Text und Feld: Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis 9783110947489, 9783484351080

In Germany, the debate about the pros and cons of advanced literary sociology sparked off by Pierre Bourdieu's basi

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German Pages 408 [412] Year 2005

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Table of contents :
Vorwort
Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung
Elemente einer Geschichte der Autonomisierung. Das Beispiel des französischen literarischen Feldes
Bourdieu, wiedergelesen mit den Augen Boileaus
Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung
Diderot im Deutschland des 18. Jahrhunderts - Räume oder Feld?
Trennung der Räume und Kompetenzen. Der Glaube an die Gelehrtenrepublik: Klopstock, Goethe, Lenz (1774–1776)
Wahre Dichtung und Ware Literatur. Lyrik, Lohn, Kunstreligion und Konkurrenz auf dem literarischen Markt 1760–1810
Ein unmöglicher Habitus. Heines erstes Pariser Jahrzehnt
Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires
Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq
Möglichkeiten literarischer Gattungspoetik nach Bourdieu. Mit einer Skizze zur >modernen Versepik
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Text und Feld: Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis
 9783110947489, 9783484351080

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger

Band 108

Text und Feld Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis

Herausgegeben von Markus Joch und Norbert Christian Wolf

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Redaktion

des Bandes: Norbert

Bachleitner

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-35108-X

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 h ttp://www.niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Ingrid Pergande-Kaufmann, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Vorwort

Die hier versammelten Beiträge wurden, mit Ausnahme des Aufsatzes von Herve Serry, auf dem Internationalen Symposium »Text und Feld. Literaturwissenschaftliche Praxis im Zeichen Bourdieus« vorgestellt, das vom 5. bis 8. Februar 2004 im Literaturhaus Berlin stattfand. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin danken wir für die Finanzierung der Tagung. Bei der Organisation waren uns Lisa Friedrich und Nura Treves behilflich, bei der Einrichtung der Manuskripte Lisa Friedrich, Astrid Herzog, Jan Niklas Howe und Iztok Petek. Andrea Maurer hat das Register zusammengestellt. Berlin, im Januar 2005 Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

Markus Joch / Norbert Christian Wolf Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung

1

Gisele Sapiro Elemente einer Geschichte der Autonomisierung. Das Beispiel des französischen literarischen Feldes

25

Alain Viala Bourdieu, wiedergelesen mit den Augen Boileaus

45

Stefanie Stockhorst Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung

55

Anne Saada Diderot im Deutschland des 18. Jahrhunderts - Räume oder Feld?

73

Heribert Tommek Trennung der Räume und Kompetenzen. Der Glaube an die Gelehrtenrepublik: Klopstock, Goethe, Lenz (1774-1776)

89

York-Gothart Mix Wahre Dichtung und Ware Literatur. Lyrik, Lohn, Kunstreligion und Konkurrenz auf dem literarischen Markt 1760-1810

109

Markus Joch Ein unmöglicher Habitus. Heines erstes Pariser Jahrzehnt

137

VIII

Inhaltsverzeichnis

Thomas Becker Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires

159

Jerome Meizoz Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Celine, Ajar, Houellebecq . .

177

Werner Michler Möglichkeiten literarischer Gattungspoetik nach Bourdieu. Mit einer Skizze zur >modernen Versepik
heroischen< Aktionen einzelner Autoren bestehen oder - nach deren Erfolg - in >harten< Fakten institutioneller Art, die den einzelnen individuelle Freiräume eröffnen. Dem Zusammenspiel beider Dimension gilt Bourdieus besonderes Interesse, wie die von ihm vorgelegte historische Fallstudie zeigt.4 Der rapide anwachsende Markt symbolischer Güter ist Mitte des 19. Jahrhunderts eine dem individuellen Wollen vorgängige Größe, die den Schriftstellern eine objektive Unabhängigkeit von den alten Mächten Adel und Kirche verschafft. Die französischen Literaten sind damit jedoch sehr unterschiedlich umgegangen. Das Gros sucht sein Heil darin, die steigende Nachfrage der Bourgeoisie zu befriedigen, etwa mit Arbeiten für die im Zweiten Kaiserreich expandierende Presse oder mit Theaterstücken erbaulichen Inhalts. Damit akzeptiert man auch in der Literatur die Spielregel der Kundschaft, die Logik der Nachfrage und des ökonomischen Erfolgs, als oberstes Legitimationskriterium. Anders Autoren wie Flaubert, die innerhalb der bürgerlichen Welt eine Gegenwelt aufbauen, in der die Anerkennung des seinen eigenen Gesetzen folgenden Werks durch andere Künstler mehr wiegt als der für suspekt erklärte, schnelle Verkaufserfolg; eine Gegenwelt also, in der eine Logik nicht der Nachfrage, sondern des Angebots herrscht; und darüber hinaus: eine Welt, deren Grundgesetz einer verkehrten Ökonomie gleicht: »Auf symbolischem Terrain vermag der Künstler nur zu gewinnen, wenn er auf wirtschaftlichem Terrain verliert (zumindest kurzfristig), und umgekehrt (zumindest langfristig).«' Allerdings setzt der Aufbau einer eingeschränkten Produktion

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Niels Werber: Evolution literarischer Kommunikation statt Sozialgeschichte der Literatur. In: Weimarer Beiträge 41, 1995. S. 428. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. [frz. 1992] Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. S. 81-279. Es ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei nicht um die Arbeit eines Literaturhistorikers handelt, sondern um die eines Soziologen, der nur auf begrenzte Vorarbeiten zurückgreifen konnte. Hinsichtlich des späten 19. und des 20. Jahrhunderts ist dieser Abriss der »drei Entwicklungsstufen des Feldes« in Frankreich notgedrungen recht skizzenhaft ausgeführt und bedarf einer literaturhistorisch informierten Ergänzung. Vgl. dazu den Beitrag von Gisele Sapiro im vorliegenden Band. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 4). S. 136.

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Markus Joch / Norbert Christian Wolf

für literarische Insider {production restreinte), eine anti-ökonomische Ökonomie, ihrerseits finanzielle Reserven voraus. Rentiers können sie sich am ehesten leisten, ohne dass diese empirisch nachweisbare Voraussetzung schon das Wie ästhetischer Quantensprünge erklärt, dem der Soziologe Bourdieu ebenso nachgegangen ist. Die Einsicht, dass das individuelle Verdienst bestimmter Autoren und die sozioökonomischen Rahmenbedingungen als gleichermaßen bedeutende Faktoren literarischer Autonomisierung zu verstehen sind, macht die wohl wichtigste Differenzqualität einer Literatursoziologie aus, die der umstandslosen Liquidierung von Sozialgeschichte ihre gründliche Erneuerung vorzieht.6 Indes ist es nicht der in Aussicht gestellte Erkenntnisgewinn allein, der immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu bewegt, mit Bourdieu zu arbeiten. Anziehend ist auch die Energie seiner mehrdimensionalen Analysen - ein Antrieb, dessen Quellen Bourdieu selbst erst spät offengelegt hat, den aufgeschlossene Leser freilich erahnen konnten. Es handelt sich um eine Mischung aus wissenschaftlicher Nüchternheit, den sakralisierenden Umgang mit Literatur betreffend, und unverkennbarer Leidenschaft fur literarische Avantgardisten, die diesen Namen tatsächlich verdienen.7 Dass so manchem Beiträger unseres Bandes diese Faszination anzumerken ist, halten die Herausgeber für keinen Nachteil. Die Regeln der Kunst sind die folgenreichste literatursoziologische Neuerscheinung der letzten Jahre. Gut fünf Jahre nach dem verspäteten Erscheinen der deutschen Übersetzung ist es an der Zeit, eine Reihe von Arbeiten vorzustellen, die sich von der Feldtheorie haben inspirieren lassen. Hervorgegangen sind sie aus Vortragen des Internationalen Symposions »Text und Feld. Literaturwissenschaftliche Praxis im Zeichen Bourdieus«, das vom 5. bis 8. Februar 2004 in Berlin stattfand. Wie die Tagung soll auch der vorliegende Band dazu dienen, den praktischen Nutzen der Theorie zu erproben und die Bandbreite ihrer Einsatzmöglichkeiten zu erkunden. Überfallig scheint uns das aus mehreren Gründen. Während die vom Romanisten Joseph Jurt verfasste Überblicksdarstellung feldtheoretischer Arbeiten in und zu Frankreich sich noch darauf beschränken musste, dem deutschsprachigen Publikum vorliegende Ergebnisse gerafft zu präsentieren," versammelt Text und Feld, der nächste Schritt, neue Aufsätze von Autorinnen und

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Womit sie einer Intention nicht nur unseres Bandes entspricht. Vgl. Martin Huber/Gerhard Lauer: Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft - zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. von Martin Huber u. Gerhard Lauer. Tübingen: Niemeyer 2000. S. 1-11. Anders als die Titel vermuten lassen, zielen Huber und Lauer auf die Weiterentwicklung sozialgeschichtlicher Fragestellungen. Die bei ihnen freilich nur am Rand berücksichtigte >Option Bourdieu< wird dann unter anderem in Aufsätzen von York-Gothart Mix und Michael Ansel veranschaulicht. Vgl. Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch, [frz. 2004!] Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. S. 121. Vgl. Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.

Feldtheorie als Provokation der

Literaturwissenschaft

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Autoren aus Frankreich, England, Deutschland, Österreich und der Schweiz, um Argumentationsgänge der Feldtheorie anhand konkreter Untersuchungen zur Diskussion zu stellen. Zum Zweiten haben auch die maßgeblichen germanistischen Einführungen (Klaas Jarchow/Hans-Gerd Winter, Andreas Dömer/Ludgera Vogt) schon Mitte der neunziger Jahre einen praktischen Umgang mit Bourdieu angeregt - ein Impuls, der hierzulande bislang nur von verstreut erschienenen Arbeiten aufgenommen wurde, während sich in Übersee bereits ein systematischer Diskussionszusammenhang herausgebildet hat.' Zum Dritten reagiert unsere Zwischenbilanz auf die Tatsache, dass Bourdieus Rezeption in der deutschen Literaturwissenschaft paradox verlaufen ist. Der wachsenden Zahl empirischer Adaptionen steht eine Phalanx punktueller bis genereller Ablehnung gegenüber, die häufig sogar mit einer gewissen Gereiztheit einhergeht. Obwohl es an instruktiven Vorstellungen der Methode seit längerem nicht fehlt, halten sich hartnäckige >Missverständnisse< - allen voran die Rede vom soziologischen Schematismus. Der folgende Abschnitt rekapituliert kurz den Verlauf der philologischen BourdieuRezeption, denn er zeigt nicht nur, wie die verschiedenen Theorie-Bausteine nach und nach in ihrem Innovationswert erkannt wurden, sondern auch, wie ritualisierte Widerstände mitgewachsen sind.

II. Eingeleitet wurde der deutsch-französische Theorietransfer durch einen wegweisenden Aufsatz von Jurt, der sich auf das von Bourdieu bereits Mitte der sechziger Jahre - also lange vor entsprechenden Ansätzen der deutschen Systemtheorie entworfene" und später weiterentwickelte" Konzept des literarischen Feldes< konzentrierte, auf dessen konfliktäre Beschaffenheit und relative Autonomie, auf die Differenzierung von eingeschränkter und massenhafter symbolischer Produktion s o w i e auf die P o s i t i o n e n l'art social, '

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l'artpour

l'art u n d l'art bourgeois

als h i s t o -

Auf das Beispiel der Nachkriegsliteratur verweisen Jarchow/Winter: Pierre Bourdieus Kultursoziologie als Herausforderung der Literaturwissenschaft. In: Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Hg. von Gunter Gebauer u. Christoph Wulf. Frankfurt a.M.: Suhrkarap 1993. S. 93-134. Dörner/Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, politische Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994. S. 61-75, führen die Fruchtbarkeit eines Begriffs wie symbolisches Kapital< an Texten Hartmanns von Aue und Balzacs vor. Zur Rezeption im angelsächsischen Raum vgl. zuletzt: Practising Theory. Pierre Bourdieu and the Field of Cultural Production. Hg. von Jeff Browitt u. Brian Nelson Newark: University of Delaware Press 2004. Vgl. Pierre Bourdieu: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld. [frz. 1966] In: Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S. 75-124. Vgl. Pierre Bourdieu: Le marche des biens symboliques. In: L'annee sociologique 22, 1971. S. 49-126; Bourdieu: Disposition esthetique et competence artistique. In: Les Temps modernes 295, 1971. S. 1345-1378. Diese wichtigen Arbeiten wurden nicht oder nur in Auszügen ins Deutsche übersetzt.

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Markus Joch / Norbert Christian Wolf

risch spezifische Ausformungen der Beziehung des Künstlers zur dominanten Fraktion der herrschenden Klasse.12 Der Habitusbegriff spielte hier, wie auch in einer wenig später folgenden Arbeit zum Expressionismus," eine noch untergeordnete Rolle. Bourdieu hatte ihn zwar bereits als Vermittlungsinstanz zwischen Sozialstruktur und individueller Praxis umrissen, aber (im Anschluss an Erwin Panofsky) nur an kunsthistorischen oder ethnologischen Beispielen veranschaulicht.14 Ähnlich wie der Distinktionsbegriff harrte er noch der empirisch-aktuellen Untermauerung durch Material aus den modernen westlichen Gesellschaften, die dann in Die feinen Unterschiede (frz. 1979, dt. 1982) am Beispiel Frankreichs erfolgte. Fortan konnten germanistische wie romanistische Einführungen herausstellen, dass sich literarische Werke in neuartiger Weise aus dem Zusammenspiel zweier Steuerungsgrößen begreifen lassen:15 Der Habitus eines Autors, der über eine bestimmte Menge an kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital verfügt und dessen Einsatz disponiert, vermag erst im Raum überhaupt einnehmbarer Positionen wirksam zu werden. Die Feldstellung überlagert und verändert vorgängige soziale Dispositionen (wie etwa die familiäre Herkunft), ohne sie völlig zu neutralisieren. Die Unterschiede zu traditionellen Interdependenzkonzepten wurden bald sichtbar. Marxistischen Ansätzen, die die Wertungssteuerungen und formalen Entscheidungen eines Autors - wie vermittelt auch immer - auf makrosoziale Größen wie die Klassenlage und die daraus angeblich notwendig entspringenden Interessen beziehen," hält Bourdieu die Eigengesetzlichkeit des relativ autonomen kulturellen Feldes entgegen, an der sich Imperative externer Instanzen wie Wirtschaft, Politik oder Religion brechen, ohne jedoch gegenstandslos zu werden." Ebenso deutlich 12

Vgl. Joseph Jurt: Die Theorie des literarischen Feldes. Zu den literatursoziologischen Arbeiten Bourdieus und seiner Schule. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5, 1981. S. 454-^79. 13 Vgl. Michael Stark: Für und wider den Expressionismus. Die Entstehung der Intellektuellendebatte in der deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler 1982. 14 Vgl. Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittler zwischen Struktur und Praxis, [frz. 1967] In: Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S. 125-158; Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, [frz. 1972] Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. S. 164—202. " Vgl. Ludwig Fischer u. Klaas Jarchow: Die soziale Logik der Felder und das Feld der Literatur. In: Sprache im technischen Zeitalter 25, 1987. S. 164-172; Andreas Dörner u. Ludgera Vogt: Kultursoziologie (Bourdieu - Mentalitätengeschichte - Zivilisationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus Michael Bogdal. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990. S. 131-145; Jarchow/Winter: Pierre Bourdieus Kultursoziologie (Anm. 9); Jurt: Das literarische Feld (Anm. 8). 16 Am differenziertesten bei Fredric Jameson: Das politisch Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988. Vgl. Pierre Bourdieu: Einführung in die Soziologie des Kunstwerks (Anm. 2); Joseph Jurt: Das literarische Feld (Anm. 8); Markus Schwingel: Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung. Die Literatur- und Kunstsoziologie Pierre Bourdieus in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis- und Kultursoziologie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22/2, 1997. S. 109-151.

Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft

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hebt sich die Feldtheorie vom Standpunkt Adornos ab, der das literarische Kunstwerk als eine der »verwalteten Welt« abgerungene Einzigartigkeit fasst. In Bourdieus relationaler Sicht ist ästhetische Besonderheit weniger einem >Außen< der Literatur abgetrotzt als den je aktuellen Standards der Literatur selbst.18 Die Feldanalyse unterminiert zwar den überkommenen Glauben an die Unhintergehbarkeit künstlerischer Werke im Sinne von Hervorbringungen >ungeschaffener Schöpfen; insofern läuft sie den habitualisierten Selbststilisierungen der Autoren zuwider." Dennoch trägt sie der Eigenlogik des Literarischen Rechnung, und dies nicht nur durch den Hinweis auf die besonderen Legitimationskriterien des relativ autonomen Feldes. Wie Bourdieu in einiger Ausführlichkeit darlegt,20 wird der Anteil des Unverwechselbaren im (bedeutenden) Werk erst auf dem Hintergrund standardisierter Schreibweisen und Sujets sichtbar. So kommt es nicht von ungefähr, dass jüngere Vorstellungen der Methode diese Pointe von Les regies de I 'art mit Nachdruck betonen.21 Indem Bourdieu rekonstruiert, wie Flaubert in seinem literarischen Programm das von den Zeitgenossen für unvereinbar Gehaltene vereinbart (»bien ecrire le mediocre«), wie er in der Education sentimentale radikal neue Formen indirekter Selbstobjektivierung schafft, zeigt er, dass für die Feldtheorie gerade ästhetische Differenzqualität von Interesse ist; dass sie weder die Schriftsteller zu bloßen Marionetten kunstferner Determinanten noch die Literatur zu einem Schauplatz reiner Ego-Kämpfe herabwürdigt. Dennoch ziehen sich derlei Vorwürfe wie ein roter Faden durch die Besprechungen, die die Summe von Bourdieus literatursoziologischen Arbeiten im deutschen Feuilleton erfahren hat. Das traditionsreiche Gerücht, wonach die Ermittlung von Distinktionsgewinnen darauf hinauslaufe, die Positionsnahmen von Autoren auf ein bewusstes strategisches Kalkül zurückzufuhren,22 kehrt trivialisiert in der Behauptung wieder, dass »Konkurrenten [...] überboten, überwunden, abserviert werden [müssen]«.23 Geflissentlich wird hier Bourdieus häufig wiederholtes Argument übergangen, dass die strategische Motivation den (historischen) Akteuren selbst meist unbewusst bleibt und erst in einer retrospektiven Analyse (re)konstruiert werden kann. Dass der sozialwissenschaftliche Ansatz Invarianten aufzeigt, die das literarische mit anderen Feldern teilt (positionale Dichotomien, Kräfteverhältnisse, Interessenbindungen etc.), wird von den Kritikern nicht als Hinweis auf Ähnlichkeiten im Unter-

" Vgl. Jarchow/Winter: Pierre Bourdieus Kultursoziologie (Anm. 9). S. 109. Vgl. Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen, [frz. 1980] Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. S. 197-211; femer: Joseph Jurt: Bourdieus Analyse des literarischen Feldes oder der Universalitätsanspruch des sozialwissenschaftlichen Ansatzes. In: IASL 22/2, 1997. S. 152180; Jarchow/Winter: Pierre Bourdieus Kultursoziologie (Anm. 9). 20 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 4). S. 150-174. 21 Vgl. Markus Schwingel: Kunst, Kultur und Kampf (Anm. 17); Joseph Jurt: Bourdieus Analyse (Anm. 19). 22 Vgl. Peter Bürger: On Literary History. In: Poetics 14, 1985. S. 199-207. 23 Clemes Pornschlegel: Hoch hinaus. Pierre Bourdieu analysiert die soziologischen »Regeln der Kunst«. In: Süddeutsche Zeitung 4./5. September 1999.

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schied verstanden, als »kontrollierte Analogie«,24 sondern als plane Gleichsetzung, die die Grenzen differenter Praxisbereiche einebne." Eine etwas geschicktere Abwertungstechnik besteht darin, der Feldanalyse einen partiellen Erkenntniszugewinn einzuräumen, um ihr im selben Atemzug das »Elend« aller Kunstsoziologie nachzusagen: die angebliche Abstraktion vom literarischen Text. Wenn etwa der bedeutende Romanist Karlheinz Stierle die Feldbedingungen als einen interessanten, aber letztlich nachrangigen, weil den >eigentlichen< Werken äußerlichen Aspekt behandelt, argumentiert er überraschend idealistisch. Und wer von den Regeln der Kunst behauptet, sie lehrten, »wie man einen Roman versteht, ohne ihn lesen zu müssen«,26 hat das besprochene Werk, das eine eingehende Analyse der Education sentimentale enthält, offenbar selbst nicht allzu aufmerksam studiert. Nur bedingt aufschlussreich war auch die erste Reaktion der wichtigsten konkurrierenden Spielart der Kunstsoziologie. Zu den Feinen Unterschieden, die die Rezeption von Kunst als einen Bereich sozialer Distinktion untersuchen, bemerkte Niklas Luhmann, mit ihrer Hilfe beobachte man »ein Kunstwerk nicht als Kunst, nicht im Hinblick auf das, was den Weltzugang über Kunst in sozialer Hinsicht auszeichnet«.27 Auf diese Weise setzte er einerseits das eigene Apriori voraus, es sei der Kunst immer um einen einzigartigen >Weltzugang< zu tun, und ging andererseits über Bourdieus damals schon vorliegende Arbeiten zur Produktionsseite von Kunst und Literatur stillschweigend hinweg. Die gedankliche Nähe zwischen dem Begriff selbstreferentieller (beim späten Luhmann sogar: autopoietischer) Systeme und der Konzeption (teil)autonomer Felder, ja generell die gar nicht so geringen Affinitäten zwischen den beiden Theorien gesellschaftlicher (Aus)Differenzierung und Autonomisierung blieben ein blinder Fleck.2"

III. Genauer besehen werden die Vorbehalte auf unterschiedlichen Ebenen vorgebracht. Peter Bürger etwa hat Fragen aufgeworfen,29 die sich vielleicht auch ande24

Joseph Jurt: Bourdieus Analyse (Anm. 19). S. 163. Vgl. Pornschlegel: Hoch hinaus (Anm. 23); Karlheinz Stierle: Glanz und Elend der Kunstsoziologie. In: Die Zeit 19. August 1999. 26 Stierle: Glanz und Elend (Anm. 25). 27 Niklas Luhmann: Weltkunst. In: Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen und Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld: Verlag Cordula Haux 1999. S. 7^*5. Hier S. 21. 2 * Vgl. dazu jetzt den Band: Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich. Hg. von Armin Nassehi u. Gerd Nollmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, dessen Beiträger im Anschluss an eine instruktive Einleitung ausschließlich aus Luhmannscher Perspektive argumentieren und überdies nur die übersetzten Arbeiten Bourdieus konsultieren, wodurch ihnen wichtige Aspekte der Feldtheorie entgehen - so etwa die diachrone Dimension des Autonomisierungs- und Differenzierungsprozesses, die Bourdieu in Le marchi des biens symboliques (Anm. 11) skizziert. 25 Vgl. Bürger: On Literary History (Anm. 22). 25

Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft

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ren Interessenten der Feldtheorie stellen: Glaubt Bourdieu im Ernst, dass sich ein Autor an den Schreibtisch, ein Maler an die Staffelei, ein Komponist ans Notenblatt begibt, um sich wohlkalkuliert von der Konkurrenz abzuheben? Wird damit nicht eine kühle Berechnung unterstellt, wo vielmehr >innere Notwendigkeit und Ich-Stärke zu erwägen sind; den Akteuren am Ende ein Motiv untergeschoben, das sich als fixe Idee des Beobachters entpuppt? Darauf ist zunächst zu antworten, dass eine Analyse der Kunst als System differentieller Abstände nicht an den bewussten Distinktionswillen der Akteure gebunden ist. Für die Kunst wie für die soziale Welt überhaupt gilt: »Ob ich mich unterscheiden will oder nicht, ich bin unterschieden, ich werde als verschieden wahrgenommen, und mein jeweiliger Unterschied kann positiv oder negativ bewertet werden«.30 Gleichwohl zieht Bourdieu auch die bewusste Selbstverortung von Autoren in Betracht, falls sie sich dokumentieren lässt. Ungleich öfter freilich arbeitet er mit dem »sense of one's place« (einer Wendung Erving Goffinans) oder äquivalenten Vokabeln wie Gespür und Instinkt - also mit der Erkenntnis, dass die >innere Notwendigkeit des Künstlers sich mit dem Sinn für das Neue und Unterscheidbare paaren muss, um Werke hervorbringen zu können, denen ein hoher Wert zugewiesen wird. Damit hat Bourdieu eine Sicht vorweggenommen, die sich in der avancierten Kulturökonomie zwischenzeitlich durchgesetzt hat." Zuvorderst, weil sie dem Gespür der Künstler selbst Rechnung trägt: Stellungnahmen zum unhintergehbaren Innovationszwang in der Kunst sind spätestens seit der Klassischen Moderne und den historischen Avantgarden Legion. Selbst die Zitat- und Patchwork-Geste der Postmoderne entgeht dieser Logik nicht, nur werden Klassische Moderne und Avantgarde hier selbst zu Bezugspunkten der Distinktion. Bourdieus kultursoziologisches Projekt besteht in der Untersuchung, wie mit dem selbstverständlich werdenden Erfordernis des Neuen eine produktionsfördernde illusio der Akteure wächst, ein kollektiv geteilter Glaube an den Wert gerade der eigenen Produktion, in dem der Glaube an das Individuelle mit dem an das Neue verschmilzt. Mit der illusio ist hier ein Antrieb gemeint, nicht unbedingt eine Illusion im eigentlichen Wortsinn. Das Verhältnis zwischen subjektiver Selbstwahrnehmung 10

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Pierre Bourdieu: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Berlin: Wagenbach 1989. S. 19. Sie wurde dort ohne erkennbaren Bezug auf Bourdieu herber als bei ihm formuliert. Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München/Wien: Hanser 1992. S. 36: »Ein aufrichtig und authentisch hergestelltes Werk kann sich nämlich im Vergleich als durchaus trivial und unoriginell erweisen. Die Überzeugung vom Gegenteil ist Bestandteil einer Ideologie, in der die Moderne noch immer weiterlebt. Es ist der Glaube, daß die Wirklichkeit an sich differenziert und die Menschen von Natur aus verschieden seien. Wenn jeder von ihnen sich aufrichtig bemühe, >er selbst zu werdenAuthentizität< übereinstimmend, würde Bourdieu allerdings einwenden, dass selbst das Epigonale sich noch unterscheidet, nur freilich: negativ vom wirklich Neuen, das heißt dem, mit Groys gesprochen, als wertvoll erachteten Anderen. Mehr zum Verhältnis beider Ansätze in Thomas Hölscher: Das Reine und das Unreine. Zu Boris Groys und Pierre Bourdieu. In: Merkur 47-534/535, 1993. S. 904-910.

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Markus Joch / Norbert Christian Wolf

und objektiver Innovativität zu bestimmen ist Aufgabe einer relationalen Analyse, die nachzeichnet, vor welcher aktuellen Herausforderung ein Künstler zu einem bestimmten Zeitpunkt stand. Zu klären ist das Mischungsverhältnis zwischen einer noch in der heftigsten Verneinung inkorporierten Tradition und ihrer Überschreitung: »Alles Hinterfragen greift auf eine Tradition, auf eine praktische oder theoretische Beherrschung des Erbes zurück, das als Stand der Dinge, verhüllt durch seine Evidenz selbst, die das Denkbare und das Undenkbare begrenzt und den Raum der möglichen Fragen und Antworten öffnet, der Struktur des Feldes eingeschrieben ist.«32 Dass die Differenz von Tradition und Neuem meist geringer ausfällt, als es künstlerische Schöpfiingsmythen wahrhaben wollen, aber noch der geringfugigste Unterschied zum Vorgefundenen das Bedeutsame ausmachen kann, ist kein ganz neuer Gedanke. Allein, was Adornos Ästhetische Theorie nur am Rande erfasst hat," rückt Bourdieu ins Zentrum. Die Aufmerksamkeit für differentielle Verschiebungen in der Kunst teilt die Feldtheorie mit einer Spätversion der Systemtheorie. Als Sondercode der Kunst favorisiert Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft eine Kombination der Leitdifferenzen schön/hässlich, stimmig/unstimmig, gelungen/misslungen, schließlich aber: alt/neu.34 System- und Feldtheorie stellen gleichermaßen auf die distinkte Innovationslogik der Kunst ab. Dass leider dennoch kein Dialog zwischen beiden Schulen zustande gekommen ist,35 dürfte von divergierenden Hintergrundannahmen herrühren. Luhmann geht davon aus, dass sich die stratifkatorische (schichtenbezogene) und die funktionale Differenzierung der Kunst auf diachroner Ebene beschreiben lassen: seit der Renaissance wird die eine von der anderen nach und nach abgelöst. 32 33

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Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 4). S. 385. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [1970], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S. 402: »Daß die Struktur der Geschichte durch den parti pris für wirklich oder vermeintlich große Ereignisse verzerrt wird, gilt auch für die Geschichte der Kunst. Wohl kristallisiert sie jeweils sich im qualitativ Neuen, aber mitzudenken ist, daß dies Neue, die jäh hervortretende Qualität, der Umschlag, so gut wie ein Nichts ist. Das entkräftet den Mythos vom künstlerischen Schöpfertum. Der Künstler vollbringt den minimalen Übergang, nicht die maximale creatio ex nihilo. Das Differential des Neuen ist der Ort der Produktivität.« Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. S. 301-327. Schön/hässlich als einzige Leitdifferenz hat Luhmann verworfen, da sie zur Abgrenzung von anderen Kommunikationssystemen nicht hinreicht - unter anderem, weil sie sich nicht nur auf Objekte, sondern auch auf Menschen beziehen lässt. Was würde dann das Sprechen über Malerei von Kommentaren zu Schönheitswettbewerben unterscheiden (vgl. dazu S. 310f.)? Weitere Leitdifferenzen haben Siegfried J. Schmidt (literarisch/nicht literarisch) und Gerhard Plumpe und Niels Werber (interessant/uninteressant) vorgeschlagen; vgl. Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. S. 427-432; Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. 2 Bde. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. Bd. 2. S. 293ff.; Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992. Angeregt wird er erst seit kurzem. Vgl. Claus-Michael Ort: >Sozialgeschiche< als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projekts. In: Nach der Sozialgeschichte (Anm. 6). S. 113-128. Bes. S. 124-128.

Feldtheorie als Provokation der

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Anstelle des Aspekts sozialer Rangordnung - etwa: die Oberschicht als Auftraggeberin und einzig legitimes Sujet der Kunst, die Korrelation poetischer Stilformen mit dem Rang der behandelten Personen - tritt eine Wahrnehmung der Beobachter erster und zweiter Ordnung, wonach jeder Gegenstand, auch noch der niedrigste, sujetfähig wird und die Kompetenz, das Neue, Stimmige, Gelungene zu erfassen, keine Frage der Herkunft mehr ist. Es entwickelt sich ein eigenständiger Sinn für eine sich stetig steigernde Formenkomplexität, während die stratifikatorische (oder auch politische, religiöse) Bedeutung der Objekte zunehmend als unwesentlich erachtet wird.36 Die Kunst wird somit zu einem Sozialsystem sui generis, weil sie eine spezifische Funktion hat: »Niemand sonst macht das, was sie macht.«" Aus einem solchen Blickwinkel ist die Fragestellung der Feinen Unterschiede, wie der Gebrauch von Literatur, Musik und Malerei mit der sozialen Schichtung zusammenhängt, keine falsche, aber eine entdifferenzierende: Sie untersuche Kunst nach hierarchisierenden Maßstäben, die zwar in Wirtschaft und Politik verbreitet, keineswegs aber die des Kunstsystems selbst seien. Diese epochale Zuordnung stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung mündet in eine fragwürdige Alternative. Demnach analysiert man Kunst entweder als Medium sozialer Distinktion, mithin nach den Maßstäben einer angeblich von der historischen Entwicklung überholten Machttheorie, die soziale Unterschiede thematisiert, oder aber nach dem Luhmann zufolge einzig angemessenen Gesichtspunkt: als eine eigenlogische Suche nach dem Neuen, als »Prozessieren« von Differenzen unter den Produzenten. Dass man das eine tun kann, ohne das andere zu lassen, zeigt die Anlage von Bourdieus Kunstsoziologie. Die Feinen Unterschiede weisen auf breiter Datenbasis nach, dass der schichtenspezifische Umgang mit Kunst selbst noch in entwickelten Industriegesellschaften fortbesteht, dass etwa die Fähigkeit, die Darstellungsweise eines literarischen Werkes wichtiger als das Dargestellte zu nehmen, sich als Privileg der Inhaber großen kulturellen Kapitals erweist. Bourdieus Feststellungen mag man für unerquicklich halten, doch besagt das nichts gegen den Soziologen. Es dürfte kaum seine Aufgabe sein, empirisch gesicherte Erkenntnisse zurückzuhalten, weil sie sich weichgezeichneten Gesellschaftsbildern sperren. In einem weiteren Schritt rekonstruiert Bourdieu das Entstehen des unabhängigen Produktionsfelds Literatur in einer Weise, die für Systemtheoretiker sicherlich - zumindest punktuell - anschlussfähig ist. Die Regeln der Kunst analysieren in ihrem ersten Teil unter anderem die Kämpfe, die Autoren wie Flaubert, Baudelaire und Zola um literarische Autonomie führten. Das Recht auf eigensinnige Sujetwahl und Darstellungsweise ringen sie unterschiedlichen Instanzen ab, etwa der Kirche, übereifrigen Staatsanwälten, im Zweifelsfall auch der radikalen Linken. Wie ließe sich übersehen, dass Bourdieu bei der Rekonstruktion dieser Auseinandersetzungen die funktionale Ausdifferenzierung der Kunst, ihre Abkopplung von Codes wie gut/böse im moralischen oder

36 37

Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 34). S. 232. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 34). S. 218.

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progressiv/konservativ im politischen Sinn,38 mitverhandelt? Allerdings berücksichtigt er dabei, was die Systemtheorie auszublenden pflegt: Fragen der Macht und der Agonalität. Für die Feldtheorie gibt es weder einen glatten Selbstlauf sich ausdifferenzierender Kommunikationssysteme wie Kunst, Wirtschaft, Politik, noch in sich stabile, endgültige Leitdifferenzen. Stattdessen beobachtet sie einerseits die konkreten Abgrenzungskämpfe der Literatur gegenüber den Zwängen des Marktes, der politischen Parteien, der Religion, des Journalismus, andererseits die feldkonstitutiven internen Auseinandersetzungen, die je nach Problemlage zu historisch instabilen, wechselnden Oppositionen führen. Das polemische Moment prägt also auch das Innere des literarischen Feldes, in dem nicht einfach Kommunikationsangebote gemacht werden, die man annehmen oder verwerfen kann, sondern die Wahl bestimmter Themen, Gattungen, Stile und Erzählweisen einen auf Anerkennung pochenden sozialen Akt darstellt. Fragen der sozialen Rangordnung lösen sich nicht in interesseloses Wohlgefallen auf; sie sind auch in der literarischen Welt präsent, nur werden sie dort anders als in den anderen Gesellschaftsbereichen gestellt, da sich die Anerkennung bei den spezialisierten >Kollegen< tendenziell invers verhält zum Urteil des nichtspezialisierten Massenpublikums mit seiner absatzrelevanten Vorliebe für leicht und schnell verdauliche Kost. Bourdieu unterscheidet sich von Luhmann nicht zuletzt darin, dass er soziale Hierarchien und die Eigenlogik der Kunst synchron denkt. Noch schwerer als der binnensoziologische Reibungspunkt wiegt in der laufenden Debatte um die Feldtheorie das Misstrauen etlicher Literaturwissenschaftler gegenüber einer soziologischen Methode überhaupt. Stierles Schelte ist Symptom: Er glaubt zu erkennen, dass Bourdieu die Education sentimentale nur als Informatorium zum französischen Kunstbetrieb der 1850er Jahre liest, respektive zur Stellung Flauberts im selben; dass er also einen Künstler zum Proto-Soziologen verkleinert, um die Virtuosität, die interne Organisation eines großen Romans übergehen zu können. Eine allenthalben kursierende These," mit der sich ein ehrwürdiges Feindbild restaurieren lässt: Als vornehmste Aufgabe der Literaturwissenschaft scheint es einmal mehr, das inkommensurable Kunstwerk dem Zugriff der Soziologie zu ent-

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Zur Allianz von Literatur und bildender Kunst, Zola und Courbet, gegenüber den Gängelungsversuchen auch der Linken, die noch in der Malerei eine >klare Aussage< erwartete, vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 4). S. 214-223. Zuletzt bei Martin von Koppenfels: Flauberts Hand. Zur Rhetorik der Immunität. In: »Für viele stehen, indem man für sich steht.« Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Hg. von Eckart Goebel u. Eberhard Lämmert. Berlin: Akademie Verlag 2004. S. 83-105. Hier S. 103: »Bourdieu ist daran interessiert, die Entstehung einer Institution namens >künstlerischer Autonomie< aus der gesellschaftlichen Heteronomie eines bestimmten Typus (der Künstler als >Erbe< oder >armer Verwandten des Bourgeois) abzuleiten. Bei dieser soziologischen Reduktion von Autonomieansprüchen dient ihm der Autor der Education sentimentale als Kronzeuge, weil sein Roman eine luzide Gesellschaftsanalyse, eine Analyse nicht zuletzt des sich herausbildenden literarischen Feldes< enthält. In solcher Wertschätzung eines literarischen Werkes schwingt ein gönnerhafter Ton, ein Rest hegelianischer Hybris mit.«

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ziehen, zumal man sich erneut des Angriffs einer >kunstfremden< Disziplin erwehren zu müssen glaubt. Die Reprise eines Affekts, der sich schon in den siebziger Jahren gegen die Sozialgeschichte alten Typs richtete, scheint uns wenig produktiv. Zwar hat Bourdieu den Prolog seiner Regeln der Kunst mit einer unnötigen Stichelei eröffnet {»Die Erziehung des Herzens, dieses tausendmal kommentierte und vermutlich nie wirklich gelesene Werk«), doch sollte man sich von der etwas herablassenden Formulierung nicht verdecken lassen, dass es um seine analytische Praxis anders bestellt ist. Ganz unpolemisch, vielleicht nicht einmal beabsichtigt, führt sie vor, wie analytische Instrumente und Erkenntnisse benachbarter Disziplinen sinnvoll miteinander zu verbinden sind. Die Sozioanalyse der Education sentimentale entnimmt dem Roman zunächst einige Informationen, die er selbst nur beiläufig liefert, die zusammengenommen jedoch eine verborgene Sozialstruktur erkennen lassen und als solche die Handlungen der Protagonisten erzähllogisch motivieren. Bourdieu beschreibt die Verhaltensmuster der Handelnden als Einsatz dessen, was erst eine soziologische Lektüre sichtbar macht: des kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals, das den Akteuren jeweils zur Verfügung steht. Für die Schlüssigkeit der präzisen Laufbahndeutungen spricht, dass noch kein philologischer Kritiker imstande gewesen ist, sie grundlegend zu widerlegen. Doch ist das nicht einmal der springende Punkt. Der ersten Bewegung, der Entschleierung dessen, was der Roman verschleiert, folgt eine komplementäre. Weit entfernt davon, zugunsten der verhandelten sozialen Positionen die literarische Formgebung zu vernachlässigen, kommt Bourdieu genau auf sie zu sprechen, mit Respekt, wenn nicht mit Verehrung: Dem Verdacht, papierene, bloß konstruierte Figuren darzubieten, entgeht ein Gesellschaftsroman wie die Education sentimentale, indem er, anders als die Soziologie es kann, den Leser die Akteure und Milieus »sehen und empfinden läßt«,40 die Fülle sinnlicher Details in Kleidung, Gestik, Mimik und Sprache, die einen Protagonisten von anderen unterscheiden, plastisch evoziert. Zudem ermöglicht es die Romanform dem Autor, sich selbst zu objektivieren, ohne zur Identifikation mit einem der Protagonisten angewiesen oder zur einfachen Offenlegung des eigenen Selbstverständnisses genötigt zu sein.41 Gerade weil Flaubert das geschilderte Milieu der in der >großen Welt< gescheiterten Intellektuellen und Künstler nur zu vertraut ist, versucht er, sich auf Abstand zu ihm zu bringen. Um die subtilen Techniken dieser Distanzierung ausloten zu können, greift die Sozioanalyse ausgiebig auf Erzählanalysen von Roland Barthes bis Gerard Genette zurück, bis hin zur Frage der gewählten Verbzeiten." Passagen wie diese erhellen, dass die Sozioanalyse literarischer Texte im Unterschied zu Diskurs-, System- und Medientheorie induktiv bei der Einzeltextanalyse anzusetzen vermag, ja muss, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden (literari40 41 42

Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 4). S. 66. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 4). S. 55. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 4). S. 65.

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scher Text als distinkter Einsatz des Autors im Feld). Sie ist deshalb mit den Errungenschaften literaturwissenschaftlicher Textanalyse leichter vermittelbar und bedarf ihrer sogar notwendig zur historisch adäquaten Untersuchung. So wie die Philologie von fortgeschrittener Soziologie lernen kann, auf welche konkrete Situation im literarischen Feld ein Autor reagiert, wenn er ein Bild seiner selbst und anderer oder eine bestimmte Vorstellung von Kunst und Welt in Umlauf bringt, ist umgekehrt die Soziologie darauf angewiesen, spezifisch philologische Kompetenzen abzurufen, will sie die konkreten Mittel der Selbstobjektivierung und -inszenierung sowie der spezifischen Weltsicht und Darstellung der Kunstwelt erkennen. Nach der Herausforderung Bourdieus lassen sich formale und thematische Entscheidungen allerdings nicht mehr rein immanent thematisieren; sie sind auf ihren distinktiven Antrieb zu befragen. Womit man nicht nur Abstand zur romantischen Ideologie des Autors als selbstherrlichem Schöpfer gewinnt - die fensterlos-monadischen Vorstellungen desselben hat bereits die Diskursanalyse auf ihre Weise hinter sich gelassen - , sondern genauso zur lange modischen Rede vom >Tod des Autorsregelwidrige< Abweichungen von einer scheinbar allmächtigen Poetik und werden von Stockhorst als Individualisierungssignale gedeutet. Beide Beiträge plädieren dafür, das prozesshafte Moment der Autonomisierung stärker zu betonen als Bourdieu es getan hat, der mit den 1850er Jahren in Frankreich einen bestimmten Punkt auf dem Zeitstrahl privilegiert." Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Regeln der Kunst das Denken in historischen Zäsuren zumindest rhetorisch verstärken (»Die Eroberung der Autonomie«). Während Viala und Stockhorst die Bourdieusche Beschränkung einer tatsächlichen (relativen) Autonomie auf die zweite Hälfte des (französischen) 19. Jahrhunderts zur Diskussion stellen, macht Anne Saada den Gedanken der Heteronomie selbst heuristisch fruchtbar, indem sie zur Analyse nicht eines Produktionsphänomens, sondern der frühen deutschen Rezeption Diderots den von Bourdieu für unspezifische und heteronome soziale Universen gebrauchten Raumbegriff adaptiert: Demnach entfaltete sich die deutsche Diderot-Rezeption um 1750 vor allem in zwei unterschiedlichen Räumen - dem (kirchlich dominierten) der Gelehrsamkeit und dem (höfisch-adelig bestimmten) des Theaters - , während die eher schwachen Indizien für eine explizit literarische Aneignung und ein spezifisches Feld in diesem Zusammenhang historisch weniger relevant erscheinen. Die jeweiligen Räume mit ihrer regelhaften Eigenlogik und distinkten sozialen Praktik verliehen Saada zufolge den rezipierten Texten erst ihren spezifischen Wert. Wieder stärker auf den Aspekt der Autonomisierung konzentriert sich Heribert Tommek: Er stellt heraus, dass in der deutschen literarischen Produktion bereits während der 1770er Jahre deutliche Abgrenzungskonzepte zum höfischen, zum religiösen sowie zum ökonomischen Bereich sichtbar werden, wenn auch von einheitlichen Bestrebungen der bürgerlichen Intelligenz< keine Rede sein kann. BeS1

Er begründet diese Entscheidung mit dem Argument, erst mit einem voll ausgebildeten Markt sei die hinreichende Bedingung für ein >Feld< gegeben, denn erst sie erlaube es Flaubert und anderen, eine >verkehrte Ökonomie< zu etablieren. Tatsächlich versteht Bourdieu das Geschehen im Zweiten Kaiserreich als End- und Verdichtungspunkt einer mit der Renaissance einsetzenden Entwicklung und denkt die Autonomisierung des literarischen Feldes stets skalierend (welche Elemente liegen bereits vor, welche noch nicht?).

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trachtet man die Stellungnahmen von Klopstock, Lenz und Goethe genauer, dann lässt sich eine Differenzierung zweier Pole der Autonomisierung beobachten: Während Klopstock und Lenz ihre dichterische Selbständigkeit besonders markant gegenüber der höfischen Machtsphäre profilieren, behauptet der politisch konziliantere Goethe seinen Anspruch auf künstlerische Autonomie in erster Linie gegenüber den Imperativen der Religion. Auf diese Momentaufnahme folgt ein Längsschnitt von York-Gothart Mix, der zeigt, dass wesentliche Konkurrenzkämpfe unter den deutschen Dichtern zwischen 1760 und 1810 stets auf die Gretchenfrage gravitierten, wie man es mit der kommerziellen Interesselosigkeit zu halten habe. Das Ideal der production restreinte war also zumindest in Deutschland lange vor Mitte des 19. Jahrhunderts präsent. Markus Joch vertritt die These, dass selbst der Bruch mit bürgerlichen wie proletarischen Geschmäckern keine Erfindung Flauberts ist, wie Bourdieu insinuiert. Vorweggenommen hat ihn Heinrich Heine, der der vermeintlich homogenen bürgerlichen Intelligenz< einen lustbetonten Habituswechsel vorschlug und überdies als Intellektueller avant la lettre in Erwägung zu ziehen ist. Zum Schluss vergleicht Joch am Beispiel des Heine-Börne-Streits knapp die analytischen Möglichkeiten von Feld- und Systemtheorie. Auf binnenfranzösische Differenzen hebt Thomas Becker ab, wenn er anders als Bourdieu nicht die Gesellschaftsromane Flauberts, sondern die ungleich abstraktere Lyrik Baudelaires als eindruckvollste Markierung literarischer Autonomie auszeichnet, da sie sich auf eigenwillige Weise sowohl vom Massenmarkt abhebe als auch von dessen vermeintlich homogener Gegenposition, dem l'art pour l'art. Im Rahmen dieser doppelten Abgrenzung behauptet Baudelaire die Position ästhetischer Autonomie als Auflösung gleichermaßen der künstlerischen Subjektivität wie auch der wissenschaftlichen Objektivität und hat mit seiner Konzeption vielstimmiger Autorschaft eine Vorreiterrolle für die literarische Moderne inne. Eine Integration des analytischen Interesses an Fragen der Autorschaft und der Poetologie strebt der Beitrag von Jerome Meizoz an, der eine Ergänzung des feldtheoretischen Instrumentariums unternimmt. Meizoz definiert den von Bourdieu nur beiläufig verwendeten Begriff der >posture< im Anschluss an Alain Viala als »singulare Weise, eine objektive Position innerhalb eines Feldes zu besetzen«. Die Kategorie der posture hat eine nicht-diskursive sowie eine diskursive Dimension und erlaubt es, öffentlichkeitswirksame Inszenierungen und nachträgliche Habitualisierungen von auktorialen Selbstentwürfen zu beschreiben, also die Poetik schriftstellerischen Handelns auf doppelter Ebene zu analysieren. Nicht autoren-, sondern gattungsbezogen argumentiert Werner Michler, der am Beispiel des >modernen Versepos< die Möglichkeiten untersucht, die Bourdieus Ansatz im Bereich der Gattungspoetik bietet. Michler zeigt das Potential der Feldtheorie für die Erneuerung einer sozialhistorisch informierten, aber nicht-reduktiven, nicht-anthropologisch fundierten und nicht-essentialistischen Reflexion über die Gattungen. Der soziologische Blickwinkel ermöglicht es, deren Konjunkturen und Stagnationen sowie ihr völliges Verschwinden nicht mehr geschichtsphilosophisch - als Ausfluss eines essentiellen Zusammenhangs zwischen bestimmten

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Gesellschaftsformationen und bestimmten literarischen Genres - , sondern als Produkt eines unablässig geführten Kampfs zu deuten, dessen Ergebnisse keineswegs irreversibel sind. Neben personalen Konstellationen oder den Laufbahnen einzelner Autoren sind auch einzelne Werke ein zentraler Gegenstand feldtheoretischer Untersuchung, wie Bourdieu am Beispiel der Education sentimentale vorexerziert hat. Die Anregung einer induktiven Sozioanalyse literarischer Texte als Medium schriftstellerischer Selbstobjektivierung wird von zwei Beiträgen aufgenommen. Norbert Christian Wolf widmet sich mit Robert Musils monumentalem Torso Der Mann ohne Eigenschaften einem Roman, der die mimetische Wiedergabe der sozialen Wirklichkeit im Unterschied zum Realismus kategorisch ablehnt. Dennoch präsentiert er sich selbst als reflexive - nicht zuletzt auch soziologische - Durchdringung der modernen Welt und setzt dafür ein Erzählverfahren ins Werk, das die poetologische Vorgabe zu realisieren verspricht. Die Analyse der Gestaltung des Protagonisten mündet in einen Versuch, diese sowie die charakteristische erzählerische Darstellungsweise durch die Rekonstruktion der vielfach distinktiven Position Musils im zeitgenössischen literarischen Feld zu motivieren. Den umgekehrten Weg vom Autor zum Text beschreitet Ulrich Krellner, der die habituelle Problemlage eines aus der DDR weggezogenen, aber im Westen >nie angekommenem Schriftstellers zu ergründen sucht. Uwe Johnsons Schreibsituation ergibt sich aus dem Zusammenspiel des faktischen Publikationsverbots in einem und der nur scheinbar mühelos bewerkstelligten >Eingemeindung< in den anderen Teil Nachkriegsdeutschlands. Aufgrund der Diskrepanzen zwischen den literarischen Produktionsfeldern im Osten und im Westen blieb die >Ankunft< des Johnsonsschen Werks in der Bundesrepublik von Missverständnissen geprägt, so dass sich der Autor schließlich zu einer lebensgeschichtlichen Bilanz herausgefordert sah. Der ebenfalls voluminöse Roman Jahrestage gestaltet diese als indirekte Selbstobjektivierung, indem er eine Protagonistin ins Zentrum stellt, deren Laufbahn von derselben Unvereinbarkeit der darin verbundenen Welten gezeichnet ist wie diejenige Johnsons selbst. Es folgen drei Beiträge, die Fragen des transnationalen Kulturtransfers unter Machtgesichtspunkten nachgehen. Wie es um das Verhältnis zwischen kolonisierenden >großen< und kolonisierten >kleinen< Literaturen bestellt ist, wenn sie nicht den staatlichen, aber den Sprachraum teilen, beleuchtet Michael Einfalt. Er zeigt anhand der Werdegänge von Tahar Ben Jelloun und Rachid Boujedra, zweier Grenzgänger zwischen dem Maghreb und Paris, die extreme Spannung zwischen Peripherie und Zentrum im literarischen Feld Frankreichs - nicht ohne zu unterstreichen, dass die Durchsetzungsstrategien dieser scheinbar so verwandten, weil postkolonialen Autoren sich in puncto Risikobereitschaft deutlich unterscheiden. Auf Fragen der Rezeption fokussiert dagegen Isabelle Kalinowski, die verfolgt, was einem klassischen Vertreter deutscher Höhenkamm-Literatur bei der Aufnahme im Nachbarland widerfahren kann. Dass Hölderlin in Frankreich zunächst fast ausschließlich als >Dichter des Wahnsinns< gelesen wurde, verdankt sich weniger der Qualität seiner Texte selbst. Entscheidend ist vielmehr, welche literarische So-

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zialisation seine Übersetzer durchlaufen haben, über wie viel Macht sie im französischen Kulturbetrieb verfugen, und wie viel Prestige die Verlage genießen, die die Übersetzungen verbreiten. Wie Kalinowski betont, bedeutet die Internationalisierung des literarischen Austausche keineswegs, dass Rezeptionsprozesse aufhören, national bestimmt zu sein. Mit Verlagsgeschichte beschäftigt sich auch Herve Serry. Er erklärt, wie es den renommierten Editions du Seuil gelingen konnte, in die Reihe der >großen< Pariser Häuser aufzusteigen, obwohl die ökonomischen Startbedingungen alles andere günstig waren. Serry beobachtet neben dem Aufbau eines katholischen Netzwerks, dass in der Nachkriegszeit die Aufnahme ausländischer, vor allem deutscher Autoren ins Verlagsprogramm ein geeignetes Mittel war, symbolisches Kapital anzuhäufen. Hieraus ergibt sich übrigens ein reizvolles Desiderat: Wäre es nicht an der Zeit, die Gegenstücke in Deutschland in den Blick zu nehmen, also die Entwicklung eines protestantisch geprägten Hauses wie Bertelsmann oder aber der suhrkamp culture feldtheoretisch nachzuzeichnen? Die bildungs- und wissenschaftssoziologische Potenz des Bourdieuschen Ansatzes erkunden sodann Beiträge, die sich mit Randbereichen des literarischen Feldes und Grenzüberschreitungen in benachbarte Felder beschäftigen: Louis Pinto untersucht den Transfer zwischen dem literarischen und dem philosophischen Feld bzw. die Verschmelzung beider im Frankreich der sechziger Jahre. Gegen die universitäre Philosophiegeschichte etablierten sich dort philosophische Interpreten neuen Typs, die die Freiheit immanenter Deutungen jenseits der eingefahrenen akademischen Traditionen propagierten. Zwischen diesen häretischen Philosophen und den Humanwissenschaften, der Erkenntnistheorie und insbesondere der Literatur ergaben sich strategische Allianzen im Zeichen des Strukturalismus, die vom wissenschaftlichen Prestige der Linguistik zehrten, zur Herausbildung eines Netzes von Vermittlungsinstanzen im intellektuellen Feld führten und theoretisch eine Sakralisierung des Textes betrieben. So konnten sich die Avantgarden unterschiedlichster Bereiche und Disziplinen einander annähern, ihr symbolisches Kapital wechselseitig verstärken und die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst mit großer Resonanz für obsolet erklären - und das mit dem vorteilhaften Effekt, eine Dominanz über das gesamte intellektuelle Feld zu behaupten. Ebenfalls mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellung setzt sich Joseph Jurt auseinander, der für eine vergleichende Sozialgeschichte der akademischen Literaturstudien in Deutschland und Frankreich plädiert, um die nationalen Denkkategorien über den Weg ihrer historischen Anamnese zunächst überhaupt sichtbar werden zu lassen und in der Folge zu relativieren. Erst eine Aufarbeitung der Geschichte der nationalen Bildungseinrichtungen und der jeweiligen intellektuellen Felder ermöglicht es, die Strukturen des kollektiven Unbewussten aufzudecken und dadurch einer Kritik zugänglich zu machen. Am Beispiel der deutschen Romanistik und der französischen etudes littiraires zeigt Jurt, wie sehr Oppositionspaare das kollektive Unbewusste in diesem Bereich prägen und bis in Einzelheiten der universitären Literaturbetrachtung - szientifische L\\er&X\mvissenschaft hier, elegante critique creatrice dort - wirksam sind. Interessant wäre es in diesem Zusam-

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menhang, auch einmal die jeweils national- und die fremdsprachlichen Philologien - und damit die jeweiligen Konstruktionen von Selbst- und Fremdbildern - über die Fachgrenzen hinweg direkt miteinander zu vergleichen (Germanistik und etudes litterairesy Romanistik und itudes allemandes). Ausgehend vom Beispiel Thomas Manns behandelt Michael Kämper-van den Boogaart anschließend den schulischen Umgang mit literarischen Texten. Die Novelle Der Tod in Venedig reflektiert diese Problematik in bezeichnender Weise selbst, befand sich indes aufgrund ihrer Thematik lange Zeit im Bereich jenseits des pädagogisch Zulässigen. Exemplarisch lässt sich daran der retardierende Effekt beobachten, der beim Import literarischer Texte ins pädagogische Feld auch heute noch wirksam ist: Feldexterne Konsekrationen müssen hier erst feldintern (in Form von kommentierenden >LehrerhilfenStaatsschrifltstellersKünstlersBerufsschriftstellersArbeit< [...] und als Einkommensquelle darfstellte], als er das ewige und übertragbare Recht des Autors über sein Werk bestätigte (vorausgesetzt, er überließ es nicht einem Buchhändler)«; 8 auf der anderen Seite das Aufkommen einer Gruppe von Autoren, die mehr schlecht als recht von ihrer Feder lebten - einer Gruppe, die im 19. Jahrhundert noch beträchtlich anwachsen sollte. Der Erlass von 1777 war eine Antwort auf die Forderungen der mächtigen Buchhändler- und Druckergemeinschaft, die ihr Monopol auszubauen strebte; dennoch stellte er eben jenes Monopol in Frage, indem er den Autoren erlaubte, ihre Bücher auf eigene Kosten zu drucken und zu verkaufen, und gleichzeitig den Markt vor ausländischen Nachdrucken schützte. Zwar kam der gnädig verfugte königliche Erlass den Buchhändlern dadurch entgegen, dass er das Druckgewerbe rechtlich absicherte, doch verweigerte er ihnen den Übergang der verlegten Bücher in ihr Rechtseigentum: Dauerhaft zugute kam dieses Privileg dem Autor und seinen Erben (abgesehen vom Fall einer Abtretung der Rechte an Dritte), während die Buchhändler davon nur zu Lebzeiten des Autors profitieren. Die Revolution wird das Prinzip des geistigen Eigentums zugleich bestätigen und es auf die Frist von zehn Jahren nach dem Tod des Autors einschränken (loi Lakanal von 1793); es handelt sich um einen Kompromiss zwischen der Konzeption des Eigentums als natürlichem Recht und der Vorstellung vom >Gemeingutindustrielle Literatur< genannt hat, also eine nach feststehenden Rezepten standardisierte Literatur, gegenüber der er selbst seine Einzigartigkeit herausstellte. Diesen industriellen Produkten, die gänzlich von der Nachfrage bestimmt und deren Charakteristika auf die sozialen '

Vgl. Carla Hesse: Enlightenment Epistemology and the Laws of Autorship in Revolutionary France, 1777-1793. In: Representations 30, spring 1990. S. 109-137; Roger Chartier: L'Ordre des livres. Lecteurs, auteurs, bibliotheques en Europe entre le XlVe et XVIIIe siecle. Aix-en-provence: Alinea 1992. Kap. 2. Bourdieu: Le marche des biens symboliques (Anm. 3). S. 53f. " Chartier: L'Ordre des livres (Anm. 9). S. 57f. 12 Vgl. Paul Benichou: Le Sacre de l'ecrivain 1750-1830. Essai sur l'avenement d'un pouvoir spirituel lai'que dans la France moderne. Paris: Jose Corti 1973; Neuauflage Paris: Gallimard 1996.

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Eigenschaften ihres Publikums zurückzuführen sind, setzen die >eigentlichen< Autoren Werke entgegen, die, vom Habitus des Schöpfers gezeichnet, ihre Differenz und Originalität behaupten. Auf diese Weise konstituiert sich gegen den Pol der großen Produktion, der von der wirtschaftlichen Logik des kurzfristigen Profits (den Verkaufszahlen) geleitet wird, und gegen die Figur des käuflichen Schriftstellers< ein Pol eingeschränkter Produktion, der die Nichtreduzierbarkeit des ästhetischen Werts eines künstlerischen Produkts auf seinen ökonomischen Wert sowie den Vorrang des spezialisierten Urteils (von Kollegen oder professionellen Kritikern) gegenüber den Sanktionen eines Laienpublikums verficht.11 Indem die Literatur an ihrem autonomsten Pol die Sichtweise und das Urteil Gleichgesinnter privilegiert, befreit sie sich von der Sanktion durch die Leserschaft. Ihre Umkehrung der wirtschaftlichen Logik und ihre allgemeinere Affirmation einer Autonomie des ästhetischen Urteils gegenüber ökonomischen, politischen und moralischen Erwartungen bewirken ein neues Strukturprinzip des literarischen Raums, das Autonomie und Heteronomie zueinander in Opposition bringt. Das Zusammenspiel der genannten Faktoren markiert die Entstehung eines relativ autonomen literarischen Feldes. Damit einher geht das neue Modell des von allen sozialen Zwängen jenseits genuin künstlerischer Erfordernisse befreiten Künstlers. Die zunächst von Theophile Gautier umrissene und dann von Autoren des Zweiten Kaiserreichs weiterentwickelte Theorie des l'art pour l'art illustriert auf das Genaueste die Ablehnung jeglicher Unterordnung des ästhetischen Urteils unter eine außerliterarische Logik, ganz gleich, ob es sich um das Gesetz des Marktes oder um ein moralisches oder politisches Urteil handelt - und das zu einer Zeit, als die moralische oder politische Zensur noch in Kraft ist, wie 1857 die Prozesse gegen Baudelaire und Flaubert bezeugen. Insofern erweisen sich die Argumente des l'art pour l'art unter anderem als eine Verteidigungsstrategie von Schriftstellern, die im Augenblick der Ausdifferenzierung des literarischen und des religiösen Feldes wegen einer Verletzung der Religion und der guten Sitten verfolgt wurden.'4 Im Zweiten Kaiserreich führen die herrschenden rigiden Moralvorstellungen und vor allem die Anschuldigungen, der sich die Vertreter des / 'art pour I 'art ausgesetzt sehen, zu einer inneren Homogenisierung der Gruppe sowie zu einer Konsolidierung ihres Konzepts von >reiner Kunst< {art pur).'5 Baudelaire widmet sein Buch Flaubert, der sich mit den Worten 13

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Vgl. Pierre Bourdieu: Le marche des biens symboliques (Anm. 3); Bourdieu: The field of cultural production, or: the economic world reversed. In: Poetics 12/4—5, 1983. S. 311— 356; Bourdieu: Le champ litteraire. In: Actes de la recherche en sociales 89, 1991. S. 4— 46; dt. Das literarische Feld. In: Streifzüge durch das literarische Feld. Hg. von Louis Pinto u. Franz Schultheis, (edition discours 4) Konstanz: UVK 1997. S. 33-147. Annie Prassoloff: Litterature en proces. La propriete litteraire en France sous la Monarchie de Juillet. Doktorarbeit. Paris: EHESS 1989. Zum Verhältnis zwischen literarischem und religiösem Feld vgl. Herve Serry: Litterature et religion catholique (1880-1914). Contribution ä une socio-histoire de la croyance. In: Cahiers d'histoire 87, 2002. S. 37-60. Vgl. Albert Cassagne: La Theorie de l'art pour l'art en France chez les derniers romantiques et les premiers realistes. Paris: Hachette 1906; Neuausgabe: Champ Vallon 1997.

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Gisele Sapiro

bedankt: »was mir vor allem in Ihrem Buch gefallt, ist, daß darin die Kunst den Vorrang hat.«" Baudelaire seinerseits verfasst einen Artikel über die Madame Bovary. Später wird er in einem Brief an Flaubert schreiben: »Wieso haben Sie nicht erraten, daß Baudelaire soviel heißen sollte wie: Auguste Barbier, Th. Gautier, Banville, Flaubert, Leconte de Lisle, nämlich: reine Literaturl«" Und einer der Brüder Goncourt wird in seinem Tagebuch notieren: »Es ist wirklich eigenartig, dass die vier Männer, die sich der Kunst am kompromisslosesten gewidmet haben, in den Stuben der Ordnungspolizei gedeutet worden sind: Baudelaire, Flaubert und wir!«" Gegen die Grundsätze der vom Anklagevertreter verkörperten öffentlichen Moral richten sich die Prinzipien des l'art pour l'art auf drei Stufen, wie an der juristischen Auseinandersetzung deutlich wird: Auf einer ersten Ebene wirft die Staatsanwaltschaft Flaubert das Fehlen eines urteilenden Erzählers vor, der Emma Bovary missbilligen könnte. Nun ist es freilich gerade dieses von einem höheren und absoluten Standpunkt oder von einer intradiegetischen, aber privilegierten Perspektive geäußerte moralische Urteil, das die Vertreter des l'art pour l'art im Namen eines dem wissenschaftlichen Diskurs entnommenen Prinzips ablehnen: Gegen die Forderungen der Moral stützen sie sich auf die Grundsätze der Wahrheit und Aufrichtigkeit, die das Werk zu befolgen habe. »Aus der Kunst die Darstellung des Bösen zu verbannen, bedeutet die Kunst selbst zu negieren«, meint Gautier." Wahrheit steht also gegen Moral, und eine Moral, welche die Wahrheit verschleiert, ist nur gesellschaftliche Hypokrisie. 20 Mehr noch: Die Wahrheit kann gar nicht unmoralisch sein. Das führt zu einer ersten Umwertung. In Flauberts Worten:

" Brief Flauberts an Baudelaire, 13.7.1857. In: Flaubert: Correspondance. Bd. 2 (juillet 1851-decembre 1858). Hg. von Jean Bruneau. (Bibliotheque de la Pleiade) Paris: Gallimard 1980. S. 745: »ce qui me plait avant tout dans votre livre, c'est que l'art y predomine.« Dt.: Gustave Flaubert: Briefe. Hg. und übersetzt von Helmut Scheffel. Zürich: Diogenes 1977. S. 389. Brief Baudelaires an Flaubert, 31.1.1862. In: Baudelaire: Correspondance. Bd. 2 (mars 1860-mars 1866). Hg. von Claude Pichois [...]. (Bibliotheque de la Pleiade) Paris: Gallimard 1973. S. 225. »Comment vous n'avez pas devine que Baudelaire, 9a voulait dire: Auguste Barbier, Th. Gautier, Banville, Flaubert, Leconte de Lisle, c'est-ä-dire litterature pure?« Dt.: Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe. Hg. von Friedhelm Kemp u. Claude Pichois [...]. München/Wien: Hanser 1975-1992. Bd. 7: Richard Wagner / Meine Zeitgenossen / Armes Belgien. S. 62. " Edmond de Goncourt: Tagebucheintrag von 1860. Zit. nach Cassagne: La Theorie de l'art pour l'art (Anm. 15). S. 125: »II est vraiment curieux que ce soient les quatre hommes les plus entierement voues ä l'art, qui aient ete traduits sur les bancs de la police correctionnelle: Baudelaire, Flaubert, et nous!« " Nach der Erinnerung in Ernest Feydeau: Theophile Gautier. Souvenirs intimes. Paris: Plön 1874. S. 99. Zit. in Cassagne: La Theorie de l'art pour l'art (Anm. 15). S. 227. Gautier entwickelt diese Argumentation in: Preface zu: Mademoiselle de Maupin. Paris: Garnier/Flammarion 1966. S. 25 u. 34. Sie findet sich u.a. auch bei Flaubert wieder: Brief an Louise Pradier, 7.2.1857. In: Flaubert: Correspondance. Bd. 2 (Anm. 16). S. 679: »Quelle force que l'hypocrisie sociale!«

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Wenn der Leser einem Buche nicht die Moral entnimmt, die darin sein soll, so ist der Leser ein Dummkopf, oder das Buch ist vom Gesichtspunkt der Genauigkeit her falsch. Denn in dem Augenblick, da eine Sache wahr ist, ist sie auch gut. Die obszönen Bücher sind sogar deshalb unmoralisch, weil es ihnen an Wahrheit fehlt. Auf solche Weise geht es im Leben nicht zu.21 Auf einer zweiten Ebene antworten die Theoretiker des l'art pour l'art auf die Frage nach der Beziehung zwischen der Moralität des Werks und der Moralität des Künstlers, welche die juristische Implikation einer schädigenden Intention einschließt. Nach dem Vorbild des Wissenschaftlers legen sie die Tugenden Aufrichtigkeit und Gewissenhaftigkeit in der Kunstausübung dem Berufsethos und mithin der künstlerischen Ethik zugrunde. Wie die Kommentatoren bemerkt haben,22 greift der Staatsanwalt Pinard die Literatur selbst an, wenn er nicht allein die Abwesenheit eines Urteils, sondern auch den Realismus, den expressiven Stil und die lasziven Bilder der Madame Bovary denunziert, ja wenn er sogar zu verstehen gibt, das Talent des Autors würde den suggestiven und somit schädlichen Charakter seines Werks noch steigern. Ich weise hier auf zwei Dinge hin, meine Herren: eine bewundernswerte Zeichnung hinsichtlich des Talents, aber eine abscheuliche Zeichnung in moralischer Hinsicht. Tatsächlich weiß Herr Flaubert seine Zeichnungen mit allen Mitteln der Kunst zu verschönern, allerdings ohne die Behutsamkeit der Kunst. Bei ihm fehlt jeder Schleier, jeder Vorhang, es ist die Natur in all ihrer Nacktheit, in all ihrer Rohheit!23 In der Folge erklärt er mit Blick auf das Werk in moralischer Hinsicht, »ein moralischer Schluss« könne die »lasziven Details« in ihm nicht wiedergutmachen sonst könne man ja »von allen unvorstellbaren Orgien erzählen, die ganze Verdor-

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Flaubert an George Sand, 6.2.1876. In: CEuvres completes de Gustave Flaubert. Hg. von der Societe des Etudes litteraires franfaises. Paris: Club de l'Honnete homme 1975. Bd. 15. S. 435: »Si le lecteur ne tire pas d'un livre la moralite qui doit s'y trouver, c'est que le lecteur est un imbecile ou que le livre est faux au point de vue de l'exactitude. Car du moment qu'une chose est vraie, eile est bonne. Les livres obscenes ne sont meme immoraux que parce qu'ils manquent de verite. Qa ne se passe pas comme 9a dans la vie.« Dt.: Flaubert: Briefe (Anm. 16). S. 648. Vgl. Yvan Leclerc: Crimes ecrits. La litterature en proces au 19e siecle. Paris: Plön 1991; Patrick Nee: 1857: le double proces de Madame Bovary et des Fleurs du mal. In: La Censure en France ä l'ere democratique (1848-...). Hg. von Pascal Ory. Bruxelles: Complexe 1997. S. 82. Proces intente ä Flaubert devant le Tribunal correctionnel de Paris (6e chambre). Audiences des 31 janvier et 7 fevrier 1857. Requisitoire du procureur Ernest Pinard. In: Gustave Flaubert: (Euvres. Bd. I. (Bibliotheque de la Pleiade) Paris: Gallimard 1998 [1967]. S. 627. »Je signale ici deux choses, messieurs, une peinture admirable sous le rapport du talent, mais une peinture execrable au point de vue de la morale. Oui, M. Flaubert sait embellir ses peintures avec toutes les ressources de Γ art, mais sans les menagements de l'art. Chez lui point de gaze, point de voiles, c'est la nature dans toute sa nudite, dans toute sa erudite!«

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Gisele Sapiro

benheit einer Dirne beschreiben«.24 Für die Vertreter des Γart pour I'art gerät die Verteidigung des in sich selbst ruhenden Schönen nun aber gemeinsam mit der Wahrheit zur Garantie des Guten. Mehr noch: In einer weiteren, der dritten Umwertung wird sogar die Moral suspekt. Das Nützliche erscheint als das Gegenteil des Schönen." Gautier schreibt im Vorwort zur Mademoiselle de Maupin (1834): »Nur das ist wirklich schön, was zu nichts dient; alles, was nützlich ist, ist hässlich, denn es ist der Ausdruck einer gewissen Notdurft, und die des Menschen ist widerwärtig.«26 Gegen die bourgeoise und die sozialistische Moral, die in seinen Augen die Kunst zu einer »Frage der Propaganda« reduzieren,27 behauptet Baudelaire mit Blick auf sich selbst: »wenn der Dichter sich einen moralischen Zweck vorgesetzt hat, so hat er seine poetische Kraft geschwächt; und man darf getrost eine Wette darauf eingehen, daß sein Werk unzulänglich sein wird.«2' Diese Vorstellung wird am autonomen Pol des literarischen Feldes zum Glaubensbekenntnis werden, und noch Andre Gide wird sie nach dem Ersten Weltkrieg mit einem berühmt gewordenen Satz unterstreichen: »Mit guten Gefühlen macht man schlechte Literatur«.2'

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Proces intente ä Flaubert (Anm. 23). S. 631. »Je dis, messieurs, que des details lascifs ne peuvent etre couverts par une conclusion morale, sinon on pourrait raconter toutes les orgies imaginables, decrire toutes les turpitudes d'une femme publique«. Vgl. Cassagne: La Theorie de Part pour l'art (Anm. 15). S. 218. Theophile Gautier: Preface. In: Mademoiselle de Maupin (Anm. 20). S. 45. »II n'y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir ä rien; tout ce qui est utile est laid, car c'est l'expression de quelque besoin, et ceux de l'homme sont ignobles.« Charles Baudelaire: Les drames et les romans honnetes (1851). In: Baudelaire: (Euvres completes. Bd. II. Hg. von Claude Pichois. (Bibliotheque de la Pleiade) Paris: Gallimard 1976. S. 38—43. Hier S. 41. Anm. d. Übersetzers: Da dieser Text in der deutschen Gesamtausgabe (Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe [Anm. 17]) nicht zu finden ist, habe ich das Zitat »une question de propagande« selbst übersetzt. Charles Baudelaire: Theophile Gautier (1859). In: Baudelaire: (Euvres completes. Bd. II. (Anm. 27). S. 103-128. Hier S. 113. »Je dis que si le poete a poursuivi un but moral, il a diminue sa force poetique; et il n'est pas imprudent de parier que son oeuvre sera mauvaise.« Dt.: Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe (Anm. 17). Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860. S. 83-112. Hier S. 94. Andre Gide: Journal. Bd. I. (Bibliotheque de la Pleiade) Paris: Gallimard 1996. S. 1151. »C'est avec les beaux sentiments qu'on fait la mauvaise litterature«. Gide trug diesen sprichwörtlich gewordenen Satz am 26. Dezember 1921 in sein Tagebuch ein - zu einer Zeit, als ihn die katholische Kritik des Verstoßes gegen die guten Sitten beschuldigte. 1922 nimmt er ihn in der fünften Vorlesung über Dostojewski im Theatre du VieuxColombier wieder auf; vgl. Andre Gide: Dostoievsky. Paris: Plön 1925. S. 163. Am 2. September 1940 zitiert er ihn dann wiederum im Tagebuch als Antwort auf den Vorwurf, die Literatur der Zwischenkriegszeit trage eine Mitschuld an der Niederlage Frankreichs; vgl. Andre Gide: Journal 1939-1941. Paris: Gallimard 1946. S. 83. Zu den Hintergründen vgl. Gisele Sapiro: La Guerre des ecrivains (1940-1953). Paris: Fayard 1999. Kap. 2.

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Autonomisierung

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Die Figur des Intellektuellen An ihr Extrem getrieben, drohte die Logik der Autonomie freilich die Literatur auf ein kleines Publikum einzuschränken und sie in einen >Elfenbeinturm< zu sperren, indem sie sie ihrer sozialen Rolle beraubte, mithin ihres Anspruchs auf Universalität. Darüber hinaus treiben der Prozess der Differenzierung intellektueller Aktivitäten sowie die Konkurrenz zwischen den Berufen in unterschiedlichen Kompetenzbereichen, die sich mit der beispiellosen Ausbreitung intellektueller Fraktionen am Ende des 19. Jahrhunderts10 beschleunigte, die Autonomisierung des literarischen Feldes voran. Die Professionalisierung dreier Expertengruppen - der Wissenschaftler (vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften), der Journalisten und der Politiker - beraubt die Schriftsteller mancher ihrer Domänen der Intervention (moralische und soziale Fragen, Journalismus und Politik), zumal diese neuen Berufsgruppen sich von der literarischen Kultur dadurch unterscheiden, dass sie ein objektivistisches Paradigma einfuhren: Information unter den Journalisten, administrative Rationalisierung unter den Politikern und Wissenschaft unter den Universitätsangehörigen. Zweifelsohne erklärt dieser Kontext, weshalb der Prophetismus die von Schriftstellern bevorzugte Form des Eintretens für universelle Werte war.3' Indem er der Legalität oder der Tradition das Charisma als Grundlage der Legitimität entgegenstellt, der Ausbildung die Inspiration, der amtlich beglaubigten Kompetenz die Berufung, der Expertise die emotionale Predigt, dem Gewöhnlichen das Außergewöhnliche, der Orthodoxie die Häresie, der Auswechselbarkeit von Personen, welche die bürokratische Funktionsweise von Institutionen charakterisiert (Kirche oder Schule), personalisierte Beziehungen innerhalb einer >Sektevorschreibenden< Kritikern und Lehrern - sehr schnell als inhärente Notwendigkeit eines in ständiger Überproduktion befindlichen Markts. Der Erfolg, den die Literaturpreise hatten, und der wirtschaftliche Nutzen, den die Verleger daraus zu ziehen wussten, zeugt von dieser Logik. Wie Bourdieu gezeigt hat, polarisierte sich der Buchmarkt zwischen der Logik kurzfristiger Rentabilität, die auf schnelle Verkäufe und ephemere Erfolge setzt, und der risikoreicheren Logik der langfristigen Investition, die auf die Zusammenstellung eines Programms von (dank ihrer >Kanonisierung< insbesondere durch das Schulsystem) Klassikerverdächtigem Werken zielt." Der unschätzbare ökonomische Wert des Programms

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Vgl. Christophe Charle: La Crise litteraire ä l'epoque du naturalisme. Roman. Theatre. Politique. Paris: PENS 1979. Vgl. Anna Boschetti: Legitimite litteraire et strategies editoriales. In: Histoire de Γ edition franfaise. Hg. von Roger Chartier und Henri-Jean Martin. Bd. 4: Le Livre concurrence 1900-1950. Paris: Fayard/Promodis 1991. S. 511-550. Doch selbst wenn die Zeitschriften für die Verlagshäuser, die sie begründet haben, die Rolle eines >Schaufensters< und einer Konsekrationsinstanz behalten, hat die Verbindung mit einem kommerziellen Unternehmen notwendig ihren Preis; wie die Geschichte der NRF bezeugt, muss ein Kompromiss zwischen den rein ästhetischen Erfordernissen und den Interessen des Verlagshauses gefunden werden. Pierre Bourdieu: La production de la croyance. In: Actes de la recherche en sciences sociales 13, Februar 1977. S. 3-45.

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von Gallimard, das heutzutage von den großen Verlagsgruppen mit begehrlichen Blicken betrachtet wird, 5 ' illustriert gut, wie akkumuliertes symbolisches Kapital langfristig gemäß der Eigenlogik der Ökonomie symbolischer Güter (Seltenheitswert, Prestige des Eigennamens von Autor und Unternehmen) in ökonomisches Kapital konvertiert werden kann.60 Dieser Eigenwert wurde nicht allein vom Markt anerkannt, sondern auch vom Staat, was sich seit den sechziger Jahren in einer Politik niederschlägt, die darauf gerichtet ist, die ökonomisch risikoreichsten kulturellen Unternehmungen durch finanzielle Hilfen während der Entstehung und der Veröffentlichung zu unterstützen." Die bleibende Abhängigkeit vom Markt oder vom Staat zeigt die Zerbrechlichkeit der mühsam erlangten Autonomie, deren Herausbildung weder linear noch irreversibel verlief.62 A m Ende dieses kursorischen Abrisses bleibt festzuhalten, dass jede Etappe der Autonomisierung eine neue Form von Abhängigkeit mit sich bringt: Der Staat befreit die Literatur von Dienstverhältnissen, delegiert die literarische Macht an Spezialisten, unterwirft sie aber zugleich dem König. Der Markt befreit die Literatur vom Staat, bringt sie aber in eine Abhängigkeit von den Sanktionen der Öffentlichkeit. Die Forderung der schriftstellerischen Verantwortung gegenüber den Mächten der Politik birgt die Gefahr politischer Vereinnahmung. Die Professionalisierung der Schriftsteller fuhrt ihrerseits zu einer wachsenden Abhängigkeit von verlegerischen Zwängen und neuen Marketingverfahren. Diese Entwicklungen lassen sich anhand der idealtypischen Institutionen und Autorfiguren veranschaulichen, die einander im Lauf der Geschichte abgelöst haben. A u f die Akademie folgte die literarische Gesellschaft, darauf die Zeitschrift, sodann ethisch-politisch motivierte Gruppierungen, während heute schriftstellerische Berufsvereinigungen die Gesellschaft der Literaten dominieren. A u f den Staatsschriftsteller folgte für lange Zeit die Konkurrenz dreier Modelle: das des >Unternehmers< ä la Balzac, der aufgrund des Fehlens eines festgefugten Berufsbildes Gefahr läuft, zum Lohnarbeiter abzusinken; das des >FreiberuflersBerufungHaltbarkeit< und Anerkennung der Werke. Zudem hat dieser Ansatz den Vorteil, nicht >Schulen< und >Strömungen< zu konstruieren, die sich meist nicht so deutlich voneinander abheben, wie die Literaturgeschichtsschreibung es sich wünscht. Oft richtet sie ihr Augenmerk auch auf Richtungen, die zu ihrer Zeit keinen Anklang beim großen Publikum fanden. Daher liegt es auf der Hand, dass Bourdieus Ansatz sich für eine wirklich historisierende Literaturgeschichtsschreibung eignet - wie auch fiir deren Selbst-Historisierung. Skepsis ist dagegen geboten, wenn es im zitierten Text unmittelbar danach heißt, die umgekehrte Hierarchie der Gattungen stehe im Gegensatz zu dem, »was sich im 17. Jahrhundert beobachten läßt, wo beide Rangfolgen einander fast entsprachen, dergestalt, daß die anerkanntesten literarisch Gebildeten, insbesondere die Dichter und die Gelehrten, auch die höchsten Ehrengehälter und Vergünstigungen erhielten.«1 Dieser Satz erstaunt, weil er zunächst die Rede von der »Rangfolge der Gattungen« und (in Klammern) der »Autoren« aufnimmt - das sind immerhin zwei verschiedene Ebenen! - und sie daraufhin mit einer Hierarchie gleichsetzt, der es um »die anerkanntesten literarisch Gebildeten« geht. Die Argumentation gelangt also vom Kriterium des »kommerziellen Erfolg[s]« zu dem der

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Bourdieu: Les regies de l'art (Anm. Bourdieu: Les regies de l'art (Anm. 6 Bourdieu: Les regies de l'art (Anm. 7 Bourdieu: Les regies de l'art (Anm. " Bourdieu: Les regies de l'art (Anm. s

1). S. 1). S. 1). S. 1). S. 1). S.

121; Die Regeln der Kunst (Anm. 1). S. 134. 94; Die Regeln der Kunst (Anm. 1). S. 104. 163; Die Regeln der Kunst (Anm. 1). S. 184. 165f.; Die Regeln der Kunst (Anm. 1). S. 187. 166; Die Regeln der Kunst (Anm. 1). S. 187f.

Bourdieu, wiedergelesen

mit den Augen Boileaus

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»Ehrengehälter und Vergünstigungen« - eine nicht eben überzeugende Verbindung. Offenbar liegt hier schon auf der sprachlichen Ebene ein kategoriales Problem vor. Seine Ursache scheint in der folgenden Behauptung zu liegen: »Erst Ende des 19. Jahrhunderts sind die konstitutiven Merkmale eines autonomen Feldes zu einem System gefugt«.' Auch ihr kann man zunächst zustimmen. Zweifelhaft und problematisch dagegen erscheint eine restriktive Interpretation, die darauf besteht, man könne vor dem 19. Jahrhundert überhaupt nicht von einem literarischen Feld sprechen. Die historischen Fakten — Gisele Sapiro hat sie zusammengefasst'0 — und ohne Zweifel auch der Zugriff Bourdieus selbst sind wesentlich komplexer; an anderen Stellen finden sich dann auch weitere Differenzierungen. Daher soll im Folgenden ein Blick auf das 17. Jahrhundert geworfen werden, und das auf der Basis eines Textes von Boileau.

II. Insbesondere der 4. Gesang aus Boileaus L 'Art poetique {Die Dichtkunst) eignet sich zu einer Parallellektüre mit Bourdieu, da hier der Status des Autors, des Marktes und der »Ehrengehälter und Vergünstigungen« wie auch deren Einfluss auf die literarische Produktion verhandelt werden. Die Dichtkunst wird zwar häufig zitiert, aber selten genau gelesen. Daher sei folgende Passage näher betrachtet: Travaillez pour la gloire, et qu'un sordide gain Ne soit jamais l'objet d'un illustre Ecrivain. Je S9ai qu'un noble Esprit peut, sans honte et sans crime, Tirer de son travail un tribut legitime: Mais je ne puis souffrir ces Auteurs renommez, Qui degoutez de gloire, et d'argent affammez, Mettent leur Apollon aux gages d'un Libraire, En font d'un Art divin un metier mercenaire.

Mais enfin l'Indigence amenant la Bassesse, Le Parnasse oublia sa premiere noblesse. Un vil amour du gain infectant les esprits, De mensonges grossiers soüilla tous les ecrits, Et par tout enfantant mille ouvrages frivoles, Trafiqua du discours, et vendit les paroles.

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Bourdieu: Les regies de l'art (Anm. 1). S. 166, Anm. 1; Die Regeln der Kunst (Anm. 1). S. 188, Anm. 1. Bourdieu nimmt hier Bezug auf mein Buch: Naissance de l'ecrivain. Paris: Minuit 1985, zitiert mich allerdings falsch: Zum einen handelte ich von anderen Gattungshierarchien im 17. Jahrhundert als den hier genannten, zum anderen erinnere ich mich nicht, gesagt zu haben, dass diese damals von den peer groups und den Instanzen des Marktes gleich beurteilt wurden. Ich bin mir sogar sicher, das genaue Gegenteil gesagt zu haben! Vgl. den Beitrag im vorliegenden Band.

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48 Ne vous fletrissez point par un vice si bas Si l'or seul a pour vous d'invincible appas, Fuiez ces lieux charmans qu'arrose le Permesse. Ce n'est point sur ses bords qu'habite la Richesse. Aux plus savans Auteurs, comme aux plus grand Guerriers Apollon ne promet qu'un nom et des lauriers. Mais, quoy? dans la disette une Muse affammee Ne peut pas, dira-t-on, subsister de fumee. [...] II est vrai: mais enfin cette affreuse disgrace Rarement parmi nous afflige le Parnasse. Et que craindre en un siecle, oü toüjours les beaux Arts D'un Astre favorable eprouvent les regards, Oü d'un Prince eclaire la sage prevoyance Fait par tout au Merite ignorer Γ indigence? Muses, dictez sa gloire ä tous vos Nourissons. Son nom vaut mieux pour eux que toutes vos legons.

Schon eine oberflächliche Lektüre zeigt, dass die >hässliche Gewinnsucht und der Buchmarkt eindringlich und geradezu grob angegriffen werden. Der Autor sei dem Buchhändler ausgeliefert, die Kunst zum >feilen Gewerbe< herabgesunken. Der

" Nicolas Boileau-Despreaux: L'Art poetique. In: Boileau: (Euvres completes. (Bibliotheque de la Pleiade) Paris: Gallimard 1966. S. 183f.; dt.: Boileau: Die Dichtkunst. Halle a.d. Saale: Niemeyer 1986. »So arbeitet nur fur den Ruhm. Denn nie soll schnöder Gewinn / das Ziel eines edlen Dichters bei seinem Schaffen sein. / Ich weiß, daß ein hoher Geist einen angemessenen Lohn / ohne Schande, mit gutem Recht, fur die Arbeit verlangen kann. / Ich kann sie nun einmal nicht leiden, jene hochberühmten Autoren, / die, ganz mit Ruhm übersättigt, aber stets nach Geld begierig, / gegen Lohn ihren Schutzgott Apoll einem Buchhändler schmählich verdingen / und ihre göttliche Kunst in ein feiles Gewerbe verwandeln.« (S. 73) »Doch schließlich, als die Not gemeine Gesinnung erzeugte, / vergaß auch der hohe Parnaß seiner ersten Tage Adel. / Eine häßliche Sucht nach Gewinn verseuchte alle Geister / und beschmutzte mit groben Lügen nun alle geschriebenen Werke / und führte im ganzen Lande zu tausend leichtfert'gen Schriften, / verschachert' die Gabe der Rede, verkauft' die Gewalt der Worte. / Entehrt Euch nicht durch eine so nied're, gemeine Gesinnung. / Hat unwiderstehlichen Reiz das Gold allein nur für Euch, / dann flieht die reizenden Fluren, durch die der Permessus fließt. / Denn an seinen lieblichen Ufern ist nicht der Reichtum zu Hause. / Es verheißt den gelehrten Autoren genau wie den größten Kriegern / Apollo nur einen Namen und schlichte Lorbeerkränze. / Jedoch, so wird man entgegnen, vom blauen Dunst allein / kann auch die Muse nicht leben, wenn sie bald aus Armut verhungert.« (S. 75) »Das ist richtig. Doch schließlich trifft in seltenen Fällen nur / solch' fürchterlich' Mißgeschick bei uns einen Sohn der Musen. / Was soll man in einer Zeit, wo den schönen Künsten stets / ein huldvoller Stern erstrahlt, wohl Übles zu furchten haben, / wo ein aufgeklärter Fürst mit weiser Fürsorge waltet, / dem Verdienst allenthalben die Armut, das Notleiden huldreich fernhält? / Drum, Musen, laßt seinen Ruhm durch Eure Jünger verkünden. / Für sie hat noch höheren Wert sein Name als all Eure Lehren.« (S. 75-77)

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Markt bewirke sogar eine >Verseuchung der Geisten. Selbst Flaubert und die Vertreter des l'art pour l'art sind hier nicht weiter gegangen. Für Boileau führt der Reiz des Geldes zur Lüge, zu einer spitzfindigen Literatur, die >die Gabe der Rede verschachertverkehrten Ökonomiec Ruhm gewinnt man mit Geduld, denn >Apollo verspricht nur einen Namen und schlichte Lorbeerkränzedas fürchterliche Missgeschick der Armut nur in seltenen Fällen einen >Sohn der Musenundin diesem Fall< - d.h. dem der Armut eines Schriftstellers - verstehen lässt. Semantisch und syntaktisch ist Boileaus Text überaus deutlich: Die meisten Schriftsteller leiden keine Not, weil sie persönliche Einkünfte haben. Mit anderen Worten: Viele von ihnen sind rentiers. In diesem Kontext erhalten die Begriffe >Adelhoher GeistAdligen< gereichte es zur >Schandefeiles Gewerbe< zu betreiben, sich seines Standes als unwürdig zu erweisen. Dies hätte den sofortigen Statusverlust bedeutet. So erhielten etwa innerhalb des Schwertadels diejenigen, die den Dienst an der Waffe ausübten, keinen Sold, sondern Hilfsgelder, mit denen sie ihre Leute bezahlten. Sie selbst behielten allenfalls den Rest; oft genug aber blieben sie auf ihr eigenes Vermögen angewiesen. Auch der Amtsadel erhielt kein Gehalt fur die Arbeit im Justiz· und Finanzwesen. Hier wurde die >Paulette< praktiziert, ein System, das ihnen - in Abhängigkeit von einer beträchtlichen Einmalzahlung bei Amtsantritt - eine Rente sicherte. In beiden Fällen übten die Betroffenen also einen Beruf aus, erzielten aber kein unmittelbares Einkommen; eben dies war der »angemessene LohnArbeit< und >Verdiensten< verdankten. >Verdienst< (merite) aber meint im klassischen Französisch und insbesondere nach Furetiere'2 nicht nur »die sorgfaltige Ausführung von Pflichten«, sondern auch die Tatsache, dass »verschiedene Tugenden oder gute Eigenschaften in einer Person versammelt sind und ihr so Anerkennung verschaffen«. Man sagte etwa: »Dieser Beamte hat Verdienste, er ist 12

Antoine Furetiere: Art. >meriteMerite< bezeichnet also einen hohen Grad an öffentlicher Beachtung. Vor diesem Hintergrund tritt bei Boileau ein klares Bild zutage: Ein Schriftsteller, zumeist ein rentier, darf nicht mit der Feder seinen Lebensunterhalt verdienen. Da er jedoch seine Verdienste durch die Publikation seiner Werke öffentlich gemacht hat, steht ihm dafür eine Anerkennung zu. Diese kann auf den Buchmarkt oder auf das Mäzenat zurückgehen; sie ist aber auf keinen Fall ein Ziel, vielmehr ein Mittel, um den verdienten Mann auf >legitime< Weise zu weiteren Werken zu ermutigen. All dies steht im Zeichen der >WahrheitWahrheit< der Kunst. Die vornehme Distanz, die Bourdieu erst Baudelaire und Flaubert zuschreibt, begegnet als Haltung demnach schon im Zeitalter der französischen >Klassik< und zeugt von der >langen Dauer< der Herausbildung des Feldes.

III. Wenn also die Grundstrukturen des Feldes (Buchmarkt, Konsekration durch eine symbolische Ökonomie der Anerkennung, interne Regulierungsinstanzen, Überfluss an selbstreflexiver Literatur, Verständnis von Kunst als sakralisiertem Gegenstand und Ablehnung unmittelbarer ökonomischer Gewinne) schon im klassischen Zeitalter etabliert sind, dann überrascht es nicht, dass sich die höchste Anerkennung für einen Schriftsteller aus den Werten der höchsten sozialen Schicht speist: denen des Adels. Daher rühren das Streben nach Ruhm, die Ablehnung (sozial schädlicher) wirtschaftlicher Erfolge und die Bereitschaft zur Annahme königlicher Zuwendungen. Es geht um das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Quellen symbolischen und materiellen Kapitals. Dies zeigt sich etwa in der Tragödie, die intellektuelle Anerkennung ebenso garantierte wie einen angemessenen wirtschaftlichen Erfolg; dennoch wurde dem Cid von Corneille und der Andromaque von Racine oft und erbittert vorgeworfen, allzu sehr auf Marktinteressen zu schielen. In der französischen Klassik ist immerhin noch ein Gleichgewicht denkbar, zwei Jahrhunderte später hingegen hat sich die Situation völlig umgekehrt: Die Strukturen bleiben die gleichen, aber die Dominanz des Marktes und das Verschwinden des Adels als Leitgröße verändern die Verteilung und den Charakter der Werte grundsätzlich. Die Suche nach einem möglichen Gleichgewicht wird ersetzt durch den größtmöglichen Bruch, die »Se/fo/nobilitierung des Autors, die das genaue Gegenteil der alten Logik des >Verdienstes< bildet. Wie auch Bourdieu betont, hat gerade hier der Aristokratismus eines Flaubert oder Baudelaire seinen Ursprung. Er gewinnt eine weitere Dimension auf einer Ebene, die Bourdieu zwar

Royaume de l'Eloquence. Paris: Luyne 1658. Eine kritische Edition, besorgt von N. Shapira, ist in der Societe de litterature classique 2004 erschienen. Michele Rosellini: Charles Sorel et la formation du lecteur. Dissertation Paris III. Dez. 2003; im Erscheinen bei Champion. 1! Racine: Lettre ä l'Abbe Le Vasseur, Juin 1661. In: CEuvres completes. Hg. von Raymond Picard. Bd. 2. Paris: Gallimard 1966. S. 397. " Vgl. Viala: Naissance de l'ecrivain (Anm. 9).

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angedeutet, aber nicht näher beleuchtet hat: die des Verhältnisses von Literatur und Schule. Seit zwanzig Jahren untersuchen zahlreiche Forscher, wie der Literaturunterricht des 20. Jahrhunderts eine >Nationalliteratur< konstituierte. Die gelesenen Autoren stammten vor allem aus dem Jahrhundert Ludwigs XIV. Zu ihnen zählte etwa Boileau, den Flaubert immer wieder las und den auch Baudelaire ständig konsultierte, um ihn dann zu parodieren. Die Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wird wesentlich transparenter, wenn man die Autonomie, welche die Schriftsteller fordern, auch als Distanz zum schulischen Kanon versteht20 (den etwa der >Klassiker< Boileau verkörperte). Eben deswegen hielten sie sich, mit Baudelaires Begriff, fur >modernersten Moderne< des 17. Jahrhunderts, jener der >Querelle des Anciens et des Modernes< - also ausdrücklich im Sinne der >zweiten ModerneModerne< vor diesem Hintergrund zu reflektieren, ausgehend von der Frage: Worauf rekurrierten und was bezeichneten die unterschiedlichen Diskurse, die - auf welche Weise auch immer — von der Moderne handelten. Bekanntlich stehen die >Modernen< in einem Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung von Kunst und Wissenschaft durch den Buchdruck. Die Entwicklung führt zu einer neuen Wertstruktur, die auf der textuell produzierten und ästhetikgeschichtlich revolutionären Kategorie des indirekten, >interesselosen Wohlgefallens< (Kant) beruht. So gibt es also mindestens zwei Epochen der >ModerneModerne< zu beschreiben. So liegt es nahe, den Begriff des literarischen Feldes nicht fur das 19. Jahrhundert in Frankreich zu reservieren, sondern seine Prägnanz für andere Epochen und andere Regionen zu überprüfen. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sie seit inzwischen zwanzig Jahren in zahlreichen Arbeiten nachgewiesen. Aber warum sollten wir nicht von den Ergebnissen profitieren, die mit Hilfe des Feldbegriffs für Belgien, die Schweiz oder Quebec erzielt wurden? Und warum sollte man nicht etwa von einem literarischen Feld in England sprechen? Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe,2' kann diese Ausweitung fruchtbar sein, wenn sie den Begriff nicht verwässert oder ihn zu einem simplen Etikett degradiert, das man dann jeglichem literarischen Faktum unterschiedslos anheftet. Voraussetzung ist die soziale Verankerung und Ausdifferenzierung der Literatur mit ihrer Eigen20 21

Vgl. dazu auch den Beitrag von Michael Kämper-van den Boogaart im vorliegenden Band. Vgl. Denis Saint-Jacques u. Alain Viala: A propos du champ litteraire. Histoire, geographie, histoire litteraire. In: Annales HSS 2, mars/avril 1994. S. 395-^06.

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dynamik, ihren eigenen Regeln, aber auch ihren eigenen Kräften und Verfahrensweisen. Mit anderen Worten: kein Feld ohne funktionierenden Markt als Bedingung der Autonomie. Die Verwandlung des Textes in ein Tauschobjekt - Buch oder Zeitschrift bildet eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Anwendung des Feldbegriffs. Umso mehr scheint dieser mir für die die Zeiträume der >Moderne< angemessen - nicht unbedingt als einziger Zugang, aber als Möglichkeit, eine Problematik zu (re-)konstruieren. Mit der Frage nach dem Prozess der Autonomisierung gerät die Literaturgeschichte und die Erforschung der Künste insgesamt zu einem Beobachtungsfeld für die verschiedenen Formen der Konstitution von Werten. So findet sich die Idee des interesselosen Wohlgefallens, die Kant den Klassikern verdankt, in Werten wie >Wahrheit< und >Schönheit< wieder. Es versteht sich daher von selbst, dass die Feldanalyse nicht um ihrer selbst willen existiert, sondern eine Zugangsweise darstellt, die sozialen Voraussetzungen der Wertbildung wissenschaftlich zu ergründen.

Bei der Erforschung des literarischen Feldes müssen Philologen, Historiker und Soziologen miteinander kommunizieren. Ein solcher Dialog verändert die Forschungsgegenstände und weicht die disziplinaren Grenzen auf. Aber er ist auch eine Gelegenheit, Bourdieus Ansatz praktisch zu erproben. Die Feldtheorie wurde zu einer Zeit entwickelt, als man die französischen Universitäten stark ausbaute, als sich zahlreiche Möglichkeiten für neue Disziplinen boten. Gleichzeitig aber entstand eine lebhafte Konkurrenz unter ihnen.22 So blieb es nicht aus, dass die Soziologie, als relativ junge Disziplin, ihre Methoden zuspitzte und, wie Bourdieu sagte, »eine Kehrtwendung machte«, um sich von allzu weichem Ansätzen abzugrenzen. Vielleicht hat er deswegen gelegentlich manche Aussagen - etwa zur Geschichte des literarischen Feldes - zu rigide formuliert. Darüber hinaus war seine soziologische Betrachtung der Literatur abhängig von den Vorarbeiten, auf die er sich stützte. Wenn Bourdieu die Komplexität des französischen klassischen Zeitalters in seinem historischen Abriss unterschätzte, sollte man das als Provokation betrachten, seinen Ansatz noch intensiver zu erproben. Gerade dazu fordert ein Teil seines Werkes ja ausdrücklich heraus. Unterzieht man also das Konzept des literarischen Feldes selbst einer Historisierung, so kann es an Treffsicherheit und Brauchbarkeit für das Verständnis der Bildung und des Gebrauchs von Werten nur gewinnen. Aus dem Französischen von Claudia Albert

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Vgl. Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch. Übers, von Stephan Egger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Frz.: Esquisse pour une auto-analyse. Paris: Raisons d'agir 2004.

Stefanie Stockhorst (Augsburg)

Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker

Gelegenheitsdichtung

Von einem relativ autonomen literarischen Feld im Barock zu sprechen, mag auf den ersten Blick als gewagtes Unterfangen erscheinen. Denn das Modell der Ausdifferenzierung eines literarischen Feldes mit eigenen, internen Kriterien und Mechanismen der Wahrnehmung, Bewertung und Legitimation entwickelte Pierre Bourdieu anhand der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Freilich kann die Feldtheorie auch zum Verständnis der literarischen Verhältnisse anderer Epochen beitragen; dies wurde von den Anfangen der Autonomisierung im französischen Klassizismus bis hin zum Tel Quel bereits plausibel gemacht. Zudem stellt sich die Frage ihrer Anwendbarkeit auf die Konstellationen des literarischen Lebens anderer Länder.' Im Hinblick auf Deutschland erscheint es besonders interessant zu untersuchen, inwieweit bereits vor dem Aufkommen der modernen, schöpferisch-genialen Kunstauffassung in der >Goethezeitvorautonomer< Epochen. Eine solche Erweiterung des Blickwinkels von der Analyse auf die Genese eines >autonomen< literarischen Feldes ist in Bourdieus Konzept durchaus angelegt. So leuchtet es unmittelbar ein, wenn Joseph Jurt den Beginn der Autonomie nach Bourdieu schon lange vor dem Barock ansetzt: »Eine Tendenz in Richtung Autonomie der Kunst und der Literatur zeichnet sich bereits dann ab, wenn der Künstler oder der Dichter sein Werk signiert, um mit seinem Namen den eigenen Kunst- und Stilwillen zu bezeugen und so das Werk auch aus einer rein religiösen oder politischen Finalität zu lösen.«3 Notwendige Bedingung für ein literarisches Feld sei allerdings die Ablösung von symbolischen und ökonomischen Machtgefügen. Daher möchte ich folgende These vertreten: Wenngleich die Ergebnisse von Bourdieus Textanalysen selbstverständlich nicht auf die Gegebenheiten der deutschen >res publica litteraria< des 17. Jahrhunderts übertragbar sind, lassen sich doch - ohne die heteronome Seite barocker Literatur in Abrede stellen zu wollen - mit Hilfe der Feldtheorie bereits an dieser Zeit erhellende Einsichten in epochenspezifische Ansätze zur >Autonomie< gewinnen. Ihre Bindung an soziale Konventionen und poetologische Normen, zumal unter den Bedingungen des Mäzenatentums, vermag zahlreiche Textstrategien in ihrer historischen Eigenart zu erklären. Eine einseitige Fokussierung der Heteronomie ignoriert jedoch die tatsächlich gegebenen ästhetischen Handlungsspielräume, welche die Dichter eroberten und nutzten. Am Beispiel barocker Casualgedichte soll gezeigt werden, dass sich verschiedenartige künstlerische Habitusformen in den Texten nachweisen lassen, die jeweils vom Grad der Verpflichtung auf das Feld der Macht bzw. der Emanzipation davon abhängen. Als Quellenbasis möchte ich exemplarisch drei vergleichsweise bekannte Gelegenheitsgedichte des 17. Jahrhunderts heranziehen: Martin Opitz' An Herrn Heinrich Schützen / auff seiner liebsten Frawen Abschied (1625),4 ein Trostgedicht unter Künstlerkollegen, Simon Dachs Unterthänigste letzte Fleh-Schrifft (1657)/ ein Bittgedicht an seinen Fürsten in eigener Sache, und Daniel Casper von Lohensteins Auff das absterben Seiner Durchl. Georg Wilhelms / Hertzogs zu 3

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Joseph Jurt: Autonomie und Engagement. Bourdieus Modell Zola. In: »Für viele stehen, indem man für sich steht«. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Hg. von Eckart Goebel u. Eberhard Lämmert. (LiteraturForschung) Berlin: Akademie Verlag 2004. S. 122-141. Hier S. 125. Martin Opitz: An Herrn Heinrich Schützen / auff seiner liebsten Frawen Abschied [entst. 1625; ED 1629], In: Opitz: Weltliche Poemata 1644. Zweiter Teil. Hg. von Erich Trunz. (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 3) Tübingen: Niemeyer 1975. S. 155f. Simon Dach: Unterthänigste letzte Fleh-Schrift an Seine Churfürstl. Durchl. meinen gnädigsten Churfürsten und Herrn [entst. 1657; ED 1680], In: Dach: Gedichte. Hg. von Walther Ziesemer. Halle: Niemeyer 1936-38. Bd. 2: Weltliche Lieder. Gedichte an das kurfürstliche Haus. Dramatisches. (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Sonderreihe 5) Halle: Niemeyer 1937. S. 262.

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Liegnitz / Brieg und Wohlau (1675),' ein Epikedeion auf den Tod des letzten Plasten. Zunächst werde ich (I.) das Verhältnis des Feldes barocker Gelegenheitsdichtung zum Feld der Macht ansprechen, sodann (II.) die Struktur des literarischen Subfeldes7 selbst sowie (III.) die Habitusformen der Dichter analysieren, und zwar unter Berücksichtigung ihres Werdegangs und ihrer Stellung im Feld einerseits, der Art und Weise, wie sich ihre Dispositionen im Text ausdrücken, andererseits.' Abschließend werde ich (IV.) auf der Basis der erzielten Erkenntnisse noch einmal gesondert auf das Autonomieproblem im Feld der barocken Gelegenheitsdichtung eingehen. I. Die Gattung >Gelegenheitsdichtung< ist gekennzeichnet durch eine doppelte Seinsweise als Kunst- und Zweckform. Die Beziehung des casualpoetischen Feldes zum Feld der Macht wird zum einen geprägt durch die okkasionale Zweckbestimmung der Texte, also durch die Bindung an diverse Anlässe wie Geburtstag, Hochzeit, Beerdigung, An- oder Abreise, Genesung und an höfisch-dynastische Ereignisse wie diplomatische und militärische Erfolge oder die Geburt eines Thronfolgers, zum anderen durch ihre soziale Funktion. Eine wesentliche Eigenschaft von Gelegenheitsdichtung besteht darin, dass ihr neben der ästhetischen Qualität noch ein soziokultureller Mehrwert zu Eigen ist, da sie sowohl dem Adressaten als auch dem Autor soziale und künstlerische Legitimität verschafft.' Der Adressat wird in seiner sozialen Rolle bestätigt und gibt sich mit der schmückenden Kunst zugleich ein bestimmtes Image, während der Autor durch geschickten Einsatz von Konventionalität und Originalität sowohl soziales als auch kulturelles Kapital zu erlangen vermag.'0 Gelegenheitsdichtung verweist auf Strukturen und Positionen in der sozialen Wirklichkeit und kann durch deren öffentliche Aktualisierung zum symbolischen

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Daniel Caspar von Lohenstein: Auff das absterben Seiner Durchl. Georg Wilhelms / Hertzogs zu Liegnitz/ Brieg und Wohlau [entst. 1675; ED 1695]. In: Benjamin Neukirchs Anthologie. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, erster theil. Nach einem Druck von 1697. Hg. von Angelo George de Capua und Ernst Alfred Philippson (Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF 1) Tübingen: Niemeyer 1961. S. 164ff. Die Schwierigkeiten, die sich für größere literarische Felder aus der zu bearbeitenden Datenfulle ergeben, problematisiert ζ. B. Toril Moi: The Challenge of the Particular Case: Bourdieu's Sociology of Culture and Literary Criticism. In: Modern Language Quarterly 4, 1997. S. 498-508. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. S. 340. Vgl. zur statuserzeugenden Wirkung von Literatur Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 8). S. 328f. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 8). S. 88ff.

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Machtfaktor werden." Stärker noch als andere Gattungen, die mitunter den Anschein der Referenzlosigkeit erwecken, hängt sie deshalb nicht nur von literarischen Traditionen und Konventionen ab, sondern auch von den sozialen Sinnkonstruktionen und Hierarchien ihres Entstehungs- und Wirkungszusammenhangs.12 Dies gilt umso mehr im Zeitalter des Barock, als nicht nur das Subfeld der Casualpoesie, sondern das gesamte literarische Feld von den Bedingungen des Mäzenatentums geprägt war und Literatur grundsätzlich nur als Produkt der >Nebenstunden< einschlägig begabter Staatsdiener entstand." Da Gelegenheitsdichtung bis ins frühe 19. Jahrhundert als Mittel der ständischen Distinktion diente, spielten nicht nur poetologische, sondern vor allem auch gesellschaftliche bzw. höfische Normen eine entscheidende Rolle.14 Das soziale >decorum< regelte nicht allein die für den Status des Adressaten angemessene Stillage und Bildlichkeit, sondern auch die Frage, wer überhaupt fur wen Gelegenheitsgedichte anfertigen durfte: nur der Rangniedrigere für den Ranghöheren. II. Neben diesen externen Einflüssen aus dem Feld der Macht bestimmen auch noch interne, ästhetische Kategorien die Kraftlinien im Feld der barocken Gelegenheitsdichtung. Dazu gehören poetologische Normen wie Scaligers Poetices libri Septem (1561) oder speziell für das Herrscherlob auch Plinius' Panegyrikus, der im Jahr 1600 von Justus Lipsius neu herausgegeben wurde, antike Vorbilder und zeitgenössische Standards sowie performative Erfordernisse. Dennoch bot die Gelegenheitsdichtung erstaunlich breite künstlerische Gestaltungsspielräume, was im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückgeht. Zum einen trugen die Dichter einen erheblichen Anspruch an die Gattung heran, obwohl sie seit ihren Anfangen immer wieder als eiliges, kunstloses Machwerk kritisiert wurde. In diesem Sinne klagt Martin Opitz: »Es wird kein buch / keine hochzeit / kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben / gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter.«" Der anspruchsvolle Dichter gerät dadurch in ein Dilemma zwischen Kunst und Gesellschaft, das Opitz ebenfalls benennt:

" Vgl. Rudolf Drux: Artikel >Gelegenheitsgedichtloci circumstantiarum< hinausgehen, individualisierter Gefühlsausdruck anstelle von topischen Formeln, die Einfuhrung gelegenheitsfremder Themen oder persönlicher Interessen des Autors sowie die Gestaltung der Verehrungsbzw. Unterwerfungsgeste und des Lobpreises. Insgesamt stehen die Texte also in einer dynamischen Wechselbeziehung zwischen sozialen Rollen und ihren habituellen Aktualisierungen, dem poetischen Lehr- und Normierungssystem und der literarischen Tradition der Gelegenheitsdichtung und schließlich auch der genuinen Fähigkeit des Künstlers, diese Vorgaben nicht nur zu erfüllen, sondern sogar zu überschreiten. III. Die genannten Bedingungen, die aus der skizzierten Beziehung zum Feld der Macht und der inneren Struktur des casualpoetischen Subfeldes resultieren, gelten - in jeweils unterschiedlicher Ausprägung - für die barocke Gelegenheitsdichtung

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Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 7). S. 344. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 8). S. 351. Vgl. Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht (Anm. 11). S. 113-137. Vgl. zu diesen komplexen Schmuckformen Ulrich Ernst: Intextualität in der barocken Kasuallyrik. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber. (Frühneuzeitstudien 2) Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1994. S. 325-356.

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insgesamt. Im konkreten Einzelfall wirken noch speziellere Gegebenheiten auf die Gestaltung der Texte ein: Zu nennen sind etwa die sozialen und künstlerischen Laufbahnerfahrungen der Autoren, ihre Beziehung zum Adressaten und die Umstände des Anlasses sowie ihre ästhetischen und symbolpolitischen Ausdrucksabsichten. Alle genannten Faktoren fuhren jedoch mitnichten zu einer mechanischen Festlegung des künstlerischen Handelns, sondern stecken lediglich die textuellen Möglichkeiten ab, die unter den gegebenen historischen, politischen, sozialen und künstlerischen Bedingungen bestehen.2' Diese produktive Spannung zwischen Habitus und Feld soll im Folgenden anhand dreier Fallbeispiele untersucht werden. Beispiel 1: Obgleich er als Sohn eines schlesischen Metzgermeisters dem handwerklichen Bürgertum entstammte, gelang Martin Opitz ein gesellschaftlicher Aufstieg zu Adel und Fürstentum durch zahlreiche Förderer, die ihm den Besuch der Lateinschule, des Gymnasiums und der Universität ermöglichten. Geprägt durch Calvinismus und konfessionelle Toleranz, fand er in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges über mehrere Jahre keine dauerhafte Wirkungsstätte: Wegen der Eroberung Heidelbergs - wo er studiert hatte - zog er erst nach Leyden, kehrte dann 1621 nach Schlesien zurück, um 1622 nach Siebenbürgen und dann 1623 wieder nach Schlesien zu gehen. Am 6. September 1625, als Magdalena Schütz 24-jährig an den Pocken starb, war Opitz' politische und dichterische Zukunft noch offen: Sein Buch von der Deutschen Poeterey (1624) war im Jahr zuvor erschienen, im Februar 1625 hatte er als Gesandter in Wien dem Kaiser mit einem aus dem Stegreif verfassten Lobgedicht derart imponiert, dass dieser ihn zum >poeta laureatus< krönte, und Opitz' erste deutschsprachige Gedichtsammlung war inzwischen immerhin schon im Druck. Dass er 1626 als Kammersekretär Hannibal von Dohnas endlich beruflich im höfischen Feld Fuß fassen, dazu 1627 in den Adelsstand (>von BoberfeldWir< dem Adressaten seinen Beistand zusichert: »Wir auch wollen mit dir stimmen / Wollen Eyfrig neben dir / an die blawen Wolcken klimmen / Daß sie lebe für vnd für / Durch die Kunst gelehrter Seiten / Ο du Orpheus vnsrer Zeiten« (V. 31-36). Hier steht klar die »Kunst gelehrter Seiten« im Vordergrund, nicht der Wunsch, Eurydike in die eigene Welt zurückzurufen, denn die Lieder richten sich, wohl kaum ein unbeabsichtigter Bildbruch, nicht an die Unterwelt, sondern an den Himmel.

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Vgl. Janis Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz. Bern/München: Francke 1973. S. 242. Dieser konsolatorische Stoizismus, oft verbunden mit der Idee einer Verewigung durch die Kunst, kenn-zeichnet Opitz' Trauergedichte insgesamt, während die sonst übliche Ausgestaltung der Gedanken von >vanitas< und >memento mori< bei ihm kaum eine Rolle spielen. - Vgl. Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz (Anm. 28). S. 242.

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Opitz bemühte sich seit der Begegnung im Sommer um eine künstlerische Zusammenarbeit mit Schütz, der sich ebenfalls programmatisch im Interesse des Deutschen als Dichtungssprache positionierte. Allerdings kam die Bekanntschaft unter denkbar ungünstigen Vorzeichen zustande, denn für Schütz war das Jahr 1625 durch eine Serie von Todesfallen geprägt - er hatte erst einen Studenten, dann seine Schwägerin und zuletzt noch seine Frau verloren. Opitz vermochte nicht zu ahnen, ob sich diese Ereignisse auf die Produktivität des Komponisten auswirken, ob seine Hoffnung auf gemeinsame Projekte enttäuscht werden würde. Sein Gedicht übernimmt daher nicht nur eine allgemein gesellschaftliche Funktion, sondern vor allem auch eine strategische im Dienste der Kunst. Wenn er schreibt »Wir auch wollen mit dir stimmen«, dann geht dieser Wunsch gewiss über den konkreten Anlass der Totenklage hinaus. Schütz verstand die Botschaft des Textes und ließ sich auf das Anliegen des Dichters ein. Die mit einigen Madrigalvertonungen beginnende Zusammenarbeit kulminierte in einer nachhaltigen Erweiterung des verfugbaren Formenkanons im deutschsprachigen literarischen Feld, denn mit Schützens Komposition der Oper Dafiie (1627) nach einem von Opitz übersetzten Libretto wurde ein neuartiges Gattungsmodell aus Italien importiert. Das Gelegenheitsgedicht fungierte am Beginn der produktiven Künstlerallianz demnach nicht nur als eine sozialen Konventionen unterliegende Zweckdichtung, sondern gleichsam als Instrument der Avantgarde, denn es bahnte den Weg für eine Erweiterung des literarischen Raums der Möglichkeiten. Beispiel 2: Der schriftstellerische Werdegang Simon Dachs wurde mehr als einmal durch soziales Kapital begünstigt, das er mit Gelegenheitsgedichten erworben hatte. Obwohl der Sohn eines Memeler Gerichtsübersetzers von Haus aus nicht sonderlich wohlhabend war, ermöglichten ihm Verwandte den Schulbesuch in Königsberg, Wittenberg und Magdeburg sowie ein Theologiestudium in Königsberg, das er allerdings nicht abschloss. Nach verschiedenen Tätigkeiten als Lehrer erlangte er durch Beziehungen des befreundeten Dichterkollegen Robert Roberthin sowie durch strategisch platzierte Glückwunschgedichte30 an den Kurfürsten Georg Wilhelm und den Kurprinzen Friedrich im Jahr 1639 eine Poesieprofessur an der Königsberger Universität. Außerdem spielte er eine wichtige Rolle im Königsberger Dichterkreis, der sich denselben Zielen verpflichtet hatte wie die Fruchtbringer, ohne sich freilich feste Statuten als Verein zu geben. Dachs literarisches Schaffen bestand jedoch überwiegend in Gelegenheits- und Auftragsdichtung, vor allem während seiner 1640 einsetzenden Tätigkeit als inoffizieller preußischer Hofdichter unter Friedrich Wilhelm, mit dem er im Rahmen der ständischen Grenzen ein ungewöhnlich enges Verhältnis hatte. Trotz fester Stelle, guter Beziehungen zum Feld der Macht und überregionaler Reputation als Dichter verfugte Dach über geringes ökonomisches Kapital, so dass er, seit sechzehn Jahren verheiratet und Vater von fünf Kindern, in seinem dreiund30

Vgl. Wulf Segebrecht: Die Dialektik des rhetorischen Herrscherlobs. Simon Dachs Letzte Fleh-Schrifftt. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart: Reclam 1982. S. 200-209. Hier S. 202.

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fünfzigsten Lebensjahr begann, sich um seine Altersvorsorge zu bemühen. Seinen Wunsch nach einem kleinen Landstück trug er Friedrich Wilhelm in den acht Schweifreimstrophen seiner Unterthänigsten letzten Fleh-Schrifft vor. Nicht nur der Titel erweckt einen äußerst devoten Eindruck, sondern auch verschiedene Elemente des Textes lassen Dach als unterwürfigen Bittsteller erscheinen. In der ersten Strophe preist Dach nicht nur die zwischen 1614 und 1648 erheblich ausgedehnte Größe des kurfürstlich brandenburgischen Herrschaftsgebietes, sondern auch Friedrich Wilhelms Machtstellung, da ihm das ganze Territorium ergeben sei: »Held, zu welches Herrschafft Füssen/ Länder liegen, Ströme fliessen, / Die ich auch nicht zehle schier, / Welchen ehren und anbehten / Sampten Dörffern und den Städten / Auch die wild- und zahmen Thier« (V. 1-6). In der zweiten Strophe, die syntaktisch durch den Doppelpunkt am Schluss der Eingangsstrophe eng an den Lobpreis anschließt, bittet Dach seinen Fürsten um ein kleines Stück von diesem großen Land (V. 7-12). Zur Begründung verweist er in der dritten Strophe auf ein ausgedientes Pferd oder einen alten Wachhund, dem sein Gnadenbrot zustehe (V. 13-18). Genauso stellt er seine Lage als langjähriger Hofpoet dar, der den Ruhm seines Fürsten durch seine Dichtung verewigt habe: »Laß auch mich nur Futter kriegen, / Biß der Tod mich heisst erliegen, / Bin ich dessen anders wehrt, / Hab ich mit berühmter Zungen / Deinem Haus' und Dir gesungen / Was kein Rost der Zeit verzehrt« (V. 19-24). In den beiden letzten Strophen, die abermals durch einen Strophensprung näher zusammenrücken als die übrigen, teilt er mit, dass er sich mit jeder Entscheidung seines Fürsten über sein Anliegen zufrieden geben würde. »Mir ist gnug ein grünes Tal« (V. 42) heißt es zuerst, und wieter schränkt er abschließend ein: »Sollt' ich aber nichts empfangen, / Wol, Herr, dieses gnügt mir auch.« (V. 48) So weit handelt es sich nur insofern um eine besondere Form von Gelegenheitsgedicht, als der Text die Panegyrik benutzt, um ein persönliches Anliegen im Feld der Macht zu vertreten.51 Die gesellschaftlichen Hierarchien bleiben gewahrt, der Dichter bringt sein billiges Anliegen mit den nötigen Demutsformeln vor. Allerdings konterkarieren die bisher übersprungenen Strophen fünf und sechs die übrige Textstrategie ganz erheblich: Zuerst stellt der Dichter hier ohne jede Bescheidenheit seine eigenen Vorzüge heraus - als Gastgeber seines künstlerischen Schutzgottes Apoll, als Lehrmeister seines Landes, womöglich auch seines Landesherrn auf diesem Gebiet und als Exponent der deutschsprachigen Kunstdichtung: »Phöbus ist bey mir daheime, / Diese Kunst der Deutschen Reime / Lernet Preussen erst von mir, / Meine sind die ersten Seiten, / Zwar man sang vor meinen Zeiten, / aber ohn Geschick und Zier« (V. 25-30). Bis hier könnte die Selbstdarstellung noch als Bekräftigung des Gesuchs um die angemessene Konvertierung kulturellen Kapitals in ökonomisches hingehen. Im zweiten Schritt geht Dach dann allerdings auf den Fürsten ein, jedoch nicht mit dem eigentlich zu erwartenden Katalog von Herrschertugenden, die seine vorausgegangene Anmaßung relativieren könnte, sondern mit versteckter Kritik an absolutistischer Willkür aus dem Blickwinkel " Vgl. Heidt: Der vollkommene Regent (Anm. 14). S. 23-30.

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einer (fnih-)bürgerlichen Leistungsethik: »Doch was ist hievon zu sagen? / Fürsten schencken nach Behagen, / Gnade treibet sie allein, / Nicht Verdienst, das Sie thun sollen, / Nein, Sie herrschen frey und wollen / Hie auch ungebunden seyn.« (V. 31-36) Mit diesen beiden Strophen erhält seine vermeintliche »Fleh-Schrifft« einen völlig anderen Charakter, der Fürstenpreis und Unterwerfungstopik untergräbt. Zwei ganz neue, durch die Gattungskonventionen nicht verbürgte Habitusformen treten in Dachs Gedicht hinzu: Zum einen die durchaus selbstbewusste Vergegenwärtigung des Künstlers als Künstler, nicht nur als Hofpoet, sondern auch als Pionier der barocken Dichtungsreform, zum anderen eine Infragestellung des fürstlichen Adressaten, die den zulässigen Rahmen des Fürstenspiegels bei weitem sprengt, da Grundzüge absolutistischer Machtausübung hinterfragt werden. Dachs Text enthält also nicht nur den sachlich begründeten Imperativ >Entlohne Deinen treuen Dichten, sondern auch noch eine kleine Erpressung durch den Hinweis, dass er den Kurfürsten durch Argumente schwerlich beeinflussen könne: Gibt der Kurfürst seiner Bitte nicht statt, macht er sich zum Despoten, der sich untertänig vorgebrachten Gerechtigkeitsansprüchen verschließt. Wie Friedrich Wilhelm dieses wagemutige Gedicht aufgenommen hat, ist nicht bekannt. Das erbetene Landstück gab er seinem Hofdichter jedenfalls Anfang 1658, wenngleich Dach bis zu seinem Tod im April 1659 nur noch wenige Monate als stolzer Grundbesitzer blieben. Wenngleich Dach von materiell unabhängigem Berufsschriftstellertum noch weit entfernt war, dokumentiert sein Text mit der gattungsfremden künstlerischen Selbstdarstellung immerhin ein beginnendes professionelles Selbstbewusstsein des Gelegenheitsdichters. Beispiel 3: Ganz andere künstlerische Dispositionen legt Daniel Casper, seit 1670 von Lohenstein, an den Tag, als er auf den Tod des letzten Piasten im November 1675 ein Leichencarmen schreibt. Als Sohn eines kaiserlichen Ratsherrn und Steuereinnehmers konnte er das Gymnasium in Breslau besuchen und ein Jurastudium in Leipzig und Tübingen absolvieren. Nach verschiedenen Reisen und Tätigkeiten als Hofmeister, Anwalt und Dramendichter begann er 1668 seine politische Laufbahn als Regierungsrat des Fürstentums Oels. Das Angebot, Geheimsekretär bei Herzog Christian von Liegnitz, Brieg und Wohlau zu werden, lehnte er ab, übernahm aber 1670 die Stelle des Syndikus und 1675 des Obersyndikus von Breslau. Im Frühling des Todesjahres Georg Wilhelms verhandelte Lohenstein erfolgreich eine Breslauer Steuerangelegenheit in Wien und wurde daraufhin zum kaiserlichen Rat ernannt. Als etablierter Dichter und Staatsmann konnte er es sich qua Position leisten, neben der großen Lob-Schriffi (1676), einer fürstenspiegelartigen Trauerrede, auch noch ein eher ungewöhnliches Gedicht auf den fünfzehnjährig verstorbenen Georg Wilhelm zu verfassen. Das erste Strophenpaar befasst sich allgemein mit der Vergänglichkeitsthematik: »Mich deucht / wie die natur manch ding verlohren / Das die Vergänglichkeit zu trotzen sich verschwohren« (V. 11 f.). Die beiden folgenden Strophen illustrieren am Beispiel des babylonischen Königs Nimrod und des persischen Königs Artaxerxes die Vergänglichkeit historischer Großreiche. Dann folgt

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in der fünften Strophe eine Zuspitzung auf die Sterblichkeit von Fürsten, die für den in der sechsten Strophe endlich genannten Anlass verantwortlich ist. Dort wird erkennbar, dass der Prinz, dessen Name nur einmal im Titel fällt, während er im Text weder direkt noch in einer Umschreibung genannt wird, als lyrisches Ich doch eine zentrale Stellung im Text einnimmt: »Mein graues Haus verfallt / Das nun neunhundert jähr gestanden [...]. Es fallt durch mich; jedoch wird niemand schliessen / Daß ich durch meine schuld den grund hätt' eingerissen.« (V. 31-36) Im anschließenden Strophenpaar erklärt der Verstorbene, dass er sich bereitwillig in seine gottgewollte Bestimmung füge: »Des Allerhöchsten hand / So cedern setzt und wieder fallet / Und an Pyastus stamm zum gipffei mich gestellet / Die bricht mich ab / und setzt mich in ein ander land; / Wer dieser hand sich müht zu widerstreben / Der liebt sein ungelück / und haßt sein eigen leben.« (V. 37-42) Mit dieser Akzeptanz seines Schicksals und der Perspektive auf ein Wiedersehen im Jenseits wendet er sich tröstend an seine Mutter und seine Schwester: »Vorhin herrscht' ich mit lust / Itzt folg' ich noch mit grössern freuden. / Und muß ich gleich von ihr / durchlauchte mutter / scheiden / So sey ihr doch / und auch / frau schwester / ihr bewußt: Daß ich nur sey voran dahin geschritten / Wo die Vergnügung uns wird stets zusammen bitten.« (V. 43-48) Im abschließenden Strophenpaar gibt der Verstorbene noch Einblicke in die Herrlichkeit des Gottesreichs, um sich dann mit mittel- und langfristigen Zukunftswünschen zu verabschieden. Die letzte Strophe bildet einen konkreten Appell an die Untertanen, die auch unter kaiserlicher Herrschaft - das bikonfessionelle Schlesien fiel nach dem Aussterben der Piasten an das katholische Habsburg - nach Toleranz und Friedenspolitik streben sollen: »Lebt all' in guter ruh! / Wie ihr mir freund und treu im leben, / So seyd des Käysers huld und Gottes schütz ergeben; / Diß bitt' ich noch von euch: Schliest hinter mir nun zu / Und lebt also den kurzen rest der erden / Daß ihr / wie ich / gekrönt / von Gott bekräntz mögt werden.« (V. 55-60) Lohensteins Leichencarmen verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen die Gattungskonventionen: Der Verstorbene tritt als Sprecher auf, so dass die hierarchische Redesituation des Totengedichts umgekehrt wird. Der Herrscher empfangt keine Huldigung, sondern richtet ein letztes Wort an seine Untertanen. Aus diesem Grund lassen sich verschiedene gattungskonstituierende Elemente nicht integrieren: Es finden sich keine panegyrischen Formeln, die gängigen >loci topici< sucht man vergeblich, und auch die argumentative Trias von laudatio - lamentatio consolatio< kann nicht realisiert werden. Die >consolatiobei Gelegenheit bestimmt ist," trifft auf die untersuchten Texte zu. Auch wurden sie nicht nur als Einzeldrucke rein zufallig überliefert, sondern fanden allesamt Eingang in zeitgenössische Textsammlungen, bei Opitz sogar in eine zu Lebzeiten erschienenen Gedichtausgabe.36 Im Zweitadressatenkreis der literarischen Öffentlichkeit konnten die Gedichte also auch noch symbolisches Kapital für die Autoren bzw. deren Herausgeber abwerfen.

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Vgl. Uwe-K. Ketelsen: »Die Lebenden Schlüssen den Sterbenden die Augen zu / die Todten aber öffnen sie den Lebenden«. Zu Lohensteins Gedicht über den Tod des letzten Piasten, Georg Wilhelms von Liegnitz. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart: Reclam 1982. S. 369-378. Hier S. 376. Claudia Stockinger: Kasuallyrik. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von Albert Meier. Bd. 2. München: Hanser 1999. S. 436-452. Hier S. 436. So trotz Hinweisen auf die Rolle berühmter Verfasser bei der späteren Rezeption Jörg Jochen Berns/Miriam Fischers: Casualgedichte für einige Landgrafen von Hessen-Kassel. In: Erdengötter. Fürst und Hofstaat in der Frühen Neuzeit im Spiegel von Marburger Bibliotheks- und Archivbeständen. Hg. von Jörg Jochen Berns. (Schriften der Universitätsbibliothek 77) Marburg 1997. S. 501-508. Hier S. 504ff. Martin Opitz: Deutscher Poematum Anderer Theil; Zuevor nie beysammen, theils auch noch nie herauß gegeben. Breslau 1629; Simon Dach: Chur-Brandenburgische Rose/ Adler/Löw und Scepter. Königsberg 1680; der Lohenstein-Text in Benjamin Neukirch: Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Gedichte. Leipzig 1695.

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Die Analyse barocker Gelegenheitsdichtung im Kräftespiel des literarischen Feldes zeigt zweierlei: Zum einen wird die auf Wilhelm Dilthey37 zurückgehende Dichotomie von autonomer Kunst und sozialer Determinierung aufgehoben, die sich gerade für die Erforschung vorgoethescher Gelegenheitsdichtung als wenig sinnvoll erwiesen hat.3' Die Unvereinbarkeit von Kunstwerk und Machwerk, Erlebnis und Gelegenheit lässt sich daher aus feldtheoretischer Perspektive entkräften. Zum anderen berücksichtigt die Feldtheorie neben der gesellschaftlich-politischen Dimension der Texte auch ihre ästhetische Qualität, ohne in Determinations- und Widerspiegelungsargumentationen zurückzufallen, welche die genuine Fähigkeit der Kunst zur Transzendenz übersehen. Die besondere Stärke der Feldtheorie liegt dabei weniger in der Bereitstellung eines umfassenden textanalytischen Verfahrens als in einer Konzeptualisierung literarischer Strategien im gesellschaftlichen Zusammenhang: Es gelingt ihr, das Zusammenspiel von Heteronomie und Autonomie bei der Entstehung und Wirkung literarischer Texte genauer zu erfassen, als das mit einer immanenten Lektüre oder auch mit dem aporetischen Determinismus früherer sozialgeschichtlicher Ansätze möglich ist. Auf diese Weise lassen sich Momente künstlerischer Selbstbehauptung gegenüber den sozialen Bedingungen der Zweckdichtung anhand von literarischen und sozialen Konventionsbrüchen sichtbar machen. Für feldtheoretische Barockstudien erwachsen allerdings einige konzeptionelle Schwierigkeiten aus dem Moment der >AutonomieBotschaft< an Kaiser und Mäcenatensohn [...]: Die kunstvolle poetische Synchronisierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - und damit das panegyrische Programm der EugenOde - besitzt für den Helden nur dann Gültigkeit, wenn sie auch für den Dichter gilt.

Des Weiteren beleuchtet Klaus Conermann drei »Spottsonette auf typisierte Hofleute«" von Opitz anlässlich der Hochzeit zwischen Prinzessin Maria Elisabeth von Sachsen und Herzog Friedrich von Holstein im Jahr 1630, die in die offiziellen Festbücher aufgenommen wurden. Über Anlass und Absicht der Satire auf die allegorischen Figuren des Jactator, Adulator und Stultus lässt sich bislang freilich nur spekulieren; nachweisliche Wirkungen zeitigten sie nicht. Knut Kiesant schließlich zeigt am Beispiel eines höfischen und eines bürgerlichen Wiegenliedes des Berliner Barockdichters Nicolaus Peucker, »[w]ie sensibel der Autor auf unterschiedliche Adressaten zu reagieren wußte«, was nicht nur die Topik betrifft, sondern auch »deutliche Differenzierungen in der Reflexion der Rolle von Literatur in der Gesellschaft«.44 Die literarische Feldkonstellation des Barock lässt sich besonders gut anhand von Casualpoesie beobachten, denn ihre Doppelnatur als Kunst- und Zweckdichtung bringt sowohl heteronome als auch autonome Textmerkmale mit sich. Die den Texten eingeschriebene Dopplung von Topik und Faktur, die sich aus dem produktiven Zusammentreffen von sozialen, poetologischen und enkomiastischen Konventionen mit eigenwillige ästhetischer Gestaltung ergibt, betrifft nicht nur barocke Gelegenheitsdichtung, sondern einen weitaus größeren Teil der damaligen literarischen Produktion.

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Joseph Leighton: The Poet's Voices in Occasional Baroque Poetry. In: Literary Culture in the Holy Roman Empire, 1555-1720. (University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literature 113) Hg. von James A. Parente u.a. Chapel Hill/London: University ofNorth Carolina Press 1991. S. 236-246. Nicola Kaminski: Eugen ist fort - und der Poet? Panegyrisches Programm und poetisches Konzept in Johann Christian Günthers Eugen-Ode. In: Euphorion 91, 1997. S. 139-156. HierS. 156. Klaus Conermann: Opitz auf der Dresdner Fürstenhochzeit von 1630. Drei satirische Sonette des Boberschwans. In: Daphnis 27, 1998. S. 587-630. Hier S. 615. Knut Kiesant: Berliner Gelegenheitsdichtung im Spannungsfeld von Stadt und Hof: Nicolaus Peucker (um 1620-1674). In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. (Frühe Neuzeit 39/1) Tübingen: Niemeyer 1998. S. 260-278. Hier S. 262 u. S. 278.

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Neuere Untersuchungen zeigen, dass erstens das Subjekt eine größere Rolle in der frühneuzeitlichen Literatur spielt als bisher angenommen,45 dass zweitens oft nicht die Regel, sondern vielmehr die Abweichung den Charakter gerade auch barocker Sprachkunst ausmacht und dass drittens dispositionelle Leerstellen im poetologischen Regelsystem auf die seit Aristoteles und Horaz ausdrücklich gewollte Macht der dichterischen Freiheit hinweisen und erstaunliche Gestaltungsspielräume für die poetische Praxis eröffnen.46 Ein weiteres Argument für die relative künstlerische Freiheit der Dichter selbst gegenüber den poetologischen >doctrinae< bietet außerdem der in nahezu allen barocken Poetiken betonte Topos des > furor poeticus