist dieser Modus in der nach Funktionen differenzierten Gesellschaft unübersehbar unterbrochen. Die Funktionssysteme können gerade nicht personifiziert repräsentiere werden. Trotz der Nobelpreise ist Wissenschaft nicht die Summe der beteiligten Akteure, trotz politischer Repräsentanten sind alle Beteiligten auswechselbar, trotz Chief Executive Officers personifiziere niemand die Wirtschaft der Gesellschaft. Uns begegnen zwar Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, Managerinnen, aber nur auf Zeit. Sie sind gleichzeitig Individuen, die auch vieles andere tun, die ihre Professionen wechseln, die aus ihren Positionen ausscheiden und in den Ruhestand treten. Gerade weil lnteraktionssysteme nicht mehr mit dem Problem der Repräsentation von Gesellschaft belastet sind (Kieserling 1999, S. 337), können sich auch die Praktiken des In-Erscheinung-Tretens von Personen ändern und auf weniger formelle Muster umstellen. Damit einhergehend entwickele sich ein eigenes Universum von Stilen, Moden, Haltungen, das sich autonom entfaltet und ein Reflexionsthema der Selbstbeschreibung von Individualisierung wird (Bohn 2000), das immer weniger auf Herkunft und Position schließen lässt. Während also in der systemtheoretisch orientierten Soziologie von einem rekursiven Steigerungszusammenhang zwischen sozialer Differenzierung und persönlicher Individualisierung ausgegangen wird (Kieserling 1999, S. 382), wird im Bourdieuschen Habituskonzept genau dieser Steigerungszusammenhang bestritten und das Gegenteil unterstellt: als Vergangenes, das im Aktuellen 194

weiterlebt und sich bis in die Zukunft hinein verlängert (Bourdieu 1979, s. 182).

Doing Gender - Doing Society Für Bourdieu ist das Arrangement der Geschlechter ein Fall fundamentaler sozialer Differenzierung, die früheste asymmetrische soziale Unterscheidung schlechthin. Da, wo noch keine komplexen sozialen Mechanismen greifen, garantiert dieser Unterscheidungsmechanismus eine dauerhafte - also die soziale Situation überschreitende - Ordnung: die Subordination von Frauen unter Männer. Diese erste und früheste Form sozialer Differenzierung generiert zugleich Herrschaft, denn für Bourdieu ist Ordnung immer Überund Unterordnung. Deswegen spricht Bourdieu unumwunden von »männlicher Herrschaft« (1997) im Sinne eines gewollten »Verstoß[es] gegen die Sprache der Selbstbeschreibung, die ihm als Sprache der Euphemisierung erscheint« (Kieserling 2000, S. 369). Diese frühe, komplementär antagonistische Form der Herrschaft von Männern über Frauen garantiert zugleich Sozialität par excellence, weil sie Zugehörigkeit definiert und Integration regelt. Man gehört einer Familie an und gründet wieder eine Familie, und dieser soziale Mechanismus befestigt zugleich durch generationenübergreifende Wiederholung die Über- und Unterordnung zwischen den Geschlechtern. Damit werden Regeln sozialer Inklusion auf Dauer gestellt, deren Außerkraftsetzen nicht nur mit existenz-, sondern lebensbedrohlichen Folgen einhergehen: dem Ausschluss aus der Gemeinschaft. Für Bourdieu ist das Arrangement der Geschlechter eine Institution, »die seit Jahrtausenden in die Objektivität der sozialen Strukturen und in die Subjektivität der mentalen Strukturen eingeschrieben ist« (Bourdieu 1997a, S. 153). Die Evidenz und Dauerhaftigkeit dieser Institution lässt sich darauf zurückführen, dass ihre gesellschaftliche Konstruktion als »Natur gegeben« erscheint und damit als soziales Ereignis naturalisiert ist (Bourdieu 1997a, S.155). Die soziale Arbeit an der Unterscheidung und Herstellung sichtbarer Unterschiede wird kontinuierlich gepflegt, setzt mit der Geburt eines Menschen ein und muss ein Leben lang wiederholt und befestigt werden: durch geschlechtstypische Namen, durch geschlechtstypi195

sehe Modulation der Stimme, durch geschlechtstypische Gesten, Haltungen, durch Kleidung, Haartracht und vieles andere mehr. Jede Gesellschaft investiert in diese Differenz, um dem Unterschied eine aktuelle Form zu geben. Die soziale Arbeit an der Differenz reifiziert somit immer wieder zwei unterschiedliche ,Naturen»objektiv, ungleichen Lebens- und Handlungsbedingungen« (Hradil 1987, S. 146) zu benennen, unterstellt aber bewusst keine Statuskonsistenz zwischen den verschiedenen Dimensionen sozialer Ungleichheit (ebd., S. 148 f.). Soll darüber hinausgehend von Klassenbildung die Rede sein, so wäre zu zeigen, dass eine Mehrzahl sozialer Ungleichheiten längerfristig in eine ähnliche Richtung weist. Denn nur dann ist zu erwarten, dass sich soziale Lagen zu in sich konsistenten Klassenlagen entwickeln. 2 Bourdieu bearbeitet das Problem der Klassenbildung in mehreren Schritten. Zum einen verabschiedet er sich vom Gedanken eines explizit politisierten Klassenbewusstseins und »ersetzt« dieses durch das Habituskonzept. Als körperliche, praktische und kognitive Perspektive auf die Welt spiegelt der Habitus die Handlungsspielräume wider, die durch eine bestimmte Kapitalausstattung eröffnet werden (Bourdieu 1987). Zum Beispiel entwickeln diejenigen, denen es langfristig an Geld mangelt, einen Habitus der Notwendigkeit. Wer hohes kulturelles, aber niedriges ökonomisches Kapital besitzt, wird Markenkleidung »uncool« und Second-Hand-Kleidung »kultig« finden. Damit ist nicht gesagt, dass sich Menschen mit ähnlichem Habitus nun als soziale Klasse begreifen. Eine soziale Klassenbildung wird zwar wahrscheinlicher, wenn sie sich auf Gemeinsamkeiten im Habitus bezieht (Bourdieu 1985; Bourdieu 1992). Letztlich werden soziale Klassen aber erst durch einen Akt der Repräsentation im Rahmen symbolischer Kämpfe gebildet. Die Vielzahl »feiner Unterschiede« im Habitus nutzt Bourdieu dann als Ausgangspunkt seiner Klassentheorie (Bourdieu 1982). Mit Hilfe multivarianter Korrespondenzanalysen zeigt er, wie sich die Beziehungen zwischen zahlreichen Merkmalen deskriptiv abbilden I 2

Für eine Diskussion des Begriffs »Sozialstruktur« siehe Geißler (2002, S.19 ff.). Das vorgeschlagene Konrept der Klassenlage unterscheidet sich vor allem hinsichtlich der Anforderung, dass inhaltliche Gründe fur Statuskonsisrenz nachgewiesen werden sollten, von Hradils »sozialer Lage«. Auf eine Auseinandersetzung mit Hradils Kritik an Klassenkonzepten (Hradil 1987, S. 69ff.) wird hier verzichret, weil Bourdieu die kritisierten Theorien deutlich modifiziert. 215

und auf objektiv ähnliche Lebenschancen zurückführen lassen. In der soziologischen Beobachtung werden »theoretische Klassen« als Cluster von Menschen mit ähnlicher Kapitalausstattung erkennbar. Konstruiert man den sozialen Raum [... ]. gewinne man damit zugleich auch die Möglichkeit, theoretische Klassen von größtmöglicher Homogenität in bezug auf die beiden Hauptdeterminanten der Praktiken und aller sich aus ihnen ergebenden Merkmale zu konstruieren. Das so angewendete Klassifizierungsprinzip ist wirklich explikativ: Es beläßt es nicht bei einer Beschreibung der Gesamtheit der klassifizierten Realitäten, sondern setzt, wie jede gute naturwissenschaftliche Taxonomie, bei den bestimmenden Merkmalen an, von denen aus im Gegensatz zu den schlechten, von den scheinbaren Unterschieden ausgehenden Klassifikationen eine Vorhersage weiterer Merkmale und die Unterscheidung und Zusammenfassung von Akteuren möglich ist, die einander so ähnlich wie möglich und von den Mitgliedern der anderen Klassen, ob näher oder ferner stehend, so verschieden wie möglich sind. (Bourdieu 1998b, S. 23)

Der von Bourdieu konstruierte soziale Raum ist auf der ersten Achse durch ungleiche Kapitalvolumina strukturiert. Auf einer zweiten Achse wird die Zusammensetzung des Kapitals und hier insbesondere das Verhältnis zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital abgebildet. Drittens ist die Laufbahn von Belang, die sich allerdings mit den von Bourdieu verwendeten synchronen Daten nur begrenzt belegen lässt (vgl. Bourdieu 1982). Bourdieu verzichtet auf den Anspruch, dass sich theoretische Klassen zwangsläufig in sozialer Klassenbildung abbilden müssen. Er zeigt empirisch, dass sich eine Vielzahl feiner Unterschiede zu wenigen Ungleichheitsdimensionen verdichtet,3 und er untermauert seine Beobachtung durch ein klassentheoretisch orientiertes Modell, das den sozialen Raum in wenige und zueinander relativ konsistente Dimensionen untergliedert. Allerdings setzt sich Bourdieu kaum mit der Frage auseinander, unter welchen Voraussetzungen die Konstruktion theoretischer Klassen möglich ist. Er betont einerseits, dass sich Klassenbildung nicht auf wenige Dimensionen sozialer Ungleichheit zurückführen lässt. Eine soziale Klasse ist definiert weder durch ein Merkmal (nicht einmal das am stärksten determinierende wie Umfang und Struktur des Kapitals) noch 3 Wobei insbesondere die quantitative Auswertung in Bourdieu (1982) schwer nachzuvollziehen ist (Blasius/Winkler 1989).

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durch eine Summe von Merkmalen (Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft [... ]), noch auch durch eine Kette von Merkmalen, welche von einem Hauptmerkmal (der Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse) kausal abgeleitet sind. Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht. (Bourdieu 1982, S. 182)

Auch der Geschlechtsspezifik der Klassenbildung weist Bourdieu explizit eine eigene Dynamik zu. Die männliche Herrschaft könne nur deshalb verschiedene Produktionsweisen überdauern, weil sie sich auf ein grundlegend anderes Prinzip, die Ökonomie des symbolischen Tauschs, gründe (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 211). Da Bourdieu die Vielzahl und Heterogenität sozialer Ungleichheiten betont, bleibt andererseits unklar, warum sie in eine einheitliche Struktur des sozialen Raums münden sollten. »[l]n jedem einzelnen Faktor schlägt sich vielmehr auch die Wirkung aller übrigen nieder; und die Vielzahl von Determinierungen führt keineswegs zur Indetermination, sondern im Gegenteil zur Überdeterminierung. « (Bourdieu 1982, S. 184f.) Auch in Bezug auf Geschlecht postuliert Bourdieu ein Primat des ökonomischen und kulturellen Kapitals: Selbstverständlich hängen nicht alle konstitutiven Faktoren einer konstruierten Klasse in gleichem Grad voneinander ab; die Struktur des von ihnen gebildeten Systems wird vielmehr von den Faktoren mit dem größten funktionalen Gewicht beherrscht: Umfang und Struktur des Kapitals verleihen in diesem Sinne den von den übrigen Faktoren (Alter, Geschlecht, Wohnort etc.) abhängigen Praktiken erst ihre spezifische Form und Geltung. (Bourdieu 1982, S. 184 f.)

Selbst wenn man Klassenlagen nur theoretisch rekonstruieren will, muss man voraussetzen, dass eine Vielzahl von Unterschieden nicht unabhängig voneinander verläuft, sondern in eine oder wenige Richtungen weist. Eine Ungleichheitstheorie, die die Heterogenität von Ungleichheitsdimensionen akzeptieren und erfassen kann, sollte sich nicht damit begnügen, eine »Überdetermination« zu behaupten bzw. empirisch zu belegen. Vielmehr wäre genauer zu klären, wie Zusammenhänge zwischen diversen Ungleichheiten so gedacht werden können, dass eine Herausbildung von Klassenlagen wahrscheinlich wird. Es ist dieses theoretische Defizit, das Luhmann an den Klassen217

theorien kritisiert. Er zeigt zunächst, dass die Annahmen über niedrigdimensionale Ursachen von Ungleichheit bei den klassischen Theorien zu ungewünschten Verkürzungen führen (Luhmann 1985, S.144). Bei Bourdieu könnte man den Mechanismus der Klassenbildung etwa darauf zurückführen, dass man die Heterogenität der Kapitalsorten als unterschiedliche Formen der Akkumulation von Arbeit interpretiert. Eine innere Verbindung zwischen den Kapitalsorten ließe sich unter anderem daran ablesen, dass sie sich mit Verlusten ineinander transformieren lassen (Bourdieu 1983). Eine solche Argumentation würde jedoch den Vorteil mehrdimensional angelegter Ungleichheitstheorien verspielen. Man müsste Klassenverhältnisse auf eine letztgültige Ursache zurückführen, und genau dies ist von Bourdieu nicht gewollt. Geht man hingegen davon aus, dass Ungleichheiten durch heterogene Ursachen zustande kommen können, ist theoretisch offen, wie es trotz einer grundsätzlichen Verschiedenheit von Ungleichheiten zu einer Klassenbildung kommen kann. Ganz abstrakt kann das Problem als ein Problem der Abweichungsverstärkung oder der Steigerung von Ungleichheit in mehreren Dimensionen zugleich umschrieben werden. Es geht also nicht um Chancengleichheit schlechthin, also nicht darum, [... ] daß von zwei Bewerbern um Kredit derjenige die besseren Aussichten hat, der über mehr oder über sichereres Einkommen verfügt; oder daß die Schulerziehung diejenigen Schüler besser fördern kann, die schon mehr gelernt haben. Das Problem liegt in der Bündelung und in der wechselseitigen Verstärkung solcher Tendenzen zum Aufbau von Ungleichheiten. Es sind nicht die Ungleichheiten als solche, sondern ihre Interdependenzen, die als ,Klasse, (oder wie immer sonst) identifiziert werden. (Luhmann 1985, S. 144)

Mit seiner Kritik bringt Luhmann die Problematik vieler Klassentheorien auf den Punkt. Sie müssen entweder voraussetzen, dass Ungleichheit so eindimensional strukturiert ist, dass die Zwangsläufigkeit einer Klassenbildung kaum von der Hand zu weisen ist. In diesem Fall sehen sie sich aber außerstande, diverse Ursachen von Ungleichheit, wie z. B. geschlechtsspezifische Ungleichheiten oder ethnische Machtasymmetrien, angemessen zu berücksichtigen (Weiß et al. 2001). Oder sie gehen wie die Mehrzahl neuerer Theorien davon aus, dass Ungleichheit auf unterschiedlichen Wegen entstehen kann. Dann ist zu klären, wie diverse Ungleichheiten anein218

ander anknüpfen und sich zu theoretisch rekonstruierbaren Klassenlagen verdichten können.

3. Modi der Abweichungsverstärkung In funktional differenzierten Gesellschaften müssen fortbestehende Ungleichheiten nicht zwangsläufig in die Bildung sozialer Klassen münden (Luhmann 1985, S.146). Reduziert man die Anforderungen an eine Klassentheorie und sucht wie Bourdieu nach mehrdimensional strukturierten, aber in sich konsistenten Klassenlagen, so lässt sich Luhmanns Kritik konstruktiv aufgreifen. Im Folgenden soll dann von Klassenlagen4 die Rede sein, wenn sich ein Modus der Abweichungsverstärkung zwischen heterogenen Ungleichheitsdimensionen benennen lässt, durch den soziale Lagen Konsistenz erlangen. Innerhalb der Systemtheorie werden diverse Modi der Abweichungsverstärkung diskutiert. »Die moderne Gesellschaft ist in der Tat hochintegriert, aber nur in ihrem Exklusionsbereich, nur als Negativ-Integration und vor allem: ohne Konsens.« (Luhmann 1996, S. 229) Im Unterschied zu lnklusionschancen, die im Regelfall einer funktional differenzierten Gesellschaft nur lose gekoppelt sind, müssen sich Exklusionen fast zwangsläufig wechselseitig verschärfen: »[W]er keinen Ausweis hat, ist von Sozialleistungen ausgeschlossen, kann nicht wählen, kann nicht legal heiraten.« (Luhmann 1995, S. 259 f.) Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem [... ] beschränkt das, was in anderen Systemen erreich bar ist, und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden. [... ]Die Exklusion integriert viel stärker als die Inklusion. (Luhmann 1997, S. 630 f.)

Mit dem Exklusionsbereich führt Luhmann eine Unterscheidung ein, die von der Ungleichheitssoziologie bisher vernachlässigt wurde. Als Folge des methodologischen Nationalismus der Soziologie wird der soziale wie geographische Rahmen der Ungleichheitsforschung selbstverständlich und unhinterfragc mit dem territorialen Nationalstaat identifiziert (Breen/Rottman 1998; Weiß 2002). 4 Bei der Darstellung systemrhcoretischer Ansätze wird deren Begrifflichkeit (z. B. Exklusionsbereich, lnklusionslage) übernommen.

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Bourdieu z. B. geht von einer in sich weitgehend geschlossenen nationalen Gesellschaft aus, die durch symbolische Kämpfe eher vereinheitlicht denn zerrissen wird. 5 Nur in den neueren Debatten über »Soziale Schließung« bzw. »Überflüssigkeit« und »Underclass« wird die Frage nach den Grenzen der Gesellschaft überhaupt diskutiert. Sie konzentrieren sich aber übeiwiegend auf das »Draußen vom Drinnen« (Kronauer 2002, S. 204), also auf Konkurrenzen innerhalb von national gedachten Klassengesellschaften. 6 Luhmann macht demgegenüber deutlich, dass Verteilungsungleichheiten erst dann entstehen können, wenn man überhaupt zum Kreise derer Zugang hat, an die etwas verteilt wird. Das reichlich verfügbare Material legt den Schluß nahe, daß die Variable Inklusion/Exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren. Ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht überhaupt zum Zuge kommt und ob sie nach rechtssystemimmanenten Programmen behandelt wird, hängt dann in erster Linie von einer vorgängigen Filterung durch Inklusion/Exklusion ab. (Luhmann 1997, S. 632) Wenn die Exklusion aus bestimmten Funktionssystemen zwangsläufig Exklusionen aus anderen nach sich zieht, muss es zumindest in den Grenzbereichen der Funktionssysteme zu übergreifenden Strukturbildungen kommen. Allerdings ist die Luhmannsche Veiwendung der lnklusions- und Exklusionsbegrifflichkeit in mehrfacher Hinsicht unscharf geblieben. So betont Luhmann, dass der Exklusionsbereich in der funktional differenzierten Weltgesellschaft quantitativ wie qualitativ extreme Ausmaße annimmt. lndividualisierungstheorien würden das Zustandekommen extremer Ungleichheiten durch Exklusion ebenso verharmlosen wie Theorien internationaler Klassenherrschaft (vgl. Luhmann 1995, S. 259). Eine solche Bedeutung des Exklusionsbereichs erschwert es jedoch, die These vom Primat funktionaler Differenzierung aufrechtzuerhalten. Es versteht sich von selbst, daß die funktionale Differenzierung ihren Exklusionsbereich nicht ordnen kann, obwohl sie sich auf Grund ihres gesell5 Zur Kritik siehe Hall (1992). 6 Eine Ausnahme ist Macken (1999). Kreckel (1997) benennt die Problematik, ohne sie zu lösen.

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schafcsuniversalen Selbstverständnisses auch auf ihn erstreckt [... J. Diese Logik der funktionalen Differenzierung gerät aber in Widerspruch zu den Tatsachen der Exklusion. [... ] Ihre Codes gelten und gelten nicht in derselben Gesellschaft. Und daraus kann man [... ] den Schluß ziehen, daß die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Inklusion (mit loser Integration) und Exklusion (mit fester Integration) ,supercodiert< ist und man sich faktisch zunächst immer erst an diesem Unterschied orientieren muß, wenn man sich zurechtfinden will. (Luhmann 1995, S. 260)

Hier merkt Luhmann selbst den Bedarf für weitere Forschung an. Er betont, dass man die Gesellschaft nicht nur anhand einer Unterscheidung beschreiben sollte (vgl. Luhmann 1995, S. 263), kann aber nicht abschließend klären, wie die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion mit dem Primat funktionaler Differenzierung kompatibel ist. Eine zweite Unschärfe betrifft die empirische Relevanz des Exklusionsbegriffs. »Wenn Inklusion [... ] nichts anderes bedeutet als die Art und Weise, wie soziale Systeme Menschen bezeichnen[ ... ], sie sichtbar machen, bezeichnet Exklusion den Mechanismus, wie Personen nicht bezeichnet und nicht für relevant gehalten werden. Exkludierte dürften genaugenommen gar nicht sichtbar sein.« (Nassehi 2000, S.19) Da Kommunikation in der funktional differenzierten Weltgesellschaft fast jeden erreicht, könnten Personen nur als Tote exkludiert werden. Umgekehrt muss Inklusion nicht unbedingt ein Vorteil sein (Nollmann 1997, S. 199 ff.). Schließlich ist ein zum Offenbarungseid gezwungener Schuldner ebenso eindeutig ins Wirtschaftssystem inkludiert wie eine Großanlegerin. Die dichotomisch angelegte Begrifflichkeit von Inklusion und Exklusion meint gerade kein Mehr oder Weniger an Leistungen. Insofern kann und soll sie nicht an die Stelle des Ungleichheits- oder Armutsbegriffs treten. Vielmehr ist das Verhältnis zwischen der Exklusions-/Inklusionsbegrifflichkeit und dem Problem sozialer Ungleichheit zu klären. Hierzu liegen in der neueren systemtheoretischen Diskussion eine Reihe von Ansätzen vor, die hier nicht umfassend, sondern nur unter dem Gesichtspunkt der Abweichungsverstärkung diskutiert werden können. Schwinn schlägt vor, soziale Ungleichheit neben sozialer Differenzierung als eigenständiges Strukturprinzip der Gesellschaft zu begreifen (Schwinn 2000; Schwinn 1998). Dadurch, dass Individuen in ihrem Leben eine Reihe von Ordnungen durch221

laufen, komme es zu Leistungsabhängigkeiten zwischen den Funktionssystemen. »So können wissenschaftliche und ökonomische Institutionen nur in Austausch treten, wenn Kohorte für Kohorte Menschen in Bildungseinrichtungen Wissen erwerben, das sie in späteren Phasen ihres Lebens als Arbeitskompetenz zur Verfügung stellen.« (Schwinn 2000, S. 473) Wenn man diese Leistungsabhängigkeiten benennt, »erweisen sich drei Machtressourcen als in besonderer Weise ungleichheitsrelevant und konvertibel: Wissen und damit verbundene Deutungskompetenz, ökonomische Marktchancen und politische Macht« (Schwinn 2000, S.472). 7 Wenn sich systemtheoretische Arbeiten mit Leistungsabhängigkeiten zwischen den Funktionssystemen beschäftigen, sind ihre konkreten Erkenntnisse oft mit ungleichheitssoziologischem Gedankengut kompatibel. So lassen sich die Schwinnschen Machtressourcen leicht mit den Bourdieuschen Kapitalsorten zur Deckung bringen. Für die Systemtheorie ist eine Auseinandersetzung mit neueren ungleichheitssoziologischen Arbeiten 8 unter anderem deshalb naheliegend, weil diese ebenfalls für eine Mehrdimensionalität (Hradil 1987) und Verzeidichung (Berger/Sopp 1995) sozialer Ungleichheit plädieren. Umgekehrt könnte auch die Ungleichheitssoziologie von systemtheoretischem Denken profitieren. Hätte sich Bourdieu Luhmanns Frage nach einer Abweichungsverstärkung zwischen verschiedenen Ungleichheiten gestellt, hätte er vielleicht die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Feldern präziser beschreiben können. Schwinn argumentiert z. B., dass sich manche Ungleichheiten (z. B. der Bildung) als breit ausstrahlend erweisen, während andere (z. B. künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten) auf ein bestimmtes Feld beschränkt bleiben (vgl. Schwinn 2000, S. 476). 9 Die Bourdieusche Privilegierung von ökonomischem und kulturellem Kapital müsste nicht einfach als Primat der Ökonomie behauptet oder empirisch abgeleitet werden, sondern sie ließe sich argu7 Luhmann nennt die Mechanismen Geld, Karrieren und Prominenz (Luhmann 1985, S.147 ff.). 8 Diese erfolgt z. B. auch bei Nassehi (1997) und Kurtz (2002). 9 Auch Stichweh geht verschiedene Funktionssysteme unter dem Gesichtspunkt durch, welche Exklusionen sich auf andere Funktionssysteme übertragen (Stichweh 1997, S.1281f.). Wie Luhmann versäumt er es aber, den Exklusionsbegrrilf eindeutig von mangelhafter sozialer Integration zu unterscheiden (zur Kritik vgl. Nassehi 1997). 222

mentativ damit begründen, dass die Kommunikationsmedien Geld und Sprache breiter und unspezifischer anschlussfähig sind als z. B. soziale Kontakte oder hohes Prestige. 10 Auch hinsichtlich der Grenzen der Gesellschaft erweist sich die Luhmann-Rezeption als weiterführend. Bommes argumentiert, dass nicht alle Funktionssysteme auf die Inklusion ganzer Personen verzichten können (Bommes 1999). Das Funktionssystem Politik ist territorial segmentiert und muss zur Erzeugung von Legitimität und Entscheidungsmacht ganze Personen inkludieren. Die Exklusion ganzer Personen strahlt aber auf die Teilinklusion in andere Funktionssysteme aus. Zum Beispiel kann eine Person, die sich nicht legal auf dem deutschen Staatsgebiet befindet, weder von der Charite als Patientin noch von Schering als Empfangsdame beobachtet werden. Bommes spricht von einer »Ungleichheitsschwelle«, die der nationale Wohlfahrtsstaat errichtet. Dadurch werden auch Personen, die über die Voraussetzungen für Teilinklusionen verfügen (die z. B. Adressen, Pässe und Qualifikationen haben), vom Staat als ganze Personen exkludiert. Bommes leitet Abweichungsverstärkung aus einer Besonderheit des Funktionssystems Politik ab. Luhmann selbst hat regionale Disparitäten als funktionales Äquivalent zur Klassenbildung bezeichnet, das im Nationalstaat lediglich institutionalisiert werde. Auch in bezug auf Gebiete gibt es jene Art von Clusterbildung. Bei mehr Wohlstand ist noch mehr Wohlstand, aber auch anspruchsvolle Erziehung, politische Stabilität, bessere Volksgesundheit, also wieder mehr Wohlstand leichter zu haben. Andere Gebiete fallen wegen derselben Interdependenzen zurück. Zur Erhaltung dieses Verteilungssystems und seiner politischen Konsensbildung ist Staatenbildung, das heißt segmentäre Differenzierung des politischen Systems, unerläßlich. So gesehen, sind denn die Staaten weniger ein Instrument der Klassenherrschaft als vielmehr ein funktionales Äquivalent einer über Klassen gebündelten positiven bzw. negativen Verteilung. (Luhmann 1985, S.147)

Hier kann nicht entschieden werden, ob die Besonderheit des Funktionssystems Politik auf andere Funktionssysteme ausstrahlt oder ob die Ausschließlichkeit des Raumes selbst strukturbildend wirkt IO

Eine differenzierte Analyse steht hier noch aus. Institutionalisiertes kulturelles Kapital ist in hohem Maße durch nationale Bildungssysteme suukturierr. Manche Formen des symbolischen Kapitals (z. B. Blondheit und Blauäuigkeit) sind fast weltweit wertvoll. 223

(Simmel 1983 [1903]; Giddens 1995) und lediglich im Nationalstaat institutionalisiert wird. Man kann jedoch festhalten, dass die Systemtheorie (sozial)raumbezogene Exklusionen als funktionales Äquivalent einer auf den Leistungsbereich bezogenen Klassenbildung behandelt. An dieser Stelle bietet sich eine erneute Beschäftigung mit der Ausgangsfrage an: Wenn sich der Ungleichheitsbegriff sowohl hinsichtlich seiner Inhalte als auch hinsichtlich seines Bezugs auf Teilsysteme oder Felder ausdifferenzieren lässt - worüber sich Luhmann und Bourdieu ja einig sind -, wie kann die Abweichungsverstärkung zwischen einer Vielzahl von Ungleichheiten und zwischen Teilsystemen bzw. Feldern gedacht werden? Luhmann vermutet eine starke Integration dort, wo es zu Rückkoppelungsbeziehungen zwischen Exklusionen kommt. In diesem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob sich an den Rändern der Weltgesellschaft konsistentere Klassenlagen herausbilden, als in ihrem statusinkonsistenten Inneren. Man könnte beispielsweise untersuchen, inwiefern Personen, deren ökonomische Aktivitäten sich überwiegend auf die informelle Wirtschaft beschränken (müssen) (Altvater/Mahnkophoo2; Komlosy/Parnreiter/Zimmermann 1997), auch in ihrer sonstigen Lebensführung grundsätzlich anders gelagert sind als »Legale«. Allerdings ist der Begriff des Exklusionsbereichs bisher unscharf geblieben. Viel spricht dafür, ihn nicht als Exklusion aus der Gesellschaft insgesamt, sondern als Exklusion aus bestimmten Teilsystemen oder Organisationen zu begreifen (Nollmann 1997, S. 195 ff.). Schwinn argumentiert dafür, Leistungsabhängigkeiten zwischen Teilsystemen genauer zu untersuchen. Im Zeitverlauf schaffen positive Erträge in bestimmten Funktionssystemen die Voraussetzung für Erfolge in anderen Feldern. Diese Position ist gut mit der Bourdieuschen Klassentheorie wie auch anderen ungleichheitssoziologischen Arbeiten kompatibel. Bommes zeigt schließlich, warum die territoriale Segmentierung des Teilsystems Politik auf die anderen Teilsysteme ausstrahlt. Die strukturellen Besonderheiten in der Lage von Migrationsbevölkerungen sind empirisch gut belegt wie theoretisch ausführlich diskutiert worden (Hoffmann-Nowotny 1970; Kalter 2003). Die Bommessche Reinterpretation dieser Befunde eröffnet die Möglichkeit, die soziale Lage von Migrationsbevölkerungen als Klassenlage im weiteren Sinne zu begreifen. Damit 224

schließt sich der Kreis zu Luhmann, der regionale Disparitäten als funktionales Äquivalent der Klassenbildung bezeichnet hat.

4. Strukturbildung durch Herrschaft Alle genannten Theorien setzen eine gewisse Rationalität der Abweichungsverstärkung voraus: Die Luhmannschen Funktionssysteme sind auf Mindestvoraussetzungen in der Person angewiesen, die sie teilinkludieren. Bei Schwinn und Bourdieu wird dem, der hat, gegeben. Klassenlagen können aber auch durch willkürliche bzw. durch herrschaftsförmige Abweichungsverstärkung konsistent werden. In seinen Arbeiten über männliche Herrschaft (Bourdieu 2001b) zeigt Bourdieu, wie sich aus kontingenten Klassifikationen ungleiche Praktiken entwickeln. »Die symbolische Effizienz des negativen Vorurteils, in der sozialen Ordnung gesellschaftlich institutionalisiert, rührt zum großen Teil daher, daß es sich aus eigener Kraft bestätigt.« (Bourdieu 1997, S. 162) Geschlechtsspezifische Praktiken verfestigen sich auf Dauer zu symbolischer Macht (Bourdieu/Passeron 1973; Bourdieu 1992), die in objektive (z. B. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) wie subjektive Strukturen (z. B. den Habitus) eingeschrieben ist. Die symbolische Macht ist eine Macht, die jedesmal ausgeübt wird, wenn eine Macht (oder ein Kapital) ökonomischer oder auch physischer (die Kraft als Zwangsinstrument), kultureller oder sozialer Art in die Hände von Agenten gelangt, deren Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien den Strukturen dieser Macht[ ... ] angepaßt sind und die daher dazu neigen, sie als natürlich, als selbstverständlich wahrzunehmen und die ihr zugrundeliegende willkürliche Gewalt zu verkennen, sie also als legitim anzuerkennen. Die symbolische Macht, das Wort sage es, steht in einer anderen Dimension als die anderen Machtformen; sie funktioniert in der Ordnung des Kennens (was nicht heißt, des Bewußtseins oder der mentalen Repräsentation). (Bourdieu 1991b, S. 484)

Ähnlich wie das symbolische Kapital wird die symbolische Macht sowohl als Überformung und Legitimation ökonomischer Ungleichheiten gedacht, als auch - wenn von männlicher Herrschaft die Rede ist - als eigenständige Herrschaftsform, die quer zu den jeweiligen Produktionsverhältnissen verlaufen kann. Hier schöpft Bourdieu die Stärken seiner Theorie nicht voll aus. 225

Er betont einerseits, dass in der Dimension des »Kennens« sich selbst verfestigende Herrschaftsverhältnisse erzeugt werden. Männliche Herrschaft ist langfristig stabil und bedingt deutlich ungleiche Lebenschancen. Andererseits behandelt Bourdieu Klassifikationen wie Alter, Geschlecht und Ethnizität als nachrangige Akzentuierungen eines primär durch ökonomisches und kulturelles Kapital strukturierten sozialen Raumes. Geschlecht ist aber selbst als Strukturkategorie anzusehen, die Ungleichheit nicht nur symbolisch umrankt, sondern sie auch materiell strukturiert. 11 Wie ich an anderer Stelle für den Gegenstand Rassismus gezeigt habe, ist eine Verbindung der Bourdieuschen Theorien zu symbolischer Herrschaft und zu sozialer Ungleichheit durchaus möglich und sinnvoll (Weiß 2001). Für die hier diskutierte Frage nach Klassenlagen, die als heterogen gedachte Ungleichheiten übergreifen, würde das bedeuten, dass Konsistenz nicht nur durch die Verstärkung von Leistungen oder Exklusionen, sondern auch durch herrschaftsförmige symbolische Praktiken »willkürlich« zustande kommen kann. Ein ähnlicher Modus der Abweichungsverstärkung wird im systemtheoretischen Diskurs angesprochen. Nollmann schlägt vor, den lnklusionsbegriff nach den Systemtypen Interaktion, Weltgesellschaft und Organisation auszudifferenzieren (vgl. Nollmann 1997, S.195 f.). Im Unterschied zur unwahrscheinlichen Exklusion aus der Weltgesellschaft und ihren Funktionssystemen ist organisationsspezifische In- und Exklusion empirisch häufig, und in der Form exklusiv und kontingent (Nollmann 1997, S. 202f.). Eine Arbeitsorganisation kann nicht alle einschlägig Qualifizierten beschäftigen und nicht alle Qualifizierten finden eine angemessene Stelle. Angesichts der Vorteile, die Organisationsmitgliedschaft bietet, wird eine Exklusion aus sämtlichen oder vielen Organisationen ungleichheitsrelevant. Nollmann hält fest, »dass die lnklusionslagen von aus Organisationen exkludierten Individuen in mehreren Hinsichten anders, man könnte auch sagen: ärmer ausfallen als die von Mitgliedern« (Nollmann 1997, S. 207). Bei diesen lnklusionslagen treten semantische Inklusionen wie Nationalität und Geschlecht an die Stelle der fehlenden Organisationsinklusion. Die Semantik ist nicht einfach ein abgeleiteter, weniger bedeutsamer Faktor in der modernen Inklusionslandschafr. [... ] Semantische und systemspezi11

Ein Überblick dieser Debaue findet sich bei Cyba

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(2000).

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