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English, German Pages [378] Year 2003
Gadamer verstehen / Understanding Gadamer
Mirko Wischke / Michael Hofer (Hrsg.)
Gadamer verstehen / Understanding Gadamer
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2003 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-16320-6
Inhalt Einleitung
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Grundlagen: Der Gegenstand der Hermeneutik und ihre Begründung Gunter Scholtz Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers
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David Weberman Is Hermeneutics Really Universal despite the Heterogeneity of its Objects? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Hofer Hermeneutische Reflexion? Zur Auffassung von Reflexion und deren Stellenwert bei Hans-Georg Gadamer . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen: Gadamers hermeneutischer Rückgang auf Platon James Risser Gadamer’s Plato and the Task of Philosophy . . . . . . . . . . . . . .
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Holger Schmid Hermeneutik und Kritik: Stufen des Platonismus . . . . . . . . . . . 101 Šteˇpán Špinka „Plato im Dialog“. Hans-Georg Gadamer als Interpret der platonischen Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Kontexte: Schleiermacher, Heidegger, Bultmann Günter Figal Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Andreas Arndt Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers . . . . . . . . 157 P. Christopher Smith Phronêsis, the Individual, and the Community. Divergent Appropriations of Aristotle’s Ethical Discernment in Heidegger’s and Gadamer’s Hermeneutics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
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Inhalt
Jean Grondin Gadamer und Bultmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Themen: Hermeneutik und Ästhetik Konrad Paul Liessmann Die Sollbruchstelle. Die Destruktion des ästhetischen Bewusstseins und die Stellung der Kunst in Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Nicholas Davey Art’s Enigma: Adorno, Gadamer and Iser on Interpretation . . . . . 232 Ruth Sonderegger Gadamers Wahrheitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Sprache und Gespräch Kai Hammermeister Der Gott der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Oscar M. Esquisabel Sprache, Geschehen und Sein. Die Metaphysik der Sprache bei H.-G. Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Robert Schnepf Der hermeneutische Vorrang der Frage. Die Logik der Fragen und das Problem der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Wahrheit und Sprache Ad Verbrugge Aletheia und die Frage nach der Wahrheit
. . . . . . . . . . . . . . . 324
Brice R. Wachterhauser Finite Possibilities. Gadamer on Historically-Mediated Truth . . . . . 338 Mirko Wischke Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie bei Hans-Georg Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Einleitung In „Wahrheit und Methode“ (1960) sieht Gadamer die Aufgabe seiner Hermeneutik im Begründen der Behauptung, dass das Verstehen ein Wiedererkennen voraussetze, durch das es zum Andersverstehen werde. Wie voraussetzungsreich diese These vom Verstehen als einem Andersverstehen ist, zählt zu den herausfordernden Erfahrungen der Lektüre von „Wahrheit und Methode“. Gadamers Hauptwerk gehört zu jenen philosophischen Entwürfen, die ihre ideengeschichtlichen Anknüpfungspunkte hinter einer nur schwer zu entwirrenden Komplexität systematischer Zusammenhänge verbergen; und sein Hauptwerk ist der Versuch einer Neuaneignung und Rekonstruktion der philosophischen Tradition, der den Deutschen Idealismus ebenso einschließt wie die Philosophie Platons und Aristoteles’. Vieles, was begrifflich und gedanklich in Gadamers Konzeption philosophischer Hermeneutik eingeht, ist auch mit systematischer Referenz auf eine Diskussion formuliert worden, die nach Hegels Tod die deutschsprachige Philosophie über mehrere Jahrzehnte in Atem hielt: die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Philosophiegeschichte. Diese Frage kreist um das Problem, das bereits dem Neukantianismus nicht fremd war: Dieser forderte eine Rückkehr zu Kant, weil er sich beunruhigt fragen musste, was der Philosophie nach ihrer Ausfaltung in die Wissenschaften noch an Möglichkeiten verbleibt, um sich als eine wissenschaftliche Disziplin rechtfertigen zu können. Gadamer stellt sich diese Frage – vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Neukantianismus nach dem Ersten Weltkrieg – nunmehr dahingehend, was die Philosophie jenseits ihrer engen Anbindung an die Wissenschaft überhaupt noch sein könne. Das erklärt wenigstens ansatzhaft, warum „Wahrheit und Methode“ nicht in erster Linie aus einer Beschäftigung mit Autoren entstand, die als klassische Vertreter der Hermeneutik gelten können. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für sein philosophisches Verständnis von Hermeneutik? Mit Gadamers Verweis auf die Frage, was der Philosophie angesichts der Dominanz der Naturwissenschaften noch zu tun bleibt, ist das Problem der systematischen Zusammenhänge zunächst ebenso wenig aufzulösen wie mit seinem Hinweis auf den für seinen Denkweg bedeutsamen Umgang mit den platonischen Dialogen. Dass Platon für Gadamer im Kreis der Klassiker des philosophischen Gedankens eine exponierte Stellung einnimmt, darüber belehrt nicht zuletzt der lange Zeitraum, über den hinweg sich seine Beschäftigung mit Platon erstreckt, der mit der Marburger Dissertation zum „Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen“
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Einleitung
von 1922 bis zu dem 1991 publizierten Band VII der Werkausgabe unter dem Titel „Platon im Dialog“ reicht. Doch wie aussagekräftig ist seine intensive Beschäftigung mit Platon für eine Deutung, die zentralen Begriffen Gadamers gilt? Darüber hinaus fehlt es nicht an biographischen Hinweisen Gadamers über seine philosophischen Lehrer. So hat Gadamer immer wieder betont, wie sehr er durch seinen Lehrer Martin Heidegger geprägt worden sei, zu dem er in Platon eine Gegenkraft gesucht und gefunden habe. Und er hat darauf verwiesen, wie sehr ihn Hegels Geistphilosophie fasziniert hat. Als Herausforderung bleiben jedoch die philosophische Erhellung der mannigfachen Traditionsstränge, die Gadamers Werk durchziehen, und die Durchdringung der Aufnahme und Weiterentwicklung, die sie durch Gadamer erfahren haben, bestehen. Die Gliederung der Beiträge im vorliegenden Band versucht den vielschichtigen systematischen Zusammenhängen sowohl im Hinblick auf grundlegende Problemstellungen (Grundlagen: Der Gegenstand der Hermeneutik und ihre Begründung) als auch unter Berücksichtung maßgebender Anknüpfungspunkte (Quellen: Gadamers hermeneutischer Rückgang auf Platon, Kontexte: Schleiermacher, Heidegger, Bultmann) Rechnung zu tragen. Mit den Themen Hermeneutik und Ästhetik, Sprache und Gespräch sowie Wahrheit und Sprache werden zentrale Fragestellungen und strittige Problemzusammenhänge kritisch erörtert. Diese Gliederung will die Aufgabe transparent machen, die sich der vorliegende Band stellt: die Grundgedanken der philosophischen Hermeneutik im Kontext der philosophiegeschichtlichen Anknüpfungspunkte systematisch-kritisch zu erörtern. In der internationalen Forschung, deren Ergebnisse in diesem Band aufeinander treffen, haben sich unterschiedliche Perspektiven herausgebildet, von denen aus die Grundprobleme und Hauptthemen von Gadamers philosophischer Hermeneutik ausgelegt werden. Diese Vielzahl der Perspektiven eröffnet zugleich den Blick auf den systematischen Zusammenhang von Gadamers Prämissen und Thesen. So erlauben die Beiträge nicht nur einen Rückblick auf Diskussionen, die Gadamer entweder direkt auslöste oder in die er einbezogen wurde. Vielmehr werden Erörterungen präsentiert, die neue Sinnaspekte an Gadamers Werk hervortreten lassen und dieses produktiv weiterführen. Die Internationalität, wie sie in der Liste der Autoren zum Ausdruck kommt, soll nicht nur die immense Wirkung von Gadamers Hermeneutik, sondern auch die Anregung, die sie in vielfältigster Weise für gegenwärtiges Philosophieren darstellt, deutlich machen. Die angesprochenen Einflüsse und ihre Wirkung sind – von Monographien und Festschriften einmal abgesehen – bislang kaum komprimiert in einem Band dokumentiert worden. Über die Interpretationsansätze im angelsächsischen Sprachraum gibt der von Hahn edierte Band einen
Einleitung
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Überblick (The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, ed. by L. E. Hahn, Chicago/La Salle 1997 [The Library of Living Philosophers Vol. XXIV]). Für den deutschsprachigen Raum gibt es bislang nichts Vergleichbares. Mit diesem Band soll die Lücke kleiner werden. Olmütz/Linz 2003
Mirko Wischke und Michael Hofer
GRUNDLAGEN DER GEGENSTAND DER HERMENEUTIK UND IHRE BEGRÜNDUNG Gunter Scholtz Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers David Weberman Is Hermeneutics Really Universal despite the Heterogeneity of its Objects? Michael Hofer Hermeneutische Reflexion? Zur Auffassung von Reflexion und deren Stellenwert bei Hans-Georg Gadamer
Gunter Scholtz Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers Die große Präsenz von Gadamers Hauptwerk setzt in Erstaunen. Denn seit seinem Erscheinen wird es kritisiert, und z. T. sogar heftig, aber noch immer beherrscht es besonders in Deutschland die Diskussion um die Hermeneutik; ja, für viele scheint das Buch sogar die nähere Bestimmung dessen zu bieten, was man sich unter dem Begriff der Hermeneutik denken muss. Dabei hat selten ein Werk über das Verstehen dem Leser so viele Verständnisschwierigkeiten bereitet. Man wird vielleicht sagen, das liege an seinem echt philosophischen Charakter, da eben alle tiefe Philosophie dem Durchschnittsleser zu hoch sei. Aber es muss erlaubt sein zu fragen, ob nicht gerade auch Untiefen, Unklarheiten und Unstimmigkeiten das Verständnis erschweren. Mir jedenfalls scheint, dass sich zuweilen zwischen den Aussagen des Werkes sowie zwischen einigen seiner Grundgedanken und unserer Erfahrung starke Spannungen zeigen, ja Widersprüche auftun. Natürlich könnte man sich damit beruhigen, dass es – wie immer – verschiedene Lesarten des Textes gibt. Aber da Gadamer m.W. nirgends sagte, er möchte auf ganz widersprechende Art gelesen und verstanden werden, und da mir die objektive Möglichkeit widersprüchlicher Interpretationen auch kein Gütesiegel theoretischer Texte zu sein scheint, möchte ich auf jene Möglichkeit der Beruhigung vorerst verzichten. Um jene Verstehensschwierigkeiten zu erörtern, wähle ich eine für alle Hermeneutik grundlegende, aber wenig tiefsinnige Frage, die offenkundig ebenso einfach zu beantworten wie zu verstehen ist: Was ist der Gegenstand des Verstehens und Auslegens in dieser philosophischen Hermeneutik? Mit welchem Verstehen befasst sie sich, was ist ihr Interpretandum?
I. Rede und Text Die Antwort auf diese Frage erscheint auf den ersten Blick ganz leicht, handelt doch ein eigenes Kapitel – wie es in der Überschrift heißt – von der „Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Gegenstandes“ (367).1 Was verstanden und ausgelegt wird, ist Sprache, geschriebene und gesprochene, also Text und Rede. Fragen wir aber, ob – wie bei Schleiermacher – diese Hermeneutik für beide in gleicher Weise gedacht ist, geraten wir schon ins Zögern. Denn einerseits wird das Verstehen im wirklichen Gespräch zwischen Subjekten zum Vorbild allen Verstehens erklärt, andererseits aber passen die Aussagen zum Dialog nicht zur Charakteris-
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tik des Interpretierens in den Geisteswissenschaften. Denn während Gadamer für das Gespräch feststellt, dass man sich „in den anderen versetzt, um seinen Standpunkt zu verstehen“ und „das, was er sagt“ (364, 363), wird solches Sich-Versetzen im Hinblick auf das Verstehen der „Überlieferung“, um das es in unserem Werk vor allem geht, als Mangel eines naiven Historismus ausdrücklich abgewiesen und stattdessen die „Verschmelzung“ der Horizonte behauptet (281, 286–290). Umgekehrt wird das geisteswissenschaftliche Verstehen der Überlieferung so charakterisiert, dass wir es in keinem Dialog finden werden. Denn nehmen wir an, mein Nachbar verwickelt mich in ein Gespräch über unsere politische Situation, so werde ich aus seinem Munde keine „vollkommene Wahrheit“ erwarten (278), werde keinen produktiven „Zeitenabstand“ (275 ff.) zwischen uns erkennen, werde mich nicht schon in der „Wirkungsgeschichte“ (284 ff.) seiner Ansichten befinden, werde vermutlich auch keine „Horizontverschmelzung“ vollziehen und seine Rede auch nicht gleich bei der nächsten Wahl „anwenden“ – und doch werde ich seinen politischen Standpunkt weitgehend verstehen können. Da Gadamers Hermeneutik (zumeist) die Meinung und die Intention des Sprechers oder Autors für unwichtig erklärt und durch die „Sache“, die Wahrheit des Interpretandums ersetzt, ist sie als Theorie des Verstehens im Kommunikationsprozess ganz ungeeignet.2 Schließlich muss jeder Dialog scheitern, wenn man die Intention des Gesprächspartners für gleichgültig erklärt. Während Schleiermacher in seiner Hermeneutik mit Recht fordern konnte, man solle das Verstehen im lebendigen Gespräch üben, da schon hier Verstehensschwierigkeiten auftauchen können, wie sie seine Hermeneutik zum Thema macht,3 hätte Gadamer das Gespräch besser ganz ausklammern sollen, da es ihm eben gar nicht um die Meinung von Autoren und Sprechern, sondern um die Traditionsvermittlung geht. Wenngleich er das Verhältnis zur Überlieferung – wegen der Dialektik von Frage und Antwort – ein „Gespräch“ nennt (z. B. 437), handelt es sich doch hier nur um eine sehr entfernte Analogie dazu. Denn das Traditionsverhältnis ist bei Gadamer ein Gespräch zwischen sehr ungleichen Partnern, da man erstens gar nicht mit einem anderen Subjekt, sondern mit der „Überlieferung“ spricht und da diese zweitens immer Recht hat. Außerdem – so müssen wir hinzufügen – hat eben der tradierte Text wenig Möglichkeiten, sich gegen entstellende Interpretationen zu wehren, was lebendige Gesprächspartner im Hinblick auf Missverständnisse temperamentvoll tun können. Nun will das Buch einem besseren Selbstverständnis der Geisteswissenschaften dienlich sein, und deshalb ist es zentral auch gar nicht auf das Verstehen der lebendigen Rede ausgerichtet, sondern befasst sich über weite Strecken mit dem Verstehen und Auslegen von Texten, so wie es
Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers
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auch in der älteren Hermeneutik überwiegend der Fall war. Allerdings gerät der Gadamer-Leser auch im Hinblick auf die Texte in Schwierigkeiten. Denn während alle bisherigen Hermeneutiken sehr deutlich erklärt hatten, für welche Textsorten sie zuständig seien – für alle oder nur für einen Teil –, ergeben sich aus „Wahrheit und Methode“ verschiedene Auskünfte. Zum einen heißt es, „dass grundsätzlich jede schriftliche Überlieferung verstanden werden kann“ (380), ja, dass „dem Verstehen grundsätzlich keine Grenze gesetzt ist“ (379). Demnach stellt sich Gadamer in die Nachfolge der „hermeneutica generalis“, der allgemeinen Hermeneutik, die seit dem 17.Jh. entstand, die allerdings bisher immer auch Grenzen des Verstehens anerkannt hatte. Andererseits aber erklärt Gadamer es, wie erwähnt, zur Bedingung des Verstehens, dass wir bereits in der „Wirkungsgeschichte“ des Interpretandums stehen und seiner Tradition auch „zugehören“ (247 ff., 275, 279). Dadurch engt sich die Menge der verstehbaren Texte aber erheblich ein, und diese Hermeneutik verliert z.B. für Sinologie und Japanologie jedes Interesse. Wird in diesen Fächern etwas verstanden, so scheint es, dann nur von Chinesen und Japanern. Tatsächlich ist der Akzent auf der „Zugehörigkeit“ des Interpreten zu seinem Interpretandum so stark, dass eine interkulturelle Hermeneutik hier kein Fundament findet, ja eigentlich als unmöglich gelten muss.4 Aber auch wenn wir weiterfragen, ob es denn zumindest eine Hermeneutik sei, die für eine bestimmte Tradition Geltung hat und den Europäern zeigt, wie sie die gesamte europäische Literatur, den Chinesen, warum und wie sie die chinesische Tradition verstehen und auslegen können, fällt die Antwort unseres Buches nicht eindeutig aus, und näher besehen wird der Bereich des Interpretandums nochmals eingegrenzt. Denn es gehört, wie Gadamer bekanntlich ausführt, zu einer Interpretation nicht nur das Verstehen (intelligere) und das Auslegen (explicare), sondern auch das Anwenden (applicare). Lassen sich wirklich alle Texte, die von den Geisteswissenschaften inzwischen interpretiert werden, auch „anwenden“? Der Rechtshistoriker F. Wieacker hat begründeten Einspruch erhoben: Wenn auch der Richter die Gesetze auf die vorliegenden Fälle appliziere, so verfahre doch der Rechtshistoriker mit seinem Stoff ganz anders.5 Aber Gadamer hat sich nicht beirren lassen und an seiner These festgehalten; egal ob Rechtsgeschichte oder richterliche Praxis: Verstehen schließe immer Anwendung ein und vollende sich in ihr. Sieht man näher zu, liegt für Gadamer die „Anwendung“ in der rechtshistorischen Interpretation vor allem im Aufweis der „Bedeutung“ alter Gesetze für die Gegenwart (311). Nun wird man aber nicht behaupten wollen, alle Gesetze vergangener Jahrhunderte gehörten nach wie vor zu der Überlieferung, die „in die Gegenwart hineinspricht“ (311), sondern zugeben müssen, dass viele Gesetze der Vergangenheit ihre Bedeutung für die Gegenwart
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schlicht verloren haben. Durch keine Hermeneutik werden sie ihre Geltung zurückerlangen, und in den meisten Fällen werden wir dies auch begrüßen. Indem Gadamer die Bestimmung der Bedeutung eines alten Textes für die Gegenwart mit zur „Anwendung“ zählt, subsumiert er dieser offensichtlich auch den Bereich, der sonst „Kritik“ hieß. Solche die Hermeneutik ergänzende Kritik – so wird besonders bei F. Schleiermacher, A. Boeckh und E. D. Hirsch6 deutlich – trägt an den Text Fragestellungen heran, die in ihm nicht vorkommen, und kann so z. B. auch die Bedeutung eines Textes für die Gegenwart erhellen. Gerade im Bereich des Rechts zeigt sich, wie sinnvoll es ist, am Unterschied zwischen Kritik und Anwendung festzuhalten. Denn dem Rechtshistoriker steht es frei, vergangenes Recht in seinem Kontext kritisch zu würdigen, es auf die Gegenwart zu beziehen und dabei vielleicht zur Auffassung zu gelangen, dass es ein sehr ungerechtes Recht gewesen sei, während er die alten Gesetze natürlich nicht anwenden kann. Umgekehrt aber ist der Richter zur Anwendung des geltenden Rechts geradezu gezwungen, während ihm eine Kritik dieses Rechts in seiner richterlichen Praxis verboten ist. Die allgemeine These, Interpretation schließe Anwendung ein, kann also Gadamer nur deshalb mit einiger Mühe aufrechterhalten, weil er zur Anwendung auch die Kritik zählt, was nicht zur Erhellung der Sachlage beiträgt. Natürlich ist es nur die eine Seite der Kritik, die affirmative, die Gadamer „Anwendung“ nennen kann, und es ist kein Zufall, dass er den Begriff der Kritik durch den der Anwendung ersetzt; geht es ihm doch darum, den „Lebensbezug“ der Überlieferung zu betonen und die Geisteswissenschaften davon abzuhalten, diesen Bezug durch Kritik und Verwissenschaftlichung zu untergraben.7 Lassen wir die Frage beiseite, ob nicht gerade auch der „Lebensbezug“ Traditionskritik nötig macht – „prüfet aber alles, und das Gute behaltet“, sagte der Apostel Paulus8 –, und konzentrieren uns auf das Interpretandum, so stellen wir fest, dass mit der Tilgung der Kritik der Gegenstand des Verstehens so überhöht wird, dass er zu entschwinden droht. Wird ein Literaturhistoriker wirklich davon ausgehen, alle Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart enthalte jeweils eine „überlegene Wahrheit“ (320)? Oder wird er sich nur mit Dichtungen befassen, von denen er dies glaubt? Ja, findet sich überhaupt ein Text, von dem wir die „vollkommene Wahrheit“ (278) erwarten? Diese erwarten nicht einmal die christlichen Kirchen von allen Texten der Bibel. Gut also, dass wir bei Gadamer auch die weichere Formulierung finden, wir sollten die Möglichkeit offen halten, dass der Text es besser weiß als wir (ebd.). Allerdings wird auch das Verstehen so beschrieben, dass es bei kaum einem Text gelingen kann. Denn wenn alles Verständnis ein „Einverständnis“ ist und alles Verstehen auf ein inhaltliches Einverständnis ab-
Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers
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zielt (168, 276, 507), dann bleiben selbst von der eigenen Tradition kaum noch Texte für die Geisteswissenschaften übrig. Kein Historiker könnte sowohl das „Kommunistische Manifest“ als auch Hitlers „Mein Kampf“ verstehen, und Gadamer hätte in seinem Buch vor Augen geführt, dass er – mit wenigen Ausnahmen wie Aristoteles, Yorck und Heidegger – keinen Autor versteht, da er sie alle kritisiert und keineswegs mit ihnen einverstanden ist.9 So besteht m. E. nur die Möglichkeit, jene Aussagen zum Verstehen zu korrigieren oder aber die Tradition auf die Texte zu beschränken, die als wahr gelten – aber dies hieße vermutlich, die Tradition auszulöschen. II. Kunst und Ausdruck Hatten wir bei der erwähnten Überschrift – „Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Gegenstandes“ – die Überzeugung gewonnen, die philosophische Hermeneutik habe es nur mit der Sprache zu tun, so erfahren wir schon im zweiten Satz jenes Kapitels, dass dies nicht zutrifft, sondern die „sprachliche Überlieferung“ nur „gegenüber aller anderen Überlieferung einen eigentümlichen Vorrang“ hat (367). Tatsächlich handelt diese Hermeneutik z. B. auch vom Verstehen nicht-sprachlicher Künste, so von bildender Kunst und Musik (z. B. 376 f.). Das „Auszulegende“ – heißt es in merkwürdigem Kontrast zur Überschrift – brauche nicht „sprachlicher Natur“, es könne auch „ein Bildwerk oder ein Tonwerk sein“ (376). Schon der erste Teil unseres Werkes hatte ausführlich von der Kunst und ihrer Wahrheit gehandelt und dabei proklamiert, die Ästhetik müsse in Hermeneutik aufgehen (157), und das kann nur heißen, in die gadamersche. Wir sind von der Richtigkeit dieser Forderung schon deshalb nicht überzeugt, weil auch im Feld der Kunst sich ein Missverhältnis zwischen Gegenstandsbereich und allgemeiner Verstehenstheorie zeigt. So wird einerseits von Gadamer anerkannt, dass „absolute Musik“ „eine reine Formbewegtheit als solche, eine Art klingender Mathematik ist“ (87) und dass sich musikalische Traditionen ausbilden (113). Andererseits aber kann er offensichtlich nicht recht akzeptieren, dass es einen spezifisch musikalischen Sinn gibt, der nur hörend erfasst wird und der keiner sprachlichen Auslegung bedarf. Um zumindest seine Auffassung, der „hermeneutische Vollzug“ sei durch „Sprachlichkeit“ gekennzeichnet und alles Verstehen schließe eine sprachliche Auslegung ein (373 ff.), auch an der Musik zu bestätigen, versichert er uns, alle künstlerische Interpretation, also auch die Aufführung eines Musikwerkes, sei grundsätzlich einer sprachlichen Rechtfertigung fähig (377). Hat man Zweifel, ob das stets zutrifft und solche Rechtfertigungen sehr vielsagend sind, so muss man doch zunächst feststellen, dass durch die mögliche sprachliche Rechtfertigung einer musi-
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kalischen Interpretation diese nicht zu einem „sprachlichen Geschehen“ wird, ebenso wenig wie eine Handlung, etwa das Anstreichen einer Hauswand, sich schon deshalb in einen Sprachvorgang verwandelt, weil dergleichen sprachlich gerechtfertigt werden kann. Es wäre also angemessener, zuerst festzuhalten, dass es auch außerhalb der Sprache verstehbaren Sinn gibt. Hätte Gadamer Recht und das Verstehen schlösse immer eine sprachliche Auslegung ein, wir säßen im Konzertsaal und murmelten vor uns hin, um die Töne in Worte zu übersetzen, oder wir verstünden das Gehörte nur, wenn wir es im Programm erläutert und am nächsten Tag in der Zeitung beschrieben fänden. Aber das Gegenteil trifft zu: Nur die Banausen wünschen in der Musik immer einen sprachlichen Leitfaden, der ihnen sagt, was sie da hören. Noch schwieriger wird es, wenn wir nach der „Anwendung“ im Musikverstehen fragen. Wenn Gadamer bei einer Werkaufführung, also bei einer Interpretation qua Reproduktion, in der Anpassung eines älteren Werkes an den Gegenwartsstil eine „Anwendung“ sieht (294), so bedeutet das schon eine arge Strapazierung des Begriffs, da ja in diesem Fall eher die neueren Stilnormen auf die ältere Kunst angewendet werden – also das Gegenteil von dem, was er sonst Anwendung nennt. Aber im hörenden Musikverstehen eine Anwendung zu suchen dürfte gar nicht sinnvoll sein. Die Notizen von Dilthey zum Musikverstehen10 sind deshalb noch immer fruchtbarer als die Andeutungen Gadamers, mag auch Diltheys leitender Begriff des Lebens noch so erläuterungsbedürftig geworden sein.11 Ähnlich verhält es sich mit der bildenden Kunst. Zwar kann Gadamer das Sehen von Bildern als „artikulierendes Lesen“ beschreiben (86) und eine Ontologie des Bildes entwerfen. Ja, er weiß auch, dass die „sprachliche Auslegung grundsätzlich nur approximative Richtigkeit“ besitzt und hinter dem Kunstwerk immer zurückbleibt (378). Aber dennoch wird auch hier von ihm ein eigener, nur optisch erfassbarer Bildsinn nicht recht anerkannt, da er am „Vorrang der Sprache“ festhält. Das wird damit begründet, dass alle Kunstproduktion sich in einer sprachlich artikulierten Welt und aufgrund sprachlich artikulierbarer Absichten vollzieht. Aber während diese Sprache doch gänzlich ihren Inhalt und Sinn verliert, wenn die Bilder fehlen, können diese auch dann noch faszinieren, wenn wir über den Sprachkontext nichts wissen. Es wäre deshalb besser, vom „Vorrang des Sehens“ zu sprechen, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption und ebenso in der Kunstwissenschaft. Gadamer hat Hegels Begriff des Geistes durch den der Sprache ersetzt, aber da dieser natürlich enger ist als jener, ist seine Kunstphilosophie noch problematischer als die hegelsche. Wie es ein künstlerisches Produzieren in Tönen, Farben und Formen gibt, so eben auch ein musikalisches und bildnerisches Verstehen, ein Verstehen, das sich in nicht-sprachlichen Zeichensystemen bewegt. Darauf
Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers
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hinzuweisen bedeutet keineswegs, eine „falsche Romantisierung der Unmittelbarkeit“ des Verstehens zu betreiben, wie es bei Gadamer heißt (377), da eben das spezifisch künstlerische Denken und Verstehen natürlich auch vermittelt sind, nämlich durch die Vertrautheit mit den verschiedenen künstlerischen Sprachen. Nicht erst die Romantiker, sondern schon die Theoretiker aus der Leibniz-Schule konnten diesem Sachverhalt viel gerechter werden als Gadamer. Denn sie begriffen die Lehre vom Zeichengebrauch, die semiotica oder characteristica, und die Lehre vom Verstehen der Zeichen, die hermeneutica, als zwei komplementäre Disziplinen,12 und aus dieser Konzeption folgt, dass sich das Verstehen jeweils auf die Verschiedenheit der Zeichen einlassen muss. Besonders die Ästhetik des 18. Jh. hat viele Beobachtungen zu der Frage angestellt, welche Fähigkeiten der Darstellung die einzelnen Kunstgattungen haben – Lessings „Laokoon“ ist nur das berühmteste Beispiel –, und das unaufgebbare Resultat der Debatte war, dass die künstlerischen Zeichen sehr verschiedene Kompetenzen der Sinnvermittlung haben. Gadamer kann diese Differenzen offensichtlich nicht – oder nur widerwillig – anerkennen, da sie seiner These vom sprachlichen Verstehen widersprechen. Natürlich wollen wir dankbar sein, wenn Gadamer die Wichtigkeit der Sprache für alle Geisteswissenschaften betont. Denn diese benötigen unbestritten für ihre Interpretationen stets die Sprache, und auch die nichtsprachlichen Künste sind in verschiedener Weise auf Sprache bezogen; weder ihre Produktion noch ihre Rezeption bleibt von der Sprache ganz unberührt. Aber will man das komplizierte und sich wandelnde Verhältnis von sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen aufklären, darf man nicht sogleich von der Sprachlichkeit des Interpretandums und des Verstehens ausgehen, sondern davon, dass es auch außerhalb der Sprache so etwas wie verstehbaren Sinn gibt,13 dessen Erfassung einer Applikation nicht bedarf. Denn natürlich vermag uns Gadamer nicht zu sagen, worin die Anwendung im Bildverstehen liegen könnte. So kommen wir auch hier zum Ergebnis, dass entweder die Verstehenstheorie geändert werden oder diese Hermeneutik ihren beanspruchten Geltungsbereich aufgeben muss. Das trifft auch schon für das anthropologische Phänomen des Verstehens von leiblichem Ausdruck zu, dem Verstehen von Mimik und Gestik, worin Dilthey mit Recht ein – sowohl genetisch als sachlich – fundamentales Verstehen erblickt hatte, auf dem alles andere aufbaut.14 Zwar heißt es gelegentlich in „Wahrheit und Methode“, dass „die Sprache der Gebärde und des Tones immer schon ein Moment von unmittelbarer Verständlichkeit enthält“ (156). Aber lässt sich dies unmittelbare Verstehen z. B. des Ausdrucks von Trauer wirklich angemessen als ein „Sichverstehen“ kennzeichnen, wie wir an anderer Stelle lesen (246)? Wäre es nur dies, das Verstehen würde den anderen gar nicht erreichen und wäre folglich keines.
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Dilthey hatte den „rätselhaften Tatbestand“ des Fremdverstehens plausibler als Übertragung und Analogieschluss gekennzeichnet, der gerade im Falle der Sympathie gelinge.15 Gadamer nimmt darauf Bezug, aber nur, um uns zu belehren, dass Sympathie „doch sehr viel mehr als nur eine Erkenntnisbedingung“ sei (219) – so, als wäre weder Dilthey noch er selbst nicht gerade an solchen Bedingungen interessiert! Letztlich ist das unmittelbare Verstehen des Ausdrucks in Gadamers Hermeneutik ein Fremdkörper. Denn dieses Verstehen findet in dessen „Theorie der hermeneutischen Erfahrung“ nicht nur keinen Platz, sondern ist mit allen dort gegebenen Bestimmungen unvereinbar. Welchen Sinn sollte auch die Behauptung haben, das Verstehen der Zeichen des Schmerzes oder der Freude auf dem Gesicht des Mitmenschen setze stets ein Vorurteil voraus, sei ein geschichtliches Sprachgeschehen, vollende sich in einer immer überzeichnenden, erhellenden sprachlichen Auslegung (z. B. 378) und in ihrer Anwendung? Deshalb kommen wir abermals zu dem Resultat, dass die Reichweite dieser Hermeneutik viel schmaler ist als beansprucht. Weder Phänomene des Gefühlsausdrucks noch solche der nicht-sprachlichen Künste passen in sie hinein. Dabei dürfte aber gerade das Ausdrucksverstehen eine wichtige Voraussetzung aller Geisteswissenschaften und deshalb die Anknüpfung z. B. an H. Plessner zu empfehlen sein. Wenn heute das deutsche Wort „Einfühlung“ als geisteswissenschaftlicher Kitsch gilt, so ist doch die Sache damit noch nicht als unsinnig aus der Welt gebracht, gilt doch der Mangel an „Empathie“ (die eingedeutschte englische Übersetzung jenes Wortes) in der Psychologie als Defekt, welcher der Therapie bedarf – das sollte zu denken geben.16
III. Handlung und Geschichte Obwohl z. B. schon J. G. Droysen und besonders ausführlich Max Weber das Verstehen von Handlungen reflektiert hatten und Gadamers Hermeneutik die Weite des Verstehens zeigen möchte, suchen wir Handlungen als mögliche Interpretanda in seinem Buch vergebens. Erst in einem Zusatz zur Zweitauflage wird kurz Webers verstehende Soziologie erwähnt – aber nur, um sie als „eine monumentale Grenzbastion der ‘objektiven’ Wissenschaft“ sofort beiseite zu schieben (479). Auch wird nicht erörtert, ob „Brauch und Sitte“ – bei Gadamer typische Teilbereiche der „Überlieferung“ (367) – wirklich genauso verstanden und ausgelegt werden wie klassische Texte (was eine Frage wert gewesen wäre). Dennoch beansprucht diese Hermeneutik auch Geltung für das Verstehen der Geschichte und will die Geschichtswissenschaft sogar aus ihrer „Selbstvergessenheit“ herausführen (323).
Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers
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Dass seine Hermeneutik auch das Amt der Historik übernimmt, macht Gadamer uns auf zwei Wegen deutlich: zuerst gleichsam genealogisch und dann systematisch. Im Kapitel über die „Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik“ vertritt er die These, die Historik des 19. Jh. sei auf der „verhängnisvollen“ Grundlage der romantischen Hermeneutik errichtet worden (186 f.): Die Auffassungen von Geschichte und Geschichtsforschung bei Ranke, Droysen und Dilthey wurzelten in Schleiermachers Hermeneutik, wenngleich dies erst bei Dilthey klar heraustrete (was sicherlich abwegig ist). War so für Gadamer die Historik des 19. Jh. auf einer „fragwürdigen“ Grundlage errichtet, so stellt sich seine eigene philosophische Hermeneutik nun als die neue, solidere Historik dar, und zwar im Kapitel über die „exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik“, wo wir die Historik nicht erwartet hatten. Vergegenwärtigen wir uns seinen Gedankengang: Zunächst wird die Verschiedenheit von Hermeneutik und Historik erläutert: Die hermeneutische Interpretation, die der Philologe betreibe, erhelle den Sinn der Texte und folge deren Sinnrichtung, die historische Interpretation aber befrage die Quellen auf etwas hin, was diese nicht aussagen wollen: die „Wirklichkeit“ (318f.). Sieht man davon ab, dass man einerseits diese Wirklichkeit nicht den „verborgenen und zu enthüllenden Sinn“ der Quellen (319) nennen sollte und andererseits manche Quellen, z. B. Chroniken, die Wirklichkeit durchaus schon selbst festhalten möchten, so leuchtet jene Unterscheidung ein, und man kann sie übrigens bei A. Boeckh und J. G. Droysen näher studieren. Denn für den Philologen Boeckh war Interpretation wesentlich Rekonstruktion des Textsinnes, für den Historiker Droysen aber hieß Interpretation, auf der Grundlage der Quellen einen sonst nirgends gegebenen historischen Zusammenhang zu erarbeiten.17 Gadamer aber will es dabei nicht belassen, da er in jeder Interpretation die Anwendung, d. h. den Gegenwartsbezug aufweisen möchte. Um diesen auch für die Geschichtswissenschaft deutlich zu machen, erklärt er jene Trennung für falsch und behauptet, der Historiker und der Philologe täten beide dasselbe, nur habe es Letzterer mit einem Teilbereich, Ersterer aber mit dem Ganzen zu tun: „Für den Historiker tritt […] der einzelne Text mit anderen Quellen und Zeugnissen zur Einheit des Überlieferungsganzen zusammen. Die Einheit dieses Ganzen der Überlieferung ist sein wahrer hermeneutischer Gegenstand. Sie nun muß er im selben Sinne verstehen, wie der Philologe seinen Text in der Einheit seiner Meinung versteht. So muß auch er eine Applikationsaufgabe vollbringen. Das ist der entscheidende Punkt. Das historische Verstehen erweist sich als eine Art Philologie im großen“ (322). „Wenn der Philologe den gegebenen Text, und das heißt, sich in dem angegebenen Sinne in seinem Text versteht, so versteht der Historiker auch noch den großen, von
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ihm erratenen Text der Weltgeschichte selbst, in dem jeder überlieferte Text nur ein Sinnbruchstück, ein Buchstabe ist, und auch er versteht sich selbst in diesem großen Text“ (323). Jeder aufmerksame Leser dieser Sätze dürfte verblüfft sein. Denn als Gadamer mit Vehemenz gegen den „romantischen“, „pantheistischen“ und „ästhetischen“ Historismus bei Schleiermacher, Ranke, Droysen und Dilthey zu Felde zog und diesen vorwarf, bei ihnen gerate die Historie „in das Fahrwasser der Philologie“ (186), denn sie verwandelten die ganze Geschichte in ein Buch, in einen sinnvollen „zu entziffernden Text“ (227), da hatte man den Eindruck, er selbst wolle die Kontingenzen und Irrationalitäten, die Grausamkeiten und Sinnlosigkeiten der Geschichte berücksichtigt wissen. Nun aber ist gerade er es, der die Weltgeschichte zu einem sinnvollen Text und den Historiker zum Philologen erklärt. Nur mit großer Mühe kann er sich von seinem Gegner unterscheiden: Für den Historismus war, so scheint es, „das große Buch der Weltgeschichte einfach aufgeschlagen“ – für Gadamer aber muss deren Text stets neu interpretiert werden; die Historisten begriffen sich laut Gadamer als distanzierte Leser – die Historiker aber müssen sich selbst als Teil des Geschichtstextes verstehen (323). Aber macht man sich klar, dass Dilthey die Frage nach dem Sinn der Geschichte als veraltete Metaphysik ausdrücklich zurückgewiesen und Elemente des Positivismus rezeptiert hatte;18 dass Ranke die Historie eng mit der Politik verknüpfte;19 dass Droysen keineswegs die Geschichte „nur in ästhetisch-hermeneutischen Kategorien“ dachte (205), sondern eine Theorie der Sittlichkeit zu Grunde legte und die Standortgebundenheit des Historikers betonte;20 dass schon bei Schleiermacher nicht die Hermeneutik, sondern die Ethik die „Wissenschaft der Geschichtsprinzipien“ war21 und die Hermeneutik die Kritik zur Seite hatte – dann lässt sich kaum der Schluss vermeiden, dass Gadamer mit seiner Historismus-Kritik einen Feldzug gegen sich selbst geführt hat; erklärt doch nur er selbst die Weltgeschichte zu einem „großen Text“, der – wie alle anderen Texte – stets neu und anders gelesen werden muss. Gadamers Gegenstandsbestimmung der Geschichtswissenschaft ist einerseits zu weit und andererseits viel zu eng. Sie ist zu weit: Wenn die Historiker zu Spezialisten für die ganze Überlieferung und für die Weltgeschichte werden, dann werden aus allen anderen Geisteswissenschaften – Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Theologie und Religionsgeschichte, Jurisprudenz und Rechtsgeschichte, Literatur- und Kunstwissenschaft usw. – nur noch Zuarbeiter für die Geschichtswissenschaft, damit diese den Sinn des Ganzen errate. Da wir nun in „Wahrheit und Methode“ nirgends ausgeführt oder auch nur angedeutet finden, wie diese „Einheit des Ganzen“, dieser „wahre hermeneutische Gegenstand“ der Geschichtswissenschaft, denn entdeckt oder erraten werden könnte, sollte man zuerst
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einmal zur Kenntnis nehmen, dass die Historiker von Profession seit dem 19. Jh. ein solches Projekt einer Weltgeschichte mit großer Skepsis betrachten und es neidlos den Literaten und Philosophen überlassen. Gadamers Bestimmung des historischen Gegenstands der Geschichtswissenschaft aber ist vor allem viel zu eng, da das Wichtigste fehlt. Hatte die Historie es sich immer zur Aufgabe gemacht, die res gestae, die Ereignisse, zu erkunden und aufzuschreiben, und erforscht das Fach Geschichte heute zentral die politisch-soziale Wirklichkeit, so ist bei Gadamer nur von der „Einheit der Überlieferung“ die Rede. Sollten aber Entstehung und Zerfall von Staaten und Gesellschaftsformen, Weltkriege und Hungersnöte, Genozid und Diktaturen usw. wirklich mit zu dieser „Einheit der Überlieferung“ hinzugehören? Oder sollte Gadamer meinen, wir wüssten von solchen Dingen nur aufgrund der Überlieferung? Aber dann wären sie erstens noch immer von der Überlieferung verschieden und die historische Interpretation deshalb keine philologische; und zweitens gehörten dann nicht nur „Mythos, Sage, Brauch und Sitte“ (367) zur Überlieferung, sondern auch alle Archivbestände, alle Überreste der Vergangenheit, die man z. B. in bestimmten Gedenkstätten besichtigen kann – und dies scheint mir nicht recht zur sonst gegebenen Bestimmung der Überlieferung zu passen, die doch unser Einverständnis fordert. Deshalb kommen wir vermutlich nicht um die Einsicht herum, dass Gadamers philosophische Hermeneutik, welche die Historie aus ihrer „Selbstvergessenheit“ heimholen will, deren Gegenstand in „Überlieferung“ aufgelöst oder hinter dieser zum Verschwinden gebracht hat. Rankes oft kritisiertes Wort, die Historie solle zeigen, „wie es eigentlich gewesen“, war doch insofern völlig richtig, als der Historiker nicht zu Gunsten philosophischer Konstruktionen auf kontrollierbare Tatsachenaussagen verzichten kann, will er nicht aufhören, Historiker zu sein – Gadamer aber ermutigt die historische Zunft, der realen Geschichte den Rücken zuzukehren. Während er Dilthey vorwirft, er habe die Geschichte in „Geistesgeschichte“ aufgelöst (227) (wenngleich dieser z. B. von historischen Kausalitäten sprechen konnte), besteht für ihn selbst die „Macht der Geschichte“ nur in der „Wirkungsgeschichte“ (285). – Aber sollten auch die Historiker sich eines Tages wirklich nur noch mit der „Überlieferung“ befassen, sie werden Gadamers Anforderung nicht erfüllen können. Denn ist schon die Rede von der „Einheit der Überlieferung“ in einem einzigen Feld wie der Theologie hoch problematisch, so wird sie im Hinblick auf die Weltgeschichte nahezu absurd. War der Historismus des 19. Jh. „verhängnisvoll“ für die Geisteswissenschaften – oder ist es diese Hermeneutik? Nun ist auch in diesen Punkten Gadamer – zum Glück – nicht ganz konsequent geblieben. Denn an einer Stelle kennt er die Vielstimmigkeit der Tradition (268), und an anderer Stelle scheint er beiläufig die Überliefe-
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rung doch von der historischen Realität zu trennen: Die Überlieferung vermittele uns z. B. auch „die Kunde von einem großen Geschehen“ (438, vgl. 451). Aber nirgends wird deutlich betont, dass es einen erheblichen Unterschied bedeutet, den Sinn der Quellen und die historische Realität zu verstehen. Auch wenn wir gelegentlich lesen, der Historie gehe es jeweils um „die Bedeutung eines Ereignisses“ (451), können wir zustimmen. Nur muss man hinzufügen, dass es sehr oft der Historie auch nur um die Ereignisse geht (weil deren Bedeutung niemand bestreitet), und außerdem wäre zu betonen, dass für die Bedeutungsbestimmung eines Ereignisses wie der Konvention von Tauroggen der Historiker auf eine Universalgeschichte eben gut verzichten kann. – In seiner späteren Selbstkritik hat Gadamer dann seine Auffassung weitgehend aufgegeben: „Historie ist nicht nur Philologie im großen […]. Es ist vielmehr ein anderer Sinn von Text und damit auch von Verstehen des Textes in beiden Fällen im Spiele.“ Aber noch immer ist die historische Realität ein „Text“, dessen „Sinn“ der Historiker sucht – wenn vielleicht auch vergeblich.22 Es steht zu befürchten, dass sich die Historiker auch in diesen Aussagen nicht wieder erkennen. Koselleck, der von Gadamer Anregungen für seine historische Semantik erhielt, hat es jedenfalls ausdrücklich abgewiesen, von einem „Sinn der Geschichte“ zu sprechen.23
IV. Selbst und Welt Wir hatten schon zitiert: Die Historiker und die Philologen sollen mit dem Verstehen der Texte und der Geschichte auch sich selbst verstehen. Damit sind wir schon in den schwierigsten Bereich der „hermeneutischen Gegenstände“ eingetreten, die vor allem am Schluss des Werkes, in der „hermeneutischen Ontologie“ oder der Ontologie der Sprache, erscheinen. Man könnte diese Ontologie als Schlüssel aller erörterten Probleme bezeichnen, sollte sie aber besser deren Quelle nennen. Hier wird in besonderer Weise deutlich, warum diese Hermeneutik sich „philosophisch“ nennt: Sie hat es mit dem Verstehen auch des „Seins“ zu tun. Hatte man bei der ersten Lektüre des berühmten Satzes „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (450) noch die Hoffnung, es möchte auch noch unsprachliches Sein übrig bleiben, selbst um den Preis, dass es unverständlich ist, so erfahren wir bei genauem Zusehen, dass tatsächlich das „Sein Sprache, d. h. Sichdarstellen“ ist (461) und – wie der Kontext zeigt – auch die Welt, die Natur, die Dinge und wir selbst verstanden werden.24 Den unbefangenen Leser irritiert nicht nur, dass alles verständlich, sondern mehr noch, dass alles Sprache ist, und ich wage zu bezweifeln, dass jedermanns „hermeneutische Erfahrung“ diese Auffassung als zutreffend bestätigen
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wird, und sie passt übrigens auch nicht zur zitierten Aussage, das Interpretandum müsse gar nicht sprachlich sein, die Sprache habe nur einen Vorrang (366 f.). Hätte man schon Stoff genug fürs Nachdenken, wenn nur behauptet würde, unser „Weltverhältnis“ sei sprachlich (451), da wir uns doch auch handelnd und fühlend zur Welt verhalten und nicht nur redend, so legt diese Identifizierung von Sprache und Sein/Seiendem unseren Verstehensbemühungen unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Vielleicht kann man von Heidegger her nachzeichnen, wieso dergleichen geschrieben werden kann, aber durch solche Herleitung wird der Gedanke selbst noch nicht wirklich nachvollziehbar. So sollten wir mit dem Sensus communis, auf den uns Gadamer nachdrücklich verweist (16 ff.), vorerst daran festhalten, dass die Sprache und die Dinge sich unterscheiden und dass es etwas anderes ist, die Rede eines Kollegen oder das Rauschen eines Baches zu hören, wirklich zu handeln oder nur darüber zu reden. Konzentrieren wir uns auf unsere Leitfrage und suchen wir zu erkunden, ob auch die Dinge, die Welt, das Sein und wir selbst in dieser Hermeneutik jeweils ein „Interpretandum“ sind, so werden wir unsicher. Denn einerseits nennt Gadamer diese Gegenstände m. W. nirgends ausdrücklich „das Auszulegende“, zeigt uns nirgends genauer, wie sie denn ausgelegt werden, und sie sind ja auch immer schon ausgelegt. Außerdem legen sich das Sein und die Welt offensichtlich selbst aus, indem sie sich „darstellen“, in Sprache (426, 459, 461). Aber andererseits werden diese Bereiche laut Gadamer eben auch verstanden, und seine Philosophie will uns ganz offensichtlich deutlich machen, dass wir durch die übernommene Sprache und ihre Weiterentwicklung fortwährend in unserem Welt- und Selbstverhalten verstehend und auslegend tätig sind. So können wir nur festhalten, dass diese philosophische Hermeneutik auch vom Verstehen des Seins, der Welt, der Dinge usw. handelt. Ich überlasse die Frage, wie das Sein und die Welt durch uns hindurch sich selbst auslegen, den Spezialisten der Spätphilosophie Heideggers (mir scheint dies nur ein Stück säkularisierter Theologie zu sein) und mache nur darauf aufmerksam, dass die Dinge, die Natur, die Welt, das Sein – vielleicht auch Gott? – doch zumindest eine ganz andere Sorte von Interpretanda darstellen als etwa sprachliche Texte, mit denen sich die Geisteswissenschaften beschäftigen. Gadamer scheint hier keine Unterschiede und Probleme zu erkennen, denn wir lesen: „Wie die Dinge, diese durch Eignung und Bedeutung konstituierten Einheiten unserer Welterfahrung, zu Worte kommen, so wird auch die Überlieferung, die auf uns kommt, erneut zur Sprache gebracht, indem wir sie verstehen und auslegen. Die Sprachlichkeit dieses Zursprachekommens ist die gleiche wie die Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung überhaupt“ (432). Diese Identifizierung des Verstehens und Auslegens in den beiden Berei-
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chen scheint mir nicht einleuchtend zu sein. Halten wir uns, was die Dinge angeht – um in Gadamers Nähe zu bleiben –, vorerst an die Beispiele Heideggers, so haben „Tisch, Tür, Wagen, Brücke“ eben doch wenig Ähnlichkeit mit den Texten der Geisteswissenschaften.25 Jene Dinge – um mit Gadamers Hermeneutik zu argumentieren – werden wir doch kaum immer anders verstehen müssen, wenn wir sie überhaupt verstehen wollen, werden sie auslegend nicht überzeichnen usw. Texte sind selbst Sprache – die Dinge aber sind Gegenstände der Sprache; Texte kann man vorlesen – Dinge nicht; aus Texten kann man Teile (Wörter und Sätze) in die eigene Rede übernehmen, zitieren – aus Dingen nicht. Allerdings wären Tisch, Tür, Wagen und Brücke z. B. auch schon bei A. Boeckh Gegenstände des hermeneutischen Verstehens – jedoch nicht, weil sie selbst oder ihre Auslegung sprachlich, sondern weil sie bewusste Produkte des Menschen sind und sich seinen Zwecksetzungen verdanken. Deshalb fällt bei Boeckh zwar die gesamte Kultur, nicht aber die Natur in den Bereich der Hermeneutik. Das ist bei Heidegger und Gadamer anders. Die Unterscheidung von Natur und Kultur wird von ihnen zu unterlaufen gesucht, da solche Trennung erst das Ergebnis der Wissenschaften sei (vgl. 245).26 Das bedeutet nicht, dass ihre Hermeneutik die ältere Metaphysik der Natur erneuert, nach welcher diese als Sprache des göttlichen Geistes gelesen und verstanden werden kann. Zwar hat Gadamer den älteren Topos vom „Buch der Natur“ kurz erwähnt, aber mit keinem einzigen Argument als noch immer sinnvoll erwiesen. Nein, der Grund für die Gleichstellung von Texten und Dingen scheint nur in der unbestreitbaren Tatsache zu liegen, dass eben auch die Phänomene der Natur sprachlich artikuliert werden und solche Sprache den Wissenschaften schon vorausgeht. An die Stelle der Unterscheidung Kultur – Natur tritt bei Gadamer die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Sprache, zwischen dem wissenschaftlich „Vorhandenen“ einerseits und dem sprachlich ausgelegten Sein (oder Seienden) andererseits (426 ff.). Und da z. B. Wolken und Gedichte sowohl wissenschaftlich als auch sprachlich thematisiert werden können, erscheinen Wolken und Gedichte in gleicher Weise als etwas, das entweder wissenschaftlich beherrscht und „berechnet“ oder in und mit der Sprache „verstanden“ und „ausgelegt“ werden kann. Also nur, weil die Sprache alles umgreift (382), man über alles sprechen kann und es sogar für das „Unaussprechliche“ und „Unverständliche“ Wörter gibt – eben diese beiden –, hat es unsere Hermeneutik mit allem zu tun, mit Kultur und Natur, mit der Welt und uns selbst. Deshalb ist man versucht, Gadamers Position in dem Satz zusammenzufassen: „Ich spreche, also verstehe ich.“ Den Grund dafür finden wir m. E. schon in Heideggers „Sein und Zeit“, wo dargelegt wird, alles Verstehen sei ein Verstehen als …27 Im Zeichen
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dieses berühmten „hermeneutischen“ und dann „apophantischen Als“ wird erstens alles Verstehen gleich: Ein Funke am Nachthimmel wird als Stern und ein Steingebilde als Mauer verstanden genauso wie dieser Text als Gesetz und jener als Gedicht. Und zweitens kann im Zeichen dieses Als das Verstehen sogleich in Sprache übergehen, ja enthält sie schon: Die Wörter „Stern“, „Mauer“ usw. sind von jenem Verstehen impliziert. – Diese heideggersche Explikation des Verstehensbegriffs wurde nicht nur von Gadamer aufgenommen (z.B. 86), sondern ist fast zum Dogma geworden. Dennoch scheint mir skeptische Vorsicht geboten. Denn wenn in diesem Sinne etwas als etwas verstanden und ausgesagt wird, handelt es sich um die Subsumtion unter einen Begriff oder zumindest um die Einfügung des Interpretandums in die eigene Sprache. Diese Prozedur aber ist im kommunikativen Verstehen erst die halbe und nicht die erste Wahrheit. Denn wenn XY sagt, er verstehe sich als Künstler, so benutzt zwar er selbst das apophantische Als, aber vom Hörer ist fürs Verstehen gar kein weiteres Als erfordert, er versteht schlicht die Rede des Sprechers. Dies Verstehen, das sich im Rahmen der Sprache des Interpretandums bewegt, ist auch das fundamentale Verstehen in den Geisteswissenschaften. Oder habe ich Hegels Texte schon verstanden, wenn ich sie nicht als Dichtungen, sondern als Philosophie auffasste? Und ist wirklich alles Verstehen auch Auslegung (366) und geht deshalb stets in auslegende Rede über? Vollendet sich das Verstehen eines Wortspiels, eines Witzes, einer Sonate oder einer mathematischen Gleichung erst in der Auslegung, die sich im Verstehen als … schon verbirgt? In der heideggerschen Explikation des Verstehens scheint mir durch das apophantische Als das Wichtigste, nämlich der bestimmte individuelle Sinn einer Aussage oder eines Textes übersprungen und ausgeklammert zu sein. Eben deshalb ist sie für die Geisteswissenschaften auch viel weniger fruchtbar als die ältere Hermeneutik, die gerade den bestimmten Sinn von Texten zu verstehen helfen wollte. Und deshalb kann die Philosophie der Postmoderne der Hermeneutik – worunter sie ganz selbstverständlich die von Heidegger und Gadamer versteht – auch mit einigem Recht vorwerfen, sie unterjoche alles den Begriffen und Entwürfen des Interpreten.28 Im Hinblick auf die Disziplin, die vor Heidegger und außerhalb seiner Schule „Hermeneutik“ heißt, ist dieser Vorwurf ganz sinnlos. Deshalb dürfte es geraten sein, das Verstehen keineswegs am eigenen Reden festzumachen, und man sollte das Verstehen von Texten deutlich unterscheiden vom Verstehen der Welt, der Natur usw. Es ist aufschlussreich, zu dieser Frage die Ansicht Diltheys einzuholen. Denn auch er sprach schon vom Verstehen und Auslegen der Welt, nicht nur von Textinterpretationen. Aber die Interpretation der Welt war bei ihm Sache von Sprache, Poesie, Metaphysik und Mythos29 – die Auslegung von Phänome-
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nen der Kultur aber Sache der Geisteswissenschaften.30 Fielen jene aus dem Bereich der Wissenschaft heraus, weil es für sie keine Methoden und in ihnen keine verbindlichen Einsichten gab, so waren in der Wissenschaft Argumentationen und bewährte Verfahren im Hinblick auf richtige Aussagen möglich. Damit ist Dilthey m.E. sowohl den Wissenschaften als auch deren Gegenständen gerechter geworden als Gadamer. Denn die Geisteswissenschaften legen eben z. B. nicht Wolken aus, sondern Gedichte, und für sinnvolle Aussagen der Literaturwissenschaft gibt es im Unterschied zu poetischen Naturinterpretationen gewisse Kriterien. Der Willkür des geisteswissenschaftlichen Interpreten werden durch die intentio auctoris (oder durch die intentio operis)31 Grenzen gesetzt – die Poesie aber kann alle solche Grenzen überschreiten. Gegen verzerrende Interpretationen wird sich der Autor, wenn er will und kann, zur Wehr setzen – die Natur aber hat gegen keine Lyrik oder Metaphysik je Einspruch erhoben. Produkte der Kultur werden einer kritischen Beurteilung unterzogen – die Natur nicht. Deshalb ist denn auch die Verstehensleistung, wenn man davon sprechen will, in beiden Bereichen verschieden, und eine Weltinterpretation ist etwas ganz anderes als eine Textinterpretation. Wenn Gadamer solche Unterschiede überspielt, so stellt sich die Befürchtung ein, dass er die Geisteswissenschaften eigentlich überwinden und an ihre Stelle wieder Mythos und Sage, Metaphysik und Poesie gebracht wissen möchte; sollen doch die Wissenschaften offensichtlich wieder das „wahre Wesen des Hörens“ lernen, nämlich „daß der Hörende auf die Sage, den Mythos, die Wahrheit der Alten zu hören vermag“ (438) (wobei dieses Hören natürlich in das auslegende Sprechen übergeht). Indem diese Hermeneutik – wie die heideggersche – das Verstehen zur Seinsweise des Daseins erklärt und an die sprachliche Auslegung bindet, scheint nichts übrig zu bleiben, was ihr entzogen wäre. Aber durch diese weite Perspektive entgehen ihr erstens die Unterschiede ihrer Gegenstandsbereiche und zweitens berücksichtigt sie nicht das, worauf sonst die Hermeneutik immer ausgerichtet war: den bestimmten, individuellen Sinn des Interpretandums, sei es ein Text, ein Kunstwerk oder eine Handlung.
V. Resümee und Ausblick Gadamers Hauptwerk ist eine von Heidegger initiierte Hermeneutik neuen Typs, die keine Kunst- oder Methodenlehre mehr sein möchte, sondern die Bedingungen des Verstehens aufweisen will (279). Aber auch als eine Art Transzendentalhermeneutik (vgl. 249) muss sie ihren Gegenstandsbereich berücksichtigen. Ähnlich wie z. B. Kants transzendentale Logik auf die Erkenntnis der Erscheinungswelt zugeschnitten ist, wie sie
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von der Physik konstituiert wird, so kann und will auch Gadamers philosophische Hermeneutik ihren Gegenstand auch gar nicht ausklammern, sondern im Gegenteil: Sie will diesen neu und sogar besser als die bisherigen Theorien der Geisteswissenschaften zur Geltung bringen. Dazu gehört, dass die „Gegenstände“ nicht als tote „Objekte“ gekennzeichnet werden, sondern als das, was zu uns spricht. Fragt man aber genauer, welches Verstehen diese Hermeneutik im Auge hat, gerät man in Schwierigkeiten und Widersprüche. Diese resultieren – wie unsere Perspektive zeigt – u. a. aus Unstimmigkeiten zwischen den spezifischen Gegenstandsbereichen einerseits und den allgemeinen Aussagen zum Verstehen andererseits. Hatte man Kant vorwerfen können, er habe mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ noch keineswegs alle wissenschaftliche Erkenntnis grundgelegt – es musste ja schon für die organische Natur die „Kritik der Urteilskraft“ hinzutreten –, so passen doch transzendentale Logik und physikalische Natur sehr wohl zusammen. Eine solche Konsistenz aber scheint mir bei Gadamer zu fehlen. Ja bedenkt man, dass diese Hermeneutik, welche die Universalität des Verstehens zur Geltung bringen möchte, das Verstehen von Handlungen ganz ausklammert, das Verstehen von Gefühlsausdruck nur streift und es ebenso wenig überzeugend begründen kann wie das Verstehen von nicht-sprachlicher Kunst, von Geschichte, ja sogar von Rede im Dialog und von Phänomenen fremder Kulturen, dann fragt man sich, ob der große philosophische Aufwand, mit dem Heideggers „temporale Interpretation des Seins“ (94) weiterentwickelt wurde, sich überhaupt gelohnt und nicht nur unnötige Schwierigkeiten heraufbeschworen hat. Eine philosophische Hermeneutik, welche nach den Verstehensbedingungen fragt, sollte jedenfalls gerade jene von Gadamer an den Rand gedrängte Formen des Verstehens im Auge behalten und deshalb besser z. B. an W. von Humboldt anknüpfen, der hinter den divergenten Sprachen die eine Natur und die eine Vernunft des Menschen wirksam fand,32 und sodann natürlich an die vielfältigen Überlegungen Diltheys und seiner Schule. Bemerkt man die Schwierigkeiten von „Wahrheit und Methode“, wird leicht plausibel, warum der Autor – anders als z. B. Kant – sein Hauptwerk nicht überarbeitete: Die Schäden waren irreparabel. Wenn es in Gadamers späterer Selbstkritik z. B. heißt, er hätte die „Andersheit des Anderen“ stärker herausarbeiten sollen,33 so fügt sich diese Absicht doch nicht in sein durchgängiges Bemühen ein, an die Spätphilosophie Heideggers anzuknüpfen, wie es an seinen Ausführungen zur Wirkungsgeschichte, zum Sprachgeschehen, zur Sprache, die uns spricht (439), deutlich ist. Man kann nicht den Weg von der Subjektivität zur Substantialität (286) einschlagen und dabei zugleich die Subjektivität des anderen Subjektes in den Vordergrund rücken wollen. Aber sein Werk wurde und wird ja auch
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ohne Umarbeitung gelesen und zitiert. Diese erstaunliche Rezeption bedarf allerdings der Erklärung, und dafür sind sicherlich mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Den Szientisten kam das Buch gelegen, da es zu bestätigen schien, dass alle Hermeneutik ein Irrweg ist und extram scientiam exactam nulla salus. Die Anti-Szientisten aber fanden vieles, was sie interessieren musste: eine Rechtfertigung der „Lebensbedeutsamkeit“ der Geisteswissenschaften und eine Kritik an der Herrschaft der Naturwissenschaften; eine Philosophie der Endlichkeit und das Versprechen der Orientierung durch Tradition; eine Verbindung der – sonst für unvereinbar gehaltenen – Philosophien von Hegel und Heidegger und darin den Zauber des Geheimnisvollen: Wer sogar weiß, dass das Sein ein Sprachgeschehen ist und dass die Dinge eine Sprache führen (451), hat der nicht vielleicht die tieferen Einblicke, die uns fehlen? Eine berechtigte inhaltliche Faszination aber dürfte vor allem in der Verzahnung von Traditionsverstehen einerseits und sprachlichem Weltund Selbstverstehen andererseits liegen. Hier ist Gadamer ein getreuer Schüler Heideggers, dessen erste Intuition zu einer eigenen Hermeneutik ja gerade in solcher Verbindung bestand: Das Verständnis der aristotelischen Philosophie setzte für ihn ein richtiges (authentisches) Selbstverständnis voraus, und Aristoteles konnte umgekehrt diesem auch dienlich sein.34 Dadurch wurde die Philosophiegeschichte für die Gegenwart relevant und die Gegenwart mit der Vergangenheit verbunden. Gadamer hat mit seinem Insistieren auf der „Anwendung“ des Interpretandums und der Situationsbedingtheit allen Verstehens (280) jenes Prinzip nachdrücklich zur Geltung gebracht: Die Überlieferungsbestände sollen keine toten Gegenstände sein, sondern dem Verständnis des Daseins und der Orientierung in der Gegenwart dienen, wie umgekehrt das schon immer verstandene Dasein die Textinterpretation bestimmt. Während allerdings beim jungen Heidegger noch der Akzent auf der phänomenologischen Explikation des Daseins lag, hat Gadamer den Akzent verschoben: Das Dasein kann sich nur im Kontext der Überlieferung angemessen verstehen, es ist sich ohne diese selbst gar nicht zugänglich. Und daran bemerkt man den Einfluss des späten Heidegger, der von der Daseinsanalyse abrückte und eine „Wende“ vollzog: hin zu Sprache, Mythos, Dichtung und Kunst, worin oder wodurch das Sein sich „lichtet“. Jenes Verhältnis zwischen Überlieferung und gegenwärtigem Dasein zeigt Ähnlichkeit mit einer schon älteren Figur. Schleiermacher begann seine Vorlesung über Geschichte der Philosophie mit den Worten: „Wer die Geschichte der Philosophie vorträgt, muß die Philosophie besitzen […], und wer die Philosophie besitzen will, muß sie historisch verstehen.“35 Der Grund dafür ist klar: Ohne Kenntnis der Philosophie wird man nicht einmal die philosophische Literatur von anderer unterscheiden und sie
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kaum angemessen verstehen können, und ohne philosophiegeschichtliche Kenntnisse wäre die eigene eine sehr enge und dilettantische Privatphilosophie. Aber wenn bei Schleiermacher das Philosophieren und das historische Verstehen der Tradition sich wechselseitig voraussetzen, werden eben beide Seiten nach wie vor deutlich getrennt, und Schleiermacher hat – anders als Heidegger und Gadamer – sowohl an der Idee richtiger Interpretationen festgehalten und eine entsprechende Hermeneutik konzipiert als auch eine eigene systematische Philosophie ausgebildet. Und dies scheint mir der bessere Gedanke zu sein, denn hier wird dem erwähnten Unterschied zwischen richtigen Interpretationen und richtigen Aussagen zur Sache Rechnung getragen, beide werden schließlich ganz anders begründet. Selbst noch bei Paul Yorck von Wartenburg, der den Unterschied zwischen dem Systematischen und dem Historischen in der Philosophie zu einem veralteten metaphysischen Rest erklärte36 und deshalb als Wegbereiter der neuen hermeneutischen Philosophie gelten kann, zeigt sich Schleiermachers Unterscheidung als sinnvoll und richtig. Denn Yorck hat in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte eine eigene Lebensphilosophie und eigene Begriffe ausgebildet, die keineswegs aus der Geschichte nur aufgelesen sind oder sich durch diese von selbst aufgedrängt hätten. Auch den Zusammenfall von Systematischem und Historischem kann man nur dann behaupten, wenn es einerseits Philosophie (mag diese nur darin bestehen, dass man eine der Philosophien begründet bevorzugt) und andererseits eine genaue Kenntnis der Philosophiegeschichte und eine entsprechende Hermeneutik gibt. Denn wie anders sollte aus der Tradition etwas zu lernen sein? Schleiermachers Unterscheidung gilt aber nicht nur für die Philosophie, sondern in ähnlicher Weise für alle Geisteswissenschaften: Sie müssen sich sowohl über ihre theoretischen Annahmen und Voraussetzungen im Klaren sein als auch ein möglichst genaues Verstehen zu erreichen suchen – und einem solchen hat die Hermeneutik stets dienen wollen, welche Heidegger und Gadamer verabschiedeten.
Anmerkungen 1 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl., Tübingen 1965. Ich zitiere im Folgenden diese Zweitauflage, deren Text nicht mehr geändert wurde, und füge die Seitenzahlen gleich in den Text ein. 2 Gadamer hat in seiner späteren Selbstkritik selbst betont, man müsse im Dialog „den anderen verstehen, wie er es gemeint hat“. Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, Ges. Werke 2, 18. Warum sollte das nicht auch für Texte gelten? 3 F. D. E. Schleiermacher: Ueber den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf
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F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch. In: ders.: Hermeneutik, hrsg. von H. Kimmerle, Heidelberg 1959, 131. 4 Nicht in seiner „Theorie der hermeneutischen Erfahrung“ (250–360), sondern erst bei seiner Anknüpfung an W. von Humboldt kommt Gadamer etwas ausführlicher auf dieses Problem zu sprechen (418). Dass die Möglichkeit, eine Fremdsprache zu lernen, aber nur die Kenntnis der eigenen Sprache voraussetzt, leuchtet nicht ein. Humboldt nahm plausibler eine gemeinsame menschliche Vernunft im Hintergrund der Sprachen an. 5 F. Wieacker: Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik. Nachrichten der Ak. d. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl., Göttingen 1963, 1–22. 6 F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, hrsg. von F. Lücke. Sämtl. Werke, 1/VII. (1838) 265 ff. A. Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften (1. Hauptteil), hrsg. von E. Bratuscheck, Darmstadt 1966, 169ff. E. D. Hirsch: Validity in Interpretation, Yale University 1967, dt. Ausg.: Prinzipien der Interpretation, München 1972, bes. 179 ff., 263 ff. Auch bei Dilthey trat zur Hermeneutik die Kritik hinzu: Beiträge zum Studium der Individualität, Ges. Schriften V, 262. 7 Darin besteht Heideggers und Gadamers Historismuskritik. Siehe dazu: G. Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik. In: Historismus am Ende des 20.Jahrhunderts, hrsg. von G. Scholtz, Berlin 1997, 192–214. 8 1 Thess 5, 21. 9 Gadamers Auffassung wird nicht überzeugender, wenn er sich später vorsichtiger ausdrückt und sagt, durch das Verstehen werde aus dem Gemeinten ein „Gemeinsames“ (19). Hätte er aber mit dem Gedanken Ernst gemacht, die Überlieferung sei nicht nur Vorbild, sondern auch „Abschreckung“ (266), er hätte m. E. das ganze Buch umarbeiten müssen. 10 W. Dilthey: Das musikalische Verstehen. In: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Ges. Schr. VII, 220ff. 11 Zu Diltheys Lebensbegriff siehe F. Rodi: Die Verwurzelung der Geisteswissenschaften im Leben. Zum Verhältnis von „Psychologie“ und „Hermeneutik“ im Spätwerk Diltheys. In: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, hrsg. von G. Kühne-Bertram u.a., Würzburg 2003, bes. 77. 12 So z. B. bei G. F. Meyer: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757, §§ 3, 4, 7. 13 Schon die Fachvertreter im Einflussbereich Gadamers haben deshalb die Besonderheit von Musik und bildender Kunst betont. Th. Georgiades: Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen 1985. G. Boehm: Zu einer Hermeneutik des Bildes. In: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. von H.-G. Gadamer, G. Boehm, Frankfurt a.M. 1978, 444–471. 14 Der Aufbau, a.a.O. (Anm. 10) 207ff. 15 Beiträge zum Studium der Individualität, Ges. Schriften V, 277. 16 Schon aus den Theorien der Sympathie des 18. Jh., wo Sympathie – wie bei D. Hume – „die soziale Praxis des Austausches von Gefühlen und Gesinnungen“ bedeutete, lässt sich mehr über das Ausdrucksverstehen lernen als aus „Wahrheit und Methode“. A. von der Lühe: Sympathie II. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie X, bes. 757. Das enge Verhältnis zum neueren Begriff der Einfühlung, ebd. 759f.
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17 A. Boeckh, a. a. O. (Anm. 6) 15 ff., 93 ff. J. G. Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von R. Hübner, 6. Aufl., Darmstadt 1971, 149 ff., 339. 18 W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Ges. Schr. I, 96 ff. Siehe insges. F. Rodi: Pragmatische und universalhistorische Geschichtsbetrachtung. Anmerkungen zu Diltheys Skizzen einer Historik. In: Dilthey und Yorck, hrsg. von J. Krakowski, G. Scholtz, Wrocław 1996, 119–134. Gadamer macht sich seine Dilthey-Kritik zu leicht. Wenn er (228) aus Diltheys Notizen einen Satz zitiert, dem zufolge die Geschichte einen Sinn hat, so geht aus der Fortsetzung des Dilthey-Textes hervor, dass dieser Sinn nicht vorgegeben, sondern vom geschichtlichen Menschen erst erzeugt wird. Der Aufbau, a.a.O. (Anm. 10) 291. 19 L. von Ranke: Ueber die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik. Sämtl. Werke XXIV (1872) 280–293, bes. 288. 20 Leitend für die Geschichtswissenschaft sollen die „sittlichen Mächte“ sein (a.a.O. 348 ff.). Gegen eine poetische Darstellung hat er sich ausdrücklich zur Wehr gesetzt (a.a.O. 273, bes. 416 ff.). 21 F. D. E. Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hrsg. von H. Scholz, 4. Aufl., Darmstadt 1961, 15. Es ist dabei in Erinnerung zu behalten, dass Schleiermachers Ethik in ihrem Kern eine Sozialethik und Kulturtheorie war. 22 A.a.O. (Anm. 2) 20f. 23 R. Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. In: Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, hrsg. von K. E. Müller, J. Rüsen, Reinbek b. Hamburg 1997, 79–98. Dass man begründet in einem ganz anderen Sinn vom Sinn der Geschichte sprechen kann, zeigt im selben Band J. Rüsen: Was heißt: Sinn der Geschichte? Ebd. 17–48. 24 Der Autor hat später die Auskunft gegeben, der Satz „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ enthielte, „dass das, was ist, nie ganz verstanden werden kann“. Text und Interpretation, Ges. Werke 2, 334. Aber das passt nun schlecht zur Aussage, das „Sein“ sei „Sprache“. Deshalb halte ich die Ausführungen auf jenen Seiten seines Hauptwerks für konsistenter als seine Selbstinterpretation, wenngleich ich dieser eher zustimmen könnte. 25 M. Heidegger: Sein und Zeit, 9. Aufl., Tübingen 1960, 149. Schon Heidegger kennt keine Unterschiede im Verstehen und Auslegen von Dingen, Artefakten und Texten, und das Verstehen der Rede eines Anderen bleibt ganz unberücksichtigt. 26 Es ist interessant, dass Gadamer, der sonst gern Heidegger folgt, mit dessen späterer Behauptung, zwischen Mensch und Tier klaffe ein „Abgrund“, nichts anzufangen weiß (249). 27 Heidegger, a.a.O. (Anm. 25) §§ 32, 33. 28 So z. B. E. Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, 3. Aufl., Freiburg/München 1992, bes. 108 ff. Lévinas bezieht sich nur auf Heidegger. Aber da Gadamer sich an der Leitfrage nach der „Begrifflichkeit des Verstehens“ orientiert (380), trifft diese Kritik auch ihn. 29 Z.B. Beiträge zum Studium der Individualität, Ges. Schr. V, 353, 379; Weltanschauungslehre, VIII, 80ff. 30 Deshalb konnte Dilthey z. B. am Schluss seiner Abhandlung über „Die Entstehung der Hermeneutik“ betonen, es sei deren „Hauptaufgabe“, „gegenüber dem
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beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität […] die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen“. Ges. Schr. V, 331. 31 Ich lasse diese Unterscheidung hier unerörtert, weil sie im Hinblick auf Gadamer, für den sich aller Sinn erst in der Anwendung konkretisiert, nicht wichtig ist. Zu den Begriffen siehe U. Eco: Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992, 436 f. Wenn F. Schlegel und Schleiermacher forderten, es gelte, den Autor nicht nur ebenso gut zu verstehen, wie er sich selbst verstand, sondern auch besser, so ist für das Letztere der Versuch des Ebenso-gut-Verstehens die Voraussetzung. Deshalb bleibt der Horizont des Autors die Grundorientierung. 32 Es ist aufschlussreich, dass Gadamer zwar diese Elemente von Humboldts Sprachphilosophie vermutlich zur Kenntnis nahm (415), nicht aber an sie anknüpfte: Sie widersprechen der „Geschichtlichkeit“ des Menschen, die er zur Verstehensbedingung erklärt. 33 A.a.O. (Anm. 2) 4, 8 f., 16. 34 M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. Gesamtausgabe II/61. 35 F. D. E. Schleiermacher: Geschichte der Philosophie, hrsg. von H. Ritter. Sämtl. Werke 3/IV-1, Berlin 1839, 15. 36 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Yorck v. Wartenburg 1877–1897, Halle/Saale 1923, 69.
David Weberman Is Hermeneutics Really Universal despite the Heterogeneity of its Objects? In „Truth and Method“ and afterwards, Gadamer always maintained that the hermeneutic conception of experience and understanding is universal or „all-inclusive“ (allumfassend).1 It has no limits. Yet, on the other hand, once one begins to attend to the various „objects“ of understanding, one cannot help but notice differences in the processes and goals of understanding.2 Moreover, these differences seem very much to bear on the plausibility of the hermeneutic position. One crucial difference – recognized and stressed by Gadamer himself – is that between art and nonart, but there are others as well. My aim in this essay is to elucidate this tension between universality and heterogeneity and to see if and how it can be resolved. In doing so, I hope to shed light on various arguments on which hermeneutics depends, thereby making it generally more plausible, but also more sensitive to domain-specific demands. In Part I, I work out the meaning of the claim of universality, separating out four kinds of universality. In Parts II and III, I distinguish between a strong and a weak hermeneutic position. Here I contend that, while the grounds for a weak hermeneutics are indeed clearly universal, the grounds for the strong version involve arguments that compel us to examine more closely the different objects we seek to understand. In Part IV, I explore these differences in the objects of understanding – differences that derive from their nature as well as from our interest in them. In Part V, I conclude that a) the universality of hermeneutics is compatible with the heterogeneity of its objects and b) paying close attention to this heterogeneity clarifies the very meaning and grounds of this universality.
I. The Claim for the Universality of Hermeneutics When Gadamer says that hermeneutics has a claim to universality, just what is it that is supposed to be universal? At its simplest, it is the idea that human understanding is a fusion of horizons. That is, when we understand an object, we do so in light of our own prejudgments and precommitments, and the result is always „part us and part it.“ Moreover, the „part us“ is always different insofar as historical situatedness is specific to person, place and time. This means that we always understand differently, if we understand at all. It also means that a certain version of objectivism, which says that an object is accurately understood only to the extent that the specific
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historical situatedness of the knower is set aside, is false. According to Gadamer, understanding is conversational or dialogical in that it is a mediation of two horizons, not a reconstruction of a fixed world. This I refer to as the hermeneutic conception of understanding or, more briefly, hermeneutic understanding. Both followers and critics have taken note of Gadamer’s contention that hermeneutic understanding is universal. But in what sense „universal“? I now want to distinguish four senses in which hermeneutics might be deemed universal. It is primarily the second sense that will concern us in this essay, but it will help to separate out the other three senses. For the pre-romantics Spinoza and Chladenius, the problem of interpretation is only occasional; it arises only insofar as a text presents obstacles to our gaining understanding of it due to textual obscurities (even obscurities in the author’s intention). According to Gadamer, Schleiermacher’s romantic theory is less concerned with possible lack of understanding and more concerned with possible misunderstanding. And misunderstanding, for Schleiermacher, does not only occur in the face of obscurities; it is a constant threat, possible at any point and with the text as a whole. Thus Gadamer argues that, for Schleiermacher, the problem of understanding has „a different, universal meaning“ (WM 188; TM 184). Gadamer is in complete agreement with Schleiermacher that the problem of understanding is universal insofar as it attaches to all aspects of the text or object at issue. This is the first sense of universality claimed for hermeneutics. Hermeneutic understanding is universal in the second sense in that it characterizes our understanding of all types of objects, regardless of what one is understanding or trying to understand. Historically, this universalization of hermeneutics begins with the passing of the torch from philologists to historians (Ranke, Droysen, Dilthey), for whom not just texts, but all human activities, are under investigation. It is completed with the extension of hermeneutic understanding beyond human artifacts and activities to nature itself. The source for this move lies in Heidegger’s idea that understanding (more specifically, what he calls the „fore-structure of understanding“) underlies any making sense of anything at all.3 Understanding is operative not just in the Geisteswissenschaften, but in the natural sciences and in life itself. Gadamer stresses this sense of universality in prominent passages of „Truth and Method“. In the opening lines of its introduction, he states that hermeneutics is not a methodology of the human sciences, or even a methodology at all, but „belongs to human experience of the world in general“ (WM 1; TM XXI). In its final section, entitled „The Universal Aspect of Hermeneutics,“ Gadamer, having argued that all understanding is language-bound, concludes that all objects of the understanding consist of the same „universal ontological structure“ which is
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the „basic nature of everything toward which understanding can be directed“ (WM 478; TM 474).4 In this second sense, hermeneutic understanding is attributed universality because it characterizes our understanding of all things – texts of all types, art, historical actions and events, natural phenomena, oneself, etc. Hermeneutics is, to coin a phrase here, domain-universal. In the 1960s, Habermas’s critique of Gadamer and the ensuing debate brought out yet another sense of universality. The debate begins with Habermas’s discussion in „Zur Logik der Sozialwissenschaften“. Habermas tells us that we have much to learn from Gadamer’s account of the linguistic, historical and practical character of understanding, but that hermeneutics should not be regarded as a wholesale replacement of methodbased knowledge.5 Our understanding and, more fundamentally, our very language and communicative resources, may be systematically distorted by social/economic circumstances or psychological barriers. Thus, hermeneutics is said to run up against limits and must be supplemented by (and ultimately grounded in) analytic and empirical analysis as well as Ideologiekritik which dig underneath communication and understanding as construed by hermeneutics. Gadamer essentially replies that there is no getting under or behind hermeneutic understanding because such analyses are just further manifestations of the same understanding.6 At issue in this debate is the universality of hermeneutics, but a different universality. The question here is about whether hermeneutic understanding „goes all the way down.“ While domain universality is about which phenomena belong to hermeneutics (the breadth of hermeneutic application), this third sense of universality is about how far hermeneutics reaches in analyzing the phenomena it takes up (the depth of its analysis). In this third sense, then, the claim for the universality of hermeneutics is the claim that there is no getting behind, under or past hermeneutic understanding. Finally, a fourth sense of universality: the claim that hermeneutics is not a culturally parochial theory, say, a Eurocentric account of understanding as it occurs in „our“ culture or a modern account of understanding as it occurs in our era.7 Clearly, Gadamer puts forth hermeneutics as an account of understanding that occurs everywhere. In this fourth sense of universality, hermeneutics is an account of understanding applicable to all cultures and eras (insofar as the members of these cultures are at all like ourselves). Here is not the place to assess each of these universalities in detail. It should suffice to unravel them so as to make clear that the central issue here is the second sense of universality, i.e. the universal breadth of hermeneutics, its domain-universality or application to all kinds of things. Is it really universal in this sense and, if so, on what grounds?
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II. Strong and Weak Hermeneutics One possible response from those sympathetic to Gadamer might be this: Of course hermeneutics is universal in its breadth. It describes our understanding of all types of things in all contexts because human beings always ineluctably bring to the table their own precommitments (Voreingenommenheiten), preunderstandings (Vorverständnisse), and prejudgments (Vorurteile),8 i.e. a historically changing set of practical and theoretical assumptions and interests that is not fully transparent and cannot be suspended or abandoned at will. Because this characterizes all understanding, hermeneutics is domain-universal. We might call this „the inescapability of pre-understanding“ justification for hermeneutics. Now, I do not think that this is an entirely adequate answer (though it is an appropriate and even necessary starting point). It is not adequate for the following reason: Even if the preunderstandings rooted in our own historical and cultural location cannot be eliminated altogether, this does not yet show that we cannot or should not strive to eliminate them as far as possible. And if we can and should do this, then objectivity qua eradication (Auslöschung as Leopold von Ranke called it) of our historical situatedness is still a worthy goal, even if not perfectly attainable. It could still serve as a regulative ideal and greater or lesser objectivity could still function as a criterion for better or worse understanding and interpretation. If this were all there is to hermeneutics, then we would have what I call a Weak Hermeneutics. Let me now define here what I mean by weak hermeneutics. Very Weak Hermeneutics (VWH) – All understanding is a fusion of horizons because all understanding is shaped by unshakable preunderstandings, but objectivity is still a coherent and valuable (though unattainable) goal insofar as the knower’s pre-understandings can and should be minimized.
Contrast the above with a position that is slightly less weak (or slightly more robust): Weak Hermeneutics (WH) – All understanding is a fusion of horizons because all understanding is shaped by unshakable preunderstandings; while objectivity is still a possible goal, it is not (necessarily) a valuable one because it is unattainable and because letting preunderstandings operate is preferable to trying to disable or minimize them.
VWH is very weak but very common, perhaps a favorite among natural and social scientists, philologically-minded literary scholars, courtroom judges and others. Its only concession to hermeneutics is the acknowledgment of the pervasiveness of human prejudice. But it does not regard prejudgments as positive or productive – a point Gadamer insists on.
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WH, on the other hand, goes a bit further. Like VWH, it admits that objectivity is still a possible goal because it recognizes that we can, with effort, disable some historically parochial preunderstandings and thus steer toward an ideal of objectivity. Followers of Gadamer might not admit the coherence of objectivity upfront, but if hermeneutics relies solely on the inescapability of preunderstandings, then objectivity is left standing as a possible goal. WH is different from VWH in that it rejects the conclusion that we should aim at objectivity. Yet what is the justification for abandoning the goal of objectivity? First, that objectivity is not absolutely attainable does not show that it is not worth pursuing. Second, to say that bringing preunderstandings to bear is preferable to disarming them needs explanation. Why is it preferable? One might say that it is more enriching to bring one’s own horizon into contact with the object than to leave it out. As Gadamer says, merely reconstructing objects gives us only „dead meaning“ (WM 172; TM 167). But it would be cavalier and unconvincing to say that enrichment is what counts and that objectivity, while a possible ideal, is simply unimportant.9 If objectivism is wrong, then it must be so because there is something philosophically misguided about the very conception of objectivity. So, WH is an argumentatively unstable or incomplete position and we should look for something else, something stronger. Indeed, Gadamer is after something stronger than VWH or WH, as we see in this passage: „[The demand that] in understanding history one must leave one’s own concepts aside and think only in the concepts of the epoch one is trying to understand […] is a naive illusion. The naivete of this claim does not consist in the fact that it remains unfulfilled because the interpreter does not sufficiently attain the ideal of leaving himself aside. This would still mean that it was a legitimate ideal that must be approximated as far as possible. […] Historical consciousness misunderstands its own nature if, in order to understand, it seeks to exclude what alone makes understanding possible […] To want to avoid one’s own concepts in interpretation is not only impossible but a manifest contradiction.“ (Widersinn) (WM 400 f.; TM 396 f.)
As noted above, Gadamer says that preunderstandings are not only inescapable but positive and productive. They are productive in that they produce the object of inquiry. According to Gadamer, the „‘object in itself’ clearly does not exist at all“ (WM 289; TM 285); it is nothing more than a „phantom“ (WM 305; TM 299). What does this mean? Why is the object a phantom? This move is crucial to a robust hermeneutics. If pre-understandings are not simply tolerated, but productive of understanding, even necessary for having an object in the first place, then for Gadamer this must mean that the object is not (fully) constituted without such preunderstandings. Why this is so will be explored below. For now, let us say that
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without pre-understandings, the object of understanding is underdetermined. And thus the strong position: Strong Hermeneutics (SH) – All understanding is a fusion of horizons because all understanding is shaped by unshakable historically situated preunderstandings which partly constitute the object of understanding. Without preunderstandings, the object is underdetermined and so objectivity cannot serve as an overall ideal for understanding.
This is Gadamer’s considered position. Objectivity is not merely unattainable or undesirable but fundamentally at odds with the very nature of understanding. The next questions are these: First, in Part III, why are the objects of the understanding underdetermined? Afterwards, in Part IV, are the various types of objects underdetermined or dependent on the situatedness of the knower in importantly different ways?
III. Arguments for Strong Hermeneutics As we have seen, the unshakability of preunderstandings alone does not yet overturn objectivism. I turn now to other arguments in Gadamer. We can begin with his contention that understanding is always guided by the logic of question and answer. In „The Universality of the Hermeneutical Problem,“ Gadamer says that even statistics is an instance of hermeneutic understanding because „[w]hat is ascertained by statistics looks like a language of facts; however, which questions these facts answer and which facts would begin to speak if other questions were asked – this is the hermeneutic question.“10 Applied to the issue here, the argument goes something like this: Understanding cannot be objective because understanding always involves asking these, not those, questions. Thus, an unavoidable selectivity brings in the knower’s situatedness and precludes objectivity even as a meaningful goal. But, as it stands, this is not a convincing argument either. It fails because one could still aim at asking as many questions as possible so as to diminish the selectivity of one’s understanding, thereby getting as full (and as objective) a picture as possible of the object in question. If the logic of question and answer is only a matter of selectivity, then it does not provide grounds for a strong hermeneutics.11 Consider next Gadamer’s insistence that the process of understanding always occurs in the medium of language. Language is, of course, one of the central themes of Gadamer’s work and of 20th century philosophy in general. Gadamer writes of the „linguistic constitution of the world,“ asserting that all understanding is „bound to language“ and that this under-
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writes the universality of hermeneutics.12 What does this mean? And what implications follow from the all-encompassing character of language? In particular, does it provide support for a strong hermeneutics? One thing it means is that preunderstandings are ubiquitous because language, which always inherits and perpetuates preunderstandings, is ubiquitous. As Gadamer says, „[i]n all our thinking and knowing we are always already precommitted [voreingenommen] through the language-bound interpretation of the world into which we grow.“13 More briefly: „language-view is a worldview“ (WM 446; TM 442). I want to argue here that if the linguisticality of all understanding only means that we inherit a historically situated worldview contained in our language, this point, important as it may be, also fails to establish a strong hermeneutics.14 It does not yet show that preunderstandings are „positive“ or „productive,“ only that they are deeply entrenched, even irrevocably so. It does not undermine the idea that our language, like a veil, colors or distorts the world. It does not dethrone the traditional notion of objectivity. Up to now, we have seen that several of Gadamer’s claims, while true, do not in themselves substantiate a Strong Hermeneutics. In fact, in each case the deficiency is much the same. It can be best stated in terms of the dualism of the understanding subject (das verstehende Subjekt) and the object of understanding (der Gegenstand des Verstehens). To be sure, Gadamer, like Heidegger, wants to overcome this distinction.15 But doing so requires arguments not just about the subject and its pervasive preunderstandings, selective biases and language-boundedness, but about the object as well. These object-oriented arguments will need to show that the object of understanding is not self-contained, but depends somehow on the subject. There are such arguments in Gadamer and it is to them that I now turn. The important point is not that language carries with it an inescapable worldview that we project onto the world but that the world is a world only insofar as it „comes into“ or „is brought into“ language. Gadamer repeatedly speaks of „das Zur-Sprache-kommen“ or „das Zur-Sprache-bringen“ of the world or the subject-matter.16 What this means is not that a fixed, determinate world is accessible only through language, but that the world becomes a world at all available to us only through its being brought to language by us: „[…] the world is world only insofar as it comes into language […]“ (WM 447; TM 443). It needs our help – our language, our articulation of it – to be anything intelligible. This is why Gadamer denies the existence of an antecedent, in-itself world. „[This] makes the use of the expression ‘world in itself’ problematic. What constitutes the standard for the continuing expansion of our own world picture is not a ‘world in itself’ that lies beyond all language. Rather, the infinite perfectibility of
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the human experience of the world means that, whatever language surrounds us, we never come to anything but an ever more extended aspect or ‘view’ of the world. […] No one doubts that the world can exist without human beings and might do so. This belongs to the very meaning of the human, linguistically grasped worldview in which we live. […] The multiplicity of these worldviews does not entail a relativization of the ‘world.’ Rather what the world itself is is not different from the views in which the world presents itself.“ (WM 451; TM 447)17
So the world in itself falls away. As does the ‘absolute object’ which Gadamer calls a contradiction in terms („Ist nicht schon der Begriff eines ‘absoluten Gegenstandes’ ein hölzernes Eisen?“) (WM 455, 451) this, I believe, is the argument about language crucial for Gadamer’s anti-objectivism and strong hermeneutics. But how are we to make sense of the falling away of the world in itself and the absolute object? What is left? The world and its objects, Gadamer says, need to be brought to language in order to be what they are. Here I think we can appeal to an illustration suggested by Gadamer, namely, a musical score or a script for theater (WM 403, TM 399). A score must be performed to be music and a script must be acted out to be theater. Similarly, a world must be brought to language to be a world. Furthermore, just as there is no single right way to bring a score to music because the score underdetermines (my word, not Gadamer’s) the music and the script underdetermines its theatrical realization, so the world, analogously, underdetermines how it is to be understood. Gadamer says that the object of understanding is not something fixed (fix), constant (fest), given, or in-itself (WM 478 f.; 474 f.). I want to suggest now that we understand this to mean that the object of understanding is underdetermined and becomes determinate only by being brought to language. The object is underdetermined because in itself, it is mute or unarticulated; it needs to be understood by us for it to speak to us. It cannot do this by itself. And the only way it can be understood is by being illuminated through our historically specific, shifting languages and preunderstandings. Thus the object of understanding is not fixed. We might call this the internal underdeterminedness of the object of understanding insofar as the object itself is mute or unarticulated and becomes determinate only through being understood. I want to turn now to a second kind of undeterminedness that we find in Gadamer, this time an external or relational underdeterminedness.18 Consider Gadamer’s discussion of temporal distance: „The tacit presupposition of historical method is that the lasting significance of something is only objectively knowable when it belongs to a closed context – in other words, when it is dead enough to interest us only historically. Only then does it seem possible to exclude the subjective involvement of the observer [… But] temporal distance obviously means something other than the extinction of our inte-
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rest in the object. It lets the true meaning that is inherent in the subject-matter emerge fully for the first time [… T]he extraction of the true meaning of a text or artwork never reaches an end; it is in truth an infinite process.“ (WM 303; TM 298)
Consider an artwork such as a Cubist painting, a text such as the American Constitution or a historical event such as the Russian Revolution. Our understanding of these objects is different in virtue of the temporal distance that separates us from them. The importance of temporal distance consists in the fact that more recent events have brought out new aspects of or ‘retrodetermined’ the earlier phenomena. In the case of Cubism, there is the subsequent development of abstract painting. In the case of the Constitution, there is the two-hundred year history of new issues and judicial interpretations. In the case of the Russian Revolution, there is the occurrence of Stalinist totalitarianism and eventual collapse of the Soviet model. The point is that these objects not only appear in a very different light, but have come to have different relational properties as a result. This means that the object of understanding is underdetermined or not fully self-contained in that its nature and meaning is partly constituted by the relationships it bears to other things and events, including subsequent things and events. This argument for what we can call external or relational underdeterminedness is also crucial to finding support for a strong hermeneutics. The object is underdetermined because it is not self-contained, it is not self-contained because it is partly constituted by its relational properties, and its relational properties vary according to the temporal (and perhaps cultural) position of the historically situated knower. I have argued that a strong hermeneutics depends on the view that objectivity is not a coherent ideal. It is not a coherent ideal because there is no object that one might try to reconstruct. And there is no such reconstructible object because the object is underdetermined in virtue of a) its muteness or its need to be brought to language and b) its relationality to other objects dependent on the knower’s historical and cultural location. But now the question is this: are all objects underdetermined or underdetermined in the kind of way that supports a strong hermeneutics? This brings us to the issue of heterogeneity.
IV. Underdeterminedness and the Heterogeneity of Objects If the arguments in favor of a Weak Hermeneutics – the inescapability of prejudices, selective biases and being trapped in one’s own language – were the decisive arguments for hermeneutics, then there would be no need to worry about the heterogeneity of objects. This is for the simple
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reason that, whatever the object is, these arguments go through easily for all types of objects. The differences among objects are only incidental to a Weak Hermeneutics. When it comes to a Strong Hermeneutics, matters are more complicated. Because the arguments for a Strong Hermeneutics concern the underdeterminedness of the object, the universality of hermeneutics can only be upheld by considering specifically how (or whether) various types of objects are underdetermined. If types of objects are relevantly different from one another, their underdeterminedness may require different treatment. At least, this is the worry that motivates the following discussion. Of course, there are as many differences among objects as there are objects; here we should attend to only salient differences, i.e. those that make a difference to the claims and plausibility of a Strong Hermeneutics. In what follows I bring out four types of differences between objects: (1) art versus nonart, (2) texts versus nontexts, (3) objects that belong to our Wirkungsgeschichte versus objects that do not and, (4) objects construed differently according to our interest in understanding them. (These distinctions overlap in many cases, but they are and need to be treated as conceptually distinct.)
1. Art versus non-art In his 1983 essay „Text and Interpretation,“ the question of heterogeneity surfaces quite conspicuously.19 Addressing the question of textual meaning and interpretation, Gadamer considers various types of text, including scientific writings, personal letters, conversational utterances, protocols, business contracts, stenographic transcriptions, military commands and written laws. In his analysis of such texts, he frequently alludes to the purposes of the writer. He regards these texts as instances of message-conveying (Kundgabe) and the interpreter’s job as that of extracting and reaching agreement with the author about the meaning of the message (Kunde) (TuI 345; TaI 35). But then he writes: „Now the goal of this entire discussion is to show that the connection between text and interpretation fundamentally changes when dealing with so-called ‘literary texts.’ In all cases so far […] the so-called text itself was subordinated to the event of reaching agreement in understanding (Verständigung) […] The interpreter has no other function than to disappear completely into the achievement of reaching agreement in understanding [… or] entering into communication so as to dissolve the tension between the horizon of the text and that of the reader. I have called this a fusion of horizons. […] But then there is literature! […] The literary text exercises a normative function that does not refer back either to an original utterance or to the intention of the speaker but is something that originates in itself, so that in the
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fortune of its success, a poem surprises and overwhelms even the poet.“ (emphasis added) (TuI 350–52; TaI 40–42)
This passage is remarkable on two counts. First, Gadamer here seems to say something different from „Truth and Method“ about the meaning of nonliterary texts: the author’s purpose is now central to that meaning and the interpreter’s job is to disappear! Second, in „Truth and Method,“ our encounter with art serves as a model for human understanding in general, while here art or literature is set off sharply against other texts as categorically different and untypical of human understanding. The sharp line drawn between literature and nonliterature appears to violate the universality of hermeneutics. Has Gadamer simply abandoned the universality claim? No, because from the outset of this same essay he re-asserts that hermeneutic understanding applies universally to all things.20 Can this formidable divide between literature and nonliterature be bridged within a theory that has universal aspirations? It seems to me that Gadamer is saying this: In both cases, literature and nonliterature, understanding is a fusion of horizons because the interpreter’s horizon interacts with the object at hand. The fusion is different, however, with respect to the idea of reaching agreement in understanding (Erzielung der Verständigung) (TuI 350; TaI 41). With nonliterary texts, the message-conveying nature of the text means that we have a certain concern, perhaps even a responsibility, for the intention or purpose of the message. Even so, there is fusion – a point to which we will return shortly. But literature is different, Gadamer says, because understanding it is not at all a matter of „referring to an already spoken word“ (TuI 351; TaI 42), but „a new way of letting the text speak“ („[ein] neu[es] Sprechenlassen des Textes“) (TuI 351; TaI 41). For Gadamer, literature, and more generally art, is different in that it is autonomous and open. It is autonomous because its meaning is not at all dependent on the intention of the writer or artist. The work of art or literature breaks loose from its original creation to stand on its own. It is open in that its meaning is indeterminate. Gadamer says that the poetic artwork possesses as language a characteristic indeterminacy („eine offene Unbestimmtheit“).21 As a result, it invites a plurality of interpretations. Several particularly good illustrations of this autonomy and openness in artworks can be found in Gadamer’s essays on Paul Celan’s poetry. For example, Gadamer notes that Celan’s poem „Flower“ was inspired by Celan’s son, though the poem makes no mention of a child. Gadamer goes on to say that the image of the flower is not tied to that of Celan’s son, but has a more universal and open-ended meaning: „[T]he poem does not bring to language a specific, unique occurrence known only to witnesses or those enlightened by the poet directly. This means that every reader
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can respond to what the language gesture conjures up, as if it were an offer. All readers must supplement what they can perceive in a poem on the basis of their own experience. This alone is what it means to understand a poem.“22
So, we see that given art’s openness, the object of understanding is underdetermined in that it requires supplementation from the interpreter’s own horizon. If this is so, then understanding art is a particularly robust case of hermeneutic understanding strongly conceived. But now where does this leave nonliterary or nonart works? By implication, it would seem that if art is open and in need of supplementation, nonart is neither of these things. Does this mean that strong hermeneutic arguments do not go through for nonart texts and objects? Let us return to the passage in „Text und Interpretation“ from which I quoted before. In the case of nonliterary or nonart texts, Gadamer says (here I quote the passage more fully): „[…] interpretation, like the so-called text itself, [is] subordinated to the process of reaching agreement in understanding. This corresponds perfectly to the literal meaning of the term interpres, which refers to someone who speaks in-between and therefore has first of all the original function of a translator […] The interpreter steps in and speaks only when the text (the discourse) is not able to do what it is supposed to do, namely be heard and understood on its own. The interpreter has no other function than to disappear completely into reaching agreement in understanding. The discourse of the interpreter is therefore not itself a text; rather it serves a text.“ (TuI 350; TaI 40f.)
This makes it sound as if the understanding subject is wholly outside of an already fully constituted text. But then Gadamer goes on: „This does not mean, however, that the contribution of the interpreter, in this way of listening to text, has completely disappeared. […] The interpreter’s help in reaching agreement in understanding is therefore not limited to the purely linguistic level, but reaches into mediating the subject-matter itself […] When the interpreter overcomes what is alien in the text and thereby helps the reader to an understanding of the text, his/her own stepping back is not a disappearance in a negative sense; rather, it is an entering into communication so as to dissolve the tension between the horizon of the text and that of the reader. I have called this a fusion of horizons.“ (TuI 350f.; TaI 41)
Gadamer may be conceding too much here when he speaks of the interpreter’s job as one of eliminating only occasional obscurities, a view that, as we have seen, stands opposed to one of the senses of universality advanced in „Truth and Method.“ He also accords the author’s purpose or intention a more central role here than in earlier works. But he insists, importantly, that the idea of the interpreter’s disappearance is not to be taken as a reality, but only as a surface appearance. The interpreter conti-
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nues to mediate both linguistically and in terms of content. Gadamer does not say here exactly why this is so, but it follows from much of the argument in Part III above. Of course, the interpreter of the nonliterary text cannot but help to bring in precommitments stemming from his/her own historical and cultural location. But this would be only a weak hermeneutic argument. The point here is that the strong hermeneutic arguments go through as well. Even if we have a concern for the message that the nonliterary text was intended to convey, the underdeterminedness of such texts is still underwritten by strong hermeneutic arguments. The nonliterary text qua text is internally underdetermined insofar as its meaning requires articulation. As I will argue in the following section, what needs to be articulated and brought to language is the world altogether, nontexts and texts alike. Furthermore, nonliterary texts are no less relationally constituted than are literary texts, their meaning changes as they come to have new relations to subsequent texts and events. So despite literature’s distinctive openness to supplementation by the aesthetic subject, nonliterary texts have their own kind of openness and thus our understanding of them is a fusion of horizons as well. Consider, for example, what it means to understand a philosophical text. (For Gadamer, it seems clear, philosophy is not literature; the experience and interpretive aims are different because philosophy does not invite readerly creativity in quite the same way as literature.) The author of a philosophical text hopes to convey a message about some subject-matter. Given what Gadamer has said in „Text and Interpretation,“ the reader aims at reaching agreement in understanding with what the author has said. This does not mean the reader will or should agree with the author’s views, but only that the reader wants to fairly construe the message the author wants to convey. But the hermeneutic point is that the message is not altogether fixed. The words need to be given specific meaning and the intention of the author cannot ultimately decide the specific meaning because it is not available to us and because the author’s state of mind only reaches so far.23 As a result the reader must bring the message to full concretion and does so in light of his/her relation to the subject-matter. The example of a philosophical text cannot be representative or exhaustive of all the objects of understanding that are not literature. First of all, there are objects that are not texts at all. Second, philosophy and literature each involve rather specific interpretive interests and goals. There are domains or interpretive activities that involve quite different interests and goals. It is to these two issues that I now turn.
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2. Texts versus nontexts Gadamer’s thinking about understanding and interpretation is more often directed at texts in the narrow sense, i.e. composites of written-down words. But there are, of course, other objects that are not „worded“ such as artworks (paintings, music, etc.), historical actions and events, social practices, and even nature.24 Does strong hermeneutics go through as well for nontexts as it does for texts? Actually, despite the focus on texts central to Gadamer and to the history of hermeneutics (its origins in biblical, legal and philological interpretation), there is at least one important reason for thinking nontexts present an even better case for Strong Hermeneutics. Strong Hermeneutics depends on the underdeterminedness of the object and this, as we have seen, is partly a function of the mute and unarticulated object being „brought to language.“ While texts are already worded, nontexts are not and so their underdeterminedness is especially evident. The ways in which nontexts are brought to language is complex and different stories would need to be told about how this occurs. However, a brief illustration here is in order: Suppose we are doing history and our object of understanding is some segment of the past. There is a multitude of events and actions at any given time and place. Giving them content, form and continuity – bringing them to language, as it were – is something we must do. Not only do we do so when we bring events together under the concepts of „war,“ „revolution,“ „social movement,“ etc., but just as well when we bring individual actions under descriptions such as „surrender“ or „provoke.“ Actions and events are themselves mute and underdetermined in their muteness. They need to be articulated or brought to language. And they can be articulated in any number of correct ways. In bringing them to language, we make them into objects of the understanding. Surprisingly, nontexts would seem to be a paradigm case of the underdeterminedness of the object that underlies a strong hermeneutics. But what about texts? Since they are already in a language, it might appear that they do not need to be brought to language. This is where a certain feature of language is crucial. Language, especially poetic language, but not only poetic language has, as one philosopher calls it, the character of open-texturedness.25 That is, words do not pinpoint meanings but allow for a wide range of possible meanings. Thus, the phrase „cruel and unusual punishment“ in the American Constitution does not wear its exact meaning on its sleeve. While the text’s author always intends the words to be meant in a certain way, the author’s intention does not determine the meaning of the words. This is because a) the author’s intention is typically (and perhaps even fundamentally) unavailable; b) the author’s intention is typically not sufficiently comprehensive to answer all questions about its
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meaning and c) language has the character of what Gadamer calls „ideality“ (WM 394 ff.; TM 390 ff.). This means that linguistic meaning is not tied to the single, contingent psychic act of the writer, but exists apart from it in a „sphere of meaning in which everyone has an equal share“ (WM 396; TM 392). Gadamer writes: „All writing is a kind of alienated speech, and its signs need to be transformed back into speech and meaning“ (WM 397; TM 393). To put this point as I did earlier, texts need to be brought to meaning just as a score needs to be brought to music. The upshot is that while a text and a nontext present distinct hermeneutic tasks, they are both underdetermined objects that each of which, in its own way, needs articulation to be a fully determinate object. And, for this reason, Strong Hermeneutics goes through for both domains.
3. „Wirkungsgeschichte“ versus no „Wirkungsgeschichte“ The notion of Wirkungsgeschichte, so central to Gadamer’s hermeneutics, captures the fact that the object we seek to understand is not self-contained and distinct from us. First, the object has a history of effects, a history of being received in this or that way and, second, this history has made us who we are. This means that the object is not fixed but changes over time and that it is not reconstructible independently of who and what we are, and of what we have become as a result of the object’s influence on us. All of this makes a lot of sense when it comes to understanding the classical works of philosophy and art in our own culture or the historical events that have in fact shaped us. And, truth be told, what preoccupied Gadamer as he developed his thoughts was the high culture of European civilization in the form of a unified, continuous line of canonical works and events extending into the present. The problem of heterogeneity arises here because not all objects we seek to understand belong to a past culture that is our own and has formed who we are. We can identify two types of objects left out of this picture: a) contemporary works and events from within our own culture that have not yet acquired a history of effects and b) works and events from cultures other than our own which are not linked to us by a history of effects.26 The question is whether Wirkungsgeschichte plays no role in our understanding of such objects and if so whether this undermines the claim that understanding of such objects is hermeneutic in a strong sense. For if they have no Wirkungsgeschichte, the objectivist can argue that a certain objectivity still goes through. Of course, it is only their external underdeterminedness that is at issue here, since internal underdeterminedness is unaffected by their not belonging to our Wirkungsgeschichte. Still, relatio-
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nal constitution is so central to hermeneutics that it is worth examining whether these objects have it or lack it altogether.
a. Contemporary objects Gadamer insists on the importance of temporal distance as that which „lets the true meaning inherent in a subject-matter emerge“ (WM 303; TM 298). He speaks of the history of effects of a work as that which is operative in all understanding (WM 306; TM 301). Yet when it comes to understanding a contemporary work and event, it has not yet had a chance to have a history of different interpretations and effects and we have no temporal distance to it. Consider, for example, what it was like to try to understand the first Cubist painting at the time it was painted or the Russian Revolution at the time it occurred. Certainly, the painting and the Revolution meant less then than they do now. Could it be said that they had no relational properties, no dimension of external underdeterminedness because they had not yet entered into relations with other things and that as a result they were self-contained and only internally underdetermined? Does Wirkungsgeschichte play absolutely no role here? I would suggest that even in the absence of temporal distance, Wirkungsgeschichte and relational properties are still operative for three reasons. First, while the work may have no history of effects of its own, there is a larger, antecedent history, a tradition as it were, that has affected (and effected) both the work and us knowers. This antecedent history comes to be retrospectively determined in different ways as time goes on. Second, when we understand a contemporary work or event, we do so by seeing it in relation to a time yet to come. In other words, when we understand a new work, we, typically if not always, implicitly anticipate its future history of effects, i.e. how it will come to be understood. Our anticipations of future history that shape our understanding of the contemporary work change as a result of our standpoint in history and so relational properties figure in this way as well. Third, as I will argue below, temporal distance is not the only type of distance, there are synchronic differences such as cultural differences that let works take on new and unexpected relational properties.
b. Objects from cultures outside of our „Wirkungsgeschichte“ We seek to understand other cultures as well as our own. In a globally interactive world such as our own, we have already been exposed to and interpreted, in some sense, most foreign, even non-European, cultures –
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the dynamics of this type of interpretation is perhaps the central problem of social anthropology and hermeneutics has, I believe, much to contribute here.27 But consider now the problem of understanding a culture that has had no or virtually no history of interpretation in and no history of effects on our own culture. Gadamer himself brings up an example of this problem when he refers to our possible understanding of North American Eskimo tribes: „Not every historical observation is based on a conscious reflection of the history of effect. The history of North American Eskimo tribes is certainly quite independent of whether and when these tribes have had an effect on the ‘universal history of Europe.’ Yet one cannot seriously deny that reflection on effective history will prove to be important even in relation to this historical task. In 50 or 100 years, anyone who reads the history of these tribes as it is written today will not only find it outdated (for in the meantime we will know more or interpret the sources more correctly); he will also see that in the 1960s people read the sources differently because they were moved by different questions, prejudgments and interests. Ultimately historical writing and research would be reduced to indifference if it were to withdraw from the ability to reflect on effective history.“28
Of course, 50 or 100 years after a current interpretation, there will be a history of interpretation and effects. But our question is about the first time round, the point at which no such history yet exists. Gadamer suggests that even at this point our „questions, prejudgments and interests“ are at work. But is this only for the weak hermeneutic reason that we cannot fully escape them? Or are Wirkungsgeschichte and relational properties operative here in such a way that they make the object at issue what it is? I would like to suggest two reasons for thinking that objects disconnected from our history are nevertheless relationally constituted through their „effects.“ First, when we seek to understand a foreign culture, even for the first time, we typically do so in the light of a history of the reception of foreign cultures. Thus, even if there is no history of effects and interpretation of Eskimo tribes, there is a history of understanding non-European cultures, a history of „orientalisms,“ into which new interpretations of the foreign are absorbed.29 So while not every object has a Wirkungsgeschichte, every object becomes part of a pre-existing Wirkungsgeschichte and becomes what it is for us through becoming part of that Wirkungsgeschichte. Second, as we have seen, according to Gadamer, the object of understanding changes as a result of temporal distance, i.e. we have a different temporal perspective which allows us to see the object in terms of different relations. But there is aside from temporal distance another sort of distance that allows for new relations, namely, cultural distance. If it is true, say, that an object is a different object for a 20th century reader than for a 17th century reader because of a changed temporal perspective, it is no less true
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that an object is a different object because of different relational properties that result from different cultural points of view. The code of honor in Eskimo culture, for example, will have different relational properties when understood in relation to a culture with a high sense of honor of its own than in relation to a more utilitarian culture. Or the nature of the American Revolution takes on a different shape (less egalitarian) when brought into relation not with the revolutions of France, China or Russia, but with revolutions in the Caribbean or Latin America.30 So even objects with no Wirkungsgeschichte are absorbed into such a history and come to have new properties through changing relations to things outside of themselves.
4. Objects construed differently according to our varying interests I believe that the most serious threat to the universality of hermeneutics derives not from the differences between the things we seek to understand, but from the very many different interests that we bring to those things. Gadamer deals with this issue at several points in his work without explicitly recognizing it as an obstacle to universality. Let me divide the many types of interests interpreters might have into two broad categories: on the one hand, presentist, application-oriented interests, and on the other hand, antiquarian, reconstruction-oriented interests. The first category of interests fit in well with a Strong Hermeneutics, while the second category is the troublemaker. Gadamer says that „the essence of the historical spirit consists not in the restoration of the past but in thoughtful mediation with contemporary life“ (WM 174; TM 168f.) and that „there always occurs in understanding something like the application of the text to be understood to the interpreter’s present situation“ (WM 313; TM 308). Clearly, if understanding of objects springs from an interest in applying that understanding to one’s own current situation, then it is easy to see why understanding must be conceived as a fusion of horizons. And Gadamer persuasively demonstrates the application-oriented interest behind many different kinds of understanding. In the human and historical sciences, we understand the past so as to understand our current predicaments better. In our encounter with literature and art, there is arguably, at bottom, an interest in enriching and gaining insight into our own world. In the area of law, judges understand legal texts in order to apply them to particular present circumstances so as to ensure the continued functioning of a well-ordered society. In understanding religious texts, believers have a stake, Gadamer points out, in their own piety or salvation (Heilswirkung) (WM 314; TM 309). Natural scientists understand nature with an eye to managing or exploiting it. Finally, philos-
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ophers understand texts with a decided interest not just in reconstructing philosopher’s thoughts, but in order to find the truth. Yet sometimes interpreters want to refrain from making connections to the present or to questions of application, sometimes they want to do nothing other than reconstruct. Gadamer recognizes this kind of interest when he refers to the historian of science or the court stenographer’s duty to do „every possible justice to the intended meaning of the speaker“31 and when he contrasts the application-oriented jurist with the antiquarian interest of the legal historian who is „apparently only concerned with the original meaning of the law“ (WM 332; TM 327). In the case of the legal historian, Gadamer argues that there is no direct access to the original meaning because concerns and prejudgments stemming from current circumstances always inform one’s awareness of past law. Now, this may be true but it seems to me be a „weak“ hermeneutic argument that fails to show why objectivity cannot be a coherent ideal. How should proponents of a Strong Hermeneutics respond to the legitimate antiquarian interests of the historian of law, the historian of science, the historian of art and the historian of philosophy, all of whom want to suspend presentism and the question of application? I think there are two significant directions for response. First, the antiquarian interest of the scholar or the purely reconstructive interest of the stenographer is not typical of our encounters with history, art, law, philosophy, etc. Second, even if the interest in reconstruction means that such interpreters will want to set aside all the new relational properties that derive from Wirkungsgeschichte and a different temporal and cultural location, all objects of the understanding are nevertheless internally underdetermined. In the case of texts, original intention underdetermines meaning for the reasons mentioned previously. In the cases of nontexts, actions and events need to be made sense of, ordered and „brought to language.“ This is where the interpreters horizon comes in. In this way, there are good reasons for thinking that antiquarians also deal with underdetermined objects. All objects, then, texts and nontexts alike, are underdetermined and need to be „brought to language.“
V. Conclusion: Heterogeneity Does not Undermine Universality My reasoning in this paper has been built on two assumptions. First, if the hermeneutic conception of understanding is to count as a serious challenge to objectivism, it must do more than offer weak arguments about the inescapability of prejudgments; it must, in fact, show that the objects of understanding are not wholly determinate in a way that allows for their re-
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construction. Second, in light of the need for „strong“ arguments, hermeneutic theory needs to look more closely at the different types of objects and different interests we have in understanding them. My conclusion is as follows: While the general principle of such „strong“ arguments is that objects are underdetermined or incomplete in themselves, the kinds of underdeterminedness vary from one object-domain to another. Still, in all object-domains there is at least one type of underdeterminedness. As a result, the universality of the hermeneutic conception of understanding survives.32 Notes 1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke (= GW) 1, Tübingen 1986. English Translation: Truth and Method, 2nd rev. ed. Translated by Joel Weinsheimer and Donald G. Marshall, New York 1989. I have occasionally emended the translation to improve accuracy or readability. Further references to this work are indicated by „WM“ for the German original and „TM“ for the English translation. 2 I use „object“ broadly to refer to whatever we try to understand, whether a text, an artwork, an event, a person, etc. 3 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, 150 f. 4 Gadamer also stresses this point in the „Vorwort zur 2. Auflage“ of Truth and Method: Although the central part of this work is devoted to understanding in the Geisteswissenschaften, Gadamer explains that „it does not ask it only of the socalled human sciences […] Neither does it ask it of science and its mode of experience, but of all human experience of the world and life-practices.“ See GW 2, 439; TM XXIX f. 5 Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1970, 281. 6 See Gadamer’s „Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik,“ GW 2, 245; translated in English as „On the Scope and Function of Hermeneutical Reflection“ in: Philosophical Hermeneutics, translated and edited by David E. Linge, Berkeley 1976, 35. 7 See G. B. Madison, „Hermeneutics’ Claim to Universality“ in: The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, edited by Lewis Edwin Hahn, Chicago 1997, 349–365. 8 Gadamer uses all three terms. 9 To say simply that objectivity is less valuable than the enrichment provided by the fusion of horizons is akin to saying that „meaning“ is less valuable than „significance“ in the sense given to them by E. D. Hirsch in „Validity in Interpretation“ (New Haven 1967). But Gadamer’s argument should be construed not as privileging significance over meaning, but as taking issue with the distinction itself. 10 „Die Universalität des hermeneutischen Problems,“ GW 2, 226; translated in English as „The Universality of the Hermeneutical Problem“ in: Philosophical Hermeneutics, Linge, 11. 11 The logic of question and answer involves more than a point about selectivity.
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We ask different questions because we stand at different locations in history, a point dealt with below in the context of relational properties. The logic of question and answer also requires, according to Gadamer, a certain openness, but I will not take that up here. 12 „Die Universalität des hermeneutischen Problems,“ GW 2, 228, 230; „The Universality of the Hermeneutical Problem,“ 13, 15. 13 „Mensch und Sprache,“ GW 2, 150; translated in English as „Man and Language“ in: Philosophical Hermeneutics, Linge, 64. 14 The idea that we are absolutely locked into our language or worldview is one that Gadamer, of course, rejects: „How can we possibly understand anything written in a foreign language if we are thus imprisoned (gebannt) in our own? It is necessary to see the speciousness of this argument. In fact the sensitivity of our historical consciousness tells us […that] thinking reason escapes the prison of language“ (WM 406; TM 402). 15 See, for example, WM 309; TM 304. 16 See WM 384, 391, 401, 447, 449, 478; TM 378, 388, 397, 443, 445, 474. 17 Gadamer’s distinction between a linguistically constituted world and a world in itself beyond language and thus beyond our reach looks like the Kantian distinction between appearance and the unknowable thing in itself. Yet Gadamer (following Heidegger) rejects that distinction, insisting that the world presented in language is not different from the world in itself. The problem is that many Kant scholars now think that for Kant the appearance and thing in itself are not two different things, but that the appearance is just the thing in itself grasped under the epistemic conditions of the knower. See, for example, Henry Allison, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven 1983. So it is not clear that Gadamer has successfully carved out a different position from Kant’s on this particular point. What separates the two is that for Kant epistemic conditions are invariant, while for Gadamer language and preunderstandings are historically specific and shifting. 18 I have explored and defended this idea much more fully in the following articles of mine: „The Nonfixity of the Historical Past,“ in: Review of Metaphysics 50 (1997) 749–768; „Cambridge Changes Revisited: Why Certain Relational Changes are Indispensable,“ in: Dialectica 53 (1999) 139–149 and „A New Defense of Gadamer’s Hermeneutics,“ in: Philosophy and Phenomenological Research LX (2000) 45–65. 19 „Text und Interpretation,“ GW 2, 330–360; translated as „Text and Interpretation“ in: Dialogue and Deconstruction, edited by Diane P. Michelfelder and Richard E. Palmer, Albany 1989, 21–51. Further references to this text will be given in parentheses as „TuI“ with the German page numbers first, and „TaI“ with the English page numbers second. 20 See the following passage: „[…] understanding and interpretation not only come into play in what Dilthey called ‘expressions of life fixed in writing,’ but they apply to the general relationship of human beings to each other and to the world […] In this respect the universal claim of hermeneutics is beyond all doubt.“ (TuI 330; TaI 21) 21 „Dichten und Deuten,“ GW 8, 21; translated as „Composition and Interpretation“ in: Hans-Georg Gadamer, The Relevance of the Beautiful and other Essays,
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Cambridge 1986, 70. Although Gadamer says that this indeterminacy is characteristic of poetry because of its language, it seems that other forms of art are indeterminate in their own ways, even if to a lesser degree. A novel may be less indeterminate than a poem due to its more clearly referential language. A nonlinguistic artwork such as a painting would seem to be indeterminate its own way. 22 „Wer bin Ich und wer bist Du,“ GW 9, 433; translated as „Epilogue to Who Am I and Who Are You?“ in: Gadamer on Celan, edited by Richard Heinemann and Bruce Krajewski, Albany 1997, 134. 23 See my „Gadamer’s Hermeneutics and the Question of Authorial Intention,“ in: The Death and Resurrection of the Author, edited by William Irwin, Westport/ Conn. 2002, 45–64, especially 48ff. 24 This leaves out texts that are spoken, i.e. conversational utterances. For an account of how they fit into hermeneutic theory, see my „Reconciling Gadamer’s Non-Intentionalism with Standard Conversational Goals,“ in: The Philosophical Forum 30 (1999) 317–328. I argue there that understanding conversational utterances, like understanding narrowly message-conveying texts, involves a concern for the intended message and for reaching agreement in understanding, but still amounts to a fusion of horizons. 25 See H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2nd ed. Oxford 1997, 123. 26 I will not discuss past objects from our culture that have had little or no influence on subsequent history on us. It seems clear that such „forgotten“ objects are embedded in a history of effects and so present no special problem for Gadamer’s theory. 27 Charles Taylor argues that Gadamer’s hermeneutics is particularly well-suited to crosscultural understanding. See „Understanding the Other: A Gadamerian View on Conceptual Schemes“ in: Gadamer’s Century, edited by Jeff Malpas, Ulrich Arnswald and Jens Kertscher, Cambridge/Mass. 2002, 279–298. 28 See „Vorwort zur 2. Auflage“, GW 2, 442; TM XXXII. He briefly mentions our understanding of Eskimo tribes a second time, see „Die Universalität des hermeneutischen Problems,“ GW 2, 227; „The Universality of the Hermeneutical Problem,“ 12. 29 See Edward Said, Orientalism, New York 1979. I am grateful to Allaine Cerwonka for making me see this point. 30 See Lester D. Langley, The Americas in the Age of Revolution, New Haven 1996. 31 TuI 343, 346; TaI 33, 36. 32 Thanks to Jared Welsh for research and editing assistance.
Michael Hofer Hermeneutische Reflexion? Zur Auffassung von Reflexion und deren Stellenwert bei Hans-Georg Gadamer E.C. (1905–2002) zum Gedenken
Es braucht keine allzu große Vertrautheit mit den Schriften HansGeorg Gadamers, damit einem die Rede von der „hermeneutischen Reflexion“ bekannt ist, die dazu dient, das zu kennzeichnen, was Hermeneutik eben ist bzw. tut: zu reflektieren auf das Verstehen; so auch noch 1992 in einem der jüngsten Texte, der in die „Gesammelten Werke“ aufgenommen wurde.1 Umso erstaunlicher ist es, dass es eine später – um 1996 herum – von Gadamer getätigte Aussage gibt, die auf eine Zurückweisung des Begriffs der Reflexion zur Kennzeichnung seiner Unternehmung hinausläuft: „It would have been better if I had avoided the concept of reflection entirely, or if I at least had added that I meant a kind of performance knowledge [Vollzugswissen].“
Gadamer fügt dem weiter unten hinzu, dass seine Rede von Reflexion noch an Missverständlichkeit gewinnt, wenn man diese „in a very narrow, modern, Kantian sense“2 auffasst. Dadurch wird nicht nur die bisherige Kennzeichnung seiner Hermeneutik korrigiert, sondern zugleich ein bestimmtes Reflexionsverständnis artikuliert. Unweigerlich werden damit folgende Fragen vordringlich: Was versteht denn Gadamer überhaupt unter Reflexion? und: Welchen Stellenwert misst er der Reflexion bei? Dabei wird sich zeigen, dass die zitierte Auskunft Gadamers aufs Erste vielleicht in ihrer Deutlichkeit überraschen mag, sich jedoch bei genauerem Hinsehen mannigfaltige Hinweise und Antworten auf die aufgeworfenen Fragen in Gadamers Texten seit langem finden lassen und diese Auskunft nahe legen.
I. Bei dieser Selbstkorrektur Gadamers handelt es sich um keine Episode. Vielmehr bildet sie gewissermaßen den Abschluss eines lang dauernden Schwankens oder – wenn man will – der Klärung des Theoriestatus der Hermeneutik Gadamers. Erinnern wir uns: In der Einleitung zu „Wahrheit
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und Methode“ (1960) benannte der Autor sein Anliegen als Berichtigung des Selbstverständnisses der Geisteswissenschaften. Und das stellte er in den weiten Kontext der Vorherrschaft des wissenschaftlichen Methodengedankens und der damit einhergehenden Verengung des Wahrheitsbegriffs. Es ging dabei auch um die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins der aus der Geschichte stammenden Prägungen unseres Denkens und Sprechens. Im „Vorwort zur zweiten Auflage“ (1965) ist dann – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Kant – die Rede von der quaestio iuris, um sein Unterfangen durch die Frage „Wie ist Verstehen möglich?“3 zu kennzeichnen, wonach das Wesentliche in „der hermeneutischen Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens“4 liegt. In „Wahrheit und Methode“ konnte man auch schon vor diesem Hinweis davon lesen, dass Gadamer „an den transzendentalen Sinn der Heideggerschen Fragestellung“5 anknüpft. Zunehmend tritt dann aber die Charakterisierung seiner Hermeneutik durch die Nähe bzw. Parallelisierung zur praktischen Philosophie, ja durch Ineinssetzung mit ihr in den Vordergrund. Stößt man bis dahin auf Wendungen, die sein Unternehmen als „eine philosophische Theorie der Hermeneutik“6 bezeichnen, so wird das nun zunehmend problematisiert, wenn nicht vermieden, wie etwa im „Nachwort zur 3. Auflage“ (1972). Freilich wird auch jetzt noch die Hermeneutik als reflexiv verfasst angesehen, schließlich seien praktische Philosophie, wie sie Aristoteles verstand, und Hermeneutik jeweils auf einer anderen Ebene anzusiedeln als das, worauf sie reflektierten: auf Praxis bzw. auf Verstehen.7 Dabei hat aber der Begriff Reflexion bereits einen gänzlich anderen Sinn angenommen gegenüber der ursprünglichen Anbindung an Kant. Und so wird deutlich, dass die verschiedenen Kennzeichnungen, die Gadamer für seine Hermeneutik anbietet, nicht ohne Auswirkung bleiben für seinen Begriff der hermeneutischen Reflexion. Im Übrigen sah sich Gadamer wesentlich aufgrund von Anfragen zu je neuen Explikationen dessen, was die als philosophisch gekennzeichnete Hermeneutik eigentlich sei, veranlasst. Aus der Unsicherheit über den jeweiligen Theoriestatus der gadamerschen Hermeneutik folgte nämlich, dass unterschiedliche Verortungen von Seiten der Rezipienten vorgenommen wurden. Nach Erscheinen der ersten Auflage war die Verhältnisbestimmung zur traditionellen Hermeneutik als einer technischen besonders strittig. So versuchte man etwa, sie auf eine Methodenlehre festzulegen; also ganz im Gefolge Schleiermachers würde ihr dann die Aufgabe zukommen, auf die Auslegungspraxis zu reflektieren und diese durch ein Regelwerk abzusichern.8 Ein solches Ansinnen wies Gadamer zurück durch die oben erwähnte Berufung auf Kant. Diese Verdeutlichung schien eine anders gelagerte Verortung nahe zu legen und zu ermöglichen: Dann wäre das von Gadamer zur Kennzeichnung verwendete Adjektiv „philosophisch“ so aufzufassen, dass es
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ihm um eine transzendentalphilosophische bzw. „transzendentale Hermeneutik“ (Apel) geht. Gadamer wich von diesem Weg erneut ab und versuchte seine Hermeneutik anders als transzendentalphilosophisch zu verorten bzw. zu begründen. Das liegt u. a. darin begründet, dass eine solche Fundierung mit Hilfe transzendentalphilosophischer Argumente dem Streben nach Gewissheit, das für methodische Verfahren kennzeichnend sei, viel zu nahe kommt und um die Inanspruchnahme von Subjektivität kaum umhin kommt. Der angeklungene transzendentale Anspruch ist also schwer mit anderen Intentionen von „Wahrheit und Methode“ in Einklang zu bringen.9 Das zeitigt allerdings missliche Folgen für die Durchführung der Hermeneutik Gadamers. Die Reflexion auf den Verstehensprozess droht dann nämlich allzu sehr dem Verstehen selbst angeglichen zu werden, sodass die Reflexion selbst zum Vollzug des Verstehens wird. Verstehen wird dann lediglich verstanden, jedoch nicht begriffen.10 Daraus resultiert wiederum die Schwierigkeit, dass eine so geartete Hermeneutik als Verstehen des Verstehens keinen Geltungsanspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen erheben kann. Diese Problematik ist bekannt.11 Bei Gadamer gibt es sehr wohl Aussagen, die allgemein gültig sein wollen, aber zugleich fällt die für eine philosophische Hermeneutik zu erwartende Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen solcher Aussagen aus. So betont Gadamer: „Wenn das Prinzip der Wirkungsgeschichte als ein allgemeines Strukturmoment des Verstehens geltend gemacht wird, so schließt diese These gewiß keine historische Bedingtheit ein, sondern will schlechthin gelten.“12 Wenn Hermeneutik bloß ein Verstehen des Verstehens ist, dann ist diese Aussage nicht zulässig, da das Verstehen des Verstehens selbstredend unter derselben Bedingung, also der Wirkungsgeschichte steht, wie das verstandene Verstehen. Hier wird für das Tätigen dieser Aussage offensichtlich der Status der Reflexion als eines Begreifens des Verstehens eingenommen. Umgekehrt gibt es Aussagen, die nicht allgemein gültig sein können, da sie dann in der Anwendung auf sich selbst widersprüchlich sind: Hierfür mag z. B. die berühmte Wendung angeführt werden, wonach es „genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht“13. Auf Gadamers Hermeneutik gewendet, wäre sein Verstehen des Verstehens ein Andersverstehen des Verstehens und nicht recht des Aufhebens wert. Kurz: Macht man für das Unternehmen der Hermeneutik Reflexion geltend, dann drängt diese Reflexion über sich hinaus zu ihrer Selbstaufklärung. D. h., Hermeneutik zielt als Reflexion auf ein Begreifen des Verstehens durch Herausarbeiten der apriorischen Möglichkeitsbedingungen desselben, und zwar so, dass auch dieses Begreifen des Verstehens erneut begriffen werden kann. Diese Bewegung der Reflexion wurde aber von
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Gadamer bereits in „Wahrheit und Methode“ zurückgewiesen unter der Etikette „Reflexionsphilosophie“, die letztendlich darauf hinauslaufe, den Einfluss der Wirkungsgeschichte durch Bewusstmachung aufheben14 oder – wie es später auch heißt – auflösen15 zu wollen. Diese Zurückweisung erfolgt aber bekanntlich auf recht eigentümliche Weise: Zwar wird der Reflexionsphilosophie Recht gegeben, zugleich wird sie aber abgewiesen durch zwei Behauptungen: Einerseits sei dieser Argumentation so gut wie kein Erfolg beschert, schließlich würde sich kein Skeptiker durch diese Argumentation von seiner Skepsis abbringen lassen16, andrerseits sei diese Argumentation bloß formal und würde dieselbe als „suspekt“17 erscheinen lassen. Diese Zurückweisung einer transzendentalen Reflexion hat Schule gemacht und fand bei Gefolgsleuten Gadamers, z. B. bei Vattimo, Aufnahme und Fortführung.18 Gadamer selbst fühlte sich, wie er in seiner „Selbstkritik“ schreibt, vor allem durch die Diskussionsbeiträge von Apel und Habermas veranlasst, „die wissenschaftstheoretische Eigenart einer philosophischen Hermeneutik schärfer herauszuarbeiten“19. Das unternimmt er dadurch, dass er die Hermeneutik als praktische Philosophie kennzeichnet. Erneut ging es hier um Reflexion, deren Stellenwert als hermeneutisch-kritischer und deren Reichweite.20 Durch diese neue Bestimmung erarbeitet er sich auch Argumente, die eine transzendentale Reflexion als unmöglich erscheinen lassen sollen. In diesem Zusammenhang legt Gadamer größten Wert auf den Hinweis, dass sich die praktische Philosophie des Aristoteles um die Herausarbeitung und Rechtfertigung der Eigenart des praktischen Wissens, der phronesis, bemüht, jedoch selbst nicht phronesis sein kann, sondern darauf reflektiert und damit – „[f]reilich zögert man, den modernen Begriff der Theorie auf die praktische Philosophie anzuwenden, die schon ihrer Selbstbezeichnung nach praktisch sein will“21 – Theorie ist. Aber eben nicht Theorie im angesprochenen und zurückgewiesenen Verständnis der Neuzeit, wonach Theorie etwas ist, das einer nachträglichen, ihr äußerlichen Anwendung bedarf. Eine solche Auffassung von Theorie hat bei Aristoteles ihren Platz im Bereich der Poiesis, des herstellenden Handelns und dem entsprechenden Regelwerk (techne), das jeweils Anwendung findet. Hier kann es zu einer Spaltung kommen zwischen Theorie und Praxis im neuzeitlichen Sinne: indem das Wissen um die Regeln, die „Theorie“, und die Erfahrung des Machens, die „Praxis“, aufeinander prallen. Diese Möglichkeit verdankt sich dem Umstand, dass Technik Distanz und Abstand erlaubt: Es liegt an mir, ob ich mein Können anwende oder nicht. In dieser Auseinandersetzung zielte Gadamer auf folgende Klarstellung: Reflexion, wie er sie in Anspruch nehme, sei eben – wie er gegen Habermas und Apel betont – keine Technik, sondern Reflexion über Praxis bzw. auf den Vollzug des Verstehens.22 Praktische Philosophie erhebt sich gewisser-
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maßen als Reflexionsbewegung aus der Praxis, dem Sich-Verhalten und der damit aufgeworfenen Frage nach vernünftigem Handeln. Dabei ist die praktische Philosophie kein „Wissen auf Abstand“23 wie die neuzeitliche Theorie im Gegensatz zur Praxis, sondern diese praktische Philosophie will auf die Praxis auch wieder zurückwirken, also über gutes Handeln nicht bloß reflektieren, sondern es auch befördern. Darüber hinaus hebt Gadamer noch einen anderen Sachverhalt hervor, der deutlich macht, wie sehr praktische Philosophie und praktisches Wissen ineinander gefügt sind: Unser praktisches Wissen ist immer auch bedingt und begrenzt durch das, was die Griechen „Ethos“ nannten, also durch die Sitte einerseits und durch den Charakter des Einzelnen andererseits; und diese Bedingt- und Begrenztheit trifft auch auf die praktische Philosophie zu: „Hier setzt ‘Theorie’ ‘Teilhaben’ voraus.“24 „So kann Aristoteles die Bedingtheit alles menschlichen Seins im Inhalt seiner Lehre vom Ethos anerkennen, ohne daß diese Lehre selber ihre Bedingtheit verleugnete.“25 Denn diese finde als Reflexion auf die Lebenspraxis an derselben „ihre eigene Begründung und Begrenzung“26. Diese Art von Reflexion ist also nicht voraussetzungslos, vielmehr ist einerseits – für die praktische Philosophie – das gesellschaftliche Sein des Menschen, also die jeweilige Lebenspraxis und die damit einhergehenden gemeinsamen Überzeugungen einer Gesellschaft, andrerseits – für die Hermeneutik – das wirkungsgeschichtliche Sein des Menschen, also die Wirkungsgeschichte der Überlieferung und das daraus resultierende Vorverständnis vorausgesetzt. Die Ideologiekritik übersieht seiner Meinung nach auch diese Begrenztheit der hermeneutischen Reflexion und bringt ihren Anspruch in die Nähe der Technik: so als ob hier, im Bereich der Praxis, ein Regelwissen (techne) möglich wäre, das gewünschte gesellschaftliche Zustände herstellen ließe. Für Gadamer läuft eine solche Auffassung hermeneutisch-kritischer Reflexion auf eine Überschätzung der Möglichkeiten der Reflexion hinaus. In diesem Zusammenhang liefert er nur nebenbei einen Hinweis darauf, dass es auch noch andere Auffassungen von Reflexion gebe. Ausdrücklich spricht er dabei an, dass der Reflexion bei Habermas und Apel eine „falsche Vergegenständlichung“ zugrunde liege: Zugleich teilt er aber doch deren Reflexionsauffassung – im Sinne von Bewusstmachen –, unterscheidet sich allerdings bezüglich der Reichweite, die er der Reflexion zutraut. Schließlich sei es nicht möglich, die Tradition im Ganzen vor sich zu bringen. Dieser Reflexion eignet eben, wie gesagt, eine „wesenhafte Partikularität“27. Hier ist zu beachten, dass diese Debatte von einem empirisch-psychologischen Reflexionsverständnis geleitet wurde: So wie in der Psychoanalyse eine Emanzipation von inneren und äußeren Zwängen stattfinden soll, da Bewusstwerdung, d. h. in diesem Verständnis: Reflexion diese aufzulösen vermag, so gelingt es der hermeneutischen Reflexion, sich mancher der Vorurteile be-
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wusst zu werden. Im Übrigen hat jüngst Apel selbst des Öfteren28 darauf hingewiesen, dass das ihn, und auch Habermas, leitende Verständnis von Reflexion ein empirisch-psychologisches gewesen und die Geltungsproblematik dadurch versäumt worden sei. Jedenfalls will sich Gadamer dadurch nun auch deutlich gegenüber einer transzendentalphilosophischen Auffassung von Reflexion, etwa in der Gestalt von Litt oder Apel, absetzen.29 Das ist in geltungstheoretischer Hinsicht und der damit verbundenen Reflexionsproblematik relevant. Welche Art von Reflexion wird hier in Anspruch genommen, um die Begrenztheit der Reflexion, wie sie von der praktischen Philosophie geübt wird, ansprechen zu können? Und: Welchen Geltungsanspruch hat diese Behauptung der Begrenzung sowohl des praktischen Wissens als auch der Reflexion darauf? Wohl keinen begrenzten. Ebenso bezüglich der Endlichkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins: Die Endlichkeit desselben liegt darin, dass es sich nie aller Einflüsse und Voreingenommenheiten, die aus der Wirkungsgeschichte herrühren, bewusst werden kann. Woher sollen wir dann aber wissen können, dass „unser im Ganzen unsrer Geschicke gewirktes Sein sein Wissen von sich [d. h. des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, M. H.] wesensmäßig überragt“30? Die Bewusstseinstranszendenz wirkungsgeschichtlicher Faktoren wird von welchem Bewusstsein aus behauptet? Entweder ist es möglich, von deren Wirkung zu wissen, dann sind sie nicht mehr bewusstseinstranszendent, oder man kann von ihnen nichts wissen und demnach auch nicht ihren Einfluss behaupten. Reflexion im geltungstheoretischen, transzendentalen Sinne wird allerdings nicht thematisch. Der Hinweis, dass Reflexion in der Wirkungsgeschichte steht und partikular ist, weil sie diese materialiter nicht vollständig durchreflektieren kann, trifft nicht die Frage nach der Geltung dieser Aussage. Wirkungsgeschichtliche Reflexion als begrenzt aussagen zu können ist doch wiederum Erkenntnis einer Reflexion, die nun nicht erneut begrenzt sein kann, da sie auf einer anderen Ebene statthat. Dadurch wird auch die Begrenztheit nicht aufgelöst, sondern sie wird als Begrenztheit ins Bewusstsein gehoben, und zwar auf einer Ebene, die die Begrenztheit „nicht sowohl austilgt als vielmehr in ihrem Daß, ihrem Wie und ihrem Warum begreift und so erst recht in ihren Rechtstiteln befestigt“31. Die angesprochene, andere Auffassung von Reflexion, die Gadamer hier im Auge hat, ist die Brentanos, die sich von der „ausdrücklichen und thematischen Reflexion“ unterscheide, und er sagt im Rahmen dieser Auseinandersetzungen dazu nur so viel: „Es gibt sehr wohl eine innere Rückwendung der Intentionalität, die keineswegs das so Mitgemeinte zum thematischen Gegenstand erhebt.“32 Hermeneutische Reflexion, der praktischen Philosophie ähnlich, ist also begrenzt und kann nicht alle Vorurteile, die der Tradition entstammen, vor
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sich bringen. Gadamer, so haben wir gesehen, ist bemüht, seine Hermeneutik in Analogie zur praktischen Philosophie auf einer reflexiven Ebene zu verorten. Jedoch ist er zugleich bemüht, diesen Abstand der Reflexion zu ihrem Gegenstand möglichst gering zu halten. Er habe seinen Kritikern für die „Heraushebung dieses Punktes, die sie mir abnötigten, zu danken“, dass nämlich „auch die hermeneutische Reflexion ein integrales Moment des Verstehens selber [sei], ja dies so sehr, daß mir die Trennung der Reflexion von der Praxis eine dogmatische Beirrung einzuschließen scheint, die auch noch den Begriff der ‘emanzipatorischen Reflexion’ trifft“.33
Nach den Debatten mit der Ideologiekritik läuft also Hermeneutik erneut auf ein Verstehen des Verstehens hinaus. Aber auch von der anderen Seite, vom Vollzug des Verstehens her, weist Gadamer darauf hin, dass die Reflexion nicht fern, sondern vielmehr ein Moment desselben sei: sodass also „Verstehen als hermeneutische Aufgabe stets schon eine Dimension der Reflexion einschließt. Verstehen ist keine bloße Reproduktion einer Erkenntnis, d. h. nicht ein bloßer wiederholter Vollzug derselben, sondern ist sich der Wiederholtheit ihres Vollzuges selber bewußt.“34 Das Verstehen wird aber in seiner Wiederholtheit nicht ausdrücklich zum Gegenstand einer Reflexion gemacht. Was hier in Bezug auf das Verstehen der Überlieferung gesagt wird, stellt Gadamer in viel allgemeinerer Hinsicht einmal fest: nämlich „daß es mit dem Verstehens-Vollzuge stets ein mitgehendes Bewußtsein gibt, das nicht vergegenständlichend ist“35. – Dieses Zitat ist eine Erläuterung dessen, wodurch Gadamer transzendentale Reflexion ersetzt wissen wollte: durch Vollzugswissen; dieses besteht demnach in einem Begleitbewusstsein eines Vollzugs, d. h., ich vollziehe etwas und zugleich weiß ich – nebenbei und begleitend –, dass ich etwas vollziehe. Dass Gadamer tatsächlich durch Reflexion in diesem Sinne von Vollzugswissen die theoretische Eigenart der Hermeneutik begründen will, erhellt auch aus einer anderen Stelle. Auch dort geht er in genau diesem Problemzusammenhang andeutungsweise auf Brentano ein, um ihn in seiner Berechtigung gegenüber Apel herauszustellen: „In der Frage der Reflexion scheint mir Brentanos auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung des reflexiven Inneseins von der objektivierenden Reflexion dem Erbe des deutschen Idealismus überlegen. Das gilt in meinen Augen selbst noch gegenüber der transzendentalen Reflexionsforderung, die von Apel und anderen an die Hermeneutik gerichtet worden ist.“36
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II. Vor allem die abwertenden Aussagen über das Subjekt, wie es in der neuzeitlichen Philosophie konzipiert wurde, und dessen Stellenwert sind bekannte Maßnahmen, durch die sich Gadamer, hier ganz im Gefolge Heideggers, positionieren will. Da ist dann die Rede davon, dass „[d]er Fokus der Subjektivität […] ein Zerrspiegel“37 sei, dem gegenüber Gadamer darauf zielt, an die „Abdämpfung der Subjektivität“38, wie sie bei den Griechen zu finden ist, anzuschließen, und damit der „großartigen Selbstvergessenheit dieses Denkens“39 nachzugehen. Programmatisch bringt er seine Absicht zum Ausdruck, dass ihm daran gelegen sei, „die hermeneutische Dimension als ein Jenseits des Selbstbewußtseins sichtbar zu machen“40. Das Thema der Reflexion bildet dazu lediglich die andere, bislang so gut wie nicht beachtete Seite.41 Das neuzeitliche Subjekt, beginnend bei Descartes, wird als reflexiv verfasst gedacht. Damit sind die Begriffe Subjekt und Reflexion, als der ausdrücklichen Zu- bzw. Rückwendung auf sich, aufs Engste verbunden. Indem wir uns nun den gadamerschen Begriff von Reflexion vergegenwärtigen, wird es in der Folge auch möglich sein, seine Konzeption von Subjekt nachzuvollziehen. Immer wieder macht Gadamer darauf aufmerksam, dass sich bei den Griechen kein Begriff für Ich, Subjekt oder Bewusstsein findet. Sehr wohl aber ist ihnen das Phänomen der Selbstbezüglichkeit geläufig und wird von ihnen auch bedacht anhand des Phänomens der Selbstbewegung. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass Selbstbezüglichkeit in erster Linie nicht als Strukturmoment von Subjektivität in den Blick kommt. Vielmehr ist Selbstbezüglichkeit geradezu die Grundstruktur des natürlichen Seins, der physis, insofern dieses als Lebendiges auch Selbstbewegtes ist. Leben als Selbstbewegung hat diese Struktur der Selbstbezüglichkeit, dieses Lebendigsein ist ein Sich-zu-sich-selber-Verhalten.42 Das gilt nicht nur für das Tier und den Menschen, sondern auch für die Pflanze, die sich an bestimmte Umweltgegebenheiten assimiliert. Alles natürlich Seiende ist beseelt, hat also psyche. Und das Wesen der psyche liegt in der Selbstbewegung. Was lebendig ist, also Seele hat, das bewegt sich von sich aus.43 Im „Charmides“ verhandelt Platon die Fragen nach der Selbstbezüglichkeit einer dynamis, eines Könnens (166c ff.). Sie wird erstaunlicherweise an so unterschiedlichen Beispielen wie dem Sehen, Hören, dem Denken, der Selbstbewegung und auch dem Selbsterwärmen erörtert. Auffallend oder, wie Gadamer sagt: „irritierend“44 ist an dieser Passage, dass hier gar nicht die Rede davon ist, wem eine solche dynamis zukommt. Hier ist allein von der Selbstbezüglichkeit der dynamis die Rede. Und Gadamer kommentiert:
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„Wir würden nicht von einer Selbstbezüglichkeit der Dynamis, sondern von einer solchen der Seele, d. h. des lebenden und durch Bewußtsein ausgezeichneten Wesens sprechen. Es scheint eine Bestimmung der Seele, diese Struktur der Selbstbezüglichkeit zu haben, und nicht eine der Dynamis. Auf der anderen Seite trifft die Identifikation der Dynamis mit dem Selbst der Seele auch etwas Richtiges. Es ist ja nicht eigentlich das Können selbst, was da kann, sondern ich selbst bin es. Nur deshalb weil ich es bin, der etwas kann, kann ich mich ja auch von dem Vollzuge bewußt zurückhalten, und nur so, im An-mich-halten, sind die beiden Möglichkeiten als solche überhaupt präsent. Es ist immer die ganze Seele, die sich verhält.“45
Gadamer weist hier auf den „Theaitetos“ (184c, d) hin, wo Platon den Begriff des „Selbst“ gewinnt und damit die Auffassung hinter sich lässt, dass Hören und Sehen als eine Begegnung zwischen zwei Seienden zu denken seien. Doch dürfe dieses hier gewonnene Selbst nicht vorschnell neuzeitlich gedacht und mit dem Bewusstsein gleichgesetzt werden. Denn die psyche meine hier nicht das Bewusstsein, das auf sich reflektierend zurückkommen kann, oder wie Gadamer es formuliert: psyche ist nicht gemeint als „ein ausgezeichnetes Fürsichsein“46; also als etwas, das eine wissende Beziehung auf sich selbst hat: so wie das Selbstbewusstsein des Descartes. Vielmehr ist damit die Instanz gemeint, in der das Sein gegenwärtig ist. – Die Seele ist, wie Gadamer betont, gemäß Aristoteles der „Ort der Ideen“ oder, wie es auch heißt, „in gewisser Weise das Seiende selbst“.47 Das Bewusstsein ist intentional gedacht und lässt das Seiende in seinem Ansichsein erkennen.48 Bei den Griechen findet sich also sehr wohl die Thematisierung der Selbstbezüglichkeit. Was jedoch fehlt, ist eine ausdrückliche Thematisierung der Seele, die sich auf sich zurückwendet. Vielmehr wird die Seele, darin den anderen Gegenständen der Natur gleich, gleichsam von außen betrachtet, auch wenn ihr eine besondere Weise des Gegebenseins eingeräumt wird, da sie doch nur durch die Vernunft zu erfassen ist.49 Darüber hinaus werde beim Denken der psyche von den Griechen die Mitte gehalten zwischen dem Aspekt der Selbstbewegung und dem Aspekt des Selbstbewusstseins. Erst in der Neuzeit sei der erste Aspekt in Vergessenheit geraten und der zweite über Gebühr beachtet worden. Bei Gadamer findet sich dieser Hinweis an zwei Beispielen ausgeführt. Einmal anhand eines Fragments von Heraklit, DK Nr. 26, das für Gadamer in den letzten Lebensjahren unübersehbar eine große interpretatorische Herausforderung darstellte: „Der Mensch in der Nacht zündet sich [haptetei heauto] ein Licht an, wenn die Augen erloschen sind. Lebend rührt er an den Toten, erwacht rührt er an den Schlafenden.“50 Die Wendung des Sich-Anzündens des Lichts deutet Gadamer nun von dem angesprochenen Sachverhalt aus, insofern man fragen kann: „Ist es anzündend – ‘für sich selbst’? – oder ist es ‘von selber’ entflammend wie das Scheit Holz im Kamin?“51
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Gadamer interpretiert in diesem Kontext das Licht als Metapher für psyche. Und durch die Formulierungen „für sich selbst“ und „von selber“ will er einerseits das Selbstbewusstsein und andererseits die Selbstbewegung als die zwei Momente der psyche angesprochen wissen. Als zweites Beispiel verweist er auf den platonischen Begriff der psyche, der ebenfalls „zwischen Selbstbewegung und Selbstbewußtsein in der Mitte steht“. So meint psyche einmal, im Sinne der Selbstbewegung, „das Wunder des Lebens“, zugleich ist damit auch das „Rätsel des Wachseins“ bezeichnet, und damit „die in allem Wachen wirkende Beziehung auf sich selbst“.52 Nach Aristoteles ist es ein den Menschen kennzeichnender Sachverhalt, dass in allem, was er tut, er dies bewusst tut.53 In jedem psychischen Akt ist man nicht nur weggegeben an den Vollzug dieses Aktes (Wahrnehmen, Denken) und an das Woraufhin des Aktes, sondern zugleich ist dies begleitet von einem Rückbezug auf einen selbst. Dieser Rückbezug wird allerdings nicht ausdrücklich gemacht, sondern geht mit dem jeweiligen Akt unthematisch einher. Das ist es, was sich als „Abdämpfung der Reflexion“ ansprechen ließe: Bei den Griechen wird das begleitende Bewusstsein nicht ausdrücklich zum Gegenstand der Reflexion. Bereits sehr früh, nämlich in seiner Habilitationsschrift, macht Gadamer auf die Notwendigkeit des Begleitbewusstseins aufmerksam und dadurch auch deutlich, dass es sich dabei um einen logischen Sachverhalt handelt: Dort ist die Rede von der Selbstvergessenheit des Menschen in der völligen Hingabe an die Lust. Jedoch kann die Selbstvergessenheit tatsächlich keine vollständige sein, vielmehr muss der Rückbezug auf einen selbst gewahrt bleiben. Schließlich genießt sich das Subjekt gerade in dieser Vergessenheit, in diesem Weggegebensein ans Objekt der Lust, und auch nur deshalb kann dem Subjekt ein solcher Zustand erstrebenswert sein.54 In einem anderen Zusammenhang unterscheidet er zwei Reflexionsbegriffe, von denen sich der eine unschwer als aristotelisch inspiriert erkennen lässt. Einmal wird Reflexion vorgestellt als „freie Zuwendung zu sich selbst“55. Dieses Verständnis sei tragend geworden in der Reflexionsauffassung der Neuzeit. Bezeichnenderweise erläutert er dieses Verständnis mit der dem Können, der techne, eigenen Reflexion, wie sie Platon im „Charmides“ (166c ff.) herausgearbeitet hat. Derjenige, der etwas kann, ist dadurch auch in der Lage, zu diesem Können auf Distanz zu gehen: So kann der Läufer, der sich seiner Schnelligkeit bewusst ist, absichtlich langsam laufen. Diese Distanz, die kennzeichnend ist für Reflexivität, kommt durch die dem Können eigene Reflexivität zustande: Wenn jemand eine Sache beherrscht, dann ist dieses Können ein Können des Könnens und Nichtkönnens zugleich. Allerdings fragt sich Gadamer, ob dieses Verfügenkönnen über einzelne Fähigkeiten ein Modell darstellt für die dem Menschen eigene Reflexivität. – Wenn Gadamer an dieser Stelle betont,
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dass das Können letztlich nicht die Analogie zum Werkzeuggebrauch durchhält, das man gebraucht und weglegt, und zwar deshalb, weil jedem Können ein Sein entspreche, dann wird auch hier der Unterschied zwischen techne und phronesis als Hintergrund deutlich. Für Gadamer ist die freie Zuwendung zu sich grundsätzlich problematisch, und zwar aus folgenden zwei Gründen: Erstens sei der Mensch nicht jederzeit fähig zur „reflexiven Distanz zu sich selber“56; eine solche Behauptung ist für Gadamer dogmatisch. Darüber hinaus könne, zweitens, eine solche Zuwendung zu sich nicht als frei und damit als Sinnbild von Freiheit gelten, da diese Zuwendung immer motiviert sei. Wenn wir diese Gründe in all ihrer Fragwürdigkeit einmal auf sich beruhen lassen, dann muss noch der Hinweis festgehalten werden, wonach eine solche Reflexion die Vergegenständlichung dessen mit sich bringe, worauf sie sich richte. Gadamers Anliegen ist es, auf einen anderen Begriff der Reflexion hinzuweisen. Für diese ist kennzeichnend, dass sie nicht „mit dem Begriff der Vergegenständlichung verknüpft ist. Das eigene Selbst, dessen man sich reflexiv bewußt ist, ist nicht in dem Sinne Gegenstand, wie wir sonst ein objektivierendes Verhalten der Erkenntnis auf einen Gegenstand gerichtet nennen, der als erkannter gleichsam seine Widerstandskraft verliert, besiegt ist, verfügbar wird.“
Vielmehr knüpft Gadamer an die aristotelische Auffassung an, wenn er fortfährt: „Reflexivität als die Möglichkeit der Distanz zu sich selber meint nicht ein Gegenüber zu einem Gegenstande. Sie ist vielmehr in der Weise im Spiel, dass sie mit dem gelebten Vollzuge mitgeht. Das ist unsere eigentliche Freiheit, daß so im ‘Mitgehen’ mit den Lebensvollzügen Wahl und Entscheidung ermöglicht werden, und eine andere Freiheit zu sich selbst, zu der wir uns selbst aus freiem Entschluß erheben, gibt es nicht.“
Reflexion meint also „[r]eflexives Mitgehen mit dem Vollzuge, nicht vergegenständlichendes Gegenübertreten“. Das ist die Form von Reflexion, die zunehmend Gadamers Interesse findet und auf die er anspielt durch die Rede vom Vollzugswissen. Es ist damit der Sachverhalt gemeint, dass in jedem bewussten Akt ein Rückbezug auf einen selbst gegeben ist, ohne jedoch ausdrücklich thematisch zu werden. Immer wieder findet sich zur Verdeutlichung dieser Auffassung der Hinweis, dass der Terminus „Reflexion“ aus der Optik komme und in der Stoa Eingang gefunden habe in die Philosophie. – Nicht ohne die Eigenart des Lichtes für die philosophische Konzeption des Bewusstseins zu berücksichtigen: Das Licht erhellt sich selbst, indem es etwas anderes erhellt.57 So ist auch der Mensch sich seiner bewusst, indem er aufgeht im jeweiligen Akt und ganz bei den Din-
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gen ist. Dieses „Weggegebensein“58 ist die Ermöglichungsbedingung dafür, ausdrücklich auf sich zu reflektieren. Die ausdrückliche Reflexion auf sich hat dagegen Störungscharakter und zielt auf Entstörung, sodass das Bewusstsein sozusagen wieder zurückfällt in die begleitende Gestalt. Um die Nachrangigkeit dieser ausdrücklichen Reflexion auf sich zum Ausdruck zu bringen, wird sie als „Sekundärphänomen“59 angesprochen. Bemerkenswert ist bei diesem Hinweis, dass er als phänomenologisch gekennzeichnet und an psychologisch gehaltenen Beispielen verdeutlicht wird: So kommt es zur Selbstreflexion etwa im Krankheitsfall, wenn mir etwas fehlt.60 Überhaupt fällt auf, dass Gadamer diese Art von Reflexion als psychologischen Sachverhalt thematisiert: also als Introspektion, als Rückwendung auf das eigene Innere, das nun an die Stelle des Gegenstandes rückt und dadurch vergegenständlicht wird. So führt er als Beispiel etwa an: „[…] wird sich jemand des Zornes bewusst, der ihn erfüllt, so ist dieses erreichte Selbstbewusstsein immer schon eine Verwandlung, wenn nicht gar eine Verwindung des eigenen Zornes.“ Besonders aufschlussreich ist, dass dieses Beispiel angeführt wird, um die Reflexionsthematik bei Kant und den Idealisten zu verdeutlichen. Dort spricht er anfangs noch vom Wissen und der Aufstufung der Reflexion: „Wenn ich weiß, so kann ich stets auch wissen, daß ich weiß. Diese Bewegung der Reflexion ist unendlich.“61 Das lässt eine Erörterung der Reflexion in transzendentaler Hinsicht möglich erscheinen, jedoch kommt hier – durch das im Anschluss gegebene Beispiel des Zorns – die transzendentale Reflexion gar nicht in Sicht, sondern wird kurzerhand abgebogen auf den Reflexionstypus empirisch-psychologischer Art. An diesem Beispiel wird auch deutlich, was hier Distanz meint: Reflexion hebt die Unmittelbarkeit des Aktes auf, indem er vergegenständlicht wird. Darauf weist Gadamer oft hin, indem er an die Unterscheidung von actus exercitus und actus signatus erinnert, wie sie ihm von Heidegger vermittelt wurde.62 Der actus exercitus meint die intentio recta des Bewusstseins, den Vollzugssinn: Hier ist das Bewusstsein gleichsam bei den Dingen, weggegeben an den Akt. Im actus signatus hingegen kommt es zu einer intentio obliqua, zu einer reflexiven Stellung des Bewusstseins. Es ist möglich, die jeweilige Einstellung zum Akt zu ändern, wenngleich die häufigere Bewusstseinsstellung diejenige des actus exercitus ist, die auch die Voraussetzung für den actus signatus darstellt. Man kann einen Akt nicht nur vollziehen, sondern ihn zum Gegenstand einer Reflexion machen: „Man kann das Fragen als Fragen signieren, also nicht nur fragen, sondern sagen, daß man fragt, und daß das und das fraglich ist. Diesen Übergang aus der unmittelbaren, direkten in die reflexive Intention rückgängig zu machen, das schien uns nun damals wie ein Weg ins Freie.“63
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Auch hier fehlt jede Verdeutlichung der obliquen Intention hin auf eine transzendentale Reflexion. Vielmehr weist Gadamer wiederholt darauf hin, dass Brentano diesbezüglich die wesentliche Vorarbeit geleistet habe, indem er an die aristotelische Konzeption des Begleitbewusstseins erinnerte. Mit seiner Unterscheidung „des reflexiven Inneseins von der objektivierenden Reflexion“64 lässt sich klar machen, dass es eine „mit den seelischen Akten mitgehende Reflexion [gibt], die nicht den Akt, auf den sie bezogen ist, durch ihr Mitgehen zum Gegenstande macht, sondern vielmehr dem Aktvollzug wesentlich zugehört“65. So ist im Hören von Musik die Musik „primäres Objekt“, das gegenständlich bewusst ist, damit geht aber auch ein Bewusstsein des Hörens einher, ohne dass dieses „sekundäre Objekt“, das Hören, ausdrücklich Gegenstand der Wahrnehmung würde. Gegenständlich wahrgenommen wird die Musik, mitwahrgenommen wird sozusagen das Hören. Die Wendung vom „reflexiven Innesein“ findet sich so übrigens nicht bei Brentano, der diesbezüglich von der „inneren Wahrnehmung“ spricht. Allerdings bietet Gadamer in einem anderen Zusammenhang eine Ausdeutung dieser Wendung an, die das Gemeinte verdeutlicht66: Mit Innesein sieht Gadamer ein Gefühl bezeichnet, in dem eine Trennung zwischen dem Zustand des Gefühls und dem Gehalt des Gefühls erst gar nicht aufkommt. So ist man sich dessen inne, dass man zornig ist oder dass man hört, d. h., man unterscheidet hier gerade nicht zwischen dem Vollzug und dem Gehalt des Gefühls. Erst im Nachhinein, in der Erinnerung, kommt es zur objektivierenden Reflexion, sodass man das, worauf man reflektiert, nicht mehr vollzieht: etwa den Zorn. Nur wenn man sich diesen Reflexionsbegriff Gadamers vor Augen hält, werden die Vorbehalte gegenüber Reflexion nachvollziehbar: Sie sei distanzierend, vergegenständlichend und auflösend. Wenn auf den Akt des Hörens explizit Bezug genommen wird, dann in der Regel aufgrund einer Störung: weil ich plötzlich ein Problem habe, genau zu hören etc. Durch diese Bezugnahme wird erneut deutlich, dass Gadamer Reflexion psychologisch versteht: Er betont selbst, von Brentano den Unterschied zwischen „innerer Wahrnehmung“, in der das Hören mit wahrgenommen wird, und „innerer Beobachtung“ gelernt zu haben.67 Das oben angeführte Beispiel des Zorns findet sich übrigens auch bei Brentano, der damit die eben angesprochene Unterscheidung von Wahrnehmung und Beobachtung im Bereich innerer Erfahrung verdeutlichen will. Der Kontext ist allerdings der einer Begründung der Psychologie als einer empirischen Wissenschaft, die ihre „Quelle“ in dieser inneren Erfahrung hat. Reflexion im transzendentalen Sinne ist für diese Unterscheidungen kein Thema. In diesem Sinne beschränkt ja auch Kant die innere Erfahrung als „Quelle“ auf die empirische Psychologie.68
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Im Vollzug der Wahrnehmung sei, so Brentano, die Aufmerksamkeit des Bewusstseins auf den Gegenstand der Wahrnehmung gerichtet, die Wahrnehmung selbst werde nur sekundär, nebenbei wahrgenommen. Allerdings sei es möglich, die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand zu machen, also zu beobachten: jedoch nie im Vollzug, sondern nur im Nachhinein, indem man sie im Gedächtnis vor sich bringt und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Beachtenswert ist auch, dass Brentano in diesem Zusammenhang von Aufmerksamkeit redet, nicht jedoch von Reflexion und auch nicht von obliquer Intention. Welchen Nutzen Gadamer für seine Hermeneutik daraus zieht, lässt sich anhand folgender Terminologisierungen erläutern: In „Die Aktualität des Schönen“ (1974) kennzeichnet er das historische Bewusstsein als etwas, das nicht als „eine besonders gelehrte oder weltanschaulich bedingte methodische Haltung“ gelten könne, sondern was allen, aufgrund allgemeiner historischer Bildung „selbstverständlich“ sei. Dieses historische Bewusstsein sei so sedimentiert, dass die „modernen Menschen“ „sich dessen nicht einmal bewußt sind, daß sie mit historischem Bewußtsein“69 z. B. an ein Bild herangehen: Man weiß um den eigenen geschichtlichen Standpunkt im Unterschied zu anderen Epochen. Dies erlaubt es, z. B. biblische Themen in der Malerei in je unterschiedlicher historischer Einbettung wieder zu erkennen. Der eigene Standpunkt wird dabei aber nicht reflektiert. Trotzdem ist man sich aufgrund dieses Mitbewusstseins des Abstandes und der Andersheit des jeweils Wahrgenommenen bewusst. Im Rahmen dieser Ausführungen kommt er auf einen weiteren Reflexionsbegriff zu sprechen, der bislang unerwähnt blieb und der uns in diesem Zusammenhang auch nicht weiter zu beschäftigen braucht. Es ist dies die „Sekundärreflexion“70, die ausdrücklich vollzogen wird: Diese wirkt vergegenständlichend, indem sie sich ausdrücklich auf die historischen Details selbst richtet, sei es weil sie einem sehr fremd vorkommen, sei es weil man sich ausdrücklich mit historischen oder ästhetischen Fragen beschäftigt. Durch diese sekundäre, ausdrückliche Reflexion, in der man sich von einem Bild nicht mehr unmittelbar ansprechen lässt, findet dann die ästhetische Unterscheidung statt, die es einem erlaubt, ästhetisch zu evaluieren. In diesem Reflexionsbegriff scheint ein weiterer Grund für die „Abdämpfung der Reflexion“ durch, der hier lediglich angesprochen sei: die Berücksichtigung personal-dialogischer Aspekte in Gadamers Hermeneutik.71 Die Reflexion als Mitbewusstsein des eigenen Standpunkts hat nach Gadamer den Charakter des Spiels: Er spricht vom „Reflexionsspiel“72, wodurch deutlich gemacht werden sollte, dass hier, in der Erfahrung von Kunst, kein Subjekt-Objekt-Gegensatz aufkommt. – Diese Verbindung von Spiel und Reflexion kommt einem bei Gadamer öfter unter. So ist
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auch davon die Rede, dass Reflexion „in der Weise im Spiel“ sei, „daß sie mit dem gelebten Vollzug mitgeht“.73 Vergegenwärtigt man sich seine Aussagen, wie sie in „Wahrheit und Methode“ zu Beginn über das Spiel der Kunst und am Ende über das Spiel der Sprache zu finden sind, dann wird auch die mit diesen Wendungen verbundene Absicht nachvollziehbar: Es geht darum, den Stellenwert des Subjekts in bestimmter Hinsicht als möglichst gering zu veranschlagen. Beim Spiel kommt es darauf an, mitzuspielen, im Spiel aufzugehen. Deshalb spielt nicht der Spieler das Spiel, sondern das Spiel selbst spielt. Hinsichtlich der Reflexion im Sinne eines unthematischen Rückbezogenseins auf einen selbst wird daraus deutlich, dass das Mitdabeisein etwas ist, das „sich abspielt“, das gegeben und nicht als Leistung des Subjekts zu verbuchen ist. Ein Rückbezug auf uns selbst ist in allen Vollzügen dabei, mit im Spiel. Wie sonst könnte hier dem Spielbegriff ein Sinn abgewonnen werden? Wenn die Rede davon ist, dass dem Spiel „der Primat […] gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden“74 zukommt, und die Dimension des Spiels als „ein Jenseits des Selbstbewußtseins“75 angesetzt wird, dann ist darunter wohl Selbstbewusstsein im Sinne der ausdrücklichen Zuwendung auf sich selbst zu verstehen. Doch auch so wird der Gegensatz zur neuzeitlichen Auffassung von Reflexion erneut deutlich, wo Reflexion – als ausdrücklicher Rückbezug – dem Subjekt aufgrund der Spontaneität seines Denkens jederzeit als möglich zugedacht wird.76 Welche Reflexion ist aber im Spiel für die Hermeneutik selbst und die Begründung ihrer Aussagen? Welche Art von Reflexion ist es, wenn in „Wahrheit und Methode“ die Rede von der „Durchreflexion des historischen Bewußtseins“77 ist, woraus sich „zwingende Forderungen“ – wie es dort heißt – ergeben? Aus dem Bisherigen wurde die Auffassung von Reflexion, wie sie für Gadamer zentral ist, gewonnen: Unser Bewusstsein ist intentional, das heißt „zunächst und zumeist“ auf die Dinge gerichtet. In diesem Weltbezug ist aber immer ein Rückbezug auf das eigene Selbst unthematisch mit dabei: Ansonsten ließe sich auch das Theorem der Applikation gar nicht denken, womit Gadamer betont, dass jedes Verstehen von einem bestimmten Standpunkt aus geschieht, von dem aus und auf den hin gewissermaßen das Verstehen vollzogen wird. Verdeutlicht wird dieses applikative Moment in „Wahrheit und Methode“ durch die Erinnerung an die phronesis, für die Gadamer die Übersetzung des „Sich-Wissens“78 vorschlägt: Dadurch wird der Selbstbezug ausgesprochen, insofern es im sittlichen Wissen um einen selber geht. Denn hierbei geht es um die Einschätzung einer Situation auf das Tunliche hin, in die sich der Handelnde gestellt weiß und die er seinem sittlichen Sein gemäß vornimmt.79 In der Herausstellung dieses Rückbezugs geht es Gadamer um die „Abdämp-
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fung der Reflexion“. Ausdrückliche, thematische Rückwendung auf sich, bzw. auf den jeweiligen Gehalt des Denkens ist sekundär. Durch diese Herausarbeitung dürfte klar geworden sein, dass transzendentale Reflexion keine Berücksichtigung findet und ausdrückliches Reflektieren als sekundär abgetan wird. III. Grundsätzlich steht die Reflexionsthematik im Horizont der Selbstbewusstseinsproblematik. Reflexivität wurde in der neuzeitlichen Philosophie tragend als Grundstruktur der Subjektivität: In der ausdrücklichen, spontanen Zurückwendung auf sich erreicht das Subjekt Selbstgewissheit, die unerschütterlich ist. Dadurch nimmt das Selbstbewusstsein die Stelle eines Prinzips ein, von dem aus gewisse Erkenntnis ihren Ausgang nimmt. Gadamer hält dies für eine Verkehrung der phänomenologischen Tatsachen, ist doch ausdrückliches Selbstbewusstsein ein „Sekundärphänomen“. Aus diesem Grunde hegt er auch eine gewisse Sympathie für die Selbstbewusstseinskonzeption von J.-P. Sartre, der ein präreflexives Cogito (conscience de soi) annimmt.80 Überhaupt ist hier interessant, dass sich Gadamer gewissen subjektivitätstheoretischen Einsichten nicht verschließt, wenngleich sie über kleinste Andeutungen nicht hinausgehen: So scheint er sich darüber im Klaren zu sein, dass das von ihm vertretene Begleitbewusstsein nicht nur ein psychologischer, sondern ein logischer Sachverhalt zu sein hat. Das begegnete bereits in der Argumentation, wie sie Gadamer in „Platos dialektische Ethik“ (1931) vornahm und die sich auf das Aufgehen in der Lust bezog. Und ganz ähnlich wie in der ebenfalls schon angeführten Kommentierung zum „Charmides“, nur noch eindringlicher, betont er: „Das Sich-Verhalten des Lebendigen läßt sich nur [!] denken vom Ich her, das seiner selbst bewußt ist. Das ist nicht ein anthropomorphistischer Schein, den etwa die moderne Verhaltensforschung zur Demütigung des Menschen aufgearbeitet hat, sondern ist ein methodisch zwingender Tatbestand.“81 Es wurde auch schon von seiner „kantischen“ Argumentation gesprochen, wonach Gegenstandsbewusstsein Voraussetzung für empirisches Selbstbewusstsein sei. Das setzt letzten Endes aber doch ein logisches Selbstbewusstsein – mit dem Kants „daß ich bin“ einhergeht – schon voraus, um dann ausdrücklich auf sich zurückkommen zu können. Und tatsächlich, abgesehen von der Referenz auf Sartre, findet sich einmal der Hinweis unter der Bezeichnung einer Selbstempfindung: „Es ist eine Welt griechischen Selbstseins, die sich hier öffnet. Selbstbewegung des Lebendigen, das nicht geschoben und gestoßen wird, sondern von sich aus sich bewegen kann, in der Wärme, die plötzlich wie von selber zur Flamme aufschlägt,
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wenn das Holzscheit im Kamin Feuer fängt, in der Selbstempfindung, die von allen unseren Empfindungen und Wahrnehmungen untrennbar ist und ihnen als ihre Möglichkeit vorausliegt [!], und am Ende im Wissen, das so ist, daß es immer zugleich sein eigenes Wissendsein weiß.“
Sogleich fährt Gadamer aber in erwarteter, wenn auch in Bezug auf das Vorige widersprüchlicher Weise fort: „Allerdings steht hier nichts von jenem neuen Primat des Selbstbewußtseins gegenüber dem Weltbewußtsein im Blick, nichts von jener Umkehrung und Verkehrung von Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein, die das moderne Denken auszeichnet […]“82
Diese Einsichten werden ebenso leichtfertig verspielt, wenn er die Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins erschüttert sieht durch Marx, Nietzsche, Freud. Wie sehr auch hier Selbstbewusstsein im psychologischen Sinne gefasst wird, macht die Behauptung deutlich, dass die Entdeckung des Unbewussten „dem Selbstbewusstsein eine nur epiphänomenale Legitimität beläßt“83. Eine weitere Argumentationsstrategie Gadamers wird durch sein Programm einer „Abdämpfung sowohl der Subjektivität als auch der Reflexion“ einsichtig. In der Bemühung um die Anerkennung des Andern, die seit den achtziger Jahren nicht zuletzt durch die Herausforderung der Dekonstruktion vordringlich wurde, bezieht sich Gadamer auf den griechischen Begriff der Freundschaft.84 Anerkennungstheorien, wie sie von Fichte und Hegel erarbeitet wurden, scheiden für ihn aufgrund des Stellenwertes des Subjektgedankens aus. Die Anerkennung des Andern findet seine Begründung in der Freundschaftskonzeption: Zwar ist für Aristoteles Selbstliebe (philautia) Voraussetzung für Freundschaft, zugleich setzt er aber diese Selbstliebe derart von einem Autarkie-Ideal ab, dass damit nicht gemeint sein kann, man brauche keine Freunde. Freunde sind notwendig für die Selbsterkenntnis. Der Freund, der einer ist, weil man sich auf etwas Gemeinsames hin versteht, ist das bessere Selbst: In ihm erkennt man sich – leichter jedenfalls, als dies einem sich selbst gegenüber möglich ist; „im anderen“85 versteht man sich selbst besser. Die Anreicherung des eigenen Standpunktes durch die Perspektive des andern ist dadurch möglich, weil man sich durch das Mitsein im Verstehensvollzug im Verstehen des andern zugleich selbst versteht. Indem man den Freund versteht, versteht man sich, er ist ein „Spiegel der Selbsterkenntnis“86. Aufgrund unserer Ausführungen über die Reflexionsauffassung bei Gadamer wird nun auch deutlich, was damit gemeint sein kann, dass das „Mitsein“ eine „grundsätzliche anthropologische Bedeutung“ hat: Das Mitsein im Vollzug, das in jedem Aufgehen im Vollzug einen – wenn auch unthematischen – Rückbezug meint, wird in der Freundschaft „zum Mitsein mit dem
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anderen erweitert“.87 Diese Ausdeutung des „Mit“, das von einem logischen Sachverhalt hin zu einem anthropologischen erweitert wird, mag Folgendes heißen: Wenn man den Ausführungen folgt, dann vollzieht sich die Wahrnehmung eines Gemäldes dermaßen, dass man in gewisser Weise ganz beim Bild ist im Vollzug des Sehens; dabei ist aber ein unthematischer Rückbezug auf sich gegeben, da es sich um einen bewussten Vollzug handelt. In der anthropologischen Ausdeutung meint dieses Mitdabeisein wohl, dass im Sehen auch ein unthematischer Rückbezug auf den Freund mit einhergeht. Man sieht sozusagen für den anderen mit und achtet auf bestimmte Details in der bildlichen Darstellung, die den Freund interessieren könnten. Mitsein im anthropologischen Sinne wird bei Gadamer dann ins Ethische übergeführt durch den Hinweis, dass Freundschaft auf Zusammenleben hindränge. IV. Es hat sich gezeigt, dass Gadamer einen bestimmten Reflexionstypus bevorzugt, der eine unausdrückliche Rückbezüglichkeit auf einen selbst meint. Dagegen weist er anhand der Unterscheidung von „innerer Wahrnehmung“ und „innerer Beobachtung“ eine transzendentale Reflexion zurück. Dem liegt jedoch eine Konfundierung der Reflexionstypen zugrunde, sodass seine Zurückweisung grundlos erscheinen muss. Nicht nur, dass die Unterscheidung, wie er sie anhand von Brentano gewinnt, aus dem Bereich der Psychologie stammt, auch er selbst thematisiert Reflexion im Wesentlichen als psychologische: ausdrückliche, thematische Reflexion im Sinne von Introspektion, innerer Beobachtung. Vor diesem Hintergrund wird auch sein Vorbehalt gegenüber einer ausdrücklichen Reflexion verständlich, die er mit den Vorwürfen einer Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. einer Distanznahme und der Vergegenständlichung dessen, worauf sie gerichtet ist, belastet. Um die Verwechslung zwischen den angesprochenen Reflexionstypen hintanzuhalten,88 empfiehlt sich eine kurze Verdeutlichung anhand von Locke, der Reflexion als empirisch-psychologische gefasst hat. Für ihn gibt es zwei Quellen unserer Erkenntnis, den äußeren und den inneren Sinn. Während die „sensation“ von außen her den Verstand mit Material versorgt, richtet sich die „reflection“ auf die Operationen des Verstandes selbst. Die Reflexion unterscheidet sich von der sinnlichen Wahrnehmung in zweierlei Hinsicht: einmal im Bereich, da sie aufs Innere gerichtet ist, darüber hinaus in der Struktur, insofern sie zwar auch als Wahrnehmung gedacht wird, jedoch selbstbezüglich ist, da es sich um ein Wahrnehmen des Wahrnehmens handelt.89 Die so verstandene Reflexion, die gemäß dieser „Sensifizierung des Verstandes“ (Kant) als Denken auch Wahrneh-
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mung ist, richtet sich, wenn auch nach innen, so doch ganz nach Art einer Wahrnehmung von Gegenständen: auf die im Bewusstsein vorfindlichen Ideen (wobei unter diesen Ideen sowohl die Vollzüge des Bewusstseins als auch die Ergebnisse dieser Vollzüge verstanden werden), weshalb sie am besten als empirisch-psychologische Reflexion gekennzeichnet ist. Das Umbiegen, die intentio obliqua, des Denkens auf das Denken selbst wird so jedoch gar nicht erreicht.90 Eine transzendentale Reflexion wird also auch im Begriff der Reflexion selbst und nicht nur durch die Verwechslung der Geltungsfrage mit einer Auskunft über das Entstehen der Ideen versäumt. Transzendentale Reflexion richtet sich nicht auf Gegenstände, will sie doch allererst die apriorischen Möglichkeitsbedingungen für Gegenständlichkeit und ineins für gültige Erkenntnis erheben, die nicht aus der Erfahrung, weder des innern noch äußern Sinnes, gewonnen werden können. Sie reflektiert nicht auf psychische Zustände im Sinne einer Introspektion. Vielmehr geht es darum, die transzendentallogischen Voraussetzungen von Erkennen zu erheben, jedoch nicht durch Reflexion auf das jeweilige psychische Innenleben im Sinne der Selbstbeobachtung, sondern auf Erkenntnis überhaupt, also unabhängig (a priori) von jeder inhaltlichen Bestimmtheit. Darin wird auch das Subjekt thematisch, jedoch nicht in seiner psychischen Verfassung, sondern als der angesprochene logische Sachverhalt. In den Arbeiten Gadamers finden sich genügend Markierungen, die uns zu seinem Begriff von Reflexion als Vollzugswissen bzw. als unthematischer Rückbezug auf einen selbst gewiesen haben. Damit konnte Gadamers Weg nachgegangen werden, um bei dieser Änderung anzukommen. Es gibt manch andere Korrekturen, die der späte Gadamer vorgenommen hat und denen größere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, wie z. B. der bezüglich der Produktivität des Abstandes. Während Gadamer diesen früher ausschließlich als Zeitenabstand fasste, machte er in den späten Jahren darauf aufmerksam, dass dabei auch an andere Formen des Abstandes zu denken ist: „Later, I indicated that we are not only dealing with the distance between ages but more so with the otherness of the other which makes [!] one reflective.“91 Hier ist offensichtlich von einer anderen Gestalt der Reflexion die Rede, die in der Begegnung mit dem Anderen allererst zum Tragen kommt. Damit kann also nicht Reflexion im Sinne des stets begleitenden Bewusstseins gemeint sein. In der Begegnung mit dem Andern wird man aber auch nicht mit der Reflexion im psychologischen Sinne sein Auslangen finden. Vielmehr werden hier Behauptungen mit Wahrheitsansprüchen gegeneinander stehen, die der Prüfung bedürfen. Wenn ein Gespräch, wie Gadamer schon früh hervorgehoben hat, damit abgebrochen wird, dass man zwar versichert, den Andern zu verstehen, ihm aber nicht zustimmt, dann bedarf die Aufrechterhaltung des
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Gesprächs einer Reflexion, die sich auf die apriorischen Möglichkeitsbedingungen gültiger Erkenntnis und gültigen Verstehens richtet.
Anmerkungen H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke, 10 Bde., Tübingen 1985–1995 werden im Folgenden unter der Sigle GW mit Band und Seitenangabe zitiert: hier GW 8, 374; bei GW 1: Wahrheit und Methode werden in eckiger Klammer die Seitenzahlen der älteren Ausgaben angegeben. 2 L. E. Hahn (ed.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, Chicago/La Salle 1997, 154 (deutsche Einfügung im Original) und 155. Diese Auskunft gibt Gadamer in einer Antwort auf einen Aufsatz über seine Bezugnahme auf Vico. 3 GW 2, 439; vgl. auch GW 2, 394. 4 GW 2, 499. 5 GW 1, 268 [250]; kursiv im Original. 6 GW 2, 394 f. 7 GW 2, 23. 8 Hierher gehört die Debatte Gadamers mit E. Betti. Bettis Kritik resultiert daraus, dass er Gadamer auf Methodenlehre festlegt und ihm dann deren Ausbleiben vorwirft. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die in den 90er Jahren virulent gewordene Anerkennungsthematik, den Andern in seiner Andersheit betreffend, und das Bemühen um Ausarbeitung einer Ethik der Interpretation auch die Forderung nach einer Rückkehr zur technischen Hermeneutik und deren Nachbardisziplin, der Kritik (verstanden nicht bloß als Textkritik, sondern als Prüfung und Beurteilung der Geltungsansprüche des Textes), laut werden ließ: vgl. z. B. A. Horstmann, Interkulturelle Hermeneutik. Eine neue Theorie des Verstehens?, in: DZPhil 47 (1999), 427–448; G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1995, bes. 126–146; ders., Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), Historismus am Ende des 20.Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion, Berlin 1997, 192–214. 9 Vgl. zum transzendentalen Anspruch der Hermeneutik und zu Gründen für die Weigerung, diesen durchzuführen: R. Bubner, Über die wissenschaftstheoretische Rolle der Hermeneutik. Ein Diskussionsbeitrag, in: ders., Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt 1973, 89–111, wo er sich noch für diesen Anspruch stark macht; bereits zurückhaltender bezüglich der Konzeption einer transzendentalen Hermeneutik: ders., Transzendentale Hermeneutik?, in: R. Simon-Schäfer/Walter Ch. Zimmerli (Hrsg.), Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Konzeptionen, Vorschläge, Entwürfe, Hamburg 1975, 56–70; vgl. dazu auch: ders., Über den Grund des Verstehens, in: Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1990, 87–103. 10 Vgl. GW 1, 4 [XXX]: „Bemüht, das Universum des Verstehens besser zu verstehen, […]“ 11 Sie hat zahlreiche Kommentatoren gefunden: so von Anfang an in transzendentalphilosophisch orientierten Autoren (z. B. Apel, Heintel), darüber hinaus sei lediglich hingewiesen auf: L. M. Hinman, Quid facti or quid juris? The fundamental ambiguity of Gadamer’s understanding of hermeneutics, in: Philosophy and Pheno1
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menological Research 40 (1980) 512–535; C. Page, Historicistic Finitude and Philosophical Hermeneutics, in: L. E. Hahn, a.a.O. (Anm. 2) 369–384. 12 GW 2, 443. 13 GW 1, 302 [280]. 14 GW 1, 452 [424]: „Das Bewußtsein der Bedingtheit hebt die Bedingtheit selbst keineswegs auf.“ 15 Vgl. GW 2, 241. 16 Da „dessen Seele nicht widerlegt werde“, wie es im „Siebten Brief“ Platons (343d7) heißt, auf den Gadamer diesbezüglich immer wieder verweist. 17 GW 1, 350 [327]; vgl. auch GW 2, 415 f. 18 Vgl. z. B. G. Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt a. M./New York 1997, 113, wo er, ganz in Gadamers Bahnen, behauptet, dass noch niemanden der Aufweis des performativen Selbstwiderspruchs von dieser seiner selbstwidersprüchlichen Position (Relativismus, Skeptizismus …) abgebracht habe. Dabei passiert hier – wie bei Gadamer – eine Gleichsetzung von zwei Ebenen „in einer fast peinlichen Weise“ (E. Coreth, Grundfragen der Hermeneutik. Ein philosophischer Beitrag, Freiburg u. a. 1969, 175): nämlich zwischen der Durchsetzungskraft bzw. Wirkmächtigkeit einer Position und deren Wahrheit. Vattimo zieht, z. B. ebd. 151, aus der skizzierten Lage den Schluss, Hermeneutik zu radikalisieren und selbst als Theorie Interpretation zu sein. 19 GW 2, 3–23, hier 22. 20 Die maßgeblichen Texte sind gesammelt in J. Habermas (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971; die Stellungnahmen Gadamers finden sich jetzt auch in GW 2, 231–250 und 251–275. Für die englische Übersetzung des erstgenannten Aufsatzes wählte Gadamer den Titel On the Scope and Function of Hermeneutical Reflection, in: D. E. Linge (ed.), Philosophical Hermeneutics, Berkeley/Los Angeles 1976, 18–43, der die zugrunde liegende Frage deutlich zum Ausdruck bringt. 21 GW 2, 304. Die Eigenart praktischen Wissens beschäftigte Gadamer – wohl veranlasst durch Heideggers Bemühen um eine Philosophie, die nicht Theorie ist – von früh an, wovon die Arbeiten in GW 5, 164–186: Der aristotelische „Protreptikos“ und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik (1927) und GW 5, 230–248: Praktisches Wissen (1930) Zeugnis geben. 22 GW 2, 454: „Sie erkennen nicht, daß Reflexion über Praxis nicht Technik ist.“ Im Hintergrund steht hier auch das Missverständnis von Habermas, Gadamers Hermeneutik als technische aufzufassen und aus ihr methodologischen Gewinn für die Sozialwissenschaften ziehen zu können. 23 GW 4, 186. 24 GW 2, 326. 25 GW 4, 188. 26 GW 2, 329. 27 GW 2, 244. 28 Vgl. K.-O. Apel, Regulative Ideen oder Wahrheits-Geschehen? Zu Gadamers Versuch, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gültigen Verstehens zu beantworten, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendental-
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pragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, 569–607; ders., [Art.] Verstehen, in: HWP 11, Basel 2001, 932. 29 Vgl. zu Th. Litt diesbezüglich: GW 2, 328f; zu K.-O. Apel: GW 2, 500. Übrigens ist – einmal abgesehen von der Geltungsproblematik – unübersehbar, wie sehr Gadamer mit Litt in vielerlei Hinsicht sachlich übereinstimmt: nicht nur zur Geschichtlichkeit des Menschen, sondern auch darüber, was sich über Verstehen, das Verhältnis zur Geschichte, über Tradition, Sprache und moralisches Handeln bei Litt findet, kann man auch bei Gadamer lesen. 30 GW 2, 444; vgl. dazu ganz im Einklang mit Gadamer: B. Wachterhauser, Getting it Right: Relativism, Realism and Truth, in: The Cambridge Companion to Gadamer, ed. by R. J. Dostal, Cambridge 2002, 52–78. 31 Th. Litt, Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins. Mit einem Geleitwort von E. Spranger und W. Roessler zum 75. Geburtstag des Verfassers, Heidelberg 1956, 185. Die betreffende Passage bei Gadamer lautet: „Selbst wenn wir uns, als historisch Belehrte, über die geschichtliche Bedingtheit grundsätzlich im klaren sind, haben wir uns damit nicht auf einen unbedingten Standort begeben. Insbesondere ist es keine Widerlegung der Annahme grundsätzlicher Bedingtheit, daß diese Annahme schlechthin und unbedingt wahr sein will, also nicht ohne Widerspruch auf sich selbst angewendet werden könne. Das Bewußtsein der Bedingtheit hebt die Bedingtheit selbst keineswegs auf. Es gehört zu den Vorurteilen der Reflexionsphilosophie, daß sie als ein Verhältnis von Sätzen versteht, was gar nicht auf der gleichen logischen Ebene liegt. So ist das Reflexionsargument hier nicht am Platze. Denn es handelt sich gar nicht um widerspruchsfrei zu haltende Verhältnisse von Urteilen, sondern um Lebensverhältnisse. Die sprachliche Verfaßtheit unserer Welterfahrung ist imstande, die mannigfachsten Lebensverhältnisse zu umfassen“ (GW 1, 452 [424]). Gadamer hat prima vista Recht: Es handelt sich um unterschiedliche Ebenen, die aber auch er nicht genügend auseinander hält: Eines sind die Lebensverhältnisse in ihrer Unmittelbarkeit. Etwas anderes sind die Aussagen über die Lebensverhältnisse. Und noch einmal etwas anderes ist der Geltungsanspruch, der in diesen Aussagen erhoben wird. So ist es freilich möglich, etwas als etwas zu kennzeichnen (z. B. als endlich, individuell, relativ), ohne dass der damit erhobene Geltungsanspruch unter diese Bestimmung fällt. – Vgl. dazu H. Holz, Wahrheit als Möglichkeitsbedingung des Verstehens, in: Dilthey-Jahrbuch 5 (1988) 11–57: „‘Geschichtlichkeit’, Historizität, ist ein Totum, aber gilt nicht totaliter, sie ist ein Universale, aber gilt nicht universaliter“ (27). Hinter die angesprochenen Differenzierungen fällt W. Kuhlmann in seiner Diskussion von Litt und Gadamer zurück: Reflexion und kommunikative Erfahrung. Untersuchungen zur Stellung philosophischer Reflexion zwischen Theorie und Kritik, Frankfurt a. M. 1975, 205–212. Damit ist die Frage nach der Geschichtlichkeit der Philosophie berührt: vgl. dazu die Ausführungen von H.-D. Klein über die Philosophie als Theorie des Geschichtlichen als Geschichtlichen, der notwendigen nichtgeschichtlichen Geschichtlichkeit und der Vermittlung von nichtgeschichtlicher Geschichtlichkeit und geschichtlicher Nichtgeschichtlichkeit: Die systematische Philosophie und ihre spezifische Geschichtlichkeit, in: D. Henrich (Hrsg.), Ist systematische Philosophie möglich? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975, Bonn 1977, 683–686 und Philosophie der Gegenwart – Versuch einer Begriffsbestimmung, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXI (1989) 47–63.
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GW 2, 245. GW 2, 270. 34 GW 2, 121. 35 GW 4, 18. 36 GW 2, 500. 37 GW 1, 281. 38 Gadamer nimmt auf diese Wendung unter Hinweis auf J. Stenzel mehrmals Bezug: vgl. GW 2, 485; 4, 477; 6, 116; vgl. dazu J. Stenzel, Metaphysik des Altertums, München 1931, 30, der wörtlich von der „Abdämpfung des individuellen Selbstbewußtseins“ spricht. 39 GW 1, 461. 40 GW 2, 5. 41 Der Umstand, dass im Spätwerk Gadamers das Vollzugswissen im Verstehen große Bedeutung gewonnen hat, blieb freilich nicht unbemerkt: vgl. dazu G. Figal, Vollzugssinn und Faktizität, in: ders., Der Sinn des Verstehens, Stuttgart 1996, 32–44; J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000. 42 Vgl. dazu H. Radermacher, [Art.] Dialektik, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, München 1973, 289–309; K. Gloy, Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg/München 1998, 100 unterscheidet zwischen „naturalem“ und „bewußtem“ Selbstverhältnis; vgl. dazu D. Henrich, Subjektivität als Prinzip, in: ders., Bewußtes Leben, Stuttgart 1999, 49–73, hier 57: der die Selbstbezüglichkeit des Subjekts – durchaus in Korrektur zu früheren Entwürfen einer „unmittelbaren Vertrautheit mit sich“ – nun als „wissende Selbstbeziehung“ kennzeichnet, also das Subjekt von sich und seinem Wissen weiß, um diese Selbstbezüglichkeit gegenüber einer solchen in der Natur abzuheben, wofür er folgende Beispiele liefert: Vögel schwingen sich selbst in die Lüfte, Flüsse stauen sich selbst durch ihr Treibgut, Blätter richten sich aus nach dem Licht. 43 Vgl. Platon, Phaidros 245c–e; Gesetze X, 894c–898e. Wenn hier generalisierend von „den Griechen“ gesprochen wird, dann kann für unseren Zweck der Unterschied zwischen Platon und Aristoteles bezüglich der Selbstbewegung, die Aristoteles bekanntlich zur Annahme eines unbewegten Bewegers führt, außer Acht gelassen werden, da Gadamer behauptet, dass „doch auch Aristoteles das phänomenologische Datum der Selbstbewegung nicht verkannt“ (GW 6, 124) habe. 44 GW 6, 123; bei Aristoteles begegnen übrigens ähnliche Beispiele, in: De anima 425b12 ff. Sehen und Hören, in: Metaphysik 1074 b35 f. Wissen, Wahrnehmen, Meinen und Denken. 45 GW 6, 123. 46 GW 6, 29. 47 Aristoteles, De anima 431b29 f. und 431b21; vgl. GW 6, 29; 7, 440. 48 Vgl. dazu K. Oehler, Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike, Würzburg 1997, der dafür die treffende Formulierung gefunden hat: „Das Bewußtsein wird als Bewußthaben von etwas verstanden, aber das Bewußte wird nicht als Bewußtes eines Bewußtseins bewußt“ (34). 49 Platon, Gesetze X, 898e. 50 Diese Übersetzung Gadamers findet sich in: GW 7, 76. 32 33
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GW 7, 80. GW 7, 440; vgl. GW 8, 425: „Es ist immer Lust an etwas. Wir verlieren uns förmlich an eine Welt von Gestalten und Gedanken, und gerade darin sind wir da. Das heißt, wir sind wach.“ Grondin hat auf eine Änderung im GW-Text von „Wahrheit und Methode“ hingewiesen, die nicht ausgewiesen wurde: Dort wird jetzt der kontrollierte „Vollzug solcher Verschmelzung als die Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins“ (GW 1, 312 [290]) bezeichnet, während früher anstelle von „Wachheit“ von „Aufgabe“ die Rede war. Das veranlasst Grondin, die Rede vom Bewusstsein aus den bekannten Gründen zu vermeiden – genauerhin ist bei ihm die Rede von den „idealistischen Konnotationen des Bewußtseinsbegriffs“, die es zu vermeiden gelte – und von Wachheit zu sprechen (vgl. J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 149). Das „Mitdabeisein“ im Verstehen ist damit als psychologischer Zustand des Interpreten im Sinne von Aufgeschlossensein aufgefasst. Einerseits wird dadurch betont, was von Seiten der technischen Hermeneutik immer gefordert wurde, andrerseits wird damit das Begleitbewusstsein als logischer Sachverhalt überblendet oder gar verspielt, von dem im Text oben gleich anschließend die Rede ist. – Das ist umso erstaunlicher, als der logische Sachverhalt des Selbstbewusstseins einen trefflichen Verteidiger in Grondin gefunden hat: vgl. J. Grondin, Hat Habermas die Subjektphilosophie verabschiedet?, in: AZP 12 (1987), 25–37. 53 Vgl. Metaphysik 1074 b35: „Freilich tritt die Wissenschaft, die Wahrnehmung, die Meinung und das Denken sonst immer in der Weise in Erscheinung, daß sie auf etwas anderes gehen, auf sich selbst dagegen nur nebenher [en parergo]“ (zit. n. der Übersetzung von H.-G. Gadamer, Frankfurt 41984); vgl. auch Metaphysik 1072 b25. 54 GW 5, 92f.; Gadamer interpretiert hier Philebos 21b6–21c7. Vgl. dazu auch den bekannten Auftakt zu Nietzsches Unzeitgemäßer Betrachtung II, in: KSA 1, München 1988, 248 f., wo vom „Pflock des Augenblickes“ die Rede ist, an dem das Tier hängt und vom Menschen in diesem Glück beneidet wird, wenngleich er es letztlich doch nicht will wie das Tier, da er um sein Glück, also sich im Glück wissen will. 55 GW 4, 280. 56 GW 4, 282 f. auch für die folgenden Zitate. 57 Vgl. H. v. Arnim (Hrsg.), Stoicorvm vetervm fragmenta, Bd. 2, Stuttgart 1979 (Nachdruck von 1903), Fr. 6336, Fr. 1189, Gadamer zitiert die Seitenzahl und die Zeile: 2436, 369; der Hinweis auf diese Stellen findet sich bereits in GW 1, 486; vgl. auch 4, 443; 6, 124; daneben gibt es zahlreiche andere Stellen, an denen er auf diesen Sachverhalt allgemein rekurriert: z. B. H.-G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt 1993, 181 ff.; GW 10, 88. 58 Vgl. H.-G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt 1993, 168 f., wo er gut kantisch argumentiert: Die Außenwelt ist Bedingung der Möglichkeit von empirischem Selbstbewusstsein. 59 GW 10, 90. 60 Vgl. GW 4, 283. 61 GW 2, 32; zum Problem der unendlichen Iteration vgl. H. Wagner, Philosophie und Reflexion, München/Basel 31980, 35–67: dort wird gezeigt, dass dieses Problem nur auf den Typus der noetischen, also auf den Denkakt bezogenen Reflexion zutrifft, wie er oben angeführt ist, nicht jedoch auf die noematische Reflexion, die auf den Gehalt zielt und dessen Geltung prüft. 51
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Vgl. z.B. GW 3, 127; GW 3, 200–204; GW 3, 389 ff. GW 3, 200 f.; kursiv im Original. 64 GW 2, 500; vgl. F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, hrsg.v. O. Kraus, Hamburg 1955, 40–51 (Buch 1, Kap. II) und 176–194 (Buch 2, Kap. II). 65 GW 4, 412. 66 Vgl. GW 6, 169; außerdem findet sich auch noch „mit gewahr werden“ als Ausdruck für die innere Wahrnehmung: vgl. GW 10, 115. Dort bestimmt Gadamer das Begleitwissen aber auch noch als Wissen, con-scientia: „Wenn ich etwas sehe, dann weiß ich doch, daß ich sehe.“ So wie es bei Gadamer zur Vermischung und Verwechslung unterschiedlicher Reflexionstypen kommt, so unterlässt er auch eine genauere Bestimmung des Begleitbewusstseins: Denn ein Gefühl des Inneseins, eine Art Wahrnehmen als Gewahrwerden und ein Wissen sind doch recht unterschiedliche Qualifikationen. Auf die unterschiedlichen Bestimmungen des Begleitbewusstseins bei Brentano (Buch 2, Kap. III, Bd. 1, 195–220) geht Gadamer nicht ein. 67 GW 3, 127. 68 Vgl. I. Kant, Werke III, hrsg.v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, 124 oder auch Werke II, B 120, B 127 f.; außerdem findet sich auch in Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ die Unterscheidung zwischen ‘Bemerken und Beobachten seiner selbst’ (Werke VI, 413 ff.) als auch der Hinweis, dass eine Selbstbeobachtung im Zustand des Affekts nicht möglich sei (401); darüber hinaus beklagt dort Kant an mehreren Stellen die Verwechslung von psychologischer und transzendentaler Reflexion, die er möglichst deutlich voneinander abzuheben versucht (416 Anm., 425–430, 456 f.). 69 GW 8, 102. 70 GW 8, 142. 71 Darauf macht M. Theunissen, Philosophische Hermeneutik als Phänomenologie der Traditionsaneignung, in: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2001, 61–88, bes. 70 ff. aufmerksam: Schließlich wird in „Wahrheit und Methode“ das angemessene hermeneutische Verhältnis zu einem Text parallelisiert mit einem Ich-Du-Verhältnis. Reflexion wird hier abgewertet, weil sie die Unmittelbarkeit der Begegnung aufhebt: vgl. dazu GW 1, 364–368; dazu diente als Vorarbeit die Rezension von K. Löwiths Habilitationsschrift „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“, in der er diese Argumentation vorbereitet hat: GW 4, 234–239. 72 GW 8, 118; vgl. GW 8, 385 ff., 394 f.: Hier arbeitet Gadamer heraus, dass Kunst sich selbst vollzieht, worin sie sich als parallel zur Physis zeigt, der Selbstbewegung zukommt; damit will er Kunst aus dem herstellenden Handeln und der entsprechenden Wissensform, der techne, herauslösen. – Vgl. dazu G. Figal, Kunst als Weltdarstellung, in: ders., Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, Stuttgart 1996, 45–63. 73 GW 4, 282. 74 GW 1, 110 [99]. 75 GW 2, 5. 76 Vgl. dazu M. Theunissen, Philosophische Hermeneutik als Phänomenologie der Traditionsaneignung, in: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“. Hom62 63
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mage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2001, 61–88, bes. 67 f.: Er unterstreicht, dass Gadamer sehr wohl das Subjekt in bestimmter Hinsicht anerkennt und die Heranziehung des Spielbegriffs eine irreführende antisubjektivistische Selbstinterpretation ist. 77 GW 1, 305 [283]. 78 GW 1, 321 [299]; vgl. dazu auch Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, herausgegeben und kommentiert von H.-G. Gadamer, Frankfurt a.M. 1998: dort schlägt er die Übersetzung „um sich selbst Wissen“ (15) vor. 79 Zur damit einhergehenden „Abdämpfung der Reflexion“ im Rahmen der praktischen Vernunft und dem damit verbundenen Fehlen einer Thematisierung des Gewissens, das lediglich „das moralische Gegenstück zum cartesianischen Selbstbewußtsein“ (GW 4, 232) darstelle, vgl. vom Verf., Die „Abdämpfung der Subjektivität“. Drei Beispiele aus der amerikanischen bzw. französischen GadamerRezeption, in: ZphF 54 (2000) bes. 603–610. 80 GW 10, 110–124. 81 GW 3, 50. 82 GW 7, 40; ein paar Zeilen darunter spricht Gadamer diese Selbstempfindung als „Beisichsein“ an. Damit sind mannigfache Verbindungen zur Subjektivitätstheorie eröffnet: zu Kants „Gefühl eines Daseins“ oder Schleiermachers „Gefühl“. Vielleicht liegt hier auch eine Verbindung zu seinem ehemaligen Schüler D. Henrich, der sich um eine Theorie der Subjektivität bemüht und lange Zeit von einer unmittelbaren Vertrautheit mit sich ausging, die der ausdrücklichen, reflexiven Bezugnahme auf sich selbst vorausliege. 83 GW 4, 280. Vgl. dazu vom Verf., Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher, München 1998, 160–186 die ausführliche Differenzierung von Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis und Selbstverständnis samt Diskussion der Problematik bei Gadamer. 84 Vgl. dazu sein programmatisches Bekenntnis GW 10, 95: „Ich selber habe an der antiken Freundschaftslehre meinerseits Maß genommen.“ 85 GW 2, 211. 86 GW 7, 404. 87 GW 7, 405. 88 Vgl. kurz zur Unterscheidung von logischer, psychologischer und transzendentaler Reflexion H. Wagner, [Art.] Reflexion, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe 4, München 1973, 1203–1211. 89 Vgl. J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. I, § 4, Hamburg 41981, 108 f.: „Die andere Quelle, aus der die Erfahrung den Verstand mit Ideen speist, ist die Wahrnehmung der Operationen des Geistes in uns, der sich mit den ihm zugeführten Ideen beschäftigt. Diese Operationen statten den Verstand, sobald die Seele zum Nachdenken und Betrachten kommt, mit einer anderen Reihe von Ideen aus, die durch Dinge der Außenwelt nicht hätten erlangt werden können. Solche Ideen sind: wahrnehmen, denken, zweifeln, glauben, schließen, erkennen, wollen und all die verschiedenen Tätigkeiten unseres eigenen Geistes. Indem wir uns ihrer bewußt werden und sie in uns beobachten, gewinnen wir von ihnen für unseren Verstand ebenso deutliche Ideen wie von Körpern, die auf unsere Sinne einwirken“ (kursiv im Original); Buch II, Kap. XI, § 17, 184 spricht er
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z. B. davon, dass „die äußere und innere Sensation die einzigen“ Quellen für Erkenntnis sind. 90 Vgl. dazu H. Schnädelbach, Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie, Frankfurt a.M. 1977, bes. 82 ff. und 197–216. 91 L. E. Hahn, a.a.O. (Anm. 2) 96.
QUELLEN GADAMERS HERMENEUTISCHER RÜCKGANG AUF PLATON James Risser Gadamer’s Plato and the Task of Philosophy Holger Schmid Hermeneutik und Kritik: Stufen des Platonismus Šteˇpán Špinka „Plato im Dialog“. Hans-Georg Gadamer als Interpret der platonischen Dialektik
James Risser Gadamer’s Plato and the Task of Philosophy At the age of one hundred and two Hans-Georg Gadamer succumbed to the inevitable; he succumbed to that most profound form of human finitude – his own death. As a philosopher Gadamer understood quite well the place of finitude in the practice of philosophy. One can even say that philosophy becomes hermeneutical precisely because of finitude. This means, to say the least, that the philosopher always follows a path of uncertainty, of knowing and not knowing at once. For Gadamer’s philosophical hermeneutics this uncertainty is a function of always having to stand in the shadow of what one cannot get behind, of always having to make one’s way on a way that has already begun. Recognizing this plight of non-origination, the philosophical hermeneut is constantly disposed to humility. When we look to the sources within philosophical hermeneutics that serve to establish this structure of finitude, we cannot avoid noting the work of Heidegger in which the hermeneutics of facticity decisively comes to shape both the character and the task of philosophy. But equally so, we know that from his earliest work Gadamer drew upon Greek philosophy and Plato in particular for a model for the task of philosophy. Clearly, Gadamer regarded Greek philosophy as one of the main foci of his work, devoting 3 of the 10 volumes of his „Gesammelte Werke“ to Greek philosophy alone. In these volumes we find his 1928 Habilitationschrift on Plato’s „Philebus“, which he wrote under Heidegger’s direction, as well as his 1978 book „Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles“. In my remarks that follow I want to attend to Gadamer’s reading of Plato, mainly through an interpretation of Plato’s „Philebus“ (an interpretation that for the most part is given by Gadamer himself), that will indicate precisely how Gadamer understood the task of philosophy within hermeneutics.1 In this context of speaking about Plato and the „Philebus“ in particular as a way of speaking about philosophy, my remarks are at the same time an attempt to pay tribute to Hans-Georg Gadamer. My real task is to speak of him and about him in an act of memory and keeping in mind – a gesture that, in the end, speaks to the very task of philosophy in its condition of finitude. To indicate the further direction of my remarks and to pose the question that will then organize my remarks, I want to take note of the beginning of the „Philebus“, where we see that in some sense the dialogue has already begun, as if to say we cannot begin at the beginning. „See then, Protarchus, at what kind of speech you’re right now going to take over from Philebus, and also at the one from our side that you are going to argue against, if it is
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not to your way of thinking.“2 It is clearly evident by the content but also by the semantic structure of the sentence that they are not at the beginning of the conversation. Protarchus is about to follow a speech given by Philebus, and in the Greek text we see that Plato has omitted the vocative omega – the announcement of greeting – before the name Protarchus. The dialogue we can say begins elliptically, it begins with an omission of the preceding conversation. But not only that. This dialogue without a true beginning also does not have a true end. The last words are Protarchus’s: „There is still a little missing, Socrates, and surely you will not give up [apereis] before we do, but I will remind [hypomneso] you of what remains.“3 It appears that Plato is making a pun relative to the central issue of the dialogue: Protarchus does not believe that Socrates has reached his limit with respect to the discussion of the limit (peras) and unlimited (apeiron). More importantly, Protarchus’s effort to remind does not occur, but falls into darkness, creating the omission of an end. Without a true beginning and a true end, the dramatic structure of the dialogue indicates something of what is discussed in the dialogue, viz., the idea of the unlimited, the apeiron, and the inability to remove it from discourse. And without a true beginning and a true end, can we not say that the dialogue occurs completely in the middle of things? And is it not the case that this is in fact the very issue of the dialogue, the issue of not being at the end with respect to the good, and how human life that is not at the end with respect to the good lives in a mixture of pleasure and thoughtfulness relative to what in some sense is a middle, the metron? And is not this idea of being in the middle also the very experience of philosophy for Plato? That is to say, aside from the specific question of the good, philosophy is an activity of being between ignorance and pure knowing, an activity of being in the middle by having recourse to discourse. Making this claim does not mean that we have fully grasped its meaning, and so I want raise the question, which will serve to organize my remarks: What does it mean for philosophy to be in the middle of things? This question, I want to suggest, is also the question of Gadamer’s philosophical hermeneutics, a project formed and shaped, as I already indicated, not simply by Greek philosophy, but by a specific reading of Plato’s „Philebus“. Even more so, Gadamer made Plato’s dialogues his constant companions and he regarded Plato’s questions and insights to be unsurpassable. And so, with regard to my question concerning philosophy and its middle, this question is also Gadamer’s question. Between Plato’s dialectic and Gadamer’s art of hermeneutic conversation there is little difference. For both, there is the demand of the logos that in Gadamer’s case is tied to the phenomenon of the appearing word, to finding the right word in conversation, to the phenomenon of language in its living accomplish-
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ment, where there is no first word and where the last word only appears against the darkness of death. And in this living accomplishment (Vollzug) of language, language is indeed a middle, a medium; as he writes in „Wahrheit und Methode“: „it is from language as a medium [die Mitte der Sprache] that our whole experience of the world and especially hermeneutic experience unfolds.“4 Now, in the attempt to answer my question, we have to see that it contains an essential ambiguity. Being in the middle not only entails being removed from starting and end points, and thus from what begins immediately and from what comes to completion. It also implies, as we see in Greek term for middle, mesos, the sense of a common ground and with this also a sense of being in the medium. Thus my question can be equally formulated: What does it mean for philosophy to be in its medium? The answer to this form of the question is most directly answered by Plato in his „Seventh Letter“ and I would like to turn to this first before returning to the question as it is presented in the „Philebus“. Plato’s „Seventh Letter“ is the letter Plato wrote to the friends of Dion, the brother-in-law of Dionysius I, after Dion’s assassination. The letter takes up a number of concerns around the troubles in Sicily that occasioned the assassination, and includes a statement about teaching and learning and the difficulty of putting this instruction into words. In effect Plato is attempting to explain here how one gains insight in philosophy. Attending to this statement, Plato tells us: „For everything that exists there are three things through which knowledge about it must come; the knowledge itself is a fourth, and we must put as a fifth thing the actual object of knowledge which is the true being.“5 Plato then lists these classes of things through which what is known is communicated: in name or word (onoma), in conceptual determination (logos), in the illustrative image (eidolon), and in the knowledge or insight itself (episteme). Yet none of these are able to give us the thing itself. Even where one would most expect to find that identity between knower and known, namely, at the level of insight, Plato will insist that the thing itself remains distinct for insight cannot be separated from images and the becoming that is part of the intellect’s stream of life. So Plato can then say that „of all these four, intelligence [nous] approaches nearest in affinity and likeness to the fifth entity, while the others are more remote from it.“6 To clarify the meaning of these distinctions, Plato uses the illustration of a circle. There is an object called a circle that is named in the word just given. This object has a definitional statement: that which has everywhere equal distance between its extremes and its center. This object is also there when it is portrayed (a portrayal that can be obliterated, something that is
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not affected by the circle itself). Finally there is „knowledge, intelligible insight [nous], and true opinion“ concerning these portrayed circles, which are found in the soul and thereby are different from the nature of the circle itself and from the other ways the entity comes to us. Looking at Plato’s example we see that the circle itself is understood in opposition to every circle we encounter in experience. Not only is it not found in the name, but it is also not found in what we would call the concept of the circle. The fourth classification is remarkable in that it lists together three terms that in another context Plato might try to distinguish: knowledge, insight, and true opinion. In finding these three placed together here, we should not assume that Plato was simply writing a letter, and if he had to be more precise, as is demanded of a teacher before his students, he would have distinguished them properly. Taking Plato at his word, we know that all three means of knowledge occur in the soul and this is enough to distinguish them from the circle itself; that is to say, insight into the circle is a human insight that always stands removed from the circle itself. Obviously someone is closest to the circle itself in insight when suddenly everything that contributes to the intelligibility of the internal relationship of the thing to itself is present to that someone all at once. But it still remains the case that in all four classes of presentation what is presented, as Plato tells us, is a particular quality (poion) along with the real being of the thing.7 This means that the revealing of the thing through the means of knowledge is always accompanied by a concealing of the thing. The concealing occurs because the means of knowledge assert themselves in every taking hold of the thing. Now, Plato’s further comment regarding the movement to insight is most interesting. He tells us that unless we get hold of the first four, we will never gain a complete understanding of the fifth. All the classes in which the thing is known must play a part if one wishes to grasp the thing itself. But with them one still does not grasp the thing itself, for in using words and images we fall prey to perplexity and uncertainty. This, Plato insists, is the experience of philosophical discussion: we live in the medium of words in which we should be capable of grasping the thing itself, but this is not in fact what occurs. And it does not occur precisely because there is the „weakness of the logos.“ Why Plato stresses the weakness of the logos, when it is only one of the classes by which the thing is known and in all the classes we fail to grasp the thing itself, is significant. In his reading of the „Seventh Letter“, Gadamer insists that this weakness is not unrelated to the fact that „this process of attaining and communicating understanding always takes place entirely in the medium of one person’s speaking with another? Plato leaves no doubt that even knowledge of the ideas, although it cannot merely be derived from language and words, is still not to be at-
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tained without them.“8 But if neither the word nor the definitional statement can escape a fundamental tendency to distortion, why then cannot the whole of speaking, the work of comparison in sameness and difference – what Plato calls dialectic – overcome the weakness of language? The importance of this question cannot be overstated. For this experience of attempting to overcome what is concealed by language is precisely what takes place in every Platonic dialogue. And is it not the case that in every dialogue we discover that, at best, human beings perceive the order of reality only in a finite limited way. That is to say, the whole of speaking never presents itself as such. Despite what appears to be the case in the „Sophist“, for example, there is for Plato no dialectical science. Dialectic in Plato, then, is not the same as Hegelian dialectic. It is not, in other words, a simple advance towards the one, but, as we see in the dialogues, results from the multiplicity of aspects of the thing which is constantly displayed in language. It is to Plato’s credit that he finds this multiplicity to be productive and thus it counters the very idea of weakness in the weakness of the logos. With this idea in mind we can read in a positive rather than negative way Plato’s claim in the Letter that the possibility of knowledge rests on coming to terms with all four classes of knowing the thing itself. One moves up and down from one to the other – or better, between oneness and multiplicity – rather than ascending to the whole system of knowledge, as a way of gaining insight. But what then is productive about a logos that cannot extricate itself from an element of resistance to its own unity and display? For Plato the productive character in the work of the logos pertains to the nature of true learning. In reference to the possible bad upbringing of the soul, he says: „The study of virtue and vice must be accompanied by an inquiry into what is false and true of the whole of reality and must be carried on by constant practice throughout a long period, as I said in the beginning. Hardly after practicing detailed comparisons of names and definitions and visual and other sense perceptions, after scrutinizing them in benevolent disputation by the use of question and answer without jealousy, at last in a flash understanding of each blazes up, and the mind, as it exerts all its powers to the limit of human capacity, is flooded with light.“9
Plato’s remark here occurs in the context of the problem of gaining insight in a community where those who have skill in confutation gain the victory. As we all know, Plato sets the demand for insight against the sophism of his age, where in discussion any insight can be confounded. For Plato, bringing someone to insight cannot be separated from this experience where words are used against what they intend. As we see in Plato’s remark, the possibility of insight will require that the discussion of a particu-
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lar eidos takes place in relation to the broader inquiry into what is false and true of the whole of existence. What is at issue in a philosophical life is the education whereby one can have insight into the whole, where the whole is not the ordered cosmos as such, but simply that which is beyond single opinions about any one thing.10 And for Plato this inquiry, which is aided by a look at the good, does not produce that unequivocal pyramid of ideas, but remains dialectical in the sense that one eidos cannot be separated from another. But to say it again, this means that philosophy is at best the experience of advancing insight that cannot be gained without the many things. Philosophy, in other words, is in its own way pathe mathos: it is only by taking up the difficulty of things (aporia), which itself emerges when the one thing is set within multiplicity, that the felicitous experience of advancing insight (euporia) happens.11 And so, here in the „Seventh Letter“ we have a first answer to my question. To be in the middle of things is to be caught up in the weakness of the logos. It is to be caught up in the resistance within discourse to display the thing itself, and thereby it is to be caught up in a work of infinity in which a partial aspect may be raised up and unconcealed. And so too for philosophical hermeneutics. Gadamer knew very well that the language of conversation could not, in a way analogous, to Socrates’ proximity to sophistry, protect itself from idle talk (Gerede) and misuse. Nevertheless, the language of conversation that Gadamer regards as having a speculative dimension remains the way to philosophical insight. In its speculative dimension language bears meaning from within itself, from what Gadamer calls language’s middle. For Gadamer the middle of language is language’s own infinite self-transcendence where every word breaks forth as if from a center and is related to a whole; but the word, as the event of the moment, is finite and stands in relation to the whole by „responding and summoning.“12 Let us be clear, though, on the precise nature of this middle, as we see it in Plato. The weakness of the logos is not to be confused with the problem in modern philosophy, as expressed clearly in both Kant and Nietzsche, of the subject’s access to the thing itself. For Plato the weakness of the logos is rooted in the problem of the one and the many; that is to say, Plato’s dialectic is rooted in a Pythagoreanism in which identity and difference – and with it, philosophy’s middle – follows from the principles of the one and the two. The principles of the one and the two are the basis for the doctrine of ideas and are in fact what establishes the finite limits of human discourse. To see this let us turn back to the „Philebus“, and in doing so arrive at a second answer to my question. The problem of the one and the many is introduced almost immediately in the dialogue. Socrates and Protarchus, starting from the omitted conver-
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sation, debate whether the proper good of human life is pleasure or thoughtfulness, which includes apprehending with insight (noein), memory (memnesthai), and what is akin to these, right opinion and true calculations (logismous). It soon becomes apparent, though, that a simple determination as to what each is cannot be maintained, and thus they are faced not only with the difficulty of explaining how each (pleasure and thoughtfulness) is both one and many, but also with the question of whether the good is itself a mixture of pleasure and thoughtfulness. At 14b Socrates says: „Well then Protarchus, let us not cover up the difference between your good and mine, let us set them out in the middle (meson), and let us be daring to see […] whether pleasure should be called the good, or thoughtfulness, or yet a third thing.“ He then asks Protarchus to confirm the argument that the many are one and the one is many, and points out that insight will be possible only if they enter into this difficulty. Protarchus agrees and asks Socrates to lead the way. Socrates first indicates that the same thing becoming both one and many in discourse is „a deathless and ageless condition,“ and then notes that the way out of this difficulty is a „gift from the gods“ hurled down from the heavens by some Prometheus and passed it on as a report. The crucial passage occurs at 16d–e: „Whatever are the things that are said to be are out of one and many, having in its nature limit [peras] and unlimitedness [apeirian]. Since this is the way things are arranged we have to assume that there is a single idea for everyone of them and search for it and will indeed find it there. And if we get it we must look for two, as the case may have it, and, if not, for three or some other number; and we must examine each of these further unities until it is not only established of the original one that it is one, many, and unlimited, but just how many it is; and we must not apply the idea of the unlimited to the plurality before we catch sight of its entire number between the unlimited and the one. Only then is it permitted to release each unity and let them go to the unlimited.“
Immediately following this report Socrates says that it is in this way that we must examine and learn and teach one another, but the clever ones (sophoi) tend to move too quickly within this difficulty and after the one they make things unlimited and omit the middle. This middle, Socrates concludes, is what distinguishes a dialectical discourse from an eristic one. Now, it is clearly the case that the report does not satisfy Protarchus because he does not fully understand it, and in fact we see that that problem of the one and the many is indeed a complicated matter. Let me try to sort out this complication. First of all, we learn that the one and the many are regarded as the source of all things; they are what the Greeks call archai. But notice the peculiar relation that exists between the two. The one is, in
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effect, posited („we have to assume that there is a single idea“), and in looking for it it becomes a definite many, which in turn is let go to the unlimited. We look first to the one, but it cannot hold fast to itself; the one is a kind of two. As we will see, the notion of two introduces the idea of number, but it also points to the ambiguity of terminology in Plato. The problem of the one and the many is the problem of the one and two, as we see in the „Republic“ where Socrates remarks with respect to the contradictory qualities in the sensible object that each is one and both are two. The use of two is appropriate for the notion of the many insofar as the notion of the many is to be thought in relation to the unlimited (apeiron), and the unlimited is what extends, let us say, between the large and the small or the more and the less. That which is unlimited can range indefinitely between two opposite poles. This means that the unlimited is to be understood as an indeterminate dyad (aoristos dyas). The term is actually never used by Plato, but is found in Aristotle in his description of Plato’s philosophy.13 All of this is to say that for Plato the source of all things is in fact not one but two: the one and the indefinite dyad, the many. To say this in yet another way: the source of all things is one and two. Secondly, the actual complication within the problem of the one and the many occurs in conjunction with Plato’s linking of the eide to arithmos. It is precisely here that we rejoin the argument from the „Seventh Letter“. Through the idea of number Plato can maintain that it is impossible to define an eidos purely by itself, that every eidos stands in relation to other eide and thus to a certain multiplicity. If we put this in the context of the discussion of mixture in the „Philebus“, which begins at 23c, we can see how Plato can also maintain that the indefinite unlimited dyad, the many, both sustains and restricts the order of the world and the possibilities of human knowing. This interpretation of Plato’s position is actually provided by Gadamer. According to Gadamer, Plato sees that we take hold of an idea in the manner of counting. The search for the answer of what something is, the logos ousias, is carried out by a procedure of diairesis, which as division is a dividing into two. What has then been separated out, divided, is then collected together in the manner of counting up. „The nature of the matter, the logos ousias, is the collected sum number of all the essential determinations which have been run through, and as such it has the structure of number.“14 But notice then the structure of a sum number. It is a unity that is a one, but its unity is not coextensive with its parts; that is to say, it is not like the unity of a genus that can be predicated of each of the exemplars. The sum number cannot be predicated of each of the things counted. Accordingly, while each number has a distinct unitary meaning, the sum number, produced by combination, has a different unitary mean-
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ing, as we can see in noting that an even number can be composed from odd numbers. Thus the structure of number is both one and many, and thereby exhibits a peculiar structure of identity and difference. Moreover, a sum number produces a limit in relation to the unlimited that occurs in counting. Accordingly, numbers are what they are in relation to an unending series; the generation of numbers can be continued indefinitely. Thus Gadamer concludes: „It is my contention that Plato’s concern is not with achieving a unified system of dihairetical generation but only with the fact that the principles of the One and the Two are able to generate the series of all numbers – just as they make all discourse possible.“15 They make discourse possible because the logos always requires that one idea be „there“ together with another. Such being together, though, does not simply generate discourse, it also generates interpretation: „Only when the idea is ‘alluded’ to in respect to another does it display itself as something.“16 That is to say, in discourse, which involves the whole of the infinite interrelationship of ideas, a determinate aspect is raised up and placed on the light of unconcealment. And this is to say that interpretation follows the arithmos structure of the logos where „one and one together are two without either of the units […] being two and without the two being one.“17 The framework for interpretation, in other words, is generated by the identity and difference of a divided logos. Discourse, as the carrying out of interpretation, then, cannot escape the ambiguity of the togetherness of one and many. But more than this, discourse which is oriented to advancing insight, expresses in its exercise the delaying of presence. That is to say, discourse is the movement of the logos in which the logos cannot be one with itself. For Plato discourse is precisely that which maintains philosophy in its non-systematization. We can say this in yet another way: differing as such is always held within the movement of the logos. This differing is not the drawing of difference in the distinction between one eidos and another; such difference is merely the difference of separating out, the becoming different as becoming other. Rather, it is the doubled difference in which being is not merely separated out but constantly different within itself by being both one and two. When Gadamer claims in „Wahrheit und Methode“ that hermeneutics concerns the interpretation of tradition, we need to understand it in a similar way: tradition, which is language, is never a simply whole, a mere one, but a two in the sense of a doubled source, a doubled arche of one and indeterminate two. Tradition is thus not a unified whole that unfolds in its particularity, as if it were a Hegelian Geist moving along without, however, reaching its end. Tradition, Gadamer tells us, is comprised of different aspects of itself that
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„do not simply cancel one another out in the continuity of progressive research […] Our historical consciousness is filled with a multitude [Vielzahl] of voices in which the echo of the past is heard. Only in the plenitude [Vielfachheit] of such voices is it there.“18
And so, here we have a second answer to my question. To be in the middle of things is to take up being in its middle where the philosopher is between one and two. And, to be sure, such taking up of the middle is not to put oneself in an intermediate position, as if one were halfway between, looking in one direction at the one while also looking in the other direction at the many. It is rather to be in a position towards the mystery of number. To be in the middle is to have sight for the mixture of being. Let me here count to three, that is to say, let me introduce a third answer to my question. At this point in the dialogue, Socrates has refined the debate about the good. It is no longer simply a matter of pleasure and thoughtfulness, which are each one, being many; rather, they must now show how „they are not straight off unlimited, but each of them possesses a definite number before they become unlimited.“19 Protarchus is still perplexed and reminds Socrates of his promise not to go home before a satisfactory end or limit of the discussion is reached. In what appears to be an abrupt transition, but is in fact the introduction to the matter of limit, Socrates tells Protarchus that one of the gods has granted him a kind of memory which he now has brought to mind. What is brought to mind is that neither pleasure nor thoughtfulness is the good, but there is a third which is different from and superior to them both. What Protarchus does not immediately see is that this third is the idea of mixture which attends to the problem of number within the problem of the one and the many. Protarchus is drawn to this idea of mixture when he agrees with Socrates that neither a life of pleasure nor a life of pure thought is self-sufficient. But a long and difficult discussion lies ahead of them for the nature and cause of the mixture is still under discussion. Socrates then proceeds to set down the beginning of this discussion by introducing a doctrine of four kinds. A summary of this discussion occurs at 27b8: „Well, then, in the first place I mean the unlimited, and the second limit, and then mixed out of them the third, a being that has come to be [gegenemenen ousian]; and should I speak of the cause of the mixture and genesis as the fourth, would I actually be striking a false note?“ We are already familiar with the first two: the unlimited refers to that which in nature has no definite nature such as the greater and smaller; it contains the more as well as the less, in effect, it is the indeterminate duality. The limit, on the other hand, is that which imposes a definite degree or quantity on what is unlimited. The limit in other words, provides the measure.20 Thus what is limited, what Plato
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calls the offspring of the limit, is „anything that is related as number to number or measure to measure.“21 But it appears we are already speaking of the third kind in which indefiniteness and limit – indefiniteness and one – exert their power over each other. Here in everything that is said to exist, indefiniteness and the One do not exclude each other. Rather, the indeterminate doubles the One, generating the definite manyness of numbers; and the limit or One transforms the indeterminate into determinate ones, a multitude of ones. With this all too brief account of Plato’s complex analysis here, we are at least in a better position to understand what Plato means when he refers to this third kind as being that has come to be. On the one hand, becoming is not simply a mode of being unto itself as a becoming other (Anderswerden), a pure indefinable mutability. On the other hand, being is not a being unto itself as a self-same constancy, but has the character of having become. Mixed being, and here I follow Gadamer, is the state of being accomplishing itself by going into its multiplicity.22 Now, at the center of this multiplicity lies the issue of measure. When Plato turns back to the question of the good in light of this ontological configuration, we learn that the good in human life is to appear in this being that is mixed, but this means that it appears in relation to measure (metron). And for the question of the good, this measure should be at once the right or due measure (metrion). That is to say, in order for the mixture that is life not to be destructive, it must have proper measure, a proportionality or measure according to a well-mixed drink of life. Now, the good is precisely this limit, this defining measure, that in human life has taken refuge in the nature of the beautiful, „for measure [metriotes] and measuredness [symmetria] constitute what beauty and virtue are everywhere.“23 In this context the beautiful is not simply what has order, proportion, and harmony, it is also the display itself, the shining appearing of order and proportion. The beautiful is the appearing of due measure, and thus the good is not simply beyond being, as stated in the „Republic“. As the binding measure of the thing, the good is not simply that which exists apart for itself. According to Gadamer: „As a binding measure, the good is something whose operation in the realm of being comes from somewhere beyond being, but as something that is introduced as form into being, it constitutes, being’s nature.“24 But if mixed being unites the good with the beautiful, the good will also be united with being true. Being true must express itself then in relation to the exact that Plato here calls the due or fitting measure. What is to be expressed here is developed succinctly in „The Statesman“. The young Socrates and the Stranger make a distinction between two arts of measurement. The first art of measurement involves the standard of relative comparison. It is implied that this art of measurement in which the exact is
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relative to the more and less is sufficient for theoretical studies. It corresponds, in other words, to ratio that is basic to Pythagorean mathematics. The second art of measurement is one in which the standard of comparison has the exact in due measure (metrion), and is the kind of measuring that is needed when there is an end in view, which is the case for the art of statesmanship. The discussion clearly does not want to limit this kind of measuring to statesmanship, since it is needed wherever the measurement has a practical aim. And so the Stranger tells the young Socrates that without the skill to determine the due measure between excess and defect, all such arts, including politics and weaving, which they have just defined, would be destroyed. The Stranger concludes that only by preserving the due measure, that is, „the measure in relation to the fitting [prepon], the opportune [kairos], the needful [deon], and all other such standards,“ will the practice be good and beautiful.25 The due measure, which is always of the thing, is precisely that which requires ongoing determination. And so, being the middle then, means, in its third and most complete sense, finding the measure in the mixture. And such finding is never a matter of calculation in the manner of a strict collection and division. A strict collection and division is impossible because being presents itself not as an ordered whole, but in its multiplicity that constantly goes into itself. In a life that looks after the good by mixing the desire for the good with memory, with the ability to keep in mind, finding the measure is the longing that supports the proper human life. And for Gadamer finding this fitting measure has always been the central task of hermeneutics. It is, more modestly, the task of finding the word that can reach the other. This appearing word that is „right“ emerges, as it does for Plato, from a weaving according to the order of being that is one and two. The hermeneutic word arises out of the interweaving of sameness and difference in the logos. The display of the fitting measure is, as it is for Plato, the shining appearing of the becoming of being. Gadamer gives a beautiful description of this activity in his late essay „Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache“. Here Gadamer is concerned, once again, with what is fundamental to hermeneutics, viz., the experience of language. What is essential in this experience, Gadamer insists, is that it is an experience that takes place in the life-world. Ritual, too, takes place in the life-world, and Gadamer sees that both experiences as such are experiences of being with-one-another. According to Gadamer, being with-one-another is the distinctive human experience of not being outside ourselves, as if before our beginning or after our end, but of being present to ourselves. Such being present is what the Greeks understood by the theoretical life, and, when compared to that of the gods, is always a weaker form of „immortal glory.“ Gadamer concludes his essay with a description of this im-
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mortal glory: Human life is a life that is temporalized, and as such „begins each morning anew and with each new beginning reorients itself, and all this in the with-one-another of language and ritual, from ‘Good morning’ to ‘Good night’, when the conversations with oneself and others, and all the rituals of symbolic behavior sink into darkness, like the darkness of death. All of this should be correct [richtig].“26 Gadamer then explains that the idea of „correct“ here means to go beyond the pre-given. It is what occurs in finding the „right“ word, in carrying on a „correct“ conversation, in becoming involved [mitgehen] in the matter – whether it be the poem, a piece of music, or whatever – so that one can understand. This, he concludes, „is the truth of the enactment of the incarnate living-with-one-another, in which the universe of language lives its life: ‘The human, in the silent night, lights a light – himself’ (Heraclitus).“27 With Plato looking over his shoulder, Gadamer knew that outside this middle there is only the dark. We hear it best from the Chorus in Sophocles’ „Oedipus at Colonus“: „Whoever desires the greater portion, neglecting the measure for his life, will show no wisdom. For the endless hours pile up a drift of pain. And when sunken in excessive age, you will not see pleasure anywhere. But death ends it equally, there being then no wedding ode, no music, no dance.“28
The Chorus then laments: what is best for humans is not to be, what is second best is to go quickly from the light of life. But where the tragic lament propounds a quick return from whence one came, after having come into the light, this contemporary Plato loved the light and the joy of recognition. And for us who now live in the dark silence of that life, in memory, our joy in knowing him remains mixed with the pain of departure.
Notes I am not the first to present an interpretation of Gadamer’s reading of Plato. See for example, P. Christopher Smith, „H.-G. Gadamer’s Heideggerian Interpretation of Plato,“ Journal of the British Society for Phenomenology, vol. 12, 3 (October 1981): 211–230; Paulette Kidder, „Gadamer and the Platonic Eidos,“ Philosophy Today, vol. 39, 1 (Spring 1995): 83–92; Donald Davidson, „Gadamer and Plato’s Philebus,“ in The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, ed. Lewis Hahn (Chicago 1997): 421–432. In this paper I do not take issue with these interpretations as much as I present an independent line of development. 2 Plato, Philebus, Loeb Classical Library (Cambridge 1962), 11a. 3 Philebus, 67b. 4 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Bd. 1 (Tü1
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bingen, 1990), p. 461; English translation, Truth and Method, trans. Donald Marshall and Joel Weinsheimer (New York 1989), p. 457. 5 Plato, Letter VII, Loeb Classical Library (London 1929), 342a–b. 6 Letter VII, 342d. 7 Letter VII, 342e. 8 Gadamer, Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief, Gesammelte Werke, Bd. 6 (Tübingen 1985), p. 100; English translation „Dialectic and Sophism in Plato’s Seventh Letter,“ Dialogue and Dialectic, trans. P. Christopher Smith (New Haven 1980), p. 104–05. 9 Letter VII, 344b. 10 See Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief, p. 110; English translation, p. 117. 11 See Plato, Philebus, 15c. 12 Wahrheit und Methode, p. 462; English translation, p. 458. 13 See Aristotle, Metaphysics, I.6, 987b25. 14 Gadamer, „Platos ungeschriebene Dialektik,“ Gesammelte Werke, Bd. 6, p. 148. 15 „Platos ungeschriebene Dialektik,“ p. 150–51. 16 „Platos ungeschriebene Dialektik,“ p. 151. 17 „Platos ungeschriebene Dialektik,“ p. 137. 18 Wahrheit und Methode, p. 289; English translation, p. 284. 19 Philebus, 18e–19a. 20 The dialogue is extremely complicated at this point. It appears that what imposes a definite degree on the unlimited is number or measure, but this is not itself the limit as such. It is in fact that which is already limited, that is to say, a mixed being. The limit can only show itself in the limited. 21 Philebus, 25a–b. 22 See Gadamer, „Wort und Bild – ›so wahr, so seiend‹,“ Gesammelte Werke, Bd. 8 (Tübingen 1993), p. 394: „Hier wird erneut deutlich, was Vollzug ist. Es ist eben kein vergegenständlichendes Erkenntnisverhalten. Es ist vielmehr die in den Vollzug eingegangene Mannigfaltigkeit.“ 23 Philebus, 64e. 24 Gadamer, „Platos dialektische Ethik,“ Gesammelte Werke Bd. 5 (Tübingen 1985), p. 150; English translation, Plato’s Dialectical Ethics, trans. Robert Wallace (New Haven 1991), p. 208. 25 Plato, Politicus, Loeb Classical Library (Cambridge 1962), 284a–e. 26 Gadamer, „Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache,“ Gesammelte Werke, Bd. 8, p. 439. 27 „Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache,“ p. 440. 28 Sophocles, Oedipus at Colonus, Loeb Classical Library (Cambridge 1956), 1212–1223.
Holger Schmid Hermeneutik und Kritik: Stufen des Platonismus Wie man weiß, ist Hermeneutik ursprünglich ein philologischer Begriff. Betrachtet man indes, wie in den denkerischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts das damit gemeinte Tun sich in einen Bereich radikaler Fragen und darum, zumindest dem Anspruch nach, in den Rang der philosophischen Grunddisziplin gerückt findet, so ist es, als ob damit ein Raum eröffnet und ein Wort von 1869 erfüllt wäre, nämlich die Peroratio von Friedrich Nietzsches Basler Antrittsrede über Homer: „philosophia facta est quae philologia fuit“. Die sich dann aufdrängende Frage, was es eigentlich mit der zurückgelassenen Gestalt der Philologie noch auf sich habe, beantwortet Gadamer damit, die philologische Herkunft zur philosophischen Zukunft zu machen; in dieser Form wird die Auseinandersetzung mit der prägenden Macht Heideggers in jenem Raum Nietzsches geführt. Mit seiner lebenslangen Orientierung an Platon trifft andererseits die beständige Annäherung zwischen Philologie und Philosophie zusammen in dem Grundgedanken des Gesprächs, verstanden als Ursprung alles Wissens und zuletzt des Menschseins selbst. Das reicht bis zu der zugespitzten These Gadamers, speziell im Hinblick auf Platon geäußert, wonach „zwischen Philologie und Philosophie nur dann wirklich greifbare Unterschiede sind, wenn einer auf der einen Seite oder auf der anderen Seite die Dinge nicht genügend beherrscht“1. Gegenüber der vor allem fachwissenschaftlichen (mit Philologen und Philosophie-Historikern geführten) Debatte um den esoterischen Platon zeichnet sich dabei eine Frage ab, die den strittigen Grund philosophischer Selbstkonstitution betrifft und derart die Philologie in einer, wie man sagen könnte, metaphilosophischen Position zeigt. Sie entspricht zugleich, und naheliegenderweise, der Frage nach dem griechischen Denken, insofern es „vor“ Platon liegt und damit wesentlich auf das Problem der Kunst verweist. Diesen Punkt, wo eben mit dem Namen Platons eine unverwechselbare Spannung gegeben ist, hat Gadamers Denken lebenslang, auch in selbstkritischer Wendung, umkreist und darin die für hermeneutisches Philosophieren in Anspruch genommene Offenheit eindrucksvoll bewährt. Dem produktiven Stachel, der darin lag und liegt, soll die folgende Überlegung gelten.
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I. Wie die ganze Anlage von „Wahrheit und Methode“ deutlich macht, tritt in den Mittelpunkt der Hermeneutik, gerade insofern sie sich von einer philologischen Teildisziplin oder Kunstlehre zur Fundamentalphilosophie steigert, das Problem der Kunst: nämlich des Kunst-Werks und der ihm entsprechenden Erfahrung. In eins damit, und als Rechtsgrund dieses Wandels selbst, wird das Phänomen der Sprache in seiner wahren Dimension zu sehen gelehrt. Sprache ist dabei, als griechische, der ursprüngliche Boden (Sprach- und Welthorizont sind eins), aus dem die philosophischen Kategorien des Abendlandes überhaupt erwachsen sind und aus dem sie erst verständlich werden. In dieser prinzipiellen Hinsicht darf man sagen, Gadamer sei allezeit bei seinem Ausgangspunkt im Raum von Heideggers Sophistes-Vorlesung von 1924–25 geblieben; vor allem Verdeutlichung ist es, wenn nach 1960 Platon stets deutlicher als Zielpunkt einer Rehabilitierung der Tradition hervortritt, bis hin zu der gegen Heidegger gerichteten Erklärung, eine Wiederholung Platons sei die eigentliche Aufgabe der Philosophie.2 Zwischen jenem Mittelpunkt und dieser Grundverfassung scheint sich freilich sogleich eine inhärente Spannung zu zeigen, die im Problem der platonischen Kunstfeindschaft unmittelbar zu Tage tritt und die ihrerseits die Wurzel der gerade von „Wahrheit und Methode“ streng kritisierten Entstellung der Kunsterfahrung zur Ästhetik bildet. Indes setzt Gadamer dagegen die Grundformel seiner Hermeneutik, „Plato ist kein Platoniker“, in deren Bereich nun auch der Platon-Kritiker Aristoteles hineingenommen erscheint, dessen philosophisches Verfahren darum „als eine Art Modell der in der hermeneutischen Aufgabe gelegenen Probleme“ bezeichnet werden kann.3 Dem entspricht die Treue zum Anfang von 1924: womit einerseits, wie man beobachtet hat, der „späte“ Gadamer auf den jungen Heidegger zurückgreift,4 andererseits das Verhältnis von Kunst und Sprache im Innern der Hermeneutik-Konzeption beharrlich weiterwirkt. Diese Struktur steht hinter den letzten Worten der Selbstdarstellung: „Das Verhältnis von Poesie und Philosophie steht im Zentrum dieser Untersuchungen.“5 Ebenso gut ist derart freilich impliziert, dass dieses Hauptthema ständig, und zwar zentral, weitergedacht wird und offen bleibt. Es empfiehlt sich also keineswegs, die Gedanken von 1960, als ob sie endgültig wären, mit den späteren umstandslos zu vermengen. Ganz im Gegenteil könnte in solchen Verschiebungen sogar das Eigentliche und Beste genuin hermeneutischen Denkens zu finden sein; und Aufmerksamkeit dafür wird von Gadamer in beständigen selbstkritischen Hinweisen eigens gefordert. Sie richtet sich demnach auf die Frage, was es, formelhaft gesprochen, mit dem
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Bezug (oder, gegebenenfalls, dem Widerspruch) zwischen den beiden Grundmotiven der Hermeneutik auf sich habe: einerseits dem Verhältnis von Poesie und Philosophie, andererseits dem Zusammenschließen der Dimension philosophischer Hermeneutik mit der platonischen Dialektik, wie beides zumal der leitenden Absicht entspringt, hinter die verfestigten Begriffe der Metaphysik und ihr unerkanntes Fortleben zurückzufragen.6 Es ist wohlbekannt, wie zunächst Aristoteles, mit seiner Entdeckung der phronesis als einer eigenen – nämlich „praktischen“ – Gattung von Wissen, gerade durch seine Kritik an der platonischen Idee des Guten in den Brennpunkt rückt. So hat es den Anschein, als genügte dieser Eideshelfer zur Destruktion des metaphysischen Primats der Vorhandenheit, indem er mit der „Praxis“ zugleich das Feld des geschichtlichen Menschen eröffnete. Entsprechend hatte Heidegger die aristotelische „Rhetorik“ hervorgehoben „als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ und damit für den Begriff der Rhetorik, analog dem der Hermeneutik, die Abhebung vom Gesichtspunkt des „Lehrfachs“ und die Vertiefung zur Fundamentalkategorie initiiert. Zugleich war mit der Rhetorik als Grund und Boden der Sprache aber auch die Frage nach der „ursprünglichen“, konkreten Grunderfahrung verknüpft, welche ihrerseits die „griechische“, das heißt: aristotelische und nachmals metaphysische Begrifflichkeit selber hervorgetrieben hatte.7 Dies bildet den systematischen Ort, an dem Gadamers Hermeneutik im Namen des „Gesprächs“ zu der platonischen Dialektik zurückfragt. Der aristotelisch geprägte Begriff des Gesprächs, der also primär den Verweis auf die Verwurzelung philosophischer Kategoriensprache in einem Ursprungsboden der (griechischen) Alltäglichkeit in sich trägt, wird dann in einem weiteren Schritt metaphorisch auf das Verhältnis von Text und Interpretation angewendet, wodurch er tauglich wird für die bekannten Anforderungen einer Fundierung geisteswissenschaftlichen Tuns. Die Vorstellung, unser gesamtes Verhalten zur Überlieferung, soweit es in der Lektüre von Text-Objekten besteht, sei darum immer von der Natur des „Gesprächs“8, kann phänomenologisch wohl nur als Widersinn erscheinen, soweit man sich über den rein metaphorischen Charakter dieser Ausdrucksweise nicht im Klaren ist; oder aber, falls man nicht von vornherein das Gespräch als eines der Seele mit sich selbst bestimmt. Nicht von ungefähr befinden wir uns damit indessen gerade im Bezirk der von jeher die Gesprächs-Thematik überschattenden Fragen der platonischen Schriftkritik; und die aristotelische Rhetorik gründet, wie Gadamer bekräftigt, in den Perspektiven des „Phaidros“.9 Seine besondere Bedeutung erweist der hiermit geschilderte Sachverhalt nun am theoretischen Höhepunkt der Hermeneutik-Konzeption, dem Begriff der Erfüllung auslegenden Tuns, wonach diese in einem Verschwinden des Interpreten vor der reinen
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Gegenwart der Sache besteht. Die bekannte, eigenartig paradox anmutende Formel dafür lautet: „Der Text spricht.“10 Da dies zwar im weiteren Sinn für alles Auslegen gelten, jedoch vor allem den „eminenten“ Text der Dichtung auszeichnen soll, verweist dieser Höhepunkt in der Tat auf beide Seiten jener Motivation philosophischer Hermeneutik: eine auf die Grundlage des „Phaidros“ bauende Praxis der Geisteswissenschaft qua „Gespräch“ und eine als „eminent“ gedachte Erfahrung von Kunst und Sprache. Die Frage ihrer Vereinbarkeit führt den späteren Gadamer zu einer selbstkritischen Wendung, auf die es im Folgenden ankommen soll.
II. Die notorische Ablehnung der Schrift auf den letzten Seiten des „Phaidros“ beruht eben auf der Voraussetzung, ein Text sei keineswegs im Stande, mit dem Ausleger und Frager in einen Dialog zu treten: Er sage vielmehr immer nur dasselbe und könne sich insbesondere nicht in den Standpunkt des Kritikers versetzen, um derart seiner Position „Hilfe“ zu leisten. Der Einwand gegen die Niederschrift bezieht sich lediglich auf die Schwierigkeit, Rezeption und Rezipienten so unter Kontrolle zu halten; von anderen Gründen, z. B. der Unsagbarkeit des Intelligiblen, ist keine Rede, vielleicht auch, weil derart die Orientierung an Geometrie und Dialektik sich selbst schon am Tor zur Akademie ad absurdum geführt hätte. Solche techne des Zuhilfekommens mit theoretischen Argumenten ist aber das, was dem Dichter Homer prinzipiell mangelt: Umgekehrt werden auch der Rhapsode Ion und der Dichter Agathon gar nicht mit Poesie, sondern mit philosophischen „Reden“ vernommen. Entsprechend wird „Homer“ als Logograph, Text-Autor, in einem Atemzug mit Redenschreibern wie Lysias und Verfassern geschriebener Gesetze wie Solon genannt (278 C), die „immer dasselbe“ sagen müssen und nicht mit logoi argumentieren können. Die techne des im „Elenchos“ ihm abverlangten Wissens ist äußerlich, Reflexions-Diskurs, und gerade nicht auf eine im poetischen Werk, und als dieses, erscheinende Wahrheit (die in anderer „Form“ gar nicht manifest zu werden vermöchte) gerichtet. Mit einem Wort, wir haben hier den Gründungsakt der „Geisteswissenschaften“ vor uns. Der Dichter wird, als ob es sich von selbst verstünde, durch den Ausleger ersetzt; im selben Akt wird seinerseits das Gedicht als Text, Logographie, stillschweigend nivelliert, und zwar zum „Poem“, dem Gemachten einer Poiesis. Dies ist nichts anderes als die Entstehung von „Hermeneutik“. Ganz konsequent besteht das Ansinnen zugleich darin, Homer solle im „Elenchos“ sein Geschriebenes selbst „als Schlechtes erweisen“. Dies ist also in einem auch die Entstehung von „Kritik“.11
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Selbstverständlich wird hier keinerlei Verschwinden des Interpreten gewünscht, sondern vielmehr genau das Gegenteil; merkwürdig bleibt, wie Gadamer, der hierin doch mit Recht die Grundlagen der aristotelischen Rhetorik (und Poetik) erblickt, von diesen Tatsachen gar nicht beunruhigt scheint. Interpretation heißt mithin Reduktion auf rhetorische Alltäglichkeit. Ob „Platoniker“ oder nicht, der Verfasser des „Phaidros“ erweist sich als Begründer der Ästhetik, wie es übrigens Heidegger behauptet hatte.12 Es versteht sich, inwiefern gerade hiermit dem Verhältnis von Poesie und Philosophie seine zentrale Stellung zuwächst. Erläutert man diese Bewandtnis noch etwas weiter, so zeigt sich mit dem Grundgestus des Alsschlecht-Erweisens noch ein platonischer Sachverhalt eng verflochten, der für die Konzeption des hermeneutischen Dialogs bedeutsam ist. Gemeint ist die Lehre vom Satz im „Sophistes“, der ja wesentlich Prosa-Satz als Verbindung von Subjekt und Prädikat ist: Sie hängt zusammen einerseits mit der bekannten Gliederung der „Rede“ im „Phaidros“, die keinen poetischen „Organismus“, sondern ein rein logisch-semantisch aufgebautes Gefüge von Prosa-Sätzen intendiert (264 C); andererseits mit just den Merkmalen von mimesis und poiesis, die hier nicht dem Tun des Dichters, sondern vielmehr dem des Sophisten zuerkannt werden und folglich gerade die soeben geschilderte Ersetzung des Dichters durch den Experten der „Reden“ voraussetzen. Philosophisch bestimmt ist damit der „Boden“, auf welchem im Zentrum des „Symposion“ die siegreiche Rede des Sokrates über den Eros, oder vielmehr: über die Philosophie stattfindet. Auf sie ist im Blick auf das Verhältnis von Poesie und Philosophie später noch einzugehen. Deutlich scheint indes, dass die hierauf gegründeten Entwürfe von Kunsterfahrung einerseits, von Sprache andererseits nicht zusammengehen, da offenkundig gerade platonisches Denken am Grunde all dessen liegt, was der Hermeneutik gleichzeitig als zu Überwindendes erscheint. Wie sich an „Phaidros“ und „Symposion“, den urbildlichen Fällen platonischen Dialogs, erweist, beruht die Unverträglichkeit der Grundentwürfe von Kunsterfahrung einerseits, von Spracherfahrung im „Gespräch“ andererseits eben in der Parallelisierung von „Drama und Dialektik“, wie sie bei Gadamer den Gedanken des Gesprächs selber definiert. So richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die spätere Wendung der Hermeneutik zum Phänomen der Lyrik, die das Problem des Verhältnisses von Poesie und Philosophie offenbar vertiefend aufnimmt, indem sie das Paradigma einer Sprach-Fügung ins Zentrum rückt, welches – mit Grund in der aristotelischen Poetik nicht vorhanden – zum Gespräch und zur mimesis in Gegensatz steht.
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III. Der Schritt, den Gadamer unternimmt, wird formuliert als Rückgang auf „eine Beziehung von Wort und Begriff“, wie sie der Beziehung von Drama und Dialektik „noch vorausliegt“; in der auf das Kriterium des Mimetischen eingeschränkten Poetik des Aristoteles ist dafür kein Ort: „Es ist das lyrische Gedicht, in dem die Sprache in ihrem reinen Wesen erscheint, so daß in ihm alle Möglichkeiten von Sprache, auch die des Begriffs, gleichsam eingehüllt schon da sind.“13 Ist damit gesagt, es sei also Sprache nun nicht mehr vom Dialog her zu denken, wenn zwar von der vorausliegenden Dimension der Lyrik aus die Sprache des Begriffs verstanden werden kann, nicht aber umgekehrt? Wie verhält sich demnach der Sprachbegriff zwischen dem Modell der lyrischen Magie und demjenigen des „Gesprächs“ in Frage und Antwort? Besteht eine Aporie, oder ist Vermittlung denkbar? Versucht man sich vorläufig zurechtzulegen, was damit an Fragen entsteht, so ist es der Widerstreit dieser beiden Modelle in seinen Folgen für die Grundentwürfe von Kunst und Sprache, wie sie die Eckpfeiler der früheren Konzeption bildeten. Der Begriff Lyrik selber, der hier ja noch ganz unbestimmt und z. B. nach Antik oder Modern noch ganz undifferenziert erscheint, hätte insofern eine ursprünglichere Sprach-Fügung zu bezeichnen, die eben nicht den Prädikations-Maßstäben des Prosa-Satzes aus dem „Sophistes“ unterläge: die genannte „reine Sprachhandlung“ ist notwendig nicht Dialoghandlung. Was ist sie dann? Soll etwa der Kunst-Charakter solcher Sprache nach Begriffen von Architektur und Musik, als nicht-mimetischen Kunstformen, deutbar werden, so widersteht dies dem Begriff des „eminenten Textes“ schon insofern, als dieser nicht nur Poesie, sondern auch Gesetze und Heilige Schriften umfassen sollte: Das Neue Testament z. B. ist sicher nicht eminent auf Grund seiner lyrischen Sprachfügung. So werden die Gesichtspunkte von Sprache und Kunst, jene beiden Eckpfeiler, jetzt unzertrennlicher verbunden.14 Wie soll man sich das Problem stellen? Nehmen wir das Beispiel des Lyrikers und Theoretikers Valéry und seiner bekannten, gegen die Vorstellung des „vollendeten“ Werks gerichteten Formel: „Meine Verse haben den Sinn, den man ihnen gibt“, die Gadamer 1960 zu heftigem Widerspruch gereizt hat: Man begnüge sich dergestalt mit einem unverbindlichen, zufälligen und beliebigen Abbruch des Gestaltungsvorgangs, wodurch an Stelle des Dichters nun dem Rezipienten unschicklich die Freiheit des Genies auferlegt werde. So erhalte „jede Begegnung mit dem Werk den Rang und das Recht einer neuen Produktion“. Gadamer erschien eine solche Denkweise deshalb als ein „unhaltbarer hermeneutischer Nihilismus“.15 Das von Valéry Gemeinte dürfte so freilich verfehlt
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sein.16 Das Kunstwerk hat zwar sein Sein, auch nach Gadamers eigener Hauptthese, allein in der „Darstellung“ oder im Vollzug. Doch ist dabei offenbar an mimesis im aristotelischen Sinne, an „Lesen“ gedacht, mithin ein „Wiedererkennen“ bleibender Sinngehalte, die ihrerseits den Charakter des aus der jeweiligen „Energeia“ herausragenden „Ergon“ tragen und damit den poiesis-Charakter des Text-Gebildes bestimmen. Ihr Spiel wird darum am eigentlichsten vom Leser als Zuschauer (nicht Mit-Spieler) erfahren, dem ein methodischer Vorrang zugesprochen wird.17 Bei Valéry ist hingegen von der spezifischen Auszeichnung der Vers-Fügung die Rede; und deren Vollzug ist, aristotelisch ausgedrückt, keine Sache der poiesis oder theoria, sondern der praxis. In der zeitlich-rhythmischen Realisation des Verses durch die Aufführung ist für einen Zuschauer und Betrachter gar kein Ort vorhanden (der Text gleicht bloß einem Apparat im Schrank); und darauf bezieht sich Valérys weiteres Diktum: „Was nicht vollendet ist, existiert noch gar nicht.“ Eben daran scheiden sich streng die Bewandtnisse von Lyrik und Prosa, welches Kernstück von Valérys Poetik zwar von Gadamer später ständig zitiert, doch eigentlich kaum durchdacht wird.18 Sein eigener Hinweis auf den Wissensvorrang des Gebrauchenden vor dem Herstellenden beruft sich ausgerechnet auf das 10. Buch von Platons „Staat“ (Rep. 601 C), wo es tatsächlich um das präzise Gegenteil von Lyrik, nämlich die Prosa-Rede nach Maßstäben des „Sophistes“, geht. Genau wie übrigens in den Vorschlägen zur organischen Gliederung einer Rede im „Phaidros“ (und gleichfalls an der bekannteren Stelle Gorg. 502) ist dort gefordert, dem Gedicht die „Farben“ der Musik wegzunehmen und es derart auf „Sinngehalt“ und alltägliche Prosarede zu reduzieren,19 auf die Sprache also, in der Sokrates den Agathon besiegen und die Lehre der Diotima verkünden wird. Selbstverständlich entspricht dies genau jener Umdeutung „Homers“ zum Logographen und Geisteswissenschaftler. Verlockend wäre es übrigens, in dieser Konstellation den systematischen Ursprung der Distinktion von praxis und poiesis zu vermuten, verbunden mit der Beobachtung, wie diese Unterscheidung sich im Moment ihres ersten Hervortretens sogleich in der eigentümlichen Inversion des Verhältnisses von Rhetorik und Poesie kundgibt. Für die gegenwärtige Überlegung wird so jedenfalls verdeutlicht, worum es in Gadamers Beschäftigung mit „Lyrik“ eigentlich ging. Um hier nun die lyrische Fügung als vorausliegende Sprachdimension in ihrer Bedeutung für die Selbstrevision des späteren Gadamer genauer zu ermessen, sei stellvertretend für vieles ein kurzer Blick auf den Aufsatz „Unterwegs zur Schrift“ gerichtet.20 Im Schnittpunkt der Grundentwürfe von Poesie und Philosophie, von Kunst und Sprache kann es dabei nur um ein Grundsätzliches, nämlich die vermutete Spannung zwischen den beiden Paradigmen der Sprachfügung, Gespräch und Lyrik, hinsichtlich der
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Orientierung an Platon zu tun sein. In der Tat knüpft Gadamer bei bisher Vertrautem an und fragt erneut (mit Aristoteles, an. post. II, 19), wie sich überhaupt Gemeintes und Mitgeteiltes im Strom des Geschehens zu seiner Selbigkeit aufbaue. Solchen Aufbau im Falle des Gedichts ganz der absoluten Augenblicklichkeit der energeia auszuliefern, war ja das provokante Ansinnen des hermeneutischen Nihilismus gewesen; hier wird indes auf das Gedächtnis als Grund oder Abgrund nicht nur aller logischen Synthesis, sondern alles Zusammen-Lesens (legein) überhaupt verwiesen. Die Rede ist noch gar nicht von poetischer Fügung und ihrer Erfahrung, wie sie etwa sonst in der wesentlichen Plötzlichkeit ihres Epiphanie-Charakters sich mit dem platonischen Exaiphnes assoziieren ließe: Es handelt sich stattdessen aristotelisch um das Verhältnis von Wort und Begriff, wonach aus der Vielheit behaltener Bedingungen und Wahrnehmungen allmählich die eine Erfahrung erwächst und sich ins Urteil bringt.21 Erst von dort aus gelangt Gadamer zu der Klang-Sinn-Einheit der poetischen „Phrase“, die er in der Nähe zur magisch-rhythmisch geprägten Formel und wie diese wesentlich auf genaue Wiederholung bezogen sieht. Von dieser Art des Sprechens, die ja doch, wie erinnerlich, zur vorausliegenden Sprach-Dimension erklärt worden war, heißt es nun, ihre Klang-Sinn-Einheiten seien ihrerseits, als Streben zur Bewahrung von Identität und somit zur Fixierung durch die Schrift drängend, „der artikulierenden und akzentuierenden Rhythmik des Vortrags oder des verstehenden Lesens vorgegeben“. Die Erfahrung dieser Einheiten liegt also im Wiedererkennen des Sinngehalts: dem Lesen (anagignoskein). Ferner soll „selbst der Rhythmus als solcher“ seinerseits „in gewissem Sinne vorgegeben“ sein, um nämlich bei der Wiederholung eingehalten zu werden. Aus diesem Merkmal der doppelten Vorgegebenheit, als ob es sich um eine am Phänomen ablesbare Objektqualität handelte, schließt nun Gadamer, solche Formeln und poetischen Prägungen drängten von sich aus zur schriftlichen Fixierung, also zur „Literatur“-Poiesis, hin. „Lied und epische Erzählung sind ja wirklich wie eine Art schriftlicher Aufzeichnung im Gedächtnis.“ Erneut wird ausgerechnet mit Platon bekräftigt: Mneme „schreibt“ logoi in unsere Seelen22, und eben so war ja auch im „Phaidros“ die Gegeninstanz zum Ruin des Gedächtnisses durch die Erfindung des Theut formuliert worden. Also, schließt Gadamer weiter, führt ein gerader Weg von der Lyrik-Magie, das heißt der rituellen Wiederholungsgestalt, zur Literatur. Homer bleibt Schriftsteller, unberührt von einem Umlernen hinsichtlich der Berechtigung romantischer Vorstellungen über die Mündlichkeit vorhomerischer Poesie23: Die Musenanrufe seien eine Art literarischer Kunstform, mittels deren das Ganze sich als einheitliches „Buch oder Werk“ vorstellt. Demnach löst sich die scheinbar vorausliegende, in magischer Einheit von Klang und Geschehen wie aus dem Dämmer der Urzeit herübertönende
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Dimension des reinen Sprach-Wesens von selbst geradewegs in die ProsaLiteratur auf: „Wo sind wir hier auf einmal hingekommen? Zu einer Schriftlichkeit, die der Sprache noch voraus ist, und zwar unerreichbar voraus!“24 Es zeigen sich gewisse Grenzen der Selbstrevision: „Homer“ ist stets noch derjenige des „Phaidros“-Schlusses: der Autor und Logograph, der hinter seinem Text hervortreten soll, um ihn durch hermeneutische Auslegung und Applikation als Schlechtes zu erweisen. Der gerade Weg von der rituellen Formel zur Literatur verläuft über das Geleise des (augustinisch gedachten) „inneren Ohrs“ und seiner unhörbaren (das heißt: unvordenklich-schriftlichen) „idealen Sprachgebilde“25, in denen gleichwohl Kunst-Ganzheit des Werks, Rhythmik und dichterischer Tanzschritt erscheinen sollen. Vieles wäre noch dazu zu bemerken; umso mehr, als der gadamerschen Hermeneutik dank ihrem Begriff von Applikation die Auszeichnung zukommt, konkrete Bewährung z. B. an Gedicht-Auslegungen nicht scheuen zu müssen. Nur als Korollar zu der Vorstellung von „Wiederholung“, und zur Prüfung der These, der Rhythmus „als solcher“ sei ein Vorgegebenes, welches darum als Poietisches seine Einhaltung erzwinge26, sei indes der Hinweis eingeschaltet, dass es sich im Falle der Erfahrung lyrischen Sprachbaus umgekehrt verhalten möchte. Was es mit der rhythmischen energeia auf sich hat, zeigt eine Fügung wie die der bekannten ersten Strophe von Hölderlins „Hälfte des Lebens“: Voll mit gelben Birnen und wilden Rosen hängt „Das Land in den See, / Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser“. Seit langem wähnt man hier ein Anakoluth, also einen Bruch der syntaktischen Ganzheit (der übrigens mit geschichtsphilosophischen Folgerungen schwer befrachtet wird): Das Und, „das größte Und der deutschen Dichtung“, stehe dort gegen alle Regeln der Syntax.27 Umgekehrt ist dabei vielmehr die syntaktische Ganzheit verkannt worden, weil Generationen von Lesern den – rhythmisch ebenso wie semantisch entscheidenden – Akzent auf dem zweiten „ihr“ nicht im Ohr hatten und darum die Sinn-Analogie zwischen dem Hängen des Landes und dem Sich-Senken der Häupter nicht recht wahrzunehmen vermochten. Der Vers-Rhythmus ist also keineswegs „vorgegeben“, sondern muss allererst durch das Ohr erzeugt werden: Dies war die Maxime des Orphikers Valéry. Es ist nach allem offenbar der Boden des Platonismus, wo sich nämlich Gespräch gegen Lyrik beständig durchsetzt, der Gadamers Selbstkritik am Zusammendenken der Grundentwürfe von Kunst und Sprache scheitern lässt.28 Es sei denn, man operierte umgekehrt, indem jene vorausliegende Dimension wiederum preisgegeben wird: Nur insofern das platonische Gespräch, präzise als „Drama“ und Dialektik begriffen, selbst als Modell von Dichtung eingesetzt wird, findet in der Tat ein Zusammenschließen
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statt.29 Dies scheint Gadamers Fall zu sein. Befestigt wird dabei der platonische „Boden“, indem nichts anderes als ein Nachvollzug der letzten Worte des Sokrates im „Symposion“ (223 D) impliziert ist. So führt die Frage zurück zum Problem der Diotima-Lehre und ihrer Sprachgestalt. Unmittelbar bedeutet hier „Drama und Dialektik“ das, was durch das Trinkgelage in actu vorgeführt wird: Der festlich-symposiastische Agon, zu dessen Veranstaltung zunächst Dionysos als Schiedsrichter angerufen scheint (175 E; man könnte an die „Frösche“ des Aristophanes denken), wird zum Wettstreit der Prosa-Reden über den Eros umgewandelt, die Aulosspielerin weggeschickt.30 Sokrates bezwingt daraufhin den Tragiker Agathon (die Philosophie setzt sich als „wahre Tragödie“31), indem er „die Wahrheit“ ausspricht: zunächst durch Widerlegung im Elenchos, danach durch das Referat der überlegenen Eros-Theorie Diotimas. Bedingung seiner Wahrheit ist: Nicht in der Art der Lobreden der Vorgänger, sondern in Alltags-Prosa wird er reden, in Ausdrücken und Satzfügungen, wie sie der Zufall eingibt (199 B). Von Dialog findet sich dabei keine Spur, obwohl die neue Mythologie der berühmten Eros-Fabel polemisch die Überzeugungen der Vorredner auf den Kopf stellt, und obwohl jene „Wahrheit“ der Sache nach keineswegs ineffabler ist als diese: Vielmehr präsentiert bekanntlich Sokrates wie eine Offenbarung die bloße Wiedergabe einer ihm selbst widerfahrenen Belehrung durch Diotima, eine den Teilnehmern sonst unbekannte Autorität.32 Rätselhaft bleibt darum der Status dieser mit metaphorischen Anleihen aus der Mysterien-Terminologie üppig ausgeschmückten Exposition der Lehrerin, die keineswegs wie vom pythischen Dreifuß herab, sondern mit viel didaktischer Ironie vermischt geboten wird: Es handelt sich weder um eine durch göttliche Mania beglaubigte Prophezeiung noch um dialektisch argumentierende techne.33 Wer also ihren Wissensanspruch in Hinsicht des geschilderten Eros-Wesens nicht auf Treu und Glauben annimmt, sollte sich eigentlich fragen, ob diese Frau nicht vielleicht zu jenen gehöre, von denen es im „Phaidros“, bei der Lobpreisung des Enthusiasmus, bedeutungsvoll heißt, sie erwiesen Hellas viel Gutes im Wahnsinn, „bei Verstande aber Kümmerliches oder gar nichts“ (Phdr. 244 B). Sokrates’ Nacherzählung ihres Lehrgesprächs in der ostentativen Alltäglichkeit, die seinen Wahrheits-Anspruch begründet, ist rhetorischer Prosa-Mimus. Der ganze Vorgang – mit der Initiation der „Schau“ im Diotima-Lehrgespräch wie mit dem Dionysos-Fest überhaupt – führt anschaulich vor, wie Theorie metonymisch zum wahren „Fest“ umgedeutet wird; zugleich reproduziert derart die Auslegung den rhetorischen Mechanismus von Platons Ersetzung von Poesie durch Philosophie: als „wahre Tragödie“, Sokrates gegen Agathon.34 So wird in der Tat die Rhetorik des platonischen Mimus selber zum Poesie-Modell. Auf diesem Boden sind dann nämlich, eben als Rheto-
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rik, die Aktivitäten Sokrates’ wie seiner Antipoden ununterscheidbar: Der Eros des Diotima-Berichts definiert ja eben das philosophische Tun als Rhetorik, zweckmäßiges Aufsuchen schöner Seelen, um sie mit Reden über die Tugend zu bearbeiten und sie damit zu formen und zur Raison der Lebens-Änderung zu bringen. Bewahrt man sich etwas Skepsis gegen eine bei vielen Erklärern verbreitete, romantisierende Tendenz, in solchem Boden platonischen Philosophierens die Zeichen griechischer Ursprungs-Frühe zu finden, so darf man hierin nun den Boden des vierten Jahrhunderts, den Boden sophistischer Kultur und Sprache erkennen: den Boden jenes Alltags-Wurzelgrundes der philosophischen Kategorien „der Griechen“, wie sie Heideggers Rekurs auf Aristoteles und seine Rhetorik als Hermeneutik alltäglichen Miteinanderseins anzielte. Für den Stand der Hermeneutik-Konzeption und ihres Schlüsselproblems, nämlich des Verhältnisses von Poesie und Philosophie, ist dieser Boden gerade in dem Maße bedeutsam, wie tatsächlich ein Rückgang des späten Gadamer auf den frühen Heidegger stattfindet. Seine philosophische Konstitution war in der Reihe der platonischen Operationen zu beobachten. Die Dichter sind dabei (erst recht als „Maler“35) durch das Bild des sophistischen Rhetors a limine ersetzt: Hierin liegt der eigentliche Zusammenhang zwischen den Begriffen, mit denen Platon die Dichter zu bedenken vorgibt, nämlich poiesis und mimesis, und der einheitlichen Theorie der Prosa-Rede in „Symposion“ und „Sophistes“. Genau entspricht dem ferner die Umfunktionierung „Homers“ zum Geisteswissenschaftler, das heißt zum Hermeneutiker und Kritiker seiner selbst. Etwas philosophisch höchst Prinzipielles, nämlich die Art von Platons negativem Zusammenhang mit der Vorzeit, kommt demnach zum Ausdruck in der rhetorisch-metonymischen Verbrämung der Philosophie zum bacchischen Wahnsinn, zu Hymnus, Tragödie, Musik, Mysterienweg, etc.: Es handelt sich um „Stil“, Kostüm und Usurpation, so wie man modernen Bankgebäuden noch antike Tempelfassaden vorzubauen liebt.36 Nichts anderes scheint in der Diotima und ihrer Lehre auf jenem Boden ihres Jahrhunderts manifest zu werden.
IV. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen entsteht nun wieder, und erst recht, die Frage nach der Differenz von Rhetorik und Poesie: Sie fällt nunmehr zusammen mit dem Verhältnis von Philosophie und Poesie, im Aspekt der Sprache als „Lyrik“ in ihrem „reinen Wesen“. Um sie zu stellen, muss man demnach zurückgehen „vor“ Platon, was nicht umstandslos „zu den Vorsokratikern“ bedeutet, so als ob es schon ausgemacht sei, wie man
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dorthin „zurück“ginge. Darin liegt zuletzt die Bedeutung von Gadamers späterer Akzentuierung der Lyrik: Es fallen, wie jetzt nahe liegt, zusammen die Frage nach dem Bezug von Kunst und Sprache (das Verhältnis von Philosophie und Poesie) und diejenige nach „Griechenland“ insgesamt: nicht ein Problem historischer Information betreffend, sondern die Grundmöglichkeit des Denkens, oder den ursprünglichen „Boden“ unserer Begriffe. Dem wiederum entspricht jetzt immer noch die Frage nach einer gleichfalls „ursprünglicheren“ Sprachfügung als es die rhetorisch-alltägliche des Prosa-Logos ist, wie er im „Sophistes“ begründet und durch die Umdeutung des Festes im „Symposion“ manifestiert wird. Hiervon soll abschließend noch kurz die Rede sein. Es ergibt sich, im Lichte des hier bisher Erwogenen, nun so etwas wie ein natürlicher Schnittpunkt aller Fluchtlinien im Zeichen der „lyrischen“ (begriffen als Gegensatz der rhetorischen) Sprachfügung. Er liegt dort, wo zumal das Verhältnis von Poesie und Philosophie – mit anderen Worten, das Grundproblem von Philosophie selbst – als kulminierend zu denken wäre: im Proömium zu dem Lehrgedicht des Parmenides. Diese Konsequenz gezogen zu haben und dazu eine neue Intensität der Befassung mit diesem Vers-Gefüge zu fordern ist vielleicht das größte Verdienst von Gadamers Selbstkritik, gleichsam der Inbegriff der Hinweise auf die Lyrik als Drama und Dialektik vorausliegende Dimension: nämlich die Sprachgestalt in ihrer Einzigartigkeit unverkürzt zu denken, speziell im Zusammenhang damit, dass hier eine Göttin redet, gegenüber sonst gängigen Verkürzungen durch Allegorese. Weshalb damit notwendig die Differenz von Rhetorik und Poesie in einem neu zu schärfenden Sinn einhergeht, ergibt sich ferner, wenn im Blick ist, wie genau darin (zumindest „formal“) die Offenbarung des Parmenides von der Diotima-Belehrung des „Symposion“ zu unterscheiden ist, deren Bewandtnisse vorhin untersucht worden sind. Um dem archaischen Denker und ebenso uns selbst gerecht zu werden, sagt Gadamer, heißt es den Parmenides aus der Blickbahn seiner platonisch-aristotelischen Wirkungsgeschichte herauslösen;37 konkret ist darin eingeschlossen, es sei die eben durch die platonische Perspektive verursachte Nivellierung des Bezuges von Parmenides und Zenon rückgängig zu machen.38 Es soll und kann hier nur noch die potentielle Konfiguration umrissen, nicht mehr verfolgt werden. Die Bedeutung von Gadamers Gesichtspunkt wird nun klarer, sobald man in dieser Frage nach einem Detail der Parmenides-Forschung vielmehr die Frage nach „den Griechen“ überhaupt und mithin nach jenem ursprünglicheren Boden ihrer Begrifflichkeit erkennt. In den Arbeiten anderer Gelehrter wird diese Frage gerade nicht mit Aufmerksamkeit für die Sprachform verknüpft, wenn z. B. für Parmenides die Gegenwart der Göttin als „unverzichtbar“ angenommen, doch zugleich vom Aspekt des Dich-
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terischen als des vermeintlich „Poietischen“, welches erst später mit Pindar erscheine, die Struktur des von ihr mitgeteilten „musischen Wissens“ abgetrennt wird.39 Gerade in Bezug auf Pindar hat andererseits der große Versuch von Michael Theunissen, den Zusammenhang der Grundprobleme abendländischer Vernunft mit der griechischen „Lyrik“ sichtbar zu machen, eine grobe Vernachlässigung der poetischen „Form“ in Kauf genommen: Obwohl die Absicht ausdrücklich dahin geht, die Grenze des Logos am „Mythos“ neu zu denken, und obwohl die Untrennbarkeit des griechischen Mythos von der griechischen Poesie ins Auge springt, wird die allegorische Reduktion des Parmenides-Proömiums anstandslos übernommen,40 während andererseits bei Pindar, trotz der eigenen Einsicht in die Wichtigkeit dieser Aspekte für das Problem der Zeit, das Phänomen der „Form“ einer nicht ganz unanfechtbaren Kompetenz der Literaturwissenschaft überlassen bleibt.41 Gerade im Blick auf unser philosophisches Selbstverständnis besteht hingegen ein grundsätzliches Interesse an dem parmenideischen Nexus von Offenbarung und Vers-Artikulation, wie ihn Gadamer, gegenüber einer anachronistischen Rede von poetischer „Einkleidung“, die eben die Maßstäbe Diotimas auf den Parmenides zurückprojiziert, zu bedenken fordert; und was bei Platon jene rhetorische Fassade aus Mysterien-Phrasen darstellt, darf eben darum, zumindest in heuristischer Absicht, bei dem archaischen Denker ernst genommen werden. Daraus ergibt sich ungezwungen das kritische Mittelglied zur Unterscheidung dort, wo die Sprachfügung des Parmenides zugleich in Prosa und in Argumentation überführt wird: Zenon, der „eleatische Palamedes“ (Phdr. 261 D), der Erfinder der Dialektik,42 welcher übrigens, zumindest nach einer Angabe des Diogenes Laertius (III, 38), auch als der erste Verfasser philosophischer Dialoge gilt. Von hier aus wären demnach nicht nur die Eleatendialoge Platons kritischer zu würdigen, sondern auch jener zu Unrecht als „ursprünglich“-griechisch genommene, rhetorische Boden der Diotima-Rede wie der platonisch-aristotelischen Begrifflichkeit überhaupt. Eine erneuerte Auseinandersetzung um „Elea“ ist damit am Beginn, nicht am Ende zu sehen; wenn dabei die Kraft der Anregung über das von Gadamer selbst noch Intendierte und praktisch Realisierte hinauszureichen vermag, so dient dies gerade zum Ruhm der HermeneutikKonzeption. Auf der Seite des Parmenides wird inzwischen mit dem Abbau des Nivellierungszwangs ein weiterer Blick für seine archaische und poetische Eigenart möglich, analog vielleicht dem Wort von Keynes über den besessenen Alchemisten Isaac Newton: Nicht der Erste der Aufklärer, sondern der Letzte der alten Magier Sumers und Babylons sei in ihm zu erblicken. Eine zumindest seit Diels vielfach erörterte Problematik dürfte dabei unter neue Vorzeichen zu stehen kommen, wenn man, ebenso wie gegen
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die Späteren, Platon und Zenon, den Parmenides nun auch gegen die Vorstellung von Homer abzuheben vermöchte, wie es in der Aufmerksamkeit für die Sprachform unter dem „Lyrik“-Paradigma unmittelbar impliziert scheint. Gerade für das Proömium werden ja von jeher Homer und Hesiod („das Epos“, meistens noch mit dem „Volksglauben“ identifiziert) als Vorbilder beansprucht, was bei näherem Zusehen keineswegs zwingend anmutet. Die Frage möchte zuletzt zusammenfallen mit der anderen, ob bei der Wagenfahrt des Parmenides, wenn sie keine „Himmelsreise“ oder platonische anabasis darstellt, an einen Weg in die Unterwelt, eine katabasis zu der namenlosen Göttin zu denken sei. Gadamer hat sich dabei, trotz gewichtiger Stimmen, für die Himmelsreise ausgesprochen; doch scheint hier nirgends etwas Endgültiges ausgemacht.43 Es zählt andererseits zu den bemerkenswerten Korollarien von Gadamers Frage nach der lyrischen Sprachfügung (und bekräftigt zugleich die geschichtliche Verantwortlichkeit dieses scheinbar ganz ahistorischen Gesichtspunkts), wie sich die aus der Diotima-Rede gewonnene Möglichkeit einer fundamentalen Unterscheidung genau dort wiederfindet, wo Valéry, auf der Spitze der Modernität, das Gedicht als „Fest des Geistes“ und reine energeia von der Sprache der Prosa-Rede unterscheidet. Man darf wohl sagen: Die beiden Probleme des „Phaidros“-Schlusses, scheinbar in entgegengesetzter Richtung nach „vorwärts“ und „rückwärts“ verlaufend, sind in Wahrheit eines und dasselbe. Insofern ergibt sich nun, diesseits des Zuschauer-Vorrangs, wieder ein direkter Zusammenhang zwischen dem hermeneutischen Urmotiv der „ästhetischen Nichtunterscheidung“ und der selbstkritischen Wendung zur Lyrik als Drama und Dialektik vorausliegender Sprachdimension. Valérys Dialog vom Architekten Eupalinos, der wohl Anti-Phaidros heißen könnte, hatte genau die architektonischmusikalischen, also nicht-mimetischen Kategorien jener Fest-energeia ohne ergon beschrieben, die im Entstehen des Tempels als „singenden Bauwerks“ umgekehrt die Kunst-Erfahrung als ein Bauen (nicht Lesen) gründen.44 Eine eigentümliche Bestätigung, hier nur mit wenigen Worten zu skizzieren, findet sich dafür in der poetologischen Schlüsselstrophe von Valérys Gedicht „Le cimetière marin“: Dort wird, im Zenit-Augenblick der Mittagssonne über dem Meerfriedhof, der Eleate Zenon mit seinen Paradoxen von Achilleus und vom ruhenden Pfeil beschworen: „Mich zeugt der Klang, mich tötet diese Spitze!“45 Indem der Dichter hier seinen Zenon in der Vertikalität von Midi le juste erscheinen macht und derart den Pfeil als Sonnenstrahl deutet, der „mich“ (die personne chantante, sagt Valéry) und den Achill gleichzeitig tötet, evoziert er in eins damit den delphischen „gerechten“ Apollon mit seinen Pfeilen und den mit der „orphischen Erklärung der Erde“ verbundenen Apollon-Helios. Der „Klang“ des Fests, die poetische energeia ohne ergon, und die katabasis des Todes
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durch den Pfeil sind in diesem Augenblick dasselbe, in dem sich jenes singende Bauwerk „aufführt“. Blickt man von diesem Standpunkt der extremen Modernität hinüber zu Pindar, so findet man dort sehr ähnliche Worte (fr. 194 Sn.-M.): „Goldner Grund ist für die heiligen Gesänge geschmiedet; / Auf denn, lasst uns bauen ein bunt schimmernd, in Worten / redend Bauwerk!“46 Sie sind nun nicht als Neigung zum Poietischen zu deuten, da sie dem singenden Chor in den Mund gelegt sind und sich mithin auf die Praxis der Aufführung, nicht auf die Herstellung des Textes beziehen. Der von weither kommende Sachverhalt, der praxis und poiesis im Moment ihrer ersten Unterscheidung vertauscht, wäre in seiner Bedeutung für griechisches und modernes Denken von hier aus weiter zu prüfen. Längst vor Pindar besteht andererseits die damit verknüpfte Unterscheidung von Rhetorik und Poesie, die wir bei Solon finden: Bei seinem Erscheinen auf der Agora, um die Athener zum Kampf gegen Salamis zu überreden, kündigt er beim Vortrag den Hörern an, er habe, anstelle einer Prosa-Rede, einen Kosmos aus Worten als Gesang gefügt, nämlich ein elegisches Gedicht.47 Von einem Aufkommen der entsprechenden Geistesart erst in der Sophistenzeit, wie es manchmal behauptet wird, kann also nicht die Rede sein. Insofern nun auch derselbe Solon, als einer der Sieben Weisen, zugleich mit der ältesten Schicht griechischer Philosophie in Beziehung steht, wäre hier der eigentliche Ansatzpunkt für eine nach Gadamer kommende Befassung mit dem Verhältnis von Philosophie und Poesie zu suchen. Derselbe Ausdruck für das Wortgefüge wie bei Solon, kosmos peon, findet sich auch bei Parmenides (fr. 8,52 DK) zur Bezeichnung seines DoxaTeils (während die Darlegung der Aletheia wechselweise Logos oder Mythos genannt wird). Die Mitteilung der Göttin scheint sich dabei nicht sehr von derjenigen der Musen an den Hesiod (vielleicht aus gleicher Tradition?) zu unterscheiden, denn auch diese künden bald Wahres, bald trügerisch dem Wahren Ähnliches (Theog. 27 f.): was übrigens nicht verbieten würde, in Hesiod den eigentlichen Gegner des Parmenides aufzusuchen.48 Immerhin wird durch den Gedanken an Hesiod auch die Aufmerksamkeit auf das Unepische, Nichthomerische der parmenideischen Hexameter zurückgelenkt, die ja zu der epischen Erzählzeit nach üblicher Vorstellung, der narrativen Sukzession, eigentümlich quer stehen. Dem entspricht der Hauptzug, welchen das Gedicht dem Proömium verdankt: die Rede eines „Ich“ von sich selbst, seit je das Kriterium von „Lyrik“ par excellence. Dieses Ich als empfangendes Gegenüber der Göttin dürfte indes die formbestimmende Instanz sein, welche die beiden Fragen Gadamers unter dem Lyrik-Paradigma zusammenschließt: die nicht-prosaische Sprachfügung und die Epiphanie-Struktur der Offenbarung.49
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Dies alles angenommen, so würde sich jener ursprünglichere Boden griechisch-philosophischer Begrifflichkeit, in einer konkreteren Weise als von uns vielleicht erwartet, als der Boden der griechischen „Lyrik“ erweisen; und darin läge in der Tat ein Verdienst von Gadamers später Wendung im Verhältnis von Poesie und Philosophie, dessen Konsequenz es erst noch auszuschöpfen gilt. Gegen das aristotelische Wissensmodell und seine zenonischen Grundlagen würde sich dieses ältere Denken vor allem im Kontrast denken lassen, insofern es wohl doch nicht unterwegs zur Schrift ist. Was dies betrifft, so hätte man darin auch den Begriff der Antike und des Griechischen schärfer als bisher zu differenzieren, da keineswegs, wie es der berühmte Bericht des Augustinus über Ambrosius (Conf. VI, 3) vermuten ließ, erst in der letzten Antike zum isoliert-stummen Lesen übergegangen wurde: Ein dreiviertel Jahrtausend früher, so hören wir von Plutarch, empfing Alexander der Große im Feld einen Brief, den er schweigend las, um das Gesagte für sich zu behalten.50 Unwiderstehlich erscheint die Frage: Von wem hat er das gelernt?
Anmerkungen „Platos Denken in Utopien“, Gymnasium 90 (1983) 435. Der Wiederabdruck, durch den Untertitel „Ein Vortrag vor Philologen“ nuanciert, enthält indessen die Stelle nicht mehr (GW 7, 271). 2 Dazu vgl. François Renaud, Die Resokratisierung Platons: Die platonische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers (International Plato Studies 10), St. Augustin 1999, 16f. 3 GW 1, 329; im Original hervorgehoben. 4 Vgl. Ernst Tugendhat, Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1992, 432. 5 GW 2, 508. Vgl. insgesamt Manfred Riedel, „Hermeneutik und Gesprächsdialektik. Gadamers Auseinandersetzung mit Heidegger“, in: Hören auf die Sprache, Frankfurt a.M. 1990, 96–130. 6 Vgl. GW 2, 456. 7 Heidegger, Sein und Zeit, 12. Aufl. 1972, 138; den Hintergrund erhellt jetzt die Vorlesung „Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie“ (1924), Gesamtausgabe Bd. 18, 12–15 und passim. 8 Vgl. Günter Figal, „The Doing of the Thing Itself: Gadamer’s Hermeneutic Ontology of Language“, in: The Cambridge Companion to Gadamer, hrsg. von R. J. Dostal, Cambridge 2002, 102: „The relation of the text and the interpreter is always a ‘conversation’; the logic of which is the logic of ‘question and answer’.“ 9 GW 2, 305. 10 GW 2, 360. Dieselbe Bestimmung findet sich bei Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1971, 8. Verblüffen könnte indes die Übereinstimmung mit dem Antipoden Adorno, der von „Selbstnegation“ und einem Erlöschen des Betrachters im Werk spricht: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1
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a. M. 1970, 396. Darüber vgl. Verf., Kunst des Hörens. Orte und Grenzen philosophischer Spracherfahrung, Köln und Weimar 1999, 206f. 11 Ohne Beziehung auf diese Fragen interpretiert Margherita Isnardi Parente, „Phdr. 274c ss., o il discorso orale come autoelenchos“, in: Understanding the Phaedrus (International Plato Studies 1), hrsg. von L. Rossetti, St. Augustin 1992, 108–121. 12 Platon habe zuerst einem neuen Typus des Kunsterlebnisses und des Kunsturteils Worte verliehen, beobachtete Bernhard Schweitzer, Platon und die bildende Kunst der Griechen, Tübingen 1953, 16 f.: „Künstler und Werk, Werk und Künstler werden zusammen gesehen, der Glanz der Werke auf den Meister übertragen.“ 13 GW 2, 473. Das Nachwort zur 3. Auflage von „Wahrheit und Methode“ (1972) markiert diesen neuen Ansatzpunkt. 14 Dies entspricht Gadamers Intention: vgl. GW 2, 5. 15 GW 1, 100. Der Begriff des Postmodernen war damals noch nicht entdeckt. 16 Als Hinweis auf die prinzipielle Unabschließbarkeit des Interpretierens genommen, indem der Betrachter am ästhetischen Gegenstand konstitutiv beteiligt sei, gerät „der schlichte Sinn des provokativen, hermeneutisch zu Unrecht so umstrittenen Satzes ‘mes vers ont le sens qu’on leur prête’“ vom Regen der Absurdität in die Traufe des Gemeinplatzes: Hans Robert Jauß, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a.M. 1989, 12. 17 GW 1, 115 und öfter. Zum Begriff der Mimesis als „Darstellung“ vgl. neben Kuhn (unten Anm. 44) besonders Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954. 18 Vgl. GW 8, 19; 59; 233; 248; 252, und passim. 19 Vgl. Rep. 601 B. 20 GW 7, 258–269 (von 1983). Der Text zeigt in manchem die Spuren der kurz zurückliegenden Auseinandersetzung mit Derrida, dokumentiert in Text und Interpretation, hrsg. von P. Forget, München 1983. 21 GW 7, 259. Diesen kumulativen Vorgang der Urteilsbildung im Falle des ästhetischen Urteils mit der Kunsterfahrung (oder auch der Werk-Einheit) selbst verwechselt zu sehen, widerfährt nicht selten (vgl. Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, 63); es ist Folge der am „Phaidros“ beobachteten Umdeutung „Homers“ zum Hermeneutiker und Kritiker seiner selbst. 22 GW 7, 261; vgl. Phileb. 39 B. Die Vorstellung des ergon von Mündlichkeit als mnemotechnischer Speicherung, die dahinterstehen dürfte, tut dem Verdienst von Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge, Mass. 1963, keinen Abbruch; vgl. hierzu ferner P. Christopher Smith, „Orality and Writing: Plato’s Phaedrus and the Pharmakon Revisited“, Between Philosophy and Poetry: Writing, Rhythm, History, hrsg. von M. Verdicchio und R. Burch, New York und London 2002, 73–89. 23 Vgl. GW 1, 165. Warum sich das Umlernen nicht auf „Homer“ selbst erstreckt, wird von Gadamer trotz vielfacher Wiederholung dieses Hinweises nirgends erläutert. Von gänzlich unerwarteter Seite hingegen (und darum auch so gut wie unbeachtet), nämlich von Walter Benjamin, gibt es die Erinnerung an eine Gedicht-Rezitation Karl Wolfskehls: „Es war eine der seltenen Gelegenheiten, da man inne wird, wie alle Lyrik sich zuletzt nur mündlich fortpflanzt und bildet“ (Angelus Novus. Schriften, Frankfurt a.M. 1966, 414).
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GW 8, 253 und 247. Vgl. GW 8, 247 und Gadamers „Préface“ in Jean Grondin, L’universalité de l’herméneutique, Paris 1993, VII: „ce dialogue ‘intérieur’ constitue le véritable fondement de l’herméneutique, pour lequel j’avais pu, dans Vérité et méthode, me réclamer surtout d’Augustin“. 26 GW 7, 260. 27 Erich Heller, Wiederkehr der Unschuld, Frankfurt a. M. 1977, 10. Übrigens ist eine solche Empfindung des „Und“ vermutlich stark vom Sprachgestus des Neuen Testaments bestimmt (freundlicher Hinweis von Babette Babich). Zu Gadamers eigener Deutung einer Ode von Hölderlin (GW 8, 253) vgl. Verf., Kunst des Hörens, a.a.O., 39f. 28 Nur scheinbar paradox ist es, wie dieser Boden sich auch und gerade dort herstellt, wo Gadamer Literatur und Schriftlichkeit behutsam gegen die Schriftkritik des „Phaidros“ verteidigt (GW 8, 263ff.). 29 Eine auffällige Nähe entsteht dabei zu Friedrich Schlegel und seinem Ringen mit der Mündlichkeit der „vorhomerischen Poesie“, wie sie ihm in Gestalt der „Prolegomena ad Homerum“ Friedrich August Wolfs entgegentrat. 30 Das dionysische Fest wird durchkreuzt: vgl. Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1963, 89 f. Als Dionysos-Allegorie und Richter erscheint nachher bekanntlich Alkibiades; auch er wird freilich seinerseits dem Sokrates subordiniert. 31 Vgl. Helmut Kuhn, „Die wahre Tragödie: Platon als Nachfolger der Tragiker“ (1941/42), Das Platonbild der Gegenwart, hrsg. von K. Gaiser, Hildesheim 1969, S. 233–323; zu „Drama und Dialektik“ dort 235ff. 32 Symptomatisch macht Gadamer die Fremde aus Mantineia (211 D) zur „delphischen Priesterin“ (GW 7, 266; 268). 33 Vgl. Krüger, a. a. O., S. 144 f.; Thomas A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin 1985, 256–259; Christoph Riedweg, Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Berlin 1987. 34 Zusammenhang mit der Hermeneutik-Urgeschichte des „Phaidros“-Schlusses besteht, da Homer zumal Anführer der Tragiker ist (Theaet. 152 E). 35 Darüber vgl. Eva Keuls, Plato and Greek Painting, Leiden 1978. 36 Auf vielleicht unbeabsichtigte Weise bestätigt sich so der Satz von Schweitzer, Platon und die bildende Kunst der Griechen, 28: „Er ist der erste Klassizist unter den Griechen.“ Vgl. auch Werner Jaeger, Paideia, Bd. 2, Berlin 1944, 261, über das platonische Verfahren der Umbesetzung von Begriffen. 37 GW 7, 14. 38 Vgl. GW 7, 22. 39 Vgl. Heribert Boeder, Topologie der Metaphysik, Freiburg und München 1980, 99 und 59. 40 Michael Theunissen, „Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8,5–6a“, in: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991, 21 und 123, Anm. 84. 41 Ders., Pindar: Menschenlos und Wende der Zeit, München 1998, 13, Anm. 15. 42 Über das Seiende des Parmenides heißt es auch GW 7, 22: „Das hat mit der Dialektik von dem Einen und dem Vielen nichts zu tun, die bei Zenon zum Thema 24
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wird und in der pythagoreischen Tradition und vollends bei Plato den Begriff der Dialektik definiert.“ Vgl. dazu Hermann Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes, Bonn 1988, 221–236. 43 Vgl. Walter Burkert, „Das Proömium des Parmenides und die Katabasis des Pythagoras“, Phronesis 14, 1969, 1–30; Heribert Boeder, Seditions: Heidegger and the Limits of Modernity, Albany 1997, 98, der mit Verweis auf Platon und Vergil als Parmenides’ Bezugspunkt ein Gedicht des Musaios vermutet; zuletzt Peter Kingsley, Die Traumfahrt des Parmenides, Frankfurt a. M. 2000. Gegen die Katabasis votiert mit eigenen Gründen Schmitz, a.a.O., 137ff. 44 Vgl. darüber Fritz Kaufmann, Das Reich des Schönen. Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, Stuttgart 1960, 126–179; Helmut Kuhn, Schriften zur Ästhetik, München 1966, besonders 292–335, worauf sich Gadamers Gedanken zur Lyrik im Wesentlichen stützen. Zum Eupalinos-Dialog: Hans Blumenberg, „Sokrates und das objet ambigu“, in: Epimeleia: Die Sorge der Philosophie um den Menschen, Festschrift Helmut Kuhn, hrsg. von F. Wiedmann, München 1964, 285–323. 45 Übersetzung von Ernst Robert Curtius. Die Applikation, verstanden als Zentrum der hermeneutischen Aufgabe, am poetischen „Gebilde“ zu bewähren, ist sicherlich ein Hauptverdienst der Hermeneutik, oder sollte es sein. Was Valéry betrifft, so sind die Gegenbeispiele reich gesät: vgl. etwa Jacques Derrida, „Qual Quelle: die Quellen Valérys“, Randgänge der Philosophie, Wien 1988, 259–289. 46 Übersetzung von Oskar Werner. 47 Plutarch, Solon, 8. 48 Vgl. Robert Böhme, Die verkannte Muse. Dichtersprache und geistige Tradition des Parmenides, Bern 1986. 49 Verstärkt würde dieser Zusammenhang noch bei Annahme von Gadamers Deutung vor allem des Fragments 7 DK auf eine ständige Bedrohung der Sterblichen, „vom Wege der Wahrheit abzuweichen“ (GW 7, 18). 50 Plutarch, De Alexandri magni fortuna aut virtute, 11 (Mor. 332 F).
Šteˇpán Špinka „Plato im Dialog“ Hans-Georg Gadamer als Interpret der platonischen Dialektik „Die Frage, die sich uns durch die Konfrontation des modernen Denkens mit diesem griechischen Erbe stellt, ist daher, wie weit das antike Erbe eine Wahrheit anbietet, die sich uns unter besonderen Erkenntnisbedingungen der Neuzeit verdeckt hält.“1
Für Gadamer war der „Zusammenhang zwischen hermeneutischer Praxis und Theorie“ die „Seele“ der philosophischen Hermeneutik.2 Aus dieser Perspektive muss man auch seine Interpretationen zur antiken Philosophie und ihre Rolle in seinem Werk verstehen. Diese Interpretationen sind einerseits von den theoretischen Grundlagen seiner Hermeneutik stark beeinflusst, anderseits stellen sie die eigentliche hermeneutische Praxis Gadamers dar, aus der sich seine Theorie der Hermeneutik erhebt und die als Prüfstein dieser Theorie dient. Der vorliegende Beitrag versucht die Grundzüge der Platon-Interpretationen Gadamers zu entwerfen und zugleich zu untersuchen, wie die Verbindung zwischen seiner hermeneutischen Theorie und Praxis in concreto aussieht. Als Leitlinie wird uns der Titel des siebten Bandes seiner Gesammelten Werke „Plato im Dialog“ dienen, der in seiner Vieldeutigkeit diese Verbindung paradigmatisch zum Ausdruck bringt.3
I. Sokratischer Dialog „So hat auch Plato schon den ‘Logoi’ Folge geleistet, obwohl er um ihre unaufhebbare Schwäche wußte.“4
Die platonische Philosophie ist nach Gadamer durch zwei Hauptzüge charakterisiert: durch ihre Wendung zur Sprache, zu den logoi,5 und durch die Einsicht, dass „die Sprache ihrem Wesen nach die Sprache des Gesprächs ist“6. Die Sprache ist nach Gadamer der universale Horizont unseres Lebens und Verstehens, und das Gespräch die Sprachform, in der sich zeigt, wie wesentlich in diesem Horizont Endlichkeit und Offenheit zusammenhängen. Denn „die Sprache ist die Spur der Endlichkeit“,7 deren „Geheimnis ihre Offenheit ist“8. Und der Dialog ist die ursprüngliche Form des end-
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lichen menschlichen Daseins, in der sich dieses Geheimnis der „endlichen Offenheit“ verwirklicht. „Im-Gespräch-sein heißt Über-sich-hinaus-sein.“9 Diese Verquickung von Endlichkeit und Offenheit macht jede Sprache wesenhaft ambivalent. Denn auf der einen Seite haben wir den Zugang zu dem, was ist, nur durch die Sprache. Sie ist das „Sein, das verstanden werden kann“10. Auf der anderen Seite besitzt aber die Sprache eine innere Verkehrungstendenz: Sie verselbständigt sich gegen das, was sich in ihr zeigt, und tritt an dessen Stelle. Die epochale Bedeutung der platonischen Philosophie besteht nach Gadamer gerade in der Einsicht in diese Ambivalenz der Sprache und in dem produktiven Umgang mit ihr. Das gilt nicht nur für die aporetischen platonischen Frühdialoge, wo die Dialogform ganz im Dienst des sokratischen „Wissens des Nichtwissens“ steht. Auch die so genannten Mittel- und Spätdialoge Platons und ihre Dialektik bleiben unserem Interpreten nach wesentlich an den sokratischen Dialog gebunden und verfolgen dasselbe Ziel. Daher sieht Gadamer es als seine Aufgabe an, gegen viele PlatonInterpretationen „die innere Einheit der platonischen Dialektik und die Kontinuität ihrer Entfaltung zu zeigen“11. Denn der Sinn der neuen Dimensionen, die sich im Verlaufe dieser Entfaltung auf dem ursprünglichen sokratischen Kern auflagern, bleibt nach ihm derselbe: die Endlichkeit der Sprache zu reflektieren und sich auf diese Weise der gemeinsamen Wahrheit zu öffnen. Das Hauptmotiv dieser Entfaltung der platonischen Dialektik ist nach Gadamer das Durchdenken der gegenseitigen Beziehung zwischen Einheit und Vielheit. Diese Beziehung hat für Platon von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt, vor allem in dem „sokratischen“ Problem der vielen Ausprägungen der einen areté, die in ihrer Gegenseitigkeit den Menschen auf das eine gemeinsame Gute richten. Die entwickelte platonische Dialektik verlässt diese sokratische „praktische“ Richtung nicht, dank systematischer Reflexion des Zusammenhangs zwischen Einheit und Vielheit kann sie aber diese Bezogenheit des menschlichen Lebens auf das Gute tiefer begreifen. Laut Gadamer sieht Platon das echte Problem der Einheit und Vielheit nicht in der Beziehung zwischen vielen sinnlichen Sachen und einer Idee, sondern in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den Ideen. Denn jede Idee ist identisch und einheitlich mit sich selbst nur dank ihrer Beziehungen zu vielen anderen Ideen. Und alle Ideen sind wieder vereinigt durch das Band der Schönheit und durch ihren Bezug zur Idee des Guten. Der Schritt von der sinnlichen Sache zur Idee ist nach Gadamer nur eine Voraussetzung der Dialektik, die schon in der Wendung der Philosophie zur Sprache enthalten ist. Die eigentliche Dialektik verwirklicht sich dann auf dem durch diese Wendung erreichten Boden und erforscht die mannigfal-
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tigen Beziehungen zwischen den Ideen. Die platonische anamnesis endet daher nicht in einer Erinnerung an die einzelne Idee. Sie findet ihre volle Verwirklichung im Abzielen der dialektischen Bewegung unserer Sprache auf die Idee des Guten, die aber „nicht so sehr der ‘Anblick’ des Guten als der Ausblick auf das Gute hin“ ist.12 Diese Reflexion des Zusammenhangs zwischen Einheit und Vielheit, die die platonische Dialektik ermöglicht, hilft uns, das Wesen des Dialogs tiefer zu verstehen. Vor allem können wir dank dieser Reflexion begreifen, dass das wirklich Gemeinsame im Gespräch nicht ein erreichbarer fester Boden ist, auf dem wir zusammen stehen können, sondern ein gemeinsamer Hinblick auf das Gute und auf die Wahrheit, der wir alle zugehören. Jede unserer Reden wird von diesem Hinblick geleitet; jede unserer Reden bleibt aber gleichzeitig hinter dem, zu dem wir aufblicken, zurück.13 Die Einheit des Dialoges ist eine offene Einheit. Auch die späte platonische Dialektik der Vereinigungen und Teilungen ist also keine spezielle „Methode“, sondern eine „Disziplin des Fragens und Forschens“14, mit deren Hilfe wir diesen Hinblick auf das wahrhaft Gemeinsame zu bewahren und die immerwährende Gefahr der sophistischen Rechthaberei und des Dogmatismus zu überwinden suchen. Das Endziel dieser Dialektik liegt daher nicht in der Ausarbeitung von festen Definitionen. Das Definitionsverfahren soll uns vor allem helfen, die Beziehungen zwischen den Ideen tiefer zu verstehen. Die Dialektik, mit deren Hilfe wir die Definitionen suchen, lehrt uns am Ende, jeden Begriff wieder in die lebendige Sprache zu „verflüssigen“ und sich so in ihrem unüberschaubaren Reichtum besser auszukennen. Auch diese späte platonische formalisierte Dialektik ist also eine Form des „sokratischen Wissens des Nichtwissens“, die die menschliche Praxis leitet. Sie strebt nicht danach, ein rigides System der über- und untergeordneten Gattungen und Arten auszuarbeiten, sondern nach gerechter Anwendung der Sprache und auf solche Weise nach dem Besserwerden der Seele. Die Dialektik ist diejenige Sprache, die im Stande ist, ihre eigene Verwiesenheit und Endlichkeit einzusehen und sich selbst nach dieser Einsicht zu gestalten. In dem von der Dialektik geleiteten Dialog verwirklicht sich die „dorische Harmonie“ von logos und ergon,15 eine „wunderbare Übereinstimmung zwischen Rede und Sein, Begreifen und Tun“.16 Auch die „ungeschriebene Lehre Platons“ ist für Gadamer vor allem eine „ungeschriebene Dialektik“17, deren Gegenstand (wie schon bei der „geschriebenen Dialektik“) die Gegenseitigkeit von Einheit und Vielheit, „die das Endliche aller menschlichen Rede und Einsicht bestimmt“,18 ist. Die „Lehre“ von den Prinzipien „Eins“ und „unbestimmter Zweiheit“ ist eine „Kurzformel aller Sprachlichkeit“.19 Denn die Sprache ist geeinte
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Vielheit, die aus einer fruchtbaren Verkoppelung ihrer Ein- und Mehrdeutigkeit lebt und dank dieser Verkoppelung über sich selbst hinausweist. Aus dieser Perspektive kann man auch verstehen, warum Platon die Idee des Guten mit dem Einen als Prinzip der ungeschriebenen Lehren verbindet. Denn „die Idee des Guten erscheint, wie die Bedingung alles Ordnungsbestandes, als die Einheit eines Einheitlichen, das heißt aber: als Einheit von Vielen“20. Dass auch „die ungeschriebene Dialektik“ nach Gadamer in erster Linie eine Reflexion über die „Grenzen der Sprache“21 und all unserer Erkenntnis ist, sieht man am besten an seiner Interpretation des „philosophischen Exkurses“ des siebten Briefes.22 Diesem Exkurs nach sind nicht nur alle Mittel unserer Erkenntnis (Name, Sprache und Bild), sondern auch die Erkenntnis selbst „nur“ notwendige Vermittlungen, die uns den Zutritt zu der Sache selbst eröffnen können, die sich aber zugleich immer verselbständigen und vor das, was sich in ihnen zeigen soll, drängen.23 In dieser Verselbständigung kommt aber paradoxerweise das Wesen unserer Erkenntnis ans Licht: Alle diese „Vermittlungen“ sind in die „Dialektik des Bildes“ verstrickt, und ihr Wesen ist, das „Unwesen des Dargestellten“ zu sein.24 Die Dialektik macht dieses Wesen offenkundig, erkennt in ihm das Schicksal menschlicher Endlichkeit und stellt dieser Verselbständigungstendenz die Offenheit der Dialektik des Einen in den Vielen entgegen. Denn jede konkrete Form dieser Vermittlungen verweist dank ihrer Relativität auf andere Formen, und unsere Aufgabe ist es, im „Verweilen bei all diesen Vier“, das die Gestalt der Bewegung der Seele durch die dialektische Struktur von Einheit und Vielheit hat,25 die Sache selbst zu vergegenwärtigen. Die dialektische Kunst besteht im „unermüdlichen Hin und Her im Durchlaufen der vier Medien der Darstellung“, im „beständigen Übergehen von einem zum anderen, das zugleich ein beständiges Verbleiben in der Richtung auf das Gemeinte und in seiner Nähe sein soll, ohne dass es durch zwingende Schlüsse erreichbar ist“.26 Auch die „ungeschriebene Lehre“ bleibt also wie die „geschriebene Dialektik“ eine Reflexion der Endlichkeit und Offenheit aller menschlichen Einsichten, die den ursprünglichen Boden des Gesprächs, wenn sie ihren Sinn nicht verlieren soll, nicht verlassen können. Je mehr der „Inhalt“ dieser Dialektik auf die abstrakten „mathematischen“ Prinzipien reduziert wird, desto mehr muss diese Dialektik mit dem lebendigen Dialog verbunden bleiben und kann nicht dem geschriebenen Wort überlassen werden. Denn ohne die lebendige Bemühung um Verständigung – und d. h. ohne gemeinsame Offenheit für die „Sache selbst“ – drohen dieser „Prinzipienlehre“ Missverständnis und Missbrauch. Die ungeschriebene Dialektik, dieser scheinbare „dürre Schematismus“27, ist also vor allem die „Lehre“ über Endlichkeit und Fragmentalität jeder menschlichen Lehre und als
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solche eine Dimension der lebendigen dialektischen Bemühung, die in ihrer Unendlichkeit die Wahrheit des Seienden aufleuchten lässt.28
II. Aristotelische phronesis „Im Denken des Aristoteles ist die platonische Intention in die vorsichtig tastende Sprache philosophischer Begriffe überführt.“29
Mit dem Titel „Plato im Dialog“ bezeichnet aber Gadamer nicht nur die wesentliche Bindung der platonischen Philosophie an den sokratischen Dialog, sondern auch das Prinzip seiner Interpretationsmethode: Er nähert sich der ursprünglichen Intention der platonischen Philosophie, indem er dem Dialog zwischen Platon und seinen Vorgängern und Nachfolgern folgt. Die Titel der drei Haupteile des siebten Bandes der „Gesammelten Werke“ veranschaulichen diese Interpretationsmethode Gadamers sehr deutlich: I. Auf dem Wege zu Plato; II. Sokratischer Dialog und Platonische Dialektik; III. Im Zeichen Platos. Die oben genannte „innere Einheit und die Kontinuität der Entfaltung“ sucht also Gadamer nicht nur im platonischen Werk, sondern auch in der ganzen griechischen Philosophie. Der Brennpunkt dieser Geschichte bleibt aber Platon und die Triade Sokrates–Platon–Aristoteles, denn in ihr sind die Hauptmomente der griechischen Philosophiegeschichte wie in einem Keim enthalten. Die eigentliche philosophische Aufgabe, vor die uns diese drei griechischen Denker stellen, ist laut Gadamer die „Gegenwart der sokratischen Frage nach dem Guten in aristotelischer Philosophie zu sehen“ und aus dieser Perspektive auch die platonische Dialektik zu verstehen.30 Die aristotelische Kritik der platonischen Idee des Guten, die betont, dass das Ziel des menschlichen Lebens keine allgemeine Idee des Guten, sondern das dem Menschen zugehörige Gute ist, stellt nach Gadamer in Wirklichkeit eine durch die platonische Dialektik ermöglichte Fortsetzung dieser sokratischen Frage dar.31 Platon und Aristoteles verwirklichen also nach Gadamer eine gemeinsame „Idee der praktischen Philosophie“32. Die Unterschiede zwischen ihnen sind auch dadurch gegeben, dass ihre Philosophie uns in zwei verschiedenen Formen überliefert ist: in der „mimetischen Mitteilungsform“ der platonischen Dialoge einerseits und in der monologischen „protokollarischen Mitteilungsform der aristotelischen Papiere“ anderseits. Die aristotelische Platon-Kritik ist also nicht Ausdruck einer grundsätzlich verschiedenen Position, sondern ein Versuch, dieselbe Idee mit anderen „Werkgestalten des Denkens“ zu begreifen.33
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Laut Gadamers Interpretation setzt Aristoteles die sokratisch-platonische Bemühung fort, die „dorische Harmonie von logos und ergon“ in der Philosophie zu verwirklichen, er benutzt dabei lediglich einen verfeinerten Begriffsapparat, der in seiner Kunst der Unterscheidungen wurzelt. Obwohl diese aristotelische Kunst neue Akzente bringt, knüpft sie an die platonische Dialektik und ihre diairetische Unterscheidungskunst sehr eng an34 und wird von demselben Motiv geleitet: über die eigene Sprache Rechenschaft abzulegen und die Offenheit für die gemeinsame Wahrheit gegen die scheinbare Weisheit zu verteidigen. Gerade an der aristotelischen Kritik der Idee des Guten kann man laut Gadamer nicht die Unterschiede, sondern die enge Verbindung zwischen Platon und Aristoteles vorbildlich sehen35: Denn es war die platonische Philosophie, die gezeigt hat, dass alles Reden „‘das Gute selbst’ niemals unmittelbar zum Gegenstand machen kann“, sondern „nur in Analogierede anvisiert“,36 und so der aristotelischen Platon-Kritik den Weg bereitet hat. Die Idee des Guten und die „kaum greifbare Lehre von der Eins und Zwei“ deuten auf „die Vermittlung von ‘Sein’ und ‘Werden’“ hin, für die Aristoteles im Begriff „Entelecheia“ den Ausdruck gefunden hat.37 Wie aber die platonische Dialektik Gefahr läuft, dass man sie gegen ihren ursprünglichen Sinn nur als Ausarbeitung eines dogmatischen Systems von statischen Wesenheiten versteht oder als eine „Zweiweltenlehre“ interpretiert, so kann auch die aristotelische Begriffsunterscheidung einer ähnlichen Gefahr nicht entgehen: Diese Begriffsunterscheidung ist eine ausgeprägte Form einer Tendenz, die jeder „sachlichen“ Sprache eigen ist. Jede solche Sprache zielt (um ihre Sache besser zu verstehen und zu zeigen) auf eine Präzisierung des Sinnes ihrer Wörter hin. Doch diese Präzisierung ist grundsätzlich ambivalent. Denn in ihr droht die Gefahr, dass wir ihre ursprünglichen Sinnzusammenhänge vergessen und den präzisen Begriff der „Welt“ der lebendigen Sprachen entreißen. Diese Ambivalenz jeder Präzisierung unserer Sprache und jeder „Begriffsgeschichte“ gilt auch für den Begriff, mit dem Aristoteles den eigentlichen Kern der Linie zwischen ihm und Sokrates erfasst: für den Begriff phronesis. Durch ihn hat Aristoteles den Unterschied zwischen dem praktischen, dem theoretischen und dem technischen Wissen zum Ausdruck gebracht. Denn das praktische Wissen ist keine „Anwendung“ der Theorie, sondern eine eigenartige Form des Wissens, die sich aus der Praxis selbst erhebt und deren Aufgabe darin besteht, die Orientierung des menschlichen Lebens auf das Gute hin zu gewährleisten.38 Der Unterschied zwischen praktischem und theoretischem Wissen ist zwar wichtig, das praktische Wissen kann aber dadurch zu eng mit dem technischen Wissen in Verbindung gebracht werden. Daher liegt nach Gadamer die aristotelische Hauptintention in der klaren Abhebung des prak-
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tischen Wissens von seinem „Doppelgänger“, von dem technischen Wissen.39 Der Begriff der Praxis formiert sich bei Aristoteles „nicht gegen die ‘Theoria’, sondern gegen den ‘Kunstgeist’ des Herstellens“.40 Die Praxis ist die ursprüngliche Gestalt der menschlichen „Situiertheit in natürlicher und gesellschaftlicher Umwelt“41 – und phronesis ist die reflexive Sorge darum, dass wir dieser Situiertheit gerecht werden. Auch in dieser Unterscheidung hat aber Aristoteles nach Gadamer eigentlich nur das herausgearbeitet, was mit anderen Mitteln schon Platon in seinen Dialogen gezeigt hat. Platon nennt zwar die Dialektik techne, und oft benutzt er Beispiele, in denen die Dialektik mit „technischen“ Handwerken verglichen wird. Sein Hauptziel ist es aber, die grundsätzliche Verschiedenheit der dialektischen techne von allen anderen technai hervorzuheben. Denn auch mit Hilfe der platonischen Dialektik erstreben wir nicht dies oder jenes, sondern am Ende nur das eine: „mehr dialektisch zu werden“. Und d. h. eine bessere „Ausbildung des Blicks für die Sache selbst“42 zu erreichen. Die dialektische techne bemüht sich nicht um die Verwirklichung der von Menschen festgelegten Ziele, sie richtet umgekehrt unsere Handlungen auf das unhypothetische Prinzip hin,43 auf die Idee des Guten, und macht den Menschen, der sie „ausübt“, besser. Wozu braucht man aber dann die Dialektik Platons, wenn Aristoteles diese zentrale Idee der sokratisch-platonischen Philosophie so prägnant zum Ausdruck gebracht hat und „die platonische Intention realisiert“?44 Gadamer drückt dies nicht immer ganz deutlich aus, ist aber allem Anschein nach der Meinung, dass die platonische Dialektik die oben genannte Ambivalenz jeder Begriffsunterscheidung überwinden kann. Denn die aristotelische Unterscheidung des praktischen Wissens kann die Tatsache verdecken, dass das praktische Wissen nicht ein abgesonderter „Teil“ des Wissens ist, sondern eine Dimension, die das ganze menschliche Wissen durchdringt. Als ob sich hier die Figur der frühen platonischen Dialoge wiederholt: Wie die arete eine und doch zugleich vieles ist, so ist es auch in gewissem Sinne mit dem Wissen. Auch hier gilt dieselbe Dialektik der Einheit und Vielheit, des Teils und des Ganzen. Darum ist es auch nach Gadamer notwendig, die aristotelische Begriffsunterscheidung zu behalten, sie jedoch zugleich mit Hilfe der platonischen Dialektik zurück in ihren ursprünglichen Zusammenhang des sokratischen Dialogs einzusetzen. Denn nur dann wird deutlich, dass das ganze Wissen durch gemeinsame Ausrichtung unseres Lebens auf das Gute hin vereinigt ist. Die Unterscheidung zwischen praktischem und technischem Wissen dient also nicht ihrer Abtrennung, sondern der Eingliederung der techne in die praxis, die den Gesamthorizont unseres Lebens darstellt. Platonische Dialoge muss man daher nach Gadamer als Korrektiv der aristotelischen Begriffsunterscheidung lesen. In ihnen ist unter Beihilfe
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von poetischen und dramaturgischen Mitteln die ursprüngliche mannigfaltige Einheit unserer Sprache und ihrer Begriffe, welche die verschiedenen Dimensionen unseres Lebens und Wissens zum Ausdruck bringen, beibehalten. Erst wenn wir die aristotelische phronesis mit Hilfe der platonischen Dialektik zurück in ihren ursprünglichen Kontext eingliedern, können wir einsehen, dass in ihr Aristoteles nicht nur den Begriff für eine spezifische Art menschlichen Wissens, sondern auch den Ausdruck für die Perspektive gefunden hat, aus der wir die ursprüngliche Einheit aller Dimensionen des menschlichen Lebens (theoria, techne und praxis) begreifen können. Diese Beziehung zwischen den aristotelischen Begriffen, der platonischen Dialektik und dem sokratischen Dialog gilt für Gadamer als paradigmatisches Beispiel der allgemeinen Charakteristik der menschlichen Sprache. Alle menschliche Sprache lebt in der stetigen Bewegung zwischen der Präzisierung der Wortbedeutungen und der Rückkehr zu ihrem ursprünglichen Reichtum und ihrer Vieldeutigkeit, in diesem „fruchtbaren Zwischen von Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit“45. Diese „Dialektik“ von Bestimmtheit und Offenheit ist aller menschlichen Sprache eigen, am deutlichsten zeigt sie sich jedoch in der Sprache der Philosophie. Philosophie und ihre „Begriffsgeschichte“ verschärft die Spannung zwischen Einund Vieldeutigkeit, zwischen Erscheinung und Verborgenheit, die jede Sprache charakterisiert. Aber gerade dank dieser Verschärfung kann die Philosophie diese Spannung tiefer begreifen – allerdings nur unter der Grundbedingung, dass sie im Stande ist, ihre eigene künstliche Sprache zurück in den Kontext der lebendigen Sprache des Dialoges einzubinden und diese Spannung in sich selbst immer neu auszutragen.
III. Wirkungsgeschichte „Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit mitdenken.“46
Die Wendung „Plato im Dialog“ bedeutet aber für Gadamer nicht nur, dass die ganze platonische Philosophie an den sokratischen Dialog gebunden bleibt und dass wir Platon am besten verstehen, wenn wir seinen Dialog mit seinen Vorgängern und Nachfolgern verfolgen. Denn Gadamer will seinen eigenen Dialog mit Platon führen. Wie jeder Partner im ehrlichen Gespräch soll ihm Platon helfen, die Partikularität der eigenen Perspektive zu reflektieren und sich der Wahrheit neu zu öffnen. Aber Platon ist kein beliebiger Gesprächspartner: Er ist für Gadamer die Schlüsselfigur der ganzen europäischen Philosophiegeschichte, die in der Entwicklung
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zwischen Sokrates, Platon und Aristoteles vorgezeichnet ist und an deren Ende auch Gadamer selbst steht. Gadamer betrachtet sich selbst also nicht nur als Gesprächpartner Platons, sondern auch als später Erbe des Dialogs zwischen Sokrates, Platon und Aristoteles. Er möchte in seinem „Dialog mit Plato“ das Fundament für die Interpretation der europäischen Philosophiegeschichte finden und in dieser Weise auch die geschichtlichen Wurzeln seiner eigenen Philosophie entziffern. Die Philosophiegeschichte lebt nach Gadamer aus der geschichtlichen „Dialektik“ der Sprache, die wir musterhaft an der Triade Sokrates–Platon–Aristoteles wahrnehmen können. Wie wir schon gesehen haben, ist jede Sprache nach Gadamer ambivalent: Sie hat die Tendenz zur Sachentfremdung, und zugleich birgt sie in sich den Zugang zur gemeinsamen Wahrheit. Der sokratische Dialog, die platonische Dialektik und die aristotelische Begriffsunterscheidung sind gerade in ihrem Zusammenhang ein vorbildlicher Versuch, diese Ambivalenz der Sprache zu reflektieren und produktiv weiterzuführen. Denn die Sprache ist immer dazu „verurteilt“, die präzise Formulierung für dasjenige zu suchen, was sich jeder Präzisierung widersetzt und was sich jeder Sprache entzieht, wofür sich aber die Sprache gerade dank kritischer Reflexion dieser Präzisierung öffnet. Die Bewegung der platonischen Dialektik ist also für Gadamer ein Teil einer breiteren wechselseitigen Bewegung zwischen Dialog, Dialektik und Begriffsunterscheidung. Diese Bewegung „von dem sokratischen Dialog über platonische Dialektik zur aristotelischen Begrifflichkeit – und zurück“ versucht Gadamer in seiner „Dialektik“ der Philosophiegeschichte zu verfolgen und in ihr auch den Schlüssel zu seinem eigenen Platz in der Geschichte der europäischen Philosophie zu finden. Daher ist es auch klar, warum im Zentrum seiner Interpretationen zur griechischen Philosophie gerade Platon steht. Denn er ist die Achse, um die sich diese ganze Bewegung dreht. Aber dieser Platon ist kein Platoniker, wie ihn überwiegend die philosophische Tradition interpretiert. Er ist vielmehr ein „spekulativer Sokratiker“ und der „Anreger der aristotelischen praktischen Philosophie“, dessen wahre Intention man von den Einseitigkeiten späterer Interpretationen (aber nicht ohne Mithilfe dieser Interpretationen) befreien muss. Diese Einpflanzung der platonischen Dialektik zwischen der sokratischen Frage nach dem Guten und der aristotelischen Begriffsanalyse (und auf dieser Weise auch im Zentrum der ganzen Philosophiegeschichte) bleibt nicht ohne Risiko. Denn in ihr droht die Gefahr, dass Platon nur als ein Übergangsglied zwischen Sokrates und Aristoteles ausgelegt wird. Es ist also überhaupt kein Wunder, dass die Platon-Interpretation Gadamers
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manchmal als „sokratische Destruktion der griechischen Philosophie“47 gedeutet oder für zu starke Abhängigkeit von den aristotelischen (oder neuzeitlichen) Modellen kritisiert wird.48 Diese Gefahr wird noch größer, wenn wir die Triade Sokrates–Platon– Aristoteles überschreiten. Denn nach Gadamer ist Platon nicht nur das Verknüpfungsglied zwischen der sokratischen Frage und dem aristotelischen Begriff. In der platonischen Verquickung des sokratischen Dialoges und der eleatischen Dialektik sind unserem Interpreten nach zwei Grundfragen der ganzen griechischen und europäischen Philosophie in sich eingekeilt: die sokratische Frage nach dem Guten und die Frage Parmenides’ nach dem Sein. Platon übernimmt aus dem Erbe Parmenides’ nicht nur die Grundlagen seiner Dialektik, sondern auch die Frage nach dem Sein und die Idee von der Verbindung zwischen Sprache und Sein. Die platonische Dialektik ist also nicht nur eine Vergegenwärtigung des Guten; sie ist auch ein Versuch, das Sein zu denken. Schon Platon hat nach Gadamer begriffen, dass die Sprache der „Horizont einer hermeneutischen Ontologie“49 ist. Daher muss die Rekonstruktion der „Wirkungsgeschichte Platons“ noch tiefer als zum sokratischen Dialog hinabsteigen: zu Parmenides und zur Idee vom ursprünglichen Zusammenhang zwischen Sein und Sprache. Dies ermöglicht jedoch Gadamer, dem Schüler Heideggers, den Bogen, in dessen Zentrum Platon steht, noch leichter über die ganze Philosophiegeschichte zu spannen und diese Geschichte aus ontologischer Perspektive zu interpretieren. Wenn wir aber dann z. B. am Ende der Studie „Parmenides oder das Diesseits des Seins“ eine Skizze dieses Bogens beobachten,50 müssen wir uns fragen, ob in diesem großartigen Entwurf, der die Philosophiegeschichte von Thales bis Heidegger umfasst, das Antlitz Platons noch genug zu unterscheiden ist, um mit ihm einen Dialog führen zu können. Mündet also der Dialog Gadamers mit Platon und anderen Philosophen in eine Dialektik der Geschichte, die mit wirklichem Gespräch nur wenig gemeinsam hat? Ist in diesem Sinn Gadamer eher ein spekulativer Denker der Wirkungsgeschichte als ein Nachfolger des sokratischen Dialogs? Oder ist für ihn diese geschichtliche Dialektik nur ein erster Schritt auf dem Weg zurück zu Platon und zu einem ehrlichen Gespräch mit ihm? Ist es aber Gadamer gelungen, die eigene Geschichtsdialektik zu überwinden und sich dem Gespräch mit Platon zu öffnen? Und ist überhaupt der Dialog mit Platon das wirkliche Ziel Gadamers? Ist er nicht eher ein später Erbe Hegels als Platons?
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IV. Hegel „Die Dialektik, dieses Widerfahrnis des Logos, war für die Griechen nicht eine vom Denken vollführte Bewegung, sondern die von ihm erfahrbare Bewegung der Sache selbst.“51
Hegels Einfluss auf Gadamer ist evident und von Gadamer selbst reflektiert geworden. Als sich z. B. Gadamer am Ende seiner relativ späten Studie „Die Sokratische Frage und Aristoteles“ darüber beklagt, dass es immer noch zu leisten bleibt, „mit Plato und Aristoteles ein produktives Gespräch zu führen“, fügt er sofort hinzu, dass „das Niveau, auf dem Hegel dieses Gespräch angesetzt hatte“, ihm „bis heute nicht wieder erreicht“ zu sein scheint.52 Es sind vor allem drei Motive, durch die sich der Hermeneutiker Gadamer dem Dialektiker Hegel nähert: Erstens sieht Gadamer in der Philosophie Hegels den ersten erfolgreichen Versuch, die Philosophie aus den starren Schemata der traditionellen Metaphysik zu befreien und einen neuen Zugang zur griechischen Philosophie zu finden. Mit Hegel verbindet Gadamer zweitens auch die „spekulative“ Auffassung der Sprache und der Dialektik.53 Denn die Sprache ist nicht unser Instrument, sondern der ursprüngliche Modus unserer Offenheit für die Welt. Die Sprache ist „spekulativ“, weil sie „das Tun der Sache selbst“ ist, an der wir teilnehmen können.54 Und die Dialektik ist „nicht eine vom Denken vollführte Bewegung, sondern die von ihm erfahrbare Bewegung der Sache selbst“55. Drittes gemeinsames Motiv ist die Idee der Begriffsgeschichte und die allgemeine Betonung der Geschichtlichkeit. Die Geschichte müssen wir vor allem als hermeneutische Bewegung des Denkens und der Sprache begreifen, die zugleich aus der Auslegung unserer Erfahrung und aus dem Streben nach Überwindung der Einseitigkeit jeder dieser Auslegungen entspringt. Die Dialektik der Geschichte und die Dialektik der Sprache sind also nur zwei Seiten desselben Geschehens, in dem die Dialektik der Sprache als Paradigma für den Einblick in die Dialektik der Geschichte dienen kann. Die Vorbildlichkeit Hegels hat aber für Gadamer auch wichtige Grenzen: Erstens hat Gadamer im Unterschied zu Hegel die radikale Endlichkeit unseres Daseins und unserer Sprache stark betont. Seine „hermeneutische Dialektik“ ist die „Hermeneutik der Faktizität und der offenen Endlichkeit“. Dem entspricht seine Konzentration auf die lebendige Sprache des
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Dialogs. Die Sprache ist nach Gadamer „die Spur der Endlichkeit“.56 Und die Dialektik kann uns lehren, dass diese Endlichkeit nicht ein Fluch, sondern unsere Chance ist. Denn die zweite Seite unserer Endlichkeit ist die Offenheit für die Wahrheit. Daher ist die Dialektik nicht nur die Kunst, die Begriffe aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen „herauszuschälen“, sondern vor allem sie wieder zu „verflüssigen“. Der Begriff lebt nur in dem „hermeneutischen Universum der Sprache“, und die spekulative Dimension der Sprache ist anwesend nur in einem Überschreiten jedes endlichen sprachlichen Ausdruckes – zum anderen endlichen Ausdruck. Gadamer betont zweitens auch mehr als Hegel die Notwendigkeit der Offenheit für die Andersheit des Anderen. Für Gadamer birgt die Begegnung mit dem Anderen nicht nur die Möglichkeit einer Begegnung mit sich selbst, sondern auch die Möglichkeit, sich für das Gemeinsame zu öffnen. Keine Philosophie kann also den Höhepunkt der Philosophiegeschichte darstellen oder das letzte Wort haben. Jede Philosophie ist vielmehr ein Versuch, an das alte Gespräch zwischen den anderen Denkern neu anzuknüpfen, und die wahre „Methode“ ist nicht die reine Dialektik, sondern das Gespräch. Drittens bemüht sich Gadamer also um „eine hermeneutische Rückorientierung der Dialektik, die vom deutschen Idealismus als spekulative Methode entwickelt worden war, auf die Kunst des lebendigen Dialogs, in der sich die sokratisch-platonische Denkbewegung vollzogen hatte“57. Die platonische Dialektik stellt für ihn „ein Korrektiv gegenüber dem Methodenideal der neuzeitlichen Dialektik dar, die sich im Idealismus des Absoluten vollendete“58. V. Heidegger „… die Abdeckung der Verdeckungen …“59
An die Stelle der spekulativen Geistesgeschichte muss also der Abstieg zu den ursprünglichen Formen der Sprache treten. Der Lehrer dieses Abstiegs ist für Gadamer nicht Hegel, sondern Heidegger, und die leitende Idee die heideggerische Idee der „Destruktion der Philosophiegeschichte“. Aber auch diese Idee übernimmt Gadamer nicht ohne Einschränkung. Die Hermeneutik Gadamers soll zwar, wie die Destruktion Heideggers, „die Abdeckung der Verdeckungen“60 sein; sie will aber am Ende nicht diese Destruktion einfach weiterführen, sondern zwischen der radikalen Fragestellung Heideggers und dem Reichtum der Sprache, den die europäische Philosophie im Verlauf ihrer Geschichte erarbeitet hat, vermitteln. Die „Destruktion“ soll der begrifflichen Sprache vor allem dazu verhel-
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fen, dass sie wieder spricht. Gadamer versucht also an die heideggerische Idee der „produktiven Destruktion der Metaphysik“ anzuknüpfen, vor allem aber will er das Gespräch zwischen Heidegger und der älteren europäischen Philosophietradition ermöglichen – und auf diese Weise auch seinen eigenen Dialog mit Heidegger führen. Der Hauptpunkt, in dem sich der Philologe Gadamer von seinem großen Lehrer Heidegger trennt und an dem sich zugleich zeigt, dass er am Ende keine spekulative Geschichte konstruieren möchte, sondern ein Gespräch mit anderen Denkern führen will, ist seine Auffassung der Philosophiegeschichte und der Rolle Platons in ihr. Heidegger hilft Gadamer, sich von einer hegelianischen Teleologie der Philosophiegeschichte und von einer Vorstellung des absoluten Denkens zu lösen. Aber die Konzeption Heideggers, die in der europäischen Philosophiegeschichte vor allem die Geschichte der Seinsvergessenheit sieht, birgt in sich eine ähnliche Gefahr wie die dialektisch-spekulative Konzeption Hegels. Denn sie arbeitet mit einem ähnlich einheitlichen geschichtlichen Schema, das am Ende kein wirkliches Gespräch mit anderen Denkern ermöglicht. Die Unterschiede zwischen Hegel, Heidegger und Gadamer in ihren Interpretationen der Philosophiegeschichte wurzeln letztlich in ihren Auffassungen der Sprache. Denn für Gadamer stellt keine Sprache, auch wenn man sie „Sprache der Metaphysik“ nannte, einen Fluch dar. Nach ihm gibt es eigentlich keine Sprache der Metaphysik, „nur eine metaphysisch gedachte Ausprägung von Begriffsworten, die aus der lebendigen Sprache abgehoben sind“61. Denn die „Sprache ist immer nur die eine, die wir mit anderen zu anderen sprechen“62 und in der auch „die Begriffsbildung der metaphysischen Tradition in mannigfaltigen Umwandlungen und Überlagerungen weiterlebt“63. Auch die so genannte „Sprache der Metaphysik“ – inwiefern sie überhaupt noch eine Sprache ist – eröffnet also den Weg zur Wahrheit. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass wir uns beim neuen Durchdenken ihrer Begriffe in die Obhut der lebendigen Sprache zu begeben wagen und uns auf ein Gespräch mit anderen Denkern, und vor allem mit anders Denkenden, einlassen. Die Sprache, welche die europäische Metaphysik benutzt, ist eine Fortsetzung der Tendenz, die schon in der aristotelischen Begrifflichkeit lebt. Und als solche birgt sie Chancen, aber auch Gefahren. Jeder von ihren Ausdrücken ist einseitig – aber gerade dank dieser zugespitzten Einseitigkeit können wir ihre Endlichkeit klarer erfassen und die Sprache als fruchtbare Grenze begreifen, wo sich Endlichkeit und Offenheit treffen. Darum kann auch Gadamer die Versuche Heideggers, bei den Vorsokratikern das „anfängliche Denken“ zu finden, nicht übernehmen. Denn der historische Anfang der Philosophiegeschichte ist uns immer nur mittelbar, vor allem durch die erhaltenen Werke Platons und Aristoteles’
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zugänglich,64 und auf der Spur des anfänglichen Denkens sind wir am ehesten, wenn wir ein ehrliches Gespräch mit anders Denkenden zu führen wagen. Der Abstieg zu den ursprünglichen Formen der Sprache ist vor allem ein Abstieg in die immer gegenwärtige Sprachlichkeit des Dialogs. Gadamer hat von Heidegger die Überzeugung über die Wichtigkeit der aristotelischen praktischen Philosophie geerbt. Grundsätzlich hat er sich aber von seinem Lehrer in seiner Auffassung Platons getrennt. Denn Platon ist für ihn kein Stifter der europäischen Metaphysik, und die platonische Dialektik keine Vorstufe der späteren „Onto-theologie“ und kein fataler Schritt, der zur Seinsvergessenheit führt. Die Platon-Interpretationen Heideggers sind nach Gadamer sehr wertvoll, am Ende aber doch irreführend. Denn sie halten für den Hauptpunkt der Philosophie Platons die Annahme der Ideen, die sie zugleich als Zuspitzung und Petrifikation des griechischen Seinsverstehens als Gegenwärtigkeit und „Anwesenheit“ interpretieren. Wenn man aber das eigentliche Ziel der platonischen Philosophie in der Dialektik, die den Zusammenhang der Ideen verfolgt, erblickt, dann ist es klar, dass das letzte Wort für Platon nicht die Helle der einzelnen Idee ist, sondern ihre Verwiesenheit auf das, was sie nicht ist. Die Annahme der Ideen ist also nicht „der Anfang der Seinsvergessenheit, die in der bloßen Vorgestelltheit und der Objektivierung gipfelt“. Die „eigentliche Dimension der platonischen Dialektik“ ist umgekehrt ein „Schritt über die ‘einfältige’ Annahme der Ideen hinaus“, der in letzter Konsequenz eine „Gegenbewegung gegen die metaphysische Auslegung des Seins als des Seins des Seienden“ bedeutet.65
VI. „Weg ins Freie“66 „Platos ins Offene gestellte Dialektik“67
Gadamer folgt also Platon und seiner „Flucht in die Sprache des Dialogs und der Dialektik“ und versucht dort die Stütze gegen den allzu engen Rahmen des radikalen Seinsdenkens Heideggers zu finden.68 Was bedeutet das aber für unseren Titel „Plato im Dialog“? Welchen Dialog will Gadamer am Ende führen: den Dialog zwischen Platon und ihm, oder zwischen Platon und Heidegger, den er nur vermittelt? Möchte er also mit dem Titel „Plato im Dialog“ sagen: „Plato im Dialog mit Martin Heidegger“? Oder geht es ihm mehr um den Dialog zwischen ihm und Heidegger – und Platon soll ihm vor allem helfen, eine Distanz gegenüber seinem Lehrer zu gewinnen, die das Gespräch überhaupt möglich macht? Soll also der Titel für seine Platon-Interpretationen „Plato im Dialog zwischen Gadamer und Heidegger“ heißen?
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Gadamer stellt solche Fragen nicht ausdrücklich. Er scheint aber alle diese Dialoge verbinden zu wollen und die platonische Dialektik, das Seinsdenken Heideggers und seine eigene Hermeneutik in einem vielfältigen Gespräch „verschmelzen“ zu lassen. Bietet aber seine eigene Dialogauffassung für eine solch großartige Polyphonie einen genügend tragfähigen Boden an? Oder wagt sich hier Gadamer in seiner hermeneutischen „Praxis“ auf ein Feld, für das er keine zureichende Theorie besitzt? Und wenn dem so ist, ist das ein Symptom für die Grenzen seiner Hermeneutik, oder vielmehr ein Zeugnis seiner Folgerichtigkeit in der Sache des Dialogs und seiner Offenheit auch für das, was er theoretisch nicht bewältigen kann? Aber nicht nur diese Fragen bleiben am Ende offen. Was ist z. B. die „Sache selbst“, deren „Tun“ die Sprache ist? Auch in diesem Fall meidet Gadamer eine bestimmtere Antwort. Und wahrscheinlich auch hier ganz absichtlich. Es ist nämlich die Offenheit der Sprache, die ihm vor allem am Herzen liegt, und er möchte diese Offenheit keinem konkreten Begriff opfern. Denn die „Sachlichkeit“ der Sprache besteht in ihrer Ausrichtung auf etwas, was sie nie voll zu begreifen und zu nennen vermag. Die „Sache selbst“ ist also vor allem ein Kürzel für diese Offenheit unserer Sprache. Das heißt nicht, dass diese Offenheit etwas ganz Unbestimmtes ist. Wir haben gesehen, dass Gadamer vor allem zwei Modelle dessen, was in der Sprache als diese „Sache selbst“ „wirkt“, vor Augen hat. Einerseits ist es die platonische Idee des Guten, anderseits das Sein, nach dem sein Lehrer Heidegger gefragt hat. Die aus der praxis sich erhebende Frage nach dem Guten und das mehr „kontemplative“ Denken des Seins sind in der Philosophie Gadamers in sich eingekeilt, ähnlich wie das Erbe von Sokrates und Parmenides in der Dialektik Platons, und keine von ihnen hat das letzte Wort. Möchte also Gadamer die Idee des Guten und ihre Lichtmetaphorik mit dem Sein und seiner Verborgenheit in einer „Ontologie der dialogischen Praxis“ oder in einer „kontemplativen Praxis des Denkens des Seins“ „verschmelzen lassen“? Und in welchem Rahmen oder auf welchem Boden wäre eventuell eine solche Verschmelzung möglich? Will er also ein Gespräch „Zwischen Phänomenologie und Dialektik“69 vermitteln? Auch in diesen Fragen zeigt Gadamer große Behutsamkeit und vermeidet es, das letzte Wort zu sagen. Denn auf der einen Seite neigt er dazu, die „Dialektik der Aufgeschlossenheit und der Verborgenheit“ von Sein und Seiendem als Horizont aller Dialektik auszulegen. Damit geht auch der Versuch einher, die platonische Philosophie mit Hilfe des Seinsdenkens Heideggers aus ihrem als „Anwesenheit“ aufgefassten Seinsverständnis zu „befreien“. Auf der anderen Seite möchte Gadamer das radikale Denken Heideggers aus seiner Sprachnot gerade mittels der Treue zur platoni-
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schen Dialektik und zum sokratischen Gespräch hinausführen. Denn nach Gadamer haben wir keinen anderen Weg, der uns „ins Freie“ hinausführen kann, als „mit der Sprache denken“70. Und das heißt: mit der Sprache denken, die ihrem Wesen nach ein Gespräch ist. Die Hermeneutik Gadamers kehrt also immer wieder zu der Idee des Zusammenhangs zwischen Endlichkeit und Offenheit zurück, die sie paradigmatisch im Dialog verwirklicht sieht. Sie kann uns aber auch lehren, wie unsicher und zerbrechlich die Grenze zwischen Offenheit und Unbestimmtheit ist und wie angesichts dieser Zerbrechlichkeit nicht nur Gadamers Maxime „zurück zu den Texten“, sondern auch ihre ursprünglichere phänomenologische Form „zurück zu den Sachen selbst“ wichtig bleibt.
Anmerkungen 1 H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke (im Folgenden GW), Bd. 6, Tübingen 1985, 4. 2 GW 5, Vorwort. 3 Der Beitrag ist eine stark überarbeitete Version des Aufsatzes, der ursprünglich in tschechischer Sprache in der Zeitschrift „Reflexe“ 18 (1998) 1–38 erschienen ist. Herrn Jakub Sirovátka und Herrn Ludger Hagedorn möchte ich für die Redaktionsarbeit herzlich danken. 4 GW 10, 147. 5 Vgl. z.B. GW 7, 131. Vgl. Platon, Phaidon 99e. 6 GW 1, 450. 7 Ebd. 461. 8 Vgl. GW 10, 28. 9 GW 2, 369. 10 GW 1, 478. 11 GW 7, 339 f. Die interessante Frage, inwieweit sich auch die Platon-Interpretationen Gadamers entwickeln, überschreitet den Rahmen dieses Beitrags. Hauptzüge seiner Interpretationen aber ändern sich nicht, und die bestehenden Akzentverschiebungen hängen vor allem mit der ambivalenten Beziehung Gadamers zu den Platon-Interpretationen Heideggers zusammen, die wir noch erörtern werden. 12 GW 7, 143. 13 Vgl. GW 8, 434f. 14 Vgl. GW 1, 494. 15 Vgl. die Studie „Logos und Ergon im platonischen Lysis“, GW 6, 171–186. 16 GW 7, 125. 17 Siehe vor allem die Studie „Platos ungeschriebene Dialektik“, GW 6, 129–153. 18 GW 6, 112. 19 GW 8, 435. 20 GW 7, 145. 21 Vgl. die gleichnamige Studie aus dem Jahre 1985, GW 8, 350–361.
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22 Siehe dazu die Studie „Dialektik und Sophistik im siebten Platonischen Brief“, GW 6, 90–115. 23 Vgl. GW 6, 100f. 24 Ebd. 107. 25 Ebd. 106. 26 Ebd. 114. 27 Ebd. 112. 28 Ebd. 114. 29 GW 7, 227. 30 Ebd. 374. 31 Vgl. GW 7, 131. 32 Siehe dazu z. B. die Studie „Die Idee der praktischen Philosophie“, GW 10, 238–246. 33 GW 7, 373. 34 Ebd. 377. 35 Dazu v. a. die Abhandlung „Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles“, GW 7, 128–227. 36 GW 7, 144. 37 Ebd. 227. 38 Vgl. z.B. GW 10, 38 und GW 10, 234. 39 GW 7, 378. 40 GW 10, 234. 41 Ebd. 42 GW 6, 114. 43 Vgl. Platon, Staat 510b, 511b. 44 GW 7, 227. 45 GW 6, 112. 46 GW 1, 305. 47 So J. Grondin: Gadamers sokratische Destruktion der griechischen Philosophie, in: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, 54–70. Vgl. auch die gründliche Monographie von F. Renaud: Die Resokratisierung Platons. Die platonische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, Sankt Augustin 1999, wo man auch die Bibliographie zu diesem Thema finden kann. 48 Siehe z. B. G. Figal, Die praktische Vernunft des guten Lebens und die Freiheit des Verstehens, in: Antike und Abendland, 38 (1992) 67–81. 49 Vgl. den letzten Abschnitt von „Wahrheit und Methode“: „Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie“, GW 1, 442–494. 50 GW 7, 30f. 51 GW 1, 464. 52 GW 7, 380. 53 Vgl. vor allem die letzen drei Kapitel von „Wahrheit und Methode“: „Sprache als Welterfahrung“, „Die Mitte der Sprache und ihre spekulative Struktur“ sowie „Der universale Aspekt der Hermeneutik“. 54 GW 1, 467. 55 Ebd. 464. 56 Ebd. 461.
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GW 2, 332. Ebd. 59 GW 8, 428. 60 Ebd. 61 GW 2, 366. 62 GW 10, 132. 63 Ebd. 144. 64 Vgl. die späte Vorlesung Gadamers: Der Anfang der Philosophie, Stuttgart 1996. 65 GW 2, 502. 66 Ebd. 367. 67 GW 10, 146. 68 Ähnlich wie bei vielen anderen „Heideggerschülern“ (z. B. E. Fink, G. Krüger, J. Patočka, G. Picht, L. Strauss) ist es vor allem Platon, der Gadamer ermöglicht hat, sich von dem Verdacht, ein bloßer Nachfolge Heideggers zu sein, freizumachen. Die Untersuchung der Unterschiede zwischen der Platon- und HeideggerRezeption dieser Philosophen könnte uns ein wirklich plastisches Porträt der Platon-Interpretation Gadamers bieten. 69 Vgl.: Zwischen Phänomenologie und Dialektik – Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 3–23. 70 Mit der Sprache denken, GW 10, 345–353. Diese Studie hat Gadamer im Jahre 1990 als eine Ergänzung zu zwei älteren Reflexionen seiner Philosophie geschrieben: die oben genannte Arbeit „Zwischen Phänomenologie und Dialektik“ und „Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamers“ (GW 2, 479–508). 57 58
KONTEXTE SCHLEIERMACHER, HEIDEGGER, BULTMANN Günter Figal Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik Andreas Arndt Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers P. Christopher Smith Phronêsis, the Individual, and the Community. Divergent Appropriations of Aristotle’s Ethical Discernment in Heidegger’s and Gadamer’s Hermeneutics Jean Grondin Gadamer und Bultmann
Günter Figal Gadamer im Kontext Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik I. Niemand denkt aus sich allein. Mit jeder Stimme, die einen Gedanken artikuliert, kommen auch andere zu Wort, die meisten von ihnen auf verschwiegene Weise. Was jetzt gesagt wird, haben sie ermöglicht – als Anreger und Lehrer, als Begründer einer Schule oder Tradition. Und andere sind, ausdrücklich oder nicht, mit dem artikulierten Gedanken gemeint – als solche, die widerlegt, korrigiert, ergänzt oder bestätigt werden sollen. Dass es so ist, gehört zum Wesen des philosophischen Denkens. Und doch kann dieses Wesen in unterschiedlicher Klarheit und Intensität wahrgenommen und zur Sprache gebracht werden. Hans-Georg Gadamer ist ein Denker in Kontexten auf besonders klare und intensive Weise. Rechenschaft über die Eingebundenheit des Eigenen in das zu geben, was man anderen verdankt, war für ihn nicht nur eine Geste der Aufrichtigkeit, sondern philosophisches Programm. „Zugehörigkeit“ ist ein Schlüsselwort seines Denkens, und die philosophische Hermeneutik, wie er sie entwarf, ist als solche eine Antwort auf die Frage, wie diese Zugehörigkeit zu denken sei. Das gilt für die in „Wahrheit und Methode“ entwickelte Philosophie der Kunst ebenso wie für die Frage nach dem „wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein“, die im Zentrum des Buches steht. Gadamers Denken ist ein ebenso gelassener wie entschiedener Einspruch gegen die Überzeugung, man könne zu den Werken der Kunst oder zu den Sachverhalten des geschichtlichen Erkennens den souveränen Abstand des allein aus eigener Kraft geschöpften kritischen Urteils und so auch des „objektiven“ wissenschaftlichen Erkennens finden. Der Zuschauer eines Schauspiels gehört dem Sinngeschehen, welches das Spiel ist, zu, und der Historiker ist immer in den Zusammenhang des geschichtlichen Lebens eingebunden, über das er Aufschluss zu bekommen erhofft. Gadamer hat diese Einsicht aber nicht nur verkündet, sondern mit ihr in seinem Philosophieren ernst gemacht. Die Prätention des Originellen ist ihm ebenso fremd wie die Unterstellung, es gebe so etwas wie eine voraussetzungslose philosophische Sprache. Unbefangen gesteht Gadamer in der Einleitung zu „Wahrheit und Methode“ die „Schwäche“ eines Philosophierens ein, das „sich der Auslegung und Verarbeitung seiner klassischen Überlieferung“ zuwendet. Aber es sei, wie er hinzufügt, „eine noch viel größere Schwäche des philosophischen Gedankens, wenn einer sich einer
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solchen Erprobung seiner selbst“ an den klassischen Texten nicht stelle und es vorziehe, „den Narren auf eigene Faust zu spielen“ (GW 1, 2).1 Das Eingeständnis der Zugehörigkeit zur Tradition hat der von Gadamer entworfenen philosophischen Hermeneutik nicht selten den Vorwurf einer Reduktion der Philosophie auf Philosophiegeschichte eingetragen. Entsprechend gilt hermeneutisches Philosophieren als bloße Textauslegung, die zu den Sachverhalten, um die es eigentlich geht, nicht vordringe. Bei diesem Vorwurf wird jedoch unterschlagen, dass Gadamer sich gerade von der Auseinandersetzung mit der klassischen Überlieferung einen Zugang zu den Sachproblemen der Philosophie versprochen hat. Die Autorität dieser Überlieferung liegt – wie alle wirkliche Autorität2 – in ihrer sachlichen Überlegenheit. Sie liegt darin, dass in ihr Denkweisen und Begriffe entwickelt und reiche und komplexe Beschreibungen von Phänomenen ausgearbeitet wurden, die für das spätere Denken maßgeblich sind. Sobald man zu philosophieren anfängt, hält man sich schon im Zusammenhang der Tradition, ohne von sich aus die Problemhöhe der klassischen Denker zu erreichen. Freilich sieht Gadamer darin keine Erfolgsgarantie für das zeitgenössische Philosophieren. Was von den klassischen Entwürfen weitergetragen wurde, ist nicht selten zu Standardbegriffen und zu jenen Schemata erstarrt, die als die sattsam bekannten Ismen ewig wiederholt werden und einen originären Zugang zu den Sachverhalten nur vorspiegeln. Derart verfestigte Sprech- und Denkweisen bedürfen in der Tat der von Gadamer geforderten „Erprobung“. Sie ist aber nur an dem zu finden, was dem „neuesten Stand der Forschung“ nicht entspricht, weil es die Grundlagen dessen, was hier Forschung heißen kann, erst bereitstellt. Gadamers philosophische Hermeneutik ist Einspruch gegen eine monologisch konstruierende Philosophie und gegen eine im Zeitgenössischen befangene Argumentationskultur, die sich in einem vorher abgesteckten Feld bewegt und deshalb bei aller Prätention der Sachlichkeit immer nur Einsichten findet, die von den ihr zugrunde liegenden Schemata zugelassen werden. Dem setzt Gadamer in diskreter Radikalität das offene, nie abschließbare „Gespräch“ gegenüber, in dem man vermeintliche Gewissheiten wirklich aufs Spiel setzt. Dieser Gestus des Undogmatischen, des Offenen ohne Systemzwang und ohne Dramatisierung hat immer wieder – und mit Recht – für Gadamer und sein Denken eingenommen. Dennoch sollte man Gadamers Philosophie nicht auf ihren Gestus reduzieren. In einem vor humanistischem Hintergrund gehaltenen Plädoyer für die philosophische Bescheidenheit geht sie nicht auf. Sie ist keineswegs das Programm jenes auf Wahrheit verzichtenden „bildenden Denkens“, als welches Richard Rorty sie gelesen hat3 – seltsam genug im Hinblick auf einen Autor, dessen
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Hauptwerk die „Wahrheit“ schon im Titel führt. Ebenso ist Gadamers Philosophie nicht jenes auf die Ansprüche der metaphysischen Tradition verzichtende „weiche Denken“, das Gianni Vattimo als ihre wichtigste Konsequenz festhält.4 Wie sollte das möglich sein bei jemandem, der so vorbehaltlos auf die sachliche Überlegenheit der klassischen Tradition setzt? Und schließlich ist Gadamers Philosophie auch mehr als philosophische Gesprächsbereitschaft. Gadamer transformiert die Philosophie nicht zu jener sozialen Praxis, auf die es Jürgen Habermas ankommt und die er ohne Anregung durch die philosophische Hermeneutik wohl kaum als „kommunikatives Handeln“ bestimmt hätte.5 Die Ansätze von Rorty, Vattimo und Habermas gehören zu einer Wirkungsgeschichte der gadamerschen Hermeneutik, die noch ganz und gar durch das unmittelbare Wirken Gadamers bestimmt ist. Hier werden Motive aufgenommen und weiterentwickelt wie Anregungen aus einem Gespräch; das Gespräch gibt sie vor, indem es selbst der Spielraum des Denkens ist. Auch die Schriften gehören zu diesem Spielraum; sie gelten als Gesprächsbeiträge ihres Autors und sind, derart verstanden, kein endgültiges Wort. Solange das Geschriebene als ein Gesagtes gilt, kann es variiert, ergänzt, auch korrigiert und widerrufen werden. Es gehört in das sich immerzu überholende Sagen-Wollen, das niemals endgültige Worte findet, weil es selbst im Gespräch ist und deshalb, wie Gadamer in der Abhandlung „Text und Interpretation“ sagt, „eine ständig sich wiederholende Versuchung“ ist, „sich auf etwas einzulassen und sich mit jemandem einzulassen“ (GW 2, 335). Doch wenn die Stimme, von der dieses Gespräch getragen war, verstummt, wird das Niedergeschriebene und Veröffentlichte endgültig zur Schrift. Es wird ganz und gar Text, der für sich steht. Die Stimme klingt zwar in der Erinnerung nach, doch gibt sie kein lebendiges Wort mehr. Was ihr Wort gewesen ist, hat sich von ihr abgelöst. Es ist aus dem Gespräch herausgefallen und gewinnt ein neues Dasein als Gegenstand der Interpretation. Diese Erfahrung ist gleichbedeutend mit der eines Abstands, der nichts mit neutraler Distanz oder gar mit einer sich absetzenden Distanzierung zu tun hat. Es ist vielmehr Abstand als eine Ferne, die auf etwas einen anderen Blick freigibt. Ein Gedankenzusammenhang tritt nun deutlicher als Ganzheit hervor. Man bewegt sich nicht mehr in ihm, sondern kommt interpretierend auf ihn zu und immer wieder auf ihn zurück. Das ist die Perspektive, in der man sich um eine zum Text gewordene Philosophie zu bemühen hat. Wenn der eigene Versuch, eine Philosophie zur Sprache zu bringen, nicht bloß wie der Nachhall einer stumm gewordenen Stimme sein will, mehr als einsames Nachreden in jenem verlassenen Raum, der ein Gespräch war, dann gilt es, die zur Schrift gewordene Philosophie als Ganzes zu sehen und zu umreißen. Was ist das für ein Denken? Was ge-
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hört zu ihm, und wo gehört es hin? Sobald es endgültig Text geworden ist, tritt es in den Umkreis der anderen Texte, vor allem derer, die es selbst nennt, auf die es anspielt, an denen es seine eigentümlichen Konturen gewinnt. Text gibt es nicht ohne Kontext.
II. Gadamer im Kontext – das zeigt keine historische Einordnung an, sondern die Fülle der Texte, die mehr oder weniger deutlich in den Zusammenhang von Gadamers philosophischer Hermeneutik eingearbeitet sind. Die Formel zielt auf die Integrationsleistung dieser philosophischen Hermeneutik selbst – auf die Integrationsleistung, die sie selbst ist. Deshalb ist die Frage, die darauf zielt, diese Integrationsleistung zu klären, auch nicht in einer Aufzählung des Verschiedenen zu beantworten, das in den Entwurf von „Wahrheit und Methode“ und seine späteren Ergänzungen einging. Was in einer solchen Aufzählung vorrangig zu berücksichtigen wäre, ist schnell genannt: die platonische Dialektik, die aristotelische Ontologie des in sich bewegten Seins und die aristotelische Ethik, Augustins Theologie der Dreifaltigkeit, Hegels spekulative Philosophie des Geistes, Husserls Programm einer reinen Phänomenologie, Heidegger als Analytiker des Daseins und als Denker der Sprache; dazu die hermeneutische Tradition im engeren Sinne: Schleiermacher, Dilthey, Yorck von Wartenburg. Für spätere Ergänzungen ist der wichtigste Gesprächspartner Jacques Derrida. Was hier genannt ist – und einiges mehr –, ließe sich aufnehmen und nach einem gängigen Schema der Wirkungsgeschichte untersuchen: „Gadamer und …“ Würde man dies ausführen, so ergäbe sich eine Reihe von Bezügen, Verbindungslinien, Lese- und Denkgeschichten. Aber wichtiger ist, wie all dies in den Zusammenhang einer philosophischen Hermeneutik eintreten, wie es zu ihr zusammentreten konnte. Gefragt ist nach dem Kraftzentrum der Integration, die das gadamersche Philosophieren ist. Wer die Frage beantworten will, muss auf das Jahr 1923 zurückgehen. Im Sommersemester dieses Jahres hörte der spätere Autor von „Wahrheit und Methode“ in Freiburg Heideggers Vorlesung über „Ontologie“, die in ihrem Kern die Entwicklung einer philosophischen Hermeneutik ist.6 Was der junge Gadamer in der Vorlesung hörte, wird intensiviert durch seine Lektüre von Heideggers früher Programmschrift, des so genannten „Natorp-Berichts“,7 dessen Manuskript er seit 1924 besaß.8 Hier spricht Heidegger erstmals von einer „phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität“ (NB 29–30) und führt so die Rede vom Hermeneutischen, die es schon in seiner ersten Nachkriegsvorlesung (Kriegsnotsemester 1919)9
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gegeben hatte, mit dem Begriff des faktischen Lebens zusammen, den er zum ersten Mal im Winter 1919–1920 verwendet (GA 58, 41).10 Die Erfahrung des Dreiundzwanzigjährigen wirkt lange nach. Gadamer nimmt den Untertitel der Vorlesung, „Hermeneutik der Faktizität“, später in „Wahrheit und Methode“ wieder auf. Der heideggersche Programmtitel muss ihn nachhaltig beeindruckt haben. Zudem ist es aufschlussreich für Gadamers Heidegger-Bild, dass Heidegger selbst auf den Titel einer Hermeneutik der Faktizität später nicht mehr zurückkommt. Es zeigt, dass Gadamer die Philosophie Heideggers im Ganzen von seiner frühen Vorlesung her liest. Die frühe Programmformel gibt ihm den Gesichtspunkt für das Verständnis von „Sein und Zeit“ und des späteren heideggerschen Denkens vor. Aber die Formel hat nicht nur Gadamers Verständnis des heideggerschen Denkens geprägt, sondern auch sein eigenes Denken in Gang gesetzt – lange bevor er es gewagt hätte, Eigenheit im Denken für sich in Anspruch zu nehmen. Indem Gadamer nach mehr als dreißig Jahren wie selbstverständlich auf die Rede von der Hermeneutik der Faktizität zurückgreift, zeigt er an, welchen Ort in der Wirkungsgeschichte des heideggerschen Denkens er seiner philosophischen Hermeneutik zuweisen will. Wie man sehen wird, ist das zugleich der Ort, von dem aus Gadamer seine Stellung in der modernen Philosophie überhaupt anzeigt. Zunächst aber ist mit der Rede von einer Hermeneutik der Faktizität für Gadamer die entscheidende Wendung Heideggers gegen die Phänomenologie Husserls bezeichnet. Heidegger habe dieser mit seinem programmatischen Titel eine „paradoxe Forderung“ entgegengestellt: „Die unbegründbare und unableitbare Faktizität des Daseins, die Existenz, und nicht das reine cogito als Wesensverfassung von typischer Allgemeinheit, sollte die ontologische Basis der phänomenologischen Fragestellung darstellen – ein ebenso kühner wie schwer einzulösender Gedanke“ (GW 1, 259). Es ist, wie zu ergänzen wäre, ein Gedanke, der in seiner Kühnheit und Schwierigkeit dazu herausfordert, dass man ihn aufnimmt und einlöst. „Wahrheit und Methode“ ist ein Versuch, eben dies zu tun. Wenn es sich so verhält, ist Gadamers Rückgang auf Heidegger allerdings nicht im Sinne einer schlichten Kontinuität zu verstehen. Im Interesse der eigenen Einlösung deutet Gadamer den hermeneutischen Ansatz Heideggers um, ohne dass dies auf den ersten Blick kenntlich wäre. In dem, was Gadamer in „Wahrheit und Methode“ über Heidegger schreibt, gibt es keine Anzeichen einer Auseinandersetzung, erst recht keine eindeutigen Abgrenzungen. Gadamer nimmt das Denken seines Lehrers auf und stellt sich mit seinem Entwurf einer philosophischen Hermeneutik ganz in den Zusammenhang dieses Denkens. Der entscheidende Schritt über den „Historismus“ Diltheys hinaus, die „Überwindung“ seiner „er-
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kenntnistheoretischen Fragestellung“ sei durch die „phänomenologische Forschung“ und speziell durch Heidegger möglich geworden (GW 1, 246). Aber sieht man genauer hin, treten Spannungen und Abweichungen hervor. Gadamer liest Heidegger so, dass mit der Erläuterung von dessen philosophischem Programm etwas Neues entsteht. Nur auf diese Weise wird für Gadamer die Einlösung von Heideggers kühnem Gedanken möglich. So gibt es die Hermeneutik der Faktizität zwei Mal – in einer Verdoppelung, die als Verschiebung aufschlussreich ist. Das Spätere profiliert sich am Früheren, und ebenso gewinnt das Frühere im Vergleich mit dem Späteren größere Prägnanz. Das wiederum führt über die allein wirkungsgeschichtliche Problematik hinaus. Mit der Verdoppelung kommt eine sachliche Frage ins Spiel; es geht darum, wie das mit beiden Entwürfen Gemeinte selbst zu verstehen ist. Wer vergleicht, kann sich nicht mehr auf eine der verglichenen Gestalten des Denkens zurückziehen; immer bleibt die andere als Herausforderung gegenwärtig, und dann heißt es: Diese oder jene, eine Kombination aus beiden oder etwas, das beide integriert oder kritisch erörtert, in der Hoffnung, dass sich für das Verständnis der Sache ein neuer Spielraum erschließt. So führt die Frage nach dem Ausgangspunkt der gadamerschen Hermeneutik zugleich über diese Hermeneutik hinaus. III. Gadamers Umdeutung von Heideggers Entwurf geschieht bereits dort, wo er dessen Titel erläutert: Dass mit der Hermeneutik der Faktizität das „unbegründbare“ und „unableitbare“ Dasein zur „Basis“ der phänomenologischen Fragestellung gemacht werde, hatte Heidegger weder gesagt noch gemeint. Mit dem Begriff Faktizität bezeichnet Heidegger keineswegs die Unbegründbarkeit und Unableitbarkeit des Daseins. Gemeint ist etwas anderes als die sich dem Begreifen entziehende „Unvordenklichkeit“, die Schelling gegen das teleologische Begriffsdenken Hegels geltend gemacht hatte.11 „Faktizität“, so heißt es in der frühen Vorlesung, „ist die Bezeichnung ‘unseres’ ‘eigenen’ Daseins.“ Und wie Heidegger hinzufügt, bedeute der Ausdruck genauer „jeweilig dieses Dasein“, derart, dass es „nicht und nie primär als Gegenstand der Anschauung“ gegeben sei, sondern „ihm selbst da“ sei im „Wie seines eigensten Seins“. Sein müsse dabei „transitiv“ verstanden werden, als „das faktische Leben sein“ (GA 63, 7). Faktisch ist also das Leben, sofern es gelebt wird; Sein ist nicht Gegebensein, sondern Lebensvollzug. Dieser Gedanke könnte wohl so verstanden werden, als sei hier auf seine Unbegründbarkeit und Unableitbarkeit des Lebens abgehoben.
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Aber Heidegger selbst denkt nicht an ein Geschehen, das sich dem Versuch, es zu bestimmen, widersetzt und das jede Frage nach seinem Woher unbeantwortet sein lässt. Die Betonung des Faktischen zielt vielmehr auf die jeweilige Aufmerksamkeit und Klarheit, mit der das Leben geführt wird. Das faktische Sein des Lebens liegt, mit Heideggers Wort, im Dasein, das heißt: in der Lebensgegenwärtigkeit, die das Leben eigentlich ausmacht. Leben, für das es Gegenwärtigkeit gibt, ist seine Gegenwärtigkeit; es wird gelebt, indem es seine Gegenwärtigkeit austrägt, also möglichst klar und offen, aufgeschlossen sein will oder sich aus seiner Klarheit und Offenheit in den Dämmer der Selbstverborgenheit zurückzieht. Von hier aus lässt sich auch verdeutlichen, was es mit der Hermeneutik der Faktizität auf sich hat. Heidegger bestimmt nämlich die Klarheit des Lebens, das Dasein ist, in seiner frühen „Ontologie“-Vorlesung als Verstehen. Dieses ist „das Wachsein des Daseins für sich selbst“ (GA 63, 15), und es wird realisiert, indem es sich auslegt: sich mitteilt und so Kunde von sich gewinnt. Das ist der Ausgangspunkt für Heideggers Verständnis der Hermeneutik: Sie ist für ihn keine Auslegungskunst, sondern eine philosophische Artikulation des Lebens, die sich selbst als Vollzug des Lebens weiß. Unmissverständlich setzt Heidegger diesen Gedanken gegen Husserls Verständnis der Phänomenologie ab. In der Hermeneutik gehe es nicht um ein Verhältnis wie das zwischen „Gegenstandserfassung und erfasstem Gegenstand“. Vielmehr sei diese „ein mögliches ausgezeichnetes Wie des Seinscharakters der Faktizität“ – so, als ob eine Wissenschaft zur Ermöglichung dessen, was sie untersucht, gehöre und zum Beispiel „die Pflanzen, was und wie sie sind, mit und aus Botanik“ seien (GA 63, 15). Hermeneutik der Faktizität ist eine „ausgezeichnete“ Realisierung derselben; sie ist die Erhellung eines Seins, das immer in sich erhellt ist und sich nur deshalb verdunkeln kann. Das ist für Gadamer anders, ohne dass es im Text von „Wahrheit und Methode“ sogleich deutlich würde. In einem vollendeten Akt philosophischer Diplomatie spricht Gadamer gegen Heidegger, indem er den Anschein erweckt, mit ihm zu sprechen. Zwar scheine in „Sein und Zeit“ das Seinsverständnis des Daseins „die letzte Basis“ darzustellen, aber in Wahrheit sei von einem „ganz anderen Grunde die Rede, der alles Seinsverständnis erst möglich“ mache (GW 1, 261). Erst mit dem, was Heidegger „die Kehre“ genannt habe, werde die Aufgabe, die er sich in „Sein und Zeit“ gestellt habe, freigesetzt und durchgeführt (GW 1, 262). Doch um diese Freisetzung und Durchführung zu erläutern, bezieht Gadamer sich freilich nicht auf das, was man erwarten würde: also nicht auf Heideggers seinsgeschichtliche Erörterung der Metaphysik und ebenso wenig auf sein späteres Sprachdenken, zu dem auch die Frage nach Dichtung und Kunstwerk gehört. Entscheidend für Gadamer ist vielmehr, dass
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Heidegger „das Problem der Geschichte in den Vordergrund stellen mußte“. Das Problem der Faktizität sei schließlich auch das „Kernproblem des Historismus“ gewesen – „mindestens in der Form der Kritik an Hegels dialektischer Voraussetzung von ‘Vernunft in der Geschichte’“ (GW 1, 261). Und wenn Gadamer jetzt noch zur Erläuterung dieses Gedankens mit Yorck von Wartenburg – wohlgemerkt nicht mit Heidegger – von der „Zugehörigkeit zu Traditionen“ (GW 1, 266) spricht, ist die Wende zu seiner eigenen Version einer Hermeneutik der Faktizität vollzogen: Die Hermeneutik ist zur Selbstaufklärung eines „wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins“ geworden, das sich in seinen Möglichkeiten zu verstehen der Tradition verdankt, auf die es sich richtet. Sofern die Tradition das im prägnanten Sinne des Wortes Vorgegebene ist, das unhintergehbar alle Möglichkeiten, sich zu ihm zu verhalten, freisetzt, ist damit der Gedanke einer „unbegründbaren und unableitbaren Faktizität des Daseins“ erreicht. Gadamer erläutert diesen Gedanken später, in einer Arbeit mit dem Titel „Hermeneutik und ontologische Differenz“ aus dem Jahr 1989, mit dem Hinweis auf das Unvordenkliche als auf das, „was sich ständig entzieht und gerade darum immer da ist“ (GW 10, 64). Aber nicht erst hier, schon in „Wahrheit und Methode“ ist aus dem Faktischen im Sinne Heideggers das Unvordenkliche geworden. Dass die Umdeutung radikaler nicht sein könnte, wird deutlich, wenn man ihre philosophischen Konsequenzen bedenkt. Während Heidegger in seiner frühen Vorlesung die Philosophie als Möglichkeit des Daseins „für sich selbst verstehend zu werden und zu sein“ (GA 63, 15) entworfen hatte, geht es für Gadamer darum, die Vorgegebenheit geschichtlichen Seins zur „ontologischen Basis“ des philosophischen Denkens zu machen. Und während Heidegger in der philosophischen Selbstauslegung des Daseins die Chance gesehen hatte, die „Tradition der philosophischen Fragen […] bis zu den Sachquellen“ des Selbstverstehens zu verfolgen und damit ihre fraglose Geltung „abzubauen“ (GA 63, 75), will Gadamer die Tradition wieder in ihr Recht setzen; die Philosophie mag das Überlieferte noch so entschieden zu durchdringen und zu überbieten versuchen, allein die Tradition spielt doch die Möglichkeiten des philosophischen Denkens erst zu. Heidegger kommt es, mit einem Wort, auf das Faktum des Hermeneutischen an, Gadamer auf die Hermeneutik des Faktischen. Deshalb ist die Philosophie für Gadamer nicht mehr der Versuch, eine hinter die Tradition zurückgehende originäre Fragestellung zu gewinnen und die Möglichkeit dazu aus dem Sein des Daseins verständlich zu machen. Stattdessen ist sie eine bewusste Einschränkung der Möglichkeit vorphilosophischer und philosophischer Selbstdurchsichtigkeit. „Geschichtlichsein“, sagt Gadamer einmal, heiße „nie im Sichwissen Aufgehen“ (GW 1, 307). Aber diese Überlegung geht keineswegs mit einer Reduktion des philosophischen
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Anspruchs einher, und deshalb trifft das Verständnis der gadamerschen Hermeneutik als einer Lektion in philosophischer Bescheidenheit auch nur an der Oberfläche zu. Vielmehr kommt Gadamers Einschränkung der Selbstdurchsichtigkeit durch eine Umdeutung zustande, die sich auf derselben Höhe wie die umgedeutete Konzeption bewegt. Gadamers Hermeneutik der Faktizität ist in ihrem Kern eine immanente Kritik an der Geistphilosophie Hegels.12 An ihr als einer Konzeption des „Sichwissens“ nimmt sie Maß und gelangt so zu der für sie eigentümlichen Auffassung des Geschichtlichen. Oder, wie Gadamer selbst den entscheidenden Gedanken seines hermeneutischen Programms formuliert: „Alles Sichwissen erhebt sich aus geschichtlicher Vorgegebenheit, die wir mit Hegel ‘Substanz’ nennen, weil sie alles subjektive Meinen und Verhalten trägt und damit auch alle Möglichkeit, eine Überlieferung in ihrer geschichtlichen Andersheit zu verstehen, vorzeichnet und begrenzt. Die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik lässt sich von hier aus geradezu so charakterisieren: sie habe den Weg der Hegelschen Phänomenologie des Geistes insoweit zurückzugehen, als man in aller Subjektivität die sie bestimmende Substanzialität aufweist“ (GW 1, 307). Substanz in diesem Sinne ist für Gadamer die Geschichte als Tradition. Sie ist, mit Hegel gesagt, das „selbstlose Seyn“,13 das nur „An sich“ ist. Aber dieses „An sich“ entwickelt sich gemäß der gadamerschen Konzeption nicht mehr vollständig in das „Für sich“ eines Wissens, sondern gibt nur Möglichkeiten des „Sichwissens“ frei, denen die Substanz, aus der sie leben, unerschöpflich bleibt. Das Sichwissen wandelt sich von der Selbstdurchsichtigkeit zur Einsicht in die Eingebundenheit in das „selbstlose Seyn“. Damit ist der systematische Ort des gadamerschen Philosophierens benannt: Gadamer wiederholt auf dem Boden von Hegels Geschichtsdenken die kritischen Einwände gegen Hegel, wie sie maßgeblich für alle weitere Hegel-Kritik von Schelling formuliert worden sind. Aber das geschieht nicht aus dem theologischen Motiv, das für Schelling ebenso wie nach ihm für Kierkegaard das entscheidende war. Gadamer wendet sich nicht gegen die – wirkliche oder vermeintliche – Auflösung Gottes im Sichwissen, sondern überträgt das theologische Anliegen Schellings und Kierkegaards auf das geschichtliche Leben. So kommt es, dass eine Bestimmung wie die der „Gleichzeitigkeit“, mit der Kierkegaard das unmittelbare Verhältnis des Christen zu Christus verständlich machen wollte, sich nun auf die klassischen Texte und Kunstwerke bezieht (GW 1, 126–133). Gadamer hält an der geschichtlichen Möglichkeit der Wahrheitserfahrung fest. Das Wahre ist weder – wie es dem romantischen Blick entspricht – durch die Geschichte unkenntlich geworden und in den Untiefen vergangenen Lebens verborgen noch ist es – wie für das Verständnis des radikalen Aufklärers – das, was gegen die geschichtliche Vorgegebenheit und Prägung gewonnen
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werden muss. Das Wahre ist als die Sache der Überlieferung zugänglich, aber niemals so, dass man sich seiner versichern könnte (vgl. GW 1, 286). Die Erfahrung der Wahrheit geht auf das Wahre der Substanz. Nun lässt sich auch die Bedeutung von Heideggers Philosophie für Gadamer bestimmen: Heideggers Hermeneutik der Faktizität bahnt Gadamer auf dem Boden des hegelschen Denkens den Weg vom Subjekt zur Substanz. Wie Gadamer – übrigens ohne einen wirklichen Anhaltspunkt in Heideggers frühen Texten – sagt, zielt dessen Hermeneutik der Faktizität „durch die Kritik an Husserl hindurch auf die ontologische Kritik am spekulativen Idealismus“ (GW 1, 162). So wird sie zum Korrektiv gegen Hegels Anspruch auf ein „absolutes Wissen, in dem die Geschichte zur vollendeten Selbstdurchsichtigkeit gekommen“ sei.14 Aber derart gelesen, verliert Heideggers Hermeneutik der Faktizität ihr Zentrum: Dass es auch in ihr um das Selbstverstehen des Daseins als mögliche Selbstdurchsichtigkeit geht und darum, ihre philosophische Auslegung zu entwickeln, kann nicht mehr vorkommen, wenn die Hermeneutik der Faktizität zur Korrektur Hegels eingesetzt wird. Aus der Selbstauslegung, um die es Heidegger gegangen war, wird eine Selbstbesinnung im geschichtlichen Sein, aus dem Sichwissen ein „Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens“ (GW 1, 281). Die Sichwissenden gehen in der vom Anspruch der Selbstdurchsichtigkeit befreiten Geschichte auf. Das Bild vom geschlossenen Stromkreis, das Gadamer für das geschichtliche Leben findet, lässt seinen Hegelianismus der Substanz noch einmal besonders deutlich werden: Nur die Unterbrechung des Stromkreises macht die Geschlossenheit erfahrbar – ebenso, wie für Hegel nur das „Bewußtseyn des Anderswerdens“15 die Einheit, die mit der Substanz gemeint war, ausdrücklich werden lässt. Das faktische Leben muss aufreißen und seine Kompaktheit verlieren, um als das, was es ist, zugänglich zu sein. Aber die Wahrheit liegt nicht in der Unterbrechung, sondern in der Kontinuität, die durch die Unterbrechung nur in dem, was sie ist, hervorkommt. Gadamer hat dies mit dem für seine Hermeneutik zentralen Gedanken der „Horizontverschmelzung“ erläutert: Die geschichtliche Selbstbesinnung ist allein durch historisierende Distanz vom Überlieferten möglich; nur wenn das Überlieferte als Anderes und Fremdes erscheint, kann man sich zu ihm verhalten. Aber wahrhaft geschichtlich ist die Besinnung auf das Vergangene nur, wenn sie sich selbst als „Überlagerung über einer fortwirkenden Tradition“ (GW 1, 311) erkennt; der Entwurf des historisch Anderen ist, wie Gadamer sagt, „nur ein Phasenmoment im Vollzug des Verstehens“, und entsprechend besteht die „Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins“ darin, „mit dem Entwurf des historischen Horizonts zugleich dessen Aufhebung“ zu vollbringen (GW 1, 312). Um zu verstehen, muss man durch Fremdes heraus-
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gefordert sein. Aber sobald man versteht, gleitet man in den Fluss des geschichtlichen Lebens zurück. Gadamers Vertrauen auf diesen Fluss steht in hartem Kontrast zu Heideggers Traditionskritik. Der Kontrast ist so deutlich, dass man annehmen darf, Gadamer habe seine Hermeneutik der geschichtlichen Substanz auch als Gegenbild dieser Kritik entwickelt. Wie Heidegger es sieht, schleift die Überlieferung an den Begriffen und Denkweisen alles ab, was ihre Authentizität und Intensität ausgemacht hatte; die Begriffe und Denkweisen werden rund, griffig wie das vom Wasser mitgeführte Gestein, und deshalb setzt Heidegger alles daran, sie gleichsam wieder aufzurauen, das heißt: ihre „ursprünglichen […] Ausdrucksfunktionen“ (NB, 249) zurückzugewinnen. So wird die Tradition zum Inbegriff der Selbstverständlichkeit, gegen die ein eigentliches Verstehen erst wieder gewonnen werden muss. Gadamers Korrektur dieses Verständnisses von Geschichte und Tradition ist gut nachvollziehbar. Wenn er Heideggers Konzeption der Geschichtlichkeit aufnimmt und umdeutet, indem er mit Yorck von Wartenburg auf die „Zugehörigkeit“ zur Überlieferung aufmerksam macht, so ist damit der hermeneutischen Praxis entschieden Rechnung getragen. Schließlich lebt diese davon, dass etwas Überliefertes ansprechen kann und Einsichten vermittelt, die anders als durch das Überlieferte nicht zu gewinnen sind. Diese Erfahrung muss auch dann gemacht sein, wenn man das Überlieferte kritisch befragen und auf etwas in ihm ungesagt Gebliebenes hin „destruieren“ will. Anders hätte jede „Destruktion“ eines überlieferten Denkentwurfs dasselbe Ergebnis, und es wäre beliebig, woran die Vergessenheit der Tradition jeweils vorgeführt würde. Außerdem ist mit Gadamers Korrektur der Begriff des Verstehens wieder aus der von Heidegger vorgenommenen Verengung befreit: Verstehen war für ihn – seiner Konzeption einer Hermeneutik der Faktizität entsprechend – ausschließlich als Verstehen seiner selbst, als unmittelbares Erfassen der eigenen Möglichkeiten denkbar gewesen. Es war kein „erkennendes Verhalten“ (GA 63, 15) zu anderem mehr, sondern ausschließlich die Offenheit des eigenen Seins, so dass alles Sichbeziehen auf etwas anderes dieses Sein nur verdecken konnte. Wenn die Philosophie, wie der frühe Heidegger es sieht, ursprünglich – und das heißt für ihn: in der praktischen Philosophie des Aristoteles – als Selbstauslegung des Daseins ansetzt und sich dann in die theoretische Einstellung verliert, die für die Tradition beherrschend wird,16 gilt es immer nur, die ursprüngliche Situation der Selbstauslegung wieder zu erlangen. Demgegenüber erinnert Gadamer an das im Grunde Selbstverständliche, dass man nicht sich selbst, sondern etwas anderes verstehen will und versteht. Die praktische Vernunft, phronesis, ist für Gadamer nicht mehr das Modell des Selbstverstehens, sondern der Anwendung
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– der Fähigkeit also, etwas auf die eigene Situation zu beziehen und so erst seine Geltung zu erweisen (GW 1, 331). Allerdings hält Gadamer diesen Gedanken nicht in der sachlich geforderten Klarheit fest, sondern opfert ihn seinem substantialistischen Verständnis der Geschichte. Damit kommt er in einer entscheidenden Hinsicht über das Verständnis der Tradition, wie es für Heidegger bestimmend gewesen war, nicht hinaus. Zu Gadamers Konzeption des geschichtlichen Lebens gehört ein ebenso homogenes Bild der Geschichte wie zu Heideggers Verdacht gegen das Überlieferte. Der Unterschied liegt allein darin, wie die Homogenität der Geschichte jeweils bewertet wird, und entsprechend anders bewertet ist auch die Möglichkeit ihrer Unterbrechung: Weil die Tradition für Heidegger als solche verdeckend ist, liegt in der Zäsur, die mit der Wiederholung des Anfänglichen geschieht, ein Augenblick der Wahrheit. Und weil die Tradition für Gadamer wie ein geschlossener Stromkreis ist, hat die momentane Zäsur nur den Sinn, diese Geschlossenheit ausdrücklich werden zu lassen. Im einen Fall ereignet sich ein Wahrheitsaugenblick, der für sich steht wie ein Blitz in der Nacht; im anderen Fall gibt es ein Flackern, eine vorübergehende Irritation, durch die sich die Kontinuität des geschichtlichen Lebens nur bestätigen kann. Beides leuchtet gleich wenig ein, denn beide Male ist die Situation des Verstehens nicht angemessen berücksichtigt. Ihre Beschreibung und Analyse tritt zugunsten eines übergreifenden Geschichtsbildes zurück, und entsprechend kommt es für das hermeneutische Philosophieren darauf an, sich von den geschichtsphilosophischen Festlegungen Heideggers und Gadamers zu lösen. Das sollte man jedoch nicht im Sinne einer „Depotenzierung“ der Hermeneutik, einer Herabstufung ihrer philosophischen Ansprüche verstehen – als ob im Denken Heideggers und Gadamers immer noch zu viele „metaphysische“ Hypotheken mitgeführt seien, von denen es sich nun endgültig zu lösen gelte. Gefordert ist vielmehr, die Begriffsbildung der hermeneutischen Philosophie an der Erfahrung des Verstehens selbst zu orientieren und ihr so eine gegen das totalisierende Geschichtsdenken gerichtete phänomenologische Wendung zu geben. Philosophische Begriffe überzeugen als solche durch ihre Beschreibungskraft. Das hat Gadamer selbst nicht zuletzt dadurch gezeigt, dass er Heideggers philosophische Entdeckung der Hermeneutik aufnahm und auf die hermeneutische Praxis der Geisteswissenschaften bezog. Weil dies aber im Zusammenhang einer hegelianischen Geschichtsphilosophie geschieht, verschenkt er Beschreibungsmöglichkeiten, die freigesetzt werden, sobald man die problematischen Festlegungen des gadamerschen Entwurfes durchschaut. Der Versuch einer Korrektur in diesem Sinne nimmt Überlegungen Heideggers auf, ohne deshalb im Zusammenhang des heideggerschen Denkens zu stehen.
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IV. Die hermeneutische Erfahrung hat es mit etwas zu tun. Ihr Korrelat ist mehr und anderes als nur ein „Phasenmoment im Vollzug des Verstehens“ (GW 1, 312), das sich in der totalen Selbstvermittlung des geschichtlichen Lebens wieder aufhebt. Verständnisbedürftig und verstehbar sind Texte, Bilder, Musikstücke, auch Bauten, Dokumente und Quellen für die Rekonstruktion früheren Lebens. Man will verstehen, was sich nicht in die Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit der alltäglichen Welt zurückgezogen hat, wie das von Heidegger analysierte „Zeug“, das man umso besser gebrauchen kann, je weniger es auffällt. Man will verstehen, was entgegensteht.17 Und wenn das zu seinem Wesen gehört, fordert es immer wieder zum Verstehen heraus, so dass auch die Erfahrung der Verständlichkeit nichts an seinem Entgegenstehen ändert. Das Verstehen hat es mit Gegenständen zu tun. Gegenstände sind die Korrelate des Verstehens. Gegenstände sind keine Dinge, also nichts, was in eine Welt gehört oder was die verschiedenen Bezüge der Welt auf eigentümliche Weise konzentriert – versammelt, wie Heidegger sagen würde.18 Aber Gegenstände sind auch keine Objekte, also keine im Bewusstsein intendierten und begriffenen Sachen, die in eine äußere Existenz nur versetzt werden.19 Ein Ding lenkt von sich ab; es entlässt in die Welt, die in ihm konzentriert ist. Ein Objekt ist das bestimmte oder zu bestimmende Korrelat des erkennenden Bewusstseins und als solches in seiner Äußerlichkeit allein von diesem her zu erfahren: Es ist das nur nach außen Versetzte. Dagegen sind Gegenstände wahrhaft außen. Nur darum fordern sie dazu heraus, sich auf sie einzulassen. Aber sie gehen in der Bestimmtheit, in der man sie erfährt, nicht auf, sondern bleiben für weitere Bestimmungen offen. So stehen sie nicht wie eine kompakte Masse entgegen, sondern als ein Möglichkeitsraum, in und zu dem man sich immer wieder verhalten kann. Damit ist auch schon gesagt, dass Gegenstände nicht für sich Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie sind keine Entitäten, die im Vergleich mit anderen von derselben Art als das, was sie jeweils sind, bestimmt werden könnten. Das trifft nur auf Objekte zu. Gegenstände sind zwar bestimmt, aber ihre Bestimmtheit zeigt sich darin, dass sie bestimmte und keine anderen Möglichkeiten des Verstehens freisetzen. Diese Möglichkeiten betreffen wiederum das, was die Gegenstände bewirken. Sie bewirken, was ihr Name sagt: Sie vergegenständlichen. Das heißt: Sie lassen die Welt in je bestimmten Hinsichten ausdrücklich werden; anders als Dinge stellen Gegenstände nicht in die Welt, sondern sie stellen die Welt heraus und ermöglichen es so, sich auf die Welt zu beziehen. Das geschieht, indem man sich um das Verständnis von Gegenständen bemüht. Geschichte, sofern sie nicht allein das eigene Leben einschließlich der
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mündlichen Überlieferung durch andere betrifft, gibt es nur durch Vergegenständlichung. Damit sie erfahren und verstanden werden kann, muss sie in Bildern und Texten aufbewahrt sein und aus Dokumenten und Überresten herausgelesen werden können. Deshalb ist das geschichtliche Bewusstsein im Grunde diskontinuierlich: Es entzündet sich an Gegenständen, und die Kohärenz, die es zwischen seinen Gegenstandserfahrungen herzustellen vermag, kann deshalb durch die nächste Gegenstandserfahrung wieder in Frage gestellt werden. Was man Geschichte nennt, ist ein komplexes Feld von Gegenständen, die man, meist nach dem Schema der Chronologie, in ein Verhältnis zu bringen versucht. Die Prägung, die man von der Geschichte empfangen hat, besteht aus Gegenstandserfahrungen, die als solche unerkannt bleiben, weil sie selbstverständlich geworden sind. Trotz der Diskontinuität einer in Gegenständen erschlossenen Welt gibt es so etwas wie die Ahnung eines Gemeinsamen, Umfassenden. Anders würde man wohl gar nicht versuchen, verschiedene Gegenstandserfahrungen miteinander zu verknüpfen. Indem man sich auf das Vergegenständlichte einlässt, gelangt man in Zusammenhänge, die sich immer weiter verfolgen lassen; jede Nuance eines Textes setzt neue Möglichkeiten der Nuancierung, jede Korrespondenz setzt weitere Korrespondenzen frei. Es ist eben diese Unerschöpflichkeit der hermeneutischen Erfahrung, für die Gadamer Schellings Wort vom „Unvordenklichen“ aufgenommen hatte: An Gegenständen lässt sich die Erfahrung machen, dass man „immer vordenken und vorausdenken will und doch immer wieder an etwas kommt, wo man nicht mehr durch Vorstellen oder Vorausdenken dahinterkommen kann“ (GW 10, 64). Aber dieses Unvordenkliche ist nicht das Zu-Verstehende selbst. Zu verstehen ist nicht das geschichtliche Leben als solches, sondern das Individuelle, Unverwechselbare, das sich als solches erweist, indem man immer wieder auf es zurückkommt und zurückkommen muss, weil es in seiner Individualität nicht endgültig bestimmbar, sondern nur auf verschiedene Weise darstellbar ist. Doch in den Darstellungen, die man interpretierend von ihm gewinnt, ist es von einer Ganzheit, der gegenüber das geschichtliche Leben uferlos flutet. Dieses Leben ist das Geschehen der unendlichen Abwandlungen und Verschiebungen des Sinns. Es ist das Unbegrenzte, das durch das offene Gewebe des Begrenzten durchscheint und in das man sich verliert, wenn man die Grenzen des Gegenständlichen nicht beachtet. Indem man dem Unbegrenzten nachgibt, hört die hermeneutische Erfahrung auf. Sie ist an das Faktum des Gegenständlichen gebunden, ohne in diesem einen sicheren Grund zu haben. Die Gegenstände geben nicht vor, wie sie verstanden sein wollen. Sie sind nur das Faktum, an dem die hermeneutische Erfahrung ansetzt und einsetzt. Diese Erfahrung selbst ist ein Schweben zwischen dem Her-
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meneutischen von Verstehen und Auslegung und dem Gegenständlichen in seiner Faktizität. Anmerkungen 1 Die Schriften Gadamers werden unter der Sigle GW mit Angabe der Bandund Seitenzahl zitiert nach der Ausgabe: Gesammelte Werke, 10 Bände, Tübingen 1985–1995. 2 Vgl. GW 1, 281–290. 3 Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton, New Jersey 1979 (dt.: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main 1981). 4 Gianni Vattimo, La fine della Modernità, Milano 1985 (dt.: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990). 5 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt am Main 1982. 6 Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe Band 63, herausgegeben von Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt am Main 1988. 7 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), herausgegeben von Ulrich Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissenschaften, herausgegeben von Fritjof Rodi, Bd. 6, Göttingen 1989, 237–269. Zitiert mit der Sigle NB. Der Text ist inzwischen im Reclam Verlag Stuttgart 2003 erschienen. 8 Auf dem Umschlag, in dem Heidegger ein Typoskript seiner frühen Programmschrift aufbewahrte, ist das ausdrücklich vermerkt. Umschlag und Typoskript gehören zum Nachlass Heideggers, der im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach am Neckar aufbewahrt wird. Ein Faksimile des Umschlags ist im Martin-HeideggerMuseum der Stadt Meßkirch ausgestellt. 9 Martin Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: Zur Bestimmung der Philosophie, Gesamtausgabe Band 56/57, herausgegeben von Bernd Heimbüchel, Frankfurt am Main 1987, 1–117. 10 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), Gesamtausgabe Band 58, herausgegeben von Hans-Helmuth Gander, Frankfurt am Main 1993, 48. 11 Erstmals in: Die Weltalter. Fragmente, 1811–13, herausgegeben von M. Schröter (1979), 211. 12 Was das heißt, kann im Folgenden nur angedeutet werden. Es im Einzelnen zu zeigen, bleibt ein philosophisches Desiderat. Aufschlussreiche Überlegungen, die in dieselbe Richtung weisen, finden sich bei Michael Theunissen, Philosophische Hermeneutik als Phänomenologie der Traditionsaneignung, in: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 2001, 61–88. 13 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, historisch-kritische Edition. Gesammelte Werke, herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Band 9, Hamburg 1980, 428.
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14 In diesem Sinne heißt es auch 1989 noch, die Hermeneutik der Faktizität ziele „auf den radikalen Gegenbegriff zu Hegels absolutem Geist und seiner Selbstdurchsichtigkeit“ (GW 10, 65). 15 Phänomenologie des Geistes, 409. 16 Vgl. dazu ausführlicher mein Buch: Heidegger zur Einführung, Hamburg, 4. Auflage 2003, 22–47. 17 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe Band 2, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976, 90–119. 18 Vgl. Martin Heidegger, Das Ding; außerdem: Logos (Heraklit, Fragment 50), in: Vorträge und Aufsätze. Gesamtausgabe Band 7, herausgegeben von FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, 165–187; 211–234. 19 Diese Unterscheidung von Gegenstand und Objekt halte ich gegen Heidegger fest. Vgl.: Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Gesamtausgabe Band 10, herausgegeben von Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1997, 120–122.
Andreas Arndt Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers I. Zum Problem: Wirkungsgeschichte und systematische Voraussetzungen der „romantischen Hermeneutik“ Hans-Georg Gadamers Verhältnis zu Friedrich Schleiermacher erscheint als vielfach gebrochen: nicht nur durch seinen eigenen hermeneutischen Ansatz, nach dessen Maßstab er Schleiermacher beurteilt, sondern auch durch die Wirkungsgeschichte der schleiermacherschen Hermeneutik, die ihm den Blick auf deren philosophische Grundlagen in entscheidenden Punkten verstellt. In Gadamers Versuch einer Selbstkritik aus dem Jahre 1985, die er unter den Titel „Zwischen Phänomenologie und Dialektik“ gestellt hatte, findet sich hierzu eine bemerkenswerte Ausführung: „Mir ging es eben nicht darum, Schleiermacher in allen seinen Dimensionen zu würdigen, sondern ihn als den Urheber einer Wirkungsgeschichte zu charakterisieren, die bereits mit Steinthal einsetzt und in der Zuspitzung wissenschaftstheoretischer Art, die Dilthey vorgenommen hat, unstreitig beherrschend wurde. Das hat nach meiner Meinung das hermeneutische Problem verengt, und diese Wirkungsgeschichte ist keine Fiktion.“1 Gewirkt aber hat nach Gadamer „die psychologische Interpretation, die das eigentlich Neue war, was Schleiermacher beitrug“ (WM 2, 14), und die im Mittelpunkt seiner Kritik steht. Schleiermacher – und mit ihm die „romantische Hermeneutik“ überhaupt – habe, so Gadamers Grundvorwurf, das Verstehen auf den Ausdruck, die Individualität, nicht jedoch auf das Erfassen der Wahrheit ausgerichtet.2 Nun ist Gadamers Kritik an der psychologischen Interpretation bzw. genauer: der Engführung der schleiermacherschen Hermeneutik auf die psychologische Interpretation, nicht unwidersprochen geblieben. Peter Szondi hat gerade der von Wilhelm Dilthey inaugurierten, lebensphilosophischen Schleiermacher-Interpretation vorgeworfen, dass sie von den beiden Teilen der schleiermacherschen Hermeneutik – der „grammatischen“ und der „psychologischen“ bzw. „technischen“ Auslegung – „die grammatische Interpretation überging und die andere nur qua psychologische, d. h. auf die Individualität des Autors rekurrierende, aufnahm, nicht aber als die technische, welche in den Grundzügen der Komposition eines Werkes die Individualität des Autors konkretisiert findet“3. Auch für Manfred Frank ist die Wirkungsgeschichte der schleiermacherschen Hermeneutik keineswegs eine einfache Fortschreibung ihrer Intentionen und philosophischen Grundlagen, sondern deren Umbildung und Überlage-
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rung, was dazu führt, dass ihre Aktualität auch nur im Rückgang auf Schleiermacher selbst herausgearbeitet werden kann; hierbei überwindet Frank die Engführung auf die Hermeneutik-Vorlesungen selbst und bezieht Schleiermachers „Dialektik“ als spekulative Grundlage ebenso ein wie etwa die „Ethik“ und die „Ästhetik“.4 Entschieden kritisiert auch Henrik Birus Gadamers „Nivellierung wesentlicher historischer und begrifflicher Differenzen“ in seiner Konstruktion einer einlinigen Wirkungsgeschichte;5 gerade der Spannungs- und Problemreichtum der schleiermacherschen Hermeneutik habe „zu einer produktiven Fortführung und vertieften Neubegründung“ gereizt,6 die sich – bis hin zu Gadamer – in z.T. ganz unterschiedlichen Positionen niederschlage. Christian Berner kritisiert ebenso die einseitige Interpretation der schleiermacherschen Hermeneutik von der „psychologischen Auslegung“ her und wirft Gadamer darüber hinaus vor, er verkenne die systematische Verankerung der Hermeneutik in der Dialektik und Ethik.7 Jean Grondin hat diese Einwände der von ihm so genannten „revisionistischen Literatur“ durch den Hinweis zu entkräften versucht, dass Gadamers Kritik der romantischen Hermeneutik eine „grundlegende Solidarität“ voraussetze: „Insofern sich Gadamers Hermeneutik auch gegen die Verführung einer rein methodischen Hermeneutik erhebt, ist sie selbst urromantisch.“8 Deshalb möchte Grondin – ungeachtet der gadamerschen Kritik an der Wirkungsgeschichte der „romantischen“ Hermeneutik – Gadamer selbst noch in diese Wirkungsgeschichte einreihen: erst „die philosophische Nobilitierung der Hermeneutik bei Gadamer“ habe es erlaubt, „auf die fragmentarischen Ansätze bei Schleiermacher und Dilthey zurückzukommen“.9 Genau hierin aber besteht das grundlegende Problem von Gadamers Lektüre der schleiermacherschen Hermeneutik. Er liest sie, im Gefolge der von Dilthey begründeten Tradition,10 in der er insoweit auch tatsächlich steht, als eine philosophische Fundamentaldisziplin und macht die Ansprüche genau einer solchen Disziplin zum Maßstab seiner Kritik an der „romantischen Hermeneutik“. Darin lässt er sich auch durch die Einbeziehung anderer philosophischer Disziplinen bei Schleiermacher nicht beirren, denn er liest diese wiederum einzig und allein unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags für eine philosophische Hermeneutik in seinem eigenen Sinne, nicht aber hinsichtlich ihres Beitrags für die systematische Bestimmung der Hermeneutik bei Schleiermacher selbst. Weder die Hermeneutik-Vorlesungen noch Schleiermachers einschlägige AkademieAbhandlungen, so schreibt Gadamer, ließen sich „an theoretischem Gewicht für eine philosophische Hermeneutik […] mit dem vergleichen, was Schleiermachers Dialektik-Vorlesung, insbesondere auch der dort erörterte Zusammenhang von Denken und Sprechen, enthält“ (WM 2, 463).
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Zu fragen ist freilich, ob Schleiermachers „Dialektik“, immerhin nicht weniger als eine mit Fichtes „Wissenschaftslehre“ konkurrierende, grundlegende Theorie des Wissens,11 ihr theoretisches Gewicht in dieser Sache nicht gerade darin hat, dass sie der Hermeneutik einen anderen philosophischen Status verleiht als den einer philosophischen Hermeneutik in Gadamers Sinne. Anders gesagt: Die Nicht-Fiktionalität der Wirkungsgeschichte, auf die Gadamer sich beruft, könnte sehr wohl auf einer Fiktion über den tatsächlichen philosophischen Status der Hermeneutik bei Schleiermacher beruhen.12 Dieser Status soll im Folgenden näher bestimmt und mit Gadamers Sichtweise konfrontiert werden. Zunächst soll gefragt werden, was es für den Status und die Verfahrensweisen der Hermeneutik bedeutet, dass Schleiermacher sie als eine technische Disziplin bestimmt; sodann soll auf das systematisch grundlegende Verhältnis der Hermeneutik zur Dialektik bei Schleiermacher eingegangen werden.
II. Schleiermachers Hermeneutik als technische Disziplin Dass „Gadamers Schleiermacherbild Züge der Fiktion aufweist“13, hat in dieser Schärfe zuerst Manfred Frank behauptet. Er meint damit vor allem die Vernachlässigung der „grammatischen“ gegenüber der „psychologischen“ Interpretation, in welcher Gadamer ja in der Tat das „Eigenste“ Schleiermachers erblickt (WM 1, 190): „Was verstanden werden soll, ist nun nicht nur der Wortlaut und sein objektiver Sinn, sondern ebenso die Individualität des Sprechenden bzw. des Verfassers. Schleiermacher meint, nur im Rückgang auf die Entstehung von Gedanken lassen sich diese wirklich verstehen“ (ebd., 189). Obwohl Gadamer in diesem Zusammenhang auch die „an sich sehr geistvollen Ausführungen Schleiermachers zur grammatischen Interpretation“ würdigt, geht er auf diese doch nicht weiter ein, weil die „psychologische Interpretation für die Theorienbildung des 19. Jahrhunderts – für Savigny, Boeckh, Steinthal und vor allem Dilthey – die eigentlich bestimmende geworden“ sei (ebd., 190). Indem auch hier die Wirkungsgeschichte und nicht die innere Systematik der schleiermacherschen Texte zum Leitfaden der Interpretation erhoben wird, erscheint die romantische Hermeneutik letztlich als „ein divinatorisches Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers“ (ebd., 191), kurz: als Einfühlungshermeneutik. Eine „solche isolierende Beschreibung des Verstehens“ aber bedeute, „daß das Gedankengebilde, das wir als Rede oder Text verstehen wollen, nicht auf seinen sachlichen Inhalt hin, sondern als ein ästhetisches Gebilde verstanden wird, als Kunstwerk oder ‘künstlerisches Denken’. Hält man das fest, so versteht man, warum es hier gar nicht auf das Verhältnis zur Sache (Schl. ‘das Sein’) ankommen soll“ (ebd., 191).
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Nun dürfte kaum bestritten werden, dass Schleiermachers Hermeneutik auch beansprucht, ästhetische Gebilde zu verstehen; hieraus lässt sich jedoch nicht folgern, ihr Verfahren sei an „ästhetischen Grundbestimmungen Kants“, nämlich dem Maß des „Wohlgefallens“ orientiert (ebd.), wie Gadamer es nahe legt.14 Tatsächlich redet Schleiermacher von der Hermeneutik als einer „Kunst des Verstehens“15 und bestimmt auch das Auslegen selbst als „Kunst“ (HF, 80), jedoch hat der Ausdruck „Kunstlehre“ bei Schleiermacher eine weitere Bedeutung, sofern Kunst ganz allgemein als ein auf den Vernunftgehalt bezogenes Darstellen verstanden wird;16 Kunst ist demnach überhaupt die individuelle Darstellung eines Allgemeinen, nämlich des Vernunftgehalts. Dies betrifft nicht nur die schönen Künste, sondern ebenso alle anderen „Kunstlehren“ wie Politik, Pädagogik etc.;17 ja auch die Dialektik ist Kunstlehre, nämlich „Kunst des Gedankenwechsels von einer Differenz des Denkens aus […] bis zu einer Uebereinstimmung“.18 Im weitesten Sinne ist jedes reale Wissen „ein Kunstwerk in so fern die beiden philosophischen Elemente [Formal- und Transzendentalphilosophie, Verf.] als ein allgemeines in einem einzelnen Denkact dargestellt werden“19. Gadamer erblickt hierin nur eine Universalisierung des ästhetischen Gesichtspunktes; es sei „für Schleiermacher charakteristisch, daß er dieses Moment der freien Produktion überall aufsucht“ (WM 1, 192). „Freie“ Produktion meint hier die durch objektive Regeln und Inhalte nicht gebundene, „geniale“ Produktion, der auf Seiten der Hermeneutik die Divination korrespondiere (ebd., 193). Solche Ästhetisierung laufe darauf hinaus, dass bei Schleiermacher „die Hermeneutik zu einer von allen Inhalten abgelösten Methode verselbständigt“ werde (ebd., 198). Schleiermachers Annahme einer unhintergehbaren Individualität der Darstellung des Allgemeinen – in Gadamers Worten: die „Voraussetzung, daß jede Individualität eine Voraussetzung des Allebens ist“ (ebd., 193) – wird mit einer „ästhetischen Metaphysik der Individualität“ (ebd.) gleichgesetzt, die es nicht mehr mit den objektiv-allgemeinen Inhalten des Darstellens und der Darstellung zu tun habe, sondern nur noch (dies jedenfalls suggeriert Gadamers Darstellung) mit der subjektiven Form und dem Grad des Wohlgefallens an ihr. Diese Zuspitzung der Interpretation, die Behauptung, es handle sich bei Schleiermacher nicht mehr um die individuelle Darstellung eines Allgemeinen, sondern um blanke Individualität jenseits aller Inhalte, bildet den Kern der gadamerschen Kritik an der „romantischen Hermeneutik“ überhaupt. Diese Interpretation wäre nur dann schlüssig, wenn sich die Hermeneutik verselbständigen und in dieser Verselbständigung als Grundlegung einer „ästhetischen Metaphysik der Individualität“ ansehen ließe. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, denn Schleiermacher beschränkt die Her-
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meneutik ausdrücklich auf das sprachliche Verstehen in Abkoppelung von universellen Sinnverweisungszusammenhängen. Das bedeutet zunächst, dass die Hermeneutik im schleiermacherschen Kosmos der philosophischen Disziplinen als eine technische Disziplin bestimmt ist, die an spekulative Disziplinen wie die Dialektik20 und die Ethik anschließt.21 Technisch ist hier im Sinne von techne zu verstehen, d. h., es geht darum, wie der Einzelne in der Darstellung des Allgemeinen „in besondere Gegensäze und Naturbedingungen gestellt“ ist und „wie diese zu behandeln sind“.22 Ausdrücklich haben es die technischen Disziplinen weder mit der spekulativen Erfassung des Allgemeinen selbst noch damit zu tun, „wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowol dem Grade als der eigenthümlichen Beschränktheit nach verhalten“;23 Letzteres ist vielmehr Aufgabe der kritischen Disziplinen im Unterschied zu den technischen. Für die Hermeneutik folgt hieraus, dass sie in der Tat die Gehalte der Darstellung nicht beurteilt; sie ist aber darum nicht gehaltlos, sondern setzt die spekulativen Gehalte als durch die spekulativen Disziplinen gegeben voraus; Aufgabe der Beurteilung der Gehalte der Rede ist ebenso nicht die Aufgabe der Hermeneutik, sondern der kritischen Disziplinen. Es versteht sich, dass Schleiermacher, der generell nur in relativen und nicht in absoluten Entgegensetzungen denkt, hierbei nicht eine strikte Trennung der Disziplinen und ihrer Verfahrensweisen im Auge hat, sondern ihre wechselseitige Durchdringung. Nun ist Schleiermacher aber auch innerhalb der Grenzen der Hermeneutik als einer technischen Disziplin mit objektiven Voraussetzungen konfrontiert, die jenseits der Individualität liegen und mit der behaupteten „freien“, genialischen Produktion, die nur der subjektiven Willkür folgt, nicht zusammenstimmen können. Für Schleiermacher steht jede Rede in der Spannung, zugleich objektive Darstellung und Resultat der Aktion eines Einzelnen zu sein, und gerade diese Spannung begründet die Notwendigkeit der Hermeneutik als einer technischen Disziplin, die es ja, wie erinnert, mit der Behandlung der „besonderen“ Gegensätze und Bedingungen zu tun hat, also im Blick auf das Verstehen damit, wie mit den individuellen Elementen einer objektiven, auf Allgemeinverständlichkeit zielenden Mitteilung umzugehen sei, ohne das Allgemeine der Darstellung zu verletzen. „Von Seiten der Sprache angesehen“, so heißt es in der „Ethik“, „entsteht aber die technische Disziplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Elemente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst.“24
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Die Spannung beider Elemente reproduziert sich innerhalb der Hermeneutik in der Unterscheidung der grammatischen und der psychologischen Interpretation. Von Seiten der Ethik hat Schleiermacher übrigens die Grammatik als solche als eine kritische Disziplin angesehen und der Hermeneutik zur Seite gestellt;25 die grammatische Seite der Hermeneutik als einer technischen Disziplin ist zwar mit der Grammatik als solcher nicht gleichzusetzen, enthält aber Momente der in ihr thematisierten spekulativallgemeinen Voraussetzungen; sie betrachtet „die Sprache insofern […], als sie das Denken aller Einzelnen bedingt, den einzelnen Menschen aber nur als den Ort für die Sprache und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart“ (HF, 79). Die psychologische Interpretation hingegen betrachtet die Sprache „nur als das Mittel […], wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt“ (ebd.). Indem aber, Schleiermacher zufolge, auf der einen Seite „die Sprache wird durch das Reden“, auf der anderen Seite aber die jeweilige Rede auch nur zu verstehen ist „aus der Totalität der Sprache“ (HF, 78), so ist das Verstehen nur in Bezug auf beide Elemente möglich als deren „Ineinandersein“, bei dem beide „einander völlig gleich“ stehen (ebd., 79). Dies ist in einem strikten Sinne zu nehmen: die grammatische Interpretation selbst hat mit der Sprache als einer lebendigen, sich in der individuellen Rede verändernden zu tun und die psychologische mit der Sprache als Mittel, welches objektive Bedingungen seines Gebrauchs vorgibt. Die „absolute Lösung“ der relativen Entgegensetzung beider Momente des Verstehens wäre es daher für Schleiermacher, „wenn jede Seite für sich behandelt die andere völlig ersetzt, die aber ebensoweit auch für sich behandelt werden muß“ (HF, 80). Auf eine Formel gebracht: Sprache erscheint nur subjektiv in individualisierter Rede, Individualität aber auch nur objektiv in der Rede als allgemeiner Darstellung. Sofern die Rede beides vereinigt, ist sie der Gegenstand der Hermeneutik, und die hermeneutische Aufgabe ist nur gelöst, wenn beide Seiten als gleichgewichtig behandelt werden. Die damit zusammenhängende objektive und allgemeine Bindung der Individualität innerhalb der Hermeneutik selbst hat Gadamer theoretisch nicht wirklich ernst genommen.
III. Die Hermeneutik im spekulativen Zusammenhang des Wissens bei Schleiermacher Der relativ untergeordnete systematische Ort der Hermeneutik als technischer Disziplin im Kosmos der philosophischen Disziplinen bei Schleiermacher selbst steht im Widerspruch zu der philosophischen Aufwertung der Hermeneutik im 20. Jahrhundert, die bei Gadamer einen Höhepunkt erreicht. Schleiermachers Philosophie kann daher auch nicht im
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Ganzen als eine hermeneutische bestimmt werden, wiewohl besonders Versuche gemacht worden sind, die wissenschaftstheoretisch grundlegende Disziplin der „Dialektik“ in eine hermeneutische Perspektive zu rücken.26 Auch Gadamer scheint der Ansicht zu sein, dass sich Schleiermachers Philosophie im Ganzen von der Hermeneutik her zureichend bestimmen lasse, wenn er ihr eine „ästhetische Metaphysik der Individualität“ unterstellt.27 Tatsächlich lässt sich das Verhältnis von Dialektik und Hermeneutik schon deshalb nicht als ein gleichberechtigtes beschreiben, weil die Dialektik als spekulative Theorie des Wissens mit der Hermeneutik als einer sich zunächst an die Ethik anschließenden technischen Disziplin nicht auf eine Stufe zu stellen ist. Die Beziehung beider Disziplinen aufeinander ist jedoch dadurch höchst komplex, dass auch hier die Entgegensetzung nur relativ ist und beide auf vielfältige Weise miteinander vermittelt sind. Zunächst kommen beide formal darin überein, dass sie als „Kunstlehren“ auftreten, denn auch für Dialektik gilt, dass das Wissen nie vollendet ist, die Theorie des Wissens also zugleich immer eine Theorie der Produktion des Wissens und d. h.: eine Kunstlehre des werdenden Wissens sein muss.28 Dies führt dazu, dass die Dialektik nicht in dem Sinne Prinzipien des Wissens enthält, dass die anderen Wissenschaften sich aus ihnen deduzieren ließen. Vielmehr hat die Dialektik in ihrem Vollzug als werdendes Wissen Voraussetzungen, auf die sie verwiesen ist, und zwar nicht nur in der empirischen, geschichtlichen Wirklichkeit, sondern auch in anderen Wissenschaften, zu denen sie daher in ein Wechselverhältnis tritt: Die Dialektik weist ihnen ihren Ort im Kosmos der Wissenschaften zu, bedarf aber auch ihrer Verfahrensweisen und Resultate, um den Prozess der Wissensbildung zu vollziehen. Der Ort, wo das werdende Wissen als solches thematisch wird, ist der zweite, „technische“ Teil der „Dialektik“. Hier finden sich denn auch Überlegungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik. Thema ist hier der auch in der Hermeneutik in Bezug auf die Allgemeinheit der Sprache erörterte Sachverhalt, dass die in der Idee des Wissens vorausgesetzte Identität uns nur in einer relativen Entgegensetzung zugänglich wird, d. h. die in allen identische Vernunft sich nur in relativ entgegengesetzten individuellen Ausprägungen realisiert. Diese sind nun wiederum im Blick auf die Einheit der Vernunft auszugleichen: „Die Irrationalität der Einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache nur durch die Einheit der Vernunft.“29 Dies könne darum geschehen, weil jeder Einzelne „mit seinem Denken in der Sprache aufgeht“; ebenso „gehen die Operationen aller Sprachen auf in denselben Combinationsgesezen und stehen unter selben Regeln“. Zu diesem abgestuften Verfahren des Ausgleichs der Relativität
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bzw. Irrationalität in der Begriffsbildung bemerkt Schleiermacher abschließend: „Auf jeden Fall ist hier die Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik, die aber auch wieder von jener abhängig ist.“ Auch in der Hermeneutik wird das Verhältnis zur Dialektik angesprochen, sofern das Reden die äußere Seite des Denkens ist, nämlich „Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“, und hieraus erklärt sich auch das „Verhältniß zur Dialektik“ (HF, 76).30 Dieses Verhältnis wird ebenfalls als Abhängigkeit bestimmt: „Die Abhängigkeit darin daß alles Werden des Wissens von beiden [Hermeneutik und Rhetorik, Verf.] abhängig ist“ (HF, 76 f.).31 Eine Randbemerkung von 1828 präzisiert im Blick auf Hermeneutik, Kritik und Grammatik: „da es nicht nur keine Mittheilung des Wissens, sondern auch kein Festhalten giebt ohne diese drei und zugleich alles richtige Denken auf richtiges Sprechen ausgeht so sind auch alle drei mit der Dialektik genau verbunden.“32 Der genaue Punkt dieser Verbindung wird in einer von Lücke mitgeteilten Vorlesungsnachschrift von 1832 erläutert: „Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mittheilung durch die Sprache, welche eben die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dieß keine andere Tendenz als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen. So ergiebt sich das gemeinsame Verhältniß der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens“ (HF, 77). Nach dieser Seite ist die Hermeneutik zunächst ein notwendiges Mittel, die Gemeinschaftlichkeit des Denkens hervorzubringen, und hat daher die gleiche Tendenz wie die Dialektik, die auf die Einheit des Wissens zielt. Eine Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik besteht hier insofern, als die Dialektik den sprachlich vermittelten Prozess der Realisierung der Einheit nicht umgehen kann. Die Hermeneutik ist daher ein internes Moment im dialektischen Prozess des werdenden Wissens, in dem die Einheit des Wissens realisiert wird. Sie ist aber zugleich auch eine Disziplin, deren Verfahrensweisen in der Dialektik selbst nicht thematisch werden; vielmehr setzt die Dialektik mit der Möglichkeit des Verstehens zugleich die Hermeneutik und ihre Techniken voraus. Dies gilt indessen auch für die spezifischen Verfahrensweisen anderer Disziplinen, welche die Dialektik voraussetzt, indem sie ihnen zugleich die Bedingungen der Einheit des Wissens vorgibt. Auch dieser Sachverhalt kommt in der Vorlesung 1832 zum Ausdruck, wenn die Hermeneutik auf geschichtliche und natürliche Differenzen zurückgeführt wird: „Und so wurzelt die Hermeneutik nicht bloß in der Ethik, sondern auch in der Physik. Ethik aber und Physik führen wieder zurück auf die Dialektik, als die Wissenschaft von der Einheit des Wissens“ (HF, 77). Sowenig aber die „Einheit des Wissens“ von der Ethik oder Physik selbst theoretisch begründet wird, obwohl auch ihnen die Tendenz zur Ei-
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nigung, zur Aufhebung der Irrationalität von Natur und Vernunft eignet, so wenig lässt sie sich auch von der Hermeneutik begründen. Die „Wissenschaft von der Einheit des Wissens“ geht nicht aus dem Prozess der Vermittlung des individuellen Denkens für die Gemeinschaftlichkeit gleichsam naturwüchsig hervor und geht in diesem Prozess auch nicht auf. Die Vergewisserung der Einheit des Wissens hat die Bedingungen und den Grund des Wissens zu bestimmen, wie dies im transzendentalen Teil der Dialektik geschieht. Hierbei kommen Bestimmungen und Instanzen ins Spiel, die weit über die sprachliche Vermittlung zur Gemeinschaftlichkeit des Denkens hinausgehen und Letztere allererst auf die Einheit des Wissens hin orientieren. Ein Wissen nämlich wird nur dann kommuniziert, wenn die Rede als äußere Seite des Denkens auch dessen Seinsbezug mitteilt. Dies übersteigt schon deshalb die Aufgabe der Hermeneutik, weil Schleiermacher – wenn auch mit Schwankungen – die traditionelle Bestimmung der Hermeneutik als ars intelligendi, explicandi et applicandi im Wesentlichen auf die subtilitas intelligendi, also die Aufgabe des Verstehens, beschränkt.33 Der für das Wissen konstitutive Seinsbezug, der in der Dialektik als eines von zwei Kriterien des Wissens fungiert, tritt daher in der Hermeneutik ganz zurück. Ebenso verhält es sich mit dem zweiten Kriterium des Wissens, der Einheit der Vernunft als Grund des Zusammenstimmens im Denken, und zwar im Prozess des werdenden Wissens selbst. Diese Einheit ist für Schleiermacher nur transzendental zu begründen und zu rechtfertigen, denn sie überschreitet die Individualität und damit „Irrationalität“ der einzelnen Sprachen. Die hier skizzierte Stellung der Hermeneutik im spekulativen Zusammenhang des Wissens bei Schleiermacher macht deutlich, dass Gadamers Vorwurf der inhaltlichen Leere und des Ästhetizismus an die Adresse der „romantischen Hermeneutik“ darauf beruht, dass die Hermeneutik aus ihrem systematischen Kontext herausgelöst wurde. In diesem Kontext selbst ist sie Moment eines arbeitsteiligen Zusammenhangs der Disziplinen, in dem sie Mittel des Verstehens auch für den Prozess des werdenden Wissens bereitstellt, der Theorie des Wissens bzw. den Realwissenschaften (Ethik und Physik) und den an die Ethik anschließenden kritischen Disziplinen jedoch die Beurteilung der Gehalte, also die doktrinale Kritik zu überlassen hat. Gadamer hat zweifellos Recht, wenn er sich für seine Sichtweise auf die Wirkungsgeschichte der schleiermacherschen Hermeneutik beruft. Indessen beruht diese Wirkungsgeschichte auf einer Voraussetzung, die Schleiermacher selbst nie angenommen hätte: der Voraussetzung, dass die Hermeneutik sich gegenüber den spekulativen Zusammenhängen des Wissens verselbständigen und zu einer Fundamentaldisziplin erheben lasse. Für sich gestellt und ohne begleitende spekulative und kritische Ver-
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fahren scheint sie es in der Tat nur noch mit der Individualität und der bloßen Form der Rede bzw. Schrift als einer durch die Individualität geprägten zu tun zu haben. Jedoch: Für diese Wirkungsgeschichte, wiewohl sie zweifellos real ist, lässt sich Schleiermacher kaum verantwortlich machen, denn die Voraussetzung einer solchen isolierten Rezeption der Hermeneutik war, seit Dilthey, der antispekulative Affekt eines postmetaphysischen Denkens, das meinte, sich von den spekulativen Voraussetzungen der schleiermacherschen Hermeneutik abstoßen zu müssen. Und im Blick auf Gadamers Psychologismus-Vorwurf an die Adresse Schleiermachers ist es dabei nicht ohne Interesse, dass gerade Dilthey meinte, die spekulative durch eine psychologische Grundlegung ersetzen zu müssen. Gadamer hat Schleiermacher innerhalb des engen Horizontes einer von antispekulativen Affekten motivierten Wirkungsgeschichte gelesen und dabei bis zur Unkenntlichkeit umgeschmolzen. Seine Sichtweise bedarf allererst einer historischen Kritik. Anmerkungen 1 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2 Bde., Tübingen 61990, Bd. 2, 15 (im Folgenden im Text zitiert mit der Sigle WM und der Bandzahl). 2 Vgl. hierzu Grondin, Jean, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 89. 3 Szondi, Peter, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1975, 166. 4 Frank, Manfred, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 1977. 5 Birus, Hendrik, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Hermeneutische Positionen, Göttingen 1982, 11. 6 Birus, Hendrik, Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik, in: ebd., 41. 7 Berner, Christian, La Philosophie de Schleiermacher, Paris 1995, 19. 8 Grondin 2000 (Anm. 2), 8. 9 Ebd., 88. 10 Vgl. Hufnagel, Erwin, Diltheys Würdigung der Schleiermacherschen Hermeneutik, in: Synthesis philosophica 12 (1997), 65–97. 11 Vgl. hierzu die Historische Einführung des Bandherausgebers in: Schleiermacher, Friedrich, Vorlesungen über die Dialektik, hrsg. v. Andreas Arndt, Berlin und New York 2002 (Kritische Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 10). 12 Der berechtigten Frage, wieweit nicht Gadamers eigene hermeneutische Konzeption der „Horizontverschmelzung“ eine solche Verschleifung von Positionen geradezu provoziert, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. 13 Frank, Manfred, Einleitung, in: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt/M. 1977, 60. 14 Gadamer verweist in diesem Zusammenhang auf Schleiermachers späte Ein-
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leitung (1833) zur Dialektik (Schleiermacher, Dialektik, hrsg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1839, 569 f.; in WM, 191, Anm. 29 wird irrig auf die Ausgabe der Dialektik von Rudolf Odebrecht, Leipzig 1942 verwiesen). Die dort getroffene Unterscheidung des reinen vom geschäftlichen und künstlerischen Denken ist jedoch nicht ohne weiteres auf den Status einer Kunstlehre bzw. eines künstlerischen Verfahrens im wissenschaftlichen Zusammenhang anwendbar; vielmehr differenziert Schleiermacher zwischen künstlerischem Denken im engeren Sinne, das es mit ästhetischen Phänomenen zu tun hat, und dem künstlerischen Verfahren im weiteren Sinne, das Bestandteil auch des auf das Sein bezogenen Wissens der Dialektik ist. Gadamer verschleift techne und schöne Künste. 15 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. M. Frank (Anm. 13), 75; im Folgenden im Text zitiert mit der Sigle HF und der Seitenzahl. Kritisch zu Frank Bosto, Sulejman, Schleiermacher im Lichte der Gadamerschen philosophischen Hermeneutik, in: Synthesis Philosophica 12, Zagreb 1997, 175–190. 16 Schleiermacher, Friedrich, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hrsg. v. Otto Braun, Leipzig 1813 (Schriften. Auswahl in 4 Bänden, Bd. 2), 98. 17 Vgl. Arndt, Andreas, Kommentar zu: Schleiermacher, Schriften, Frankfurt/M. 1996, 1109ff. 18 Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik (Anm. 11), Bd. 1, 81, § 45. 19 Ebd., 78, § 25. 20 Vgl. Arndt, Andreas, Dialektik und Hermeneutik. Zur kritischen Vermittlung der Disziplinen bei Schleiermacher, in: Synthesis Philosophica 12, Zagreb 1997, 39–63. 21 Vgl. Scholtz, Gunter, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995. 22 Schleiermacher, Sittenlehre (Anm. 16), 252. 23 Ebd. 24 Ebd., 356. 25 Ebd. 26 Zuerst bei Rudolf Odebrecht; er betrachtete die Hermeneutik geradezu als den (gleichberechtigten) „Gegenpol zur Dialektik“; beide Disziplinen seien „Fundamentallehren von der Wirklichkeit des menschlichen Seins“ (Einleitung, in: Schleiermacher, Dialektik, Anm. 14, XXIII). Vgl. auch Pohl, Karl, Die Bedeutung der Sprache für den Erkenntnisakt in der „Dialektik“ Friedrich Schleiermachers, in: Kant-Studien 46 (1954/55), 302–332; Böhler, Dietrich, Das dialogische Prinzip als hermeneutische Maxime, in: Man and World 11 (1978), 131–164; Hinrichs, Wolfgang, Standpunktfrage und Gesprächsmodell. Das vergessene Elementarproblem der hermeneutisch-dialektischen Wissenschaftstheorie seit Schleiermacher, in: Selge, Kurt-Victor (Hrsg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Berlin und New York 1985, 513–538; Pleger, Wolfgang H., Schleiermachers Philosophie, Berlin und New York 1988 (Kap. IV: „Eine Theorie des Gesprächs – Der Zusammenhang von Anthropologie, Dialektik und Hermeneutik“); bündig spricht Potepa von Schleiermachers „hermeneutischer Dialektik“ (Potepa, Maciej, Schleiermachers hermeneutische Dialektik, Kampen 1996). 27 Für Schleiermacher ist die Metaphysik – in Einheit mit der Logik – Gegenstand der Dialektik.
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Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik (Anm. 11), Bd. 1, 79f. Ebd., 190, § 74. 30 Schleiermacher, Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hrsg. v. H. Kimmerle, Heidelberg 1959, 2., verb. Auflage 1974, 80. 31 Ebd. 32 Ebd. – Eine weitere, systematisch wenig ergiebige Bezugnahme auf die Dialektik findet sich sonst nur noch in Schleiermachers Notizen zum HermeneutikKolleg von 1832 (ebd., 159). 33 Vgl. ebd., 33, 55, 78. Demnach ist die Explikation selbst Objekt der Hermeneutik. Das Erklären fällt den kritischen und spekulativen Disziplinen zu, während die Anwendung im Sinne der Bildung von der Ethik her zu begründen und in der Durchführung arbeitsteilige Aufgabe mehrerer technischer Disziplinen ist. Erst in der Auseinandersetzung mit Ast diskutiert Schleiermacher 1829 das Erklären als Bestandteil der Hermeneutik (ebd., 154), ohne daraus indessen weitergehende systematische Konsequenzen zu ziehen. 28 29
P. Christopher Smith Phronêsis, the Individual, and the Community Divergent Appropriations of Aristotle’s Ethical Discernment in Heidegger’s and Gadamer’s Hermeneutics In Book VI of the „Nicomachean Ethics“ Aristotle distinguishes among five principal forms of alêtheuein, which is to say, among five different ways that we know different kinds of truth, namely epistêmê, nous, sophia, technê, and phronêsis, or as I prefer to translate these, scientific cognition, immediate intuition, theoretical wisdom, craft, and ethical discernment. At the beginning of his Marburg Winter Semester lectures of 1924–25 Heidegger provides a path breaking phenomenological interpretation of these five ways of knowing the truth and of their relationships to each other, an interpretation that is surely as provocative as it is illuminating.1 Some thirty five years later, in a section of „Wahrheit und Methode“ titled „Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles (The Relevance of Aristotle for Hermeneutics)“, Gadamer, in a much less abrupt yet equally illuminating way, reprises Heidegger’s earlier exposition of Bk. VI of the „Nicomachean Ethics“.2 Our task here will be to explain how Gadamer can appropriate Heidegger’s extraordinarily innovative reading of EN VI for his own hermeneutics but how he succeeds at the same time in reversing some of the infelicitous results of Heidegger’s radical but often forced interpretation of this text, in particular, Heidegger’s suppression of the communal dimensions of phronêsis or ethical discernment. From the „Truth and Method“ passages themselves that we are considering, but also from what Gadamer has said elsewhere, it is clear that for his own interpretation EN VI Gadamer is deeply indebted to Heidegger’s Destruktion of the traditional reading of Aristotle. He acknowledges that by returning Aristotle’s „basic concepts“ to their original, „factual“ „situation“ „in the world“, Heidegger lets us see what Aristotle is about as if for the first time, such was the startling freshness and immediacy of his expositions. In commenting on Heidegger’s outline of his Aristotle project submitted to Paul Natorp at Marburg in 1922,3 Gadamer speaks of a „wellnigh revolutionary“, „fundamental critique“ that Heidegger exercises on a „conventional and apparently objective appropriation of Aristotle based on the Neoscholastic tradition“ (HtJ 229); and, Gadamer continues, „The complex of problems surrounding life’s self-interpretation, which Heidegger at that time called the ‘facticity of human existence’ (Faktizität des Daseins), becomes the theme here for a bold sketch that, starting from
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Aristotle, develops the basic features of a philosophical and phenomenological anthropology“ (230). However, we should be clear from the start that in „Wahrheit und Methode“ Gadamer has set himself a task very different from Heidegger’s. Indeed, Gadamer, for whose „Wahrheit und Methode“ the early Heidegger’s exposition especially of phronêsis was to be decisive, expresses some surprise that in this 1922 manuscript of Heidegger’s „phronêsis is not foregrounded rather the virtue of the theoretical life, sophia“ (HtJ 231). Even at then, as Gadamer recognizes in retrospect, Heidegger was already moving in a different direction from Gadamer. Indeed, Gadamer stresses that in foregrounding theoretical knowledge, Heidegger was shifting his attention from the „Ethics“ to Aristotle’s „Physics“, a move that Gadamer says he was too young to follow at the time despite Heidegger’s urgings (HtJ 231). Gadamer never did follow Heidegger, however, and in my view this shows that a fundamental difference between them was already emerging. At this stage of his thinking, at least, Heidegger, with no little vehemence, was concerned to break through the distortions and obfuscations of ordinary talk, traditional philosophical talk perhaps most of all, and to „lay bare“ and „lay out“ die Sachen selbst, „the things themselves.“ He sought to pry these loose, so to speak, in order that they might then show themselves to the exceptional individual who, only in rising above quotidian chatter, might see them clearly for himself. By contrast, in „Wahrheit und Methode“ Gadamer, ever the supremely cultured and gracious man he was, is concerned to reach an understanding with others about the subject matters of conversation and to do this precisely in the very medium of that inherited traditional language which has always already existed in our midst from time out of mind. This difference between Gadamer and Heidegger, as much in temperament as in approach, has decisive consequences for their elaborations of the five kinds of alêtheuein. In particular, this essay will show that Gadamer’s interpretation of phronêsis, though presupposing Heidegger’s earlier account, differs significantly insofar as Gadamer is able to display the original priority in Aristotle of the community over the individual, a priority to which Heidegger, given his emphasis on escaping the restrictive hold of community, no longer has access. We will begin with Heidegger’s radical exposition of EN VI so that we might, then, better appreciate how Gadamer, all the while he draws on Heidegger for inspiration, is nevertheless able to open up new, communal possibilities that in Heidegger are closed off.
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I. Heidegger: phronêsis as conscience (Gewissen) A first indication of the differences between Gadamer and Heidegger is provided by the role of Heidegger’s exposition of EN VI, namely as an extended introduction to a lecture course ultimately devoted to Plato’s „Sophist“ dialog. In „Wahrheit und Methode“ Gadamer also treats Aristotle on his way to treating Plato, but the similarities end there. For Gadamer uses Aristotle’s account of phronêsis to lead up to a dialogical hermeneutics that will be based directly on Plato’s dialogical philosophizing. (See „Das Vorbild der platonischen Dialektik“ [The paradigm of Plato’s dialectic], WM 344–51.) In „Platon: Sophistes“ Heidegger, on the other hand, uses Aristotle’s account of the five forms of alêtheuein in order, first, to subordinate phronêsis to sophia and, then, to show in his reading of Plato’s „Sophist“ how only Aristotle, not Plato, can provide the basis for the theoretical philosophy Heidegger wishes to develop. For Gadamer, Plato’s dialegesthai, our „talking things through“ in dialog with others with whom we undergo together the pathos tôn logôn, the experience of what is said as this transpires among us and in our „midst“, is the model.4 For Heidegger, in sharp contrast, dialegesthai is only a deficient preliminary to Aristotle’s nous and theôria, the „intellectual intuition“ of the solitary and selfsufficient philosopher „looking on.“ As Heidegger puts it, „Dialegesthai thus contains in itself the immanent tendency towards a form of noein, towards a form of seeing. However, as long as its looking on remains within legein [talking, speaking], as long as dialegesthai stays with talking things through, such talking things through can surpass idle talk (Gerede) but, even so, only make an attempt to penetrate to the subject matters themselves (zu den Sachen selbst). Dialegesthai never goes beyond talking about things. It never gets to pure noein. It does not have the proper means of getting to its goal properly, to theôrein [looking on] itself.“5 (PS 197)
Thus in addressing Plato’s dialogs, Heidegger contends, we need to look back from the „light“ of Aristotle into the „dark“ of Plato (PS 10). Therefore we must begin with Aristotle, who, Heidegger maintains, perfects what remains imperfect in Plato’s dialegesthai. In retrospect from this quotation in „Platon: Sophistes“, we discover adumbrations of its key themes from the start in Heidegger’s exposition of EN VI. Truth, as we know it in any of the five forms of alêtheuein treated in EN VI is said to be unverdeckt, that is, dis-closed, un-covered (PS 23), which implies that we do not yet see things for what they are when they are first presented in spoken exchanges of opinion. Hence it falls to single individuals, on their own, to extricate truth from what people generally have to say. „Everybody keeps to idle talk (Man hält sich im Gerede)“
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(25), but, says Heidegger, „precisely that which obtains, not for everybody, but just for a single individual (für einen einzelnen) can be true“ (24). For Heidegger, not listening to another but phenomenology’s seeing the subject matter for oneself is the way to valid knowledge: „In the immediate talk with others“, Heidegger continues, „everybody (man) goes by what is said; [but] genuine cognition (eigentliche Erkenntnis) is not necessarily reached each time in hearing what is said“ (25). Heidegger will contend that the necessity of rising above ordinary conversation and seeing for oneself holds for all the forms alêtheuein or knowing a truth. Our focus here, however, is on phronêsis or ethical discernment, and we need, accordingly to elucidate Heidegger’s differentiation of phronêsis from the other kinds alêtheuein. Heidegger begins sorting these out using Aristotle’s initial distinction between the epistêmonikon alêtheuein, or scientific apprehension of a truth, the archai or first principles of which are ever the same, as opposed to the logistikon alêtheuein or reasoned apprehension of a truth the first principles of which can be otherwise than they are (PS 28; EN 1139 a5–15). It is significant, however, that Heidegger omits the connection that Aristotle establishes here between the logistikon faculty and bouleuesthai, or deliberation, literally, „taking counsel with oneself.“ For in sharp departure from Plato’s mathematical understanding of the logistikon faculty as the locus of quantitative calculation,6 Aristotle associates the logistikon faculty with taking counsel in regard to ethical and political decisions: „Indeed, deliberation (bouleuesthai) and reasoning (logizesthai) are“, he says, „the same thing“ (EN 1139a13). Now bouleuesthai, deliberation, has an undeniable public origin, for to begin with, we take counsel with others and not with ourselves alone. Indeed, communal deliberation, hearing counsel from someone else, makes taking counsel with oneself possible in the first place. We note, for example, that Achilles is in fact defined in the „Iliad“ by his self-imposed exile from the boulai or councils of his kinfolk, the Achaeans. For only now does his rage at having been dishonored at the hands of Agamemnon, this mênis, which is the theme of the „Iliad“, keep him away. His isolation, this is to say, is to be understood as the deprivation of his original community, and for Homer any such private deliberations as he or anyone else might engage in on their own are but interiorized consultations, the performance of which one first learns in taking counsel with others and listening to what they have to say. After all, the centerpiece of Book I, which precedes Achilles’ withdrawal, is his and Agamemnon’s participation in the open debate, in the council – hê boulê – of the Achaeans, concerning what should be done to assuage the wrath of Apollo.7 Though Heidegger is surely right to see in Aristotle a prevailing tendency towards the autarkeia or self-sufficiency of a divine theôria detached
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from relationships to others,8 Aristotle has not forgotten the close relationship of practical bouleuesthai or deliberation with sumbouleuesthai or taking counsel with others. As a matter of fact, he says the very same thing of the logistikon faculty in EN VI that he says in the „Rhetoric“ of public, sumbouleutikê or consultative rhetoric with others: they deal with one and the same subject matter, namely, the contingencies of practice and not the certainties of scientific knowing. At EN 1139 a14 we read „no one deliberates (bouleuetai) about things that cannot be otherwise than they are“, and at 1359 a31–33 in the „Rhetoric“ it is said of the things about which „the one counseling with others gives counsel“ (ho sumbouleuôn sumbouleuei) that „such things that of necessity either are or will be, or cannot be or come into being, about these no counseling with others (sumboulê) is possible.“ In passing over Aristotle’s association of the logistikon alêtheuen with bouleuesthai, Heidegger, however, severs it from its communal origins. He is thus already on his way to assigning all forms of ascertaining the truth, among them the principal logistikon form of phronêsis, to a relationship of the single self to itself in withdrawal from all relationships to others.9 To be sure, the logistikon and the epistêmonikon faculties are both said, in language we know from „Sein und Zeit“, to be dimensions of a very worldly „familiarity with things“ (das Vertrautsein mit den Dingen) that originates in one’s „proximate, everyday taking care of what needs to be done“ (des nächsten, alltäglichen Besorgens) (PS 29). But that this familiarity and activity come from the individual’s participation in a community is not acknowledged here. The reason – already intimated in the alltäglich – becomes clear in an excursus concerning rhetoric’s non-demonstrative argument by examples. This non-demonstrative argument takes place, Heidegger says, „in public speech (in der öffentlichen Rede) before the court or in the assembly“, where orators „rely on a common understanding of things that everybody knows“; and, he adds, „in such speaking there are no scientific proofs adduced, rather a conviction is awakened in the listeners“ (35). Though Aristotle would maintain that reasoning from endoxa, from commonly accepted opinions or what Gadamer refers to as a sensus communis,10 is entirely valid for the sphere of our deliberations, both private and public, entirely valid, that is, for both bouleuesthai and sumbouleusthai, Heidegger always hopes to get beyond presumed distortions in the everyday talk we hear from people going about their business, and get to a truth dis-closed in the vision of the solitary thinker. Bouleuesthai, deliberation, cannot be omitted, of course, when the exposition of EN VI turns specifically to phronêsis or ethical discernment (PS 48 ff.), but Heidegger’s account of bouleuesthai is telling. Though Gadamer’s „Mitsichzurategehen“ and „Beratschlagen mit sich selber“, namely, „taking counsel with oneself“ (WM 304), would better reflect the commu-
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nal origins of bouleuesthai in the boulê or Rat (counsel) that one hears from others in boulai or Räte (councils),11 Heidegger translates bouleuesthai as „Überlegung“, or „consideration“ in the sense of thinking something over by oneself (PS 48). He then draws a contrast between the „consideration“ of technê or craft and the „consideration“ of phronêsis: „The consideration of technê“, he says, „aims at what is beneficial for the production of some other thing, namely the ergon [deed], e.g., a house. The consideration of phronêsis, however, concerns this ergon [deed] insofar as it is beneficial for the one considering“ (48). There is no mention here that these considerations might be engaged in with others; and in fact that Heidegger is thinking here of Kierkegaard’s „self that relates itself to itself“ in its own existence is confirmed immediately thereafter12: „The bouleuesthai of phronêsis“, he says, „concerns the being of Dasein itself“ (49). It concerns, this is to say, the single individual’s authentic existence there in the world. This how Heidegger reinterprets Aristotle’s eu zên or living well (see 49–50). Indeed, in striking language foretelling what is to come in when Kierkegaard and Nietzsche will temporarily displace Aristotle at the center of Heidegger’s thinking, we read that phronêsis is to be thought of as the „struggle against the tendency inherent in Dasein to cover itself up and hide itself from itself“(Kampf gegen die im Dasein liegende Verdeckungstendenz seiner selbst), and that „it is not to be taken for granted at all that, for itself, Dasein is un-covered, dis-closed, in its authentic being (für es selbst in der Eigentlichkeit seines Seins aufgedeckt ist). Here too the alêtheia must be wrested loose (abgerungen)“ (51). That Heidegger is willfully overriding the social dimensions of Aristotle’s account of phronêsis becomes even more obvious in the forced translation he provides of Aristotle’s definition of phronêsis. Aristotle writes that „phronêsis is a true, practical predisposition along with reason in regard human goods (phronêsin hexin einai meta logou alêthê peri ta anthrôpina agatha praktikên)“ (EN 1140 b 20–22). But having pointed out that phronêsis is a hexis of alêtheuein, Heidegger goes on to explain, with a very free translation, that phronêsis is „‘ein solches Gestelltsein des menschlichen Daseins, daß ich darin verfüge über die Durchsichtigkeit meiner selbst’“ (PS 52) or, „‘a predisposition of human existence such that in it I possess transpicuousness in regard to myself’.“ In Aristotle there is, of course, no mention whatsoever of „I“ and „myself.“ In Kierkegaard, there is, however; and that Kierkegaard is behind Heidegger’s interiorization of phronêsis emerges unmistakably two pages later: „The deliberation of phronêsis stands under an either/or“, he says; „With phronêsis there is no ‘more or less,’ no ‘this as well as that,’ as in technê, but only the seriousness of a definite decision (Entscheidung), hitting the mark or missing it, either/or“ (54) (my emphasis).
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The distortion here is compounded by Heidegger’s superimposition on phronêsis of a New Testament idea completely foreign to Aristotle, namely Gewissen, suneidêsis, conscience. Like NT’s suneidêsis, the German Gewissen is built on the Indoeuropean (w)eid, vid, wiss, stem linking vision and knowing, both suneidêsis and Gewissen, of course, in the NT’s GnosticNeoplatonist, interiorized sense of an event in the soul or self „itself by itself.“13 To be sure, the original sense of suneidêsis is something like „shared knowledge“, „con-scientia“, and this, certainly, is based in community. Residual elements of suneidêsis’s communal basis persist in the NT’s understanding of it as auditory, not visual; one hears the voice of conscience, which is to say, the voice of another, God. But Heidegger, in appropriating Gewissen for his optical phenomenology, overrides even this trace of the acoustical. „Phronêsis,“ Heidegger abruptly asserts, „is nothing else but conscience set in motion (das in Bewegung gesetzte Gewissen) that makes an action transpicuous (durchsichtig)“ (56). Phronêsis, this is to say, discloses, un-covers an action to the (in)sight of the self. On PS 146, we find, accordingly, „The being that phronêsis uncovers is praxis“ (Das Seiende, das die phronêsis aufdeckt, ist die praxis). Not vocal response to an audible call but visual clarification is the point. That phronêsis is an alêtheuen meta logou, „a way of relating to a truth along with speech“, speech presumably first heard from others, is wholly suppressed. Indeed, this „ocularization“, so to speak, of phronêsis is so complete that phronêsis can now be measured against sophia and theôria as an inferior form of dêloun, or making something clear to oneself, a move in Heidegger that Gadamer, characteristically, will not make.14 This tendency away from the acoustical to the optical is most evident in Heidegger’s assessment of Aristotle’s accounts of seeing and hearing. For, on the one hand, Aristotle, in maintaining that „all human beings by nature strive to see (eidenai, zu sehen)“ (Metaph. 980a 1) (PS 70), seems, as Heidegger notes, clearly to privilege seeing: „we give priority to seeing, horan, over the other senses“ (PS 70), Heidegger says, „and among the senses, seeing is distinguished by the fact that ‘it lets be seen [dêloi] many differences’“; „[H]ere dêloun means, letting be seen, making plain (sehen lassen, offenbar machen)“ (70). How then, Heidegger asks, is it possible that Aristotle can „emphasize at 980b23 that akouein [hearing] is the highest form of aisthêsis (perception)“? On the one hand, Heidegger answers, „Hearing is a basic constituent of human beings, who speak“; „Hearing makes it possible to communicate and be understood by others“ (70). On the other hand, he continues, „Seeing has priority as the primary way of opening up the world, so that what is seen can be spoken about and more extensively appropriated in logos“ (70). Perpetuated here is metaphysics’ typical anachronistic inversion: at least since Plato it is argued that first we
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see for ourselves what something is and then we speak words to others to communicate our insight. What is overlooked here is that in fact we can understand and see what things are only once we have first found the words to name them. And though we may transfer, inflect, and otherwise avail ourselves of them in creative ways, we do not invent these words by ourselves, rather we have first heard them spoken to us by others and, in our thinking by ourselves, draw each time upon the memories of this. Gadamer, as we will see, reverses this inversion. Heidegger, in contrast, seems not to have listened to himself when he states, „Because human beings can hear they can learn“ (PS 70). Certainly, in his treatment of the components of phronêsis, namely euboulia (being well-advised) and the bouleuesthai (deliberation) in which euboulia is actualized, Heidegger would seem to be on the verge of recovering the communal dimensions of phronêsis. Bouleuesthai, he reminds us, „is meta logou [accompanied by logos] and, hence, is logizesthai, talking something through“ (143). Here, certainly, logos is returned to its primary sense of speech, speech that originally, at least, we carry on with others. Indeed, the translation of logizesthai as „talking something through“ ein Durchsprechen, translates more accurately the dialegesthai – durch is German for the Greek dia – that Heidegger has contrasted just before with sophia’s noein aneu logou, theoretical wisdom’s immediate intuition without speech (142). Thus, insofar as phronêsis is euboulia, it would appear to originate in sumbouleuesthai, in taking counsel with others and talking things through with them. In bouleuesthai I would then take counsel and talk things through by myself, but only on the basis of this previous conversation with others: „When phronêsis uncovers [things]“, says Heidegger, „this is carried out meta logou, in talking, in talking something through“ (144). One can almost hear in this Gadamer’s idea of reaching an understanding in the medium of speech that exists between us (Sichverständigen in der Mitte der Sprache). But not quite. To be sure, one of the things to be clarified in any bouleuesthai about an action, is, Heidegger tells us, the relationship of this action to „one specific human being or another“ and this, „insofar as human existence is defined by being there with other human existences“ (sofern das Dasein als Miteinandersein bestimmt ist) (147). For Heidegger, however, this does not mean that one’s own bouleuesthai would be in any way sumbouleuesthai, that one’s own deliberation would be based in consultation with these others: „Talking [the matter] through pertains itself to the entire action“, and, he explains, „Beginning with the archê, with what I want (was ich will), with what I for myself decide to do (wozu ich mich entschließe), and lasting until the completed action itself, phronêsis pertains to the action.“ On Heidegger’s reading of EN VI the archê of action, that „for the sake of
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which“ (hou heneka) it is done, is the proaireton, namely, he continues, „what I take upon myself ahead of time in the decision: Starting with me (von mir aus), this and that should happen now this way or that for this person or that“ (147). Von mir aus usually means „for all I care“, but in taking it literally Heidegger bends it to his own purposes. Either way, of course, all this talk of „I“, „myself“ and „me“ is completely foreign to Aristotle, who consistently uses the first person plural „we“: „Taking counsel (to bouleuesthai), however, occurs in those things that hold for the most part, the outcome of which is not clear, and in indeterminate matters in regard to the greatest of which we bring in consultants (sumboulous de paralambanomen) since we do not consider ourselves adequate (apistountes hemin autois […] hikanois) to sort them out“ (EN 1112b 8–12).
II. Gadamer: the context of phronêsis in community Like Heidegger, and following his lead, Gadamer is attracted to Aristotle’s account the different ways of our relating to the truth because of Aristotle’s acknowledgment of other kinds of valid thinking and reasoning besides science’s conclusive and necessary demonstrations from intellectually intuited, certain first principles. Again, guided by Heidegger, he is also attracted to Aristotle’s EN VI because of its correlative acknowledgment of another kind of being besides the static presence of science’s objects, besides being, this is to say, which ‘always is’ what it is invariably apart from time and place, to aei on. For Heidegger, who in „Platon: Sophistes“ is on his way to „Sein und Zeit’s“ extended hermeneutics of facticity, Aristotle’s exposition of phronêsis would seem to foreshadow Heidegger’s own phenomenological disclosure in SZ of a kind of „factual“ knowing from within Dasein’s being under way in the world. This „factual“ knowing is therefore „closer to the origin“ (ursprünglicher) than science’s abstract surveillance (theôrein) of Vorhandenes, which is to say, the „stuff“ (Zeug), once an interconnected nexus of utensils that Dasein employed in taking care of things but now just matter lying about on hand that Dasein has placed in view before it and from which it has set itself at a distance. Indeed, given the „factual“ limitations of this finite knowledge from within the situation, one might better speak here of understanding or Verstehen rather than knowing or Wissen and science or Wissenschaft.15 For Gadamer, similarly, Aristotle’s phronêsis provides a paradigm for a hermeneutical, interpretive understanding (Verstehen) distinct from methodical scientific objectification. In his „Die Marburger Theologie“ Gadamer reports that in a 1923 seminar on Aristotle’s EN VI, Heidegger
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„brusquely“ declared that phronêsis is das Gewissen. In overlooking the interiorization of phronêsis that this translation implies, Gadamer can comment positively that, „What Heidegger found there [in Aristotle’s analysis of phronêsis], which also made Aristotle’s critique of Plato’s idea of the good and his concept of the practical so compelling, is clear today: here a kind of knowing, an eidos gnôseôs, was described that simply did not lend itself any longer to ultimate objectification in the scientific sense, knowledge in the concrete situation of our existence.“16
Phronêsis is paradigmatic for Gadamer, first, insofar as it is said by Aristotle to guide our finite open-ended questioning and deliberation about unstable, indeterminate being, which, as Aristotle puts it, „is susceptible of being otherwise“ than it is. Phronêsis is paradigmatic, second, insofar as it understands a kind of truth known only from our being underway within the limited horizons of its coming to pass. Specifically, just as phronêsis’s choice of what is to be done always finds itself embedded in a continuum of choices already made, so too our understanding and interpretation of texts is always embedded in a historical tradition of previous interpretations. As judges, guided by dikastê phronêsis or juris-prudence, apply the law to the particular case in accordance with precedent (see WM 301), interpreters of texts are conditioned in their understanding of these texts by tradition. With that, however, a key divergence has begun to emerge for us despite all of the affinity of Gadamer’s appropriation of EN VI with Heidegger’s: unlike Heidegger, there is in Gadamer no emphasis on sophia’s autarkeia or self-sufficiency, no emphasis on removing the individual self from those burdensome relationships with others that keep one from seeing for oneself the truth that conversation with somebody else only obscures. Indeed, Gadamer’s hermeneutics is based on conversation: „the hermeneutical task“, he says, „is [to be] grasped as joining in conversation (Gespräch) with the text“ (WM 350). This ground in conversation will lead him to emphasize things that would be anathema to Heidegger and, in general, to radical individualists in whom, like Heidegger, Nietzsche’s historical effect, the contempt for the „herd“ of humankind, remains predominant. In particular, I am thinking here of Gadamer’s idea of Zugehörigkeit, our belonging to traditions, linguistic and cultural, and our listening to (Hören auf) the „authority“ of their received opinions, or what Aristotle’s „Topics“ refers to as endoxa.17 „We spoke of the interpreters’ belonging to the tradition (von der Zugehörigkeit des Interpreten zu der Überlieferung) with which they are concerned“, Gadamer writes, „and we saw in understanding itself an element of what comes to pass“ (WM 297). But we are getting ahead of ourselves.
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Unlike Heidegger, and, if Heidegger is right, unlike even Aristotle himself, Gadamer does not measure phronêsis against sophia’s nous and theôria, as if phronêsis in some way fell short of these. In keeping with his emphasis on visual Ent-deckung or dis-closure, Heidegger’s account of EN VI is built on a contrast of phronêsis with sophia, the contrast, that is, of a form of alêtheuein that sees and knows being that is susceptible of being otherwise than it is, with a presumably superior form of alêtheuein that sees and knows necessary being that is ever (aei) identical with itself. In Gadamer’s account of EN VI, on the other hand, the principal juxtaposition is between phronêsis and technê, both of which relate to being that is susceptible of being otherwise than it is, and, more to the point, both of which in no way abrogate my original being there in the world together with others whose spoken words we hear. So how, then, does phronêsis differ from technê or the craft of making, producing something? „It is obvious“, Gadamer answers, „that human beings do not have themselves at their disposal in the way handworkers have the material with which they work at theirs. Plainly they cannot produce themselves in the way they can produce something else“ (WM 299). In regard to phronêsis’s ethical knowledge (sittliches Wissen), Gadamer comments, „One does not stand opposite this so that one could make it one’s own or not in the same way one can choose some specialized art, a technê, or not choose it. On the contrary, one is always already in the situation of someone who is supposed to act“ (WM 300). „One must, this is to say, always already possess and be applying ethical knowledge. […] What is just and right (recht), for example cannot be fully determined independently of the situation that calls for me to do the right thing“ (idem). The „situation“ is, of course, cultural and communal, and the things ethical knowledge must always already know – among them Gadamer names „justice and injustice, decency, courage, dignity, solidarity“ (idem) – are, unlike the ideas I might have by myself of something that I plan to make, dependent on my participation in a culture and community. As a consequence of this emphasis on the embeddedness of phronêsis in communal values, Gadamer’s exposition of EN VI is able to retrieve and highlight the indispensable social „modifications“ of Aristotle’s phronêsis that Heidegger, given his tendency toward the „dialog of the soul with itself“ (Sophist 263e), must pass over without mention. I refer here to sunesis, gnômê, sungnômê, and epieikeia, which is to say, the understanding, considerateness, forbearance and fairness that someone shows for someone else. To be sure phronêsis guides my own deliberation or bouleuesthai about a choice of an action I undertake, but that this bouleuesthai of mine originates in our sumbouleusthai, our taking counsel with others, is underscored here by the fact that in Aristotle’s account phronêsis is inseparable
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from sunesis or the understanding that guides my deliberation about the choice of an action that someone else undertakes. In Gadamer’s perceptive and original reading of EN 1142 b35–1143 a19 on sunesis, Verstehen or understanding thus becomes Verständnis or the understanding I show for another: „Plainly“, Gadamer writes, „one speaks of showing understanding (Verständnis) when, in passing judgment this way, one puts oneself in the fully concrete position in which the other person has to act“ (WM 306). Prerequisite here is that the one showing understanding, „wants what is right too, and accordingly, is obligated to the other person in this communality. […] Thus it is evident here too that the one who shows understanding neither thinks of himself nor judges the other from some unaffected and dispassionate stance over against himself or the other. Rather, out of a specific allegiance (aus einer spezifischen Zugehörigkeit) which binds him together with the other, he is affected and feels along with him, thinks along with him […] Those asking for counsel (Rat) just as much as those who give it assume that the other person is obligated to them as a friend.“ (WM 306)
This modulation of Verstehen to Verständnis in Gadamer’s account of sunesis takes Heidegger’s idea of Verstehen, on which Gadamer initially depends for his hermeneutic theory, in a completely new direction. We note that in sunesis, as the understanding I show for someone else, counsel and taking counsel, boulê and bouleuesthai, Rat and Mitsichzurategehen, are reopened to their communal origins and not, as in Heidegger’s reprisal of Platonism, confined to the thoughts of the self „itself by itself.“ Seen this way, the Greek middle bouleuesthai means not so much taking counsel by oneself as taking counsel for oneself, presumably from others. Gadamer supports this social interpretation of sunesis with reference to the next „modifications“ of phronêsis which Aristotle’s exposition of sunesis introduces, namely gnômê and sungnômê (EN 1143 a19–35). Gadamer renders these as Einsicht and Nachsicht, which is to say, considerateness and forbearance (WM 306). „We call people considerate (einsichtig)“, he says, „when they judge rightly and in a fair (billig) way. Thus those who are considerate are ready to let the special situation of the other stand on its own right, and hence they are also the ones most inclined to forbearance or to forgiveness.“ (WM 306)
Here Gadamer is glossing EN 1143 b19–23, and his billig or fair translates Aristotle’s epieikes. Aristotle writes, „That which is called considerateness (gnômê), and according to which we say people are well disposed to show consideration (eugnômnes) and have forbearance (sungnômê), is right judgment concerning what is fair (epieikes). A sign of this is that we say that the fair person is most forbearing (malista sungnômonikos) and that it is fair (epieikes) to show forbearance in regard to certain people.“
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We see, then, that the key to all of these applications of phronêsis in one’s relationships to others is epieikeia, fairness or what Gadamer calls Billigkeit (WM 301). But Gadamer also has another translation closer to the original sense of epi-eikein or letting up, easing off, namely nachlassen. In reference to dikastikê phronêsis or jurisprudence, and in exegesis of Aristotle’s account of epieikeia (see EN V, 1137 a31–1139 a4), Gadamer writes that „In the concrete situation, [judges] must let up (nachlassen) from a strict construction of the law“ and „in that they let up on the law (er am Gesetze nachläßt), they do not subtract from what is right, rather they find something even more right“ (301). The issue here is not „von mir aus“; it neither begins nor ends with me. Rather, my taking counsel, both for myself and with others, is about us.
III. Conclusion All along it has not been our task to pursue Gadamer’s own hermeneutical intentions. In citing Aristotle’s idea of epieikeia, for instance, Gadamer wants to show how, like phronêsis, it provides a model for interpretive, „application“ and the „accretion in being“ (Zuwachs an Sein) that results from this application rather than any diminishment (compare WM 133). Our purpose, rather, has been to display Gadamer’s openness to the communal dimensions of phronêsis or ethical discernment that Heidegger, given his focus on the withdrawn and solitary self that relates itself to itself, must overlook. In contrast to Heidegger, Gadamer sees the communal origins of the counsel, the Rat or boulê of phronêsis’s euboulia and bouleuesthai, its being well counseled and taking counsel with oneself (Mitsichzurategehen), and this enables him to move as seamlessly as Aristotle does back to the original, communal dimensions of phronêsis in the understanding, consideration, forbearance and fairness that must guide our judgment in our relationships with others. Gadamer can thus apply Aristotle in saying that all our ethical discernment, far from being founded in a „self that relates itself to itself“ by owning it ownmost self authentically, is carried out in words and speech that we have first heard from the community of others within which we always already find ourselves under way. For language is not mine but ours. I do not, this is to say, first generate my vision of what is right, decent, and good in some sort of „dialog of the soul with itself,“ and then proceed, in the second place, to name and communicate my vision to other individuals. Rather, in conversation (Gespräch) with others, in listening to them and speaking with them, we first draw on the medium of speech (die Mitte der Sprache), preexisting between us from time out of mind, in order that, in
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undergoing together where it leads us, we „reach an understanding“ of what these things are. In Gadamer there is, accordingly, a natural progression from Verstehen, first to Verständnis, and then, to Sichverständigen, from understanding, to the understanding shown for someone else, to reaching an understanding with someone else. Heideggers’s move from Plato’s dialegesthai to philosophical science is effectively reversed. Heidegger thinks of phronêsis ultimately as Gewissen or private conscience. As we learn from „Sein und Zeit“, in the call of conscience single individuals, thanks to the public world’s mere talk having falling flat and lapsed into senselessness, retrieve themselves from having been lost in the quotidian, mediocre „everybody“ (das Man). Once alone by themselves, they can experience the silent „not“ of Angst and then see the world disclosed (erschlossen) in a new way.18 For despite Heidegger’s radical break with the metaphysics of light (phôs), he perpetuates its priority of seeing over hearing. He remains, after all, a phenomenologian who wants to see how things „show themselves“ (phainontai) to someone looking at them without the distortions of traditional sedimented language that conceals rather than discloses their being. Hence, despite his announced return to the „factual“ world and his commitment to a „hermeneutics of facticity,“ to an exposition, that is, of the world as it is experienced „factually“ from within that world by someone „going about“ „taking care of things“ „there“ in cooperation with others,19 there is always in him the countervailing, and finally prevailing tendency to withdraw from our original being there together with others in community and to retreat to the separate self’s observations of what it sees by itself. In undoing this abstraction Gadamer is perhaps more radical than Heidegger and more successful in penetrating metaphysics’ intrinsic individualistic error. In a Destruktion of his own Gadamer takes down the Platonic withdrawal of the self into itself: „The speech in which something comes to be spoken of is not a possession lying at the disposal of one or the other partners in a conversation. Every conversation presupposes a common language, or better said, develops a common language. Something is set down in the midst of them [metaxu] as the Greeks say, in which the partners in the conversation participate and about which they exchange words with each other. […] In a successful conversation both partners come under the sway of the subject matter’s truth, which binds them together in a new community. To reach an understanding in conversation is not at all to play one’s trump card and force one’s own standpoint through. Rather it is the transformation of the partners into a community in which one does not remain what one was.“ (WM 360)
For Gadamer, not seeing for oneself but listening to another is the place from which we begin.
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Notes 1 Martin Heidegger, Platon: Sophistes (GA 19) (Frankfurt a. M., 1992), 21–188. Henceforth „PS.“ Throughout translations from the German and Greek will be my own. 2 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen, 1960), 290–307. Henceforth „WM.“ See also P. Christopher Smith, The Hermeneutics of Original Argument (Evanston, 1998), 38–48; n.3, 318–20; n.4, 320. 3 Gadamer, „Heideggers ‘theologische’ Jugendschrift“ in the Dilthey-Jahrbuch, Band 6, 1989, 228–34. Henceforth „HtJ.“ 4 The phrase tôn logôn autôn athanaton te kai agêrôn pathos en hêmin is from Plato’s Philebus 15d. Gadamer renders this freely but accurately as „Jenes nie alternde Widerfahrnis der Logoi“ (Gadamer, Gesammelte Werke VI [Tübingen 1985] 106). „Midst“ is one way of translating Mitte in Gadamer’s key expresssion die Mitte der Sprache; another translation would be „medium.“ See WM 432–49, „Die Mitte der Sprache und ihre spekulative Struktur“ (The Medium of Speech and its Speculative Structure). 5 This theoretical strand in Heidegger’s early work is, of course, mixed with other themes directly contradicting it, specifically the emphases on human „facticity“ and being „there“ „in the world“ „with others“ engaged in „taking care“ of practical matters. It is precisely these themes, remarkably absent in Heidegger’s exposition of EN VI but strongly emphasized in the Marburg proposal of 1922, that Gadamer will recover for his own exposition of Aristotle. 6 See the Republic X, 602c–603a. 7 Homer makes clear just why indeed there is no such thing as a private language: he shows us that language, audible speech, is not convened upon by private individuals to signify thoughts they already have but is the gift of the community that first allows the individual to think. Not cogito ergo sum is the truth of the matter, rather loquimur ergo cogito. Mark Edwards points out that there are eleven soliloquies in the Iliad and that all but one of them are „introduced by a normal verb of speaking, indicating that they are thought of as uttered aloud rather than as simply the unspoken thoughts of the character“ (Homer Poet of the Iliad [Baltimore, 1987], 96). This, of course, is completely natural for an original oral culture where private deliberation without voice would be inconceivable. For here words, as well as one’s own thoughts couched in them, are always first heard from, and spoken by, others in one’s community. As we will see, Gadamer comes much closer than Heidegger to recognizing this Ursprünglichkeit of community. 8 Just where Aristotle is headed in EN becomes clear in Book X’s definition of the best and most supremely happy human life as solitary theôria, not social praxis: „The just need those in relation to whom, or with whom, they can practice justice, and similarly, so do the temperate and the brave and each of the other [practically virtuous] ones. But the wise can also contemplate (theôrein) when they are by themselves, and the more alone, the wiser they are. Perhaps they act better having people to work with, but even so they are the most self-sufficient ones (autarkestatos)“ EN 1177 a 32–34. It is precisely this line of thought that attracts the young Heidegger’s attention and leads him also to privilege sophia over phronêsis.
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9 This solitudinous withdrawal or abstraction is marked in Sein und Zeit and manifested particularly in the dismissal of the public realm of discussion, die Öffentlichkeit. In the section, „Das alltägliche Sein des Da und das Verfallen des Daseins“ (The everyday being of the „there“ and the falling off of human existence) we find: „Is not human existence in the world as having been thrown, in the first place, having been thrown into the public realm of ‘everybody’ (die Öffentlichkeit des Man). And what else is this public realm if not the specific way ‘everybody’ sees things (die spezifische Erschlossenheit des Man)? Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen, 1960) 167. Henceforth „SZ.“ 10 See, for instance, the Topics 100a 27–31, where Aristotle distinguishes between scientific demonstration and dialectical reasoning without prioritizing one over the other: „Argument (ho sullogismos),“ he says, „is demonstration (apodeixis) whenever it is from true and primary things … An argument is dialectical on the other hand, that argues from received opinions (ex endoxôn). Indeed, far from dismissing reasoning from received opinion, the Topics, like the Rhetoric, is entirely devoted to it. See the Rhetoric 1357 a 23–33 and my discussion of this passage in HOA 53–54. Gadamer, we note, introduces Vico’s idea of the sensus communis, „der gemeinschaftliche Sinn,“ the social, shared sense or consensus, precisely in response to the Logique de Port-Royal’s, reduction of all reasoning, even about historical truth, to the model of demonstration. See WM 15–21. 11 See above on Homer’s Iliad, Bk. I, and n.7. 12 See Kierkegaard, Sickness unto Death, trans. H. Hong and E. Hong (Princeton, 1980), 13 (XI 127): „The self is a relation that relates itself to itself or is the relation’s relating itself to itself in the relation; the self is not the relation but is the relation’s relating itself to itself.“ A major part of the compelling brilliance of SZ consists in its unfolding and concretization of precisely this passage, and this is territory, it seems to me, that Gadamer consistently shies away from all the while acknowledging Heidegger’s daring in not shying away from it. To reverse the argument of this essay, there are certainly things in Heidegger to which Gadamer has no access. 13 autê kath’ hautên (Phaedo 79d); see also the Sophist 263e on „the dialog without voice within the soul addressed to the soul itself“ (ho men entos tês psychês pros hauten dialogos aneu phônês). As in Aristotle, there is also a tendency in Plato, paradoxical for the writer of dialogs, to withdraw from the dialogical situation „there“ in the world with others, and it is this strand in Platonic thought on which Gnostic Neoplatonism builds. It is pronounced in Heidegger too but non-existent in Gadamer, and herein, I think, lies the key to their different paths. 14 In SZ the call of conscience is inaudible: „Conscience speaks only and continually in the mode of keeping silent“ (SZ 273). So just what does the call of conscience disclose? Heidegger’s answer here reveals most markedly those Gnostic, Neoplatonic tendencies that separate him from Gadamer (see note 12). „Losing itself in the public realm of ‘everybody’ (die Öffentlichkeit des Man) and its chatter, listening to ‘everybody,’ it [Dasein, human existence] does not hear its own self“ (271). Hence it needs to be „brought back“ (zurückgeholt) to itself from this loss of self, and the call achieves this by making „everybody’s“ chatter fall silent in the experience of Angst (see 277). „In the call’s tending to disclose there is contained an ele-
Phronêsis, the Individual, and the Community
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ment of impact, of being disrupted and shaken up. From far away there is called into far away. The one who wills to be brought back is the one who is hit with the call“ (271). In complete dissociation of myself from the community of others, „The call comes out of me yet comes over me“ (275). We have here Heidegger’s variation on Plotinus’s „flight of the alone to the alone“ (phugê monou pros monon) (Ennead VI (9) 11, 50). 15 Compare SZ §31, „Das Da-sein als Verstehen“ (Being-there as understanding), 142–48, and §32, „Verstehen und Auslegung“ (Understanding and interpretation), 148–53, passages in SZ of singular importance for Gadamer’s development of his own hermeneutical theory. 16 Gadamer, Neuere Philosophie I, GW 3 (Tübingen 1987), 199–200. 17 See n.10 above. 18 See SZ §40, „Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“ (The basic feeling of anxiety as a special disclosure of human existence), 184–91. 19 See SZ §15 on Dasein’s Umgang mit den Dingen and Besorgen, 66–72.
Jean Grondin Gadamer und Bultmann „In der Tat, wenn ich rückblickend auf die zwanziger Jahre sagen soll, was Marburg damals war, würde der Name Rudolf Bultmann nicht fehlen […]“ Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre, 1977, 14.
I. Ein Rätsel: eine kaum dokumentierte Begegnung Bekanntlich wollte Hans-Georg Gadamer sein Opus magnum „Wahrheit und Methode“ ursprünglich „Verstehen und Geschehen“ betiteln.1 Dieser Titel erinnert freilich nicht wenig an die vierbändige Aufsatzsammlung Bultmanns: „Glauben und Verstehen“.2 Eine solche Nähe könnte als Indiz für die besondere Bedeutung von Bultmanns hermeneutischem Denken für Gadamer genommen werden. Allerdings bleibt die Beziehung zwischen Bultmann und Gadamer in gewisser Weise ein Rätsel, und sie erfuhr selten eine größere Aufmerksamkeit in der ansonsten überbordenden Literatur, die sich öfter Bultmann oder Gadamer, jedoch selten Bultmann und Gadamer widmet. Beide, Gadamer und Bultmann, sprechen nämlich viel über Hermeneutik, Interpretation, Verstehen, Heidegger, aber sehr wenig, jedenfalls in substantieller Hinsicht, voneinander. In Bezug auf Bultmann ist das auch gut verständlich: Geboren 1884, war er gegenüber Gadamer, der Jahrgang 1900 ist, der Ältere. In einem wenn auch geringen Ausmaß war er sein Lehrer, und sein Hauptwerk in der Exegese arbeitete er in einer Zeit aus, als Gadamer nicht eine dermaßen prominente Figur in der Hermeneutik war, wie er dies für uns heutzutage geworden ist. Zur Zeit Bultmanns waren die maßgebenden Bezugspersonen in der hermeneutischen Diskussion nach wie vor Schleiermacher, Dilthey und Heidegger. Trotzdem findet sich beim späten Bultmann eine Fußnote, in der er auf Gadamers „Wahrheit und Methode“ als „für den Theologen höchst bedeutsam“ zu sprechen kommt.3 Gadamers Schweigen ist mysteriöser, allerdings ebenfalls nachvollziehbar: Gadamer bewahrte immer eine Distanz, eine respektvolle Distanz gegenüber der Theologie und der Exegese als solcher. Er war sich selbstverständlich immer der theologischen Ursprünge der Hermeneutik bewusst, die man bei Augustinus oder bei Melanchthon, Flacius, Rambach, Schleiermacher und vielen anderen erkennen kann, aber er enthielt sich der Aussagen über ein Feld, in dem er seine Kennerschaft begrenzt wusste. Im Gegensatz etwa zu Paul Ricœur4 gibt es, meines Wissens, keinerlei
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Arbeiten von Gadamer, die Bibellektüren oder Interpretationen der Bibel wären. Außerdem sind in seinem Werk Bezugnahmen auf die Bibel recht selten. Dies steht in scharfem Kontrast zu dem Reichtum dichterischer und philosophischer Interpretationen in seinem Werk. Man kann sagen, dass das Kunstwerk das Modell war, auf dem Gadamer seine Hermeneutik gründete, und nicht die Exegese – wie für Bultmann oder auch Ricœur. Gadamers Distanz steht ebenfalls im Gegensatz zu Heideggers eigener, wenn auch höchst komplexer, Hingezogenheit zur Theologie. Heidegger behauptete wiederholte Male, dass er nichts zur Theologie zu sagen habe, aber wie wir wissen sprach er sich fortwährend über Theologie und was sie beschäftigen sollte aus. Gadamer ging sogar so weit, in Heideggers Philosophie als Ganzes so etwas wie eine theologische Frage zu sehen, d.h. eine Suche nach einer Sprache für die religiöse Erfahrung im Zeitalter der Technik. Heidegger war, wie er oft sagte, ein ständiger „Gottsucher“.5 Und wenn Gadamer das sagte, dann tat er es, um sich von Heidegger abzusetzen. Heidegger wurde im katholischen Glauben erzogen, er war sogar Priesteramtskandidat, bevor er zur Philosophie kam, wo er aber nach wie vor mit seiner religiösen Herkunft rang („Herkunft bleibt Zukunft“, sagte er bezüglich dieser tiefen religiösen Wurzeln im dialogischen Teil von „Unterwegs zur Sprache“).6 Im Gegensatz dazu hatte Gadamer keine tiefgehende religiöse Erziehung. Er war, wie ich in meiner Gadamer-Biographie7 in Erinnerung rief, nominell ein Protestant, aber er erhielt von seinem Vater, einem anerkannten pharmazeutischen Chemiker, eine naturwissenschaftlich orientierte Bildung, in der die religiöse Dimension eine untergeordnete Rolle spielte. Er entdeckte später, dass seine Mutter, die er bereits als Vierjähriger verlor, religiöser war, ja eine Tendenz zum Pietismus hatte, aber er konnte sich nicht an irgendeine in religiöser Hinsicht bedeutungsvolle Weitergabe von ihrer Seite her erinnern. Er beklagte es oft: „Was wäre gewesen, wenn?“ schien er zu fragen … Übrigens sagte Gadamer auch des Öfteren, und hat es auch irgendwo geschrieben: Wenn dir nicht in den ersten drei Lebensjahren ein Zugang zum lieben Gott eröffnet wird, dann wirst du ihn nie mehr haben. Er meinte es generell, aber es kann auch biographisch gelesen werden: Er hatte nicht die Möglichkeit oder die Chance, mit einer Erfahrung des Glaubens in seinen ersten Lebensjahren in Berührung zu kommen, und später konnte er selbst keinen Zugang gewinnen (bzw. ihm einer eröffnet werden). Er hatte sicherlich einen Sinn für die Erhabenheit und unaussprechliche Größe des religiösen Glaubens, aber diesen Sinn gewann er eher durch die herausfordernde Erfahrung von Dichtung und Kunstwerk. Durch Dichtung, durch die Veränderung, die sie in uns herbeiführt, stoßen wir auf eine Erfahrung der Wahrheit, die die Grenzen methodischer Wissenschaft überschreitet, aber diese Erfahrung war
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für ihn nicht spezifisch religiös oder theologisch, sondern eine der Kunst. Dennoch beschreibt er diese (ästhetische) Erfahrung nicht selten mithilfe von Begriffen, die durchaus religiös klingen8, wenn er von „Verwandlung“ spricht, oder von „Begegnung“ und „Geschehen“ usw., aber Gadamer bestand nie wirklich auf diesen religiösen Untertönen als solchen. Für ihn waren sie tatsächlich kennzeichnender für ästhetische Erfahrung, so wie er sie z. B. in der dichterischen Welt Stefan Georges entdeckte, und wenn er sie zu beschreiben versuchte, griff er auf platonisches Vokabular zurück und nicht auf biblisches, indem er von „Teilhabe“ sprach. Daher ist Gadamer entgegen allem Anschein nicht sehr nahe zum, noch auch sonderlich vertraut mit dem theologischen Diskurs: Nicht nur nimmt er so gut wie nie Bezug auf bestimmte Stellen in der Bibel, er nimmt auch nicht Stellung zu bestimmten theologischen oder exegetischen Debatten. Er wusste, dass er sich in diesem Punkt sehr von Heidegger unterschied (und natürlich von Bultmann). Freilich verwendete Heidegger große Mühe darauf zu betonen, dass Philosophie a-theistisch zu sein hat, aber wenn man sich das zu sagen gedrängt fühlt, dann wohl deshalb, weil man glaubt, dass man niemals völlig a-theistisch sein kann … Gadamer, für seinen Teil, sagte niemals, dass Philosophie atheistisch zu sein hat, weil die Frage für ihn weit weniger drängend war. Aus der Perspektive seiner Herkunft, seiner Interessen, seines Gebietes und seines eigenen Selbstverständnisses ist Gadamer von der Theologie weiter entfernt als Heidegger, wie „a-theistisch“ auch immer sich dieser gab. Gadamer zitierte auch gerne Schleiermachers Diktum, dass hermeneutische Theorie aus der hermeneutischen Praxis hervorgehen sollte. Gadamers hermeneutische Tätigkeit war nie das Gebiet der Theologie oder der Exegese, vielmehr die Philosophie, Kunst und klassische Philologie. In seiner Distanz zur Theologie wusste Gadamer auch um den Unterschied zu seinem sehr guten Freund in Marburg, Gerhard Krüger. So wie Gadamer war auch Krüger ein Schüler von Nicolai Hartmann gewesen und wendete sich Heidegger zu, aber auch Bultmann und seinem theologischen Zirkel in Marburg. Gadamer dagegen besuchte die theologischen Seminare Bultmanns in Marburg nicht.9 Er nahm lieber an Bultmanns „Graeca“ teil, dem Lesekreis, der sich jeden Donnerstag traf, um klassische griechische Texte zu studieren, die für Gadamer als klassischen Philologen von großem Interesse waren. Es war Bultmann, der ihn zu diesem Lesekreis einlud, zu einer Zeit, als Gadamers Beziehung zu Heidegger angespannt war, da Heidegger die philosophische Zukunft Gadamers in Frage gestellt hatte. Bultmann spielte also eine wichtige Rolle in der Stärkung von Gadamers Selbstvertrauen.10 Gadamer nahm an diesem Kreis fünfzehn Jahre lang teil. Aber während dieser Zeit entdeckte er in Bultmann weniger den Theologen als den leidenschaftlichen Humanisten, wie er ihn des Öfteren selbst bezeichnete.11
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II. Ein gemeinsamer heideggerscher Hintergrund Gadamers Beziehung zu Bultmann geht also nicht auf ein direktes theologisches Interesse von Seiten Gadamers zurück. Das Interesse entzündete sich eher an der Präsenz Heideggers in Marburg und in Gadamers Welt. Bevor er Heidegger kennen lernte, den er zum ersten Mal im Sommersemester 1923 traf, hatte Gadamer weder Bultmann noch dessen Marburger Zirkel während der vier Jahre seines Studiums in Marburg zwischen 1919 und 1923 besucht (übrigens will es der Zufall, dass Bultmann in Breslau von 1916 bis 1920 lehrte, wo Gadamer wohnte und seine Studien 1918/ 1919 aufnahm, allerdings besuchte Gadamer weder dessen Vorlesungen noch wusste er von ihm). Anfangs studierte Gadamer hauptsächlich bei den Philosophen Nicolai Hartmann und Paul Natorp. Seine Interessen richteten sich darüber hinaus auf die Germanistik und Kunstgeschichte, aber nicht auf Theologie. Unter dem Einfluss von Nicolai Hartmann plante Gadamer über Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“ zu arbeiten; er hatte gerade seine Doktorarbeit über Platons Begriff der Lust (1922) abgeschlossen. Höchstwahrscheinlich hätte sich Hartmann, der an einer materialen Wertethik arbeitete und unter dieser Hinsicht über Aristoteles, als Gutachter der Habilitation nahe gelegt. Aber bekanntlich gab ihm 1922 Paul Natorp die Kopie eines Manuskripts, das diesem von Heidegger als Beleg für seine Aristoteles-Studien zugegangen war. Gadamer war, so wie Paulus auf dem Weg nach Damaskus, zutiefst überwältigt. Von diesem Augenblick an war klar, dass er ein Schüler Heideggers werden würde. Sobald er sich von seiner schweren Polio-Krankheit erholt hatte, ging er nach Freiburg, um bei Heidegger zu studieren, und zwar ursprünglich die Ethik des Aristoteles. Aber was war das für ein Semester! Er besuchte Heideggers Seminar zur „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles, aber in diesem Semester las Heidegger auch über die „Hermeneutik der Faktizität“, ein – um es gelinde auszudrücken – entscheidendes Thema für Gadamer. Außerdem besuchte Gadamer in diesem Semester zwei weitere Lehrveranstaltungen von Heidegger: ein Seminar mit Julius Ebbinghaus über Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und ein Privatissimum zur aristotelischen Metaphysik. Diese beiden Seminare sprechen ebenfalls für sich, auch wenn bis heute sehr wenig davon dokumentiert ist. Es war sicherlich Gadamers erste Beschäftigung mit dem Thema Religion, das er sogleich als ein für Heidegger beherrschendes erkennen musste. Darüber hinaus drängte Heideggers zunehmendes Insistieren auf der Seinsfrage für Gadamer die Annahme auf, dass die Frage der Ethik, an der er unter der Betreuung Hartmanns gearbeitet hatte, eingebettet war in eine weitreichende ontologische Tradition, die verabschiedet (oder destruiert) werden musste, um die Dringlichkeit des Ethischen ansprechen zu
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können. Kurz: Es kann keine Ethik geben ohne Destruktion der ontologischen Tradition der Metaphysik, in deren Schatten die Ethik steht. Aber diese Tradition der Metaphysik – und das ist für unser Thema wichtiger – ist aufs Engste mit der Geschichte der christlichen Theologie verbunden: Die Ethik und Metaphysik der Griechen wurden grundsätzlich und folgenreich bei ihrer Aneignung durch die christliche Tradition transformiert. Man konnte zur griechischen Erfahrung nur durch die Zerstörung der jüdisch-christlichen Aneignung oder Verunreinigung zurückkehren. Aber die Umkehrung ist ebenfalls wahr und bleibt eine Herausforderung für die Exegese: Man kann die Besonderheit des Christentums nur herausstellen, wenn man es von der griechischen Begrifflichkeit lösen kann, in die es gefasst ist. Zweifellos große Fragen. Aber es ist Heidegger und die Begegnung mit ihm, die Gadamer vor diese Fragen stellte. Bis dahin war sich Gadamer, soweit man das beurteilen kann, dieser Verbindung zwischen der griechischen Metaphysik und der christlichen Tradition nicht völlig bewusst. Tatsächlich war es bereits in Heideggers Natorp-Essay von 1922 präsent, der von Gadamer zu dieser Zeit für brillant befunden wurde und von dem er später behauptete, dass es, nach seiner Einschätzung, die beste Arbeit war, die Heidegger jemals geschrieben habe. Als der Text schließlich 1989 gefunden und publiziert wurde, bat man Gadamer um ein Vorwort. Er überschrieb es, als wäre es geradezu selbstverständlich, mit: „Heideggers theologische Jugendschrift“. Der Titel war natürlich als Anspielung auf Diltheys Entdeckung von „Hegels theologischen Jugendschriften“ gedacht, die 1907 vom Dilthey-Schüler Herman Nohl herausgegeben wurden. Aber der Unterschied war, dass Hegels frühe Schriften ausdrücklich theologisch waren, schließlich ging es in ihnen um die Frage einer Volksreligion. Das ist so, wenigstens aufs Erste, nicht der Fall bei Heideggers frühem Manuskript, das in Wirklichkeit eine phänomenologische Interpretation von Aristoteles bietet. Außerdem ist der Titel „Heideggers theologische Jugendschrift“ für Gadamer selbst kennzeichnend, insofern er damals die Wichtigkeit der theologischen Tradition für Heidegger und auch für sich genommen entdeckte. Seit seiner Rückkehr nach Marburg im Wintersemester 1923/24 an der Seite Heideggers war sich Gadamer der theologischen Frage mehr bewusst und begann die Entwicklungen der dialektischen Theologie in Marburg gründlicher zu verfolgen. Dieses neue Interesse hat seinen Niederschlag in zumindest zwei Anekdoten gefunden, die Gadamer in seinen Schriften erwähnt. Erstens wurde er, als Heideggers Forschungsassistent, damit beauftragt, die Bücher des Thomas von Aquin herauszusuchen, und musste feststellen, dass diese in der Seminarbibliothek samt und sonders fehlten: So neu waren Heideggers Vorlieben in Marburg!12 Zweitens kommt er gleich zu Beginn seines Aufsatzes über „Die Marburger Theologie“13 (wo er übrigens wenig über die Marburger
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Theologie, dafür umso mehr über Heidegger schreibt!) auf Heideggers Diskussionsbeitrag nach einem Vortrag, den der Barthianer Eduard Thurneysen vor der „Theologischen Gesellschaft Marburg“ am 20. Februar 1924 hielt, zu sprechen.14 Nach Thurneysens Vortrag, erinnert sich Gadamer, hätte Heidegger den radikalen Zweifel Franz Overbecks bezüglich der grundsätzlichen Möglichkeit von Theologie leidenschaftlich wachgerufen und hinzugefügt, dass es die Aufgabe der Theologie sei und bleibe, die Worte zu finden, die zum Glauben aufrufen und einem im Glauben zu bleiben helfen. Dieser Auftritt Heideggers musste auf Gadamer und auf sein Verständnis von Heideggers Fragen einen großen Eindruck gemacht haben. Gadamer besuchte diese theologischen Vorlesungen, und er wusste von Heideggers Freundschaft und geistiger Verwandtschaft mit Bultmann, aber er weist sorgsam darauf hin, dass er für sich nicht in Anspruch nehmen durfte, „ein kompetenter Zuhörer bei diesen Begegnungen gewesen zu sein – es war erst später, dass ich meine eigenen theologischen Studien vertiefte und von Bultmann lernte“15. Worin bestanden diese weiterführenden „theologischen Studien“, und was lernte Gadamer eigentlich von Bultmann? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es wenig Dokumentation. Weder gibt es einen direkten Hinweis auf Gadamers „theologische Studien“, noch sind sie – abgesehen von den allgemein gehaltenen Hinweisen in seinen späteren Schriften (wo viel öfter von dem gewaltigen Eindruck berichtet wird, den Barths „Römerbrief-Kommentar“ machte)16 – dokumentiert. Aus Interesse an der hermeneutischen Frage heraus wird Gadamer wohl der allgemeinen Entwicklung der dialektischen Theologie durch seine Diskussionen mit Bultmann und Krüger17 gefolgt sein, wie sie in den „Graeca“ stattfinden mochten. Aber Gadamer publizierte damals nie eine Arbeit zur dialektischen Theologie, in deren Nähe er seine ersten Lehrerfahrungen sammelte. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass Gadamer seine „theologischen Studien“ intensivierte, nachdem Heidegger 1928 von Marburg nach Freiburg ging.18 Er blieb dann für weitere elf Jahre in Marburg bis zu seiner Berufung nach Leipzig im Jahr 1939. Der Meister war nach Freiburg gegangen, aber er ließ seine „Schule“ in Marburg zurück, die aus den Privatdozenten Gadamer, Gerhard Krüger, Karl Löwith und Erich Frank, dem Nachfolger Heideggers, bestand. Auf diese Schule musste, gerade nach dem Weggang Heideggers, ein Mentor und eine Autorität von der Gestalt Bultmanns einen Einfluss haben. Als Bultmann den ersten Band von „Glauben und Verstehen“ 1933 veröffentlichte, widmete er ihn Heidegger (auch wenn es nicht Heideggers bestes Jahr war …). Leider ist nur wenig über die Beziehung Gadamers zu Bultmann in diesen Jahren bekannt, aber Gadamer scheint dem Bultmann-Kreis nahe geblieben zu sein. Sein Vortrag über „Plato und die Dichter“ (1934 veröf-
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fentlicht) wurde ursprünglich am 24. Jänner 1934 vor der „Gesellschaft der Freunde des Humanistischen Gymnasiums“, der Bultmann vorstand, gehalten. In späteren Jahren nahm er regelmäßig an den Treffen der „Theologischen Arbeitsgemeinschaft alter Marburger“ teil, wo die ehemaligen Studenten Bultmanns zusammenkamen.19 Es ist auch bekannt, dass Gadamer einige seiner Vorarbeiten zu „Wahrheit und Methode“ in den fünfziger Jahren in theologischen Zirkeln präsentierte, die der Schule Bultmanns verpflichtet waren, so als ob eine Atmosphäre der Vertrautheit in dieser Schule herrschte.20 Gadamer lieferte zweimal Beiträge zu Festschriften für Bultmann, einmal mit einer Arbeit über „Prometheus und die Tragödie der Kultur“, erschienen 1949,21 ein zweites Mal mit „Martin Heidegger und die Marburger Theologie“, einem Beitrag zur Bultmann-Festschrift 1964 zum 80. Geburtstag.22 Bultmann lieferte seinerseits, aus welchen Gründen auch immer, keinen Beitrag zur Gadamer-Festschrift 1960: „Die Gegenwart der Griechen“23. Das ist angesichts des Titels des Bandes überraschend, aber auch angesichts der Tatsache, dass Heidegger mit dem Aufsatz „Hegel und die Griechen“ präsent war. Die geistige Verwandtschaft zwischen Bultmann und Gadamer war andrerseits über jeden Zweifel erhaben. Beide waren, sowohl intellektuell als auch persönlich, Heidegger nahe und wurden, zutreffend, zu seiner Schule gerechnet. Darüber hinaus hatten beide denselben Verleger in Tübingen: Mohr/Siebeck. Weiters hatten die beiden die Ehre, Deutschlands höchste wissenschaftliche Auszeichnung, den Ordre pour le mérite (Bultmann 1969, Gadamer 1971) zu erhalten. Beide hätten davon geträumt, diese höchste Auszeichnung mit Heidegger zu teilen, aber es gelang ihnen nicht, ihre Kollegen im Orden zur Ehrung des politisch verfemten Heidegger zu überzeugen. Zweifellos gab es zwischen Gadamer und Bultmann einen wechselseitigen Austausch, gegenseitigen Respekt, sicherlich ein Gefühl der Verbundenheit und vielleicht sogar eine Freundschaft.24 Trotz Gadamers respektvoller Distanz gegenüber theologischen Fragen ist es offensichtlich, dass Bultmann und Gadamer einen tiefgehenden gemeinsamen Hintergrund teilten, der in ihrem „Heideggerianismus“ wurzelte und auch in ihrem tiefen Humanismus, der von der griechischen Antike inspiriert war (ein Humanismus freilich, den Heidegger natürlich mit einem kritischeren Auge sah). Wie kann man ihr philosophisches oder intellektuelles Verhältnis verstehen? Ich glaube nicht, dass man von einem bedeutsamen Einfluss Gadamers auf Bultmann sprechen kann. Aber gibt es einen Einfluss Bultmanns auf Gadamer? Das ist wahrscheinlicher, wenngleich ebenfalls schwer auszumachen.
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III. Gadamers Bultmann-Interpretation: Der Schwerpunkt auf dem Begriff des Selbstverständnisses Wenn man genauer hinsieht, finden sich bei Gadamer keine regelrechten Arbeiten zu Bultmanns Werk. Darunter verstehe ich gelehrte Abhandlungen, die eingehender die Veröffentlichungen Bultmanns und die darauf aufbauende Literatur analysieren würden. Ausdrückliche Bezugnahmen auf Bultmanns Arbeiten sind tatsächlich recht selten bei Gadamer. Der einzige Aufsatz, der sich Bultmann widmet, trägt den Titel „Zur Problematik des Selbstverständnisses“ (1961), und auch dort findet sich keine ausdrückliche Bezugnahme auf Bultmanns Arbeiten, sondern nur eine vage Anspielung auf den Aufsatz25, der die Debatte um die „Entmythologisierung“ auslöste. Es geht Gadamer in diesem Aufsatz und auch sonst darum, dass der explosive Begriff der Entmythologisierung weitgehend als ein Begriff der modernen Aufklärung missverstanden wurde, der die Reinigung des Neuen Testaments von seinen mythischen oder mythologischen Elementen fordern würde, um für den modernen Menschen glaubwürdig zu bleiben. Gadamer begegnet dieser weit verbreiteten Lesart, indem er eher die „unmoderne“ Seite des Begriffs „Selbstverständnis“ hervorhebt, dem sich der Aufsatz von 1961 widmet. Dabei handelt es sich um eine wichtige, selbständige Arbeit. Schließlich dürfte es die erste philosophische Arbeit gewesen sein, die Gadamer nach „Wahrheit und Methode“ verfasst hatte (im Band 2 der Gesammelten Werke ist es tatsächlich die erste „Ergänzung“ zu „Wahrheit und Methode“). Gadamer behauptet, dass der Begriff des Selbstverständnisses Bultmanns Grundbegriff sei.26 Gadamer will dabei zeigen, dass sich der Begriff nur im Gegensatz zur idealistischen Auffassung von Selbstverständnis, die auf einen Selbstbesitz des Subjektes durch Reflexion hinausläuft, verstehen lässt. Selbstverständnis, wie Gadamer es versteht, meint nicht eine Beherrschung seiner selbst aufgrund der Durchsichtigkeit des Begriffs, sondern vielmehr die Erfahrung des Scheiterns27 eines solchen Verfügens über sich selbst im Prozess des Selbstverstehens. Es ist weniger ein bewusster Vorgang als vielmehr etwas, das einem im Ereignis des Verstehens geschieht.28 Das stellt eine überaus wichtige Einsicht für Gadamers Hermeneutik dar, wie wir alle wissen. Freilich ist es offensichtlich, dass Gadamer aus dieser Erfahrung keinerlei fideistische Schlussfolgerungen zieht, wie das Bultmann tat. Für Bultmann führt diese Unmöglichkeit der Selbstverfügung zur Umkehr bzw. ist sie diese Umkehr, die sich in einem Ruf ereignet oder – genauer – im Hören des Rufes der Verkündigung.29 Gadamers Anliegen dabei ist kein theologisches, sondern ein phänomenologisches: Er besteht auf dem Ereignischarakater des Verstehens, das er mit seinem eigenen Begriff des
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„Spiels“30 als eines „Hineingenommenseins“ in ein Ereignis beschreibt, das die Subjektivität und ihr Verständnis ihrer selbst überwältigt. Aus seiner Reserve diesen Themen gegenüber enthält sich Gadamer auch der Feststellung, ob denn Bultmanns Begriff des Selbstverständnisses der christlichen Verkündigung entspricht oder nicht. Während er betonen würde, dass es sich dabei um eine „dogmatische“ Frage handelt, die allein die Kirche betrifft, würde er zweifellos zustimmen, dass hier eine Übereinstimmung mit der protestantischen Betonung der Erlösung allein durch den Glauben (Röm 1,17) anklingt. Während bei Bultmann der „Verlust des Selbstbesitzes“31 zum Glauben führt, d. h. zu einem Hören auf den Ruf zu Eigentlichkeit, führt er bei Gadamer zu einem besseren Verständnis von Verstehen, das dessen Geschehenscharakter hervorkehrt (deshalb auch der geplante Titel des Werkes: „Verstehen und Geschehen“). Verstehen ist kein Verfügen über Sinn oder über einen selbst, sondern es ist ein Teilnehmen an einem Geschehen, das uns durch das Erschüttern unserer Selbstzufriedenheit verändert.32 Unter dieser Perspektive hat Gadamer keine Schwierigkeiten, den Begriff Entmythologisierung aufzunehmen. In seinen Augen handelt es sich dabei um nichts Aufregendes, da er schließlich bloß ausdrückt, „was in der exegetischen Arbeit seit langem geschah“33; und, möchte man hinzufügen, was in jedem Ereignis von Verstehen geschieht, insoweit gilt, „daß Verstehen Übersetzen in die eigene Sprache sein muß, wenn es wirklich Verstehen sein soll“34. Der Vorgang des Verstehens involviert immer auch die Person, die versteht, und ist deshalb eine Übersetzung oder, wenn man es provokativ formulieren will, „Entmythologisierung“. Gadamer will also vor einer rein positivistischen Lesart dieser hermeneutischen Grundforderung warnen. Gadamer ist der Auffassung, dass der Ausdruck Entmythologisierung vielleicht nebensächlich und rein zufällig war (was sicherlich diskutabel ist).35 Gemäß Gadamer ist er gezielt gegen die moderne Aufklärung gerichtet, insofern es hier um eine radikale Infragestellung der Vorstellung von Selbstbesitz und Selbstdurchsichtigkeit geht. Darin würde Bultmann mit Heideggers Kritik an der modernen Subjektivität36 übereinkommen und an ihrem Anspruch, Prinzip zu sein. Folgt man Gadamers Lesart von Bultmann und Heidegger, dann kommt es zu wahrem Selbstverständnis nur, wenn Subjektivität diesen Anspruch aufgibt. Um es pointierter und paradox zu formulieren: Selbstverständnis ereignet sich mit der Anerkennung der Unmöglichkeit von Selbstverständnis. In einem längeren Literaturbericht aus demselben Jahr, 1961, „Hermeneutik und Historismus“, wo neuere Veröffentlichungen zur Hermeneutik diskutiert werden, zieht Gadamer eine weitere Folgerung aus dieser Auffassung von Selbstverständnis, die selten in der Diskussion um sein Werk
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Beachtung fand. Wenn sich wahres Selbstverständnis allein in der Anerkennung der Endlichkeit des Verstehens ausdrückt, dann wird diese Endlichkeit, so Gadamer, zu einer Öffnung des jeweils eigenen Horizontes führen. Selbstverständnis, hermeneutisch als eine Kritik des jeweils eigenen Selbstverständnisses und der jeweiligen Sicherheit in solchem Verständnis aufgefasst, wird Hand in Hand mit einer Zerstörung der jeweils eigenen Vorurteile gehen. Hermeneutisches Selbstverständnis verspricht so ein Überwinden – oder wenigstens ein Aufbrechen – von jeweils eigenen Befangenheiten in Vorurteilen. Die maßgebende Passage in „Hermeneutik und Historismus“ lautet: „Selbstverständnis soll eine geschichtliche Entscheidung meinen und nicht etwa verfügbaren Selbstbesitz. So hat Bultmann immer wieder betont. Es ist daher ganz abwegig, den Begriff des Vorverständnisses, den Bultmann gebraucht, als Befangenheit in Vorurteilen zu verstehen, als eine Art Vorwissen. In Wahrheit handelt es sich um einen rein hermeneutischen Begriff, den Bultmann, durch Heideggers Analyse des hermeneutischen Zirkels und der allgemeinen Vor-Struktur des menschlichen Daseins angeregt, ausgebildet hat. Er meint die Öffnung des Fragehorizontes, in dem Verstehen allein möglich ist, aber er meint nicht, dass das eigene Vorverständnis durch die Begegnung mit dem Worte Gottes (wie übrigens mit jedem anderen Wort [eine sehr wichtige Hinzufügung für Gadamers eigene Auffassung von Verstehen!, J.G.]) nicht korrigiert werden könne. Im Gegenteil, es ist der Sinn dieses Begriffes, die Bewegung des Verstehens als solche Korrektur sichtbar zu machen.“37 Diese Passage ist sehr wichtig, macht sie doch ein Moment deutlich, das in der Rezeption der gadamerschen Hermeneutik oft übersehen wurde. Die Befangenheit in den eigenen Vorurteilen wird üblicherweise als das Element gesehen, das Gadamer betonen möchte, wenn er Vorurteile als Bedingungen des Verstehens in Anschlag bringt (wie die Überschrift eines wichtigen Abschnitts in „Wahrheit und Methode“ zu erkennen gibt)38. Die subtilere Auffassung von Selbstverständnis, wie es in den zwei Aufsätzen von 1961 entwickelt wird, erlaubt es, diese einseitige Lesart zu korrigieren. Ein Verstehen, das sich der Grenzen seines eigenen Verstehens bewusst ist, also ein hermeneutisch geschultes Verstehen, wird sich eher durch andere Perspektiven herausfordern lassen. Der Vorgang des Verstehens wird dann als eine ständige Selbstberichtigung erscheinen. Freilich kann man sich fragen, ob diese Selbstkorrektur vollständig sein kann und ob solch eine ständige Selbstkorrektur immer möglich ist. Das ist die treffende, kritische Frage, die ein scharfsinniger Kommentator, Claus von Bormann, an Gadamer 1969 in seiner Arbeit über „Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung“ richtete.39 Ist es nicht so, dass die Wirkungsgeschichte immer schon im Voraus vorzeichnet, was wir als gültig anerkennen können, und so das Ausmaß unserer Offenheit begrenzt?
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Tatsächlich eine gute Frage. Aber es war eine andere Debatte, die Gadamer in Anspruch nahm und die sich entzündete, als er Bultmanns Auffassung von Selbstverständnis als eine gründliche Selbstkorrektur des Verstehens diskutierte. Auf sie wurde angespielt in dem Passus, der unmittelbar nach der Charakterisierung des Verstehens als einer Selbstkorrektur folgt: „Daß diese ‘Korrektur’ im Falle des Anrufs des Glaubens eine spezifische ist, die nur der Formalstruktur nach von hermeneutischer Allgemeinheit ist, wird zu beachten sein.“40
IV. Die Debatte zwischen Gadamer und Bultmann über die Rolle des Glaubens in der biblischen Hermeneutik Indem er betont, dass die Situation des Glaubens eine spezifische Aufgabe für die (theologische) Hermeneutik darstellt, stellt Gadamer eine Behauptung auf, die zwischen ihm und Bultmann umstritten ist. Tatsächlich ist dies der einzige Punkt, der überhaupt zu einer Konfrontation zwischen den beiden Denkern geführt hat.41 Die Frage wurde bereits ein Jahr zuvor in „Wahrheit und Methode“ angeschnitten, als Gadamer Anregungen aus der juristischen und theologischen Hermeneutik bezog, um das applikative Element des Verstehens zu betonen, d. h. die Idee, dass Verstehen immer schon Anwendung einschließt, d. h. eine Übersetzung in die eigene Situation fordert. Trotz der sehr wichtigen Gemeinsamkeit mit der theologischen Hermeneutik in dieser Hinsicht nutzt Gadamer die Gelegenheit, um sich von Bultmann in einer sensiblen Frage zu distanzieren. In seinem wichtigen Aufsatz „Das Problem der Hermeneutik“ (1950) hatte nämlich Bultmann behauptet: „Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur.“42 Man würde erwarten, dass ein durchaus säkularer Autor wie Gadamer damit übereinstimmen würde. Dem ist aber nicht so, und zwar deshalb, weil nach Gadamer die Situation des Glaubens eine besondere ist. Gadamer findet Bultmanns Prinzip zweideutig. Es ist unproblematisch, argumentiert Gadamer, wenn Bultmanns Behauptung bloß darauf hinausläuft, dass jedes Verstehen eine Beziehung zur im Text behandelten Frage voraussetzt, oder wie Bultmann sagt, dass die „Voraussetzung des Verstehens das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache ist, die im Text – direkt oder indirekt – zu Worte kommt“.43 Das ist eine universale Voraussetzung, sowohl für Gadamer als auch für Bultmann. Aber Gadamer fragt sich, ob die Situation der Bibel-Interpretation nicht noch anders ist. „Nun fragt es sich aber, was hier ‘Voraussetzung’ heißt. Ist sie mit der menschlichen Existenz als solcher gegeben? Besteht ein vorgängiger Sachbezug
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auf die Wahrheit der göttlichen Offenbarung in jedem Menschen, weil der Mensch als solcher von der Gottesfrage bewegt ist? Oder muss man sagen, dass erst von Gott aus, das heißt, vom Glauben her, die menschliche Existenz sich in diesem Bewegtsein von der Gottesfrage erfährt?“44 Gemäß Gadamer lässt sich die Vorstellung, dass man durch die Gottesfrage oder den Glauben bewegt ist, nicht verallgemeinern. Das sei vielmehr spezifisch, ja sogar kennzeichnend für die theologische Hermeneutik als solche: „Dann aber wird der Sinn von Voraussetzung fraglich, den der Begriff des Vorverständnisses enthält. Diese Voraussetzung gilt offenbar nicht allgemein, sondern nur vom Standpunkt des rechten Glaubens aus.“45 Gadamer scheint hier anzunehmen, dass ein Gläubiger die Bibel doch anders als ein Nichtgläubiger lesen und interpretieren wird. Gadamer spielt auf das Beispiel vom Marxisten an, der in allen religiösen Ausdrücken nichts als die Widerspiegelung sozioökonomischer Faktoren sehen will.46 Es könnte aber auch sein, dass Gadamer dabei indirekt auch Bezug nimmt auf seine eigene Situation als die eines zwar einfühlsamen Lesers der Bibel, die aber nicht die Situation des Gläubigen sei, der im Wort der Bibel Heil sucht und findet. Deshalb schließt Gadamer: „Das existentiale Vorverständnis, von dem Bultmann ausgeht, kann nur selbst ein christliches sein.“47 Ironischerweise ist es der Philosoph, der hier für die Besonderheit der Glaubensfrage eintritt, während der Theologe Bultmann auf der Allgemeinheit des Vorverständnisses besteht, das in der Bibelhermeneutik auf dem Spiel steht! Es ist interessant zu sehen, dass Bultmann selbst – wenngleich sehr kurz – in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1963 auf Gadamers Kritik antwortete, wo er Gadamers Buch als ein „für den Theologen höchst bedeutsames“ anpries. Er fasst korrekt zusammen: „Nun hat H.-G. Gadamer in seinem für den Theologen höchst bedeutsamen Buch Wahrheit und Methode, 1960, 313f. (im Zusammenhang des Problems der Hermeneutik) bestritten, daß von einem Vorverständnis für das Verständnis der biblischen Schriften die Rede sein könne, – von einem Vorverständnis nämlich, das in der Bewegtheit der menschlichen Existenz durch die Gottesfrage gegeben ist.“ Bultmann antwortet darauf kurz, aber treffend: „Ich meine, daß das Vorverständnis gerade in jener Erfahrung gegeben ist, die Gadamer als die ‘eigentliche Erfahrung’ bezeichnet, die Erfahrung nämlich, in der ‘sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird’ (339 f.). Diese Erfahrung ist gewiß nicht stets realisiert, aber sie besteht doch als beständige Möglichkeit.“48 Es ist erhellend zu beobachten, dass Bultmann auf Gadamer antwortet, indem er Gadamer selbst ins Spiel bringt, namentlich das, was Gadamer wahre Erfahrung nennt, d. h. das Bewusstsein der menschlichen Endlichkeit. Das ist die Endlichkeit, die, so Bultmann, mitgemeint ist mit
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seiner Auffassung von Vorverständnis oder, wie Gadamer es ausdrücken würde, Selbstverständnis. Ich glaube, Bultmann macht hier einen sehr wertvollen Vorschlag, der die Kluft zwischen ihm und Gadamer überbrücken hilft. Die grundlegende Erfahrung ist für Bultmann nicht spezifisch christlich oder die Vorstellung des Glaubens als solchen, es ist auch die erschütternde Erfahrung der Endlichkeit. Um es mit Augustinus zu sagen: Es ist die Erfahrung, dass die menschliche Existenz für sich selbst eine Frage ist und bleiben wird und dass sie sich nicht selbst begründen kann. Das ist wahrhaftig eine allgemeine Erfahrung. Gadamers einziger Streitpunkt ist nur, ob das die „Gottesfrage“ genannt werden muss. Aber Bultmann scheint selber nicht darauf zu insistieren und mit Gadamer übereinzukommen, wenn er Gadamer selbst gegen Gadamer aufruft: Vielleicht ist nicht jeder durch die Gottesfrage bewegt, oder den Glauben, aber jedes endliche menschliche Wesen bleibt sich selbst eine Frage. Aus dieser Perspektive kann die Frage, ob die Voraussetzung der biblischen Exegese die „Gottesfrage“ oder die spezifische Situation des Glaubens ist, von der Perspektive beider Denker aus als reiner Wortstreit angesehen werden. Die tatsächliche Differenz liegt vielleicht woanders. Bultmann interpretiert – in der Nachfolge Heideggers – diese Anerkennung der Endlichkeit als einen Ruf zur Eigentlichkeit. Gadamer, auch wenn er, bezeichnenderweise, in der von Bultmann zitierten Passage von „eigentlicher Erfahrung“ spricht, liest diese Erfahrung ein wenig anders. Die „eigentliche Erfahrung“ liegt für Gadamer in dem Umstand, dass der Mensch sich seiner Endlichkeit bewusst wird. Das ist vielleicht für Bultmann nicht genug (oder selbst für den Heidegger von „Sein und Zeit“ nicht): Diese Erfahrung der Endlichkeit, wie immer eigentlich oder ursprünglich sie auch ist, muss als ein Ruf zu oder hin zu eigentlicher Existenz gehört werden. Auch wenn das bei Gadamer nicht völlig fehlen mag, so erscheint diese Dimension doch nicht zentral in seiner Lesart. Man hat oft dieses Verschwinden des „Ideals“ der Eigentlichkeit in Gadamers Hermeneutik bemerkt, die viel weniger eine „Hermeneutik der Existenz“, der Faktizität ist als eine hermeneutische „Phänomenologie des Verstehens“, die auf der Erfahrung von Kunst und den Geisteswissenschaften aufruht, wie ich das anderswo gezeigt habe.49 Darin liegt eine echte Differenz, wenngleich sie von Gadamer oder Bultmann in diesem Zusammenhang unerwähnt bleibt. Dennoch ist sie wichtig. Es erhebt sich auch die Frage, wer denn Heidegger wirklich näher sei. Wie wir sehen werden, nimmt Gadamer in Anspruch, das Ganze des heideggerschen Denkwegs angemessener in Betracht zu ziehen. Dennoch ist es erstaunlich, dass Gadamer die Frage der Eigentlichkeit, die für Bultmann maßgebend ist, beiseite lässt. In dem Maße, in dem dies auch für
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Heideggers „Sein und Zeit“ maßgebend ist, wird man zu schließen haben, dass wenigstens diesbezüglich, also die Stellung der Eigentlichkeit in der menschlichen Existenz betreffend, Bultmann vielleicht Heidegger näher war. Wahrscheinlich wäre hier Gadamer versucht gewesen, darauf hinzuweisen, dass es vielleicht Heidegger war, der nie aufgehört hätte, Christ zu sein, wenn er die Frage der Eigentlichkeit so in den Vordergrund stellte, die aber nicht als eine allgemeine Voraussetzung von Hermeneutik ausgegeben werden sollte.
V. Lässt Gadamer dem Beitrag Bultmanns zur Hermeneutik Gerechtigkeit widerfahren? Im Ganzen (oder vielleicht nicht gänzlich, wie wir sehen werden) ist es ein anderes Problem, mit dem ich meine Diskussion von Gadamers Verhältnis zu Bultmann beschließen möchte. Es ist nämlich die Frage, ob Gadamer dem Beitrag Bultmanns zur Hermeneutik im Allgemeinen Gerechtigkeit widerfahren lässt. Zweifellos hegte Gadamer eine sehr große Bewunderung für die wissenschaftliche Leistung Bultmanns. In seinem Nachruf von 1977 pries Gadamer wiederholt die Redlichkeit des Gelehrten. Bultmann blieb für Gadamer immer ein herausragender, ein schulbildender Philologe, ein Denkmal gelehrter Existenz.50 Diese Bewunderung war aufrichtig. Es gibt aber, wie wir gesehen haben, in seinem Werk sehr wenige Arbeiten zu Bultmann oder zu seiner Konzeption von Hermeneutik. Gadamer sah in Bultmann niemals einen wirklichen Vorgänger auf seinem Weg zur Hermeneutik. Er scheint sogar, hin und wieder, Bultmanns Beitrag zur Hermeneutik eher herunterzuspielen oder auch verzerrt darzustellen. Gadamer neigte nämlich oft dazu, Bultmann in die Hermeneutik-Tradition Diltheys zu stellen, die er mit seiner mehr an Heidegger angelehnten Auffassung von Hermeneutik zu überwinden hoffte. Als er 1976 eine Textsammlung zur Hermeneutik mit seinem Schüler Gottfried Boehm veröffentlichte, berücksichtigte er Bultmanns Aufsatz über „Das Problem der Hermeneutik“ (1950)51, aber er rubrizierte ihn unter der „Dilthey-Schule“. Bezeichnenderweise kam der Text nicht in der darauf folgenden Abteilung „Philosophische Hermeneutik“ zu stehen, wo Gadamer Abschnitte von Heidegger (die Paragraphen 31 bis 33 aus „Sein und Zeit“), Hans Lipps und Eigenes veröffentlichte. Man gewinnt den Eindruck, Gadamer sah in Bultmann eher den Anhänger Diltheys als Heideggers.52 Das ist nicht nur deshalb etwas unfair, weil Bultmann natürlich seine Verbundenheit zu Heidegger sehr deutlich zum Ausdruck brachte, sondern auch und vor allem, weil er eine ausgesprochene Kritik an Dilthey in
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diesem Aufsatz von 1950 entfaltete, die viel vorwegnahm von der Kritik an Dilthey, wie sie Gadamer in „Wahrheit und Methode“ 1960 vornahm! Wenn Bultmann in dem Aufsatz von 1950 das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache des Textes betonte, tat er das mit Betonung, um dem Gewicht, das Schleiermacher und Dilthey der Person des Autors zugemessen hatten, entgegenzuwirken. Zu Unrecht hätten Schleiermacher und Dilthey dem „Nachvollzug der seelischen Vorgänge, die sich im Autor vollzogen haben“, den Vorrang in der Hermeneutik zuerkannt, als ob Verstehen nicht mehr wäre als das Versetzen „in den inneren schöpferischen Vorgang“.53 Bultmann sah also – vor Gadamer – sehr deutlich, dass Verstehen weniger ein Hineinversetzen als ein Teilnehmen am Sinngeschehen ist. „Platon versteht nur“, schrieb Bultmann, „wer mit ihm philosophiert.“54 Bultmann spricht diesbezüglich von einem „teilnehmenden Verstehen“.55 Und natürlich ist es für Bultmann ein Teilnehmen an den Möglichkeiten der Existenz, die der Text offen legt und die ich aus der Tatsache heraus verstehe, dass auch ich durch die Frage nach dem Sinn der Existenz umgetrieben bin. Man kann diesbezüglich in Bultmann doch deutlich einen Vorläufer von Gadamers Auffassung des Problems der Hermeneutik sehen. Bultmann war auch ein wichtiger Vorläufer dahingehend, dass er, meines Wissens, der Erste war, der Heideggers existentiale Auffassung von Verstehen56 auf die traditionellen Fragen der Hermeneutik, also auf die Frage der Textinterpretation, anwendete. Es ist gut bekannt, dass Heideggers Hermeneutik der Existenz mit der traditionellen Fokussierung der Hermeneutik auf Textinterpretation bricht.57 Selbst wenn Heidegger die herkömmlichen Ausdrücke Verstehen und Auslegung verwendet, versteht er sie in einer ausschließlich existentialen Weise, nämlich überhaupt nicht in Bezug auf Textauslegung: Verstehen ist die Art und Weise, wie Dasein sich zurechtfindet dadurch, dass es sich auf etwas versteht, während Auslegung nicht die Interpretation eines Textes meint, sondern das Herausstellen der Existenzmöglichkeiten vollzieht, die in diesem Verstehen der Existenz miteinhergehen, mit Blick auf deren Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit. Traditionelle Hermeneutiker haben oftmals darauf hingewiesen, dass dies einen Bruch mit der traditionellen Hermeneutik darstellt. Gadamer sah es als seine Aufgabe an, am Beispiel der Geisteswissenschaften die Kluft zwischen Heideggers existentialer Hermeneutik und dem herkömmlichen Schwerpunkt der Hermeneutik auf Textinterpretation zu überbrücken.58 Das war in der Tat Gadamers große Leistung, aber er hatte hier zweifelsohne in Bultmann einen Vorläufer. Wie wir gesehen haben, kann Bultmann als Heidegger näher gesehen werden als das Gadamer war, insofern er die heideggersche Betonung der Eigentlichkeit beibehielt, während dies in Gadamers Hermeneutik der
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Geisteswissenschaften unterbetont bleibt. Dieses Verständnis von eigentlicher Existenz ist in Bultmanns Aufsatz „Das Problem der Hermeneutik“ (1950) recht wichtig: Wenn Verstehen immer ein teilnehmendes Verstehen ist, dann deshalb, weil es betroffen ist von den Existenzmöglichkeiten, die der Text eröffnet: „und sie erschließen solchem teilnehmenden Verstehen das menschliche Sein in seinen Möglichkeiten als den eigenen Möglichkeiten des Verstehenden.“59 Solch eine Formulierung würde Gadamer vermutlich zu existentiell vorgekommen sein. Eines ist aber sicher: Hier handelt es sich um keine Formulierung des hermeneutischen Problems, die man in die Tradition Diltheys stellen kann, aber eindeutig in die von Heidegger. Gadamer hat freilich seine Gründe, das Heideggerische an Bultmanns Hermeneutik herunterzuspielen. Er glaubt, wie er gelegentlich andeutet, dass Bultmann der (transzendentalen) Auffassung von Verstehen zu nahe geblieben sei, die Heidegger in „Sein und Zeit“ präsentiert hatte. Deshalb sei es Bultmann vielleicht nicht gelungen, Heideggers Weg60 als Ganzes zu umfassen. Das hätte es ihm vielleicht erlaubt, weiter reichende theologische Schlussfolgerungen zu ziehen. Gemäß Gadamer verabsäumte es Bultmann, das Denken des späten Heidegger zu berücksichtigen, das Bultmann immer für irgendwie rätselhaft hielt. Nach Gadamer handelte es sich aber um ein Denken, das für die Theologie sehr aufschlussreich sein könnte, ging es doch in ihm um die Suche nach einer angemessenen Sprache, um das Göttliche auszudrücken. Nach Gadamer waren es Bultmanns Schüler (Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling), nicht Bultmann selbst, die in dieser Hinsicht dem späten Heidegger folgten und so das hermeneutische Problem radikalisierten.61 Es trifft zu, dass Bultmann immer dem Heidegger von „Sein und Zeit“ verbunden blieb. In diesem Werk begrüßte er einen neutralen und tatsächlich transzendentalen Rahmen, in dem die Begrifflichkeit zum Verständnis der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz entfaltet wurde, einen Rahmen, den der Theologe voraussetzen und in seiner existentialen Interpretation verwenden konnte. Diese Rezeption Heideggers war für Gadamer viel zu naiv. Nicht nur dass hier eine scholastisch anmutende „Arbeitsteilung“ zwischen dem Philosophen und Theologen vorausgesetzt wurde, vor allem aber blieb das transzendentale Selbstverständnis aufrechterhalten, das Heidegger selbst als Folge seiner Kehre aufgegeben hat. Vielleicht war es diese Naivität auf Bultmanns Seite, die Gadamer dazu veranlasste, Bultmann der Tradition Diltheys zuzuschlagen und – bis zu einem gewissen Grad – seinen wertvollen Beitrag zur philosophischen Hermeneutik zu übersehen. Aber man sollte nicht vergessen, dass Bultmann in mancher Hinsicht, vor allem in seiner Betonung der Eigentlichkeit, Heidegger näher war als
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Gadamer. Aus einer von Bultmann und von Heidegger inspirierten Perspektive war es vielleicht das Herunterspielen dieser Dimension der eigentlichen Existenz im Werk Gadamers und sein Hervorheben der besonderen Erfahrung von Wahrheit in den Geisteswissenschaften, das mehr an Dilthey gemahnte. Schließlich kann man sagen, dass beide Denker, Bultmann und Gadamer, gewiss einen gemeinsamen heideggerschen Hintergrund teilten, aber vielleicht war das kein gemeinsamer Hintergrund, und vielleicht auch kein gemeinsamer Heidegger. Übersetzt von Michael Hofer
Anmerkungen H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke [GW], 10 Bde., Tübingen 1985 ff., 75. R. Bultmann, Glauben und Verstehen, 4 Bde., 4. Aufl. Tübingen 1993. Der erste Band erschien 1933, der zweite 1952, der dritte 1961 und der vierte 1965. 3 Vgl. R. Bultmann, „Der Gottesgedanke und der moderne Mensch“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 60 (1963), in: Glauben und Verstehen, Bd. 4, Tübingen 1965, 4. Aufl. 1993, 120: „[…] in seinem für den Theologen höchst bedeutsamen Buch.“ Aber wie wir unten sehen werden, macht der ganze Abschnitt deutlich, dass Bultmann gegenüber Gadamer durchaus kritisch ist. 4 Vgl. dazu neuerdings P. Ricœur, L’Herméneutique biblique, Paris 2000 und P. Ricœur/A. LaCocque, Penser la Bible, Paris 1999. 5 Vgl. z. B. seine Studien „Die religiöse Dimension“ und „Sein Geist Gott“, in: Heideggers Wege, Tübingen 1983, jetzt in GW 3; als auch den Dialog in Gadamer Lesebuch, Tübingen 1997, 293. 6 Vgl. Heideggers autobiographisches Bekenntnis in Bd. 66 der Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1997, 415: „Und wer wollte verkennen, daß auf diesem ganzen bisherigen Weg verschwiegen die Auseinandersetzung mit dem Christentum mitging – eine Auseinandersetzung, die kein aufgegriffenes ‘Problem’ war und ist, sondern Wahrung der eigensten Herkunft – des Elternhauses, der Heimat und der Jugend – und schmerzliche Ablösung davon in einem. Nur wer so verwurzelt war in einer wirklichen gelebten katholischen Welt, mag etwas von den Notwendigkeiten ahnen, die auf dem bisherigen Weg meines Fragens wie unterirdische Erdstöße wirkten.“ 7 Vgl. Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999; vgl. auch neuerdings das Interview mit Gadamer „Ethos mondiale e giustizia internazionale. Dialogo a cura di Damiano Canale“, in: Ars Interpretandi 6 (2001), 6: „Io sono protestante, ma soltanto nei limiti in cuo si può dire una cosa simile. Con questo mi riferisco al fatto che io per primo vorrei credere a tuttò che la religione afferma, ma spesso non ci riesco.“ 8 Vgl. dazu vom Verf., Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 63ff., 71ff. 9 Zumindest kann sein Name nicht auf der allem Anschein nach vollständigen Teilnehmerliste gefunden werden, vgl. B. Jaspert, Sachgemäße Exegese. Die Protokolle aus Rudolf Bultmanns Neutestamentlichen Seminaren 1921–1951, Marburg 1 2
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1996. Aber Gadamer spielt auf ein Bultmann-Seminar an, das er besucht hat: vgl. GW 7, 88 (Zitat unten: Anm. 18). 10 Vgl. Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, 138. Gadamer stellt die Wichtigkeit dieser Einladung in einem Brief an Bultmann zu dessen 90. Geburtstag am 16. August 1974 heraus: „Wer wie ich Ihres 90sten Geburtstages gedenken darf, an dem es gewiß 50 Jahre her sind, daß ich ein häufiger Gast in ihrem Hause wurde, kann ein Gefühl inniger Dankbarkeit nicht unterdrücken, daß ihm eine so lange Dauer einer währenden Gegenwart geschenkt worden ist. Mit der Ermutigung begann es, die die Einladung in Ihre Graeca für mich bedeutete, gerade als mich die tiefsten Zweifel über meine Eignung zur Wissenschaft und zur Philosophie befallen hatten. Seither hat durch viele Jahre, durch Mut und Übermut, durch Ermutigung und Bestätigung Ihr eigenes Dasein und sein Wirkungskreis mir auf meinen eigenen Wegen geholfen. Und wenn ich denke, daß ich Sie am Schluß sogar einen Ordensbruder nennen darf, dann ist der Tag dieses Gedenkens für mich ein wahrhaft gesegneter. Wenn ich mich in Ihre eigene Lage versetze, so weiß ich freilich, wie vieles Ihnen auferlegt worden ist – der Abschied von Ihrer Gattin nach so viel Krankheit, der Abschied von so vielen Freunden, zu denen ja auch der uns gemeinsame Gerhard Krüger zählte, das Nachlassen der Kräfte, von dem ich auch die ersten Spuren fühle, die unaufhaltsame Vereinsamung, die das Alter mit sich bringt. Wer will das alles erwägen und ermessen. Und doch ist vieles, was bleibt und immer bleibender wird. Ich meine nicht nur, was jedem Altwerdenden beschieden ist, daß Kindheit und Jugend eine neue Frische der Farben gewinnen und ein geheimes Bündnis stiften, das zu der Generation der Enkel und bald der Urenkel hinübergeht. Ich meine in Ihrem Fall vor allem auch Ihren Beitrag zur Erkenntnis. Das ist nicht nur der mehr oder minder bescheidene Beitrag, den der Forscher zur Wissenschaft beisteuert. Es ist in Ihrem Falle auf eine einzigartige Weise mehr. Die Tagungen der alten Marburger, an denen Sie selbst nicht mehr persönlich teilnehmen können und an denen ich auch nur ein seltener Gast sein konnte, beweisen etwas anderes: daß Ihre Lehre Unzähligen, die im Amt der Seelsorge stehen, eine beständige und gegenwärtige Hilfe bedeutet. Die Diskussionen um die Entmythologisierung, Mißverständnis und Mißgunst, aber auch der Emanzipationsdrang der Jüngeren – all das liegt heute hinter Ihnen, und ich bin mir voll bewusst, daß ich Dankbarkeit und freudiges Gedenken zu Ihrem 90sten Geburtstage mit einer großen Schar anderer teile. Meine Marburger Erinnerungen werden Ihnen etwas davon gesagt haben. Möge Ihr eigener Schatz an Erinnerung, Ahnung und Gegenwart Ihnen Ihren Ehrentag vergolden“ (Bultmann-Archiv, Universität Tübingen). 11 Vgl. H.-G. Gadamer, Philosophische Lehrjahre, Frankfurt a.M. 1977, 37. 12 Vgl. H.-G. Gadamer, „Einzug in Marburg“, in: G. Neske (Hrsg.), Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, 111. 13 „Die Marburger Theologie“, in: H.-G. Gadamer, GW 3, 197–208; vgl. auch Philosophische Lehrjahre, 37. 14 Vgl. Thurneysens eigene Erinnerung an dieses Zusammentreffen in seinem Brief an Karl Barth, den er am darauf folgenden Tag schrieb (21. 2. 1924), in: K. Barth, Gesamtausgabe, V. Briefe, Karl Barth – Eduard Thurneysen Briefwechsel, Band 2, Zürich 1974, 228–230, bes. 229: „Der Philosoph Heidegger – sehr zustim-
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mend, es sei methodisch alles in Ordnung gewesen, keine Grenze überschritten, aber mit der Frage nach unserem Verhältnis zu Kant, den er zu Aristoteles rechne, von dem sich der junge Luther losgesagt habe. Es wurde mir nicht ganz deutlich, von wo aus Heidegger selber denken möchte.“ Zum Eindruck dieser Vorlesung in Marburg vgl. auch E. Stallmann, Martin Stallmann – Pfarramt zwischen Republik und Führerstaat. Zur Vorgeschichte des Kirchenkampfes in Westfalen, Bielefeld 1989, 46. 15 Philosophische Lehrjahre, 37. 16 Vgl. GW 2, 101, 125, 391, 481; GW 10, 390. 17 Vgl. G. Krügers Studie „Dialektische Methode und theologische Exegese. Logische Bemerkungen zu Karl Barths Römerbrief“, in: Zwischen den Zeiten (1926), die Gadamer immer anerkennend zitiert (Philosophische Lehrjahre, 224; GW 2, 125; GW 10, 414). 18 Indirekte Hinweise können diesbezüglich aus einigen späteren Erinnerungen Gadamers gewonnen werden, wie etwa in „Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens“ (1985), GW 7, 88: „Als ich als junger Professor in Marburg an dem Seminar des berühmten Neutestamentlers Rudolf Bultmann teilnahm, der ein verehrter Freund von mir war, erinnere ich mich, daß er an die Studenten die Frage stellte, wie denn ‘Der Glaube der Hellenen’ eigentlich auf griechisch wiedergegeben werden müsse. Die Antwort, auf die er wartete, war offenbar eusebeia. Alle anderen Antworten der Studenten gefielen ihm nicht. Da schlug ich vor: ‘Die Götter Griechenlands’ [der Titel eines Buches von Walter F. Otto!, J. G.]. Das fand keine Zustimmung. Ich halte es noch heute für die einzig angemessene Antwort. Damit wollte ich sagen, daß es für die Griechen beim Denken des Göttlichen in erster Linie nicht um das menschliche Verhalten zum Göttlichen geht oder gar um die innerliche Gewissheit des gläubigen Bewußtseins. Sie lebten vollständig nach außen und waren ganz davon erfüllt, daß die sie umgebende Wirklichkeit von der Gegenwart des Göttlichen belebt ist.“ – Vgl. auch „Das Türmerlied in Goethes ‘Faust’“ (1982), GW 9, 122, wo Gadamer sich erinnert, dass es Bultmann war, der ihn um 1930 darauf aufmerksam machte, dass er eines Tages die Klarheit und den natürlichen Charakter von Goethes Poesie schätzen werde. 19 Vgl. das Vorwort von Berndt Jaspert zur wertvollen Edition des Briefwechsels zwischen Karl Barth und Rudolf Bultmann (Karl Barth, Rudolf Bultmann: Briefwechsel 1911–1966, 2. Aufl. Zürich 1994, 103: „Auf Initiative Bultmanns kamen seine ehemaligen Schüler und Schülerinnen gemeinsam mit seinen jeweiligen Promovenden seit 1927 (zum ersten Mal 24.–26. 10. 1927) alljährlich im Herbst mit ihm und geladenen Referenten zu einer Konferenz zusammen, auf der aktuelle theologische Probleme in Vorträgen und Diskussionen erörtert wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Kreis von Ernst Fuchs und Günther Bornkamm neu konstituiert als ‘Theologische Arbeitsgemeinschaft alter Marburger’.“ Vgl. auch die Hinweise auf „Rudolf Bultmanns significance as a teacher“ in: E. Stallmann (Anm. 14), 1989, 42ff. 20 In diesen Jahren muss es so etwas wie einen wechselseitigen Austausch gegeben haben, auch wenn von Seiten Gadamers kein umfangreiches Werk vorlag. Vgl. z. B. Bultmanns Bezugnahme auf Gadamers Literaturbericht (über Plato) in Deutsche Literaturzeitung (1932) (GW 5, 327–331) in: „Das Christentum als orienta-
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lische und als abendländische Religion“ (1949), Glauben und Verstehen, Bd. 2, Tübingen 1952, 5. Aufl. 1993, 199. 21 „Prometheus und die Tragödie der Kultur“, in: Festschrift: Rudolf Bultmann zum 65. Geburtstag, Stuttgart/Köln 1949, 74–83, jetzt in GW 9, 150–161. Die Arbeit war ursprünglich in Dresden 1944 fertig gestellt worden. War sie vielleicht bereits für Bultmanns 60. Geburtstag 1944 gedacht? 22 Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag, hrsg. v. E. Dinkler, Tübingen 1964, 479–490, jetzt in GW 3, 197–208. Bultmann fehlte seltsamerweise in der Festschrift, die Gadamer zu Heideggers 60. Geburtstag herausgab (Anteile: Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1950), umso erstaunlicher, als die Fragen von Mythos, Theologie und Geschichte in diesem Band behandelt wurden von Autoren wie W. F. Otto, E. Wolf, K. Löwith, R. Guardini, G. Krüger, F. G. Jünger und E. Jünger. 23 Die Gegenwart der Griechen, hrsg. v. D. Henrich, W. Schulz and K.-H. Volkmann-Schluck, Tübingen 1960. Ebenso war Bultmann 1970 in Hermeneutik und Dialektik nicht präsent, wobei sich hier der Schwerpunkt verschoben hatte Richtung „Hermeneutik und Ideologiekritik“, was Bultmann als Thema wohl eher fremd war. 24 Gadamer ist es, der Bultmann als Freund in der bereits zitierten Passage (Anm. 18) anspricht („ein verehrter Freund von mir“: GW 7, 88). Der Briefwechsel zwischen beiden (acht Briefe Gadamers können im Bultmann-Archiv der Universität Tübingen eingesehen werden) lässt erkennen, dass die Beziehung weniger eine von großer Vertrautheit war als die einer kollegialen Bewunderung und aufrichtiger Verehrung. 25 GW 2, 121 (vgl. GW 10, 390, wo etwas ungenau darauf Bezug genommen wird unter der Bezeichnung „Die Entmythologisierung des Neuen Testaments“). Höchstwahrscheinlich bezieht sich Gadamer in beiden Fällen auf den Aufsatz Bultmanns, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung hrsg. v. E. Jüngel, München 1985. 26 Vgl. H.-G. Gadamer and G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1976, Einführung, 36. 27 Vgl. Die Marburger Theologie, GW 3, 204: „Von diesem Ausgangspunkt her explizierte sich Bultmann unter dem Einfluß des Heideggerschen Denkens durch die Begriffe der Uneigentlichkeit und der Eigentlichkeit. Das an die Welt verfallene Dasein, das sich aus dem Verfügbaren versteht, wird zur Umkehr gerufen und erfährt am Scheitern seiner Selbstverfügung die Wendung zur Eigentlichkeit.“ 28 GW 2, 125. 29 Vgl. GW 2, 125: „Denn nicht ein souveränes Mit-sich-selbst-Vermitteltsein des Selbstbewußtseins, sondern die Erfahrung seiner selbst, die einem geschieht und die im besonderen, theologisch gesehen, im Anruf der Verkündigung geschieht, kann dem Selbstverständnis des Glaubens den falschen Anspruch einer gnostischen Selbstgewißheit nehmen.“ 30 GW 1, 126 ff., 129 ff. Vgl. A. Gethmann-Siefert, Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers, Freiburg/München 1974, 189. 31 GW 2, 131; vgl. GW 2, 406.
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32 Nochmals muss betont werden, dass für Gadamer der Aufruf „Du musst Dein Leben ändern“ (den er Rilkes berühmtem Gedicht entnimmt) nicht für einen religiösen Diskurs, sondern für einen ästhetischen kennzeichnend ist (vgl. GW 8, 8; vgl. meine Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 71–72). 33 GW 2, 121. 34 Vgl. GW 2, 391: „Für ihn selbst und seine Schüler war dieser Vortrag [über Entmythologisierung 1941] in Wahrheit nur die – vielleicht provokatorisch geratene – Ausarbeitung der Grundsätze seiner von eh und je geübten exegetischen Praxis: eine Formulierung des hermeneutischen Prinzips, daß Verstehen Übersetzen in die eigene Sprache sein muß, wenn es wirklich Verstehen sein soll – ein methodisches, kein dogmatisches Problem, geschweige denn eine Häresie oder Ketzerei.“ P. Ricœur pflichtet dem in seiner „Préface à Bultmann“, in: Le Conflit des interprétations, Paris 1969, 383 bei: „en tranchant dans sa lettre, en enlevant ses enveloppes mythologiques, je découvre l’interpellation qui est le sens premier du texte“. 35 GW 2, 127: „Die zufällige und in gewissem Sinne gelegentliche Formulierung des Begriffs der Entmythologisierung, die Bultmann vornahm, in Wahrheit die Summe seiner gesamten exegetischen Theologie, hatte alles andere als einen aufklärerischen Sinn. Der Schüler der liberalen historischen Bibelwissenschaft suchte vielmehr in der biblischen Überlieferung das, was sich gegen alle historische Aufklärung behauptet, das, was der eigentliche Träger der Verkündigung, des Kerygmas, ist und den eigentlichen Anruf des Glaubens darstellt.“ 36 Vgl. GW 2, 124: „die grundsätzliche Kritik am philosophischen Subjektivismus, die mit Heideggers ‘Sein und Zeit’ einsetzte“. 37 GW 2, 406. 38 GW 1, 281: „Vorurteile als Bedingungen des Verstehens“. 39 C. von Bormann, „Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1971, 83–119. Die Arbeit erschien ursprünglich in: Philosophische Rundschau 16 (1969), 92–119, einer Zeitschrift, die Gadamer herausgab. An anderer Stelle hat Gadamer die Stichhaltigkeit dieser Kritik anerkannt (GW 2, 256). Vgl. meine Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 189. 40 GW 2, 406. 41 Es ist auch der Punkt, den in der einzigen Arbeit, die sich ausdrücklich Gadamer und Bultmann widmet, diskutiert: Th. B. Ommen, „Bultmann and Gadamer: The Role of Faith in Theological Hermeneutics“, in: Thought 59 (1984), 348–359. 42 Glauben und Verstehen, Bd. 2, Tübingen 1952, 5. Aufl. 1993, 211–235, hier 231: Zitiert und diskutiert in GW 1, 336. Das ist, soweit ich sehe, die einzige ausdrückliche Bezugnahme auf einen Text Bultmanns in Gadamers Werk. 43 Glauben und Verstehen, Bd. 2, 217. 44 GW 1, 337. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. Vgl. auch die halb scherzhafte Bemerkung Gadamers gegenüber Fred Lawrence (die sich in seinem Aufsatz „Gadamer, the Hermeneutical Revolution and Theology“, in: R. Dostal [ed.], The Cambridge Companion to Gadamer, Cambridge, 2002, 190 findet): „Bultmann forgets that the books of the New Testa-
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ment are not books in the ordinary sense of the term!“ Vgl. auch seine Bemerkung zu R. Dottori in seinem letzten Interviewband Die Lektion des Jahrhunderts, Münster/Hamburg/London 2002, 83, derzufolge „Bultmann vor lauter Selbstreflexion die Offenbarung nicht mehr ernst nimmt“. Wie T. B. Ommen zu Recht herausarbeitet (1984, 351, 359), scheint Gadamer Karl Barth näher zu stehen (das hat Ott bereits bezüglich Heidegger behauptet!) als Bultmann, wenn er auf dem spezifisch christlichen Charakter der biblischen Hermeneutik besteht, d. h. auf der Vorstellung, dass die Glaubenserfahrung eher eine göttliche Offenbarung voraussetzt als das Gegenteil. T. B. Ommen, 352: „The [Bultmanian] emphasis on a wider human setting of preunderstanding undercuts the awareness, in Gadamer’s view, that the gospel proclaims an event that transcends human understanding.“ 48 Vgl. R. Bultmann, „Der Gottesgedanke und der moderne Mensch“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 60 (1963), in: Glaube und Verstehen, Bd. 4, Tübingen 1965, 4. Aufl. 1993, 120. 49 Vgl. meine Studie „Zur Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers von Heidegger her“, in meiner neuen Aufsatzsammlung Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, 81–92. 50 GW 10, 387–392, bes. 388: „ein Stück vorgelebter Redlichkeit“. 51 Vgl. H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1976. 52 Das erhellt auch aus der kurzen Erwähnung Bultmanns in der Einführung zu dieser Textsammlung, S. 36: „Diltheys Wiedererneuerung der romantischen Hermeneutik wurde auch im theologischen Feld aufgenommen, und zwar durch Rudolf Bultmann [!]. Sein kleiner [!] Aufsatz über das Problem der Hermeneutik zeigt freilich bei aller Diltheynachfolge [!], daß die inzwischen durch Heidegger, aber auch indirekt durch die Kritik der dialektischen Theologie am deutschen Idealismus und am Neukantianismus veränderte Problemlage auch innerhalb des Diltheyschen Ansatzes neue Akzente setzte. Der Aufsatz war auch nur ein erster Anfang [!].“ 53 „Das Problem der Hermeneutik“, in: Glauben und Verstehen, Bd. 2, 215: „[…] Nachvollzug der seelischen Vorgänge, die sich im Autor vollzogen haben“, „[…] aus der Versetzung in den inneren schöpferischen Vorgang, in dem sie entstanden sind“. Dieser Gegensatz zu Dilthey wurde von P. Ricœur in seiner „Préface à Bultmann“, in: Le Conflit des interprétations, Paris 1969, 382 viel deutlicher wahrgenommen: „Ici Bultmann se retourne contre Dilthey pour qui, comprendre le texte c’est y saisir une expression de la vie; si bien que l’exégète doit pouvoir comprendre l’auteur du texte mieux qu’il ne s’est compris lui-même. Non, dit Bultmann: ce n’est pas la vie de l’auteur qui règle la compréhension, mais l’essence du sens qui vient à expression dans le texte.“ 54 „Das Problem der Hermeneutik“, in: Glauben und Verstehen, Bd. 2, 222: „Die Interpretation philosophischer Texte muß daher, will sie eine echt verstehende sein, selbst von der Frage nach der Wahrheit bewegt sein, d. h. sie kann nur in der Diskussion mit dem Autor vor sich gehen.“ 55 „Das Problem der Hermeneutik“, in: Glauben und Verstehen, Bd. 2, 221. 56 Vgl. „Das Problem der Hermeneutik“, in: Glauben und Verstehen, Bd. 2, 226–7: „Zu entscheidender Klarheit ist das Problem des Verstehens durch Heideggers Aufweis des Verstehens als eines Existentials gebracht worden und durch seine
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Analyse der Auslegung als der Ausbildung des Verstehens […].“ Gadamer würde erstaunlich ähnliche Formulierungen wählen, um seine Übernahme von Heideggers Auffassung von Verstehen auszudrücken. Vgl. z. B. GW 1, 440 (das Vorwort zur 2. Auflage von WuM): „Heideggers temporale Analytik des menschlichen Daseins hat, meine ich, überzeugend gezeigt, daß Verstehen nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise des Daseins selber ist.“ Vgl. GW 1, 264. 57 Vgl. z. B. B. Vedder, Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit, Stuttgart 2000, Kap. V: „Die Faktizität der Hermeneutik. Heideggers Bruch mit der traditionellen Hermeneutik“, 95. 58 Vgl. GW 1, 264. „Vor dem Hintergrund einer solchen existenzialen Analyse des Daseins mit all ihren weitreichenden und unausgemessenen Konsequenzen für das Anliegen der allgemeinen Metaphysik nimmt sich der Problemkreis der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik plötzlich sehr anders aus. Der Herausarbeitung dieser neuen Aspekte des hermeneutischen Problems ist die vorliegende Arbeit [Wahrheit und Methode, J.G.] gewidmet.“ 59 „Das Problem der Hermeneutik“, in: Glauben und Verstehen, Bd. 2, 221. 60 Vgl. GW 3, 205: „Indessen ging Heideggers Denkweg in die umgekehrte Richtung“ (zur existentialen Interpretation), und GW 10, 391: „Schwerer wog, daß Heideggers Denken in ganz andere Richtung weiterging. Die erste Exposition der Seinsfrage, die ‘Sein und Zeit’ gebracht hatte, wurde der Ausgangspunkt einer langen Reihe von Denkversuchen, die jedes anthropologische Verständnis seines ersten großen Werkes desavouierten. Dabei mußte es die Theologie wahrlich interessieren, wie jetzt statt der Eigentlichkeit des Daseins Sterbliche und Unsterbliche, Mythos und Sage, Dichtung und Sprache, Hölderlin und die Vorsokratiker das Denken des Denkers beherrschten. Rudolf Bultmann konnte ihm darin nicht folgen.“ 61 GW 2, 430; Einführung zur Textsammlung von 1976, S. 36. Ricœur bemängelt an Bultmann ebenfalls, weniger aufgeschlossen zu sein für das Problem der Sprache: „Préface à Bultmann“, 387: „Il est même frappant que Bultmann ne manifeste guère d’exigence à l’égard de ce langage de la foi, alors qu’il s’est montré si soupçonneux à l’égard du langage du mythe.“ 391: „je reprocherai plutôt à Bultmann de n’avoir pas assez suivi le ‘chemin’ heideggérien, d’avoir pris un raccourci.“
THEMEN HERMENEUTIK UND ÄSTHETIK Konrad Paul Liessmann Die Sollbruchstelle. Die Destruktion des ästhetischen Bewusstseins und die Stellung der Kunst in Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ Nicholas Davey Art’s Enigma: Adorno, Gadamer and Iser on Interpretation Ruth Sonderegger Gadamers Wahrheitsbegriffe
SPRACHE UND GESPRÄCH Kai Hammermeister Der Gott der Hermeneutik Oscar M. Esquisabel Sprache, Geschehen und Sein. Die Metaphysik der Sprache bei H.-G. Gadamer Robert Schnepf Der hermeneutische Vorrang der Frage. Die Logik der Fragen und das Problem der Ontologie
WAHRHEIT UND SPRACHE Ad Verbrugge Aletheia und die Frage nach der Wahrheit Brice R. Wachterhauser Finite Possibilities. Gadamer on Historically-Mediated Truth Mirko Wischke Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie bei Hans-Georg Gadamer
Konrad Paul Liessmann Die Sollbruchstelle Die Destruktion des ästhetischen Bewusstseins und die Stellung der Kunst in Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ Wer verstehen will, muss zerstören. Wohl würde man die Brutalität dieses Verfahrens kaum im Innersten von Hans-Georg Gadamers hermeneutischem Projekt vermuten, aber Anlage und Konstruktion von „Wahrheit und Methode“ erlauben durchaus solch eine leicht überzogene Lesart. Denn an das chef d’œuvre Gadamers ist vorab eine Frage zu stellen: Warum muss das ästhetische Bewusstsein destruiert werden, damit der Prozess des Verstehens seine legitimatorische Basis gewinnt? Liest man fast ein halbes Jahrhundert nach der Fertigstellung „Wahrheit und Methode“ halbwegs unbefangen wieder, ist man vielleicht noch mehr irritiert, als es die leicht verunsicherte Zeitgenossenschaft schon sein musste. Im Zeitalter der fortschreitenden Szientifizierung und Anglisierung der ehemaligen Geisteswissenschaften mutet ein Ansatz, der sich auf die humanistische Bildungstradition ebenso stützt wie auf Denker wie Hegel, Schiller, Schleiermacher, Dilthey und Heidegger, in einem Maße altfränkisch an, dass man schon wieder versucht sein könnte, darin einen Vorteil zu sehen. Es sind nicht nur Dokumente der Erinnerung an eine gegenwärtig wenig geliebte Tradition geisteswissenschaftlichen Denkens, die damit vorliegen, sondern diese können durchaus als erhellende Kontraste und Korrekturen zu einer Tendenz gelesen werden, die in der Auflösung geisteswissenschaftlicher Fragestellungen in kulturwissenschaftliche Studien sich vielleicht eine Spur zu schnell eines Problembestands entledigt glaubte, der dann vielleicht doch mehr ist als ein erledigter Abschnitt in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wahrheit, die den ersten Teil von „Wahrheit und Methode“ grundiert, gehört wohl zu diesem Bestand. Die Frage nach Stellung und Bedeutung der Kunst in Gadamers Denken steht vorab unter einer besonderen Spannung. Über Gadamers Nahverhältnis zur Kunst, seine Fähigkeit einfühlsamer Deutung, seinem nahezu sakralen Verständnis großer Werke geben etliche kleine Schriften Auskunft, am eindringlichsten wohl die ingeniösen Studien zu Paul Celans „Atemwende“.1 Im Rahmen seines großen hermeneutischen Entwurfs aber wird der Kunst wohl eine bedeutende, aber keine systematisch entscheidende Rolle zugewiesen. Wie erinnerlich, hat Gadamer in der Exposition von „Wahrheit und Methode“2 die philosophische Bedeutung der
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Kunst darin gesehen, dass „an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird, die uns auf keinem anderen Weg erreichbar ist“. Neben der „Erfahrung der Philosophie“ wird für Gadamer so die „Erfahrung der Kunst“ zur „eindringlichsten Mahnung“ an das wissenschaftliche Bewusstsein, sich seine Grenzen einzugestehen (WuM, XXVIII). Kunst soll als exemplarischer Erfahrungsraum konstituiert werden, der einer Wahrheit verpflichtet ist, die den Wahrheitsbegriff der Wissenschaft gleichermaßen konterkariert wie transzendiert. An Kunst sollte demonstriert werden, dass es Erkenntnisformen jenseits der methodisch abgesicherten empirischen Wissenschaften, aber auch jenseits der philologischen, archivarischen und dokumentarischen Geschichtsschreibungen gibt. Für eine Gesellschaft, die die wissenschaftliche Rationalität, und das heißt letztlich: die überprüfbaren quantitativen Verfahren zu ihrem zentralen Fundament erklärt hat, müsste diese Konzeption gleichermaßen eine Provokation wie eine Beruhigung sein: Provokation, weil ein konkurrierender Wahrheitsbegriff behauptet wird, und Beruhigung, weil damit die immer wieder eingeklagten Defizite und Einengungen einer objekt- und zweckorientierten Rationalität ausgeglichen werden könnten. Um dies an der Kunst demonstrieren zu können, musste Gadamer allerdings vor aller Kunsterfahrung einen Begriff von Kunst konstituieren, der ganz entscheidend von einer spezifischen Wahrheitsfähigkeit gekennzeichnet ist, von der nicht sicher ist, ob sie in der Auseinandersetzung mit den real existierenden Kunstwerken und Kunstformen überhaupt noch einholbar sein kann. Der Prozess des Verstehens, um den es im hermeneutischen Projekt vorrangig geht, wird damit an die Erfahrung von Wahrheit in einer Weise gekoppelt, die es notwendig macht, diese Erfahrung ausgerechnet gegen eine ästhetische Theorie zu verteidigen, „die sich vom Wahrheitsbegriff der Wissenschaft beengen lässt“ (WuM, XXIX). Wahrheit auf wissenschaftliche Wahrheit zu reduzieren und damit die Kunst als Medium der Wahrheit auszuschalten, gilt Gadamer als ein verhängnisvoller Kurzschluss. Dass Wahrheit auch außerhalb der Wissenschaften erfahren werden kann: Dafür soll die Kunst wesentlich einstehen. Die generelle Bedeutung der Kunsterfahrung für die Hermeneutik ergibt sich so aus deren exemplarischem Charakter: „Wie wir es in der Erfahrung der Kunst mit Wahrheiten zu tun haben, die den Bereich methodischer Erkenntnis grundsätzlich übersteigen, so gilt ein Ähnliches für das Ganze der Geisteswissenschaften, in denen unsere geschichtliche Überlieferung in allen ihren Formen zwar auch zum Gegenstand der Erforschung gemacht wird, aber zugleich selber in ihrer Wahrheit zum Sprechen kommt. Die Erfahrung der geschichtlichen Überlieferung reicht grundsätzlich über das hinaus, was an ihr erforschbar ist“ (WuM, XXIX). In einem streng methodologischen Sinn kann die Kunsterfahrung kaum
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Voraussetzung für das Projekt der Hermeneutik sein; wohl aber ist sie ihr Exerzierfeld. Es ist die Analogie zwischen der Kunsterfahrung und den Möglichkeiten historischer Geisteswissenschaften, der Gadamer einen nahezu zwingenden Charakter verleihen möchte. Der von Gadamer intendierte Nachweis einer Erfahrungsmöglichkeit ästhetischer Wahrheit, die die Möglichkeiten der auf sie bezogenen Kunstwissenschaften überschreitet, soll den Boden für die Plausibilität der zentralen These bereiten: dass es, in Bezug auf die Wahrheit, eine fundamentale Differenz zwischen „Erfahrung“ und „Erforschung“ gibt und deshalb auch die Erfahrung des Geschichtlichen – das eigentliche Feld der philosophischen Hermeneutik – eine Wahrheit vermittelt, die nicht nur Resultat eines kritischen Urteils ist, sondern erst durch einen Prozess der erfahrenden und verstehenden Teilhabe aktualisiert wird: „Sie [die Erfahrung der geschichtlichen Überlieferung, K.P.L.] vermittelt stets Wahrheit, an der es teil zu gewinnen gilt“ (WuM, XXIX). Der Aufweis einer reflexiv uneinholbaren ästhetischen Wahrheitserfahrung, die zur Selbstäußerung eines Subjekts werden muss, eröffnet mit seiner dafür notwendigen Kritik eines ästhetischen Bewusstseins, das die Frage der Wahrheit aus dem ästhetischen Erfahrungsbereich ausklammern will, den Raum für den Wahrheitsbegriff der hermeneutischen Erfahrung schlechthin. Scheitert dieser Aufweis, muss deshalb nicht jede hermeneutische Strategie Schiffbruch erleiden; aber sie wird es dann nicht gerade leichter haben. Gadamers kritische Argumentation wendet sich aber nicht in erster Linie gegen einen methodisch verengten Begriff von Kunstwissenschaft, sondern gegen jene Konzeption von Ästhetik, die seit dem späten 18. Jahrhundert die Kunst aus jeder Form der Fremdbestimmung befreien und als autonomen Produktions- und Erfahrungsraum konstituieren wollte. Ausdruck dieser durchaus modernen Ästhetik ist die Maxime, im und am Kunstwerk nichts zu sehen als ein Kunstwerk. Damit, so Gadamer, wird das Kunstwerk allerdings um seine entscheidende Möglichkeit der Wahrheitserfahrung gebracht. Man hat deshalb auch versucht, Gadamers Kunstphilosophie als „Destruktion der Ästhetik im Namen der Kunst“3 zu charakterisieren: Gadamer verteidige durch sein Insistieren auf den Wahrheits- und Realitätsgehalt der Kunst deren Sache gegen die Ansprüche einer Ästhetik, die die Autonomie der Kunst um den Preis ihrer Unverbindlichkeit behauptet und eine Welt des schönen Scheins postuliert, die sich von allen relevanten lebensweltlichen Bezügen abgekoppelt hat. Dieser wohlmeinende Befund wird allerdings durch die Motivationslage getrübt, die dieser Argumentation zugrunde liegt. Schon dass Gadamer die Frage der Kunst nicht um der Kunst selbst willen, sondern als Exemplum einführt, um auf die generelle Problematik der Möglichkeit des Verstehens zu verweisen, hinterlässt den schalen Beigeschmack, in der Aus-
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legung des Kunstwerkes nur jenen exzentrischen Fall zu sehen, der geeignet ist, ein Allgemeines grell zu beleuchten; und verteidigen möchte Gadamer überdies nicht nur die Kunst gegen ihre geschmäcklerischen Liebhaber, sondern auch und in erster Linie die Wahrheitsfähigkeit nichtwissenschaftlicher Erfahrungen gegenüber den Diktaten eines verengten Wissenschaftsbegriffs. Denn letztendlich kreist das gesamte Projekt der Hermeneutik um die Frage, ob jenseits einer methodisch streng geregelten Wissenschaftlichkeit sinnvoll von Wahrheitsansprüchen und Wahrheitserfahrungen geredet werden kann. Die Kunst fungiert in diesem Kontext als ausgezeichneter Bereich, der diese Möglichkeit veranschaulichen soll. Die Autonomieästhetik, das von Gadamer so genannte ästhetische Bewusstsein, erweist sich unter diesen Voraussetzungen als der eigentliche Stolperstein eines Gedankengangs, der Kunst als Form der Wahrheitserfahrung behaupten möchte. Diesen Stolperstein aus dem Weg zu räumen und die reine ästhetische Dimension zu transzendieren, macht dann auch die Anstrengung des ersten Teils von „Wahrheit und Methode“ aus. Gadamers Argumentation zielt dabei allerdings nicht nur auf eine Kritik der letztlich von Kant abgeleiteten Autonomie- und Geschmacksästhetik, sondern sie vollzieht in ihrem Gang auch das, was sie demonstrieren möchte: die Heteronomie der Kunst, bei aller Liebe zu ihr. Ohne in allen Details Gadamers Destruktion der Autonomieästhetik und des daran gekoppelten ästhetischen Bewusstseins nachzuzeichnen, sei doch an einige zentrale Überlegungen erinnert, die Gadamers Versuch grundieren, die Bedeutung von Kunst als exemplarische Wahrheitserfahrung durch ihre Rückbindung an lebensweltliche Kontexte zu behaupten. Um dies zu erreichen, muss vorab jene Instanz destruiert werden, die in der modernen Ästhetik den subjektiven Erlebnischarakter der Kunst fundierte: das Geschmacksurteil. Seine Kritik an der maßgeblichen kantischen Fassung der Kategorie des Geschmacks bereitet Gadamer mit dem für ihn charakteristischen Rückgriff auf eine umfassendere begriffsgeschichtlich getönte Auslegung dieses Begriffs vor, die die kantische Präzisierung in der Retrospektive als unzulässige Verkürzung erscheinen lassen soll. Geschmack versteht Gadamer vorab als einen grundlegenden ästhetischen, also wahr-nehmenden Sinn, der nicht ohne Hintergedanken einem ähnlich strukturierten, aber noch komplexeren historischen Sinn parallelisiert wird: „So weiß, wer ästhetischen Sinn besitzt, Schönes und Häßliches, gute oder schlechte Qualität auseinanderzuhalten, und wer historischen Sinn besitzt, weiß, was für eine Zeit möglich ist und was nicht, und hat Sinn für die Andersartigkeit der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart“ (WuM, 14). Abgesehen davon, wie triftig diese Parallele ist, mag die Rückbesinnung auf einen historischen Sinn, der weder gebannt auf die Vergangenheit fixiert bleibt – wogegen sich schon Nietzsches Kritik des
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historischen Sinns richtete – noch blind für historische Möglichkeiten die Vergangenheit schlicht an den moralischen und zivilisatorischen Standards der Gegenwart misst, durchaus in einer Zeit von Nutzen sein, in der man mit Vorliebe die Geschichte so beurteilt, als wäre ohnehin immer schon alles möglich gewesen. Indem Gadamer den historischen Sinn in die Nähe des ästhetischen Geschmacks rückt, macht er aber auch deutlich, dass ein souveräner Umgang mit der Geschichte, ihren Möglichkeiten und Implikaten in vielleicht weit höherem Maße auch eine Stilfrage ist, als einer stillosen Zeit lieb sein kann.4 Und angesichts der medialen Präsenz und Verwertung von Geschichte, die alle Vergangenheit gleich weit entfernt erscheinen lässt, wäre vielleicht überhaupt eine Verkümmerung des historischen Sinns zu konstatieren, die auch für die Vergangenheit nichts anderes mehr überlässt als – den ästhetischen Reiz. Doch zurück zum Geschmack. Charakteristisch für ihn ist, dass alle einmal geäußerten Geschmacksurteile einen Geltungsanspruch immer schon einschließen, es gibt, entgegen einer landläufigen Überzeugung, kein Schwanken, keine Unsicherheit, keine Liberalität des Geschmacksurteils: „Guter Geschmack ist sich seines Urteils stets sicher, d. h. er ist seinem Wesen nach sicherer Geschmack: ein Annehmen und ein Verwerfen, das kein Schwanken, Schielen nach dem Anderen und kein Suchen nach Gründen kennt“ (WuM, 33). Geschmack verfügt, insofern es sich um einen „Sinn“ handelt, über keine „Erkenntnis aus Gründen“, sondern nur um die empirische Faktizität eines „So ist es“. Interessant übrigens, dass Gadamer diese Leistung des Geschmacks vor allem als ein Verfahren der Exklusion beschreibt: „Wenn etwas in Geschmacksdingen negativ ist, so vermag er nicht zu sagen, warum. Aber er erfährt es mit der größten Sicherheit. Sicherheit des Geschmacks ist also Sicherheit vor dem Geschmacklosen“ (WuM, 33). Schon in diesen Formulierungen schwingt mit, dass Gadamer dem Geschmack trotz seiner Grund-losigkeit dennoch wesentlich mehr Verbindlichkeit einräumen möchte, als der Geschmack als Ausdruck eines subjektiven Gefallens oder Missfallens in der klassischen Theorie zuerkannt bekommen hatte. Denn nicht, dass das Subjekt weiß, was ihm gefällt oder nicht gefällt, ist für Gadamer entscheidend, sondern dass damit auch richtige Urteile über ästhetische Sachverhalte gefällt sind. Der Begriff des „guten Geschmacks“ hätte ansonsten keinen Sinn. Denn er impliziert die Möglichkeit des schlechten Geschmacks, dass also einem Subjekt etwas gefällt, was ihm zu missfallen hätte. Eine Geschmacksverirrung ist immer mehr als nur eine bedauerliche Eigenart eines Subjekts; es ist das Versagen eines urteilenden Sinnes. Allerdings: Dieses Oszillieren des Geschmacks zwischen subjektivem Vermögen und objektivem Anspruch war auch Immanuel Kant in seiner Analyse des Geschmacksurteils durchaus bewusst gewesen: „Das Ge-
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schmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an […].“5 An Kant kritisiert Gadamer deshalb auch nicht dessen Analyse des Geschmacksurteils, in der der Geschmack einerseits in der Subjektivität gründet und auch die Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität darstellt, andererseits aber auch durch den Geltungsanspruch seiner Urteile diese „jedermann ansinnet“ und so einen „Gemeinsinn“ voraussetzt, der den Geschmack auch zum Ausdruck und zur Bedingung der Möglichkeit von Gemeinschaftlichkeit macht, sondern kritisiert wird Kants Versuch, einzig und allein darauf alle Ästhetik begründen und reduzieren zu wollen: „Man wird anerkennen können, daß Kants Begründung der Ästhetik auf das Geschmacksurteil den beiden Seiten des Phänomens gerecht wird, seiner empirischen NichtAllgemeinheit und seinem apriorischen Anspruch auf Allgemeinheit. Aber der Preis, den er für diese Rechtfertigung der Kritik im Felde des Geschmacks zahlt, besteht darin, daß er dem Geschmack jede Erkenntnisbedeutung abspricht. Es ist ein subjektives Prinzip, auf das er den Gemeinsinn reduziert“ (WuM, 40). Schon diese Kritik an Kant entbehrt nicht eines gewissen voluntaristischen Moments. Die Pole, zwischen denen Kant das Vermögen des Geschmacks aufspannt, Gefallen und Missfallen, definiert das Verhältnis des Subjekts zur Welt nach der Seite seiner Sinnlichkeit. Warum diesem Vermögen eine eigene Erkenntnisbedeutung abverlangt werden muss, die im Geschmacksurteil mehr an Verbindlichkeit sehen will als den Wunsch eines Subjekts, mit seinen Vorlieben nicht allein zu sein, lässt sich nicht aus einer Analyse des Geschmacks ableiten, sondern nur aus dem Willen, dass auch ästhetische Urteile nicht nur die wie immer gemeinschaftlich vermittelten Präferenzen eines Subjekts formulieren, sondern auch Erkenntnisse über die Welt bereithalten sollen. Den eigentlichen Sündenfall gegen diesen Willen zur ästhetischen Erkenntnis begeht nach Gadamer allerdings nicht Kant, sondern Friedrich Schiller. Schillers triebdynamische Reformulierung der ästhetischen Vermögen führt nach Gadamer erst zu jenem verhängnisvollen Reich des Schönen, das nicht mehr von dieser Welt sein will. In einer Reihe von Briefen an den Herzog Friedrich Christian von Holstein-Augustenburg über die Möglichkeit einer ästhetischen Erziehung des Menschen hatte Schiller, wie erinnerlich, die Vision einer staatlichen Ordnung entworfen, in der Schönheit und Freiheit, Individuum und Allgemeinheit eine Einheit bilden sollten, die ihr Fundament nicht zuletzt in der Versöhnung und im Zusammenspiel jener Triebe haben sollte, die Schiller konzipiert hatte, um den kantischen Problemkonstellationen zu entgehen: der sinnliche Trieb und der Formtrieb. Während der sinnliche Trieb nach Schiller den Menschen an die Materie und die Zeit bindet, ihn zwingt, sich darin zu entfal-
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ten und zu bewegen, zielt der Formtrieb auf Freiheit, Harmonie und die Realisation des Menschen als eines vernünftigen Subjekts jenseits von Raum und Zeit: Der sinnliche Trieb, so Schiller, will, dass Veränderung sei, dass die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb aber will, dass die Zeit aufgehoben, dass keine Veränderung sei – derjenige Trieb aber, in dem diese beiden Grundtriebe harmonisch verbunden sind, ist – und damit hat Schiller einen folgenschweren Begriff in die Ästhetik eingeführt – der Spieltrieb: „Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen: der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie sein Sinn zu empfangen trachtet.“6 Im Spieltrieb vereinen sich so für Schiller Pflicht und Neigung, Vernunft und Notwendigkeit, Begehren und Imagination. Deshalb kann er diesem Begriff die höchste Bestimmung überhaupt geben: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“7 Diesem SpielTrieb sollte der ästhetische Staat entsprechen, in dem der Mensch dem Menschen „nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen“ darf, dem Grundgesetz „Freiheit zu geben durch Freiheit“ verpflichtet.8 Gadamers Kritik an Schiller setzt nun dort an, wo aus dem Staat unter der Hand ein eigenständiges Reich der Kunst wird, auf das sich letztlich auch die pädagogischen Bemühungen konzentrieren: „Die Kultivierung dieses Triebes [des Spieltriebes, K.P.L.] ist das Ziel der ästhetischen Erziehung. Das hat weitreichende Konsequenzen. Denn jetzt wird Kunst als Kunst des schönen Scheins der praktischen Wirklichkeit gegenübergesetzt und aus diesem Gegensatz verstanden. An die Stelle des Verhältnisses positiver Ergänzung, das seit alters her die Beziehung von Kunst und Natur bestimmt, tritt jetzt der Gegensatz von Schein und Wirklichkeit“ (WuM, 77 f.). Mit Schiller ist jene Konzeption des ästhetischen Bewusstseins erstmals formuliert, die den Bereich der Kunst als einen autonomen Sektor konstituiert, der gezielt als Gegenmodell zur Wirklichkeit formuliert wird und damit weit über jenes Symbol des Sittlichen hinausreicht, das bei Kant das Schöne noch hatte sein können: „Wo die Kunst herrscht, da gelten die Gesetze der Schönheit und werden die Grenzen der Wirklichkeit überflogen […] Bekanntlich wird aus einer Erziehung durch die Kunst eine Erziehung zur Kunst. An die Stelle der wahren sittlichen und politischen Freiheit, zu der die Kunst vorbereiten sollte, tritt die Bildung eines ‘ästhetischen Staates’, einer für Kunst interessierten Bildungsgesellschaft“ (WuM, 78). Bei Schiller findet Gadamer erstmals das Modell einer Ästhetik, die Kunst nicht mehr als Moment lebensweltlicher Bezüge, sondern als eigenen sozialen Raum postuliert, in dem die Gesetze des Politi-
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schen und des Ethischen durch die der Kunst selbst substituiert und damit überboten werden. Aus einer Mitwelt wird gleichsam eine Gegenwelt. Abgesehen davon, wie angemessen diese kritische Auslegung der schillerschen Ästhetik tatsächlich ist,9 deutet Gadamer die in solch einem abgezirkelten Bereich geschaffene und aufgenommene Kunst als „Erlebniskunst“, da sie ausschließlich auf einer Subjektivität gründet, die weder Kohärenz in der Zeit noch Allgemeingültigkeit im Urteil kennt, sondern letztlich auf punktuelle ästhetische Sensationen reduziert bleiben muss. Dort, wo dem subjektiven Geschmack ein Gefühl assoziiert ist, das nur imstande ist, die Augenblickshaftigkeit der sinnlich-emotionalen Sensation als Erlebnis zu verbuchen, wird das Kunstwerk für Gadamer allerdings wesentlich verfehlt. In diesem Sinne liest Gadamer Kierkegaards Modell der auf die unmittelbare, gedächtnislose Sinnlichkeit reduzierten ästhetischen Existenz aus „Entweder-Oder“ wohl ein wenig gegen die Intention des Dänen als fundamentale Kritik dieser Daseinsform. Demgegenüber insistiert Gadamer: „Nicht die Echtheit des Erlebnisses oder die Intensität seines Ausdrucks, sondern die kunstvolle Fügung fester Formen und Sagweisen macht das Kunstwerk zum Kunstwerk“ (WuM, 67). Allerdings: Auch eine Annäherung an das Kunstwerk, die am Kunstwerk nur sein Kunstwerksein, also das Spiel der Formen und ihre immanente Logik wahrnimmt und reflektiert, verfehlt nach Gadamer den Sinn des Werkes, denn die festen Formen und Sagweisen verleihen dem Kunstwerk Konsistenz und Plausibilität nicht nur seinen eigenen Ansprüchen, sondern vor allem der Welt gegenüber. Die Form als das Objektive am Werk setzt dieses auch in ein Verhältnis zur Welt schlechthin, konstituiert einen dauerhaften Weltbezug, der der verstehenden Aufschließung harrt. Dies verführt Gadamer zu einer provozierenden Frage: „Ist das ästhetische Verhalten überhaupt eine dem Kunstwerk gegenüber angemessene Haltung? Oder ist das, was wir ‘ästhetisches Bewußtsein’ nennen, eine Abstraktion?“ Und in den nächsten Sätzen wird deutlich, dass Gadamers Kritik des ästhetischen Bewußtseins von einer stets mitschwingenden Sehnsucht nach einem Zustand, in dem Kunst war, ohne Kunst zu sein, getragen wird: „Man kann jedenfalls nicht bezweifeln, daß die großen Zeiten der Geschichte der Kunst solche waren, in denen man sich ohne alles ästhetische Bewußtsein und ohne unseren Begriff von ‘Kunst’ mit Gestaltungen umgab, deren religiöse oder profane Lebensfunktion für alle verständlich und für niemanden nur ästhetisch genußreich war. Läßt sich auf sie der Begriff des ästhetischen Erlebnisses überhaupt anwenden, ohne ihr wahres Sein zu verkürzen?“ (WuM, 77). Kunst vor der Kunst also. Gadamer teilt also die immer wieder geäußerte These, dass die autonome Kunst eine relativ späte Entwicklung war, die allerdings nicht die Kunst zu sich selbst befreite, sondern um ihre Wahr-
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heits- und Wirkungsmöglichkeiten brachte. Das rührt auch an die umstrittene These Hans Sedlmayrs vom Verlust des in einen Welt- und Lebenszusammenhang eingebundenen Gesamtkunstwerks. Wenn auch aus gänzlich anderen Motiven findet sich auch bei Sedlmayr eine Kritik des ästhetischen Bewusstseins, die dieses als Verkürzung der Möglichkeiten und Aufgaben der Kunst deutet: „Es genügt zur Wertung der Kunst der ‘rein’ künstlerische Maßstab nicht. Dieser angeblich ‘rein’ künstlerische Maßstab, der vom Menschlichen absieht (um dessentwillen die Kunst allein Berechtigung hat), wäre kein wahrhaft künstlerischer, sondern ein bloß ästhetischer. Und das Anlegen von rein ästhetischen Maßstäben ist selbst noch ein unmenschlicher Zug dieser Zeit, denn es schließt eine Proklamation der Autonomie des Kunstwerkes in sich, die ohne Rücksicht auf den Menschen sich selbst genügt, das l’art pour l’art.“10 Und zumindest aus einer streng kunsthistorischen Perspektive berührt sich Gadamers Versuch, das Kunstwerk nicht zuletzt aus seinen lebensweltlichen, religiösen und rituellen Funktionen zu verstehen, mit Hans Beltings Theorie von den religiösen Bildwerken als einer Kunst vor der Kunst.11 Die Vorstellung, dass Kunst in dem Moment, in dem sie ihre Unabhängigkeit von den religiösen und lebensweltlichen Kontexten gewinnt, aufhört, in einem emphatischen Sinn Kunst zu sein, geht natürlich auf Hegel zurück. Hegels These vom Ende der Kunst als Medium der Wahrheit ist dann von Gadamer durchaus mit Zustimmung rezipiert worden.12 Allerdings entschärft er Hegels These ein wenig, wenn er sie auf den Befund reduziert, dass mit den Formen der modernen Wissenschaften und der Entwicklung einer säkularen Gesellschaft „das Werk der Kunst nicht mehr das Göttliche selbst [ist], das wir verehren“ und dass Kunst eigentlich schon seit der Antike „rechtfertigungsbedürftig erscheinen muß“.13 Tatsächlich hatte Hegel ein waches Gespür dafür, welche Konsequenzen der Prozess der Entfunktionalisierung – mit den Worten Gadamers: der Etablierung des ästhetischen Bewusstseins – für die Kunst selbst haben muss. In einer aufgeklärten Gesellschaft hat die Kunst ihre Bedeutung als eine Instanz, die durch ihre Werke sozial verbindliche Deutungs- und Handlungsmuster vorgeben und vermitteln konnte, verloren. In dieser Beziehung, im Hinblick auf die Darstellung und Durchsetzung einer allgemeinen Wahrheit, nach der Seite ihrer „höchsten Bestimmung“ also, ist und bleibt die Kunst, so Hegel mit einer berühmten Formulierung, „für uns ein Vergangenes“. Damit aber hat die Kunst auch die „echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete“.14 In diesem Sinne also und nur in diesem ist die Kunst bei Hegel am Ende. Sie ist weder Norm noch Maßstab, noch Symbol des Sittlichen oder Absoluten: „Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich voll-
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enden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“15 Dieses Ende der Kunst bedeutet nicht ihr Verschwinden. Die Frage ist also nicht, ob es nach diesem Ende der Kunst noch eine Kunst geben kann – natürlich gibt es diese. Aber schon Hegel begreift die Befreiung der Kunst als ihren Verlust: Die Kunst, die ihre kultischen und religiösen Funktionen abgestreift hat oder abstreifen musste, ist danach nicht mehr, was sie einmal war. Ihre Freiheit verurteilt sie zur Unverbindlichkeit. Die Zeiten, in denen Schönheit und Wahrheit eine Einheit bilden konnten, sind vorüber – auch dann, wenn dies eine Wunschprojektion in die Vergangenheit gewesen sein sollte. Was Kunst nach ihrem Ende noch sein kann, hat Hegel im Anschluss an diese Überlegung klar formuliert – und diese Ansichten sind angesichts dessen, was wir gerne den modernen Kunstbetrieb nennen, von einer geradezu beklemmenden Aktualität: „Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Urteil, indem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen. Die Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst lädt uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.“16 Die entscheidende Differenz zu Hegel liegt bei Gadamer nun darin, dass das hermeneutische Verfahren mehr will als lediglich wissenschaftlich zu erkennen, was Kunst sei. Es geht darum, etwas von der ursprünglichen Bestimmung von Kunst, selbst eine Form der Erkenntnis zu sein, zu retten. Die Herausbildung einer eigenen ästhetischen Sphäre, die wohl ihre eigenen Gesetzlichkeiten kennt, dem Gesamten der Gesellschaft aber interesselos und unverbindlich gegenübersteht, markiert für Gadamer den Punkt, an dem nicht nur nicht mehr verstanden wird, was ein Kunstwerk ist, sondern auch das Verstehen des Kunstwerks, und damit die Eingliederung der Ästhetik in ein avanciertes hermeneutisches Programm, sabotiert wird. Die Autonomie des Ästhetischen erweist sich so als eine verhängnisvolle „Leistung“ des modernen Bewusstseins: „Was wir ein Kunstwerk nennen und ästhetisch erleben, beruht somit auf einer Leistung der Abstraktion. Indem von allem abgesehen wird, worin ein Werk als seinem ursprünglichen Lebenszusammenhang wurzelt, von aller religiösen oder profanen Funktion, in der es stand und in der es seine Bedeutung besaß, wird es als
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das ‘reine Kunstwerk’ sichtbar. Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins vollbringt insofern eine für es selbst positive Leistung. Sie läßt sehen und für sich sein, was das reine Kunstwerk ist. Ich nenne diese seine Leistung die ‘ästhetische Unterscheidung’“ (WuM, 81). Für die kritische Kunstphilosophie Gadamers markiert der Begriff der „ästhetischen Unterscheidung“ zweifellos einen entscheidenden Punkt. Es ist diese Konstitutionsleistung des modernen Bewusstseins, das imstande ist, Dinge allein danach zu betrachten, wie sie sich den Sinnen präsentieren, die bei Gadamer einer harschen Kritik unterzogen wird. Was bei Hegel noch Resultat des geschichtlichen Fortschritts war, wird bei Gadamer zu einer fragwürdigen Leistung des Bewusstseins. Zwischen Kunst und Nichtkunst allein nach ästhetischen Gesichtspunkten zu unterscheiden verfehlt nach Gadamer das Wesen der Kunst. Denn mit dieser Unterscheidung „soll – im Unterschiede zu der Unterscheidung, die ein inhaltlich gefüllter und bestimmter Geschmack im Auswählen und Verwerfen ausübt – die Abstraktion bezeichnet sein, die allein auf die ästhetische Qualität als solche hin auswählt. Sie vollzieht sich im Selbstbewusstsein des ‘ästhetischen Erlebnisses’. Worauf das ästhetische Erlebnis gerichtet ist, soll das eigentliche Werk sein – wovon es absieht, sind die ihm anhaftenden außerästhetischen Momente: Zweck, Funktion, Inhaltsbedeutung“ (WuM, 81). Die Katze ist damit schon fast aus dem Sack: Kunstwerke bleiben unterbestimmt, wenn ihr Zweck, ihre Funktion und ihre Inhaltsbedeutung, also jene Momente, die das Werk an die Lebenswelt zurückbinden, ausgeblendet bleiben. Geschieht dies, gilt für das ästhetische Bewusstsein nur eine Maxime: die subjektive Beliebigkeit. Wo es keine objektiven, das heißt außerhalb des ästhetischen Bewusstseins liegenden Maßstäbe gibt, lässt sich nicht einmal mehr sagen, ob ein Werk ohne die Zutat des Betrachters überhaupt vollendet sein kann. In kritischer Referenz auf Paul Valéry schreibt Gadamer: „Wenn es nämlich gelten soll, daß ein Kunstwerk nicht in sich selbst vollendbar ist, woran soll sich dann die Angemessenheit des Aufnehmens und Verstehens messen? Der zufällige und beliebige Abbruch eines Gestaltungsvorganges kann doch nichts Verbindliches enthalten. Daraus folgt also, dass es dem Aufnehmenden überlassen bleiben muss, was er seinerseits aus dem macht, was vorliegt. Die eine Art, ein Gebilde zu verstehen, ist dann nicht weniger legitim als die andere. Es gibt keinen Maßstab der Angemessenheit […] das scheint mir ein unhaltbarer hermeneutischer Nihilismus“ (WuM, 90). Hermeneutischer Nihilismus: Damit ist vielleicht der eigentliche negative Angelpunkt von Gadamers Kunstphilosophie benannt. Dort, wo auch nur eine gewisse Beliebigkeit der Deutung eines Werkes zugestanden wird, kann nämlich nicht mehr von einem Verstehen gesprochen werden.
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Verstehen setzt einen wie immer gearteten Sinn außerhalb des um Verstehen bemühten Subjekts voraus, der sich in einem Text, einem Bild, einer Handlung, allgemein: in einem Gebilde manifestieren kann. Scharf formuliert geht es dabei um den Gegensatz von Interpretation und Verstehen. Nicht unterschiedliche subjektive Interpretationen verleihen einem Werk Sinn, sondern der Sinn des Werkes strukturiert die Bemühungen des Verstehens. Gadamer – und damit ist die Katze endgültig aus dem Sack – kann diese These allerdings nur als Postulat, als Forderung formulieren: „Es gilt daher, dem Schönen und der Kunst gegenüber einen Standpunkt zu gewinnen, der nicht Unmittelbarkeit prätendiert, sondern der geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen entspricht. Die Berufung auf die Unmittelbarkeit, auf das Geniale des Augenblicks, auf die Bedeutung des ‘Erlebnisses’ kann vor dem Anspruch der menschlichen Existenz auf Kontinuität und Einheit des Selbstverständnisses nicht bestehen. Die Erfahrung der Kunst darf nicht in die Unverbindlichkeit des ästhetischen Bewußtseins abgedrängt werden. Diese negative Einsicht bedeutet positiv: Kunst ist Erkenntnis und die Erfahrung des Kunstwerks macht dieser Erkenntnis teilhaftig“ (WuM, 92). Entscheidend ist hier tatsächlich die Formulierung: „Die Erfahrung der Kunst darf nicht in die Unverbindlichkeit des ästhetischen Bewußtseins abgedrängt werden.“ Es handelt sich um ein Verbot, das als Verbot ausgesprochen werden muss, weil eine konzise Begründung immer tautologisch wäre. Aus der Voraussetzung, dass Kunsterfahrung Wahrheitserfahrung ist, folgt, dass die Negation der Wahrheitserfahrung eine unzulässige Einschränkung der Kunsterfahrungsmöglichkeiten darstellt. Für das Verhalten gegenüber Kunstwerken ist diese Formel allerdings nicht zwingend. Das Verbot gesteht, wie jedes Verbot, wenn auch zähneknirschend, die Möglichkeit seiner Missachtung zu: Natürlich kann das ästhetische Bewusstsein jedes Kunstwerk in den Orkus der Beliebigkeit und Augenblickshaftigkeit stürzen. Dagegen kann nur behauptet werden: Es soll nicht sein: „Die Erfahrung der Kunst soll nicht in ein Besitzstück ästhetischer Bildung umgefälscht und damit in ihrem eigenen Anspruch neutralisiert werden. Wir werden sehen, daß darin eine weitreichende hermeneutische Konsequenz liegt, sofern alle Begegnung mit der Sprache der Kunst Begegnung mit einem unabgeschlossenen Geschehen und selbst ein Teil dieses Geschehens ist. Das ist es, was gegen das ästhetische Bewußtsein und seine Neutralisierung der Wahrheitsfrage zur Geltung gebracht werden muss“ (WuM, 94). Hans-Georg Gadamers Kunstphilosophie ist so letztlich ethisch fundiert. Die Erfahrung der Kunst soll nicht verkürzt, und die Kunst darf nicht auf Unmittelbarkeit reduziert werden. Deshalb muss das ästhetische Bewusstsein so rekonstruiert werden, dass es an der entscheidenden Stelle bricht. Für das Übertreten dieser Ge- und Verbote kann der
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Hermeneutiker allerdings keine andere Strafe anbieten als den Hinweis, dass sich das Subjekt damit um die Erkenntnismöglichkeiten der Kunst bringt. Wie weh diese Strafe tut, kann allerdings erst dann beurteilt werden, wenn klarer geworden ist, worin nun diese Wahrheitserfahrungsmöglichkeiten von Kunst tatsächlich bestehen. Kunsterfahrung: Wohl verfügt das Subjekt nicht souverän über diese Erfahrungsmöglichkeit, eher wird über es dadurch verfügt. Mit heute spürbar fremd gewordenem Pathos umkreist Gadamer die komplexe Situation der ästhetischen Erfahrung: „Wir sehen in der Erfahrung der Kunst eine echte Erfahrung am Werke, die den, der sie macht, nicht unverändert lässt, und fragen nach der Seinsart dessen, was auf solche Weise erfahren wird. So können wir hoffen, besser zu verstehen, was es für eine Wahrheit ist, die uns da begegnet“ (WuM, 95). Auch hier: Eine Behauptung, die den beanspruchten Wahrheitsgehalt der Kunst stützen muss: dass sie das ästhetisch konfrontierte Subjekt nicht unverändert lässt, modifizierend eingreift in das Dasein des Menschen, soll Kunst in einer entscheidenden Weise wahr sein lassen. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Modifikation kann allerdings nicht im Subjekt liegen – etwa in einer prinzipiellen Offenheit und Bereitschaft gegenüber ästhetischen Konfrontationen –, sondern in der Art und Weise, wie Kunstwerke sind. Unter dieser Perspektive ist Gadamer natürlich ästhetischer Essentialist: „Vielmehr gehört das Verstehen der Begegnung mit dem Kunstwerk selber zu, so daß nur von der Seinsweise des Kunstwerks aus diese Zugehörigkeit aufgehellt werden kann“ (WuM, 96). Diese Seinsweise, die letztlich den Erfahrungsraum ästhetischer Wahrheit ermöglichen muss, hat Gadamer bekanntlich in ursprünglich nichtästhetischen Praktiken gesehen, die, in bestimmter Weise radikalisiert, das Kunstwerk ermöglichen: Spiel und Fest, dann auch Symbol und Ritual. Allerdings behauptet Gadamer nicht, dass Kunstwerke nichts wären als avancierte Varianten des Spiels oder des Festes, wohl aber haben sie in solchen lebensweltlichen Vollzügen ihren Grund und ihre Form gefunden. Wiederum nur exemplarisch sei das am Spiel erläutert, an dem die Frage nach der Erfahrung von Wahrheit vielleicht am prägnantesten gestellt werden kann. Ohne auf die durchaus luziden Beobachtungen Gadamers zum Wesen des Spiels einzugehen, deren erneute Lektüre gerade der so genannten Spaßgesellschaft wahrlich gut täte, fällt auf, dass Gadamer die Kunsterfahrung nicht genetisch aus dem Spiel ableitet, sondern in Kunst und Spiel eher verwandte, und damit sich wechselseitig erklärende, Phänomene sieht: „Das Kunstwerk hat vielmehr sein geschichtliches Sein darin, daß es zur Erfahrung wird, die den Erfahrenden verwandelt. Das ‘Subjekt’ der Erfahrung der Kunst, das, was bleibt und beharrt, ist nicht die Subjektivität dessen, der sie erfährt, sondern das Kunstwerk selbst. Eben das ist der
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Punkt, an dem die Seinsweise des Spiels bedeutsam wird. Denn das Spiel hat ein eigenes Wesen, unabhängig vom Bewußtsein derer, die spielen. […] Das Subjekt des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung“ (WuM, 98). Wer spielt, verfügt nicht souverän über das Spiel, sondern er bringt etwas zur Darstellung, was jenseits seiner Aktivitäten existiert. Man könnte auch sagen, dass durch das Spielen von Spielen Spiele in mannigfacher Weise und Variation realisiert werden. Ähnlich in der Kunst. Wohl bedarf das Kunstwerk zu seiner Realisierung eines Betrachters, aber dieser wird dadurch zum mitvollziehenden Moment seines Geschehens, das wohl ohne ihn so nicht wäre, das aber nicht in seinem Belieben steht. Der Mitspieler im Bereich der Kunst aber ist der Betrachter, der Hörer, der Leser, der Zuschauer, ja erst durch diesen wird aus dem Spiel Kunst: „Es ist eine totale Wendung, die dem Spiel als Spiel geschieht, wenn es Schauspiel wird. Sie bringt den Zuschauer an die Stelle des Spielers“ (WuM, 105). Für Gadamer war diese Wendung offenbar entscheidend. Denn dadurch wird aus dem Spiel ein in sich Abgeschlossenes, das einer Betrachtung zugänglich wird: „Ich nenne diese Wendung, in der das menschliche Spiel seine eigentliche Vollendung, Kunst zu sein, ausbildet, Verwandlung ins Gebilde“ (WuM, 105). Natürlich: Nicht jedes Spiel wird durch ein Publikum zu einem Gebilde. Weder Schachwettkämpfe noch Fußballspiele werden durch die Existenz der Zuschauer und deren mitfiebernder Aufmerksamkeit zu Erscheinungsformen einer ästhetischen Wahrheit, die es verstehend einzuholen gilt. Einzig das Schauspiel, die Handlung eines Dramas, genügt einem Spielbegriff, der die Potenz zur Verwandlung in sich trägt. Es ist das mimetische Verfahren, das den Keim der Erkenntnis in sich trägt, weil es die Wirklichkeit noch einmal, in gleichsam kondensierter und exemplarischer Form nachvollzieht, und in dieser Form der Wiederholung zumindest die Möglichkeit der Wiedererkennung bereitstellt. Ob diese allerdings schon Erkenntnis in einem emphatischen Sinn bedeuten kann, ist fraglich. Gadamer zumindest hat versucht, aus dieser Verwandlung ins Gebilde einen Wahrheitsanspruch abzuleiten, der weit über die Erkenntnis eines Zusammenhangs zwischen der dramatischen Handlung und der ihr zugrunde liegenden Wirklichkeit hinausgehen soll: „Verwandlung ins Gebilde ist nicht einfach Versetzung in eine andere Welt. Gewiß ist es eine andere, in sich geschlossene Welt, in der das Spiel spielt. Aber sofern es Gebilde ist, hat es gleichsam sein Maß in sich selbst gefunden und bemißt sich an nichts, was außerhalb seiner ist. […] Sie [die Handlung eines Schauspiels] ist über allen solchen Vergleich hinausgehoben – und damit auch über die Frage, ob denn das alles wirklich sei –, weil aus ihr eine überlegene Wahrheit spricht“ (WuM, 107). An diesen Sätzen wird deutlich, wie sehr Gada-
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mer versucht, an der Eigengesetzlichkeit von Kunst festzuhalten, sie aber dennoch nicht von dieser Welt zu trennen, sondern durch einen Kunstgriff für diese zu retten: weil aus dem Kunstwerk eine überlegene Wahrheit spricht. Auch hier erweist sich Gadamers Denken als letztlich tautologisch: Die Frage nach den Erfahrungsmöglichkeiten von Wahrheit in der Kunst wird mit der Behauptung beantwortet, dass aus dem Kunstwerk eine Wahrheit spricht, die allen Pendants, die die Welt zu diesem zu bieten hat, überlegen sei. Die eigentliche Begründung, warum eine Handlung, die zum Gebilde wurde, weil sie Zuschauer zulässt, damit zu einem Ort überlegener Wahrheit wird, bleibt letztlich unausgeführt, auch wenn Gadamer die Arbeit des Künstlers mit der eines guten Detektivs oder Psychotherapeuten zu assoziieren scheint: „Die Verwandlung ist Verwandlung ins Wahre […] In der Darstellung des Spiels kommt heraus, was ist. In ihr wird hervorgeholt und ans Licht gebracht, was sich sonst ständig verhüllt und entzieht“ (WuM, 107). Kunstwerke durchbrechen offenbar auch bei Gadamer das Gespinst von Verdrängtem und Verleugnetem, das jede Gesellschaft auszeichnet, sie entbergen eine verborgene Wahrheit. Sie können dies aber nur, wenn sie als Darstellung einen Status erhalten, der den Zuschauer gleichzeitig distanziert und involviert: „Wenn Kunst nicht die Varietät wechselnder Erlebnisse ist, deren Gegenstand je subjektiv mit Bedeutung ausgefüllt wird wie eine Leerform, muß ‘Darstellung’ als die Seinsart des Kunstwerkes selber anerkannt werden“ (WuM, 110). Im Begriff der Darstellung17 verbirgt sich jene entscheidende Ontologie des Kunstwerks, die ein dargestelltes Etwas mit einem Für, an den die Darstellung gerichtet ist, zusammenfallen lässt. Oder, leicht hegelianisch formuliert: In der Darstellung fallen ein Ansichsein und ein Fürunssein zusammen. Diese Dimensionen können dann auch nicht mehr voneinander getrennt werden. Wer immer sich einem Kunstwerk aussetzt, versetzt sich in einen Erfahrungszusammenhang, der seinen Bewusstseinsstand letztlich überschreitet. Fehl geht, wer ästhetische Erfahrungen nur als Erlebnisse, Vertreibung der Langeweile und sinnlichen Genuss verbucht: „Die These ist also, daß das Sein der Kunst nicht als Gegenstand eines ästhetischen Bewußtseins bestimmt werden kann, weil umgekehrt das ästhetische Verhalten mehr ist, als es von sich weiß. Es ist ein Teil des Seinsvorgangs der Darstellung und gehört dem Spiel als Spiel wesenhaft zu“ (WuM, 111). Die Trennung von Werk und Rezipient ist bei Gadamer unzulässig. Es kann daher auch keine Rezeptionsästhetik geben, wie jede Form der Rezeption Moment der Seinsweise des Werkes, und jedes Werk in seinem Sein auch die Weisen der Rezeption inkludiert. Gerade weil der Zuschauer immer mehr ist als nur ein Zuschauer – nämlich Moment des Spiele selbst –, lässt sich das ästhetische Verhalten auch nicht auf eine Form der Passivität – Eindruck
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oder Erlebnis – reduzieren, aber auch nicht auf eine nur ästhetisch gemeinte und bestimmte Form der Wahrnehmung. So, wie der Zuschauer immer mehr ist als nur ein Zuschauer, ist auch die Kunst mehr als immer nur Kunst: nämlich Moment eines sich selbst verstehen wollenden Lebensvollzugs. Damit allerdings hat Gadamers Kritik des ästhetischen Bewusstseins seine schärfste Zuspitzung erfahren. Sie zielt in ihrer destruktiven Absicht auf das Verschwinden des ästhetischen Bewusstseins selbst. War es dessen Leistung gewesen, zwischen Kunst und Leben, zwischen ästhetischem Erlebnis und alltäglicher Realität zu trennen, so möchte Gadamer einen Begriff der ästhetischen Erfahrung reetablieren, der diese Trennung aufhebt: „Wir können dem jetzt geradezu die Form geben, daß wir der ästhetischen Unterscheidung, dem eigentlichen Konstitutivum des ästhetischen Bewußtseins, die ‘ästhetische Nichtunterscheidung’ entgegensetzen“ (WuM, 111). Die Verstehensmöglichkeiten, die durch die Begegnung mit einem Kunstwerk eröffnet werden, sollen nicht auf das Verstehen von Kunst reduziert werden, sondern mit diesem werden Dimensionen des Weltverstehens eröffnet. Kunst changiert bei Gadamer, wie vor allem spätere Arbeiten verdeutlichen, zwischen Spiel und Symbol, zwischen Fest und Ritual, zwischen Verweisungszusammenhängen und Praktiken, die unmittelbare Lebensvollzüge gleichermaßen verdeutlichen und unterbrechen, ohne von diesen so abgetrennt zu werden, wie es das ästhetische Bewusstsein für die Kunst forderte. Man könnte dies auch paradox formulieren: Kunsterfahrung bedeutet nach Gadamer gerade nicht, Kunst zu erfahren. Zur Verdeutlichung dieses Befundes mag ein kurzer, vergleichender Blick auf jene Kunstphilosophie dienen, die im 20. Jahrhundert neben Gadamer am stärksten am Wahrheitsgehalt von Kunst hatte festhalten wollen: Theodor W. Adornos „Ästhetische Theorie“.18 Im Gegensatz zu Adornos Begriff der ästhetischen Wahrheit, der an die Konstellation der Elemente im Werk und seiner immanenten Logik der Form geknüpft war, also gleichsam das ästhetische Bewusstsein als eine Voraussetzung sah, durch die die ästhetische Erkenntnis hindurchmusste, war Gadamers Vorstellung des Verhältnisses von Kunst und Wahrheit im Rahmen des hermeneutischen Projekts wesentlich stärker auf die Aufhebung des Kunstbegriffs hin akzentuiert. Für Adorno war die Kunst, Kunst als Kunst zu erfahren, die Bedingung der Möglichkeit kritischer Erfahrung überhaupt gewesen. Die ästhetische Unterscheidung, die Fähigkeit, sich auf ein Kunstwerk einzulassen und sich dessen immanenter Logik der Form zu überlassen, war bei Adorno eine Grundvoraussetzung, um im Akt der Interpretation jene Wahrheit zu erschließen, die weder deduzierbar, aber auch nicht Resultat eines verstehenden Nachvollzugs sein konnte. Im Be-
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griff des Rätselcharakters der Kunst hat Adorno der Wahrheit der Kunst auch die Möglichkeit zugestanden, sich nicht zu entbergen: „Die Werke sprechen wie Feen im Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht, die Erkenntnis welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.“19 Wohl hält auch Adorno am sprachlichen Gestus aller Kunst fest, aber: „Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.“20 Auf dem Rätselcharakter der Werke beharrt Adorno bis hin zur letzten Konsequenz, dass Kunstwerke nämlich überhaupt nicht als „hermeneutische Objekte“ zu begreifen seien, dass das Einzige, was – auf dem „gegenwärtigen Stand“, wie er vorsichtig hinzufügt – zu begreifen wäre, ihre „Unbegreiflichkeit“ sei.21 Bei Gadamer hingegen boykottiert diese Fähigkeit zur ästhetischen Unterscheidung geradezu die Möglichkeit, mit Kunst Erfahrungen zu machen. Sein Plädoyer für die ästhetische Nichtunterscheidung hätte Gadamer allerdings in ganz anderer Weise zu einem Theoretiker der ästhetischen Avantgarde machen können als etwa Adorno. Dass die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben, von ästhetischer und lebensweltlicher Erfahrung, mit zum Programm der ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts gehört hatten, hätte Gadamers Kunstphilosophie auch zu einer Programmschrift dieser Bewegungen machen können. Von kunstrevolutionären Konzepten des Fin de Siècle über den Wiener Aktionismus bis zu den gegenwärtigen Virtuosen der Kontextualisierung reichen die Versuche, ästhetische Autonomie zu überbieten oder zu unterlaufen und, in welcher Form auch immer, ästhetische Nichtunterscheidungen zu propagieren. Von den Happenings der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts bis zu den Versuchen, soziale Hilfsprojekte als künstlerische Aktionen zu propagieren, reichen die Anstrengungen, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben. Gadamers Konzept der ästhetischen Nichtunterscheidung fand in diesen Experimenten allerdings keinen Platz. Stattdessen haftet Gadamers Ästhetik bis heute der Geruch an, einen anti- oder vormodernen Kunstbegriff zu vertreten. Das hat seine Gründe. Denn während die Avantgarden die schlechte Realität in die Kunstwelt auflösen oder gleich die Wirklichkeit zur Kunst erklären wollten, wollte Gadamer das Kunstwerk in einem nahezu sakralen Sinn dadurch an die Welt zurückbinden, dass dieses einen entscheidenden Anteil am Selbstverständigungsprozess des Menschen haben sollte. Weder die postmoderne Tendenz der oberflächenorientierten Ästhetisierung des Alltags noch die klassischavantgardistische Verklärung des Gewöhnlichen treffen so letztlich Gadamers Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Wahrheit. Gadamers Einbettung der Kunst in ein umfassendes hermeneutisches
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Programm dementierte nicht nur deren Ansprüche auf Autonomie, sondern bestimmte sie vorab als Medium von Verstehensakten. Souverän ignorierte Gadamer dabei einen unangenehmen Gedanken, der vom Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts bis hin zu Adorno die moderne Ästhetik in Atem hielt: dass der Preis für die Wahrheitsfähigkeit der Kunst ihre lebensweltliche Bedeutungslosigkeit sein könnte. Die Spannung zwischen Wahrheitsanspruch und ästhetischer Immanenz, die Adornos „Ästhetische Theorie“ kennzeichnet, verliert sich in Gadamers Sehnsucht nach der Wiedergewinnung ästhetischer Nichtunterscheidungsmöglichkeiten. Und vollends ausgeblendet hat Gadamer einen Verdacht, der seit Nietzsche wie ein Menetekel die Behauptung der Wahrheitsfähigkeit von Kunst begleitet und der auch imstande ist, die seltsame Asynchronizität von Gadamers Kunstbegriff und den Kunstwirklichkeiten zu verdeutlichen: dass die lebensweltliche Bedeutung von Kunst gerade darin liege, uns über die Wahrheit hinwegzutäuschen: „Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.“22 Der hermeneutische Sonderstatus der Kunst bestünde im Anschluss an Nietzsche darin, dass sie uns vor dem Verstehen bewahrt und es deshalb an ihr nichts zu verstehen gibt. Und die ästhetischen Provokationen der Moderne könnten in hohem Maße als Konkretionen jener nihilistischen Hermeneutik gelesen werden, gegen die sich Gadamer gewehrt hatte. Noch dort, wo eine hermetische Poesie kaum Verständnismöglichkeiten anbietet, scheint ihm der Philosoph berufen, doch zu verstehen.23 Nicht, dass es sich bei Kunstwerken um Grenzfälle des Verstehens, sondern dass es sich um Einübungen des Nichtverstehens handeln könnte, markierte demgegenüber jene Perspektive, die jenseits von Gadamer deutlich machen könnte, dass zur Selbstauslegung des Menschen nicht nur der Sinn, sondern, vielleicht sogar in noch höherem Maße, die Erfahrung von Sinnlosigkeit gehört. Zumindest die avancierten ästhetischen Strategien der Moderne waren nicht selten daraufhin angelegt, Sinn zu zerstören und Verstehen zu sabotieren. Allerdings: Auch die Tage der nihilistischen Avantgarde sind längst gezählt. Gadamers redliches Bemühen, „Anti-Kunst“ und das „Verstummen“ der Kunst auch noch zu verstehen,24 mutet mittlerweile ebenso antiquiert an wie die ästhetisch-utopischen Hoffnungen, die einst an diese Begriffe geknüpft waren. Wollte man polemisch sein, könnte man vielleicht sogar behaupten, dass Gadamers Versuch, den Wahrheitsbegriff für die Kunst zu retten, durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte eine geradezu perverse Bestätigung erfahren hat – nicht in dem Sinne, dass in der Zweiten Moderne ästhetische Erfahrungen als Wahrheitserfahrungen erlebt und behauptet werden, wohl aber in dem Sinne, dass sich die von Gadamer kritisierte Autonomie des ästhetischen Bewusstseins und die damit verbundenen ästhetischen Radikalisierungen an den Schnittstellen von
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Markt, Macht und Medien längst aufgelöst und zu einer neuen lebensweltlichen Eingebundenheit führte, die man mit einigem Geschick, wenn auch nicht ohne Zynismus, den zentralen ästhetischen Parametern Gadamers – Spiel, Symbol und Fest – beiordnen könnte. Die Erlebnis- und Eventkultur unserer Tage erinnert ja eher an barocke Inszenierungen und kollektive Ekstasen als an die herben asketischen Ideale der Moderne. Orte reiner Kunst wirken mittlerweile deplatziert. Kein Museum, in dem nicht gegessen, keine Ausstellung, in der nicht getanzt, keine Oper, in der nicht diskutiert wird. Und so wie das Museum zum multifunktionalen Erlebnisraum wurde, in dem die ausgestellten Kunstwerke gerade noch einen Anlassfall darstellen, sind die neuen Orte der Kunst dann auch das Geldinstitut, das Kaufhaus und die aufgelassene Fabrikhalle. Nicht die Kunst wird zum Erlebnis, sondern zum Erlebnis kann hin und wieder auch Kunst gehören. Zwischen Kunst und Nichtkunst strikt zu unterscheiden ist die Sache von misanthropischen Puristen geworden. Man könnte geradezu von einem Triumph der ästhetischen Nichtunterscheidung sprechen – allerdings fundiert diese nicht mehr eine Wahrheit, die es zu verstehen gälte, sondern stellt das sensorische Vehikel dar, das den Kreislauf des symbolischen Kapitals am Leben erhält und beschleunigt. Eine besondere Verlockung läge deshalb sogar darin, gegen die Ausbreitung und Auflösung des ästhetischen Bewusstseins in die lebensweltlich bestimmten cultural industries einige Argumente ins Feld zu führen, die sich zumindest zum Teil aus jener Destruktion des ästhetischen Bewusstseins gewinnen ließen, die Gadamer im ersten Abschnitt von „Wahrheit und Methode“ vorgeführt hatte. Allein die Transformation, die der Begriff des Erlebnisses vom Angelpunkt des ästhetischen Bewusstseins bis zum Habitus des Mitglieds der Erlebnisgesellschaft25 erfahren hat, könnte einiges zur Erhellung beitragen. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang wäre aber, ob die Reintegration der Kunst in die Lebenswelt, die vor allem durch moderne Medien forcierte Ästhetisierung des Alltags, nicht nur ein Oberflächenphänomen darstellt, hinter dem sich letztlich doch die Universalisierung einer Variante des ästhetischen Bewusstseins durchgesetzt hat, das nun alles unter den Verdacht des Scheins stellt, den man wohl genießen kann, an dem es aber nichts mehr zu verstehen gibt.26 Die Sorge mancher pessimistischer Kulturkritiker, dass zumindest die avancierte Medientechnologie uns zu Zuschauern macht, ohne dass wir an einer Darstellung noch teilhätten,27 ist vielleicht doch nicht ganz von der Hand zu weisen. Als Kandidat für ein Prolegomenon zur Fundierung einer nichtwissenschaftlichen Wahrheit stünde Kunst dann allerdings so oder so nicht mehr zu Verfügung. Wenn, nach Gadamer, die „Frage der Philosophie fragt, was das Sein des Sichverstehens ist“ (WuM, 95), dann war dabei der Kunst die
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Aufgabe zugefallen, die Möglichkeit dieses Seins überhaupt erst einmal vor Augen zu führen. Man versteht, warum Gadamer alles daransetzen musste, vielleicht sogar wider die aktuellen Befunde der ästhetischen Erfahrung, denen Adorno sich noch hatte stellen wollen, das ästhetische Bewusstsein, das diesem Anspruch zuwiderläuft, zu destruieren. Die Zerstörung des ästhetischen Bewusstseins war eine Forderung, die aus seinem Vorverständnis von Verstehen resultierte. Unter diesen Voraussetzungen musste das ästhetische Bewusstsein als eine Sollbruchstelle konzipiert werden, auch wenn es in der künstlerischen und gesellschaftlichen Praxis triumphierte. Dass diese Sollbruchstelle schon theorieimmanent nicht wirklich überzeugt und Kunst einerseits mit guten Gründen als Erscheinungsform eines hermeneutischen Nihilismus gedacht werden kann, andererseits das ästhetische Bewusstsein zu einem generellen Habitus des Menschen in der Erlebnisgesellschaft wurde, lässt auch und gerade unter dem Aspekt einer vom Marktgeschehen diktierten Refunktionalisierung von Kunst Zweifel daran aufkommen, ob es gut war, das hermeneutische Projekt insgesamt mit der These beginnen zu lassen, dass die Kunst den Ort einer ausgezeichneten Wahrheitserfahrung dadurch markiert, dass sie sich von der Welt nicht unterscheidet.
Anmerkungen 1 Wer bin ich und wer bist Du. In: Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke (GW) 9, Ästhetik und Poetik II, Tübingen 1999, 383ff. 2 Ders., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Methode (WuM), 4. Aufl., Tübingen 1975. 3 Jean Grondin, Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, 113. 4 Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer, Stil oder „maniera“? Zu Aktualität und Geschichte eines nationalen Unvermögens. In: Merkur 644/2002, 1057ff. 5 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe ed. Weischedel, Bd. X, Frankfurt a.M. 1975 (KdU), 130. 6 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1993, Band V, 613. 7 Ebd., 618. 8 Ebd., 667. 9 Über die Schwächen der gadamerschen Kant-Rezeption und Schillerkritik vgl. u. a. Dieter Teichert, Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis. Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers, Stuttgart 1991, 7ff. und 20ff. 10 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Mit einem Nachwort von Werner Hofmann, Gütersloh o. J., 243.
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11 Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, 11ff. 12 Vgl. u. a. Gadamer, Ende der Kunst?, GW 8, 206 ff. und Gadamer, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 96ff. 13 Ders., Die Aktualität des Schönen, GW 8, 97. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke, ed. Moldenhauer/Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 13, 25. 15 Ebd., 142. 16 Ebd., 25f. 17 Zum Begriff der Darstellung vgl. Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Was heißt „Darstellen“?, Frankfurt a. M. 1994. In diesem instruktiven Sammelband spielt Gadamers Begriff der Darstellung allerdings keine Rolle. 18 Zum Verhältnis von Gadamer zu Adorno vgl. Raúl Fornet-Ponse, Wahrheit und ästhetische Wahrheit. Untersuchungen zu Hans-Georg Gadamer und Theodor W. Adorno, Aachen–Mainz 2000. Fornet-Ponse begnügt sich allerdings mit einem konsekutiven Referat der beiden ästhetischen Wahrheitsbegriffe, ohne sie letztlich argumentativ zu kontrastieren. 19 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften (GS) 7, Frankfurt a.M. 1971, 191. 20 Ders., GS 7, 182. 21 Ebd., 179. 22 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, Band 13, 498. 23 Gadamer, Aktualität des Schönen, GW 8, 100. 24 Ebd., 214f. und 322. 25 Die Soziologe der Erlebnisgesellschaft, die wohl eine „Hermeneutik der Lebensstile“ vorgenommen hat, hat auf Gadamers Analyse des Erlebnisses allerdings verzichtet. Vgl. dazu Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/New York 1993, 34ff. und 93ff. 26 Vgl. dazu Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, 44ff. 27 Dafür noch immer paradigmatisch: Günther Anders, Die Welt als Phantom und Matrize. In: G. A.: Die Antiquiertheit des Menschen I, München 1956.
Nicholas Davey Art’s Enigma Adorno, Gadamer and Iser on Interpretation I. Introduction Concerning the relationship of interpretation to meaning, this paper will defend the sceptical thesis that the meaning of an artwork can never be exhausted by interpretation. Yet in defending this thesis it is appropriate to distinguish between two different forms of this sceptical argument. The first – the incommensurability thesis – holds that there is a je ne sais quoi about an artwork and/or our experience of it which is simply inimical to interpretation. The extreme version of this argument is held by both Adorno and Nietzsche who argue that art’s very enigmatic nature is such that it resists all interpretation. Nevertheless, that art is by its very nature supposedly inimical to interpretation prevents neither philosopher, as we shall see, from regarding such animosity as deeply significant. The second form of argument – the inadequacy thesis – accepts a commensurability between art and its interpretation but questions whether any interpretation can be fully adequate to the meaning of a work. The substance of this Gadamerian view is that the content of a work – its subject-matter (Sachverhalt) – will always exceed the temporal horizon in which it finds particular expression. This leads to a view that Adorno would also in part hold, namely, the art work as meaningful object is always in excess of its interpretation. This form of argument plainly assumes that a work is interpretable but challenges the assumption that any interpretation can claim to be the definitive interpretation. Though the incommensurability thesis and the inadequacy thesis differ on the possibility of commensurability between an art work and its interpretation, both accept that there is something about the very act of speaking about art and aesthetic experience which somehow misses the mark. When Eagleton comments on how the very linguistic instruments we lift towards art, only succeed in pushing it away from us,1 he could be remarking on either Adorno or Gadamer. We might also ask whether, in addition, interpretation’s inability to hit the mark condemns it to failure or whether that very failure should be celebrated for at least revealing what the mark to be hit is. This paper will defend Gadamer’s thesis that art is by its very nature enigmatic but it will also resist the incommensurability argument. It will challenge Adorno’s assertion that
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„Aesthetics cannot hope to grasp works of art if it treats them as hermeneutical objects. What at present needs to be grasped is their unintelligibility.“2
The most obvious counter-assertion would be Gadamer’s declaration that „Aesthetics has to be absorbed into hermeneutics.“3
However, our argument will endeavour something a little more constructive. We shall contend that, 1. Adorno’s claim that artworks should not be treated as hermeneutical objects is based on the faulty assumption that hermeneutical interpretation and the enigmatic are opposed to one another. 2. We shall resist Adorno’s claim that interpretation aspires to render artworks fully intelligible. 3. We will defend the claim that art is enigmatic in nature but will argue that rather than being opposed to art’s status as a hermeneutical object, the enigmatic quality of art is indeed fundamental to its hermeneutic status. 4. We will contend, perhaps most controversially, that interpretation itself generates the enigmatic quality of art. We shall show that interpretation is not incommensurable with the notion of enigma because the enigma (in this case the art work) has a hermeneutic constitution itself. 5. We will argue, finally, that interpretation does not so much find itself confronted or thwarted by the art work but, rather, that interpretation enigmatizes art itself. However, before we substantiate our arguments proper, it is appropriate that we should consider further what is entailed in the claim that art is enigmatic by nature. There are three disadvantages to the contention that art’s enigmatic character renders it resistant to interpretation. 1. By placing it beyond interpretation, it rarefies art, marginalising its social significance. 2. Such a view, it could be argued, mystifies art in order to subordinate it to a general philosophical programme which has no direct bearing on the understanding of a given art work and its specifics. Nietzsche and Adorno are both guilty of this. Their defence of the incommensurability thesis tells us more about their concerns to use art as a means to expose the pretensions of philosophical reason than it does about the nature of any art work per se. 3. Is it not a contradiction in terms to assume that the incommensurability thesis follows from the view that art is enigmatic in constitution? For an enigma to be understood as such is already to have made it an object of interpretation. Indeed, the notion of enigma does not imply an object
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that cannot be spoken of at all but, as Heidegger appreciated, an object which cannot be spoken about clearly or decisively. Enigma means in part, a form of speech (communication) which is ambiguous and illusive in content. Thus, to speak enigmatically is, indeed, to speak and, what is more, to speak in part clearly for, otherwise, the unclear would not become manifest. From this it follows that rather than being incommensurable with interpretation, it is precisely ambiguous, enigmatic speech which calls out for greater attention and interpretative participation from the listener. These concerns suggest that any hasty alliance between the art as enigma thesis and the incommensurability thesis would be prone to strong objections. Neither does it follow that a defence of the art work as an interpretable, hermeneutic object commits one to the view that the art work can be rendered completely transparent. These initial skirmishes with the incommensurability thesis clarify the task that the present paper must undertake. How can a defence of the enigmatic character of art be coupled to the thesis that art is interpretable without implying that art’s mysterious character is in anyway diminished? Let us now turn to the nature of the enigmatic itself.
II. Art and the Question of Enigma The word enigma derives from the Latin aenigma which has its roots in the Greek ainigma, a term which is connected to ainissethai meaning to speak allusively or obscurely, hence, enigmatic as in apologue or fable. As we have already suggested, speaking allusively has a double aspect. Allusiveness can be taken as confusing, as preventing any grasp of the true content underlying what is being said. Plato’s suspiciousness of actors, poets and rhetoricians is exemplary in this respect. Yet allusiveness can also be alluring, be a temptation to think more carefully about what has been said. Nietzsche is instructive here not because his own style is subject to equal measures of suspicion and adoration but because he senses that other issues are at play. He remarks, „Plurality of interpretations sign of strength. Not to desire to deprive the world of its disturbing and enigmatic character.“4
This comment throws light on an earlier remark which states: „There are those who ‘prefer a handful of certainty to a whole cartload of beautiful possibilities.’“5
The conception of art as enigmatic is a product of high philosophical romanticism which tended to privilege non-discursive forms of insight. Dil-
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they’s negative reaction to the romantic enigmatizing of life and art is, from our point of view, revealing. While Nietzsche celebrated the plurality of interpretations for the „beautiful possibilities“ they might contain, Dilthey condemned the scandal of subjectivity that afflicted the humanities in which each writer and thinker speaks only of themselves.6 Dilthey openly acknowledged the enigmatic nature of human life but his methodological approach to the interpretation of art set about removing wherever possible the enigmatic from our understanding. His geisteswissenschaftliche Methode presupposed an art work to be both an expressive and an epistemic object; its meaning and its qualities could be clearly known as the expressive product of a given intentionality. What Dilthey’s position betrays, in other words, is the assumption that the enigmatic quality of art represents a problem which proper interpretative techniques might overcome. This is clearly why Adorno accuses him of transposing art into an hermeneutic object, that is, of supposing that art can be rendered fundamentally intelligible. Apart from the question (to which we shall return) of whether Adorno is justified in such accusations, Dilthey does indeed make a fateful and misguided assumption: the enigmatic presents a problem to interpretation which only the correct interpretative method might surmount. The riposte to this must be that enigmas should not be confused with problems which can be overcome or solved. Enigmas, like mysteries, are not problems subject to methodological solution. They are entities which, as Andrew Louth argues, can only be understood, more deeply, more penetratingly and which demand all our sentient responsiveness.7 An enigma does not present itself to us a datum of which there might be complete objective knowledge: it is not something to be explained away but is to be discerned as a limit to our present understanding, a limit which demands a deeper, more profound approach. In contrast, however, a problem denotes a difficult or doubtful matter requiring solution. A problem looks towards a demonstrable or specifiable result: it requires the solver to achieve a recognisable solution. Conversely, the enigmatic and mysterious do not denote, as Tillich observes, something which ceases to be a mystery after it has been revealed: „what is not known today, but which might possibly known tomorrow, is not a mystery.“8 The distinction between an enigma and a problem reveals a deeper differentiation within the etymology of the word. In XIV century English usage the term is used in the Wycliffe Bible as relating to a difficult question, to a matter of inquiry or to a question of discussion. It is used as a synonym for the enigmatic itself. Alongside this usage, however, are those which reflect another European mathematical-philosophical tradition in which problems relate to geometric theorems which demand de-
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monstration or resolution. This is indicative of a fault line in Europe’s history of ideas between those types of thinking which tie problems to enigmas and those which associate them with riddles or puzzles. Dilthey’s stress upon the methodology of interpretation indicates as Adorno probably suspected, that his thinking falls more on the mathematical-philosophical side of this divide. The tendency to define and, indeed, to confine the problematic within the mathematical-philosophical line of reasoning arguably reached its apotheosis in positivism, a tradition of thought which regarded all problems not amenable to logical or empirical solution as pseudo-problems or as Wittgenstein might remark, not as problems at all. Though such positivism has been markedly modified, it represents a line of thought which has a powerful half-life. Christopher Cowley has recently asked, what are the primary skills of interest to teachers of philosophy? The answering declaration is clear. „Problem-solving. Philosophy is about problems. Not only the means-end problems of most disciplines, but the much more intractable problems that cannot so much be solved as only dealt with.“9
Though Cowley acknowledges that with regard to certain types of philosophical problem „there is no uncontroversial solution of the kind often available to mathematicians“, philosophy can nevertheless alert us to the hidden complexity of a problem. But what is implied by the phrase that the more intractable problems can only be dealt with? Is the supposition here that we must understand why we cannot really deal with these problems and, therefore, must pass on in the manner of Wittgenstein. „What we cannot speak about, we must pass over in silence.“10
We, however, defend the thesis that the enigmatic is far from unintelligible and is, indeed not something that we should be cautious of speaking about. To limit our discourse to one side of an arbitrary line concerning how a problem should be legitimately understood is surely to risk damaging the full range of human sensibilities. In this context, the remarks of Andrew Louth are appropriately cautionary. „The desire to make all reasoning explicit manifests a dislike of evidence, varied, minute, complicated and a desire for something producible, striking, decisive; such a desire is really irrational, as it fails to understand the realities of human behaviour and action.“11
The point we need to retain from these considerations is that the enigmatic is not to be equated with the unintelligible either in Adorno’s sense or in neo-positivism’s sense. Indeed, it can be argued that to persist in
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holding the thesis that the enigmatic is unintelligible is to surrender to a form of nihilism, to give into despair and disbelief concerning anything which cannot be brought under the rubric of supposedly genuine problematic, i.e. solvable, issues. To re-iterate to an earlier point, to speak allusively is not to speak unintelligibly. In allusive speech, the contrasting interpretations are by definition quite clear. The difficulty resides in the fact that such speech does not render decisively clear which of several possible meanings is to be taken as the intended meaning. It should be noted here that if the aim of art were to speak in such a way, it would be reduced to making blandly unambiguous statements. The point remains: were not at least two of an artwork’s interpretative possibilities clear, there could be no enigma. To become aware of the enigmatic in art is to become aware of a variety of determinable meanings within a work. In other words, the enigmatic is not opposed to interpretation in the way that Adorno implies. Neither is it a question of an opposition between art’s intelligible aspects and its hidden mysterious aspects. To the contrary, it is precisely art’s intelligible dimensions which permits its enigmatic character to be brought to light. III. Adorno’s Critique of Hermeneutics Adorno’s critique of hermeneutical aesthetics is vehemently opposed to the spirit of Gadamer’s aspirations. Whereas Gadamer seeks to absorb aesthetics within hermeneutics, Adorno insists that aesthetics cannot hope to grasp works of art if it treats them as hermeneutical, that is, as intelligible objects. What is the nature of Adorno’s resistance to hermeneutical aesthetics? In his posthumously compiled „Aesthetic Theory“, Adorno takes Dilthey’s Verstehens-Hermeneutik as the focus of his critique. This immediately indicates that his critique is historically limited: there is no consideration of the theological and philological tradition of hermeneutics antedating Dilthey and there is no reflection on the phenomenological hermeneutics of Heidegger and his followers. Adorno’s critique of Dilthey makes, nevertheless, some salient points. 1. Adorno’s primary claim is that „the enigmatic quality (of art) renders the very notion of Verstehen problematic.“12 2. It is rendered problematic because of its aspiration: „Verstehen of particular art objects is the objective reproduction or re-enactment of a work by experience where experience operates on the inside of the work, just as, in musical terminology, to interpret a piece of music means to play it in accordance with one’s understanding of how it was meant to be played.“13
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3. This „wholly immanent understanding of works is a false and inefficient mode of understanding because it is under art’s spell whereas truth content stands opposed to this spell […] Achieving an adequate interpretative understanding of a work means demystifying certain enigmatic dimensions without trying to shed light on its constitutive enigma.“14 When Adorno insists that an understanding of art must be located neither in the subjectity of the artist nor in that of the onlooker, he, like Wittgenstein and Derrida, targets those hermeneutic theories which attempt to understand art as the outward expression or objectification of a mental event. Art is not to be understood in terms of its subjective immediacy for to understand either its production or reception from the „inside“, as it were, is to lose sight of the „question of its truth content completely.“15 „A phenomenological approach to art – and to anything else for that matter – is objectionable because it believes to have art’s essence in its hand immediately. What is wrong with this position is not that it is anti-empiricist but, on the contrary, that it removes the dimension of thought from experience.“16
The basis of such reasoning is revealed in the following passage. „(truth) content cannot be art itself: if it were, art would be confined to a tautology. As long as the perception of art is confined to art, the work of art is not adequately perceived. In order to be so perceived, the inner composition of a work calls for an external referent which is not part of art, yet mediated by it.“17
Adorno’s appeal to an external referent brings him very close to Gadamer’s invocation of an art work’s subject-matter (Sache).18 It is clear that both thinkers believe that an art work must invoke and manifest (though will never exhaust) a subject-matter against which it can be appraised and understood. Insofar as an artwork stands in the space it creates between its materiality and its transcendent subject-matter, the full dynamic of an artwork can neither be contained by immanent experience nor grasped by a Verstehens-Hermeneutik. It is this in-between-ness of art which illuminates Adorno’s contention that art has an enigmatic constitution resistant to any hermeneutic project. It is clear that Adorno cannot state what the enigmatic constitution of art is but as these three instances reveal, it evidently resides in the constant interplay between immediate and reflective modes of experience. 1. „Art announces something to be the case against a background which says it is not the case.“19 Art shows us something (an idealisation) which we do not confuse with the world for otherwise art would not be perceivable as art. And yet since that idealisation is also of this world, what art reveals is something that can be recognised as potentially true of this world, hence, Adorno’s deployment of art as a mode of political critique.
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2. As art reveals, so does it hide. „A work of art that did not reveal something other than what was immediately given would reduce art to a mere copying machine.“20 Yet the coherence of meaning which art reveals to be of its making can, if fetishised, hide its absence in the ordinary world. 3. Every artefact works against itself.21 An art work can communicate its subject-matter only insofar as it transcends its materiality. „Every artwork vanishes qua artefact in its truth content.“22 The mark of an effective (authentic) artwork is that in revealing a truth content, it reveals itself not to be the whole truth and thus to be in part an illusion. If an artwork resides in and makes manifest the unstable and oscillating spaces between immediate and reflective experience, what is required of aesthetics is not a subject-centred Verstehens-Hermeneutik but a formulation which permits „Specific experience (to be) joined to a theory that is able to reflect (such) experience. This kind of methodological mediation alone is capable of thinking the enigmatic quality of art.“23
Adorno’s critical aesthetics therefore seeks an adequate understanding of the dynamics of how art works operate as art but „without trying to shed light on its constitutive enigma“. Adorno’s thesis is, then, that art’s enigmatic constitution renders the hermeneutic task of making an art work intelligible unrealisable and misguided: art works if treated as hermeneutic objects are unintelligble from which it supposedly follows that art works are incommensurable with hermeneutic interpretation. This recapitulation of Adorno’s critique of aesthetical hermeneutics (as he understands it) returns us to precisely the assumptions we wish to challenge. We shall counter-argue as follows. 1. To treat an artwork as a hermeneutic object is not to aspire to make it fully intelligible. 2. To recognise the enigmatic constitution of art does not render it incommensurable with hermeneutic interpretation precisely because as 3. asserts, 3. The very enigmatic constitution is itself hermeneutically constituted.
IV. The Hermeneutic Constitution of Art Works Critics of hermeneutics all to readily assume that art works are objects which have a nature independent of and, in the case of Adorno and other adherents of the incommensurability thesis, resistant to the act of interpretation. Such thinkers regard interpretative understanding as something which is brought to bear or is projected on to the art work to the detri-
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ment of its autonomy. They, in other words, overlook the fact that artworks clearly exhibit a mode of understanding themselves. To perceive that artworks are not just the object of hermeneutic attention but are themselves hermeneutically constituted requires, as Wolfgang Welsch has pointed out, an adjustment of understanding comparable to that which Heidegger undertook in his re-appraisal of Dilthey’s hermeneutics: „Understanding is not a subsequent feat of Dasein but is fundamentally a mode of understanding itself.“24 Welsch’s argument is instructive. In his book „Undoing Aesthetics“, Welsch contends that art works evolve in the midst of semantic contexts.25 They are both informed by and take up a position within such contexts. No building is built without being guided by assumptions about the enclosed and the unenclosed. The building of a structure is synonymous with its being placed within a cultural context and when so placed the structure can immediately alter the co-ordinates of its surroundings potentially both reconstructing and deconstructing them. No painting can be produced without reference to semantic horizons which establish what is understood as an appropriate practice or subjectmatter. A painting will emerge in the midst of such horizons and take up a stance within them. Works of art will invariably refer to other works of art. They do not simply adopt or reflect inherited traditions or semantic contexts but intervene in them and, sometimes, significantly amend them.26 What these remarks suggest is that works of art are, indeed, hermeneutically constituted and that furthermore such a constitution is by no means fixed. It would be appropriate to conceive of art works not so much as hermeneutic objects (as if they were the logical object of interpretation alone) but as hermeneutic configurations, as entities which both semantically configure and configure semantically. Furthermore, the semantic contexts which art works respond to and amend are rarely singular but multiple and deeply interwoven. Thus depending upon where a work engages with such semantic nexuses and depending upon where we in our context engage with the work, the work will of itself actualise different sets of interpretative possibilities. This permits the conclusions that not only does an art work have a hermeneutic constitution but also that the work will be enigmatised by the configurations it is placed within, shifting and altering its nature according to how it both changes and is changed by its context. This argument permits us three observations. 1. Regarding art works as hermeneutically constituted does not render them hermeneutic objects as Adorno understood the notion, that is, it does not suppose that they can be rendered transparent by interpretation. 2. Regarding art works as hermeneutically constituted in fact protects the very enigmatic quality which Adorno so revered.
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3. Regarding the enigmatic qualities of art as being hermeneutically constituted means that we are assuming neither that the art work is incommensurate with interpretation nor that the art work can be rendered transparent by interpretation but only that hermeneutic interpretation itself reveals and circumscribes art’s enigmatic character. From these observations we can conclude that the very thing that Adorno wishes to protect – art’s enigmatic constitution – is in fact upheld by the very assumption he rejects, namely, that an art work is a hermeneutic object (configuration) commensurate with (but not reducible to) interpretation. We are now in a position to explore the relationship between interpretation and the enigmatic quality of art more closely.
V. The Enigma of Interpretation At the beginning of this paper we asked how a defence of the enigmatic character of art can be coupled to Gadamer’s thesis that art is interpretable without implying that art’s mysterious (and hence educative) power is in any way compromised? We suggested that a response to this question might be found in the thesis that interpretation itself enigmatizes art. This, indeed, is a view propounded by Wolfgang Iser. To introduce his position we will first view comment on the significance of a central a concept which he in part derives from his former teacher, Hans-Georg Gadamer, and which dominates his account of interpretation. Evolving his conception from Husserl and Heidegger, Gadamer develops the notion of the Sache selbst into what Adorno might have formally defined as „the essential external referent“ of his aesthetics. Die Sache denotes the central subject-matter, theme or concept of a work. It is a key element in what Welsch describes as the semantic surround of an art work in that an artist not only addresses a subject-matter but is addressed by it. In relation to a specific work the subject-matter always transcends a given instanciation. Neither will a work capture all that has been understood of a subject-matter and nor will it ever exhaust what could be conveyed about it. Thus, although an art work can lead us to a given subject-matter, as that subject-matter is always more than any work can capture of it, the art work can never – and this is the vital point – close the space that it opens. The art work is, in a sense, condemned to fail for there is always yet more to be said. Yet the failure is also a glorious one for by making us realise that there is indeed yet more to be said, that art work succeeds in taking us into other possibilities beyond itself. Now, for Gadamer, part of art’s enigma is that an art work will always be saying more than what it is in fact saying and what it is in fact saying it is not really saying at all. But this also
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points to a central weakness in Gadamer’s aesthetics. It fails to dwell on the nature of this vital differential between the said and the unsaid, the interpreted and the uninterpreted. Neither does it consider how such a differential space emerges. Given Gadamer’s Hegelian tendency to stress the transcendent impetus which such differentials generate, this weakness is hardly surprising. Gadamer is interested not in the emergence of the discrepancy between meaning (subject-matter) and utterance (expression) per se but with what a realisation of that discrepancy brings about, namely, a maturing sense of the finitude of human understanding. Art and aesthetic experience is therefore a means to Gadamer’s humanist project. The extent to which Gadamer seeks to „interpret“ the differential between a subject-matter and its rendition rather than acknowledge its operation is poignantly revealed by Walter Pater’s account of „pictorial quality“. Iser comments of Pater in the following terms. „The ‘pictorial quality’ of painting resides neither in the ‘mere technical acquirement in delineation or touch, working through and addressing itself to the intelligence’ nor in ‘what may be called literary interest, addressed also to the pure intelligence’ but in ‘that which lies between’. This is […] what the ‘exquisite pauses in time’ entail. […] The ‘pictorial quality’ of painting cannot be captured in either formalistic or cognitive terms but emerges as something that sits in between and can thus only manifest itself in a continual dispersal of perceptual and conceptual description.“27
Insofar as Gadamer wants to evaluate the significance of that continual dispersal as a necessary moment within his humanist philosophy, an awkward question must arise. What is the substantial difference between him and Adorno if Adorno also esteems the enigmatic quality of art for what it brings about, namely, the frustration of philosophy’s pretence to render everything commensurate with reason? Are not both philosophers colonizing aesthetic experience and the differential which sustains it by placing it within a wider programme of cultural critique? Neither wants to understand the workings of the interpretative differential itself and to see how art’s enigma is in fact produced by interpretation itself. Adorno and Gadamer seem impelled to „philosophise“, to pass beyond the interpretative differential in order to evaluate its significance for certain philosophical schemas which the interpretation of an art work does not itself generate. The worrisome question which has to be asked is whether the brilliant and finely cut analyses of aesthetic experience and its specifics which both Adorno and Gadamer offer, lose anything at all if freed from the cumbersome evaluative/metaphysical frameworks in which they are placed? Let us return to Wolfgang Iser’s argument. In his volume of essays The Range of Interpretation, Iser speaks of the „residual untranslatability“28 of that space opened by interpretation
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between a subject-matter and its rendering. His position is clearly differentiated from Gadamer’s in that he holds that this untranslatability „is not a feature of the subject-matter to be interpreted but is produced by interpretation itself.“29 Iser shuns any attempt to appeal to interpretation as a mode of ontic-disclosure (Heidegger) or to see it deployed in the arsenal of cultural critique. In Iser’s phrase, such reductions „colonize“ interpretation. The growing inter-penetration of cultures means that interpretation can no longer be conceived as a subsumption of what is to be grasped under a presupposition: „instead we have to remind ourselves of what interpretation has always been – an act of translation.“30 Iser observes that „as translatability, interpretation is basically a two-tiered operation that enables any given subject-matter to function.“31 This is an inherently practical point of view for unless subject-matters are applied, that is, translated into particular instanciations, they would remain dormant and possibly atrophy. „Whatever (subject-matter) there is would lie, forever, dormant if it were not made functional, and thus making functional is effected by the structure of a two-tiered operation.“32
Iser’s argument gives a contemporary emphasis to what is in fact the ancient predicament of Hermes: to interpret is to interpret from and to interpret into. Interpretation is marked by this ineluctable duality: the act of interpretation opens a liminal space between the register of what is interpreted and the register which the subject-matter is to be translated into. „Fashioning the subject-matter […] points to a difference between what is interpreted and the register into which it is to be transposed. What appears paradoxical – namely, that the subject-matter is simultaneously shaped by the register and yet taken for something independent of it – is due to the liminal space that is opened up by interpretation itself.“33
The invocation of an ineliminable space opened by interpretation between its subject-matter and its register is Iser’s vital contribution to the present debate. For Adorno and Gadamer an art work’s subject-matter or „truth“ is by definition more than or in excess of its particular rendition. Both thinkers seem to accept this uncapturable excess as a metaphysical „given“, as an unavoidable expression of the difference between universalising thought and particularising sensibility.34 Iser, however, is committed to the view that this ineliminable difference is a product of interpretation itself and not symptomatic of a incontestable axiomatic difference between the artwork and its interpretation. Indeed, the ineliminable difference which is product of interpretation involves an epistemology of participation: that is,
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I cannot translate a subject-matter into a specific artistic register unless I already have an understanding of that subject-matter in another register. „The duality of the interpretive register establishes an epistemology of participation, as the observer is simultaneously inside and outside the system […] the interpretive register is both a component of the subject-matter and adopts a stance outside it.“35
In other words, Iser’s argumentation reveals good grounds for concluding that the enigmatic nature of art is related to our hermeneutic involvement in it. The enigmatic constitution is not so much a formal or metaphysical feature of art works „per se“ but a consequence of our interpretive participation in both their production and reception. The enigmatic character of art does not resist the possibility of interpretation, as Adorno claims, but is to the contrary dependent upon and generated by the interpretative process itself. In the context of our wider discussion, Iser’s conception of an ineliminable space which is opened by interpretation itself permits the following concluding observations. 1. We can lay aside Adorno’s claim that there is a formal incommensurability between the enigmatic nature of art and interpretation. Iser permits us to understand that it is the duality of the interpretative process which itself generates art’s enigmatic character. 2. Arguing that the enigmatic nature of art is not incommensurable with interpretation does not imply that art and its enigmas can be dissolved by interpretation. To the contrary, it can be argued that not only is interpretation productive of art’s enigmatic qualities but that it also deepens our awareness of them. The consequence of Iser’s account of the interpretative differential is that cognition has to become multi-form if it is to be successful vis a vis a subject matter that cannot be subsumed under what has been posited for its comprehension.36 Translating „womanly beauty“ or „child-like innocence“ into cognition is bound to transform cognition into a continually increasing assembly of view points, each of which must give way to another because of its inherent limitations. Consequently, Iser contends, „there are only variables of interpretation, conceived of as iterations of translatability, and there can (therefore) never be such a thing as the interpretation“.37 Adorno’s fear of a hermeneutic quest to render art fully explicable – to arrive at the interpretation – is thus not only foreclosed but it is foreclosed by the dynamics of interpretation itself. 3. The enigma of art is a product of interpretation’s performative character. Interpretation „makes something happen“ and what arises out of this performance are „emergent phenomena“.38 This is consistent with
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Welsch’s view concerning the hermeneutic constitution of art works: the placing of a work in a semantic context generates changes in both the semantic horizon of the work and within the horizon it is placed within, changes which can occur independent of the expectancies of both the artist and the onlooker. For Iser such changes are brought about by the fact that the performative character of interpretation generates its own power: an ineliminable residual untranslatability drives the performance.39 „The liminal space […] created by the act of interpretation cannot be eliminated in its entirety. The residual untranslatability, transforms itself into the power that drives the travelling differential“40 of hermeneutics. The differential which constitutes hermeneutics – the space created between the artwork and its understanding – drives interpretation to overcome the residual untranslatability of that space without ever being able to do so. Thus, as hermeneutically configured constructions, art works can never close the spaces they open but only invite deeper forays into territories they reveal. The ever travelling differential of hermeneutics explains exactly why the enigmas of art can never be regarded as resolvable problems. 4. The enigmatic constitution of art works reveals them to be what might be described as auto-poietic spaces. Not only is the space opened by interpretation between a subject-matter and its register inherently unstable in that it generates further interpretations but, as Welsch has shown, art works will prompt further unexpected interpretative changes by the fact of being placed amongst different semantic contexts. Art works function as auto-poietic spaces which continually prompt the gathering and dispersal of different perceptual and cognitive descriptions. As the case of simply gazing at a picture demonstrates, it is the work or rather the interpretative space that holds our attention.41 As an autopoetic space it catches and guides our gaze: it draws us in, deepens our participation in it by drawing us towards new vistas of vision. We find ourselves involved in what is essentially an uncontrollable process.42 Such spaces in effect generate a fullness of vision in that they give rise to further interpretations which neither the artist nor the beholder might have envisaged. These auto-poietic spaces are not empty since they feed on the positions they carve out although none of them can exercise control over the way certain features are re-organised through further shifting.43 The perpetual shifting of reading and viewing which such autopoietic spaces generate, guarantees a fullness of vision, a seeing more. Thus with regard to art works conceived as hermeneutically configured auto-poietic spaces, we can conclude both with and yet beyond Gadamer that their enigmatic constitution does not diminish or frustrate hermeneutical interpretation but rather induces and inspires it.
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Nicholas Davey
Notes T. Eagleton, The Idealogy of the Aesthetic, London 1990, 241. Theodor W. Adorno, Aesthetic Theory, trans. C. Lenhardt, London 1984, 173. 3 Hans-Georg Gadamer, Truth and Method, London 1989, 164. 4 Friedrich Nietzsche, The Will to Power, London 1968, sec. 600. 5 Friedrich Nietzsche, Beyond Good and Evil, trans. Hollingdale, London 1972. Sec. 10 6 Wilhelm Dilthey, Selected Writings, Cambridge 1976, 115. 7 Andrew Louth, Discerning the Mystery. An Essay on the Nature of Theology, Oxford 1995, 145. 8 Paul Tillich, Systematic Theology, London 1972, 109. 9 Christopher Cowley, „Cultivating Transferable Skills in Philosophy“, PRSLTSN Journal 1 (2001). 10 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, London 1961, section 7. 11 Louth, Discerning the Mystery, 139. 12 Theodor W. Adorno, Aesthetic Theory, London 1984, 176. 13 Ibid. 14 Ibid. 15 Ibid. 177. 16 Ibid. 17 Ibid. 478. 18 Concerning the notion of the subject matter (Sache), Gerald Bruns argues, „This motion of a subject-matter, the what-is-said of speech, is hard to make sense of analytically: it is not reducible to a formal component of discourse, what we would call a signified; that is, it is not simply a grammatical subject or a semantic component, a meaning or linguistic entity, but an ontological subject as well, something that belongs to the world of which we speak and which makes its appearance in our speaking of it – makes its appearance, however, not as such, that is, not as an object, an apophantic entity, but rather as that which at the time always withdraws from language and renders our concepts resistant to clarification. Die Sache, understood in this sense, certainly testifies to the logical weakness of language, its inability to pin things down exactly or to fix them once and for all. Another way to put this would be to say that in antiquity, discourse is not for framing representations at a distance, because one is always finally on intimate terms with the truth, the Sache, that discourse struggle to keep hold of – which is perhaps why at the end of the day the question seems our most basic form of discourse, the only form accessible to most subjects that bear down on us (time, being, death, justice). In fact most subjects cannot be properly questioned; they merely loom before us as questions we do not even know how to formulate, or from which we do not know how to escape“ (see Gerald L. Bruns Hermeneutics Ancient and Modern New Haven, Yale University Press, 1992, p. 62–63). Bruns’ very lucid account of the ambiguities posed by the Sache sets the scene for Iser’s brilliant analysis of the term as an operator within interpretation. 19 Adorno, Aesthetic Theory, p. 155. 20 Ibid. 155. 1 2
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Ibid. Ibid. 23 Ibid. 179. 24 Wolfgang Welsch, Undoing Aesthetics, London 1997, 123–127. 25 Ibid. 26 Ibid. 27 Wolfgang Iser, The Range of Interpretation, New York 2000, 195. 28 Ibid. 194. 29 Ibid. 152. 30 Ibid. 5. 31 Ibid. 154. 32 Ibid. 154. 33 Ibid. 60. 34 For Adorno, the art object is also always in excess of its interpretation. Bernstein comments in this respect that according to Adorno, „art is not simply different from conceptual understanding (and practical legislation) but a protest against its present formation“ (cf. J. M. Bernstein, The Fate of Art, Aesthetic Alienation from Kant to Derrida and Adorno, London 1992, 196. 35 Iser, The Range of Interpretation, 111. 36 Ibid. 141. 37 Ibid. 145. 38 Ibid. 39 Ibid. 153. 40 Ibid. 216. 41 „The perceivable object pales into insignificance so that the subject of the painting can emerge. The subject in turn is not an object: it only assumes the appearance of one, and hence, it is only a figment. Thus the perceivable object of the painting, and the figment made present, do not coincide: instead they begin to interact and in so doing they interchange their attributes. What can be perceived – the object if canvas and paint – dwindles into invisibility, and what cannot be perceived – the subject – is endowed with the visibility of an object. This interchange does not eradicate the difference by which the painting is marked: rather, the difference is acted out in the painting. If the object to be perceived is both material and simultaneously the carrier for something to be figured – which is certainly not canvas and paint – then the duality initiates countervailing movements in the painting, the outcome of which is the following: the physical object to be perceived is toppled or overturned as regards its materiality, inscribes itself into the subject, thus qualifying it as a mode of appearance. Now, the subject as a seemingly perceptible object begins to topple and is turned into a phantasm. A phantasm bears the hallmark of not being an object its form only provides guidance for the conceivability of something which it is not. Therefore, the subject does not represent perceivable objects; instead, it triggers projections, stimulates the production of symbols, and suggests analogies enabling the non-perceivable and yet conceivable object of the painting to come into being. (Iser, „The Aesthetic and Imaginary“, in: The States of Theory, ed. D. Carroll, Stanford 1990, 214.) 42 Iser, The Range of Interpretation, p. 196. 43 Ibid. 21 22
Ruth Sonderegger Gadamers Wahrheitsbegriffe I. Gibt es mehrere Wahrheiten? Es ist keine Selbstverständlichkeit, von der Wahrheit im Plural zu sprechen. Im Gegenteil. Weniges tritt mit einem derartigen Absolutheitsanspruch auf wie gerade sie. Darauf mag zurückzuführen sein, dass Gadamer nicht offen von mehreren Wahrheiten spricht. Gleichwohl scheinen ganz verschiedene im Spiel zu sein, und zwar in einer durchaus ungeklärten Weise. Um diese Unklarheit soll es im Folgenden gehen. Das Problem einer möglichen Multiplizierung sowie einer dadurch bedingten Relativierung der Wahrheit stellt sich bei Gadamer zunächst einmal aufgrund des unklaren Status der Kunstwahrheit. Sie ist in „Wahrheit und Methode“1, etwa in der Mitte des ersten der drei Teile des Buches, der Begriff, von dem aus Gadamer mit der Diskussion der Wahrheitsfrage beginnt: „Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst“ (87) lautet die entsprechende Überschrift. Die Fragestellung des zweiten Teils – „Ausweitung der Wahrheitsproblematik auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften“ (175) – führt diese Diskussion weiter, jedoch gerade so, dass unklar bleibt, inwiefern die Kunstwahrheit der paradigmatische Fall einer einzigen und damit absoluten Wahrheit ist, oder ob die Wahrheit der Kunst sich grundsätzlich unterscheidet von der der Geisteswissenschaften und selbstredend auch von der Wahrheit der Naturwissenschaften, die in Gadamers Verteidigung der geisteswissenschaftlichen Wahrheit ständig mitverhandelt wird. Hinzu kommt, dass Gadamer die Diskussion der Differenzen dieser Wahrheitsbereiche verknüpft mit einer von Heidegger inspirierten Verhandlung der Unterscheidung zwischen Satzwahrheit und Welterschließungswahrheit, welche letztere bei Gadamer zumeist in der Gestalt der Wahrheit von (kanonischen) Texten eine Rolle spielt. Diese Unterscheidung steht eigentümlich quer zur Differenzierung zwischen den erstgenannten und inhaltlich bestimmten Wahrheitssphären. Denn wenn die Unterscheidung zwischen Satz- und Welterschließungswahrheit eine sinnvolle ist, dann spielt sie in allen ästhetischen und nichtästhetischen textuellen Praktiken eine Rolle. Schließlich ist Gadamer auch an der Frage interessiert, inwiefern alles Verstehen, Verstehen auch jenseits des Textverstehens, Wahrheit nicht nur sucht, sondern stets auch voraussetzen muss. Das impliziert die Frage, wie viel, oder möglicherweise vielmehr: wie wenig, mit der notwendig vorauszusetzenden Wahrheit für die im Verstehen gesuchte Wahrheit gewonnen ist.
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2. Die Wahrheit der Kunst2 Ich folge zunächst einmal der Intuition Gadamers in „Wahrheit und Methode“, wonach man mit dem Nachdenken über Kunst beginnen muss, um ein angemessenes Verständnis von der Wahrheit zu bekommen. Das heißt, ich beginne mit einer Rekonstruktion seiner Kunstphilosophie, deren zentrales Anliegen die Rückgewinnung des Wahrheitsbegriffs in Bezug auf Kunstwerke ist. Dieses Unternehmen sieht sich mit mindestens drei im 19. Jahrhundert erstarkten Gegnern konfrontiert: mit einer szientistischen Reduktion des Kunstwerks auf eine nicht weiter bestimmbare sinnliche Gegebenheit; mit einem auf Kant zurückgehenden Subjektivismus, der das Kunstwerk mit seiner Erfahrung – Gadamer spricht meist von Erlebnis – gleichsetzt; und schließlich mit einem Ästhetizismus, dem Gadamer den Namen „ästhetisches Bewußtsein“ gibt. Ich denke, dass Gadamer zufolge diese drei Infragestellungen der Wahrheitsorientierung der Kunst unmittelbar aufeinander verweisen und letztlich ein einziges Phänomen darstellen, was man bezweifeln könnte: Das „ästhetische Bewusstsein“, das davon ausgeht, dass das Ästhetische von den außerästhetischen Bezügen feinsäuberlich getrennt werden kann, besteht in einer entweder materialistischen oder formalistischen Reduktion. Das Kunstwerk ist entweder bloßes sinnliches Erlebnis oder reine Formspielerei. Dass es schon deswegen einem subjektivistischen Relativismus anheim gestellt werde, ist schwer nachvollziehbar, zumal sich gerade formalistische Regelwerke vorstellen lassen und aus der Geschichte der Ästhetik auch zitiert werden können, die Kunstwerke keineswegs dem subjektiven Erleben überlassen. Gerade im Gegenteil! Doch dieser Einwand wiegt nicht besonders schwer, wenn man sich klar macht, dass es bei Gadamer ein stärkeres Argument gegen jeden kruden Materialismus und sein formalistisches Pendant gibt: nämlich die von Heidegger übernommene These von der Unhintergehbarkeit des hermeneutischen „als“; die These, dass das Wahrnehmen reiner Materialität und/oder Form nicht einfach einem problematischen Subjektivismus das Wort redet, sondern in sich widersprüchlich, genauer: ein Ding der Unmöglichkeit ist.3 Diese These, eine Neuauflage von Heideggers Argumenten zum „Sehen-als“ in „Sein und Zeit“4, betrifft die Wahrnehmung überhaupt, und d. h. in diesem Kontext: nicht speziell die kunstästhetische Wahrnehmung. Dass wir nicht die reine Farbe, den reinen Ton oder das bloße Geräusch wahrnehmen, sondern „die Kolonne auf dem Marsch, den Nordwind, den klopfenden Specht, das knisternde Feuer“5 hören, um in Heideggers enger Welt zu bleiben, ist Heidegger zufolge ein Argument gegen alle Sinnesdatenfetischisten. Dementsprechend ist die Infragestellung der reinen Wahrnehmung von Sinnesdaten ohne inhaltlichen Bezug – „Wahrneh-
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mung erfaßt immer Bedeutung“ (97), hält Gadamer dieser Reduktion entgegen – also nicht eigentlich ein Argument gegen das „ästhetische Bewußtsein“, sondern ein allgemeineres. Auf genau dieses Problem der nicht spezifisch ästhetischen Relevanz der These vom Sehen-als scheint Gadamer zu reagieren, wenn er zugibt, dass das Beziehen von Gehörtem, Gesehenem etc. auf Bedeutung beim ästhetischen Sehen „gewiß dadurch ausgezeichnet [ist], daß es den Anblick nicht eilends auf ein Allgemeines, die gewußte Bedeutung, den geplanten Zweck oder dergleichen bezieht, sondern bei dem Anblick als ästhetischem verweilt“ (96). Aber die Langsamkeit der Bedeutungszuschreibung beim ästhetischen Gegenstand, die dann offenbar das ästhetische Verstehen als Verweilen ausmacht, bedeutet nach Gadamer gerade nicht, dass wir aufhören, „im Sehen derart zu beziehen, z. B. diese weiße Erscheinung, die wir ästhetisch bewundern, dennoch als einen Menschen zu sehen. Unser Wahrnehmen ist eben niemals eine einfache Abspiegelung dessen, was den Sinnen gegeben ist“ (96). Die These über die Langsamkeit der Bedeutungszuschreibung in der Erfahrung von Kunstwerken sollte einen misstrauisch machen. Zu eben derselben Langsamkeit könnten wir nämlich während der Dämmerung oder in der Dunkelheit verurteilt sein; wenn wir etwa nicht gleich wissen, ob das Weiße eine Verkehrstafel oder ein Mensch ist. Zumindest kann die Langsamkeit dieses Prozesses noch nicht das spezifisch ästhetische Verweilen erklären. Darüber hinaus scheint es mir symptomatisch, dass Gadamer den Prozess des Ausprobierens von und des Schwankens zwischen verschiedenen Zuschreibungen noch gar nicht zum Verstehen zählt, um das es ihm eigentlich geht, sondern zu einer hinter sich zu lassenden Vorstufe des Verstehens degradiert. „Nur wenn wir das Dargestellte ‘erkennen’, vermögen wir ein Bild zu ‘lesen’, ja, nur dann ist es im Grunde ein Bild. Sehen heißt aufgliedern. Solange wir noch variable Gliederungsformen probieren oder zwischen ihnen schwanken, wie bei gewissen Vexierbildern, sehen wir noch nicht, was ist. […] Und nur wenn wir sie verstehen, wenn sie uns ‘klar’ ist, ist sie [= jetzt ist die Musik gemeint, R. S.] für uns als ein künstlerisches Gebilde da“ (97). Darauf wird zurückzukommen sein. Denn so richtig ich die These finde, dass wir Formen, Geräusche oder Farben immer auf Inhalte beziehen, so naiv scheint mir gerade in Bezug auf Tendenzen neuerer Kunst die Behauptung, das vexierbildhafte6 Zuschreibespiel sei nur ein Vorspiel, nach dem erfolgreiches Verstehen allererst beginnt. Selbst wenn es gelingt, Bedeutungen so eindeutig zuzuschreiben wie bei guten Lichtverhältnissen auf der Straße, so dass man beispielsweise zum Ergebnis kommt: „Das da in der Mitte des Bildes ist Jesus, daneben sind die Schächer, die Person im Vordergrund ist eine Frau von hinten …“; selbst wenn solches Identifizieren gelingt, ist meiner Meinung nach immer
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noch offen, auf welche Weise und ob überhaupt damit die Wahrheit ins Spiel kommt, der Gadamers Hauptaugenmerk gilt. Bislang habe ich Gadamer nämlich lediglich so etwas wie die Identifizierbarkeit bzw. die Provokation zur Identifizierung von Gegenständen auf Bildern zugestanden, nicht aber einen bedeutungshaften Zusammenhang zwischen den erkennbaren Gegenständen, nicht dasjenige also, was man die sprach(ähn)liche oder gar narrative Struktur von Bildern nennen könnte. Das ist darum ein Problem für die Wahrheitsfrage, weil diese sich nach dem seit Aristoteles üblichen Verständnis auf der Ebene einzelner identifizierbarer Gegenstände gar nicht stellt, sondern erst dort, wo Verschiedenes miteinander in Beziehung gesetzt und d. h. über Gegenstände geurteilt wird – auf der Ebene von Sätzen also. Deshalb muss zunächst einmal in Frage gestellt werden, inwiefern mit Gadamers anti-szientifischer Restitution des Wahrnehmensals auch die Wahrheit – und welche – in die Kunst zurückgeholt ist. Diese problematische Unklarheit hat mit einer Differenz zwischen Heidegger und Gadamer zu tun, über die sich Gadamer nur bedingt im Klaren ist. Heidegger spricht vom Verstehen-als in „Sein und Zeit“ in Bezug auf das Identifizieren von und praktische Umgehenkönnen mit einzelnen Gegenständen7: Ich verstehe, und das ist Heideggers Beispiel, was ein Hammer ist, wenn ich ihn aus einer Reihe von Gegenständen „heraussehen“ kann und ihn zu benutzen weiß. Von Wahrheit ist dabei zunächst einmal gar nicht die Rede; ihr gilt Heideggers Aufmerksamkeit erst viel später.8 Wo er sich – gleichsam als Abschluss seiner Verstehenstheorie – auf die Frage der Wahrheit einlässt, unterscheidet er von der Satzwahrheit diejenige der Erschlossenheit einer Welt im Ganzen, wobei er bekanntlich davon ausgeht, dass die Satzwahrheit in der Weltwahrheit fundiert ist. Interessanterweise bleibt bei Heidegger widersprüchlich unklar, inwiefern die als-Struktur allen Identifizierens etwas Prä-prädikatives ist – so klingt es, wenn von einem „als“ die Rede ist, das betont „vor der thematischen Aussage“9 liegt –, oder ob sie die prädikative Struktur voraussetzt und damit auch die Urteils- und Wahrheitsdimension der Sprache. Zu wissen, was ein Hammer ist, implizierte im letzteren Fall das Wissen von wahren und falschen Sätzen über Hämmer. Für dieses Verständnis spricht beispielsweise die folgende These Heideggers: „Was mit den formalen Strukturen von ‘Verbinden’ und ‘Trennen’ [= die zuvor erläuterte Urteilsstruktur, R. S.], genauer mit der Einheit derselben phänomenal getroffen werden sollte, ist das Phänomen des ‘etwas als etwas’.“10 Während der erste Teil von Heideggers „Sein und Zeit“ geradezu leitmotivisch auf die Frage des Vor-Prädikativen der als-Struktur zurückkommt und um ihre adäquate Bestimmung ringt, geht Gadamer einfach davon aus, dass die als-Struktur die Wahrheitsorientierung impliziert, ohne einen einzigen Hinweis darauf zu geben, inwiefern das identifizierende
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Wahrnehmen auf Wahrheit bezogen ist. Er verlässt sich schlicht auf eine Zufälligkeit der deutschen Sprache, indem er geltend macht, dass „wahr“ Teil von „Wahrnehmung“ sei.11 Damit bleibt vor allem ungeklärt, in welchem Sinn das Wahrnehmen Urteilsstruktur hat. Und dass die Rede von Wahrheit nur in Bezug auf geäußerte Urteile, Aussagen also, und Aussagenzusammenhänge Sinn macht, steht für Gadamer außer Zweifel. Er ignoriert im Übrigen auch die – gerade für die Kunst – gar nicht triviale Frage, ob das Identifizierte richtig oder falsch repräsentiert wurde und vermengt so die Wahrheit des Dargestellten mit der Wahrheit der Darstellung. Ich lasse die Frage des Zusammenhangs zwischen Wahrnehmen-als und Urteilen, die bei Gadamer noch ungeklärter ist als bei Heidegger, damit ebenso auf sich beruhen wie die nach dem Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung und konzentriere mich auf Gadamers These von der Urteilsgebundenheit der Wahrheit. Bezieht man sie zurück auf seine Thesen zum Verstehen von Bildern, so kommt man zu folgendem Schluss: Wahr oder falsch können unter der Voraussetzung, dass Aussagen die primären Orte der Wahrheit sind, zunächst einmal nur die Sätze der Zuschreibenden sein; etwa ein Satz wie: „Die gekreuzigte Frau mit der Dornenkrone ist wohl Maria.“ Selbst dort, wo wir über versprachlichte Identifikationsakte von der Art „Das rote Viereck ist ein Haus“, „Die helle Fläche am oberen Bildrand deutet eine Wolke an“ hinausgehen und so etwas wie Zusammenhänge im Bildinneren herstellen – „Die Wolken lichten sich am Himmel genau über dem einsamen Mönch“ –, wird allenfalls etwas dem Satz Analoges innerhalb des Bildes hergestellt, nie jedoch das ganze Bild als Satzzusammenhang erläutert, schon gar nicht als Satzzusammenhang, der in einer These kulminiert, die im aussagenlogischen Sinn entweder wahr oder falsch ist. Und dies liegt nicht an der nichtsprachlichen Verfasstheit von Bildern. Dasselbe Problem taucht auch in Bezug auf Literatur auf. Dort kann selbstredend zwar in einem ganz unmetaphorischen Sinn vom Verstehen von Sätzen die Rede sein. Aber auch hier wird man damit konfrontiert sein, dass der Zusammenhang der einzelnen Sätze signifikanterweise oft unklar bleibt, und ihre Zusammenfassung zu einer These scheint erst recht nicht möglich. Wenn wir der sprachphilosophischen Tradition, in die auch Gadamer sich stellt, erst einmal folgen und Wahrheit als etwas ansehen, das unzweideutig nur Sätzen, Äußerungen oder allenfalls auch ihrer textuellen Summe zugesprochen werden kann, dann bleibt nach dem zuletzt Gesagten offensichtlich unklar, was „Wahrheit der Kunst“ oder „Wahrheit des Kunstwerks“ bedeuten könnte. Damit wird auch der Begriff der Erkenntnis fragwürdig, den Gadamer zusammen mit dem der Wahrheit in die Kunst zurückholen bzw. von ihr aus erläutern will. Zu unterscheiden bleibt demnach Gadamers plausible
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Bemerkung gegen die reine Wahrnehmung – zugunsten der Unhintergehbarkeit einer Wahrnehmung von etwas als etwas – von seiner Unterstellung, damit sei der Urteilscharakter der Wahrnehmung erläutert, und von seiner vorschnellen These, damit habe man den Wahrheitsbegriff in die Kunst zurückgeholt. Dort, wo Gadamer sich auf Einzelinterpretationen einlässt, d. h. vor allem in den unter dem signifikanten Titel „Kunst als Aussage“12 veröffentlichten Aufsätzen, versucht er der eben genannten Schwierigkeit, von identifizierten (satzähnlichen) Elementen ausgehend zur Wahrheit des Kunstwerks zu kommen, eher Rechnung zu tragen – vermutlich einfach deswegen, weil sie sich hier in aller Dringlichkeit stellt. Nun beschränkt er sich nicht auf das Beschreiben von Identifizierungsversuchen. Er charakterisiert die ästhetische Erfahrung als einen Leseprozess, der mit dem Buchstabieren beginnt und bei einem Sinnganzen endet, das die anfängliche Buchstäblichkeit für immer ganz hinter sich gelassen hat.13 Wie man so im Ausgang von Buchstaben und Wörtern zu einem Sinnganzen kommt, macht er an einem Bild von Karl V. deutlich, was unterstreicht, dass auch das Betrachten von Bildern oder das Hören von Musik für Gadamer ein Zusammenlesen ist: „Wer z. B. einen berühmten Tizian oder Velázques, irgendeinen Habsburger zu Pferde bewundert und dabei nur denkt: ‘Ah, das ist Karl V.’, der hat gar nichts von dem Bild gesehen. Es gilt, es aufzubauen, so daß es sozusagen Wort für Wort als Bild gelesen wird und am Ende dieses zwingenden Aufbaus zu dem Bild zusammengeht, in dem die mit ihm anklingende Bedeutung gegenwärtig ist, die Bedeutung eines Weltherrschers, in dessen Reich die Sonne niemals unterging.“14 Wie immer sinnlich angereichert oder prozessual verzögert die ästhetische Erkenntnis bei Gadamer demnach ist, am Ende steht die Wahrheit einer kompliziert aus einzelnen sprachlichen oder sprachanalogen Elementen herausdestillierten Aussage. Nicht ohne Grund lautet deswegen der Titel einer Sammlung kunsttheoretischer Überlegungen Gadamers „Kunst als Aussage“15. Das hat zwei Konsequenzen: (1) eine kunsttheoretische und (2) eine wahrheitstheoretische. (1) Mit der Bestimmung der Kunst als Aussage wird die auch von Gadamer wenn nicht gesuchte so doch befragte Eigenständigkeit des Ästhetischen verspielt. Trotz des schockierend Neuen und umwerfend Überzeugenden der ästhetisch erfahrenen Wahrheit und trotz ihrer Prozessualität und Sinnlichkeit kann diese Wahrheit bei Gadamer stets in Worte gefasst und zur Aussage zusammengeschmolzen werden. Somit hat die ästhetische Erfahrung ihren Fluchtpunkt in einer solchen Aussage, die sich von nichtästhetisch – und das kann hier nur heißen: weniger zögerlich – zustande gekommenen Aussagen durch nichts unterscheidet. Das, was an der ästhe-
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tischen „Aussage“ vielleicht einen Unterschied hätte machen können und darin den Aussagencharakter wohl auch in Frage gestellt hätte, darf am Ende keine Rolle spielen. Weil Gadamer die Wahrheit als Aussage in die Kunst zurückholt, weiß man zuletzt auch gar nicht mehr, inwiefern er überhaupt über Kunst spricht. Es ist zwar ein gravierendes Problem, dass Gadamer das Spezifische von Kunstwerken so stark über ihren Aussagencharakter bestimmt, dass unklar wird, wie sich Kunstwerke von nicht-künstlerischen Texten unterscheiden, die man in der Regel genau so zusammenlesen muss, wie er das von Kunstwerken geltend macht. Doch die Einsicht, dass Gadamer – keineswegs erstaunlich für einen Hermeneutiker – Kunstwerke wie peu à peu zu entschlüsselnde Texte behandelt, ermöglicht es zumindest, sein Zentralanliegen, die „Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst“ und deren „Ausweitung […] auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften“, neu zu verstehen (2). Damit komme ich zur zweiten wahrheitstheoretischen Konsequenz von Gadamers Ästhetik, die im folgenden Abschnitt verhandelt werden soll.
III. Die textuelle Wahrheit (der Geisteswissenschaften) Bislang habe ich Gadamers Ästhetik in „Wahrheit und Methode“ rekonstruiert. Ihr geht es in meiner Lesart darum, einen dem Wahrheitsbegriff auf der Ebene von Aussagen analogen normativen Begriff für Textzusammenhänge geltend zu machen. Dass Gadamer in Bezug auf Texte und einzelne Aussagen von Wahrheit spricht, macht die Sache schon terminologisch schwierig. Weil er den Begriff des Kunstwerks, der unter den erläuterten Umständen nichts anderes als „Text“ meint, dann aber doch wieder über das Verstehen seiner Aussage erläutert, zu der Kunstwerke lediglich etwas komplizierter und zögerlicher synthetisiert werden als dies etwa bei nicht-literarischen Texten der Fall ist, bleibt Gadamers weniger ästhetisches als vielmehr wahrheitstheoretisches Anliegen auch systematisch dunkel: eben das Anliegen, einen normativen Begriff für textuelle Zusammenhänge zu finden, das eng mit dem von Heidegger inspirierten Versuch zusammenhängt, die Wahrheit von Aussagen als derivativ gegenüber der Wahrheit von (literarischen) Texten oder anderen welterschließenden Entwürfen zu erweisen.16 Im Unterschied zu Gadamer hat Heidegger, und zwar schon in „Sein und Zeit“, die aristotelische These in Frage gestellt, dass der Satz der primäre Ort der Wahrheit ist, und dagegengehalten, dass ein Satz (bzw. eine satzförmige Überzeugung) allein dann wahr oder falsch sein kann, wenn denjenigen, die Sätze äußern, eine ganz Welt erschlossen ist. Weil von die-
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ser erschlossenen Welt abhängt, welche Sätze wahr bzw. falsch sind, schlägt Heidegger bekanntlich vor, die erschlossene Welt als wahr in einem primären Sinn zu bezeichnen, die Satzwahrheit dagegen als abkünftige Wahrheit anzusehen. Ich will hier nicht ausführlich auf die Diskussion eingehen, zu der diese These Anlass gegeben hat,17 sondern nur auf ihre wichtigsten Probleme aufmerksam machen: Entweder lässt sich auch auf der Ebene der Erschlossenheit fragen, warum sie wahr oder falsch ist – und das implizierte einen Regress, weil demnach jede Erschlossenheit eine höherstufige Erschlossenheit voraussetzen würde –, oder man muss die jeweilige Erschlossenheit als unkritisierbar voraussetzen und hinnehmen, was die Rede von wahr bzw. falsch überflüssig oder zumindest problematisch macht. Heidegger präferiert zweifelsohne die zweite Variante, die sich zumindest auf die m. E. richtige Einsicht berufen kann, dass der letzte Horizont, aus dem heraus wir sprechen und handeln, nicht zum Gegenstand der Beurteilung gemacht werden kann, solange wir urteilen. Gleichwohl ist damit nicht das Problem aus der Welt geschafft, dass Heidegger dort von Wahrheit spricht, wo jedes Urteil suspendiert scheint, was seinen deutlichsten Ausdruck darin findet, dass jene Wahrheit der Erschlossenheit keine Falschheit als Gegenüber hat. Ich will auch nur einen knappen Hinweis darauf geben, dass bei der Lösung dieses Problems in meinen Augen alles davon abhängt, dass die Wahrheit von Aussagen einerseits und die Beurteilung von immer beschränkten holistischen Hintergründen einzelner Überzeugungen, die beurteilbare Sichtweisen zum Ausdruck bringen, andererseits in ein Verhältnis der Gleichursprünglichkeit gesetzt werden.18 Solche Sichtweisen wären dann wahr, wenn sie untereinander kohärente Überzeugungen möglich machen. Und einzelne Überzeugungen machten eine Befragung ihrer Hintergründe nach Wahrheitsgesichtspunkten notwendig, sobald dauerhafte Widersprüche zwischen isoliert für wahr gehaltenen auftauchen.19 Entscheidend ist für das Folgende vor allem, dass Gadamer vermutlich eher als Heidegger die Mittel gehabt hätte, um zu einer Lösung des eben genannten Problems zu kommen, da er die Aussagenwahrheit nicht von vornherein als derivativ bezeichnet. Dass er es trotzdem nicht gelöst hat, lässt einen bisweilen daran zweifeln, ob Gadamer die von Heidegger wenn nicht überwundenen so zumindest unablässig bearbeiteten Probleme überhaupt gesehen hat. Zudem ist kritisch anzumerken, dass Gadamers unspezifische Rede von Welt(-Sicht) insofern ein Problem darstellt, als sie – und dasselbe gilt von Heidegger – zwischen so verschiedenen Phänomenen schwankt wie der neuen Sichtweise auf einen spezifischen, klar begrenzten Sachverhalt und Welten im Sinn von historischen Epochen, kulturellen Traditionen,
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Sprachgemeinschaften etc. Auch wirft seine Verteidigung der welterschließenden Funktion von (ästhetischen) Texten die Frage auf, ob und wie sich die Erschließungskraft von Texten zu derjenigen einer Sprache im Sinn des Deutschen oder Österreichischen verhält, die auch noch von jedem Text vorausgesetzt wird. Vor allem aber stellt sich die Frage, warum Gadamer das Wahre von Welten, das der Wahrheit einzelner Aussagen vorauszuliegen scheint, dann doch immer wieder – und darin unterscheidet er sich von Heidegger – als aussagenförmig reformulierbar darstellt und dadurch die gesuchte Differenz zwischen der Wahrheit von Sichtweisen oder Welten und der Wahrheit von Aussagen durchstreicht.
IV. Wahrheit über Kunst und Geisteswissenschaften hinaus: der Vorgriff der Vollkommenheit Ich komme damit, nachdem ich Gadamers Kunstwahrheit als letztlich aussagenförmige Textwahrheit rekonstruiert habe, zu einem zweiten nicht spezifisch ästhetischen Wahrheitsproblem: zu jener Wahrheitsunterstellung, die Gadamer „Vorgriff der Vollkommenheit“ (299) nennt. In meiner Rekonstruktion des ersten Teils von „Wahrheit und Methode“ geht es Gadamer dort um zweierlei: einerseits um das Geltendmachen der hermeneutischen Dimension der Kunst, andererseits um das Etablieren eines textbezogenen Wahrheitsbegriffs, der für seine Theorie der Geisteswissenschaften, die ja vor allem Textwissenschaften sind, von größter Bedeutung ist. Im zweiten Teil – und erst dieser ist explizit den Geisteswissenschaften gewidmet – beschäftigt sich Gadamer paradoxerweise mit den nicht methodischen, sondern viel grundsätzlicheren Voraussetzungen des Verstehens ganz generell, also des Verstehens auch jenseits der Geisteswissenschaften. Dabei kommt selbstredend die Wahrheit ebenso auf eine neue Weise ins Spiel: nicht so sehr als Qualität von Sätzen oder Texten, die wir uns im Verstehen peu à peu erschließen, sondern als etwas, das wir in allem Verstehen unterstellen müssen, wenn dieses auch nur anfangen soll. Ein weiterer neuer Aspekt ist der folgende: Während es bislang um eine Wahrheit ging, die ohne ein Gegenüber des Falschen nicht denkbar ist – zumindest in meinen Augen nicht, denn nach der Möglichkeit des Falschen habe ich ja selbst noch auf der Ebene der Welterschließung gefragt –, geht es nun um einen Vorgriff auf Wahrheit, der zur Falschheit zumindest nicht in einem symmetrischen Verhältnis steht, wenn er überhaupt eine Beziehung zu ihr unterhält. Für Gadamer hängt die entscheidende Wendung der Hermeneutik seit Schleiermacher an einer Formalisierung (vgl. 298 f.). Diese Formalisierung besteht darin, dass die Hermeneutik nicht länger versucht, gewisse inhalt-
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lich bestimmten Traditionen oder Überzeugungen miteinander zu versöhnen, sondern sich zu einer Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeiten des Verstehens wandelt. Deshalb geht es auch nicht länger um verschiedene Methoden des Verstehens, sondern um das immer gleiche und einzig mögliche „ontologische[s] Strukturmoment des Verstehens“ (299; vgl. auch 300). Dieses besteht bekanntlich in nichts anderem als dem Vorgriff der Vollkommenheit. Gadamers Charakterisierung dieses Vorgriffs wiederum ist eine Variation dessen, was Heidegger über den hermeneutischen Zirkel schreibt: dass er sich nämlich weniger zwischen den Teilen und dem Ganzen eines Verstehensobjekts entfaltet als zwischen dem Objekt und dem Verständnis suchenden Subjekt; und des Weiteren, dass dieser Zirkel nie zu überwinden ist. Das richtet sich gegen mindestens zwei (romantische) Subjektivismen: sowohl gegen den subjektiven Akt des Interpreten, sich selbst durchzustreichen, um ganz im Objekt und seinen Teilen aufzugehen, als auch dagegen, das nämliche Objekt als subjektiven Ausdruck seines Verfassers bzw. des historischen Kontextes des Verfassers zu verstehen. In beiden Punkten stellt sich Gadamer restlos hinter Heidegger und fasst sie folgendermaßen zusammen: „Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet“ (298). Eben diese alles ermöglichende Gemeinsamkeit, die als Strukturmoment des Verstehens und ganz unabhängig von allen je möglichen Inhalten interessiert, wird von Gadamer mit Wahrheit bzw. mit dem Vorgriff der Vollkommenheit, der ein Vorgriff auf vollkommene Wahrheit ist, in Verbindung gebracht. Dieser unhintergehbare Wahrheitsbezug wird im Folgenden zu befragen sein, und damit auch die Richtigkeit des formalen Ansatzes von Gadamer.20 Der Vorgriff der Vollkommenheit umfasst zweierlei: „Es wird nicht nur eine immanente Sinneinheit vorausgesetzt […], sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von transzendenten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemeinten entspringen. […] Das Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies Formale, daß ein Text seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist“ (299). Hier kommen Wahres und Falsches so nah zusammen, dass die Grenzziehung schwierig wird. Wahr ist sicher, dass gerade in Situationen radikaler Fremdheit kein Verstehen beginnen würde, wenn nicht einige Gemeinsamkeiten als wahr vorausgesetzt würden. Und je fremder uns ein Gegenüber ist, je weniger wir mit ihm eine Tradition teilen, desto mehr müssen wir bei dem wenigen, aus dem wir Sinn machen wollen, auch tatsächlich unterstellen, dass es vollkommen wahr ist. Andernfalls bekämen wir nie einen Fuß in die Tür zu uns radikal Fremdem.
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Wie man aber vor allem aus der Theorie der radikalen Interpretation von Davidson weiß, die zumindest in seinen frühen Aufsätzen eine Theorie der Interpretation unter Bedingungen radikaler Fremdheit ist,21 muss das zu Unterstellende keine gemeinsame Tradition in Gadamers Sinn sein. Es reicht, davon auszugehen, dass das Gegenüber ein menschliches Wesen mit einigen basalen Bedürfnissen ist, die ich von mir selbst kenne und an deren Existenz ich nicht zweifeln kann, ohne mich selbst als verstehendes Wesen durchzustreichen. Dabei ist nicht unwichtig, dass wir Davidson zufolge in Situationen radikaler Fremdheit auch bei Unterstellung absoluter Wahrheit der Überzeugungen des Gegenübers nicht weiterkommen, wenn wir das sprechende Gegenüber nicht im direkt wahrnehmbaren Kontext seiner Rede- und anderen Handlungen interpretieren können, d. h. auch von der Welt Informationen bekommen, auf die das Gegenüber sich bezieht. Das impliziert die These, dass Textverstehen sich demgegenüber schon auf viel mehr geteiltes Wissen zwischen Objekt und Interpret verlassen kann und radikale Fremdheit längst hinter sich gelassen hat. Deshalb ist dort, wo es um spezifische, nicht zuletzt textbasierte Traditionen geht, etwa die geisteswissenschaftlich deutsche des 19. Jahrhunderts, in der Gadamer steht, die These, das tragende Gemeinsame sei als Wahres zu unterstellen, auch schon falsch und führt in jenen Traditionalismus und Klassizismus, von dem gerade Gadamer nicht frei ist. Wo dieses Falsche genau beginnt, will ich als Nächstes erläutern. Zwar wird die vollkommene Wahrheitsunterstellung bei Gadamer bisweilen dadurch eingeschränkt, dass er sagt, man müsse diese Voraussetzung einer tragenden und wahren Tradition nur am Beginn machen, um überhaupt in ein Gespräch mit dem Verstehensobjekt zu kommen, später hingegen könne man sehr wohl zwischen wahr und falsch bei einem selbst sowie beim Verstehensobjekt unterscheiden und folglich auch bei der meist nicht im gleichen Ausmaß von Subjekt und Objekt geteilten Tradition – ja nur im verstehenden Gespräch komme man zu derartigen Scheidungen. Daran finde ich vollkommen überzeugend, dem von den beteiligten Subjekten nicht vollkommen kontrollierbaren Prozess des Verstehens kritisches Unterscheidungspotential zuzuschreiben. Aber das macht das auch bloß anfängliche Unterstellen vollkommener Wahrheit m. E. nicht richtig. Wie ich mit den kurzen Ausführungen zu Davidson deutlich zu machen versucht habe, muss vollkommene Wahrheit nur in einem Stadium der Fremdheit vorausgesetzt werden, über das Gadamers Verstehensszenarien immer schon hinaus sind. Entweder reichen in jenem Ernstfall, wo Gemeinsamkeiten erst etabliert werden müssen, genau jene Wenigkeiten aus, die wir Davidson zufolge dann als vollkommen wahr auch auf der Seite der Verstehensobjekte unterstellen müssen. Oder wir wissen von Anfang an mehr über einander – nicht zuletzt deshalb, weil wir eine Tradition
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teilen. Doch damit sind wir von Beginn an auch in der Lage, Falschheiten beim anderen zu identifizieren, sodass es auf jeden Fall unzutreffend ist zu behaupten, man müsse bei jedem Verstehen anfänglich auf der Seite des Objekts die vollkommene Wahrheit unterstellen.22 Sosehr es also zutrifft, dass alles Verstehen des radikal Fremden unmöglich wäre, wenn wir uns nicht auf die Wahrheit eigener Überzeugungen verlassen könnten und wenn wir einige von ihnen nicht auch dem Verstehensobjekt als absolut wahr unterstellen könnten, so wenig macht die Rede von vollkommener Wahrheit Sinn, sobald wir eine gemeinsame Tradition unterstellen können, deren angebliche überlegene Wahrheit sich bei Gadamer wider alles bessere Wissen, dass auch in ihr Falsches ist, immer wieder durchsetzt. Dies aus zwei verschleiernden und letztlich falschen Gründen: Aus der richtigen Einsicht, dass Tradition das ist, was uns mit der Vergangenheit verbindet und darin auch Bedingung der Möglichkeit von Verstehen ist, folgt keineswegs, dass die Überzeugungen, aus denen die Tradition besteht, wahr sind. So viel zu Gadamers Traditionalismus, der sich am deutlichsten in Formulierungen wie derjenigen vom „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ (295) zu erkennen gibt. Und aus der richtigen Einsicht, dass Verstehen im Sinn des kritischen Scheidens zwischen wahr und falsch immer einen gewissen Abstand voraussetzt, folgt keineswegs, dass dieser Abstand ein historischer sein muss, der die Verstehensobjekte gewissermaßen schon klassisch und darin wahr gemacht hat. Herausfordernde Fremdheit begegnet in ausreichendem Ausmaß auch in der eigenen Zeit; sei es in der eigenen Welt oder in einer fremden unserer Gegenwart. Dagegen behauptet Gadamer, dass nur die gut abgehangene Vergangenheit sichere Maßstäbe vorgeben kann: „Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst für das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen herangehen […]. Erst das Absterben aller aktuellen Bezüge läßt ihre eigene Gestalt sichtbar werden und ermöglicht damit ein Verständnis des in ihnen Gesagten, das verbindliche Allgemeinheit beanspruchen kann“ (302 f.). So viel zum Klassizismus. Die Weise, in der Gadamer seinen Traditionalismus und Klassizismus transzendentalphilosophisch verschleiert, ist Grund genug, in einem abschließenden Abschnitt einen kritischen Blick auf Gadamers formale, und d. h. in diesem Kontext: transzendentale Wendung der Hermeneutik zu werfen. Darüber hinaus möchte ich mit Bezug auf „Wahrheit und Methode“ abschließend die Frage stellen, inwiefern Gadamers Hermeneutik im Besonderen und die Philosophie im Allgemeinen nur dort auf dem richtigen Weg sind, wo sie sich auf transzendentale Fragen beschränken, und ob
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sie sich überhaupt darauf beschränken können. Zunächst einmal fällt in dieser Hinsicht auf, dass sich auch bei Gadamer eher inhaltliche Spezifizierungen von Wahrheitskriterien selbst dort einschleichen, wo er das Allerformalste zu explizieren vorgibt: etwa die inhaltliche Auffassung, dass sichere Maßstäbe nur aus der Vergangenheit kommen können, die er im Kontext der Erläuterung der Bedingungen der Möglichkeit allen Verstehens entwickelt. Und dort, wo Gadamer auf Kunstwerke zu sprechen kommt – wie das letzte Zitat belegt, kommt ihnen gerade auch im Kontext des Vorgriffs der Vollkommenheit einmal mehr eine entscheidende Rolle zu –, ist nicht nur ein Einschmuggeln inhaltlicher Wahrheitsbestimmungen festzuhalten, wo es offiziell nur um Formalitäten gehen soll. Hier wird die scheinbar transzendentale Allgemeinheit benutzt, um eine Haltung zu kaschieren, die man unkritisch und apolitisch nennen muss. Das führt mich zurück zur Frage der Kunst, ohne die sich Gadamers Stellung zur transzendentalen Hermeneutik bzw. zur Philosophie nicht verstehen lässt.
5. Ist die Wahrheit des Ganzen die ganze Wahrheit? Dass es Gadamer nicht nur darum geht, Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens zu rekonstruieren, sondern auch Verstehensobjekte auszuzeichnen, in denen uns (eine inhaltlich bestimmte) Wahrheit in besonderer Weise zuteil wird, macht seine Diskussion der Kunst besonders deutlich. Die Wahrheit der Kunstwerke scheint mir bei Gadamer durch mindestens die vier folgenden Aspekte charakterisiert: (1) Sie bezieht sich auf die Totalität eines „Sinnganze[n]“ (114) bzw. einer „Welt“ (vgl. z. B. 133), (2) die eine in sich geschlossene Ordnung, ein „geschlossene[r] Sinnkreis, in dem sich alles erfüllt“ (118) sowie (3) etwas radikal Neues und Schockierendes ist: Indem dieses Neue den Rezipienten „aus allem herausreißt, gibt es ihm zugleich das Ganze seines Seins zurück“ (133). (4) Schließlich spricht Gadamer auch immer wieder von einer „überlegene[n]“ (117) oder wesenhaften Wahrheit – Kunst ist „Erkenntnis des Wesens“ (120) –, wobei nicht klar ist, inwiefern diese letztere Charakterisierung den drei erstgenannten noch etwas Neues hinzufügt. Das heißt zunächst einmal, dass Gadamer im Kontext seiner Ästhetik nicht daran interessiert ist, Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen zu erläutern, dass er vielmehr die Kunst als den Ort auszeichnen will, an dem uns Wahrheit am intensivsten und im größten Ausmaß zuteil wird. Mein erstes, oben erläutertes Problem mit dieser Auffassung besteht darin, dass nicht einzusehen ist, warum ebenso intensive Wahrheitserfahrungen nicht auch in der Konfrontation mit nichtästhetischen Texten und anderen welterschließenden Objekten und Situationen möglich sein sol-
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len; das zweite, dass Gadamer mit der überlegenen Sonderstellung, die er der Kunst einräumt, das problematische Konzept der bürgerlichen Kunstreligion fortschreibt. Richtig hingegen finde ich, dass er darauf insistiert, in der Kunst gehe es immer auch um Wahrheitsfragen. An diesen Wahrheitsbezug der Kunst zu erinnern, erscheint mir heute gerade im Kontext der deutschsprachigen Ästhetik-Debatte sinnvoll, die in ihrer kantischen Ausrichtung und Konzentration auf Theorien der ästhetischen Erfahrung der Frage nach der Wahrheit der Kunst kaum mehr Platz gelassen hat.23 Gadamers Wahrheitsästhetik richtet sich gegen diverse l’art pour l’artVerständnisse ebenso wie gegen die (kritische und affirmative) Reduktion von Kunstwerken auf soziales oder wörtliches Kapital. Weder sind Kunstwerke nur im Formalen und/oder Sinnlichen schöne noch allein nützliche Gebilde. Sie sind auch, und Gadamer zufolge vor allem, hermeneutische Objekte. Alles hängt hier aber am „auch“, auf dem ich gegen Gadamer insistieren möchte und auf dessen Verteidigung ich zurückkommen werde. Dass Gadamer Kunstwerke als ausschließlich hermeneutische Objekte bestimmt, führt ihn in die Schwierigkeit, die ästhetische Differenz nicht mehr erläutern zu können, und damit auch in eine Kunstreligion, die man folgendermaßen zusammenfassen könnte: Die einzige Wahrheit, die wir suchen, finden wir im größten und intensivsten Ausmaß in der Kunst. Die Weise, wie er sich der hermeneutischen Dimension der Kunstwerke stellt, ist die Quelle seiner als Transzendentalphilosophie verbrämten apolitischen Haltung, worunter ich hier eine Haltung des Nicht-Stellung-nehmen-Wollens und der Nicht-Einmischung verstehe. Diese Haltung will ich abschließend erläutern, indem ich zunächst Gadamers Charakterisierungen der überlegenen Kunstwahrheit – Totalität, Ordnung, Neuheit, Überlegenheit – kurz kommentiere. Dass es in der Kunst um das Ganze einer Welt, „Welt“ heideggerisch verstanden, geht, kann ich in dem Sinn akzeptieren, dass in Kunstwerken jene umstrittenen und selbstverständlichen Bedeutsamkeiten verhandelt werden, die unser Leben im Ganzen grundieren. Das heißt einerseits, dass nicht alle Theorien, die ja auch holistische Gebilde von Thesen sind und so etwas wie ein Universum eröffnen, eine ganze Welt in Gadamers (und Heideggers) lebensweltlichem Sinn darstellen. Es heißt andererseits, dass damit noch nichts Kunstspezifisches gesagt ist. Denn die genannten Bedeutsamkeiten in ihrer ganzen weltaufspannenden Kraft können auch in einem Gespräch, im Angesicht eines Todes oder einer Liebe, in einem wissenschaftlichen oder journalistischen Text etc. zum Ausdruck und zur Darstellung kommen. Problematisch ist darüber hinaus, dass Gadamer die ästhetische Erfahrung von Wahrheit letztlich als eine der Ordnung und der Geborgenheit beschreibt, bei der nur am Beginn der Schock eines Neuen oder Unerwar-
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teten steht. Gegen diese versichernde Wirkung seiner hermeneutischen Kunstwerke möchte ich nicht nur geltend machen, dass negative Bedeutsamkeiten und Erfahrungen des Weltzerfalls selbstredend einen Platz in der Kunst haben müssen, und zwar nicht nur im Kanon der Moderne. Die Kunst geht m. E. weiter in ihrer anti-totalitären Ausrichtung gegen Ordnungssucht. Man kann sie aber auch nicht auf die geordnete Darstellung negativer Gehalte reduzieren. Vielmehr ist m. E. darauf zu insistieren, dass Kunst negative und positive Bedeutsamkeiten gleichermaßen zersetzt und affirmiert und dass sie in dieser ihrer Widersprüchlichkeit auch ihre hermeneutische Dimension immer wieder in Frage stellt und damit ganz fundamental die Ordnung alles Sinnhaften: Sie sagt etwas und sagt es nicht. Denn ihre sinnliche und ihre formale Dimension stellen nicht nur anfängliche Verstehensirritationen dar, wie Gadamer einen glauben machen will, sondern streichen alles Ausgesagte und Sagbarkeit überhaupt immer wieder durch.24 Auch scheint es mir bei weitem nicht angemessen, das Schockhafte der Kunst als das ebenso nur anfänglich ins Spiel kommende Neue aufzufassen, mit dem man sich über die Zeit vertraut machen kann. Das, was man vielleicht durchaus ihr Schockhaftes nennen könnte, wird immer präsent sein, solange wir es überhaupt mit Kunst zu tun haben. Und bloße Neuheit kann die Kunst ebenso wenig von nichtästhetischen Objekten unterscheiden wie der Bezug auf Ganzheit es kann. Neues gibt es beinah ubiquitär. Damit Neues schockierend wird und nicht im Bereich des Harmlosen bleibt, muss es sich auf die genannten Bedeutsamkeiten beziehen. Diese sind historisch keineswegs invariant zu denken und immer auf die spezifische Gegenwart derer bezogen, die mit einem Kunstwerk konfrontiert sind. Das widerspricht einerseits Gadamers traditionalistischer These, wir könnten nur und erst dann über Kunst urteilen, wenn wir nicht mehr direkt von ihren Belangen betroffen sind. Das Gegenteil ist der Fall! Es widerspricht andererseits auch der in Gadamers Betonung der notwendigen Vergangenheit der Kunst implizierten Haltung, keine Stellung zu den Wahrheitsfragen der Kunstwerke zu beziehen. Sie ist Ausdruck der naiven Hoffnung, man könne so lange warten, bis ein Urteil sich gewissermaßen selbst fällt und ohne Risiko ist; gleichzeitig auch Ausdruck eines Philosophieverständnisses, das mir problematisch und nicht zuletzt einem Missverständnis des Wahrheitsbegriffs geschuldet scheint; genauer gesagt der Verquickung von Gadamers zwiespältigen Ausführungen zum Vorgriff der Vollkommenheit einerseits und seinen nicht weniger problematischen Thesen zur Überlegenheit der Kunstwahrheit andererseits. Zwar gibt Gadamer, wie oben bereits erwähnt, an manchen Stellen zu, dass Verstehen nicht nur unbedingtes Unterstellen von vollkommener Wahrheit voraussetzt, sondern auch ein Unterscheiden zwischen Wahrem
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und Falschem impliziert, ein Urteilen, das für sich stets Gründe, aber keine letzten Gewissheiten beanspruchen kann und deshalb immer Risiko und Engagement einschließt. Gleichwohl sieht man bei Gadamer wenig von diesem Engagement.25 Er zieht sich entweder auf eine Transzendentalphilosophie zurück, die das Urteil scheinbar umgehen kann, indem sie nur das vermeintlich ohnehin Unleugbare expliziert. Oder er beschränkt sich im Kontext der Kunstdiskussion, wo es mit dem jeweiligen Kunstwerk gerade Gadamers Anti-Ästhetizismus zufolge um die Auseinandersetzung mit ganz spezifischen „welt“-konstitutiven Sachfragen geht, auf die These des Überwältigenden aller Kunstwahrheit, so dass es auf die je spezifischen Gehalte von Kunstwerken und die Frage nach ihrer Wahrheit gerade nicht ankommt. Das dürfte erklären, warum er sich auch im Interpretieren einzelner Werke auf deren spezifische Gehalte kaum einlässt und schon gar nicht Stellung zu ihnen bezieht. Zu behaupten, dass das problematisch ist, stellt kein Plädoyer für einen blinden Dezisionismus dar. Vielmehr eines für eine Philosophie als Eingriff, wie vor allem Adorno sie gefordert und praktiziert hat.26 Dass alles, auch alles philosophische Schreiben in einem zumindest bescheidenen Sinn ein Eingriff ist, verdankt sich der wahrheitstheoretischen Einsicht, dass jedes Verstehen und Behaupten ein positives Stellungnehmen für das eine und Ausschließen eines anderen ist, für das man auch bei guter Begründungslage selbst die Verantwortung übernehmen muss, sie also nie auf vorliegende Gründe und Fakten abwälzen kann. Der Eingriff wird umso dramatischer, je weiter man sich auf umstrittenes oder tabuisiertes Gebiet, d. h. auf jetzt Relevantes einlässt und damit auf gerade jene Totalitäten der Bedeutsamkeit, die man mit Gadamer ins Zentrum der Kunst zu stellen Anlass und Gründe hat. Die Notwendigkeit des Stellungnehmens gilt auch für transzendentalphilosophische Trivialitäten, die vor allem dann keine reinen Trivialitäten, sondern ein Eingriff sind, wenn sie in einem Kontext der Relevanz, d. h. der Leugnung oder Bestreitung behauptet werden, wobei es sich dabei allerdings meist um (nur) innerphilosophische Querelen und Relevanzen handelt. Ich will nicht leugnen, dass Gadamer sich auf der transzendentalen Ebene durchaus für gewisse Thesen engagiert, die vor allem gegen ein mit Heidegger und anderen27 schon überwundenes Verständnis der Hermeneutik gerichtet sind. Die aktuelle Relevanz ist deswegen bisweilen genauso wenig zu sehen wie Engagement nötig. Insofern erinnert Gadamer häufig an das, was niemand bestreitet. Gegen diese fast unangreifbare Harmlosigkeit und gegen die Philosophie, die ganz allgemein eine Tendenz hat, uns an das zu erinnern, was niemand wirklich bestreitet, und die sich dann auch nicht selten gerade unter dem Deckmäntelchen des Transzendentalen in scheinbare Neutralität hüllt, möchte ich aber Eingriffe in einem
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stärkeren Sinn als dem der Nichtneutralität verteidigen. Nämlich eine Philosophie, die mit ihrer Reflexion und Systematisierung genau dort ansetzt, wo in der jeweiligen Gegenwart keine Einigung in Sicht ist oder eine falsch versteinerte Einigung seit je und für immer festgezurrt scheint. Dafür ist gerade das Schreiben über Kunstwerke ein guter Ausgangspunkt; zumal dann, wenn man wie Gadamer die These vertritt – und diese habe ich von Anfang an zu verteidigen versucht –, dass Kunstwerke uns mit der Frage nach wahr und falsch solcher Gehalte – „Aussagen“, wie Gadamer sagt – konfrontieren, die das umstrittene oder tabuisierte Zentrum unseres Lebens, d. h. unsere (Lebens-)Welt im Ganzen betreffen – wenngleich ohne diese Fragen zu beantworten, wie ich ergänzen möchte. Genau diesen Einsatz verpasst Gadamer von Grund auf. Sowohl die Praxis Gadamers, sich auf die „Aussagen“ einzelner Kunstwerke nicht einzulassen, als auch seine allgemeine Behauptung, es komme bei der Kunstwahrheit allein auf eine bestimmte Intensität der Wahrheitserfahrung an, negiert m. E. seine ureigenste These von der Wahrheit in der Kunst. Denn das bloße Behaupten einer Intensität impliziert, dass es auf die jeweils spezifischen Gehalte und die Frage ihrer Wahrheit gar nicht ankommt. Und nur wenn dem so ist, muss man sich als Theoretiker der Kunst nicht auf die je spezifische „Sache“ und die Frage ihrer Aktualität einlassen, die ein Kunstwerk verhandelt. Schlägt man den oppositionellen, Gadamers Wahrheitsprojekt eigentlich angemesseneren Weg ein und behauptet auch in der Kunsttheorie, es komme auf die spezifischen Gehalte und ihre jeweils zeitgenössische Relevanz an – und ein spezifisch künstlerischer Bezug auf Wahrheit fordert, wie ich zumindest andeutungsweise gegen Gadamer zu zeigen versucht habe, genau das –, so liefert sich eine solche Theorie intrinsisch an die konkrete Kunsterfahrung und ihre potentielle Ausarbeitung in der Kunstkritik aus. Denn nur dort kann entschieden werden, worin die kunstkonstitutiven Relevanzen bestehen bzw. im jeweiligen Kontext einer Gegenwart zu bestehen haben. Und dort muss auch entschieden und geurteilt werden. Für eine Philosophie, die tatsächlich die Wahrheitsfrage der Kunst zurückgewinnen will, heißt das: Sie bleibt unvollständig, solange sie sich auf allgemeine Strukturbeschreibungen von Kunstwerken und ihren Erfahrungen beschränkt und sich nicht auf das Parkett der Debatte wagt, was Kunst – und das heißt ein Stück weit auch: wie unsere Welt – jetzt zu sein hat. Im Kontext dieser Debatte ist die künstlerische Wahrheit des Ganzen nicht so sehr eine Frage der Intensität als vielmehr eine der spezifisch zeitgenössischen Bedeutsamkeit und damit auch Bestimmung der Gegenwart. Dass Gadamer sich dieser Herausforderung nicht stellt, passt gut zu seiner These, man könne über die Gegenwart nicht urteilen, weil man zu verstrickt in sie sei, nicht jedoch zu seiner versuchten Rettung des Wahrheits-
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begriffs in der Kunst. Letztlich gründet Gadamers pauschale Distanzierung von der Gegenwartskunst wohl in seinem Wunsch, sich vornehm zurückzuhalten, wo es nicht um transzendentalphilosophische Trivialitäten geht. Und diese Haltung erklärt, warum ihm nichts ferner steht als eine Philosophie des Eingriffs, die meiner Meinung nach das plausible Pendant zu einer angemessenen Wiedergewinnung der Wahrheit der Kunst darstellt. Aber Gadamer klärt weder die Kunstwahrheit angemessen über sich selbst auf noch eine andere. Er schiebt vielmehr alle Entscheidungen über die vielfältigen Aspekte der Wahrheit, die er mit Grund zusammen behandeln will, in einem gar nicht hermeneutischen, sondern vermeidbaren Zirkel auf, indem er sie miteinander konfundiert: Wo er vorgibt, über die Kunstwahrheit zu philosophieren, schreibt er über die textuelle Wahrheit, die für die Geisteswissenschaften in der Tat zentral ist. Wo es um die Wahrheit in den Geisteswissenschaften gehen soll, erläutert er den viel weiter reichenden, nämlich jedes, nicht nur das geisteswissenschaftliche, Verstehen betreffenden Vorgriff der Vollkommenheit. Und dieser impliziert in seiner unplausiblen, nämlich klassizistisch-konservativen Variante inhaltlich ausgezeichnete Wahrheitsbereiche, für deren Beweis paradigmatisch die überlegene Wahrheit der Kunst herhalten muss; eine Wahrheit, die Gadamer so falsch allgemein konzipiert, dass sie bestenfalls überwältigt und darin jedes kritische Urteil überflüssig macht – und zuletzt die Rede von der Wahrheit selbst ad absurdum führt. Denn keine Wahrheit ist jenseits von Streit und Engagement.
Anmerkungen 1 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Ges. Werke Bd. 1, Tübingen 1986. Alle eingeklammerten Seitenzahlen im Haupttext beziehen sich darauf. 2 In diesem Abschnitt stütze ich mich auf Überlegungen in: Sonderegger, Ruth, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt 2000, insbes. 19ff. 3 Diese These scheint mir, zumindest indirekt, auch eine Widerlegung des kantischen Subjektivismus zu sein, wonach wir in der ästhetischen Erfahrung nur unsere subjektiven Erkenntnisvermögen, und zwar rein und ohne Vermischung mit einer bestimmten Erkenntnis, erfahren. 4 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986, 16. Aufl. 5 Heidegger, Sein und Zeit, 163. 6 Ein Indiz dafür, dass die plane und hierarchische Gegenüberstellung von Vexierspiel und ästhetischem Verstehen zumindest nicht die Evidenz hat, die Gadamer ihr zuschreibt, ist die Tatsache, dass Adorno just die Gegenthese vertritt.
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Kunstwerke sind und bleiben ihm zufolge immer Vexierbilder. „Jedes Kunstwerk ist ein Vexierbild, nur derart, daß es beim Vexieren bleibt, bei der prästabilierten Niederlage des Betrachters. Das Vexierbild wiederholt im Scherz, was die Kunstwerke im Ernst verüben.“ Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, 184f. 7 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 32, S. 149: „Das schlichte Sehen der nächsten Dinge im Zutunhaben mit […] trägt die Auslegungsstruktur so ursprünglich in sich, daß gerade ein gleichsam als-freies Erfassen von etwas einer gewissen Umstellung bedarf.“ 8 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 44. 9 Heidegger, Sein und Zeit, 149. 10 Heidegger, Sein und Zeit, 159. 11 „Muß man nicht dem Begriff des ästhetischen ‘Erlebnisses’ auch zubilligen, was dem Wahrnehmen zukommt, nämlich, daß es Wahres vernimmt, also auf Erkenntnis bezogen bleibt?“ (95). 12 Gadamer, Hans-Georg, Kunst als Aussage, Ges. Werke Bd. 8, Tübingen 1993. 13 Wie alles Lesen ist auch das ästhetische bei Gadamer „nicht nur buchstabieren und ein Wort nach dem andern ablesen, sondern heißt vor allem die beständige hermeneutische Bewegung vollziehen, die von der Sinnerwartung des Ganzen gesteuert wird und sich vom Einzelnen her im Sinnvollzug des Ganzen schließlich erfüllt“. Gadamer, Kunst als Aussage, 119. 14 Gadamer, Kunst als Aussage, 118. 15 Vgl. Anmerkung 12. 16 Während Heidegger diesbezüglich in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ eine klare Terminologie entwickelt und die „Richtigkeit“ des Satzes der „Wahrheit“ des welterschließenden Kunstwerks gegenüberstellt (vgl. 36 ff.), bleibt die Begrifflichkeit bei Gadamer unscharf, sofern er auf beiden Ebenen von Wahrheit, mit Bezug auf Kunstwerke manchmal allerdings auch von einer „überlegenen“ Wahrheit oder „dem Wahren“ spricht. Vgl. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1980, 1–72. 17 Vgl. zum Verhältnis von Wahrheit und Welterschließung: Demmerling, Christoph, Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zur Sprachphilosophie und Hermeneutik, Paderborn 2002, insbes, Kap. VII; Kompridis, Nikolas (Hrsg.), Schwerpunkt „Welterschließung und Kritik“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), 487–574; Lafont, Cristina, Sprache und Welterschließung. Zur linguistischen Wende der Hermeneutik Heideggers, Frankfurt a.M. 1994; Seel, Martin, Heidegger und die Ethik des Spiels, in: Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1991 (2. Aufl.), 244–272; Tugendhat, Ernst, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967. 18 Gegen diese wechselseitige Abhängigkeit und Kritik von Aussagen- und Erschließungswahrheit scheint zunächst einmal zu sprechen, dass die Aussagenwahrheit in der absoluten Bipolarität von wahr und falsch steht, während die Erschließungswahrheit eine graduelle Angelegenheit ist. Dem möchte ich allerdings entgegenhalten, dass wir auch auf der Ebene von einzelnen Aussagen unter dem Stichwort „Wahrheit“ an mehr als der Frage interessiert sind, ob etwas der Fall ist
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oder nicht. Es geht uns mit dem alltagssprachlichen Wahrheitsbegriff zumindest auch um die Relevanz, die ihr angemessene Präzision und Vollständigkeit und die (moralische) Situationsangemessenheit von Aussagen und damit um ein ebenso graduelles Phänomen wie die Erschließungswahrheit eines ist. Wenn ich mit dieser hier nur angedeuteten Vermutung Recht habe, muss man sich fragen, ob Wahrheit im engen, bipolar-absoluten Sinn jemals mehr war als ein Gedankenexperiment der Philosophen, das jedoch bis heute alles Nachdenken über den Wahrheitsbegriff dominiert. 19 Ich folge hier Wellmer, Albrecht: Wahrheit jenseits der Aussagenwahrheit, in: Lutz Wingert (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 2001, 13–52. 20 Vgl. zu einer kritischen Diskussion des Vorgriffs der Vollkommenheit auch Scholz, Oliver, Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1999; Wellmer, Albrecht, Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, in: Demmerling, Christoph/Gabriel, Gottfried/Rentsch, Thomas (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur, Frankfurt a.M. 1995, 123–156; ders.: Verstehen und Interpretieren, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 45 (1997), 393–413. 21 Davidson, Donald, Radikale Interpretation, Frankfurt a. M. 1990, insbes. den gleichnamigen Aufsatz, 183–203. 22 Hinzu kommt, dass das, was für einen Schreiber oder Sprecher wahr ist, für mich als Interpretin noch lange nicht wahr sein muss. Um mit dem Verstehen zu beginnen, reicht es gerade dann, wenn wir mit dem Gegenüber eine Sprache und damit eine Tradition teilen, aus zu unterstellen, dass der andere gute Gründe hat zu glauben, was er glaubt – ich muss sie mir also nicht notwendigerweise aneignen, um dem Gegenüber dasjenige Ausmaß an Rationalität zu unterstellen, das für alle Verstehensbemühungen in der Tat eine notwendige Voraussetzung ist. Diesen Unterschied – wie Gadamer – nicht zu machen, bedeutet, die Differenz zwischen Wahrheit und Rationalität zu leugnen. Gadamer vermischt die Rationalitätsunterstellung, die „Antizipation von Sinn“ (296), immer wieder mit dem Vorgriff auf vollkommene Wahrheit. 23 Vgl. dazu auch Anmerkung 3 und zu einer ausführlicheren Diskussion dieser These Sonderegger, Ruth, Die Kunst als Sphäre der Kultur und die kulturwissenschaftliche Transformation der Ästhetik, erscheint in: Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hrsg.), Sinn, Kultur, Wissenschaft. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme, Stuttgart 2003. 24 Vgl. ebenda. 25 Vgl. dazu auch seine explizite Distanzierung von jedem „unwissenschaftliche[n] ‘Engagement’“ im Vorwort zur 2. Auflage (1965) von Wahrheit und Methode, die im politisierten Kontext der 60er Jahre ein ganz eigenes und bezeichnendes Gewicht hat. Wieder abgedruckt in: Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Ergänzungen und Register, Ges. Werke Bd. 2, Tübingen 1993, 438. 26 Adorno, Theodor W., Eingriffe, Frankfurt 1963. 27 Vgl. Scholz, a.a.O.
Kai Hammermeister Der Gott der Hermeneutik Die Zusammenhänge der Religion mit der Philosophie werden durch die Losung der Vernunft zur Aufgabe gesetzt.1
Eine der erfreulichen Tendenzen der Gegenwartsphilosophie ist es wohl, dass der Gottesbegriff wieder zu philosophischen Würden kommt. Nachdem die philosophische Beschäftigung mit Gott lange entweder polemisch abgetan oder spätnietzscheanisch attackiert wurde, haben letzthin gerade postmoderne Denker wie Jacques Derrida und Gianni Vattimo dem Gottesgedanken auch in der Philosophenzunft wieder Salonfähigkeit verschafft. Nun war zwar in die Hermeneutik seit ihrem Entstehen schon immer der Gottesbezug durch ihre Exegese heiliger Texte eingeschrieben, aber gerade Gadamers Ausweitung der Hermeneutik von der textuellen Interpretationsmethodik zum Lebensverstehen scheint ja eine bis an die Wurzel säkularisierte denkerische Haltung zu sein. Gleichwohl aber zählt Gadamer zu den Problemen der Gegenwart, mit denen die Philosophie sich auseinander zu setzen habe, auch „das Gespräch der Religionen im Zeitalter des Massenatheismus“.2 Besser sollte es wohl heißen, dass das Gespräch mit den Religionen Aufgabe der Philosophie ist oder zumindest werden sollte, wobei dieser Dialog gerade nicht als einer mit einem der Hermeneutik Fremden und Äußerlichen aufzufassen ist, sondern viel mehr als die Entdeckung einer Facette an der philosophischen Hermeneutik selbst, die bislang dem Blick weitestgehend verstellt geblieben war. Dementsprechend soll hier argumentiert werden, dass Aspekte von Gadamers Hermeneutik sich nicht nur vorzüglich mittels theologischer Begriffe beschreiben lassen, sondern dass sich gewisse Aporien des gadamerschen Verstehensmodells überhaupt erst durch den Rückgriff auf theologische Denkmodelle lösen lassen. Mehr noch, Gadamers Konzeption des Verstehens als einer Horizontverschmelzung scheint mir nur dann völlig aufzugehen, wenn man bereit ist, in ihr einen Gottesbegriff mitzudenken. Natürlich ist diese Position nirgendwo bei Gadamer mehr als nur im schüchternsten Ansatz entwickelt, aber dennoch belegt eine genaue Lektüre von dessen Gesamtwerk vielfältige denkerische Indizien, die die hier vorgenommene Ausweitung plausibel und stringent erscheinen lassen. So geht es hier in einem ersten Schritt darum aufzuzeigen, wie die Spannung aus ethischer und nicht-ethischer Verstehenskonzeption, die Gadamers Verstehensmodell immer wieder in Widersprüchlichkeiten zu verwickeln scheint, durch den Rekurs auf eine theologische Beschreibung zumal des ästhetischen Verstehens aufzulösen ist. Dann kann in einem weiteren
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Schritt im Gottesbegriff die Matrix für alle erfolgreichen Verstehensvorgänge aufgezeigt werden, der nicht nur in der Lage ist, die Denkschwierigkeiten zu beseitigen, die sich aus der Gegenläufigkeit von ethischer und non-ethischer hermeneutischer Konzeptualisierung ergeben, sondern der der Hermeneutik als Lebensvollzug einen zusätzlichen Raum eröffnet, in dem das Leben womöglich überhaupt erst zum Verständnis seiner selbst gelangen kann. Diese zu skizzierende Metaphysik der Hermeneutik ist aber nicht Beimischung in einer unreinen Legierung, die es idealiter auszuschmelzen gelte, noch weniger ist sie – pace Derrida – unerwünschtes Residuum metaphysischen Sprechens, sondern sie ist gegenteilig nicht nur ein unabdingbarer Bestandteil, sondern geradezu der Gipfel des hermeneutischen Denkens. Denn das Durchdenken des Verstehens lässt sich nicht abtrennen vom Gedanken an Gott. Niemand versteht, ohne zumindest dunkel auch Gott zu verstehen. Im kommunikativ verfassten radikalen Konstruktivismus eines Paul Watzlawick etwa lautet eines der nur scheinbar tiefsinnigen Axiome, dass man nicht nicht kommunizieren könne. Was zuerst einmal durch seinen Überraschungseffekt wirkt, bleibt beim Nachdenken hinter allem zurück, was das Miteinander, sprachlich oder gestisch, mimisch oder sonstwie signifizierend, tatsächlich ausmacht. Wenn man auch tatsächlich nicht kommunizieren kann – wobei die Weigerung, ins Gespräch einzutreten, ein zugleich überaus schwaches und doch endgültiges Kommunikationssignal ist –, so ist die wichtigste Erkenntnis hieraus, dass Kommunikation noch lange kein Gespräch ist. Kommunikation ist jener Austausch von Zeichen unter zwei oder mehr Teilnehmern, der letztlich ohne allzu viel Probleme positiv erfassbar und aufzeichenbar ist. Kommunikation wird am einfachsten von einem Dritten beschrieben. Von ihr kann es eine Wissenschaft geben, die die Häufigkeit von Unterbrechungen, das Augenblinzeln, die Wort-Gestik-Relation usw. auslotet. Vom Gespräch aber versteht niemand etwas, der sich nicht daran beteiligt. Auch der Zuhörende kann nur einem Gespräch folgen, wenn er darin involviert ist, wenn er innerlich mitredet. Eine Gesprächswissenschaft ist eine Unmöglichkeit. Watzlawicks kommunikativ gegründete Wirklichkeit ist jene, die Heidegger als das Resultat von Gerede beschreibt. Gerede ist Verständlichkeit ohne Erschlossenheit. Das Gerede erlaubt uns, Bescheid zu wissen, ohne je gesprochen zu haben. „Das Gerede ist die Möglichkeit, alles zu verstehen ohne vorgängige Zueignung der Sache. Das Gerede behütet schon vor der Gefahr, bei einer solchen Zueignung zu scheitern. Das Gerede, das jeder aufraffen kann, entbindet nicht nur von der Aufgabe echten Verstehens, sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der nichts mehr verschlossen ist. […] Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst, vermag es sich nie zu entziehen. In ihr und aus ihr
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und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und Zueignen. Es ist nicht so, daß je ein Dasein unberührt und unverführt durch diese Ausgelegtheit vor das freie Land einer ‘Welt’ an sich gestellt würde, um nur zu schauen, was ihm begegnet.“3
Das Gespräch ist anderes und mehr als die Kommunikation. Aber dieses Mehr ist auch nicht lediglich, nicht kommunizieren zu wollen. Ein Gespräch wird nicht dadurch konstituiert, dass man es akzeptiert zu kommunizieren. Damit verbliebe das Gespräch in der Negation. Zum Gespräch allerdings kommt es nicht schon dadurch, dass wir entscheiden, das Gespräch nicht zu verweigern. Sich ansprechbar zu halten eröffnet die Möglichkeit des Gesprächs ebenso wie die Möglichkeit des Geredes. Wenn aber das Gespräch derjenige Austausch ist, der nicht nur das schon Gesagte weiterreicht, sondern eine genuine Erfahrung an- und miteinander und gemeinsam über die besprochene Sache ermöglicht, dann verlangt das Gespräch mehr als nur das Hin und Her der Worte. Das Gespräch verlangt, dass wir gemeinsam das Gerede hinter uns lassen wollen, eingeschlossen das Gerede im eigenen Kopf, um Neues erfahren zu können. Ins Gespräch kommen wir, wir sind nie schon dort. Da aber dem Gespräch die Versuchung zum Gerede stets entgegenstrebt, verlangt das Gespräch, dass wir uns bewusst als Hörende setzen. Sich als Hörende setzen heißt für Gadamer, die Sache des anderen so stark wie möglich zu machen. Die Sache des anderen ist die Sache des je konkret anderen, der mir hier und jetzt begegnet. Seinen An-spruch nicht wahrzunehmen heißt, ihn auf ein Allgemeines zurückzuführen, folglich im Neuen das stets schon Bekannte wiederzufinden. In „Wahrheit und Methode“ greift Gadamer auf die Ethik des Aristoteles zurück, um diesen hermeneutischen Anspruch der Singularität abzustützen. „Die Überfremdung mit den objektivierenden Methoden der modernen Wissenschaft, die die Hermeneutik und Historik des 19. Jahrhunderts charakterisiert, erschien uns als die Folge einer falschen Vergegenständlichung. Diese zu durchschauen und zu vermeiden, ist das Beispiel der aristotelischen Ethik berufen. Das sittliche Wissen, wie es Aristoteles beschreibt, ist offenkundig kein gegenständliches Wissen. Der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber, den er nur feststellt, sondern ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen. Es ist etwas, was er zu tun hat.“4
Gadamer konstatiert hier, und wohl zu Recht, dass das Verstehen des anderen etwas sei, was auf seinen An-spruch mit An-hören reagiert, wobei dieses Hören, das die Angelegenheit des anderen im bestmöglichen Licht erscheinen lassen will, das ist, was der Hörende „zu tun hat“. Dass diese Art des Sich-einlassen-Könnens auf ein Gespräch nicht schon mit dem Sprechen-Können gegeben ist, sondern weit darüber hinausgreift, ist
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augenscheinlich. Während wir es ohne unser Zutun lernen zu sprechen, bedarf das Miteinandersprechen des Gesprächs der Bemühung und der Übung. Im Sinne Goethes beschreibt Gadamer den Gesprächsfähigkeitserwerb als eine humanistische Leistung. „Trotzdem immer wieder zum Gespräch fähig zu werden, d. h. auf den anderen zu hören, scheint mir die eigentliche Erhebung des Menschen zur Humanität.“5 Worum wir uns aber so zu kümmern haben, weil es uns aufgegeben ist, das verlangt die stets zu verbessernde Ausbildung eines Habitus und ist somit, ganz im aristotelischen Sinne, eine Tugend. Gadamer folgt der Anthropologie des Aristoteles, der den Menschen als zoon logon echon bestimmt, wenngleich diese Anlage durch die Praxis erst zur hexis gestaltet werden muss. Die „Fähigkeit zum Gespräch ist eine natürliche Ausstattung des Menschen“6, aber von der Ausstattung muss der Mensch sich immer wieder zur Aktualität des Gesprächs erheben, das das tugendhafte Siegel der Humanität darstellt. Es erstaunt deswegen, wenn Gadamer in seiner Auseinandersetzung mit Derrida genau diese Tugend des Gesprächs abstreitet und das Verstehen ganz von der Ethik abtrennen will. Hatte Derrida ihm vorgeworfen, der „gute Wille“ – durchaus im Sinne Kants – sei axiomatisch für seine Hermeneutik, so wehrt sich Gadamer mit einer radikalen Separierung von Gespräch und Tugendhaftigkeit. „Guter Wille meint das, was Plato ‘eumeneis elenchoi’ nennt. Das will sagen: man ist nicht darauf aus, recht zu behalten und will deshalb die Schwächen des anderen aufspüren; man versucht vielmehr, den anderen so stark wie möglich zu machen, so daß seine Aussage etwas Einleuchtendes bekommt. Solches Verhalten scheint mir für jede Verständigung wesentlich. Das ist eine pure Feststellung und hat nichts mit einem ‘Appell’ zu tun und am allerwenigsten etwas mit Ethik. Auch unmoralische Wesen bemühen sich, einander zu verstehen.“7
Gadamers Argument kann kaum überzeugen. Gehalten gegen seinen eigenen Rückgriff auf die aristotelische Ethik als Leitbild für die Hermeneutik, wirkt das Abfertigen des „guten Willens“ etwas brüsk und kaum schlüssig. Es demonstriert letztendlich lediglich, dass eine absolute Immoralität eine Unmöglichkeit ist, und dass jegliche Sozialität ein Minimum an sozialem Ethos zu beachten gezwungen ist. Gespräch also ist für Gadamer – zugegebenermaßen oder nicht – durchaus Tugendleistung. Dies ergibt sich ebenso deutlich aus seiner Situierung des Gesprächs als einer in der Mitte zwischen den beiden möglichen Verfehlungen des Gesprächs gelegenen Tugend. Gadamer orientiert sich hier wiederum an Aristoteles’ mesotes-Lehre, die die arete als die Mitte zwischen zwei Untugenden definiert. „So ist also sittliche Werthaftigheit eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jener Mitte, die die Mitte in bezug auf uns ist, jene Mitte, die durch den richtigen Plan fest-
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gelegt ist, d. h. durch jenen, mit dessen Hilfe der Einsichtige (die Mitte) festlegen würde.“8 Die Untugend, die auf der einen Seite das Gespräch mit dem Scheitern bedroht, ist, wie wir oben gesehen haben, nicht so sehr die Gesprächsverweigerung, sondern die Weigerung zu hören, die sich daraus ergibt, dass man sich dem Gerede überantwortet. Das Gerede perpetuiert das Schon-Gesagte, und nie erfolgt ein Durchbruch zu neuem Verstehen. Das wirkliche Gespräch dagegen, das uns anzustreben aufgegeben ist, durchbricht das Gerede. „So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten.“9 Zur Untugend des Geredes muss nun eine zweite, gegenüberliegende Untugend gefunden werden, damit die Tugend des echten Gesprächs als Mitte hervortreten kann. Diese zweite Untugend ist für Gadamer die Gesprächserzwingung. Wird im ersten Fall ein wirkliches Gespräch dadurch verweigert, dass man lieber das Gerede fortsetzt, so wird im zweiten Fall versucht, dem anderen eine Antwort abzupressen. Das Verstehen aber lässt sich nicht erzwingen, und wo Zwang ausgeübt wird, da verfehlt der Mensch sich selbst und den anderen. In Bezug auf die wissenschaftliche Erforschung der Welt schreibt Gadamer deswegen: „Durch die moderne Wissenschaft wird die Natur mit Hilfe des Experiments zu Antworten gezwungen. Die Natur wird gleichermaßen gefoltert.“10 Wo wir das Gespräch erzwingen wollen, zumal dem gegenüber, der sich gegen den Zwang nicht wehren kann, da verletzen wir die Ethik des Gesprächs. Gesprächserzwingung ist bewusst begangene Grausamkeit. Zwischen der Gesprächsverweigerung des Geredes und der Gesprächserzwingung liegt das gelungene Gespräch in der Mitte als ein Resultat der Ethik des Hörens, Wartens und Fragens. Wenn wir diese Tugenden perfektionieren, dann dürfen wir, so kann man wohl folgern, mit dem Erfolg des Gespräches rechnen. Belohnung für dieses Bemühen ist das Verstehen, d. h. jener Vollzug des Lebens, der das eigene Dasein als eingebettet in den Austausch mit Welt und Mitmensch erkennt und in dem das Leben für sich selbst zum Verständnis gelangt. Aber hat nicht womöglich Gadamer mit sich selbst gegen sich selbst Recht? Ist nicht tatsächlich die aristotelische arete als Tugend der Mitte für die Hermeneutik das, was die Methode für das Wissen ist? Gadamer scheint in seiner Replik auf Derrida zu ahnen, wie sehr die Anbindung des Verstehens an die Ethik ihn in jene Ecke treiben würde, in der er zugeben müsste, dass das Verstehen sich tatsächlich als das Ergebnis einer sorgsam gepflegten Haltung, die alle Extreme vermeidet, mehr oder minder zwangsläufig einstellt. Wenngleich Gadamer weder in der Wissenschaft noch sonstwo das methodische Vorgehen ablehnt, es sogar immer wieder als unabdingbar für die wissenschaftliche Arbeit auch einfordert, so darf er sich allerdings keinesfalls dazu drängen lassen, das Verstehen als Tu-
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gendlehre zu formulieren, ohne sein eigenes Projekt zu untergraben. Gerade deshalb ist auch der Rekurs auf die Kunst so wichtig, weil in ihr deutlich wird, dass wir nicht zum Verständnis gelangen, weil wir den schmalen Pfad zwischen Geredevermeidung und Gesprächserzwingung eingeschlagen haben, der uns als Tugendlohn die Erkenntnis zukommen lässt. Die Kunst nämlich zeigt auf, dass es nicht unser korrektes Tun ist, was den Sinn erschließt. Mehr noch, von ihr müssen wir uns immer auch sagen lassen, dass unsere hexis ungenügend ist. „Die Vertrautheit, mit der das Kunstwerk uns anrührt, ist zugleich auf rätselhafte Weise Erschütterung und Einsturz des Gewohnten. Es ist nicht nur das ‘Das bist Du!’, das es in einem freudigen und furchtbaren Schreck aufdeckt – es sagt uns auch: ‘Du mußt dein Leben ändern’.“11 Das Verstehen, so lernen wir insbesondere an der Kunst, ist folglich nicht das Resultat methodischen Vorgehens, wenn unter Methode das Bestreben gefasst werden kann, das eine Verstehensgarantie als Resultat kontrollierten Vorgehens einklagt. Die Begegnung mit der Kunst macht deutlich, dass das Verstehen stets aus dem Zusammenspiel der Verstehensbemühungen unsererseits und dem Entgegenkommen des Werkes besteht. An der Kunst machen wir die Erfahrung des Zusammenschießens von Sinn, einer plötzlichen Kristallisation von Bedeutung. Ohne unser beharrliches Befragen eröffnet sich das Werk nicht, aber auch das beharrlichste Betrachten und Anhören und Wiederlesen hat nie ein Recht darauf, dass Sinn sich ihm erschließt. Genauso sehr wie das Kunstwerk in einem Nu sich eröffnen kann, kann es verschlossen bleiben. Das mag sich in einem Jahr oder in einem Monat ändern, im Augenblick jedoch bleibt es stumm und unzugänglich. Daraus lernen wir seine Unverfügbarkeit, seine Widerstandskraft gegenüber all unserem Einfordern. Aber wir lernen nicht nur über das Wesen des Werkes, sondern auch über unser Wesen. Es ist gerade die Kunst, die in manchen Begegnungen mit ihr zu Sinn zusammenschießt und in anderen sich jeder Sinnfindung entzieht, die die Metaphysik der Hermeneutik enthüllt. Sie expliziert tatsächlich das Wahrheitsgeschehen am besten, da in ihr eine Wahrheit des Menschen und eine Wahrheit der menschlichen Angewiesenheit auf Sinn aufscheint. Zweierlei lässt sich aus der Kunsterfahrung entnehmen. Erstens: Unser Bemühen reicht nicht, um die Erfahrung von Sinn zu verbürgen. Zwar ist ohne die Vermeidung der ethisch-hermeneutischen Verfehlungen der Hörverweigerung und Antworterzwingung die Sinnsuche von Anfang an zum Scheitern verurteilt, aber offensichtlich reicht kein Bemühen hin, um Sinn zu verdienen. Wo aber alles Tun nie dazu gelangt, mit Vertrauen darauf zu operieren, dass sich das gewünschte Ergebnis einstellt, da gelangt tatsächlich die Ethik an die Grenzen. Zwar wird sie nicht matt gesetzt, sondern muss weiterhin geübt werden, aber ihr wird aufgezeigt, dass sie an einem
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Mangel krankt, der nicht durch verstärktes oder anderes Bemühen geheilt werden kann. Denn dieser Mangel liegt nicht im bemühenden Tun des Menschen, sondern in seinem Sein. Am besten eignet sich deswegen der theologische Begriff der Sünde, um diesen Mangel im Menschen zu erklären, der dafür die Verantwortung trägt, dass das ethische Bemühen um Sinnfindung immer darauf angewiesen bleibt, dass ihm die Erfüllung geschenkt wird. An der Kunst lernt der Mensch eben auch, was die Gnade sein kann. Befragen wir noch einmal unsere Begegnungen mit der Kunst, um den zweiten, komplementären Aspekt der Kunst herauszuschälen. In diesen Begegnungen nämlich machen wir auch die Erfahrung, dass sich der Sinngehalt des Werks plötzlich, unvorhersehbar zu welchem Zeitpunkt, offenbart oder sich uns entzieht. Bleiben wir gefangen im Dunkel des Sinnentzugs, so meinen wir häufig, es gebe ein Rätsel zu knacken, ein Zauberwort zu treffen, das die Schatzhöhle öffnet. Aber der Sinn macht sich nicht dem magischen Wort untertan, enthüllt sich nicht als Resultat einer von uns erbrachten Leistung. Sinn wird nicht entschlüsselt, geknackt, enträtselt. Sinn wird erfragt und teilt sich dann von sich aus mit. Er kommt wie der Dieb in der Nacht, unerwartet, aus dem Dunkel heraus. Adorno benutzt ebenfalls den theologischen Begriff der Erscheinung, um aufzuzeigen, dass es sich hier um ein momentanes Aufblitzen handelt, das uns zustößt. „Kein Kunstwerk ist in Kategorien der Kommunikation zu beschreiben und zu erklären. Schein sind die Kunstwerke dadurch, daß sie dem, was sie selbst nicht sein können, zu einer Art von zweitem, modifizierten Dasein verhelfen; Erscheinung, weil jenes Nichtseiende an ihnen, um dessentwillen sie existieren, vermöge der ästhetischen Realisierung zu einem wie immer auch gebrochenen Dasein gelangt.“12
Es ist das Kunstwerk, an dem wir lernen, dass das Verstehen unverdient ist. Immer enthüllt sich der Sinn des Werkes als ein Überschuss an Sinn, da er das investierte Verstehensbemühungsquantum übersteigt. Etwas kommt uns zu, d. h., etwas kommt zu dem hinzu, was wir selbst austüfteln können. Theologisch gewendet ist dies die Erfahrung der Gnade. Gnade ist unverdientes Geschenk, Gnade ist Übertreffen der Erwartung. Gnade ist unkalkulierbar, unverdienbar, unabsehbar. Und der Gnade bedarf es eben nur, weil unser Stand der der Sünde ist. So schreibt der Psalmist: „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht / und euch spät erst niedersetzt, um das Brot der Mühsal zu essen; / denn der Herr gibt es den Seinen im Schlaf.“13 Was hier als die Gnade des Kunstwerks beschrieben wurde, fasst die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer auf als eine Prädestination des Werkes. Ohne dass eine vorherbestimmte Übereinstimmung zwischen Rezipient und Werk bestünde, bliebe Letzteres unverstanden.
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„Der Zugang zu einem Kunstwerk und seine Möglichkeit, von einer großen Anzahl von Menschen aufgenommen zu werden, wird daher in erster Linie durch den gemeinsamen Rhythmus, das heißt die gleiche Schwingungszahl zwischen dem produktiven und dem empfangenden Menschen, bestimmt, und keine Macht der Welt vermöchte in Einklang zu bringen, was dieser magische Rhythmus nicht zuvor schon geeinigt hat. Es gibt daher, wie ich behaupte, eine Art Prädestination auch des Kunstwerks: die Notwendigkeit seines Ursprungs und die Möglichkeit seiner Wirkung, das heißt seine weiterzeugende Kraft in dieser und späteren Generationen, sind im Augenblick seiner Zeugung auf das engste in Relation gesetzt und auf den Glockenschlag ‘seiner Stunde’ genau vorherbestimmt.“14
Diese Gnadenerfahrung ist aber keine bloß ästhetische, sondern vielmehr und viel fundamentaler eine hermeneutische. Das Kunstwerk ist lediglich der privilegierte Ort, an dem das Sein des Sinns als Gnade aufscheint. Deswegen kann Gadamer auch sagen: „Ein Kunstwerk hat immer etwas Sakrales an sich.“15 Aber jedes wirkliche Gespräch ist angewiesen auf ebendiese Gnadenerfahrung, die hinausreicht über unser Bemühen, zur Verständigung zu kommen. Gadamer spricht in einem seiner Aufsätze diesbezüglich von Gunst statt von Gnade, aber der Gehalt des Wortes ist nahezu identisch. Etwas wird uns gegönnt, wird von außen an uns herangereicht, damit wir es annehmen und über uns selbst hinauswachsen. „Niemand kann leugnen, daß in solchem wirklichen Gespräch etwas von dem Zufall, der Gunst der Überraschung, am Ende auch der Leichtigkeit, ja der Erhebung ist, die zum Wesen des Spieles gehören.“16 Wo allerdings das Verstehen als eine unverdiente Gnade aufgefasst wird, da hat dies auch Implikationen für die Ethik des Gesprächs. Denn wenn das Bemühen um Verständigung keineswegs verworfen werden darf, so bleibt es doch selbst ungenügend. Denn Gnade ist nur dort vonnöten, wo auch Sünde ist. Wenn das Verstehen sich trotz unserer Bemühungen nicht einstellt, so ist das nicht, weil unser Bemühen nicht redlich genug war. Denn Sünde ist keine primär ethische Kategorie; das Sündigen im Sinne des Tugendverstoßes ist eine Sekundärerscheinung. Vielmehr ist Sünde ein ontologischer Begriff, der auf das Wesen des Menschen abzielt. Sündhaft ist in erster Instanz nicht das Tun des Menschen, sondern sein Sein. Nur weil das Sein des Menschen der Sünde unterworfen ist, findet er sich in der Situation, dass sein Tun nicht die gewünschten und projizierten Resultate hervorbringt, obschon er durchaus den „guten Willen“, den „willigen Geist“ mitbringt. Wenn also Derrida Gadamer vorwirft, seine Hermeneutik auf dem Fundament kantianischer Sittlichkeit zu errichten, die den guten Willen zum Gespräch zum Garanten des Verstehens macht, so überliest er den metaphysischen Gehalt in Gadamers Theorie des Verstehens. Ausgearbeitet ist dieser Gehalt sicherlich kaum, und er ist auch keineswegs spannungsfrei in das Denken Gadamers integriert. Gleichzei-
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tig aber ist er es, der die Hermeneutik tiefer verankert, als das mit dem Rekurs auf aristotelische Anthropologie und mesotes-Lehre denkbar ist. Wenn auch das Missverstehen und das Nichtverstehen keinesfalls die Norm sind, so bleiben doch beide Erfahrungen als beständige Bedrohungen allen Verstehens stets im Sinnverständnis des Menschen zugegen. So wie Ernst Bloch in seiner Philosophie der Hoffnung darauf insistieren muss, dass Hoffnung enttäuscht werden kann, so muss auch Gadamer stets konzedieren, dass unsere Verstehenssehnsucht dem potentiellen Scheitern ausgesetzt ist. Die Gnade des Verstehens verstehen wir nur, weil wir auch die Abwesenheit dieser Gnade kennen, die uns in eine Isolation zurückwirft, aus der keine eingeübte Tugend herausführt. Wo sich das Verstehen verweigert, bleiben wir zurück in Abgetrenntheit von allem anderen, das nur die kaum je erlöschende Sehnsucht nach Verstehen und die gemachte Erfahrung ihrer Enttäuschung für uns präsent erhält. Als umso begnadeter wird dann die Erfahrung des Verstehens erlebt. Nicht, weil es seltener ist als das Missverstehen, sondern weil in ihm nicht nur der andere verstanden wird, sondern ein Drittes und Grundlegendes. „Das eigentliche Ereignis des Verstehens geht weit über das hinaus, was durch methodische Bemühung und kritische Selbstkontrolle zum Verständnis der Worte des anderen aufgebracht werden kann. Ja, es geht weit über das hinaus, dessen wir selbst dabei innewerden. Es gilt von jedem Gespräch, daß durch es etwas anders geworden ist. Vollends das Wort Gottes, das zur Umkehr aufruft und uns ein besseres Verständnis unserer selbst verheißt, kann nicht verstanden werden wie das Gegenüber eines Wortes, das man stehen lassen muß. Wir sind es überhaupt nicht selber, die da verstehen. Es ist immer schon eine Vergangenheit, die uns sagen läßt: Ich habe verstanden.“17
Gadamer nimmt hier die neutestamentarische Lehre vom kergyma auf, derzufolge nur dort das Wort Gottes verstanden wird, wo es als persönlicher Anruf aufgenommen wird. Wo das Evangelium nicht Freude hervorruft, bleibt es, wie der Prediger sagt, Windhauch. Aber diese Würdigung des Wortes Gottes als paradigmatisch für die hermeneutische Erfahrung trifft noch nicht deren Wesen. Denn das Paradigma hat lediglich Vorbildfunktion, schließt jedoch keineswegs andere Erfahrungsmodi aus, wenngleich diese durchaus untergeordneter Natur sind. Es wäre ja auch absurd zu behaupten, alles Verstehen sei das Verstehen des Gotteswortes. Ganz und gar nicht absurd ist es dagegen festzustellen, dass alles Verstehen als eine Gnadenerfahrung, die der Sündhaftigkeit enthebt, eine Form der Gotteserfahrung ist. Denn das Dritte, was in jedem zustande gekommenen Verstehen mitverstanden wird, ist Gott. Jedes Verstehen nimmt seinen Durchgang durch Gott. Schauen wir zu, wie Gadamer das Verstehen beschreibt, um dann gerade daran den impliziten Gottesbegriff dieser Hermeneutik herauspräparieren zu können.
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Bekanntlich charakterisiert Gadamer das Verstehen mit der Metapher der Horizontverschmelzung. „Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte. […] Aus diesem Grund gehört notwendig zum hermeneutischen Verhalten der Entwurf eines historischen Horizontes, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet. Das historische Bewußtsein ist sich seiner eigenen Andersheit bewußt und hebt daher den Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont ab. Andererseits aber ist es selbst nur, wie wir zu zeigen versuchen, wie eine Überlagerung über einer fortwirkenden Tradition, und daher nimmt es das voneinander Abgehobene sogleich wieder zusammen, um in der Einheit des geschichtlichen Horizontes, den es sich so erwirbt, sich mit sich selbst zu vermitteln.“18
Das Verstehen beinhaltet somit zweierlei individuelle Entitäten A und B, die in einem dritten, dem Vorgang der Horizontverschmelzung X, ihre Identität gleichzeitig aufgeben und bewahren. In X sind demnach A und B gleichzeitig identisch und distinkt. Außerhalb von X fehlt ihnen ihr Gemeinsames, A und B bleiben berührungslos, stumm, anders. Nur in der Vermittlung im X werden A und B aber auch wirklich, was sie sind, indem sie nämlich ihre Selbstheit ablegen. Im Verstehen, so sagt Gadamer, verstehen nicht mehr wir selbst. Man halte neben diese Beschreibung des hermeneutischen Vorgangs der Horizontverschmelzung diejenige Schellings aus den „Weltaltern“, die logisches Urteil und Trinitätstheologie miteinander verbindet. „Schon die Scholastiker fanden bey der Erklärung des Begriffs der Dreyeinigkeit in der göttlichen Natur für nöthig, den wahren Sinne des Bandes in jedem Urtheil schärfer, als es in der Logik unserer Zeiten geschieht, zu bestimmen. Noch Leibniz, der ihnen hierinn folgte, bemerkte die Unwahrheit jener so oft wiederholten Regel: Disparate können weder von sich gegenseitig noch von einem Dritten ausgesagt werden. Es würde, meynt er, freylich schlecht gesagt seyn, Eisen sey Holz oder umgekehrt, und doch könne der Fall eintreten, wo mit Recht zu sagen sei: Etwas, das Eisen ist, (nämlich Einem Theil nach) dasselbe sey Holz, (einem andern Theil nach). Ebenso könne zwar nicht geradezu gesagt werden: die Seele sei Leib, der Leib Seele; wohl aber, dasselbe, was in dem einen Betracht Leib, sey in dem andern Seele. Wir würden allgemein sagen: das Band im Urtheil sey nie ein bloßer Theil von ihm, wenn auch, wie angenommen wird, der vorzüglichste, sondern sein ganzes Wesen, und das Urtheil sey eigentlich nur das entfaltete Band selber; der wahre Sinn eines jeden Urtheils, z.B. des einfachsten, A ist B, sey eigentlich der: das, was A ist, ist das, was auch B ist, wobey sich zeigt, wie das Band sowohl dem Subjekt als dem Prädikate zu Grunde liegt. Es ist hier keine einfache Einheit, sondern eine mit sich selbst verdoppelte oder eine Identität der Identität. In dem Satz, A ist B, ist enthalten, erstens der Satz A ist X, (jenes nicht immer genannte dasselbe, von dem Subjekt und Prädikat beyde Prädikate sind); zweytens der Satz, X ist B; und erst dadurch, dass diese beyden wieder verbunden werden, also durch Reduplikation des Bandes entsteht drittens der Satz, A ist B.“19
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Wenn also das Verstehen die Verschmelzung der beiden Horizonte von A und B zum gemeinsamen Horizont ist, wobei gleichzeitig A und B nicht aufgelöst werden, sondern als „Disparate“ bestehen bleiben, so ist der Durchgang durch X nötig. X selbst jedoch ist das, was nicht selber Prädikat ist, sondern Subjekt aller möglichen Prädikate, Gott. Was oder wer aber Subjekt aller möglichen Prädikate ist, ist damit schon wieder über alle Prädikation erhoben, wie Hegel ebenfalls argumentiert hat. „Das eigentliche Mangelhafte dieser Weise, Gott durch Prädikate zu bestimmen, besteht darin, wodurch eben diese unendliche Menge von Prädikaten kommt, daß diese Prädikate nur besondere Bestimmungen sind und viele solche besondere Bestimmungen, deren Träger das in sich selbst unterschiedslose Subjekt ist. Indem es besondere Bestimmungen sind und man diese Besonderheiten nach ihrer Bestimmtheit betrachtet, man sie denkt, kommen sie in Entgegensetzung, Widerspruch, und diese Widersprüche sind dann nicht aufgelöst.“20
Gott ist nicht die Menge aller Prädikate, denn eine Auflösung des Widerstreits partikularer Prädikate verlangte eine übergeordnete Instanz, die selbstverständlich mit dem Gottesbegriff nicht zu vereinen ist, sondern er ist vielmehr die Möglichkeitsbedingung aller Prädikation. Ohne hier diesen Gottesbegriff ausbauen zu wollen, so scheint dennoch wiederum unsere Eingangsthese auf: Alles Verstehen nimmt seinen Durchgang durch Gott. Die synthetische Prädikation von A und B – denn das ist die Horizontverschmelzung, in der aus der Zuordnung von Disparatem ein neuer Sinn heraustritt – ist nur möglich auf der Folie von X, dem ermöglichenden Grund dieser Relation. A und B werden vermittelt, sie verschmelzen im Akt des Verstehens, in Gott. Vergangenheit und Gegenwart, Ich und Du im Gespräch, setzen sich nicht unmittelbar verstehend in eins, sondern in ihrem Durchgang durch Gott. So stellt sich heraus, dass in der Hermeneutik selbst ein Gottesbegriff aufzufinden ist, den Gadamer durch die Rückkehr zur voridealistischen, ja sogar vorreformatorischen und vorhumanistischen, sprich zur patristischen und scholastischen Tradition wiederzubeleben wünscht. „Solche ‘humanistische’ Erfahrung des Göttlichen ist vielleicht am überzeugendsten in der Dichtung Hölderlins zur Aussage gekommen. Daß sie dem Anspruch des christlichen Gottesbegriffs nicht Genüge tut, ist nicht zu verkennen. Aber wenn sich das moderne Philosophieren erst auf die alten Wege des Denkens zu getrauen beginnt, wird der Denkende es vielleicht wieder lernen, im Gottesbegriff die alten Inhalte zu gewahren.“21
Wenn das Denken diesen vorhumanistischen Gottesbegriff wiederaufnimmt, dann hat das allerdings auch Auswirkungen auf die Anthropologie. Denn die Horizontverschmelzung, alles gelingende Gespräch im Jetzt zwischen Jetztzeitigen oder Anderszeitigen, braucht stets Gott als ihr Me-
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dium. So ist alles Ansprechen und Antworten, indem es durch Gott hindurchgeht, gerade deswegen möglich, weil vor allem Sprechen der Mensch ein Angesprochener ist. Der Mensch ist zoon logon, weil er zoon echon ist. Das ist schon empirisch nicht anders, denn ohne die Ansprache der Mutter gelangt das Kind nicht zur Rede. Die Ansprache der Mutter aber geht auch hindurch durch Gott. Und so ist der Mensch als Antwortender immer schon ein Gott Antwortender. Der Mensch redet, weil er angesprochen ist. Durch die Ansprache Gottes eröffnet sich ihm erst der Raum der Rede. „Jetzt aber – so spricht der Herr, / der dich geschaffen hat, Jakob, / und der dich geformt hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, / ich habe dich beim Namen gerufen, / du gehörst mir.“22 Als Gehörender erst kann der Mensch hören. Als Hörender erst kann er antworten. Es ist der so eröffnete Raum der Rede, der durch das Gerede wieder verstellt wird. Das Gerede ist das Hin und Her, das nicht durch Gott hindurchgeht, sondern in der Wiederholung des Schon-Geredeten erstarrt. Aber der Mensch ist nicht erst, um dann angerufen zu werden. Wie es die Logostheologie im Prolog des Johannesevangeliums aussagt, ist das Wort Ursprung des Seins, indem es Sein ist. „Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, / und das Leben war das Licht der Menschen.“23 Es ist das Sein des Menschen, gerufen zu sein. In den Worten von Jakob Böhme: „Weil denn der Ungrund, als Gott, ein ewig Sprechen ist, als ein Aushauchen seiner selbst, so wird auch dem gelassenen Leben der Ungrund eingesprochen.“24 Als Mensch ist er ein Hörender, der dadurch, dass Gott sein Sein in ihn hineingesprochen hat, Gott gehört. Der Raum des Gesprächs wird durch das Gerede gerade deshalb verstellt, weil der Mensch der Sünde sein Sein nicht als Anruf Gottes versteht. Alle verstehende Rede bleibt jedoch vom Gerede bedroht und der Möglichkeit des Missverständnisses ausgesetzt. Alles Verstehen nimmt seinen Durchgang durch Gott, aber es ruht nicht in ihm. Alles Verstehen bleibt Gnade, und es gibt keine Garantie dafür, dass das Verstehen sich perpetuiert. Jedes gelingende Gespräch wird neu als überraschendes Geschenk erlebt, auf das man keinen Anspruch hatte. Heideggers Wort, dass das Fragen die Frömmigkeit des Denkens sei, hat in dieser hermeneutischen Erfahrung des unverdienten Angesprochenseins, auf das man dann fragend sich beziehen kann, seinen Grund. Alles Verstehen geht durch Gott hindurch, aber es muss zurückkehren in die Endlichkeit der menschlichen Wechselrede. Verstehen bleibt vor-läufig, voranlaufend zu Gott und stets zurückkehrend in den prekären Austausch, wo es weiter dem Missverstehen und Nichtverstehen als seinen Bedrohungen ausgesetzt ist. Vollkommene Verständigung also bleibt ein Ideal, das erst zu erreichen ist,
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wenn das unter den Bedingungen der Sündhaftigkeit geschehende Sprechen zum Ende gelangt sein wird. Alles Verstehen antizipiert durch seinen Durchgang durch Gott das universale und endgültige Verstehen, aber Letzteres scheint in ihm nur auf, ohne zur Erfüllung zu gelangen. In den Worten von Franz Rosenzweig: „Denn die Sprache ist wahrhaft die Morgengabe des Schöpfers an die Menschheit und doch zugleich das gemeinsame Gut der Menschenkinder, an dem jedes seinen besonderen Anteil hat, und endlich das Siegel der Menschheit im Menschen. Sie ist ganz von Anfang, der Mensch wurde zum Menschen, als er sprach; und doch gibt es bis auf diesen Tag noch keine Sprache der Menschheit, sondern die wird erst am Ende sein. Die wirkliche Sprache zwischen Anfang und Ende aber ist allen gemein und doch jedem eine besondere; sie verbindet und trennt zugleich. So umschließt die wirkliche Sprache alles, Anfang, Mitte und Ende, den Anfang als seine sichtbar gegenwärtige Erfüllung: denn die Sprache, von der wir sagen, dass sie den Menschen zum Menschen macht, ist heute in ihren zahlreichen Gestalten sein sichtbares Kennzeichen; und das Ende: denn sie wird auch als einzelne Sprache von heute und selbst als Sprache des Einzelnen beherrscht von dem Ideal der vollkommenen Verständigung, das wir uns vorstellen unter der Sprache der Menschheit.“25
Vollkommenes Verstehen aber ist nicht in der Zeit, sondern am Ende der Zeit. Da alles Sprechen jedoch zeitlich ist, so kommt mit dem Ende der Zeit auch das Sprechen an sein Ende. Die Sprache der Menschheit, in der das Verstehen nicht mehr seinen Durchgang durch Gott nimmt, sondern in ihn einkehrt, ist kein Sprechen. Vollkommenes Verstehen ist vollständige Präsenz, die einkehrt mit dem Ende des Sprechens. Aber die Sprache gelangt nicht an ihr Ende, denn das wäre das Verstummen der Sprache. Die Sprache gelangt vielmehr zu ihrer Erfüllung. Die Erfüllung der Sprache aber ist das Schweigen. „Weil in der Ewigkeit das Wort erlischt im Schweigen des einträchtigen Beisammenseins – denn nur im Schweigen ist man vereint, das Wort vereinigt, aber die Vereinigten schweigen – darum muß der Brennspiegel, der die Sonnenstrahlen der Ewigkeit im kleinen Kreis des Jahres sammelt, die Liturgie, den Menschen in dieses Schweigen einführen. Auch in ihr freilich kann das gemeinsame Schweigen erst das Letzte sein, und alles was vorhergeht, ist nur die Vorschule auf dies Letzte. In solcher Erziehung waltet noch das Wort. Das Wort selber muß den Menschen dahin führen, daß er gemeinsam schweigen lerne. Der Anfang dieser Erziehung ist, daß er lerne zu hören.“26
Während die Kunst der privilegierte Ort jenes Gnadenerlebnisses ist, in dem ein beredtes Verstehen uns die Sinnhaftigkeit des Seins verbürgt, so ist die Liturgie der ausgezeichnetere Ort eines Verstehens, das das Schweigen als Sprache der Menschheit am Zeitenende antizipiert. Die Kunst bereitet uns auf die Erfahrung vor, dass uns Sinn in der Wechselrede als Gnade zukommt. Die Liturgie lehrt uns, dass die Ruhe des Im-Verstehen-
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Seins erst im Schweigen ist. Ohne das Wort gibt es keine Hermeneutik, aber alle Hermeneutik mündet ins Schweigen.
Anmerkungen Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Eine jüdische Religionsphilosophie. Wiesbaden, 3. Auflage 1995, 10. 2 Hans-Georg Gadamer, „Die deutsche Philosophie zwischen den beiden Weltkriegen“. In: Gesammelte Werke, Bd. 10. Tübingen 1995, 356–372, hier 372. 3 Martin Heidegger, Sein und Zeit. 15. Auflage 1979. Tübingen 1984, 169. 4 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Auflage 1990. Gesammelte Werke, Bd. 1. Tübingen 1990, 319. 5 Ders., „Die Unfähigkeit zum Gespräch“. In: Gesammelte Werke, Bd. 2. Tübingen 1993, 214. 6 Ebd., 207. 7 Ders., „Und dennoch: Macht des guten Willens“. In: Philippe Forget (Hrsg.), Text und Interpretation. München 1984, 61. 8 Aristoteles, Nikomachische Ethik. 1107a 14. 9 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., 387. 10 Ders., Die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt a. M., 4. Auflage 1996, 135. 11 Ders., „Ästhetik und Hermeneutik“. In: Gesammelte Werke, Bd. 8. Tübingen, 1993, 8. 12 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main, 11. Auflage 1992, 167. 13 Psalm 127,2. 14 Elisabeth Langgässer, Christliche Dichtung. Olten und Freiburg/Br. 1961, 29. 15 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., 155. 16 Ders., „Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der ‘Entmythologisierung’“. In: Gesammelte Werke, Bd. 2. Tübingen 1993, 131. 17 Ebd., 132. 18 Ders., Wahrheit und Methode, a.a.O., 311f. 19 F. W. J. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch. Die Vergangenheit. In: Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Frankfurt am Main 1985, 240. 20 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II. Frankfurt am Main 1986, 224. 21 Hans-Georg Gadamer, „Kant und die Gottesfrage“. In: Gesammelte Werke, Bd. 4. Tübingen, 1987, 360. 22 Jesaja 43,1. 23 Johannes 1,1–4. 24 Jakob Böhme, „Theoscopia oder die hochteure Porte von göttlicher Beschaulichkeit“. In: Christosophia. Ein christlicher Einweihungsweg. Frankfurt am Main 1992, 215. 25 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt am Main 1988, 122f. 26 Ebd., 342f. 1
Oscar M. Esquisabel Sprache, Geschehen und Sein Die Metaphysik der Sprache bei H.-G. Gadamer Bekanntlich ist die hermeneutische Erfahrung für Gadamer wesentlich sprachlicher Natur. Die Horizontverschmelzung, die Interpretationsgegenstände, die Ausführung des Verstehens und der Interpretation haben die Sprache selbst als Möglichkeitsbedingung. Daher muss die Hermeneutik ihr Wesen und ihre Rolle, insbesondere in ihrer Beziehung zu weltlichen Dingen und dem Denken erläutern. Nun zielen die gadamerschen Untersuchungen eher auf eine Metaphysik der Sprache ab als auf deren Erläuterung vom linguistischen Standpunkt aus und, obgleich in dieser Arbeit das Thema des Verstehens nicht als solches behandelt wird, ist hervorzuheben, dass die gadamersche Metaphysik der Sprache den Anspruch auf die Universalität der Hermeneutik begründet. So ist die Sprache vom metaphysischen Standpunkt aus eine Entität, die sich durch keine Wissenschaft, wie die Linguistik, vergegenständlichen lässt, sondern sie ist ein unverfügbares, phonisches Ereignis, durch das eine Sinneseinheit entsteht. Laut Gadamer werden auf diese Art und Weise „die Dinge zur Sprache“. Mit dem Ziel, die metaphysische Dimension zu behandeln, auf der sich die Verbindung zwischen Wort und Sinn begründet, gliedern wir die gadamersche Auffassung von Sprache in drei Thesen: Erstens ist es notwendig, die Sprache aus der Degradierung zum simplen semiotischen System mit rein instrumentellem Wert herauszulösen und somit die wesentliche Einheit von Sprache und Sache wiederherzustellen. Zweitens charakterisiert sich die Sprache vor allem als Sprechakt, der ein kommunikatives Angebot verkörpert und der sich in einem Sprachsystem einschreibt. An dritter Stelle führt uns das Verhältnis von Sprechakt und Sinn zur Erforschung der spekulativen Beschaffenheit der Sprache, welche den ontologischen Hintergrund der beiden ersten Thesen ausmacht.
I. Wort und Zeichen Ein Merkmal der gadamerschen Auffassung von Sprache ist die Ablehnung der Degradierung der Sprache auf die Stufe einer rein semiotischen Struktur. Damit verliere das Wort seine zurückrufende und mimetische Funktion. Somit kann die Sprache nicht vollständig instrumentalisiert werden, da ihre Fähigkeit zu bedeuten sich nicht auf eine rein verweisende Funktion beschränkt. Die Folge sei, dass man die Sprache für ein Denk-
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instrument hält, und so suche man eine perfekte Sprache zu schmieden, deren Bezeichnungen die Inhalte und Begriffe selbst seien. Gadamer übt Kritik am leibnizschen Ideal einer characteristica universalis und zugleich an den Projekten künstlicher Formalsprachen. Auffällig ist an Gadamers Ausführung, dass der Degradierungsprozess der Sprache in ein nur „verfügbares“ semiotisches Instrument schon mit der platonischen Überlegung zur Sprache, genauer im „Kratylos“1 beginne, wo auf klassische Art und Weise die zwei Grundthesen über das Verhältnis von den Wörtern und den Dingen konfrontiert werden, das heißt der Konventionalismus und der Naturalismus. Unabhängig davon, ob die gadamersche Interpretation des platonischen Textes richtig ist oder nicht, soll in diesem Zusammenhang auf die Folgerungen Gadamers hingewiesen werden, die der wirkliche Kern der hermeneutischen Darstellung des Dialogs sind. Gadamer greift ein Thema auf, das für das hermeneutische Denken von großer Bedeutung ist: die Erfahrung der Richtigkeit der Wörter, das heißt die Tatsache, dass die Sprecher einer Sprache die Erfahrung haben, dass die eigenen Sprachformen die richtigen sind, immer den Gedanken am nächsten, die geeignetsten, um das zu sagen, was man sagen will. Diese Erfahrung ist der Ausgangspunkt, von dem aus die Frage im „Kratylos“ nach der Richtigkeit der Wörter, nach der genauen Entsprechung zwischen Wort und Sache aufgeworfen wird.2 Nun drückt Gadamer aber seine Unzufriedenheit mit der platonischen Lösung des Streits zwischen Naturalismus und Konventionalismus aus. Tatsächlich scheinen beide Standpunkte mit der platonischen Anregung überwunden, dass der Weg, die Dinge zu kennen, nicht die Sprache sei, sondern man solle versuchen, sie durch sich selbst ohne jegliche sprachliche Vermittlung kennen zu lernen.3 Platon schätzt seine eigene Aussage nicht genug, dass die Begriffsbildung selbst eine enge Verbindung zur Sprache einschließt und sich selbst in diesem Sinn untreu ist.4 Folglich „[muss man] also als Ergebnis formulieren, daß die Entdeckung der Ideen durch Plato das eigene Wesen der Sprache noch gründlicher verdeckt, als es die sophistischen Theoretiker taten“5. Laut Gadamer hat Platon, indem er einen von der Sprache unabhängigen Zugang zu den Ideen – zum Sein, wenn man so will – vorschlug, den Grundstein für ein falsches Verstehen der Wortfunktion gelegt. Die Ablehnung der platonischen Lösung des abstrakten Widerspruchs zwischen Konventionalismus und Naturalismus erlaubt Gadamer den Versuch, zwischen beiden extremen Positionen zu vermitteln, wodurch die teilweisen Wahrheiten, die beide enthalten, erhalten werden könnten. Für Gadamer schließen sich Konventionalismus und Naturalismus nicht notwendigerweise aus,6 die platonische Kritik übersieht den wahren Inhalt,
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den beide enthalten.7 Nun ist es der Darstellungsbegriff, der zwischen beiden extremen Positionen vermittelt und in sich selbst die Wahrheit beider aufnimmt. Was die Darstellung betrifft, besitzt das Wort einen mimetischen Charakter in der Hinsicht, dass es durch seine phonische Form die Dinge erscheinen lässt und ihre Äußerung ausmacht. Auf diese Weise formuliert Gadamer die Idee neu, dass es zwischen Wort und Sache ein bestimmtes Verhältnis von Ähnlichkeit und Abbild gibt. Dies bedeutet keine Rückkehr zur naiven naturalistischen Theorie, die einen piktorischen Zusammenhang zwischen dem Wort und der Sache sieht, vielmehr wird das Thema übertragen auf die Ebene der Nähe vom Wort als phonischer Form und dem Sinn, der dadurch verstanden und unmittelbar vom Sprecher der jeweiligen Sprache erfasst wird. Daraus folgt, dass das Wort für jeden Sprecher einer bestimmten Sprachwelt insofern sinnvoll ist, als es das nennt, was es nennen soll, und in diesem Sinne ist das Wort vollkommen perfekt. So können wir sagen, dass „[…] es Sinn hat, von einer absoluten Perfektion des Wortes zu sprechen“8. In dieser Perfektion beruht letztendlich die Wahrheit des Wortes. In der Verbindung von Wort und bedeuteter Sache gibt es eine gewisse Analogie zum Verhältnis zwischen dem Abbild und dem Abgebildeten, so dass, wie oben angedeutet wurde, der frühere Anspruch, Sprache bedeute trotz der Schwierigkeit, sie in ihrem Wesen zu erfassen, eine Art Mimesis, ein „relatives Recht“ besitzt.9 Aber in welcher Hinsicht entsteht diese Analogie von Wort und Abbild? Gadamers Antwort ist anfänglich nicht klar, allerdings verteidigt er in keiner Weise die Existenz einer sinnlichen Analogie von Wort und Sache. Gadamer bemerkt vielmehr, dass die Funktion des Bildes oder Abbildes in ihrem Verhältnis zu dem Abgebildeten eine Analogie des Verhältnisses zwischen dem Wort und seiner Bedeutung ist. Die Idee des Wortes als eine Ähnlichkeit der Dinge hat in sich selbst einen analogen Charakter. In der Tat erscheint als grundlegende Eigenschaft des Abbildes die Tatsache, dass es aus seinem eigenen Sein auf die abgebildete Sache verweist, insofern es sie darstellt oder vertritt. Folglich entsteht die Funktion des Verweisens durch keinerlei Vereinbarung oder Übereinkunft, sondern liegt dem Abbild um seiner selbst willen inne.10 So verschwindet das Abbild als autonomes und unabhängiges Wesen, als Materie bestehend aus Form, Farbe, Dimension usw., es löscht sich in sich selbst in der Beziehung der Verweisung, durch die die abgebildete Sache sich darstellt und vergegenwärtigt. Wenn wir zum Beispiel eine Fotografie betrachten, beachten wir nicht die Oberfläche, die Farbe oder die Textur, sondern die Tatsache, dass es sich um die Abbildung eines Menschen oder um eine Landschaftsaufnahme handelt. Das phänomenologische Wesen des Abbildes besteht im Normalfall darin, dass seine Stofflichkeit gleichzeitig notwendig ist für seine darstellende Funktion und trotzdem durch sie und in ihr aufgehoben
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wird. Daher sein wesentlicher Widerspruch: Seine Stofflichkeit ist so beschaffen, dass es zum Verschwinden verurteilt ist.11 Ein analoges Verhältnis ergibt sich zwischen Wort und bedeuteter Sache, genauer gesagt: zwischen Wort und Bedeutung. Dank dieser Analogie beginnt man die geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Wort und dem „Abgebildeten“ zu verstehen, seine Zugehörigkeit zum Sein des Abgebildeten.12 Wie das Abbild die widersprüchliche Einheit einer Stofflichkeit ist, die sich auflöst, und des Abgebildeten, das auftaucht in eben diesem Verschwinden, so bildet auch das lebendige oder geäußerte Wort im eigentlichen Sinn diese widersprüchliche Einheit von phonischer Materie und einer Bedeutung, die sich durch das Wort äußert. So wie ein Abbild kein solches sein kann, wenn es nicht das Abbild von etwas ist, genauso kann ein Wort, als phonische Materie, nur als solches auftreten, wenn es Bedeutungsträger in einer unauflöslichen Einheit mit dieser Materie ist. In dieser Hinsicht ist jedes Wort sinnvoll. Das Wort als phonisches Wesen verschwindet im Bedeutungsverhältnis, das im verstehenden Hören stattfindet, auf die gleiche Weise wie im Abbild: Nicht die phonische Materie hören wir verstehend, sondern das Wort, das mit Bedeutung ausgestattet ist, und aus diesem Grund verstehen wir es ausgehend von seinen zahlreichen phonischen Variationen immer als dasselbe Wort: Das Phonische löst sich auf und wird mit dem Verstehen der Bedeutung transparent. Es ist nicht mehr das Wort, das sich äußert, sondern „die Sache selbst“ wird so dargestellt, dass sie „Sprache wird“. Von diesem Standpunkt aus könnte für die gadamersche Konzeption vom Wort die Bedingung zutreffen, die laut Saussure für jedes linguistische Zeichen gilt, nämlich die, dass es aus einem unauflöslichen Zusammenhang zwischen Signifikantem und Bedeutung besteht. Folglich ist das Wort ein Analogon des Bildes, soweit es – erstens – die Einheit vom phonischen Element und der Bedeutung ist (die im sprachlichen Verstehen vollzogen wird) und – zweitens – als phonische Materie vollkommen transparent ist. Mit anderen Worten: Das Phonische annulliert sich selbst im Bedeutungsverstehen. Soweit jedes Wort als sinnvoll verstanden wird, ist es im Wesentlichen „richtig“ und „wahr“; nicht in dem Sinn, dass es sich durch sein Sein der Sache anpasst, sondern in dem Sinn, dass es, soweit es verstanden wird, eine Bedeutung ermöglicht. In diesem Sinn ist es insofern vollkommener als das Abbild, als es in gewisser Weise der Sache selbst näher und unmittelbarer ist.13 Trotzdem sind beide Thesen Gadamers, die Einheit von Wort und Bedeutung einerseits und die These der Transparenz des Wortes andererseits, nur der Beginn der Erläuterung dieses „geheimnisvollen“ Verhältnisses, das zwischen Wort und Sache besteht. Ergibt sich dieses Bedeutungsverhältnis aus der These von der Einheit des Bedeutungsverhältnisses, so kann das „mimetische“ Verhältnis von Wörtern und Dingen nur verstan-
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den werden über eine Erklärung, die die Grundlage dieser Einheit darlegt. Hierfür muss der spekulativen Dimension der Sprache nachgegangen werden. Bevor wir diese ontologischen Aspekte der Sprache ausführen, müssen wir die Auffassung der Sprache als Lauteinheit und Bedeutung mit ihrer Degradierung zum einfachen Zeichen konfrontieren, dessen Funktion sich für Gadamer mit dem bloßen Zusammenhang des Verweisens erschöpft und die Bedingungen dafür schafft, dass das Wort sich in ein rein „sprachliches“ Instrument verwandelt. Wie anfangs erwähnt, führen die im platonischen Dialog gemachten Schritte zu dem modernen Projekt einer künstlichen, operativen Sprache, die den letzten Schritt zur Verwandlung des lebendigen und unverfügbaren Wortes in ein bloßes „Denkinstrument“ verkörpert.14 Der archimedische Punkt der Umwandlung des Wortes in Zeichen liegt in der Überbewertung der Aussage, dem logos als Wahrheitsträger an Stelle des Wortes als solches. Jenseits der Argumentation des „Kratylos“ für die Wahrheit der Aussage bezüglich der richtigen Artikulation von Namen (und so auch von Bedeutungen) oder Wörtern15 besteht die allgemeine Einsicht dieses platonischen Dialogs für Gadamer darin, der Wahrheit der artikulierten Aussage, begründet auf einer gewissen Entsprechung von Aussage und Sache, auf die sie sich bezieht, die Wahrheit des Wortes entgegenzusetzen, die nicht aus einer Entsprechung der unabhängigen Sprachordnung hervorgeht, sondern aus einem sinnverfassenden Akt. Die Zuschreibung des Wahrheitsverhältnisses an den Zusammenhang von Aussage und Sache bedeutet laut Gadamers Ausführungen die Annahme der Wahrheitsbedingungen der Aussage, die in Sachverhalten bestehen, deren Artikulation und Verbindung vollkommen unabhängig von der Sprache sind. Folglich bildet die Aussage – als Wortzusammensetzung – nur diese Ordnung nach, die ihr vorgegeben ist. Die von den Wörtern bedeuteten Begriffe, die sich in der Aussage artikulieren, bilden sich nicht sprachlich, sondern gehören zu einer von der Sprache unabhängigen Ordnung. So wird das Wort als einem Begriff gegebener Name zu einem bloßen Zeichen von diesem: Seine einzige Aufgabe besteht in der Referenzfunktion: Das Wort entsteht aus einer Abmachung und kann durch präzisere Zeichen ersetzt werden. Durch diese genaue Bezeichnung kann die konzeptuelle Ordnung richtig definiert und eingeordnet werden. Dies hat Konsequenzen für die Sprache, da sie ihre eigene Natur aufhebt: Erstens wird die Aussage von ihren Äußerungsbedingungen isoliert, d. h. von den entsprechenden Sprechakten, indem ihr eine „vom Zusammenhang unabhängige“ Bedeutung beigemessen wird, welche von einer begrifflichen Ordnung kommt; zweitens wird die Aussage durch diesen Isolierungsprozess als „Ding-Zeichen“ verfügbar, deren Wahrheits- bzw. Unwahrheits-
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fähigkeit in der bloßen Beziehung zu einer objektiven begrifflichen Ordnung wurzelt; und drittens schließlich kann die Aussage durch einen strengen Regelungsprozess einer formalen Kalkulation durch rein symbolische Manipulationen unterzogen werden. Auf diese Weise wird die Aussage als solche verfügbar und dergestalt instrumentalisiert.16 Durch diese Instrumentalisierung werden die Aussage und das Wort auf die Kategorie eines Zeichens herabgestuft. Tatsächlich ist es die Aufgabe des Zeichens, sich als solches auf eine andere Sache zu beziehen und in diesem Bezug sich zu erschöpfen. In dem Maße, wie die Sache, auf die das Zeichen sich bezieht, ein von ihm unabhängiges Wesen besitzt, ist es vollkommen gleichgültig, ob man sie mit dem Zeichen verbindet oder nicht. Das Zeichen entsteht durch eine ausdrückliche Abmachung und kann folglich verändert oder ausgewechselt werden, da die Bezugsfunktion der bezeichneten Sache weder etwas hinzufügt noch etwas an ihr verändert. Auch im Zeichen existiert nichts, was es an die Sache bindet, da es ja als einfache subjektive Institution entsteht: Ein Zeichen ist es für den Benützer, der es einführt. Die Beziehung der Namensgebung wird geleitet von der Idee, dass sie durch ausdrückliche Abmachung festgelegt wird.17 Da seine Aufgabe rein instrumentaler Art ist, ist sie nicht gedankenbildend. Aus diesem Grund können wir auf die Zeichen verzichten und uns mit den Begriffen selbst ohne jede semiotische Vermittlung beschäftigen. Die Sprache als Zeichensystem wird somit entbehrlich.18 Durch die Einschränkung des Wortes auf die semiotische Funktion geht das Wesen der Sprache verloren, d. h. ihre Nähe zum Denken und den Dingen. Man vergisst infolgedessen die sprachliche Beschaffenheit des Denkens,19 so dass nicht wahrgenommen wird, dass die Sprache durch eben diese Nähe unverfügbar ist.20 Unverfügbar ist sie, weil die Sprache sich nicht vergegenständlichen lässt wie ein Eingriffen unterliegendes, beliebiges Ding, sondern sie wird immer vorausgesetzt, sogar in der Abmachung, in der wir Zeichen festlegen. Das Wort kann nicht wie ein Zeichen willkürlich beiseite geschoben werden. Außerdem ist die Bedeutung dem Wort konsubstantiell, da Bedeutung und Wort untrennbar zusammengehören. Man kann dem Wort nicht nach eigener Willkür eine Bedeutung geben. Darüber hinaus verfügt die Sprache nicht von vornherein über feste Bedeutungen, denen sich neue Einzelfälle unterwerfen. Wörter verhalten sich nicht wie Instrumente, die wir homogen anwenden. In diesem Sinn ist die Sprache kein Werkzeugkasten, vielmehr schaffen wir seine Bedeutungen mit jedem Aussageakt neu. Sprechen bedeutet nicht, Individuelles dem Allgemeinen zu unterwerfen.21 An der Wurzel dieser Abwertung des Wortes zu einer bloßen Verweisungsfunktion findet sich die Aberkennung seines „mimetischen“ Charakters, d.h. der ursprünglichen Einheit von phonischem Element und Bedeu-
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tung, die, wie wir bereits gesehen haben, eine Analogie des Verhältnisses von Abbild und Abgebildetem ist. In dieser Einheit wurzelt die darstellende und zurückrufende Fähigkeit des Wortes als solches, in der seine „Wahrheit“ besteht. Diese Einheit zu zerstören bedeutet, die Beschaffenheit des Wortes zu brechen. Dies ist genau das, was die Sprachauffassung als Zeichensystem macht. Aus diesem Grund ist es notwendig, die ursprüngliche Einheit von phonischem Element und Bedeutung, die enge Verbindung und Nähe von Sprache, Denken und Sache wiederherzustellen und nicht aus den Augen zu verlieren. Gadamers Ablehnung der Sprachauffassung als ein System von festgelegten Zeichen knüpft an Heideggers Bedenken gegen das kalkulierende Denken an, das die natürliche und menschliche Welt in einen verfügbaren Bestand verwandelt22, und schließt sich letztendlich der Kritik an, die das romantische Denken an dem leibnizschen Projekt von der universalen Charakteristik übt.23 Für Gadamer stellt die Sprache etwas Lebendiges dar, das in ständiger Bewegung und Veränderung begriffen ist, weshalb es nicht auf irgendeine Kalkulation festgelegt und beschränkt werden kann. Da die ursprüngliche Welterfahrung gleichzeitig im Wesentlichen sprachlicher Natur und dadurch selbst beweglich und veränderlich ist, kann keine künstliche Sprache, die den Anspruch erhebt, die „Form der Welt“ als etwas Definitives zu enthalten, die Annäherungsweise an die Welt ersetzen, die die Sprache als historische und lebendige Form bildet. Die dargelegten Überlegungen, mit denen Gadamer seine Vorbehalte gegenüber dem Zeichenbegriff begründet, lassen verständlich werden, warum er das linguistische Denken als eine weitere Etappe der Abweichung von der authentischen Sprachnatur ansieht und einen Großteil der Entwicklungen der gegenwärtigen Linguistik und der Sprachphilosophie in seinen eigenen Überlegungen zur Sprache beiseite lässt.24 Aus meinen Darlegungen soll nicht der Schluss gezogen werden, dass es zu Gadamers Zeichenbegriff keine Alternative gibt, sodass die Degradierung des Wortes zum Zeichen unweigerlich seinen Ruin mit sich bringt. Wie wir sehen konnten, steht der Zeichenbegriff Saussures’ als Einheit von Signifikantem und Bedeutung der gadamerschen Analyse vom Wort als Einheit von phonischem Element und Bedeutung nahe. Ebenso nähert sich die klassische Unterscheidung von Sprache und Parole (langue et parole) Gadamers Überlegungen zum universalen und beständigen Sprachelement (der Grammatik) und dem besonderen Element, das vom Sprechakt als solchem kommt. Die grundlegende Differenz zwischen Gadamer und der Linguistik Saussures besteht darin, dass die Sprache für die strukturelle Linguistik grundsätzlich Struktur ist, das heißt mehr Form als Inhalt. Demgegenüber ist für Gadamers Konzeption die unzertrennliche Einheit von Form und Inhalt, die eine unauflösliche Verbindung zwischen
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Sprache, Welt, Lebenspraxis und sprachlicher Praxis bildet, charakteristisch. In diesem Zusammenhang wäre eine genaue Erörterung von Gadamers Kritik am leibnizschen Ideal von der Universalcharakteristik interessant, eine Kritik, die Leibniz insofern nicht trifft, als für ihn dieses Ideal eine darstellende Funktion besitzt.25 Die Ausführung dieser Aspekte würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.
II. Wort, Sprechakt und Sprache Zweifellos ist die Wahrheit des Wortes für Gadamer ursprünglicher als die Wahrheit der Aussage. Der Sinn dieser These wird aber nicht sofort klar, was sich an mehreren Fragen verdeutlichen lässt. Denn was bedeutet: Das Wort ist wahr? Auch wenn man darauf antwortet, dass die Wahrheit des Wortes darin liegt, die Sache zur Anwesenheit kommen zu lassen, so scheint doch die Idee, dass die Aussage wahr ist, weil sie eine gewisse Entsprechung zur Sache enthält, ein viel verständlicheres Konzept zu sein als das erste. Unklar ist auch bei Gadamer, ob er bestreitet, dass eine Aussage aus Wörtern besteht. Bestehen die Aussagen etwa nicht aus Wörtern? Warum die strikte Trennung zwischen der Aussage und dem Wort? Wenn die Wahrheit von der Bedeutungsartikulation abhängt und nicht von einzelnen Bedeutungen, wie beim Wort, ist dann nicht die Aussage der authentische Wahrheitsträger? Für diese Überlegung spricht, dass sich die Bedeutung der wahren (oder falschen) Aussage einzig aus der bloßen Kombination der Bedeutungen der im Voraus im Vokabular der eigenen Sprache zur Verfügung stehenden Wörter ergibt, die ausgewählt werden je nachdem, was man sagen will. Gadamer antwortet auf diesen Einwand mit der Unterscheidung zwischen Wörtern (Vokabeln), die grammatische Wesen bilden, mit denen man ein komplexes grammatikalisches Wesen schafft wie die Aussage, und dem Wort als Sprechakt, dem die Wörter als grammatische Wesen dienen. Was Gadamer hervorzuheben versucht, ist, dass die Wahrheit des Wortes hauptsächlich eine Sprechhandlung impliziert. Das Wort ist auf eine essentielle Weise ein Sprechakt, es besitzt einen vollziehenden Charakter und ist in dieser Hinsicht ein Geschehen, das sich selbst trägt. Die grammatikalische Form, die Struktur, ist nur ein Mittel, durch das der Sprechakt ausgeführt wird und in dem er sich kristallisiert. Die Sprachhandlung ist der Entstehungsort vom Sinn, der dann in grammatischen Formen standardisiert wird. Diese werden jedoch in jedem neuen Sprechakt erneuert. Wir haben bereits hervorgehoben, dass das Wesen des Wortes vor allem in der Einheit von phonischem Element und Bedeutung liegt. Unserer Meinung nach liegt die Entstehungsbedingung einer solchen Einheit in
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der performativen Beschaffenheit der Sprachhandlung, die, wie wir gesagt haben, die Form eines Geschehens annimmt. Aus diesem Grund können wir sagen, dass der Sprechakt ein „Sinngeschehen“ ist, wie Gadamer nach einer hermeneutischen Neubearbeitung der christlichen Doktrin vom Fleisch gewordenen Wort und der Verkündung des Wortes Gottes feststellt.26 Der Geschehenscharakter ist untrennbarer Bestandteil des Wortes als solches: Das Wort ist nicht nur Bedeutungsartikulation, geht es doch nicht um eine bloße Aussage, deren Bedeutung auf die pragmatischen Bedingungen der Äußerung verzichten kann, sondern um das Aussprechen als Sinn des Wortes.27 Das Wort als Akt, als Geschehen, steht in Verbindung mit der Okkasionalität jeder sprachlichen Handlung. Aus diesem Grund kann die Äußerung sich nicht nur auf ein reines „Aussagen machen“ beschränken, die einen informativen vom konkreten Kontext losgelösten Inhalt haben, in dem sich die Sprechhandlung vollzieht. Der Äußerungsakt (nicht in der Aussage als Produkt) ist verbunden mit einem Horizont von Erwartungen, die mit einem bestimmten vitalen Kontext zusammenhängen. Die informative Aussage, die Gegenstand der Logik und in sich Träger von Wahrheit oder Falschheit ist, ist das Ergebnis einer Abstraktion. Als „abstraktes“ Produkt besitzt sie nie ihren vollständigen Sinn in sich selbst. Tatsächlich gibt es einen „Sinnrest“. Er liegt in der Referenz des Sprechaktes auf den vitalen Kontext, in dessen Rahmen er geschieht. Dieser vitale Kontext ist eine gewisse Ganzheit.28 Die isolierte Aussage beschneidet diese Referenz und wird daher zu einer Abstraktion. Im genuinen Sprechakt wird dieselbe Sache niemals zweimal genannt.29 Demnach verweist uns dieses okkasionelle oder kontextuelle Element, welches das Wort als Sprechakt besitzt, auf die Gemeinschaftsdimension der Sprache. Tatsächlich beinhaltet der Sprechakt als solcher eine kommunikative Verbindung: Das Wort bindet die Sprecher unter sich, da es eine Dialogform besitzt.30 Im Sprechakt bilden sich andererseits die Bedeutungen, die keine ideale Einheit sind, die den Wörtern als grammatikalische Wesen anhaftet, sondern vielmehr im kommunikativen Akt geschieht, in der energeia der Sprache, nicht in ihrem ergon31. Die Tatsache, dass die Bedeutung im Sprechakt entsteht, begründet auch die Polyvalenz und Polysemie des Wortes, soweit es auf einen Sinn abzielt, der sich in jedem Sprechakt erneuert und dergestalt neue Dialogangebote bildet: Der Sinn ist ein offener Raum für die Gesprächsfortführung (und hierin liegt sein „Sinnrest“).32 Der Stellenwert des Sprechaktes für die Bildung und Konkretisierung der sprachlichen Bedeutung ist verbunden mit zwei sehr wichtigen Problemstellungen in Gadamers Überlegungen zur Sprache: mit der Dialektik zwischen Grammatik (oder linguistischem Schematismus) und Sprechakt
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und mit dem unreflektierten und spontanen Charakter des Sprechaktes, auf den wir bereits beim Begriff der Unverfügbarkeit zu sprechen kamen. Die Dialektik zwischen Allgemeinem (Grammatik) und Besonderem (Sprechakt) kann als Verhältnis von zwei Polen verstanden werden, die, obwohl sie Gegensätze sind, sich doch gegenseitig brauchen. Den ersten Pol stellt die Vorschematisierung der Bedeutung dar (und der Welt, wenn wir davon ausgehen, dass eine Grammatik eine bestimmte Weltansicht ist), die sich in der Grammatik jeder Sprache wiederfindet. Diese Vorschematisierung enthält die Regel, das Allgemeine und in bestimmter Weise das, was dem Einzelnen durch Sozialisierungs- und Einübungsprozesse auferlegt wird. Dies ist die unumgängliche Bedingung jedes konkreten Sprechens: Es gehört einer bestimmten Sprache an, die einen bestimmten historischen, sozialen und kulturellen Hintergrund hat. Von diesem Standpunkt aus gehört jeder Sprecher einer bestimmten „Sprachwelt“ an; nicht wir sprechen, sondern die Sprache spricht „durch uns“.33 Den zweiten Pol macht der einzelne Sprechakt aus, in dem die Ganzheit der Grammatik einsetzt aufgrund einer Sprachkonkretisierung und -erneuerung durch das Kommunikationsangebot. In jedem Sprechakt vollzieht sich eine Bedeutungsabsicht, ein „Bedeuten“, das nie vollständig durch die Regel oder die Allgemeingültigkeit der Grammatik erfasst wird. Diese Unangemessenheit zwischen Bedeutungsintention und Grammatik zeigt sich sowohl in der Erfahrung der Schwierigkeit, das angemessene Wort zu finden, als auch in dem Gefühl der Unzufriedenheit mit dem, was wir gesagt haben, angesichts dessen, was wir eigentlich sagen wollten. Die Ursache dieser Unangemessenheit liegt in der Vorschematisierung, über die wir in unserer „gewöhnlichen“ Sprache verfügen und die nicht die geeigneten Ausdrucksmittel enthält, um unsere Bedeutungsintention zu befriedigen. Gemeint ist die Erfahrung der in der Übersetzung, Poesie und selbst in der Philosophie alltäglichen „Sprachnot“. Gadamer verallgemeinert diese Erfahrung als die dem einzelnen Sprechakt eigene Seinsweise: Nie gibt es eine vollständige Koinzidenz von „Bedeuten“ und Grammatik, obwohl beide sich natürlich gegenseitig brauchen. Deshalb haben wir von Dialektik gesprochen. Die Bedeutungsintention, die immer auch eine über die Grammatik hinausgehende Sinnerneuerung impliziert, bleibt im Netz der Sprachgewohnheit gefangen. Diese Gewohnheit unterliegt im konkreten Sprechakt einem semantischen und syntaktischen Erneuerungsprozess, der über einen Torsions- und Erneuerungsprozess des Grammatikelements, der Regel, des Allgemeinen versucht, das auszudrücken, was noch nicht gesagt wurde.34 Der sprachliche Erneuerungsprozess wird von der unauflösbaren Dialektik zwischen Sprache und Sprechen bestimmt. Wenn aber die genannte Dialektik die Voraussetzung für die sprachliche Erneuerung ist, taucht unvermeidlich die Frage nach dem Subjekt
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dieser Erneuerung auf. Dies ist eine entscheidende Frage, denn ausgehend von ihrer Antwort kann die hermeneutische Sprachkonzeption einen sprachlichen Monismus zulassen, in dem der Sprecher als Individuum einem Sprachgeschehen unterworfen und in ihm aufgehoben wird, das von sich aus die Dialektik zwischen Allgemeinem und Besonderem entwickelt. Wenn dem so wäre, würde der einzelne Sprecher im sprachlichen Erneuerungsprozess nur eine stellvertretende Rolle spielen: Die Sprache würde sich selbst im Geschehen des Sprechaktes bestimmen.35 Obwohl wir sporadische Behauptungen Gadamers finden, die die Rolle des einzelnen Sprechers im sprachlichen Erneuerungsprozess hervorheben, tendiert sein Denken allgemein zu einem Verständnis von Sprache als einem Geschehen, das hinter dem Rücken der Sprecher stattfindet. An dieser Stelle können wir weder auf den spekulativen Sprachcharakter eingehen, durch den die Tradition geschieht und sich ihrer selbst über die Sprecher (oder Interpreten) aneignet, noch darauf, dass wir über die Sprache einer Tradition angehören, die uns umfasst und überholt. Es reicht aufzuzeigen, dass Gadamer eine Dialektik zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen in der Sprache selbst erkennt, die sich als Aktivität durch die individuellen Sprechakte differenziert: Die Sprache ist eine Aktivität, eine Kraft, die in sich selbst jede Abmachung auflöst und verflüssigt.36 Auf diese Weise läuft die hermeneutische Sprachauffassung Gefahr, den Erneuerungscharakter des individuellen Bedeutens zu verlieren, indem sie den Sprechakt dem Sprachgeschehen als solchem unterordnet. Gehen wir über zum zweiten Aspekt der Sprache, ihrem im Wesentlichen unreflektierten und spontanen Charakter. Die Sprache wird mit dem Sprechakt konkretisiert. Durch diesen „führt“ das Wort „sich selbst ein“. Das Wesen des Wortes ist in diesem Sinn spontan, es besteht nicht aus einem reflektierten Verfahren, mit dem wir es in einem Bestand oder Vokabular finden, ausgehend von einem Vergleich der Sache, die wir benennen wollen, und den Bedeutungen, die wir im Voraus zur Verfügung haben, als ob es ein Werkzeugkasten wäre. In diesem Sinn argumentiert Gadamer, dass die Sprache unverfügbar ist. Die sprachliche Unbewusstheit des Sprechers ist charakteristisch für das Sprechen. Im eigentlichen Sinn bedeutet Sprechen ein „in der Sprache sein“ und sich von ihr beherrschen lassen.37 Mit anderen Worten: Der Sprechakt ist immer in einen bestimmten Sprachhorizont eingeschrieben, der ihn als solcher im Voraus bedingt. Alles Sprechen und Denken über die Sprache bezieht die Sprache selbst (und immer eine bestimmte, die eigene Sprache) ein.38 Daher ist die Sprache unverfügbar. Wenn das Wort uns in der Tat in den hauptsächlich kommunikativen und dialogischen Sprechakten erscheint und der Gedanke selbst sich durch das Wort vollzieht, haben wir keine Möglichkeit, es zu instrumentalisieren, d. h., es zu manipulieren: Die Vor-
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stellung, die Sprache vollkommen zu objektivieren, hebt sich selbst auf. Andererseits verstärkt der unreflektierte und spontane Charakter der Sprache die Schlüsse, die wir ausgehend von der Untersuchung der Dialektik vom Allgemeinen und dem Besonderen zogen. In der Tat führt die Unverfügbarkeit der Sprache, ihr spontaner Charakter wieder zu dem Schluss, dass sie sich selbst durch den einzelnen Sprechakt aktiviert und dadurch geschieht, sodass der authentische Sprechakt auf der Selbstverwirklichung der Sprache beruht, die sich durch die Sprecher äußert. Die Untersuchung der Sprache vom Standpunkt des Sprechaktes führte uns zum Begriff der sprachlichen Selbstverwirklichung als eines Sinngeschehens. Gadamers Kritik am Begriff des Zeichens war zu entnehmen, dass das authentische Wort aus einer Darstellung der Sache selbst besteht; dies wurde einleitend anhand der These der Transparenz der phonischen Form und ihrer Einheit mit der Bedeutung erläutert. Die Folgerungen der bisherigen Untersuchungen zeigen, dass die Sprache für die hermeneutische Auffassung eine metaphysische Dimension besitzt, die das Feld der bloßen linguistischen Überlegung überschreitet. Diese Dimension ergibt sich aus dem spekulativen Charakter der Sprache, aufgrund dessen diese sich als eine „Selbstdarstellung des Seins“ versteht.
III. Der spekulative Charakter der Sprache In unseren Ausführungen haben wir bereits die Möglichkeit erwähnt, dass die Dinge zur Sprache kommen. Darin liegt, so Gadamers These, die „Wahrheit“ des Wortes. Von unserem Standpunkt aus enthält diese These den Schlüssel für die geheimnisvolle Einheit von Wort und Sache, das heißt, nach unserer Neuformulierung von phonischem Element und Bedeutung. Die Grundlage dieser Einheit besteht in dem spekulativen Charakter der Sprache, durch den sich der selbstdarstellende Charakter des Seins mit Hilfe des Spielbegriffs enthüllt, mit anderen Worten, die Behauptung Gadamers, der zufolge „das Sein, das verstanden werden kann, Sprache ist“, bedeutet, dass die Sprache „Selbstdarstellung des Seins“ ist, wofür es der Teilnahme der Sprecher am supra-subjektiven Sprachspiel bedarf. Genauso wie im Kunstwerk etwas durch sein Geschehen dargestellt wird, wird im Geschehen der Sprache – sei es im Dialog, in der Poesie oder in der Interpretation der Tradition – eine Ganzheit von Sinn vollzogen und auf endliche Weise dargestellt. Dass das Wort wahr ist, hat seinen Grund einzig in dieser spekulativen Spaltung des „Seins“ in „Sprache“, die ihrerseits die Möglichkeit einer hermeneutischen Rationalität schafft, das heißt, endlich, historisch und offen für Andersheit ist. Aus Platzgründen werden wir die spekulativen Aspekte der Sprache erläutern,
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ohne die allgemeinen Konsequenzen der gadamerschen These für sein Verständnis der Hermeneutik zu vertiefen. Mit dem Gedanken, dass die Dinge zum Wort kommen, wurden wir anfangs durch die Behauptung Gadamers konfrontiert, dass unsere Welterfahrung im Wesentlichen sprachlicher Natur ist. Die Sprache vertritt demnach eine Weltansicht. In unserer Entwicklung innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft mit einer bestimmten Tradition und Geschichte erwerben wir eine Vorschematisierung der Welt über das Lernen der Sprache, anhand deren wir uns in diversen Kontexten auf das, was in ihr geschieht, beziehen können. In diesem Sinn ist die Sprache nicht nur Form (das heißt, nur Grammatik und Lexik), sondern auch Inhalt.39 Die Welt zeigt sich uns durch die Gesamtheit der Unterscheidungen der Sprachpraxis als ein artikuliertes und verständliches Ganzes. Wenn wir aber nur über die Sprache Zugang zur Welt haben, kann nicht behauptet werden, dass es für die menschliche Erfahrung eine unabhängig von unserer Sprachtradition objektivierbare Welt an sich gibt. Die so verstandene Welt ist kein Ganzes von zeigbaren Dingen, sondern ein Sinnhorizont, der sich von vitalen Beziehungen ausgehend bildet und in den sprachlichen Unterschieden vollzieht40. Deshalb kann es keine „Objektivität“ jenseits unserer Sinnerwartungen geben, die in der Weltansicht, die unsere Sprache darstellt, geformt wurden. Kein Standpunkt befindet sich außerhalb einer Sprachperspektive. Als Sinneshorizont kann die Welt sich nur schwer von der Sprache als Gesamtheit von Praxis, Artikulationen und Unterscheidungen differenzieren, da sie die Möglichkeitsbedingung ist zu verstehen, zu unterscheiden und auszusagen, was uns im Einzelfall begegnet.41 Welt und Sprache stimmen mit der antizipierenden Struktur überein, insofern sie ein gewisses „Ganzes“ voraussetzen, in dem bestimmt wird, was für uns die Dinge „sind“. Allerdings ist diese Identifizierung zwischen Welt und Sprache nicht so unmittelbar, auch wenn es so scheint. Können wir daraus, dass es viele Sprachen gibt, schließen, dass es ebenso viele Welten wie Sprachen gibt? Wenn dies der Fall wäre, bestünde die Gefahr, dass es unmöglich wäre, von einer Sprachwelt in die andere zu wechseln. Somit entstünden nicht nur Zweifel an der Möglichkeit, authentische Dialoge zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen zu führen, sondern auch an der Möglichkeit, kulturelle Produkte aus uns fremden Traditionen zu übersetzen und zu verstehen. Mehr noch, da jede sprachliche Perspektive wegen dem Verhältnis vom Allgemeinen und Besonderen in der Sprache auch eine individuelle Perspektive ist, könnte der Verdacht der Unverständlichkeit jeglicher Gesprächs- und Kommunikationsform nicht nur unter den Sprechern verschiedener Sprachen, sondern auch unter Sprechern derselben Sprachwelt entstehen. Gadamer bestreitet jedoch nicht, dass die Kommu-
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nikation und der Dialog unter Sprechern verschiedener sprachlicher Perspektiven sowie die Übersetzung und das Verständnis anderer Sprachwelten möglich sind. Folglich scheint die Aussage gerechtfertigt, dass die Sprache eher eine Weltansicht als eine Welt als solche ist. Durch jede Sprache äußert sich eine Ganzheit, ohne sich vollständig mit ihr zu identifizieren. Allerdings ist sie so beschaffen, dass sie nur durch eine bestimmte sprachliche Perspektive zugänglich ist, da sie durch sich selbst nicht zu vergegenständlichen und verfügbar ist wie ein Ding, das man vor Augen hat. Weil dies die Möglichkeitsbedingung einer progressiven Verschmelzung der zahlreichen Sprachperspektiven ausmacht, ist es notwendig, dass man diese Ganzheit als etwas Einziges meint, auch wenn ihre Einzigartigkeit nicht effektiv vollzogen ist, genausowenig wie man sicher sein kann, dass sie schließlich realisierbar ist. Sie ist ein alle Sprachhorizonte vereinigender möglicher Horizont und ist in diesem Sinn eines (als Möglichkeitsbedingung und ideales Ziel) und vieles (soweit sie sich durch verschiedene sprachliche Perspektiven ausdrückt). Wie wir sehen können, wiederholt das Verhältnis von Sprache und Welt – verstanden als dieser Horizont der Horizonte – die Dialektik von Einheit und Mannigfaltigkeit bzw. von Identität und Differenz. Die Welt als Möglichkeitsbedingung teilt sich in sprachliche Perspektiven, ist aber gleichzeitig Garant seiner möglichen Vereinigung. Wenn wir dieser Weltvorstellung vom Horizont der Horizonte den Namen „Sein“ geben, können wir die Begründung von Gadamers These vom spekulativen Charakter der Sprache verstehen: In der Sprache spaltet sich das Sein und stellt sich auf diese Weise selbst dar. Gadamer weist „dem Spekulativen“ folgende Eigenschaften zu: erstens die „Spiegelung“ bzw. die Vermittlung des Unendlichen durch das Endliche, zweitens die Fähigkeit der Selbstdifferenzierung (oder Selbstbewegung) und drittens die Auflösung der festen Begriffsbestimmungen.42 Über diese drei Eigenschaften des Spekulativen, dessen Charakterisierung unverkennbar mit dem Deutschen Idealismus verwandt ist und insbesondere die Verwandtschaft der hermeneutischen Sprachauffassung mit der hegelschen Auffassung der Dialektik verrät, verfügt auch die Sprache. Die Vermittlung des Unendlichen durch das Endliche drückt sich in der These aus, dass die Sprache eine Mitte ist,43 von der ausgehend sich die menschliche Welterfahrung gestaltet. In anderen Worten: Die Vermittlung der Sprache bedingt den radikal endlichen Charakter der menschlichen Vernunft, der sich in der Unmöglichkeit ausdrückt, einen vervollständigten Standpunkt des Seins jenseits jeglicher sprachlichen Bedingtheit zu erreichen. Gadamer stellt der Endlichkeit der hermeneutischen Erfahrung den Anspruch der abendländischen Metaphysik gegenüber, die mensch-
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liche Vernunft auf einen absoluten Standpunkt zu erheben.44 Die Welt – sofern sprachlich vermittelt – verändert sich gleichzeitig mit der Sprache, denn die Sprache charakterisiert sich dadurch, durch die sprachliche Handlung, in der sich die Ordnung und Artikulation unserer Erfahrung niederschlägt, im ständigen Vervielfältigungs- und Erneuerungsprozess begriffen zu sein. Wir waren bereits auf die Dialektik von Einheit und Vielheit zu sprechen gekommen, die zwischen der Welt als Horizont der Horizonte und der Sprachenvielfalt besteht. Genauso ergibt sich in jeder Sprache eine doppelte Dialektik. Erstens existiert eine Spannung zwischen dem einzigen Wort und seinem Bruch im artikulierten Diskurs.45 Zweitens treffen wir auf die Dialektik vom Endlichen und Unendlichen, die ihren Ausdruck in der Idee findet, dass das Wort von einer Mitte ausgehend entsteht und sich auf ein Ganzes bezieht.46 Genau diese Charakteristik des Wortes bestätigt die Sprachessenz der Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem. Um diese Mittlerrolle zu verstehen, müssen wir erneut den Begriff des Wortes als Sprechakt aufgreifen, der sich in die Sprache einfügt. Tatsächlich gibt es etwas, von dem das Wort als Wort entsteht und ihm seine sprachliche Kohärenz gibt, d. h. seine Zugehörigkeit. Jedes Wort gehört einer Sprache an, konkret der Gesamtheit der Sprache. Diese Zugehörigkeit wird durch seinen Ursprung, seine Entstehung garantiert, die von einer Mitte ausgeht. Auf welche Erfahrung verweist uns diese Entstehung aus der Mitte heraus? Der Sprechakt ist weder von Anfang an verfügbar noch auf irgendeine Weise vorgeformt, so dass wir im richtigen Moment auf ihn zurückgreifen können. Der Sprechakt mit all seiner Bedeutungslast vollzieht sich in dem Moment, in dem wir ihn äußern und in dem er uns an einen möglichen oder wirklichen Gesprächspartner bindet. Andererseits wird im Sprechakt, der das lebendige Wort des Dialogs bzw. Gespräches ist, die Sprache als Ganzes ins Spiel gebracht, nicht so sehr als Bestand oder Vorrat von vornherein verfügbarer Bedeutungen, sondern als Handlung oder energeia, von der bereits die Rede war. So steht jeder Sprechakt in Beziehung zu den zwei Totalitäten, die unauflöslich verbunden sind: In dem Maße, wie sie einem Sprachsystem angehören (und Gadamer denkt vor allem an ein phonisches Element), gehört jedes Wort aufgrund seiner Form einem Signifikantenganzen an (denn es besitzt gewisse unterscheidende, phonische Züge, die es dieser und keiner anderen Sprache zugehörig machen). Soweit es eine Bedeutung hat, die durch es durchscheint, gehört es auch einem Ganzen von semantischen Verbindungen an, die über die Bedeutung des einzelnen Wortes hinauszielen (denn wir können es von seinen unterschiedlichen Zügen aus als ein mit
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Bedeutung ausgestattetes Wort verstehen). Soweit die Wortbedeutung über sich selbst hinausgeht, können wir davon sprechen, dass das Wort sich in eine „Sinntotalität“ einfügt, die nie vollständig gegeben ist und die immer eine „unendliche Richtung“ mit einbezieht.47 So ist das Wort gleichzeitig ein Ton- und ein Sinngeschehen. Das Tonnetz, in dem sich der Sprechakt einordnet, ermöglicht gleichzeitig, dass das Sinnesnetz in Gang gesetzt wird. Soweit jeder Sprechakt ein Sagen ist, das ein schwebendes und bewegliches Gesamtnetz von Bedeutungen und Konnotationen mit einbezieht, zielt das Gesagte im Sinne des im konkreten Sprechakt Bedeuteten auf das Nicht-Gesagte, auf eine stillschweigende Dimension ab.48 Auf diese Weise äußert sich in der Sprache die Dialektik vom Endlichen und Unendlichen. Das menschliche Sprechen, das immer in eine Sprache eingeschrieben ist, verweist immer auf einen Sinnhorizont, der sich in jedem Sprechakt äußert und erfüllt. Dieser Horizont ist aber eine gemeinte Ganzheit und, wie wir schon erläutert haben, nie vollständig realisierbar. Es handelt sich, wie bereits dargelegt, um eine „unendliche Richtung“, die nie erschöpft ist.49 So versetzt Gadamer die hegelsche Dialektik von der Vermittlung des Unendlichen durch das Endliche auf die Sprachebene. Im Gegensatz zu Hegel besitzt Gadamers Vermittlung keinen Abschluss, so dass sie nie an ihr Ende gelangt. Dass eine Sinntotalität durch die Vermittlung eines Sprechaktes zustande kommt, zeigt noch eine andere spekulative Charakteristik der Sprache: Ein Sprachgeschehen ist auch ein Geschehen der Sache selbst. Im Fall unseres Weltbezugs drückt sich das Geschehen der Sache selbst als das Zustandekommen von Sinn aus.50 Dieser Aspekt der Sprache zeigt sich vorzugsweise in der hermeneutischen Erfahrung, mit der wir durch die Textinterpretation von einer Tradition Besitz ergreifen und sie erneuern. Es geht nicht darum, den Inhalt einer Tradition durch eine Interpretationsarbeit zu beherrschen und zu objektivieren. Im Gegenteil: In dem Maße, wie wir durch die sprachliche Wiederaneignung das erneuern, was in ihr gesagt ist, und ihren Sinn durch konkrete Sprechakte wieder beleben, geschieht die Tradition selbst als Zustandekommen von Sinn durch unser Sprechen. Diese Selbstverwirklichung der Tradition im Sprachgeschehen steht über jeder subjektiven Absicht.51 Es handelt sich um ein Wirken der Sache selbst, das sich hinter dem Rücken des Sprechers vollzieht.52 Durch dieses Sprachgeschehen verändert sich die Tradition und modifiziert sich selbst dadurch, dass jeder Sprechakt durch sich selbst eine Erneuerung und Zunahme an Sinn bedeutet.53 In diesem Fall wiederholt sich dieselbe Ambivalenz, die wir vorher in der Beziehung vom Allgemeinen und dem Besonderen in der Sprachverwirklichung gesehen haben. Wenn das Traditionsgeschehen ein Sprachgeschehen als solches ist, dann
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bleibt wenig oder nichts für das Wirken des Interpreten als Individuum. Das Sinngeschehen der Tradition bleibt immer hinter seinem Rücken als etwas Unverfügbares, soweit es im Sprachrahmen stattfindet. So ist es nicht der Interpret, der sich spekulativ verhält, sondern die Sprache. Andererseits ist es für die Bewegung selbst der Sache, soweit sie erneut durch den Sprechakt geschieht, unerlässlich, dass sich die Sprachbedeutungen und -bestimmungen jedes Mal wieder auflösen und erneuern. So erscheint in der Sprache der dritte Charakterzug des Spekulativen: In der Tat ist jeder Sprechakt, wie wir mehrmals betont haben, in größerem oder geringerem Maße ein semantischer Erneuerungsprozess: Dinge werden nicht eindeutigen, im Voraus verfügbaren Bedeutungen unterworfen, vielmehr finden wir im Sprechen immer einen bestimmten Grad an semantischer Verschiebung und Verflüssigung der Bedeutungen. Es geht nicht darum, ein Wesen abzubilden, sondern darum, auf immer andere Weise ein gewisses Ganzes zu verwirklichen. Der in den Sprechakten verkörperte Sinn ist immer beweglich und als solcher unwiederholbar, da er sich selbst differenziert und dennoch identisch bleibt. Dieser sich verflüssigende Sprachcharakter ist dem alltäglichen Gespräch, der poetischen Sprache und der Interpretation von Traditionstexten eigen. In allen drei Fällen handelt es sich immer um eine Sinneserneuerung, ausgehend von einer Auflösung und Dynamisierung der Sprachbestimmungen.54 Die Idee von der Welt als Horizont oder „Hintergrund“ jedes bestimmten Sprachhorizonts (der unterschiedlichen Sprachansichten der Welt) ist von uns bereits eingeführt worden. Ebenso hatten wir seinen nichtsubstantiellen und konkret nicht-vervollständigbaren Charakter hervorgehoben. Jede Sprache bildet eine Spiegelung oder Spaltung dieser in einem Fluchtpunkt bestehenden, gemeinten Ganzheit, auf welche jeder Sprechakt ausgerichtet ist, da er einer bestimmten Sprache angehört. Nehmen wir diese Idee, dass dieser Horizont der Horizonte das darstellt, was Gadamer „Sein“ nennt, erneut auf, dann wird der Sinn klarer, in welchem das Sein sich spekulativ in Sprache spaltet: Dies bedeutet nur, dass das, was in jedem Sprechakt geäußert wird, sich durch die Gesamtheit der Artikulationen einer bestimmten Sprache in die Perspektive von diesem unendlichen Fluchtpunkt begibt. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“55, verweist ja gerade auf die Möglichkeit, dass der Sinn jedes Seienden die Zugehörigkeit dieses Seienden zu einer sprachlich vermittelten Welt als Möglichkeitsbedingung hat.56 Eine andere Form, die Sprachlichkeit des Seins aufzuzeigen, drückt sich in der Aussage aus, dass das Sein sich in der Sprache „darstellt“.57 Da die Sprache eine Unterscheidung und Spaltung des Seins selbst (seine spekulative „Spiegelung“) ist, ist das Sein selbst nichts anderes als eine Selbstdarstellung, die in einem sprachlichen Geschehen stattfindet.58 Da jedes
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Verständnis wesentlich von der Sprache abhängt, erfüllt sich im universellen, hermeneutischen Verhältnis die Selbstdarstellung des Seins. Das Paradigma, das Gadamers Begriff der Darstellung zugrunde liegt, kommt von seinem Verständnis des Kunstwerks und seinem korrelativen Begriff des Spiels.59 Auch in der Sprache als Spiel, sei es in der dialogischen Bewegung des Gesprächs, sei es in der hermeneutischen Textbehandlung oder im Dichten selbst60, geschieht tatsächlich eine Sinntotalität. Wie auch das Kunstwerk geht das Sprachspiel über die subjektive Intentionalität der Teilnehmer hinaus, in dem Maß wie Sinntotalität alles einzelne Bedeuten überschreitet. Die Sprache erfasst uns in ihrem Spiel und „spielt“ mit uns.61 In diesem Sinn ist das Sprachspiel supra-subjektiv, da es hinter dem Rücken unserer Intentionen wirkt. Da die Sprache also das Sein selbst ist, ist das, was sich durch die Sprachspiele gestaltet und verwirklicht, nichts anderes als das Sein selbst, insofern es durch eine zeitweise Sinntotalität sich selbst „darstellt“. Mit dem Begriff der „Darstellung“ und „Selbstdarstellung“ beabsichtigt Gadamer, sowohl die Begrenzungen der modernen Spaltung von Subjekt und Objekt wie auch die Thesen einer auf Substantialität begründeten Metaphysik zu überwinden. Die Idee der Selbstdarstellung scheint in der Richtung der heideggerschen Bemühung um ein neues Verständnis von Sein zu liegen. Jedoch ist die Frage berechtigt, ob der Preis hierfür nicht zu hoch war. Denn auf diese Weise riskiert man, ein Absolutes zu vermeiden (das transzendentale Subjekt, den absoluten Geist) und in ein anderes zu geraten (die Sprache, die sich als Sein verwirklicht und sich selbst widerspiegelt). Genauso kann Gadamers Vertrauen in die Sprache in eine Auffassung des Traditionsgeschehens als eine Reflexion der Sprache selbst verfallen, für die die Individuen nur stellvertretend und vorübergehend relevant sind. Die Quelle dieser Verabsolutierung liegt unserer Meinung nach in der komplexen Beziehung, die Gadamer zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen herstellt. Diese Dialektik zwischen Allgemeinem und Besonderem lässt sich als sprachlicher Verstehens- und Erneuerungsprozess, ausgehend von der Komplementarität von Sprache und Individuum, verstehen. Wenn man hingegen das Verhältnis vom Allgemeinen und dem Besonderen ins Innere der Sprache überträgt, und zwar als ein Verhältnis zwischen einer Sprache und einem Sprechen, können wir in eine Metaphysik verfallen, die die Sprache zu einer neuen Version der Substanz im hegelschen Sinne werden lässt. Beide Tendenzen finden sich bei Gadamer, obwohl er mehr zur letzteren neigt als zur ersteren, wie wir nachzuweisen versucht haben.
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Anmerkungen 1 WuM I, 422. Abkürzungen: WuM I: H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke 1. Hermeneutik I: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990; WuM II: H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke 2. Hermeneutik II: Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, Tübingen 1990. 2 Ebd., 409. 3 Ebd., 411. 4 Ebd. 5 Ebd., 412. 6 Ebd., 410. 7 Ebd., 412. 8 Ebd., 415. 9 Ebd., 420. 10 Ebd., 417. 11 Ebd. 12 Ebd., 420. 13 Ebd., 415. 14 Ebd., 418–420. 15 Ebd., 416. 16 Ebd. 17 Ebd., 417. 18 Ebd., 418. 19 Ebd., 416. 20 Ebd., 420. 21 Ebd., 421. 22 Vgl. M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957. WuM I, 456–460. 23 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. und eingel. von M. Frank, Frankfurt 62000, 465. 24 WuM I, 407–408. 25 Vgl. G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1890, Band 7, 190–193. 26 WuM I, 430–431. 27 Ebd., 431. Genau in diesem Punkt verweist Gadamer auf das Werk von Austin, How to Do Things with Words, Oxford 1962. Auch WuM II, 189–190, 192. 28 Ebd., 198. 29 Ebd., 193–196. 30 Ebd., 196. 31 Ebd., 196f. 32 Ebd., 197–198. 33 Ders., Semantik und Hermeneutik, in: WuM II, 176–178; Sprache und Verstehen, in: ebd., 189; Wieweit schreibt die Sprache das Denken vor?, in: ebd., 205f. 34 Ebd., 473. Vgl.: Mensch und Sprache, in: ebd., 153 f.; Semantik und Hermeneutik, in: ebd., 173. 35 Vgl. M. Frank, Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt 1993, 18f.
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H.-G. Gadamer, Wieweit schreibt die Sprache das Denken vor?, in: WuM II,
201. Ders., Begriffsgeschichte als Philosophie, in: ebd., 84f. Ders., Mensch und Sprache, in: ebd., 148–149. 39 WuM I, 445. 40 Ebd., 453. 41 Ebd., 454. 42 Ebd., 470. 43 Ebd., 461. 44 Ebd. 45 Ebd., 462. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd., 473. 50 Ebd. 51 Ebd., 465. 52 Ebd., 467. 53 Ebd., 477. 54 Ebd., 473–477. 55 Ebd., 478. 56 Ebd., 479. 57 Ebd., 480. 58 Ebd., 488, 490. 59 Ders., Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, in: WuM II, 5–7. 60 Aus Platzgründen unterlassen wir die Betrachtung des Dichtens, das für Gadamer die eminente Form der Sprache ist, da das in der Poesie Dargestellte die Sprache als solche ist. 61 WuM I, 493. 37 38
Robert Schnepf Der hermeneutische Vorrang der Frage Die Logik der Fragen und das Problem der Ontologie „Mama, wo sitzt eigentlich das Wetter?“ fragt Laura ihre Mutter. – „Das Wetter? Das Wetter? Wo das sitzt?“ Die Mutter wußte eigentlich selbst nicht, wo eigentlich das Wetter saß. … „Das Wetter sitzt überhaupt nicht“, sagte der Vater, „das Wetter liegt. Man spricht von einer Wetterlage. Merk dir das, mein Kind.“ … „Papa, wo liegt denn das Wetter eigentlich?“ … „Das Wetter? Wo das Wetter liegt? Frag nicht so dumm.“ … „Aber Papa, ich möchte auch eine Antwort haben, ich möchte wissen, wo das Wetter liegt.“ – „Da hat das Kind wiederum gar nicht so unrecht, wenn man fragen kann, kann man wohl eine Antwort verlangen.“1
Im Aufbau von „Wahrheit und Methode“ kommt dem knappen Abschnitt „Der hermeneutische Vorrang der Frage“ (II, 3c) eine Schlüsselstellung zu: Er leitet über von der Analyse der „Wahrheit in den Geisteswissenschaften“ zur „ontologische(n) Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache“. Der anvisierte Zusammenhang zwischen diesen beiden Teilen des Werks liegt dabei scheinbar auf der Hand: Weil „Welt nur Welt ist, sofern sie zur Sprache kommt“ (419)2, und dieses Zur-Sprache-Kommen als Verstehen bzw. Auslegen durch die „Dialektik von Frage und Antwort“ bestimmt ist (447), bietet die Analyse der Frage und des Frage-Antwort-Verhältnisses den methodischen Schlüssel zur Analyse unserer Welt- und Selbsterfahrung. Wenn man aber genau das unter „Ontologie“ verstehen will – die Analyse der Struktur unserer Welt- und Selbsterfahrung, insofern sie universell, d. h. allgemein gültig ist3 –, dann wird man gar nicht genau genug die wenigen Seiten durchmustern können, die Gadamer der Begründung des hermeneutischen Vorrangs der Frage widmet. Unbestimmtheiten in der Analyse von Fragesätzen und des Verhältnisses von Frage und Antwort müssen dann nämlich zu Defiziten der Ontologie führen. Nun hat Gadamer in dem Teil, der mit „ontologische Wendung der Hermeneutik“ überschrieben ist, sicherlich keine Ontologie entfaltet und vermutlich auch gar nicht entfalten wollen. Die Überlegungen dieses Teils kulminieren zwar in einer Theorie der Sprache und der Behauptung der Universalität der hermeneutischen Erfahrung,4 doch ergibt sich aus diesen Überlegungen keine weitere Spezifizierung der Struktur hermeneutischer Erfahrung (etwa aus einer genauen Untersuchung der Dialektik von Frage und Antwort). Gezeigt wird gleichsam nur die universelle Anwendbarkeit der Resultate des 2. Teils. Mit anderen Worten: Günstigstenfalls ist
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mit den Überlegungen zur „ontologischen Wendung“ gezeigt, dass das methodische Prinzip vom hermeneutischen Vorrang der Frage Ausgangspunkt zur Erhellung der allgemeinsten Struktur unserer Welterfahrung (und wohl auch unserer Selbsterfahrung) sein kann; nicht gezeigt ist damit, wie im Ausgang von den Überlegungen zum hermeneutischen Vorrang der Frage diese Struktur im Einzelnen erhellt und auf den Begriff gebracht werden könnte. In diesem Sinn ist die mit dem dritten Teil proklamierte „Wendung“ zur Ontologie selbst noch keine Ontologie. Denn zu den Minimalbedingungen dafür, dass eine Theorie „Ontologie“ genannt werden kann, gehört nicht nur, dass sie einen allgemeingültigen oder universellen Anspruch erhebt oder sogar erheben kann. Unabdingbar ist vielmehr auch, dass sie in dem einen oder anderen Sinn ihren Gegenstand – das „Seiende im Allgemeinen“ etwa oder den „Gegenstand überhaupt“ – in einer Fülle von erläuternden oder beschreibenden Begriffen erfasst und günstigstenfalls sogar zu einer Systematik kategorialer Begriffe findet.5 Wo dies fehlt und nur der allgemeine Gesichtspunkt der Überlegungen angedeutet ist, mag man nur noch in einem abgeschwächten Sinn von einer „Ontologie“ sprechen.6 Wenn das stimmt, dann hängt die Frage, ob sich aus dem allgemeinen Prinzip der ontologischen Wendung tatsächlich eine Ontologie entwickeln lässt, von der genauen Analyse von Fragen und Frage-Antwort-Verhältnissen ab. Formen des Fragens oder auch unterschiedliche Fragepronomina müssen zumindest die ratio cognoscendi (wenn nicht sogar die ratio essendi) kategorialer Begriffe indizieren. Ich möchte im ersten Abschnitt Gadamers Untersuchung dieser Probleme im Abschnitt II, 3c von „Wahrheit und Methode“ näher untersuchen und einige Eigentümlichkeiten registrieren, welche die Ausbildung einer veritablen Ontologie verhindern (1). Dann sollen die Quellen von Gadamers Überlegungen zu Fragesätzen und Fragen kurz durchmustert werden, um herauszufinden, an welcher Stelle die entscheidenden Weichenstellungen erfolgen. Dabei ist einerseits ein Strang von Heideggers Denken noch vor „Sein und Zeit“ einschlägig, der in II, 3c auffälligerweise nicht erwähnt wird, und andererseits die Logik von Frage und Antwort des heute eher unbekannten britischen Neuhegelianers Collingwood, den Gadamer dort ausführlich behandelt. Es wird sich zeigen, dass die Verengung in der Analyse von Fragen der Rezeption eines bestimmten Zugs von Überlegungen Heideggers entspricht, während die Überlegungen Collingwoods ganz im Gegenteil den Weg in eine reichhaltigere Metaphysik öffnen können (2). Die Überlegungen Collingwoods lassen sich nämlich mit der Hilfe der modernen erotetischen Logik – über Collingwood hinaus und ab einem bestimmten Punkt gegen ihn gewendet – nicht nur präzisieren, sondern sogar zu einer systematischen Untersuchung von Fragepronomina weiterentwickeln.7 Über diesen
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Umweg lässt sich dann auch der Zusammenhang zwischen Fragepronomina und Kategorien rekonstruieren (3). Eine so entwickelte Ontologie wäre in die Theorie von „Wahrheit und Methode“ integrierbar, zumindest solange man nicht versucht, ihre subjektivitätstheoretischen Grundlagen explizit zu machen. Der aufzuzeigende Zusammenhang zwischen Fragen und Kategorien verweist nämlich auf die logische Spontaneität erkennender Subjekte und setzt deshalb eine Subjektivitätstheorie voraus, die mit Gadamers Theorie letztlich nicht verträglich ist (4).8
I. Gadamers Analyse von Fragen und Frage-Antwort-Verhältnissen Gadamer entwickelt seine Analyse von Fragen und des Verhältnisses von Frage und Antwort unter einer leitenden Absicht, welche – wie sollte es anders sein – die Richtung, aber auch die Grenzen seiner Überlegungen im Voraus bestimmt: Die Untersuchung von Fragen soll nämlich dazu beitragen, die „logische Struktur der Offenheit, die das hermeneutische Bewußtsein kennzeichnet“, herauszuarbeiten. Das ist deshalb möglich, weil laut Gadamer „aller Erfahrung die Struktur der Frage vorausgesetzt ist“: „Die Erkenntnis, daß die Sache anders ist und nicht so, wie man zuerst glaubte, setzt offenbar den Durchgang durch die Frage voraus, ob es so oder so ist […] Die Offenheit, die im Wesen der Erfahrung liegt, ist logisch gesehen eben diese Offenheit des So oder So. Sie hat die Struktur der Frage“ (368). Um diesen Charakterzug der Offenheit herauszuarbeiten, entwickelt Gadamer in einem ersten Abschnitt „Das Vorbild der platonischen Dialektik“ zunächst vier Charakteristika von Fragen9: a) – Fragen haben einen Sinn, und zwar so, dass ihr Sinn ein Richtungssinn ist: Aus dem Sinn der Frage ergibt sich „die Richtung, in der die Antwort allein erfolgen kann, wenn sie sinnvolle, sinngemäße Antwort sein will“ (368). b) – Eine Frage wird entsprechend erst zu einer Frage, „wenn die fließende Unbestimmtheit der Richtung, in die sie weist, ins Bestimmte eines ‘So oder So’ gestellt wird“ (369). Gadamer scheint hier primär an Alternativfragen zu denken. c) – Wegen der Differenz von unbestimmter und bestimmter Offenheit ist es möglich, dass eine Frage „richtig oder falsch sein“ kann, „je nachdem, ob sie in den Bereich des wahrhaft Offenen hineinreicht oder nicht“ (369). Gemeint ist damit wohl, dass eine Frage Präsuppositionen impliziert, die durch dasjenige, angesichts dessen sie gestellt wird (oder sich stellt), erfüllt sein können oder nicht. Gadamer spricht entsprechend von den „Voraussetzungen“ einer Frage (369). d) – Die Frage umfasst „immer beides, sowohl das im Ja wie das im Nein Geurteilte“, so dass erst die „Entscheidung“ der Frage „der Weg zum Wissen ist“ (370). In diesem Sinne eröffnen Fragen den Bereich möglicher Pro-und-Contra-Argumentationen, den Bereich der „Dialektik“, belassen die Sache selbst aber in der „Schwebe“. Gadamer orientiert sich hier an Ja/Nein-Fragen. (Ich unterstelle ihm
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deshalb zusätzlich die These, dass er Alternativfragen auf Ja/Nein-Fragen zurückführen möchte.10)
Diese erste Charakterisierung des Fragens wird ergänzt oder erweitert durch einen eigenen Unterabschnitt, der den Titel „Die Logik von Frage und Antwort“ trägt (375 ff.). Dort findet sich eine knappe Auseinandersetzung mit derjenigen „Logik von Frage und Antwort“, die Collingwood in seiner „Autobiographie“ skizziert hat. Wenn ich richtig sehe, werden in diesem Abschnitt die vier folgenden zusätzlichen Charakteristika von Fragen bzw. von Frage-Antwort-Sequenzen behauptet: e) – Jede Aussage ist (wie entsprechend auch jeder Text) nur als Antwort auf eine Frage zu verstehen (375). Der Sinn einer Aussage ist also davon abhängig, als Antwort auf welche Frage er verstanden wird. Diese These kann Gadamer problemlos aus Collingwood gewinnen.11 Durch sie wird das Problem des Verstehens mit den Untersuchungen zur Logik von Frage-Antwort-Verhältnissen verbunden. f) – Fragen werden nicht gestellt, sondern stellen sich, nämlich dadurch, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Der Akt des Fragens wird somit von Gadamer nicht als Handlung eines spontanen Subjekts aufgefasst. Es ist der Kontext oder der Zusammenhang, innerhalb dessen sich Fragen stellen. Auch diese These findet sich bei Collingwood.12 g) – Dabei ist es für Gadamer (im Unterschied zu Collingwood) der Text selbst bzw. die Überlieferung, welche die Frage stellt: „Die Rekonstruktion der Frage, auf die der Text Antwort sein soll, steht selbst innerhalb eines Fragens, durch das wir die Antwort auf die uns von der Überlieferung gestellten Fragen suchen“ (379f.). h) – Weil der Text bzw. die Überlieferung „als Antwort auf ein wirkliches Fragen verstanden werden“ muss (380) und man jede Frage als wirkliche Frage nur verstehen kann, wenn man sie zur eigenen Frage macht (380 f.), ergibt sich, dass es der Vollzugssinn des Fragens ist – der Akt des Fragens –, von dem her das Fragen und das Verhältnis von Frage und Antwort verständlich gemacht werden muss: „Eine Frage verstehen heißt, sie fragen“ (381).
Im Folgenden werden die Thesen Gadamers, die im engeren Sinn den Zusammenhang zwischen dem Problem des Verstehens (bzw. der Hermeneutik) und der Logik der Fragen herstellen sollen – insbesondere der Zusammenhang zwischen den Voraussetzungen von Fragen und der Vorurteilsstruktur des Verstehens –, ausgeblendet. Es sollen vielmehr die Behauptungen zur „Logik“ der Fragen im engeren Sinn in den Blick genommen werden. Dabei ist zunächst der grundsätzliche Unterschied zwischen Gadamers Ansatz zur Analyse von Fragen und korrespondierenden Überlegungen aus dem Bereich der analytischen Philosophie zu würdigen. Die Analyse von Fragen kann sich für Gadamer nicht – wie in der eher analytischen Philosophie üblich – am Aussagesatz orientieren und sie darf nicht von den wahren oder möglichen Antworten auf eine Frage aus erfolgen.13 Zumindest für Letzteres lässt sich leicht argumentieren: Der Sinn
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einer Frage muss verständlich sein, bevor die möglichen oder gar die wahren Antworten in den Blick kommen.14 Einzig im Blick auf diese Frageintention des Fragenden kann überhaupt entschieden werden, ob ein Satz als mögliche Antwort in Frage kommt oder nicht, und nur im Blick auf die Intention des Fragenden kann beurteilt werden, ob bestimmte Methoden geeignet sind, zu wahrscheinlichen oder gar wahren Antworten auf die Frage zu führen. Denn ob ein Satz als Antwort in Frage kommt, entscheidet sich ausschließlich an der vorgängigen Frageintention, die es dem Fragenden immer ermöglicht, auf einen Antwortvorschlag mit dem Ausdruck „So habe ich das nicht gemeint“ zu reagieren.15 Entgegen den Ansätzen der analytischen Philosophie kann der Sinn einer Frage deshalb weder in dem Wissen um die Methoden der Beantwortung der Frage liegen, noch kann der Umstand, dass eine Frage keine (wahre) Antwort hat, als Kriterium für ihre Sinnlosigkeit fungieren – beides festzustellen setzt voraus, den Sinn der Frage bereits verstanden zu haben. Problematisch erscheint hingegen der Umstand, dass Gadamer nicht nur jeden Versuch aufgibt, Fragen durch eine Analyse von Fragesätzen aufzuhellen, sondern diese Möglichkeit mehr oder weniger auch ausschließt. Daraus ergeben sich nämlich mindestens zwei Einschränkungen seiner Überlegungen: Die erste Einschränkung besteht darin, dass sich Gadamer auf solche Fragen konzentriert, die er auf die Formel „So oder So“ bringt, also auf Alternativfragen, die er als Folge von Ja/Nein-Fragen interpretiert. Diese Zuspitzung ist für die Theorie wesentlich, denn nur aus der Fassung aller Fragen als Ja/Nein-Frage ergibt sich der Charakter der Antwort als „Entscheidung“ und korrespondierend der Charakter der Frage als „Schweben“ der Entscheidung.16 Diese Konzentration ist zudem begründungsbedürftig, bleiben doch so Fragen von anderer grammatischer oder gar logischer Form ausgeblendet. Erinnert man sich nun daran, dass beispielsweise die Liste der aristotelischen Kategorien durch Fragepronomina geprägt ist (Was? Wie beschaffen? Wie groß? Wo? …),17 dann wird deutlich, dass der Umstand, dass Gadamer eine Ontologie nicht entwickelt, an dieser Einschränkung liegen mag. Die zweite Einschränkung ergibt sich aus dieser Ausblendung unterschiedlicher grammatischer und logischer Formen von Fragesätzen: Gadamer spricht recht allgemein davon, dass der Sinn einer Frage einen Richtungssinn einschließe, ohne unterschiedliche Arten und Weisen zu unterscheiden, in denen dieser „Richtungssinn“ in Fragen enthalten sein kann. So ist es beispielsweise eines, ob der Bereich möglicher Antworten bereits durch die grammatische oder gar logische Form eingeschränkt wird (etwa auf „Ja“ und „Nein“ durch die Form der Ja/Nein-Frage), durch die sinntragenden Fragepronomina (so können Wo-Fragen angemessen nur durch Ortsangaben beantwortet werden),18 oder aber auch durch andere Kom-
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ponenten des Fragesatzes etwa von der Art derjenigen, welche – um ein viel zitiertes Beispiel Collingwoods aufzugreifen – in der Frage „Hat John aufgehört, seine Frau zu schlagen?“ enthalten sind. Denn diese Frage ist „schief“ oder „nicht richtig“, wenn John seine Frau nie geschlagen hat oder wenn er gar nicht verheiratet ist.19 Im Unterschied zu den beiden anderen Fällen sind diese Voraussetzungen jedoch nicht durch die Form oder das Fragepronomen impliziert, sondern durch den Gegenstand der Frage. Gadamers Überlegungen gehen im Anschluss an Collingwood von Fällen dieser Art aus. Mir scheint, dass die Konzentration auf den Akt des Fragens dazu geführt hat, die Untersuchung der grammatischen und logischen Form von Fragesätzen zu vernachlässigen. Diese Verengung führt dazu, dass die unterschiedlichen Weisen, in denen eine Frage einen „Richtungssinn“ vorgibt, nicht in den Blick geraten. Die Behauptung, dass Fragen unabhängig von und vor ihren Antworten verstanden werden können, ist unabhängig von der These, ihre Analyse müsse oder gar dürfe sich nicht an der Logik oder Grammatik von Fragesätzen orientieren. Für die beiden einschränkenden Richtungsentscheidungen der gadamerschen Analyse müssten deshalb besondere Gründe sprechen. Um ihnen auf die Spur zu kommen und sie zu bewerten, sollen mögliche Vorlagen und Anreger der Analysen Gadamers untersucht werden – nämlich Heidegger und Collingwood.
II. Fragen und Kategorien beim frühen Heidegger und bei Collingwood Vor dem Hintergrund der Vorlesungen, die Heidegger in den Jahren 1919 ff. gehalten hat, wird wahrscheinlich, dass die beiden Einschränkungen zumindest in ihrer Genese nicht voneinander unabhängig sind.20 Es lässt sich dort nämlich ein Argumentationsfaden von der Analyse von Ja/Nein-Fragen zur Konzentration auf den Vollzugssinn des Aktes des Fragens finden. Man kann sogar noch weiter zurückgehen bis zum Referat Heideggers im Oberseminar bei Heinrich Rickert über „Frage und Urteil“ aus dem Jahr 1915.21 Heidegger geht dort von einer These aus, die sich auch bei Rickert findet, dass die Struktur des Urteils ersichtlich wird, „wenn man es als Antwort auf eine Frage auffasst“ (80).22 Er untersucht in der Folge das Verhältnis zwischen Urteilsgehalt und Urteilsakt einerseits und Fragegehalt und Frageakt andererseits. Während beim Urteil der spezifische Akt – das Setzen des Gehalts – vom Gehalt her zu bestimmen sei, werde beim Fragen der Gehalt nicht als geltend gesetzt, sondern eben gefragt, ob der Gehalt „gilt, oder ob er nicht gilt“ (85).23 Mehr noch: Der Gehalt einer Frage lasse sich als solcher abgelöst von der Frage gar nicht fas-
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sen, komme er doch dann immer schon in Gestalt eines Urteils daher. Die Frage nach dem Fragegehalt mache deutlich, „daß der Fragegehalt als vom Akt abgelöster ein problematisches Gebilde ist, und es legt sich die Vermutung nahe, daß der Frageakt gar nicht vom Gehalt her zu deuten ist, sondern daß wir bei der Frage gerade den umgekehrten Weg einschlagen müssen und vom Frageakt erst den Fragegehalt zu bestimmen haben“ (86). Heidegger analysiert in der Folge, wie solches Fragen als eine interessengeleitete „schöpferische“ Tätigkeit des Subjekts zu deuten ist, die zu „richtigen“ oder „unrichtigen“ Fragen führen könne. Er streift damit die Lehre von den Präsuppositionen von Fragen.24 Sieht man von vielen Details ab, die Heidegger später sicher nicht mehr akzeptieren würde – z. B. von seiner These, Fragen sei eine schöpferische Tätigkeit eines Subjekts –, dann finden sich in dieser Analyse Züge, die auch noch in der Vorlesung „Die Idee der Philosophie und das Problem der Weltanschauung“ von 1919 offensichtlich sind. Auch dort findet sich die eigentümliche Konzentration auf Ja/Nein-Fragen verknüpft mit der These, Fragen seien ausgehend vom Vollzugssinn zu verstehen. Allerdings verbindet Heidegger in dieser Vorlesung das Problem der Frage mit dem Problem des Anfangs der Philosophie als einer „Urwissenschaft“, also einer voraussetzungslosen Philosophie: Eine solche Philosophie habe anzuknüpfen an die Frage „Gibt es etwas?“, wobei der Sinn dieser Frage aus dem „Frageerlebnis“ gewonnen werden soll. Heidegger geht hier also von einer ganz bestimmten Ja/Nein-Frage aus und appliziert seine bereits im Referat von 1915 gewonnene These: „Was Fragen ist, lässt sich ganz nur erleben“ (88). Dazu gehört, nach dem der Frage zugrunde liegenden „Interesse“ (in der Terminologie von 1915) bzw. der zugrunde liegenden „Motivation“ (in der Terminologie von 1919) der Frage zu fragen, ein Ansatz, der im weiteren Gang der Vorlesung direkt zur Analyse des „Umwelterlebnisses“ führt.25 Der Vollzugssinn des Fragens lässt sich für Heidegger nur durch eine Analyse der faktischen Existenz des Fragenden und seiner Interessen bzw. Motivationen im Akt des Fragens aufhellen. Ob und inwiefern die Frage „Gibt es etwas?“ tatsächlich „die formale Urgestalt der Seinsfrage“ ist,26 wird fraglich, wenn man berücksichtigt, dass die Frage von „Sein und Zeit“ nach dem „Sinn von Sein“ von Heidegger selbst auf die Frage „Was ist das Sein?“ zurückgeführt wird. Letztere unterscheidet sich von ersterer bereits in formaler Hinsicht dadurch, dass es sich nicht mehr um eine Ja/Nein-Frage handelt, sondern um eine Was-Frage, also um eine Bestimmungsfrage. Nun hat Heidegger selbst in seinen Vorlesungen aus den 20er Jahren – insbesondere in seinen Interpretationen zur antiken Philosophie – sowie im so genannten Natorp-Bericht bestimmte Bestimmungsfragen analysiert, nämlich solche, von denen her sich die Grundbegriffe der abendländischen Metaphysik verständlich ma-
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chen lassen sollten. Dabei hat er den methodischen Ansatz, den er in Orientierung an Ja/Nein-Fragen gewonnen hat, mehr oder weniger umstandslos auf Fragen dieses anderen Typs übertragen. Denn auch dort analysiert er den Fragegehalt vom Vollzugssinn aus. Dieser Vollzugssinn wird – in Fortführung seiner früheren Rede von der „Motivation“ – verständlich vor dem Hintergrund der faktischen Weisen des Umgangs mit sich und den Dingen. In dieser Weise wird etwa das Fragepronomen „Warum“ im Kontext der Interpretation der aristotelischen Ursachenlehre interpretiert.27 Die methodische Konzentration auf den Vollzugssinn der Fragen begründet es, von einer Analyse der unterschiedlichen logischen und grammatischen Form von Fragesätzen weitgehend abzusehen. Doch ist es eben eine offene Frage, ob die Unterschiede zwischen verschiedenen Fragetypen und auch zwischen dem Gehalt verschiedener Fragepronomina von ihrem Vollzugssinn her angemessen verstanden werden können. Dabei ist nicht nur fraglich, ob eine hinreichend neutrale Beschreibung des Fragens aus einer Analyse der Existenz des Fragenden gewonnen werden kann,28 sondern auch, ob sich die Bedeutungsvielfalt als eine entsprechende Vielfalt von Vollzügen vor und unabhängig von einer vorgängigen grammatischen und semantischen Analyse von Fragesätzen rekonstruieren lässt.29 Einen ganz anderen Weg bei der Interpretation von Fragen (und auch Fragepronomina) eröffnen die Überlegungen Collingwoods zur Logik von Frage und Antwort.30 In ihnen steht nämlich der Umstand im Zentrum, den Heidegger in seinem Referat von 1915 nur streifte, dass nämlich Fragen „richtig“ oder „unrichtig“ sein können. Collingwoods Analyse setzt deshalb nicht beim Vollzugssinn des Fragens und seiner Situierung in faktischen Lebenszusammenhängen an, sondern bei der Analyse von Beispielen wie „Hat John aufgehört, seine Frau zu schlagen?“, genauer: beim Gehalt solcher Fragen. Ob eine Frage „richtig“ oder „schief“ ist, hänge nämlich von den Präsuppositionen der Frage ab, die der Gehalt der Fragen in der einen oder anderen Weise impliziert. Unter Präsuppositionen versteht bereits Collingwood grob gesprochen Sätze, die wahr sein müssen, damit die Frage eine richtige Antwort haben kann. Eine Frage stellt sich deshalb nur, wenn ihre Präsuppositionen erfüllt sind. Weil nun auch für Collingwood (wie später für Gadamer) jeder Satz seine spezifische Bedeutung nur als Antwort auf eine bestimmte Frage hat, jede Frage aber ihrerseits Voraussetzungen hat, die selbst satzförmig sind, führt Collingwood den Begriff der „absoluten Präsuppositionen“ ein, also solcher Präsuppositionen, die selbst nicht mehr als Antworten auf eine Frage verstanden werden, sondern letzte Voraussetzungen des Fragens sind.31 Weil solche Präsuppositionen nicht mehr als Antworten auf Fragen aufgefasst werden können, können sie strikt genommen auch nicht wahr oder falsch sein.32
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Sie eröffnen vielmehr den Bereich, innerhalb dessen sinnvoll gefragt und entsprechend nach wahren Antworten gesucht werden kann. Solche absoluten Präsuppositionen sind nach Collingwood nicht etwa ewig und unwandelbar, sondern ganz im Gegenteil dem geschichtlichen Wechsel unterworfen.33 Die Präsuppositionen der aristotelischen Physik beispielsweise seien ganz andere gewesen als die Newtons oder gar als die der einsteinschen Relativitätstheorie. Metaphysik bestehe nun in nichts anderem als in der Geschichte der absoluten Präsuppositionen – Metaphysik geht in Geschichte auf.34 Gadamer hat dieses Metaphysikkonzept nicht rezipiert, und dafür gibt es auch gute Gründe.35 Ihn hat vor allem die von Collingwood skizzierte Logik von Frage und Antwort im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit auf das Problem des Verstehens historischer Texte interessiert. Dabei hat er sich – vermutlich vor dem Hintergrund seiner von Heidegger herstammenden Überzeugung vom Vorrang des Vollzugssinns – um den eigentlichen Kernbegriff dieser Logik nicht weiter gekümmert, nämlich um den Begriff der Präsupposition. Es sind aber gerade diese Voraussetzungen des Fragens, die Anforderungen an die gesuchte Antwort enthalten und deshalb den „Richtungssinn“ der Frage ausmachen, auf den Gadamer zu Recht entscheidenden Wert legt. Nicht zuletzt deshalb liegt es nahe, den Begriff der Präsupposition in Anknüpfung an einer Frage etwas genauer zu analysieren. Es lässt sich zeigen, dass sich von ihm ausgehend mit Collingwood das Thema der Metaphysik – gegen Collingwood – wiedergewinnen lässt. III. Fragen, Präsuppositionen und Kategorien Auch bei Collingwood führt ein direkter Weg von der Logik der Frage bzw. der Frage-Antwort-Sequenzen zur Metaphysik. Dabei konzentriert er sich allerdings ganz auf den Begriff der Präsupposition einer Frage. Grob gesprochen gilt für Collingwood, dass solche Präsuppositionen erfüllt bzw. die Sätze, die sie ausdrücken, wahr sein müssen, damit sich die Frage überhaupt stellt.36 Dabei muss die Präsupposition allerdings in irgendeiner Weise in der Frage enthalten sein, denn der Fragende muss von dieser Präsupposition seiner Frage wissen können, bevor er weiß, ob es auf seine Frage eine Antwort gibt. Die Analyse der unterschiedlichen Arten und Weisen, in denen Fragen in diesem weiten Sinn Präsuppositionen implizieren, hat Collingwood unterlassen. Seine Beispiele sind alle von der Art des zitierten Beispiels, in dem gefragt wird, ob John aufgehört hat, seine Frau zu schlagen. Wäre er hier weitergegangen und hätte er die Präsuppositionen untersucht, die mit der Frageform oder den Fragepronomina verbunden sind, hätte er womöglich entdeckt, dass überhaupt nicht ausgemacht
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ist, dass die absoluten Präsuppositionen von Fragen historisch variabel sein müssen. Bei einem präziseren Präsuppositionsbegriff hätte sich ihm nämlich die Möglichkeit eröffnet, genauer zu untersuchen, welche Präsuppositionen nicht nur in den kontextabhängigen Komponenten der Frage enthalten sind, sondern bereits in ihrer syntaktischen Form oder den unterschiedlichen Fragepronomina. Derartige Präsuppositionen sind nämlich gegenüber den Kontexten der Frage invariant. Denkt man zurück an den Zusammenhang zwischen Fragepronomina und Kategorien, dann lässt sich erahnen, dass das Thema der Ontologie in dieser Weise wiedergewonnen werden könnte. Denn die Fragepronomina geben die Struktur der Antworten vor, und somit die Struktur der Sätze, mit denen wir uns und die Welt beschreiben. Doch ist der Weg zu einer solchen „kategorialen Interpretation“ von Fragepronomina indirekt und voraussetzungsreich. Man muss Collingwoods Beobachtungen mit Ergebnissen der neueren erotetischen Logik kombinieren und in rechter Weise interpretieren, damit sich dieser Weg überhaupt öffnet. Im Folgenden muss eine kurze Skizze genügen.37 Unter den Präsuppositionen einer Frage versteht man heute eher die Sätze, die wahr sein müssen, damit eine (wahre) Antwort möglich ist.38 Nimmt man zum Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen eine WoFrage, etwa die Frage „Wo liegt das Wetter?“ aus dem Schwitters-Motto dieses Aufsatzes, dann muss sich das Unangemessene dieser Frage durch eine genaue Analyse des im Fragepronomen „Wo“ ausgedrückten Gehalts, bzw. der durch es geforderten Voraussetzungen, gewinnen lassen. Dazu ist es hilfreich, wenigstens versuchsweise eine allgemeine Charakteristik von Fragen aus der neueren erotetischen Logik zu übernehmen. Danach sind Fragen Aufforderungen, aus einer Menge möglicher alternativer Antworten bestimmte Elemente herauszugreifen, die den in der Frage ausgedrückten Bedingungen genügen.39 Im Fall einer Ja/Nein-Frage sind die möglichen Antworten schlicht der in der Frage selbst „enthaltene“ Satz und seine Negation. Im Fall von „Hat John aufgehört, seine Frau zu schlagen?“ also „John hat aufgehört, seine Frau zu schlagen“ und „John hat nicht aufgehört, …“.40 Im Fall von Alternativfragen wird die Menge der möglichen Antworten durch die in der Frage genannten Alternativen gebildet. Im Fall von W-Fragen handelt es sich hingegen tendenziell um eine unendliche Menge möglicher Antworten (etwa alle Orte für das Schwitters-Beispiel).41 Doch unterscheiden sich beide Fragetypen nicht nur durch die Menge der Alternativen, sondern auch durch die Art der Bedingungen, denen die richtige Antwort gerecht werden muss. Eine Frage muss nun diese Auswahlbedingungen, denen die Antwort gerecht werden muss, in der einen oder anderen Weise enthalten. Nur dann kann der Fragende im Vorhinein wissen, was er sucht, und Antwortvorschläge bzw. Vorschlä-
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ge, seine Frage zu konkretisieren, als angemessen oder abwegig beurteilen. Im Fall von Ja/Nein-Fragen ist diese Bedingung schlicht die Wahrheit des ausgewählten Satzes. Im Fall von W-Fragen hingegen lässt sich diese Auswahlbedingung in aller Regel in der Form eines offenen Satzes formulieren, also etwa im Beispielfall „x ist der Ort, an dem das Wetter liegt“. Will man nur auf den Gehalt des Fragepronomens hinaus, muss man nur noch davon absehen, dass es sich um den Ort von etwas Bestimmtem handelt, hier um den Ort, „an dem das Wetter liegt“. Die Wo-Frage lässt sich dann in eine korrespondierende Welches-Frage transformieren, in der die im Fragepronomen zum Ausdruck gebrachte Auswahlbedingung explizit wird42: „Welches ist dasjenige x, für das gilt: x ist der Ort von y?“ Hat man die Analyse so weit getrieben, dann „sieht“ man förmlich, dass es nur dann eine wahre Antwort geben kann, wenn der Satz „Es gibt ein x und es gibt ein y, für die gilt, x ist der Ort von y“ wahr ist. Dieser Satz ist gewonnen durch die Bindung der Variable des offenen Satzes, der als Auswahlbedingung in der Frage fungiert. Er ist auch in diesem Sinn „in der Frage enthalten“. Man kann in solchen Fällen von „direkten Präsuppositionen“ einer Frage sprechen. Deutlich ist auch, dass es nur dann eine wahre Antwort auf eine solche Frage geben kann, wenn auch der folgende Satz wahr ist: „a ist etwas, das an einem Ort ist (liegt)“, wenn in der Frage eben von a die Rede ist. Und es ist genau diese – sich aus der bloßen Analyse des Gehalts des Fragepronomens ergebende – Präsupposition, die im Fall des Wetters strittig ist. Dass diese Präsupposition strittig ist, liegt an der metaphorischen Ausdrucksweise „Wetterlage“, die vom fragenden Kind wörtlich genommen wird.43 Es gibt minimale Bedingungen, denen solche explikative Transformationen von Wo-, Was-, Warum-, Wozu- oder Wie-Fragen in Welches-Fragen gerecht werden müssen, damit sie den tatsächlichen Gehalt der jeweils zu analysierenden Frage zum Ausdruck bringen.44 Dazu gehört zum Beispiel, dass sämtliche mögliche Antworten auf die zu analysierende Frage auch mögliche Antworten auf die korrespondierende Welches-Frage sein müssen, dass sämtliche unsinnige Antworten auf die erste auch unsinnige auf die zweite und dass schließlich wahre Antworten auf die erste auch wahre Antworten auf die zweite Frage sein müssen. In diesem Sinn kann man mit der Hilfe von Beispielen jeweils testen, ob eine Reformulierung gelungen ist oder nicht. Dabei ist natürlich überhaupt nicht ausgeschlossen, dass diese reformulierende Analyse beispielsweise von bestimmten Was-Fragen zu divergierenden Welches-Fragen führt, weil das Fragepronomen vielleicht nicht immer dieselbe Bedeutung hat. So mag – um ein Beispiel Platons aufzunehmen – mit der Frage „Was ist Tapferkeit?“ einmal nach der Wortbedeutung, ein anderes Mal nach einer Art Wesen und ein drittes Mal nach den Tugend bewirkenden menschlichen Eigenschaften gefragt
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werden.45 Entsprechend müssten sich divergierende Welches-Paraphrasen ergeben. Es scheint dann aber so, als wäre der Sinn solcher Fragen kontextabhängig, wandelbar, sodass kein Weg von Fragepronomina über eine solche Analyse zu einer Metaphysik führen würde, die es mit invarianten und universalen Strukturen unseres Welt- und Selbstverständnisses zu tun hat.46 Entscheidend dafür, dass zumindest einige Fragepronomina als Indikatoren von Kategorien gedeutet werden können, ist nun, dass diese Vielfalt in bestimmter Weise jeweils von einer einheitlichen Grundbedeutung her interpretiert wird. Die Fülle von (kontextabhängigen) Auswahlbedingungen, die mit Fragesätzen eines bestimmten Fragepronomens verbunden sein können, müsste sich dazu als eine systematische Anreicherung einer jeweils basalen und für das jeweilige Fragepronomen spezifischen Auswahlbedingung rekonstruieren lassen. Dafür, dass das im Prinzip möglich ist, sprechen zwei Indizien.47 Zum einen legt der sprachliche Befund genau das nahe, dass nämlich für diese Fragen jeweils ein einheitliches Fragepronomen verwendet wird. Entsprechend weiß man in aller Regel, auch wenn man nicht genau weiß, wie beispielsweise eine Was-Frage in einem besonderen Kontext beantwortet werden soll, dass es sich eben in jedem Fall um eine Was-Frage im Unterschied zu einer Warum-Frage handelt. Die Ausdifferenzierung verschiedener kontextueller Bedeutungen einer WasFrage ist dann ausgehend von einer solchen Kernbedeutung zu rekonstruieren. Dabei können zunächst sämtliche der in der Geschichte der Metaphysik erprobten Unterscheidungsmodelle verwendet werden, also etwa die Unterscheidung zwischen semantischen, epistemischen und pragmatischen Aspekten der Bedeutung, oder zwischen extensiven und intensiven Graden, oder zwischen Begriff und Darstellung (Schema) usf. Um im Beispiel zu bleiben: Für Was-Fragen liegt der Versuch nahe, die Kernfrage als Frage nach den internen Bedingungen der Identität einer Sache als einer so bestimmten zu verstehen. Abgeleitet werden können davon Fragen nach Kriterien und hinreichenden Indizien für solche Identität, aber auch Fragen nach dem, was den Begriff eines so identischen ausmacht.48 Wie auch immer eine solche Analyse von Was-Fragen im Einzelnen durchzuführen wäre: Der Weg vom Fragepronomen zur Kategorie wäre so eröffnet. Das zweite Indiz besteht darin, dass bestimmte Bestimmungsfragen (in ihrer schlichten Grundbedeutung, ohne kontextabhängige Anreicherungen) angesichts von allem gefragt werden können, noch ohne dass der Fragende weiß, wie in diesem besonderen Fall seine Frage zu beantworten und entsprechend zu deuten ist. In ihrer Kernbedeutung sind einige Bestimmungsfragen universell applikabel. Die Frage des Schlagers aus den dreißiger Jahren „Warum ist die Banane krumm?“ mag damals vielleicht sinnlos erschienen sein, weil man nicht wusste, wie man sie beantworten
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könnte. Man hatte eine Vorstellung davon, welche Anforderungen eine solche Antwort im Umriss erfüllen müsste. Mit den Mitteln der Gentechnik lässt sich heute der Frage nicht nur ein präziser Sinn abgewinnen, sondern auch eine gerade Banane züchten. Das aber bedeutet, dass der Fragende bereits vor der genauen Bestimmung der für eine Frage in diesem Gegenstandsbereich angemessenen Auswahlbedingungen über einen Kernbegriff seiner Frage verfügen muss, von dem aus er entscheiden kann, ob die vorgeschlagene Anreicherung oder Konkretisierung dieser Auswahlbedingung zur Beantwortung seiner ursprünglichen Frage beiträgt oder nicht. Dieser Kernbegriff muss ein einheitlicher sein, wenn es sich um eine universal applikable Frage handelt. Die Analyse von Fragepronomina würde dann – über eine solche „kategoriale Interpretation“ der in ihnen zum Ausdruck gebrachten Auswahlbedingungen – zu einer Ontologie führen, die von den allgemeinsten Strukturen unserer Welt- und Selbsterfahrung handelt. Universal applikable Auswahlbedingungen, die den Kern der Bestimmungsfragen ausmachen, bestimmen nämlich die Struktur ihrer möglichen Antworten – darunter auch der wahren –, und deshalb auch die allgemeinste Struktur unserer Beschreibungen von uns und unserer Welt.
IV. Ausblick: Ontologie oder Hermeneutik? Sieht man nun von allen Detailproblemen ab, dann stellt sich immer noch die Frage, wie sich der vorgestellte Weg, das Kategorienproblem im Ausgang vom hermeneutischen bzw. logischen Vorrang der Frage wiederzugewinnen,49 zu Gadamers eigener Konzeption der „ontologischen Wendung der Hermeneutik“ verhält. Zunächst sieht es so aus, als ließe sich diese Art und Weise, Fragen bzw. Fragepronomina zu analysieren, ohne größere Schwierigkeiten in das gadamersche Projekt einer „ontologischen Wendung“ der Hermeneutik integrieren. Denn tatsächlich ist die These vom logischen bzw. hermeneutischen Vorrang der Frage in ihrer Begründung von den Einschränkungen der Analysen Gadamers unabhängig, die sich eher aus der Rezeption Heideggers und Collingwoods ergeben. Die Orientierung der Analyse von Fragen an grammatischen und semantischen Überlegungen zur Sprache ist zumindest an der Oberfläche mit der Vorrangsbehauptung kompatibel. Auch auf einige weitere Einwände lässt sich zumindest an dieser Oberfläche leicht reagieren. Gegen das Bedenken, solche Überlegungen würden sich zu sehr am Ideal eines Systems kategorialer Begriffe orientieren und die unhintergehbare Geschichtlichkeit unserer Grundbegriffe verkennen, ließe sich antworten, dass mit den bisherigen Überlegungen ja noch gar nicht ausgemacht sei, dass die Analysen der verschiedenen Frageformen und Fragepronomina zu einem systema-
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tischen Ganzen führten. Es ließe sich gut eine Abfolge von offenen, wenn nicht sogar aporetischen Untersuchungen in der Art der aristotelischen „Metaphysik“ vorstellen, in die sogar die Wandelbarkeit zumindest einzelner Elemente der Bedeutung der Fragepronomina eingehen könnte. Gegen den Einwand, durch die Fixierung kategorialer Begriffe würde der Charakter der Offenheit verkannt, der ja die eigentliche Grundbestimmung alles dessen ausmache, was wir erfahren könnten, mag man erwidern, dass der Charakter der Offenheit des Befragten durch die Bestimmtheit des Richtungssinnes der Frage nicht berührt werden muss. Die Offenheit ergibt sich aus der Differenz zwischen möglichen und wahren Antworten, und diese Differenz bleibt im vorgestellten Ansatz erhalten. Selbst auf den Hinweis, dass eine solche Analyse der Fragen und ein korrespondierendes Verständnis der Kategorien alle die Einsichten übergehe, die im Anschluss an Heideggers Hermeneutik der Faktizität zu erzielen und von Gadamer bewahrt worden sind – eben die Rückbindung aller Aussagen über Sinn und Bedeutung an die faktische Verhaltensweise des Menschen –, wird man darauf hinweisen können, dass nur behauptet werde, die isolierende Analyse des Sinns von Fragen und Fragepronomina sei ein notwendiger Schritt bei der Analyse der allgemeinsten Struktur unserer Welt- und Selbsterfahrung. Damit ist nicht geleugnet, dass eine hinreichende Analyse erst dann zu ihrem Abschluss komme, wenn die so unterschiedenen Fragetypen lebensweltlich als Akte rekonstruiert sind. Doch obwohl derartige Einwände auf der Oberfläche zurückgewiesen werden können, lässt sich zeigen, dass der Ansatz einer „ontologischen Wendung“ der Hermeneutik mit einer solchen Ontologie letztlich unverträglich ist. Das wird dann deutlich, wenn man auch nur kurz der Frage nach dem Fundament des Fragens bzw. der Fragen in den beiden Ansätzen nachgeht. Für Gadamer werden Fragen nicht gestellt, sondern sie stellen sich. Nach Collingwood, der in diesem Punkt mit Gadamer einer Meinung ist, lässt sich das so deuten, dass sich eine Frage dann stellt, wenn ihre Voraussetzungen erfüllt sind oder als erfüllt angenommen werden. Ob sich eine Frage stellt, ist dann aber kontextabhängig. Nimmt man jedoch die Differenzierungen im Begriff der Präsuppositionen ernst – also die Unterscheidung zwischen solchen Voraussetzungen, die sich aus der Form der Frage ergeben, solchen, die in ihrem Fragepronomen enthalten sind, und solchen, die vom Gegenstand der Frage abhängen –, dann zeigt sich, dass allein die letzteren im Sinn Collingwoods und Gadamers kontextabhängig sind. Geht man nun noch davon aus, dass bestimmte Formen des Fragens und bestimmte Fragepronomina angesichts aller möglichen Gegenstände und Sachverhalte applikabel sind, dass also entsprechende Fragen angesichts von allem gestellt werden können, dann lässt sich die Auffassung, entsprechende Fragen würden sich stellen, wenn diese Präsuppositionen
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erfüllt sind, nicht länger halten. Denn Fragen dieser Art stellen sich immer. Das bedeutet auch, dass dieses Fundament der Fragen auch nicht die Überlieferungstradition sein kann. Die universelle Applizierbarkeit bestimmter Frageformen und bestimmter Fragepronomina ist vielmehr ein Indiz dafür, dass sich in ihnen eine Art logischer Spontaneität des fragenden Subjekts dokumentiert.50 Jemand stellt eine Frage, oder er unterlässt es. Der kategorialen Analyse von Fragen kommt so eine bestimmte methodische Funktion im Rahmen einer transzendentalphilosophischen Kategorienlehre zu, die sich von den Problemen der transzendentalen Logik Kants zu befreien und an Phänomenen der Sprache zu orientieren sucht.51 Die vorgeschlagene Analyse von Fragen und der damit verbundene Ansatz zu einer begrifflich reichhaltigeren Ontologie sind nur bis zu einem bestimmten Punkt in die Hermeneutik Gadamers integrierbar. Denn am Ende zeigt sich, dass Gadamer einige gute Gründe dafür geltend machen kann, die vorgeschlagene Unterscheidung von unterschiedlichen Typen von Präsuppositionen und die damit verbundene Art und Weise, Fragepronomina zu analysieren, abzuweisen: Der vorgeschlagene Weg zu einer reichhaltigeren Ontologie scheint einen Subjektbegriff vorauszusetzen, der bereits in den Augen des jungen Heidegger – erst recht dann in den Augen Gadamers – durch und durch problematisch ist.52 Denn der ontologische Status eines solchen Subjekts und seiner Kategorien ist nur schwer zu explizieren und plausibel zu machen. Abgesehen davon also, dass der vorgeschlagene Weg einer kategorialen Interpretation mit der Position Gadamers verträglich bleibt und so eine Art Kategorienanalyse auch im Kontext der hermeneutischen Philosophie möglich zu sein scheint, solange die universale Applikabilität der jeweiligen Fragetypen nicht behauptet wird, ist der entscheidende Punkt am Ende wohl noch offen – ob Fragen als Indikatoren der Spontaneität endlicher Subjekte aufzufassen sind oder als Teil des Gesprächs, „das wir sind“. Angesichts dieser Frage gilt es weniger, sich zu entscheiden, als nach Argumenten zu suchen.
Anmerkungen K. Schwitters, Das Wetter, in: Kurt Schwitters, Das literarische Werk, Bd. 3, Köln 1975, 213 (Hervorh. von mir). 2 Zitate aus Gadamers Wahrheit und Methode erfolgen nach Bd. 1 der Werkausgabe in Klammern einfach unter Angabe der Seitenzahl; Zitate aus anderen Schriften Gadamers erfolgen nach der Werkausgabe (GW) unter Angabe von Band und Seitenzahl (H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1–10, Tübingen 1985–1995). Zu einer alternativen Interpretation und den Problemen dieser „ontologischen Wendung“ vgl. G. Figal, The Doing of the Thing Itself, in: R. J. Dostal (Hrsg.), The Cambridge Companion to Gadamer, Cambridge 2002, 102–125. 1
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3 Natürlich besteht das Problem, Gadamer einen Ontologiebegriff zu unterstellen, der nicht der seine ist (vgl. H. Braun, Zum Verhältnis von Hermeneutik und Ontologie, in: R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl [Hrsg.], Hermeneutik und Dialektik, Bd. II, Tübingen 1970, 200–218). Insofern es jedoch auch bei ihm um universelle und invariante Strukturen der (hermeneutischen) Erfahrung geht, lässt sich sein Ontologiebegriff als ein Nachfolgebegriff zum tradierten Ontologiebegriff interpretieren. Gerade die Frage-Antwort-Struktur ist ein Beispiel für eine solche universelle und auch in den Augen Gadamers invariante Struktur. 4 Vgl. dazu G. Figal, 2002 (a. a. O.), J. Grondin, Zur Komposition von Wahrheit und Methode, in: Dilthey-Jahrbuch 6, 1993, 57–74, 68 ff., sowie die Ergänzungen nach D. Kaegi, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Hermeneutik, in: Philosophische Rundschau 41 (1994) 116–132, 125 ff., und J. Grondin, Unterwegs zur Rhetorik. Gadamers Schritt von Platon zu Augustin in „Wahrheit und Methode“, in: G. Figal/J. Grondin/D. J. Schmidt (Hrsg.), Hermeneutische Wege. HansGeorg Gadamer zum Hundertsten, Tübingen 2000, 207–218, 212. 5 Gerade wenn die Philosophie ihre eigenste Fragestellung nicht aus den Augen verlieren will, tut man gut daran, sich angesichts der Fülle von Verwendungsweisen des Ausdrucks „Ontologie“ an seine Ursprünge und an die Geschichte seiner Verwandlungen zu orientieren, also an der aristotelischen Bestimmung der (ersten) Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden, insofern es Seiendes ist, bzw. an ihren Nachfolgebestimmungen beispielsweise als einer Wissenschaft von notwendigen und allgemeinen Charakteristika der Gegenstände unseres Denkens, insofern sie Gegenstände unseren (erkennenden) Denkens werden können – vgl. dazu H.-F. Fulda, Ontologie nach Kant und Hegel, in: D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hrsg.), Metaphysik nach Kant?, Stuttgart 1987, 44–82, 45 ff., der sich insbesondere den Metaphysikbegriffen Kants und Hegels widmet. 6 Ich folge hiermit im Wesentlichen einer Einschätzung von R. Wiehl, der m. E. zu Recht darauf hingewiesen hat, dass eine Ontologie „ein zusammenhängendes Ganzes, ein System von ontologischen Prinzipien hinsichtlich einer bestimmten Mannigfaltigkeit des Seienden“ ist, „welche durch diese Prinzipien bestimmt ist“ (Wiehl, Gadamer und die Möglichkeit einer Ontologie heute, in: Ders., Metaphysik und Erfahrung, Frankfurt a.M. 1996, 127–154, 140), und der ein entsprechendes Defizit bei Gadamer diagnostiziert. Gegen diese Einschätzung könnte eingewandt werden, dass Gadamer ja eine zentrale ontologische Bestimmung anhand seiner Analysen des Kunstwerks gewinne, deren Resultat sei, dass Seiendes im Allgemeinen nicht als bloß „Vorhandenes“ aufgefasst werden dürfe, sondern analog zum Kunstwerk in eine Art „Schwebe“ zu bringen sei. Diese Strategie scheint mir z. B. M. Wischke, Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik HansGeorg Gadamers, Weimar/Köln 2001, zu verfolgen (vgl. B. R. Wachterhauser, Beyond Being. Gadamer’s Post-Platonic Hermeneutical Ontology, Evanston [Illinois] 1999, aber auch A. Aichele, Gadamers platonistische Ästhetik. Kunst und Spiel in Wahrheit und Methode, in: Prima Philosophia 12, 1999, 3–18). Doch schließt dies die Frage nach Kategorien, im Blick auf die Seiendes zu verstehen und zu erkennen ist, überhaupt nicht aus, sondern betrifft in erster Linie die Art und Weise der Applikation von Kategorien. 7 Einen Überblick über die verschiedenen Ansätze bietet D. Harrah, The Logic of Questions, in: D. Gabbay/F. Guenther (Hrsg.), Handbook of Philosophical Logic
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Vol. II, Dordrecht/Boston/London 1984, 715–764. Ich stütze mich vor allem auf N. D. Belnap/T. B. Steel, Die Logik von Frage und Antwort, Braunschweig/Wiesbaden 1985 (orig.: The Logic of Question and Answer, New Haven/London 1976), und auf J. Walther, Logik der Fragen, Berlin/New York 1985. 8 Um ein weiteres Bedenken vorweg auszuräumen: Es scheint mir nicht hilfreich, auf Gadamers angebliche oder tatsächliche Abneigung oder gar Überwindung eines Konzepts von Philosophie als Systematik hinzuweisen (ein Hinweis, der sich etwa auf seinen Beitrag zur Natorp-Festschrift stützen könnte). Zum einen ist mit dem bisher Gesagten nicht behauptet, eine Metaphysik müsse zwangsläufig im von Gadamer dort bemängelten Sinn „systematisch“ sein; zum anderen ist gar nicht klar, ob seine dortigen Überlegungen tragfähig sind. Man läuft in gewisser Weise Gefahr, Gadamers Überlegungen unter Wert zu handeln, wenn man sie in zu großen Gegensatz zu systematischen Bemühungen setzt. 9 Die Frage, inwieweit Gadamer hier tatsächlich Platons Dialektik trifft, braucht im gegenwärtigen Zusammenhang ebenso wenig verfolgt zu werden wie die Frage, wie sich seine Überlegungen vor dem Hintergrund der Probleme der Platon-Interpretation insbesondere des Neukantianismus ausnehmen – vgl. dazu M. Wischke, a.a.O., 104ff. 10 Nur so erscheint mir die kommentarlose Orientierung an Alternativfragen einerseits (vgl. b) und Ja/Nein-Fragen andererseits plausibel, denn in beiden Fällen beansprucht Gadamer jeweils die Gültigkeit seiner Thesen für alle Fragen. 11 Vgl. R. Collingwood, Autobiography, Oxford 1939, Kap. 5 (im Folgenden zitiert nach der dt. Übersetzung: Denken. Eine Autobiographie, Köhler 1955). 12 Ebd., 38. 13 Vgl. hierzu G. Figal, a. a. O. (2002), 108 ff., sowie T. Schwarz-Wetzer, Das Diskrimen der Frage, in: G. Figal/J. Grondin/D. J. Schmidt (Hrsg.), Hermeneutische Wege. Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, Tübingen 2000, 219–240, insbesondere in Auseinandersetzung mit Tugendhat, 1976, 76 und 511. Zur weiteren Illustration dieser Orientierung am Aussagesatz und am Begriff der wahren Antwort vgl. z. B. Belnap/Steel, a. a. O., 10 ff. Es sollte aber klar sein, dass daraus, dass diese Logik des Fragens Fragen als bezogen auf Antworten denkt, in ihrem Rahmen völlig angemessen und sogar zu heuristischen Zwecken generell zur Klärung der Struktur von Fragen verwendet werden kann – wenn man dabei nicht die hier strittige Frage als entschieden voraussetzt. 14 Vgl. z.B. Gadamer, Was ist Wahrheit?, GW 2, 52. 15 Gerade die Dialoge Platons bieten für diese Art von korrigierenden FrageAntwort-Sequenzen eine Fülle von Beispielen (vgl. z. B. Theaitet 146d ff.). Meistens handelt es sich dort um so genannte Definitionsfragen in der Gestalt von Was-istX-Fragen. Man kann den oftmals formalen Gründen, die Platon seinen Sokrates zur Ablehnung von Antwortvorschlägen vorbringen lässt, dieses in der Was-ist-XFrage liegende Vorverständnis entnehmen. 16 Dieser Punkt wird deutlicher, wenn man Ja/Nein-Fragen mit Bestimmungsfragen vergleicht, z. B. mit Was-ist-X-Fragen. Wer diese Frage stellt, hat in aller Regel noch nicht eine Alternative vor Augen der Art „Ist a F? oder ist a G? oder ist a H? …“. Was-ist-X-Fragen können also nicht umstandslos auf Alternativfragen (und damit – wenn man Gadamer entgegenkommen will – auch auf Ja/Nein-Fra-
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gen) reduziert werden. Entsprechend lässt sich die Antwort nicht als „Entscheidung“ und die Frage als „Schweben“ charakterisieren: Wer so fragt, sucht vielmehr. Auch ein „Dort“ als Antwort auf eine Wo-Frage dokumentiert weniger eine Entscheidung als vielmehr ein Finden. 17 Vgl. dazu C. H. Kahn, Questions and Categories. Aristotle’s Doctrine of Categories in the Light of Modern Research, in: H. Hiz (Hrsg.), Questions, Dordrecht 1978, 227–278. 18 Vgl. dazu das Motto dieses Aufsatzes von Schwitters. 19 Vgl. R. Collingwood, Essay on Metaphysics, Oxford 1940 (zitiert nach der Neuausgabe von R. Martin, Oxford 1998), 38, der von einem Lehrbuchbeispiel spricht. Spätere Autoren haben gelegentlich von „Collingwoods Beispiel“ gesprochen. Beispiele von diesem Typ finden sich jedoch bereits in der Antike, etwa bei Diogenes Laertios, II, 135, wo allerdings der Vater geschlagen wird. 20 Ich gehe davon aus, dass für Gadamer, der Heidegger 1922 kennen lernte, dessen Überlegungen zu dieser Zeit die eigentlich ausschlaggebenden gewesen sind – vgl. dazu Gadamers Selbsteinschätzung in Gadamer, Heideggers „theologische“ Jugendschrift, in: Dilthey-Jahrbuch 6, 1989, 228–234, oder GW 3, 309ff., sowie J. Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999, 81 ff. Gadamer hat übrigens in seinen Vorstudien zu „Wahrheit und Methode“ die Logik von Frage und Antwort in Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelt und nicht mit Collingwood – vgl. z.B.: Was ist Wahrheit?, GW 2, 52ff. 21 Das Referat findet sich in M. Heidegger/H. Rickert, Briefe 1912–1933, hrsg. v. A. Denker, Frankfurt a. M. 2002, 80–90, wiedergegeben. Laut Heidegger entstammt es einer „größeren Untersuchung über die Frage“ (89) und sollte deshalb nicht nur als Seminarübung abgetan, sondern als eigene systematische Reflexion Heideggers gewürdigt werden. 22 Vgl. dazu H. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 3. Aufl. Tübingen 1915, 175 ff., dort auch die Diskussion der entsprechenden Theorien von Lotze und Windelband. 23 Bereits an dieser Stelle mag eine verborgene Orientierung der Analyse von Fragen am Urteil liegen: Denn die Struktur des Urteils, Setzung eines Gehaltes zu sein, wird unbesehen zur Vorlage, in Abgrenzung von der die Struktur der Frage bestimmt wird. Es mag sein, dass die Orientierung an dieser Urteilsanalyse die Konzentration auf Ja/Nein-Fragen befördert hat. 24 „Streift“, weil Heidegger selbst keine Analyse der unterschiedlichen Arten gibt, in denen eine Frage „richtig“ oder „unrichtig“ sein kann. Das scheint kein Zufall, denn Präsuppositonen bezeugen gerade, dass auch durch eine Frage etwas als geltend gesetzt wird – allerdings noch nicht das Erfragte. 25 Vgl. zu dieser frühen Vorlesung M. Riedel, Hören auf die Sprache, Frankfurt a. M. 1990, 75 ff., sowie F. Hogemann, Heideggers Konzeption der Phänomenologie in den Vorlesungen aus dem Wintersemester 1919/20 und dem Sommersemester 1920, in: Dilthey-Jahrbuch 4, 1987, 54–71 – während Riedel den Ausgang vom Fragen eindrucksvoll herausarbeitet, gerät er bei Hogemann eher in den Hintergrund. Der neukantianische Kontext der Überlegungen Heideggers wird von C. von Wolzogen, „Es gibt“. Heidegger und Natorps „Praktische Philosophie“, in: A. Gethmann-Siefert/O. Pöggeler (Hrsg.), Heidegger und die praktische Philosophie,
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Frankfurt a. M. 1988, 313–337, analysiert. Gadamer greift auf diese Thesen Heideggers bereits in den Vorstudien zu „Wahrheit und Methode“ zurück: „Jede Frage ist motiviert. Jede Frage bekommt ihren Sinn von der Art ihrer Motivation“ (Begriffsgeschichte als Philosophie, in: GW 2, 82). In den Analysen zur Logik von Frage und Antwort in „Wahrheit und Methode“ tritt der Motivationsbegriff etwas zurück – vgl. aber 382. 26 So Riedel, a.a.O., 77. 27 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hrsg. v. H.-U. Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch 6, 1989, 237–269, 253: „Das Seinsfeld der Umgangsgegenstände […] und die Ansprechweise des Umgangs, ein bestimmt charakterisierter Logos, genauer der Umgangsgegenstand im Wie des Angesprochenseins, kennzeichnet die Vorhabe, aus der die ontologischen Grundstrukturen und damit die Ansprechens- und Bestimmungsweisen hinsichtlich des Gegenstandes ‘menschliches Leben’ geschöpft werden.“ – Vgl. zu Heideggers Transformation der aristotelischen Ontologie durch seine Interpretation der Warum-Fragen A. Vigo, Archäologie und Aletheologie. Zu Heideggers Transformation der aristotelischen Ontologie-Auffassung, in: Existentia 12, 2002, 63–86. 28 Vgl. K. Löwith, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie, in: Sämtliche Schriften Bd. 3, Stuttgart 1985, 1–32, und: Grundzüge der Entwicklung der Phänomenologie zur Philosophie und ihr Verhältnis zur protestantischen Theologie, in: Ebda., 33–95, der m. E. überzeugend zeigt, dass die Deskriptionen Heideggers nicht neutral sind und auch gar nicht neutral sein können – vgl. dazu und zu den Konsequenzen für das Ontologieproblem Braun, a.a.O., 210ff. 29 Um das an einem kleinen Beispiel aus Heidegger Vorlesung von 1924, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, zu illustrieren (Gesammelte Werke Bd. 18, 399), wo Heidegger den Begriff der arché auslegt: „‘Von wo aus’ des Seienden (als solchen), d. h. Wie des Seins.“ Der Übergang von den Fragepartikeln „Von wo aus“ zur Wie-Frage provoziert die Rückfrage, ob nicht doch bei solcher Interpretation Momente der Bedeutung verloren gehen, die sich eben den Fragepronomina verdanken bzw. durch sie indiziert werden. Und noch eine weitere Frage drängt sich auf, nämlich ob ein solches Verfahren letztlich nicht in einem problematischen Sinn zirkulär ist. Das lässt sich an einem Passus der Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie von 1926 illustrieren (Gesammelte Werke Bd. 22, 47): „Warum fragen wir nach Gründen? Ursprung der Notwendigkeit des Warum.“ Die erste Frage, die gleichsam den Vollzugssinn des Fragens anvisiert, setzt voraus, dass die Fragepartikel „Warum“ vor aller Analyse des Vollzugssinns verstanden ist. Ein solcher Zirkel ist nicht nur in Begründungszusammenhängen problematisch, sondern auch bei der Explikation von Begriffen, weil er ein Modell der unkontrollierten Willkür einführt. Was zirkulär expliziert wird, wird in diesem Punkt nämlich gerade nicht expliziert, und im Fortgang dann unkontrolliert so oder so verstanden (anders A. Vigo, a. a. O., 75, allerdings in anderem Zusammenhang). – Eine ausführliche Analyse der Methodik des frühen Heidegger gibt C.-F. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 und ihr Verhältnis zu Sein und Zeit, in: DiltheyJahrbuch 4, 1987, 27–53.
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30 Im Folgenden stütze ich mich nicht nur auf die auf Gadamers Anregung hin unter dem Titel „Denken“ ins Deutsche übersetzte Autobiography von 1939, sondern auch auf seinen Essay on Metaphysics von 1940. Gadamer hat diesen Ansatz zu einer Metaphysik als Geschichte nicht rezipiert. Stattdessen hat er sich in „Wahrheit und Methode“ mit Collingwoods Überlegungen zur Geschichte auseinandergesetzt, die dieser in seinem Buch The Idea of History (1946) vorlegte, das in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Philosophie der Geschichte“ 1955 erschien. Vgl. zu Collingwoods Metaphysikkonzeption A. H. Donagan, The Later Philosophy of R. G. Collingwood, Oxford 1962, und L. Mink, Mind, History, and Dialectic. The Philosophy of R. G. Collingwood, Bloomington (Ind.) 1969. 31 Vgl. Collingwood, Essay on Metaphysics, 29 ff. – dazu J. E. Llewelyn, Collingwood’s Doctrine of Absolute Presuppositions, in: Philosophical Quarterly 11, 1961, 49–60, und R. Flanigan, Metaphysics as a „Science of Absolute Presuppositions“, in: The Modern Schoolman 64, 1987, 161–185. 32 Vgl. Collingwood, Essay on Metaphysics, 47. Absolute Präsuppositionen müssen sich deshalb in gewissem Sinn pragmatisch bewähren, indem sie „fruchtbar“ für die Forschung und das Leben in der Welt sind. 33 Vgl. Collingwood, Essay on Metaphysics, 48, vgl. dazu S. Toulmin, Conceptual Change and the Problem of Relativity, in: M. Krausz (Hrsg.), Critical Essays on the Philosophy of R. G. Collingwood, Oxford 1972, 201–221. 34 Collingwood versucht in seinem Essay on Metaphysics, unter anderem einzelne Etappen Geschichte zu rekonstruieren – allerdings nicht immer überzeugend. 35 Diese Gründe ergeben sich – sieht man von den allgemeinen Schwächen der Position Collingwoods ab – nicht nur aus den Modifikationen, die Gadamer an Collingwoods Anwendung der Logik von Frage und Antwort auf Texte der Geschichte vornimmt, sondern auch aus seiner Zurückhaltung gegenüber der Analyse besonderer absoluter Präsuppositionen zu einer Zeit. Tatsächlich setzt Collingwoods Konzept so etwas wie abgeschlossene Kontexte voraus, die durch solche Präsuppositionen begründet werden, und lässt den einheitlichen Gesprächs- oder Diskussionszusammenhang durch die Zeit zurücktreten. 36 Vgl. Collingwood, Essay on Metaphysics, 25. 37 Ausführlicher habe ich den im Folgenden nur zu skizzierenden Weg anhand des Beispiels der Warum-Frage in meiner noch unveröffentlichten Habilitationsschrift verfolgt: Die Frage nach der Ursache – Systematische und problemgeschichtliche Untersuchungen zum Kausalitäts- und zum Schöpfungsbegriff. 38 Es gibt natürlich eine Fülle von Versuchen, den Begriff der Präsupposition einer Frage zu präzisieren. Eine weitere Möglichkeit neben der genannten besteht darin, unter den Präsuppositionen einen Satz zu verstehen, der von allen direkten Antworten auf diese Frage impliziert wird (Belnap/Steel, a. a. O., 104 ff.). Noch eine weitere Möglichkeit besteht darin, durch syntaktische Analysen einen propositionalen Gehalt von Fragen zu gewinnen, dessen Behauptung die direkte Präsupposition der Frage sei (Walther, a. a. O., 107 ff.). Schließlich ist auch versucht worden, solche Sätze zu den Präsuppositionen von Fragen zu zählen, unter deren Voraussetzung allein wahre oder falsche Antworten auf die Frage möglich sind. Im vorliegenden Zusammenhang muss zwischen diesen Alternativen nicht entschieden werden, solange immer im Auge behalten wird, dass auch dort, wo eine Begriffsexplikation
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vom Begriff der Antwort Gebrauch macht, der Vorrang der Frage nicht gefährdet sein muss – solange es sich dabei eher um eine Art probeweiser Explikation und nicht um eine letzte Begriffsklärung handelt. 39 Vgl. Belnap/Steel, a. a. O., 15 ff. Der mögliche Einwand, auch hier würde die Frage von der Antwort her gedacht und deshalb das eigentliche Wesen der Frage verfehlt, scheint mir nicht durchschlagend. Man kann sich nämlich zunächst zu heuristischen Zwecken dieses Modells bedienen, muss dann aber später bei der Interpretation der so gewonnenen Ergebnisse davon abstrahieren. So gewendet bestünde kein Widerspruch zwischen der Einsicht Gadamers, dass Fragen einen logischen Vorrang vor Sätzen haben, und der hier vorgeschlagenen Methode der Analyse des Gehalts insbesondere von Fragepronomina. 40 Dass hier mehrere Möglichkeiten der Negation berücksichtigt werden müssen, zeigt zunächst nur an, dass der genaue Sinn einer Frage durch den Fragesatz nicht immer hinlänglich zum Ausdruck gebracht wird. So kann ja der Satz „John hat aufgehört, seine Frau zu schlagen“ durch lokale Negation zu „Nicht John hat aufgehört, seine Frau zu schlagen“ (sondern Jack) oder zu „John hat nicht aufgehört, seine Frau zu schlagen“ (sondern seinen Vater) führen. 41 Vgl. Belnap/Steel, a. a. O., 20 ff.; Walther spricht demgegenüber von „intensionalen Fragen“. 42 Ich greife hier eine entsprechende Anregung von Walther, a. a. O., 97 ff., auf, der regelrecht von „Welch-Paraphrasen“ spricht. 43 Wenigstens zwei offene Probleme dieser Reduktion von Bestimmungs-Fragen auf Welches-Fragen seien kurz erwähnt: Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, wie Wie-Fragen in dieser Weise analysiert werden könnten, und es nicht ohne weiteres klar, wie die Differenz zwischen Was- und Wer-Fragen rekonstruiert werden kann. 44 Diese Bedingungen sind dann erforderlich, wenn die Reformulierung tatsächlich zu erhellenden Begriffsexplikationen führen soll. Es genügt natürlich nicht, die Was-Frage durch „Welches ist das Wesen von x?“ wiederzugeben, um einen Schritt weiterzukommen, weil der Wesensbegriff ebenso analysebedürftig ist wie das Fragepronomen. Wenn aber statt des unklaren Wesensbegriffs in der Auswahlbedingung eine Liste von notwendigen und/oder hinreichenden Bedingungen aufgeführt werden soll, denen Antworten auf entsprechende Fragen genügen müssen, dann ist es hilfreich, solche Reformulierungen im Blick auf solche Minimalbedingungen auf ihre Adäquatheit zu prüfen. 45 Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der platonischen Was-ist-XFrage untersucht z. B. G. Vlastos, What did Socrates Understand by His „What is F?“ Question? In: ders., Platonic Studies, Princeton 1981, 410–417, aber auch P. Stemmer, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin/New York 1992. Sie brauchen hier nicht weiterverfolgt zu werden. Bemerkungen zu einer Analyse von Was-Fragen als Welches-Fragen finden sich mit Bezug auf Platon bei Walther, a. a. O., 104, sowie bei Belnap/Steel, a. a. O., 77 f. H. H. Benson hat darüber hinaus versucht, den Ansatz von Belnap/Steel für eine genauere Interpretation der platonischen Was-ist-X-Frage im Rahmen einer Interpretation einiger Stellen aus den Frühdialogen fruchtbar zu machen – H. H. Benson: Misunderstanding the „What-is-F-ness?“ Question, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 72, 1990, 125–142.
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46 Auch Ja/Nein- und Alternativfragen lassen sich als eine besondere Art von Welches-Fragen rekonstruieren – letztere etwa, wenn die Menge möglicher Antworten durch die in der Frage genannten Alternativen gebildet wird und die Auswahlbedingung besagt, dass nach wahren Sätzen gesucht wird. Obwohl solche Reformulierungen prinzipiell möglich sind, ist es in diesen Fällen vielleicht doch nicht so leicht, daraus methodischen Gewinn für die Analyse der Fragen oder etwa des Wahrheitsbegriffs zu ziehen. 47 Es handelt sich nur um Indizien, weil sie nur unter Zusatzannahmen zu regelrechten Argumenten ausgebaut werden können. 48 Dieser Zusammenhang zwischen Was-Frage und Wesensbegriffen kommt in dem anfänglich befremdlichen lateinischen Fachterminus der Quidditas etwa bei Thomas von Aquin noch gut zum Ausdruck. 49 Gadamer selbst spricht gelegentlich nicht vom „hermeneutischen“, sondern vom „logischen“ Vorrang der Frage – so etwa in Was ist Wahrheit?, GW 2, 52: „Nicht das Urteil, sondern die Frage hat in der Logik den Primat.“ 50 Dass die strikte Universalität von Kategorien nicht durch Induktion gesichert und entsprechende kategoriale Begriffe nicht durch Abstraktion gebildet werden können, ist eine der Überlegungen, die Kant zu seiner Transzendentalphilosophie geführt haben. 51 Das Verhältnis von Sprache und transzendentaler Logik in der Transzendentalphilosophie Kants braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Kants eigener Begriff einer „transzendentalen Grammatik“ bietet hier nur vage Anknüpfungsmöglichkeiten (vgl. Prolegomena, AA VI, 255 und 312, sowie Metaphysikvorlesung Nachschrift Pölitz, AA XXVIII, 1521). Die Frage, die sich vielmehr stellt, ist, ob und mit welcher Aussicht Kants Konzeption einer transzendentalen Logik dadurch erfolgreich umgestaltet werden könnte, dass transzendentallogische Formen und entsprechende Kategorien durch eine geeignete Analyse der Sprache entdeckt werden können. Die Diskussion dieser Frage ist noch offen. 52 Vgl. hierzu H. Braun, a. a. O. – Die frühen Vorlesungen Heideggers dokumentieren darüber hinaus ausführlich, welche Rolle bei der Ausbildung der eigenen Position Heideggers seine Auseinandersetzung mit den Aporien spielte, in die seiner Meinung nach der transzendentalphilosophische Begriff der Logik (und des Subjekts) zumindest in der Gestalt des Neukantianismus führen.
Ad Verbrugge Aletheia und die Frage nach der Wahrheit Von alters her hat die Philosophie sich selbst verstanden als die leidenschaftliche Bemühung um die Wahrheit. Schon Parmenides erzählt uns, wie er eines Tages, durch seine Stuten getragen, auf den Weg der Göttin geführt wurde und sie ihm das unerschütterliche Herz der zuverlässigen aletheia offenbart hat.1 Und gerade wenn die Wissenschaft sich die letzten Jahrhunderte endgültig von ihr loslöste, hat die Philosophie die Frage nach der Wahrheit als solcher zu einem ihrer zentralen Themen gemacht. Was Wahrheit eigentlich bedeutet, und was ihre innere Möglichkeit ist, vermag die positive Wissenschaft ja nicht zu klären, dazu bedarf es der Philosophie. Die Ausarbeitung dieser Aufgabe ist in der Logik und den verschiedenen Erkenntnis- und Wissenschaftslehren des 19. und 20. Jahrhunderts ausgestaltet worden. Auf eine ganz andere Weise aber, und ich möchte sogar sagen, auf eine mehr fundamentale Weise, hat Martin Heidegger diese Aufgabe in Angriff genommen. Unter Heideggers Schülern ist Hans-Georg Gadamer ohne Zweifel einer der wichtigsten gewesen. Obwohl Gadamer Heideggers Idee der Hermeneutik auf seine eigene Weise aufnimmt, blieb er seinem Lehrer in den verschiedenen Grundbestimmungen dieser Hermeneutik treu. Das gilt insbesondere für Heideggers Verständnis von Wahrheit, das ohne Zweifel für Gadamers Denkansatz wichtig ist: „Es vermittelte daher eine schlagende Erkenntnis, als Heidegger in unserer Generation auf den Sinn des griechischen Wortes für Wahrheit zurückgriff. Das war keine erstmalige Erkenntnis Heideggers, daß Aletheia eigentlich Unverborgenheit heißt. Aber Heidegger hat uns gelehrt, was es für das Denken des Seins bedeutete, daß es die Verborgenheit und die Verhohlenheit der Dinge ist, der die Wahrheit wie ein Raub abgewonnen werden muß.“2 In „Wahrheit und Methode“ bildet Heideggers Wahrheitsbegriff den Horizont, in dem die Kunst und die Geisteswissenschaften ausgelegt werden. Gadamer orientiert sich deutlich am heideggerschen Grundgedanken, wenn er am Ende des Buches formuliert: „Sein [ist] Sprache, d. h. Sichdarstellen“3, und im Rückgang auf Plato wird dieses Sichdarstellen interpretiert als aletheia, d. h. als Wahrheit: „[…] es ist deutlich, was er [Plato] damit meint: das Schöne, die Weise, in der das Gute erscheint, macht sich selbst in seinem Sein offenbar, stellt sich dar.“4 Die Suche nach dem ursprünglichen Sinn der Wahrheit ist jedoch nicht unproblematisch, vor allem ihre etymologische Begründung durch die aletheia. In diesem Aufsatz werde ich versuchen, die Frage nach der Wahr-
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heit erneut zu stellen, und zwar in einer kritischen Auseinandersetzung mit Heidegger. Weil die grundsätzlichen Fragen bezüglich der Deutung der aletheia namentlich durch Heidegger gestellt sind und Gadamer sich hauptsächlich auf seine Antworten stützt, wird diese Konfrontation sich auf Heidegger konzentrieren.5 Abschnitt I wird sich mit Heideggers Interpretation der Wahrheit im Rahmen der phänomenologischen Hermeneutik auseinander setzen; Abschnitt II beschäftigt sich mit Heideggers Analyse des Aussagesatzes; und Abschnitt III behandelt seine Interpretation des apophantischen logos und der griechischen aletheia. Darin werden wir zugleich eine eigene Interpretation des Sinnes von Wahrheit entwickeln. Im Abschnitt IV soll deutlich werden, dass Heidegger implizit auf den von uns in Abschnitt II und III dargelegten Sinn von Wahrheit zurückgreift.
I. Heideggers Interpretation der Wahrheit im Rahmen seiner Phänomenologie Wir begegnen Heideggers Begriff der Wahrheit bereits in seinen frühen Freiburger und Marburger Vorlesungen, in denen sein Wahrheitsbegriff im Zusammenhang mit einer eigentümlichen Interpretation der griechischen aletheia entwickelt wird. In „Sein und Zeit“ wird die Wahrheitsfrage im Paragraph 44 behandelt; hier versucht Heidegger den traditionellen Begriff der Wahrheit zu destruieren und dessen ontologische Fundamente freizulegen, so dass das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit sichtbar werden soll. Ausgang für eine Analyse in „Sein und Zeit“ ist die klassische Definition der Wahrheit als adaequatio intellectus et rei. Heidegger fragt zunächst, wie diese Beziehung zwischen beiden – als eine Art von Übereinstimmung – verstanden werden muss. Er bestimmt sodann den Relationscharakter dieser Beziehung als ein „So – Wie“.6 Erkenntnis soll die Sache so geben, wie sie ist. Wenn er fragt, wie eine solche Beziehung überhaupt möglich ist, verwandelt sich die Frage nach der Wahrheit in eine Frage nach der inneren Möglichkeit des faktischen Vollzugs, in dem das Erkennen sich als wahres ausweist. Heidegger beginnt die Analyse dieses Erkenntnisvollzugs mit einer alltäglichen Aussage – „das Bild an der Wand hängt schief“ (217), – die sich ausweist bzw. bewährt durch eine Wahrnehmung. Hier begegnen wir einer entscheidenden Bestimmung des Phänomens der Wahrheit: „Und was wird durch die Wahrnehmung ausgewiesen? Nichts anderes als daß es das Seiende selbst ist, das in der Aussage gemeint war. Zur Bewährung kommt, daß das aussagende Sein zum Ausgesagten ein Aufzeigen des Seienden ist, daß es das Seiende, zu dem es ist, entdeckt. Ausgewiesen wird das Entdeckend-sein der Aussage“ (218). Die
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Bewährung oder Ausweisung ist eine Identifizierung, ein Sichzeigen des Seienden in Selbigkeit. Heidegger interpretiert das Phänomen der Ausweisung auf eine ähnliche Weise wie Husserl in seinen „Logischen Untersuchungen“. Zugleich verlegt er Husserls Interpretation in eine grundsätzlich andere Richtung, wenn er betont, dass dieses Sichzeigen des Seienden nur möglich ist, weil das bewährende Erkennen seinen ontologischen Sinn in dem entdeckenden Sein zum Seienden gründet. Das Entdeckend-sein von Dasein als ein In-der-Welt-sein macht es möglich, dass das Seiende sich zeigen kann und eine Aussage bewährt wird. Deswegen bestimmt Heidegger es als das ursprünglichere Phänomen von Wahrheit. Aber Dasein ist nicht nur entdeckend, wenn es Aussagen macht und diese Aussagen bewährt, sondern in jedem Verhalten zum Seienden ist das Seiende auf irgendeine Weise da, begegnet es dem Dasein und zeigt es sich ihm. Auch in dem besorgenden Umgang wird das Seiende entdeckt und gibt es Wahrheit. Dasein ist wesenhaft Entdeckend-sein. Das Seiende kann nur wahr sein, insofern es ein entdeckendes Sein zu ihm gibt. Ohne das faktische Entdecken von Dasein gibt es überhaupt keine Wahrheit. Die Entdeckung des jeweiligen Seienden bewegt sich aber jeweils in einem bestimmten „Sinn“, d. h. in einem Verständnis von Sein. Dieses Sein muss auf irgendeine Weise vorgängig offenbar sein, damit das Seiende zu entdecken möglich ist. Das Dasein des Menschen ist diese vollzugshafte Erschlossenheit von Sein. Sein und Wahrheit gehören zutiefst zusammen, weil es nur Sein gibt in der Erschlossenheit von Dasein: „Sein – nicht Seiendes – ‚gibt es‘ nur, sofern Wahrheit ist“ (230). Das vollzugshafte Geschehen der „Lebensintentionalität“ (wie Heidegger es in seiner frühen Freiburger Zeit genannt hat) ist das Geschehen der Erschlossenheit.7 Wie wir nachweisen konnten, kommt Heidegger zu seiner Interpretation der Wahrheit im Ausgang von dem traditionellen Wahrheitsbegriff. Dabei ist seine Interpretation des Aussagesatzes entscheidend. Das Wahrsein der Aussage bedeutet für Heidegger: Sie entdeckt das Seiende an ihm selbst. An diesem Punkt seiner Interpretation greift er zurück auf die aristotelische Bestimmung der Aussage als eine apophansis, die das „Seiende in seiner Entdecktheit“ sehen lässt (218). Das „Sehen-lassen“ der apophansis schlägt die Brücke zu Heideggers Interpretation der aletheia: „Das Wahrsein des λγος als πφανσις ist das ληθυειν in der Weise des ποφανεσθαι : Seiendes – aus der Verborgenheit herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen lassen“ (219). Die α-privans der a-letheia wird vom apophainesthai her ausgelegt. Weil das apophainesthai als ein Sehenlassen bestimmt ist, muss man wohl sagen, dass das aletheuein eine Aktivität ist, und zwar eine Aktivität, die etwas aus der
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Verborgenheit herausnimmt und es in seiner Unverborgenheit hervorbringt, d. h. ent-deckt. Die entscheidende Rolle des apophainesthai wird sichtbar, wenn man bedenkt, dass Heidegger bereits im Paragraphen 7 von „Sein und Zeit“ die Methode der Phänomenologie im Hinblick auf das apophainesthai auslegt. Der logos der Phänomenologie wird verstanden als ein apophantischer logos: „Phänomenologie sagt dann: ποφανεσθαι τ φανομενα: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ (34). Heideggers Begriff der Phänomenologie ist bedingt durch die eigentümliche Interpretation dieses Terminus, der zugleich eine wichtige Rolle in der Bestimmung von Dasein als Erschlossenheit spielt. Sein ist ja erschlossen im Dasein und ermöglicht die Entdeckung des Seienden, d. h. die jeweilige Sicht, in der Seiendes sich zeigen kann. Wahrheit, Dasein und Sein besitzen einen visuellen Sinn, und die phänomenologische Methode, der Begriff des Menschen als Dasein, die ontologische Differenz und die Bestimmung der Wahrheit sind zutiefst miteinander verbunden. Heideggers Methode der Phänomenologie in „Sein und Zeit“ wird weniger dadurch gekennzeichnet, dass die verschiedenen Aussagen über die Sache an der Sache ausgewiesen sein müssen, als vielmehr dadurch, dass sie die Sache selbst im Sinne des Sehens und Erscheinens fasst. Die primäre Interpretationsvorgabe der Daseinsanalytik liegt in der vorgängigen Orientierung der Hermeneutik selbst, die in ihrer „phänomenologischen“ Untersuchung des menschlichen Daseins fragt nach der inneren Möglichkeit der jeweiligen Erschlossenheit, in der das Seiende sich zeigen kann. Vielleicht aber wird das menschliche Sein dann von einem Schema heraus interpretiert, das im Grunde noch immer dem Erfahrungsbereich des theoretischen Lebens zugehört (das ja auf die Anschauung und Erscheinung des Seienden bezogen ist). Zwar hat Heidegger die okuläre Dominanz in der Begrifflichkeit der Tradition kritisiert, aber es gibt kaum einen Denker in der Geschichte der Philosophie, dessen zentrale Termini so oft eine visuelle Konnotation haben, auch, oder gerade dann, wenn er das menschliche Sein interpretiert: Umsicht, Vorsicht, Rücksicht, Durchsicht, Hinsicht, Übersicht, Hinblick, Augenblick, Durchblick, Lichtung usw. Die Wahl solcher visueller Termini wird bestimmt durch die Grunderfahrung, aus der heraus das menschliche Sein im Sinne des Daseins ausgelegt wird. Damit werden bestimmte Facetten des menschlichen Lebens nicht hinreichend beachtet. Ist es zum Beispiel zufällig, dass wir der Frage nach Gut und Böse in „Sein und Zeit“ überhaupt nicht begegnen, obwohl es sich um eine Fundamentalanalytik des menschlichen Seins handelt? Aber können wir überhaupt verstehen, worum es Dasein in seinem Sein geht, ohne diese „agathologische“ Dimension des Selbstverhältnisses und -verständnisses zu behandeln?
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II. Kritik an Heideggers Analyse der Bewährung des Aussagesatzes – Aufweisung der Wahrheit als ein gerecht werdendes Eingedenksein Wie Husserl interpretiert auch Heidegger die Bewährung des Aussagesatzes als eine Identifizierung. An der Wahrnehmung des schiefen Bildes an der Wand zeigt sich, dass es das Bild selbst ist, das in der Aussage – „das Bild an der Wand hängt schief“ – als Entdeckend-sein gemeint ist. Nur die Wahrnehmung ist hier im eigentlichen Sinne entdeckend; erst sie nimmt wirklich das Seiende aus seiner Verborgenheit heraus, um es in seiner Unverborgenheit sehen zu lassen. Nicht das Entdeckend-sein der Aussage wird ausgewiesen durch die Wahrnehmung, sondern nur ihre Prätention (das Seiende an ihm selbst aufzuweisen) wird durch sie bewährt.8 Wenn man behauptet, dass bereits die leermeinende Aussage offenbar macht, und zwar so, dass einer schon irgendwie auf ein Seiendes bezogen ist und gerade dies Bezogensein Entdecken genannt werden kann, möchte ich erwidern, dass wir eine Aussage nicht bereits aus dem Grunde wahr nennen, weil sie über etwas handelt. So ist auch das flüchtige Bezogensein auf etwas noch keine Wahrheit. Erst die Wahrnehmung ergibt den „intuitiven“ (Sichtbarkeits-)Gehalt der Identifikation. Wenn wir mit Heidegger nach der inneren Möglichkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes fragen, so müssen wir doch auch fragen, wie dieser Vollzug der Identifikation überhaupt möglich ist. Dass ich in einer Aussage intentional auf etwas bezogen bin, bedeutet ja nicht, dass ich es auch bleibe. Meine spezifische „Andacht“ (oder Aufmerksamkeit) für die Sache kann verschwinden.9 Hinzu kommt, dass in Heideggers Beispiel die Tendenz zur Bewährung ursprünglicher als das Entdecken der Wahrnehmung zu beobachten ist. Für die Identifikation ist es notwendig, dass ich bei der Sache verweile. Wenn jemand eine Aussage bewährt durch eine „konzentrierte“ Wahrnehmung, dann ist er der Sache schon eingedenk als etwas, auf das seine Andacht gerichtet ist. In einer theoretisch-apophantischen Aussage ist jemand der Sache aber in einem spezifischen Sinne eingedenk. Er sagt nicht, dass er die Sache schön findet oder dass er sie für etwas braucht, sondern dass er von sich selbst absieht und seine Aufmerksamkeit auf die Sache richtet. Er ist der Sache in dem Sinne eingedenk, dass er in seinen Aussagen nur die Sache selbst denken und zur Sprache bringen möchte. Heidegger fragt nicht, wo diese Motivation zur Bewährung der Aussage herkommt und was sie bedeutet. Bewährung impliziert Konzentration, die jedoch auf die Situation des Eingedenk-Seins zurückweist. In diesem Eingedenk-Sein selbst wird die Sache einerseits unterschieden von dem eigenen Denken und als „Sache selbst“ gesetzt, anderseits bezieht das Denken sich gerade dadurch auf eine spezifische Weise auf die
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Sache, und zwar so, dass es der Sache gerecht werden möchte.10 Heideggers Begriff der Wahrheit im Sinne des Entdeckens ist am Visuellen orientiert und entbehrt dieser Dimension der Motivation, die sich im Wahrheitsvollzug manifestiert. Wenn Heidegger diese Motivation auf die Stimmung zurückführt, so ist sie nicht in dem Wahrheitsbegriff selbst zum Ausdruck gebracht, der primär an dem Verstehen und ihrer Sicht- und Blick-Terminologie orientiert ist. Die Aussage, die Identifikation und die Wahrnehmung werden durch dies gerecht werdende Eingedenksein umfasst und motiviert. Wenn wir an Heideggers transzendentales und vollzugshaftes Wahrheitskriterium aus „Sein und Zeit“ anerkennen, dass dies Eingedenksein das Phänomen der Wahrheit und die Identifikation ermöglicht, so könnte es die ursprüngliche Wahrheit genannt werden, oder die Wahrhaftigkeit. Diese Wahrhaftigkeit liegt nicht nur dem apophantischen und theoretischen Erkennen zugrunde, sondern jedem wahrhaften Umgang mit Menschen und Dingen. Nehmen wir z. B. die Frage „Wie geht es dir?“ (die keineswegs eine apophantische Aussage ist). Diese Frage kann motiviert und bestimmt sein durch das Eingedenksein, in dem ich jemandem gerecht werde und ihn zu seinem Recht kommen lasse. In diesem Sinne kann sie in einer bestimmten Situation „wahr“ genannt werden. Jedes andächtige Verhalten, in dem der Mensch einer Sache eingedenk ist und ihm gerecht wird, ist eine Art von Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Dazu gehören z.B. der sorgfältige, theoretische, künstliche und tugendhafte Umgang mit etwas. Vielleicht scheint diese Ausweitung des Wahrheitsbereiches beliebig. Ein solches Urteil trifft aber nur insofern zu, als man die theoretische Bestimmung der Wahrheit als die einzig richtige voraussetzt und nicht nach der Grundhaltung fragt, die sie ermöglicht. Bereits Aristoteles versteht die techne und phronesis als Haltungen des Denkens, in denen der Mensch für die Wahrheit sorgt und wahrhaft ist – aletheuein. Die gute Handlung ist eine Handlung, in der der Mensch tat-sächlich einer Situation gerecht wird – andächtig dasjenige tut, was nötig ist, wie es nötig ist, für wen, womit und worum willen usw., während er in seinem Überlegen und Handeln des guten Lebens im Ganzen eingedenk ist. Aristoteles versteht das Wohlberatensein, das die gute Handlung begleitet und ermöglicht, als eine Art von Richtig- oder besser vielleicht Recht-sein (orthotes). Die Wahrheit der Handlung besitzt für Aristoteles den Charakter eines der Situation gerecht werdenden Eingedenk-Seins, in der der Tugendhafte nicht nur der Situation, sondern auch sich selbst gerecht wird. Wie steht es nun aber um das Wort „wahr“ selbst? Liegt in diesem Wort ein Sinn, der sich mit dem gerecht werdenden Eingedenksein vereinigen lässt? Das ist in der Tat der Fall: Im Althochdeutschen bedeutet „wara“ so viel wie Vertrag, Gunst und Treue, im Mittelniederländischen ist „ware“
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bzw. „waer“ auch eine Bürgschaftsleistung und Gewähr, im Altenglischen ist „waer“ Übereinkunft, Schutz und Treue, im Altnordischen schließlich heißt „varar“ Gelübde. Obwohl es das Wort „wahr“ nur in den westeuropäischen Sprachen gibt, gehört es zu einer größeren Familie, die sich um die indoeuropäische Wurzel *uer gruppiert, die so etwas bedeutet wie Freundlichkeit. Das englische Wort „truth“ weist etymologisch auf das Element der Treue, das in der ursprünglichen Erfahrung von Wahrheit vorhanden ist und die (freundliche und liebevolle) Bindung und Verbundenheit zwischen Menschen zum Ausdruck bringt. Das Wahre als Treue, Schutz, Gunst und Bürgschaft ist die Äußerung eines gerecht werdenden Eingedenkseins, das auch in solchen Wörtern wie wahren, bewahren, verwahren und wahrnehmen anklingt. Dass wir das gerecht werdende Eingedenksein eine ursprüngliche Wahrheit nennen, ist demnach keineswegs beliebig. Das Eingedenksein als ein Wahren und Wahr-nehmen der Sache – Acht auf sie geben im Umgang mit ihr – ist seinem Wesen nach ein Sorgen für sie. Dergestalt rückt diese Bestimmung der Wahrheit in die Nähe von Heideggers Begriff der „Sorge“: ein Begriff, der eine großartige Intuition Heideggers ist, der er jedoch nicht völlig gerecht wurde, da er die Sorge primär im Hinblick auf Erschlossenheit und Entdecktheit interpretiert. Die ständig visuelle Begrifflichkeit, mit der das Verhältnis von Dasein zum innerweltlichen Seienden und Mitdasein interpretiert wird, verdeckt z. B. die eigentümliche ontische „Verwachsung“ mit Menschen und Dingen im Sinne von Anhänglichkeit, Verhaftung, Gewöhnung und Zuneigung, in denen der Mensch für seine Welt sorgt. Obwohl Heidegger das Mitsein als ein Strukturmoment des Daseins anerkennt, bespricht er beispielsweise weder die Liebe noch die Freundschaft, obwohl beides ontische Verhältnisse sind, die von großer Bedeutung im Bereich des menschlichen Handelns sind.
III. Der apophantische logos und die Interpretation der aletheia Wie wir bereits erwähnten, versteht Heidegger die Aussage im Hinblick auf das apophainesthai, das er als ein „von ihm selbst her sehen lassen“ interpretiert. Unter dieser Voraussetzung nähert sich apophainesthai der Bedeutung des aletheuein an: Seiendes aus der Verborgenheit nehmen und in der Unverborgenheit sein lassen. Demgegenüber sagt Aristoteles vom logos apophantikos, dass in ihm entweder ein aletheuein oder ein pseudesthai liegt. Kann die Aussage ebenso wahr wie unwahr sein, ist Heideggers Interpretation des apophainesthai nicht unproblematisch. Wieso lässt der logos apophantikos als solcher das Seiende von ihm selbst her (apo)
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sehen, wenn er nicht nur wahr, sondern auch unwahr sein kann, also auch die Möglichkeit hat, die Sache zu verdecken? Auch für Aristoteles liegt in der apophantischen Aussage eine intentionale Beziehung zur Sache, die es gerade ermöglicht, dass sie wahr oder unwahr sein kann.11 Es wird etwas über etwas ausgesagt, und zwar so, dass etwas entweder der ansichseienden Sache zugesprochen (kataphasis) oder abgesprochen (apophasis) wird. Aristoteles bezeichnet diesen Vorgang als eine zusammensetzende Auseinandersetzung (diairesis/synthesis) bezüglich einer zusammengesetzten Sache. Das Zusprechen (Affirmation) oder Absprechen (Negation) geschieht in der dianoia, dem unterscheidenden Verstand. Wenn Wahrheit „die Zusprechung bei dem Zusammenliegenden und die Absprache bei dem Auseinanderliegenden […] (und) die Unwahrheit das Gegenteil dieser Verteilung impliziert“,12 befinden sich Wahrheit und Unwahrheit in der dianoia und nicht in der zusammengesetzten Sache selbst. Allerdings gibt es auch eine Wahrheit, die nicht von der Sache unterschieden, sondern eins mit ihr ist: die Wahrheit des einfachen nous, der sich die Wesenheiten denkt und in dem diese einfachen Wesenheiten (was etwas ist) ihr ewiges Bestehen haben. Einfache Wahrheit und einfaches Sein gehören zusammen im Denken; hier existiert überhaupt keine Unwahrheit. Dass Aristoteles den apophantischen logos und seine Wahrheit in diesem Sinne von der Wahrheit des einfachen nous unterscheidet, ist für unsere Betrachtung wichtig. Denn es bedeutet, dass das oben genannte apophainesthai etwas zu tun hat mit dem wesentlichen Unterschied zwischen dianoia und der zusammengesetzten Sache. In dem logos apophantikos spricht die verbindende und unterscheidende dianoia sich aus bezüglich etwas, das außer dieser Tätigkeit des Verstandes irgendwie an sich „ist“. Diese Aussage braucht nicht wahr zu sein; es wird nur ein bestimmter Anspruch auf Wahrheit gemacht – es wird nur etwas behauptet über etwas; ob diese Behauptung wahr ist oder nicht, muss sich erst noch an der zusammengesetzten Sache selbst zeigen. Ich bin überzeugt, dass die traditionelle Übersetzung der apophansis als „Behauptung“ wahr und richtig ist, weil sie die vorausgesetzte Einheit und Differenz zwischen dem Verstande und der Sache anerkennt. Das apophainesthai ist nicht gleichzusetzen mit „etwas von ihm selbst her sehen lassen“. Vielmehr geht es um einen logos, in dem eine Meinung oder Auffassung über etwas bekundet bzw. verkündet wird. Jemand äußert sich, spricht seine Meinung aus, offenbart sich (phainesthai) bezüglich der Sache, und zwar von sich aus (apo); er gibt seine Auffassung darüber kund, verkündigt etwas, gibt etwas für etwas aus. Dabei spricht er etwas aus, was er entweder der Sache zu- oder abspricht.13 Wir haben gesehen, dass Heidegger seinen Begriff der Wahrheit als
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Unverborgenheit zurückführt auf die griechische aletheia, die er im Zusammenhang mit dem apophainesthai interpretiert. Heidegger interpretiert die a-privans der a-letheia als eine Bewegung, in der etwas aus der Verborgenheit in die Unverborgenheit kommt, also im Sinne des deutschen Präfixes „ent-“, wie Heidegger es im Ent-decken, Ent-hüllen und Ent-bergen zum Ausdruck bringt. Das Verbum aletheuein wird im Hinblick auf das apophainesthai interpretiert: Seiendes – aus der Verborgenheit herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen lassen. Die verschiedenen Bedeutungen der aleth-Wörter etymologisch zu verstehen, stellt aber ein großes Problem dar. Ich erwähne einige dieser Bedeutungen aus der üblichen Sprache: alethes wird genannt 1. die „richtige“ und „vollständige“ Beschreibung eines Geschehnisses, 2. das „echte“ Gold, 3. ein „sorgfältiger“ Mensch oder Umgang mit etwas, 4. ein „wahrhafter“ und „ehrlicher“ Mensch. Aletheia kann bisweilen „gerecht sein“ und „wahrer Ruhm“ bedeuten. Das aletheuein hat als primäre Bedeutung „wahrhaft sein“, „die Wahrheit sagen“. Nicht nur ist es keineswegs klar, wie sich diese Bedeutungen aus Heideggers Etymologie verstehen lassen, zugleich springt aus ihnen eine gewisse „ethische“ Dimension der aletheia hervor, die in Heideggers Interpretation verschwunden ist. Damit erhebt sich die Frage, wie die aletheia verstanden werden muss. Heidegger interpretiert die aletheia im Rahmen eines im Grunde genommen theoretischen Methodenbegriffs. In seinem Beispiel der Bewährung einer apophantischen Aussage durch die Wahrnehmung bestimmt Heidegger diese Bewährung primär als ein Entdecken. Auf diese Weise erhält sein Wahrheitsbegriff ungewollt eine implizit „theoretische“ (d. h. anschauende) Verhaltungsweise, in der Wahrheit sich primär orientiert an der erscheinenden Welt. Es gibt auch andere Weisen des Bewährens, die sich nicht als ein Entdecken bestimmen lassen, sondern die Wahrheit des eigenen Verhaltens bedeuten. Das große Problem bei der Interpretation der aletheia ist die Neigung, Wahrheit in einem theoretischen Sinne aufzufassen und auf diese Weise den vortheoretischen Ursprung des Wortes zu übersehen. Wie bei unserem Wort „wahr“ muss man den ursprünglichen Sinn der aleth-Wörter im Kontext des praktischen Lebens verstehen. So treffen wir im „Etymologicum Magnum“ eine der ältesten etymologischen Interpretationen der aletheia, die nach dem bisher Dargelegten sehr einleuchtend erscheint. Das Substantivum alethes wird bestimmt als to me lethe hypopipton – als dasjenige, was nicht unter den Bereich oder Einfluss der lethe fällt, das, was nicht empfänglich ist für lethe und deswegen auch ohne lethe ist. Verstehen wir die lethe im Sinne des Vergessens, dann bedeutet alethes dasjenige, wofür es keine lethe gibt. Verstehen wir den Stamm „leth“ nicht nur im Sinne des Vergessens, sondern im Zusammenhang mit lanthanein,
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dann ist der etymologische Sinn des alethes – dasjenige, was nicht in den Bereich der Verborgenheit fällt. Die von uns dargelegte Etymologie des alethes ist die Umkehrung von Heideggers Interpretation, die das „Un“ der Un-verborgenheit im Sinne des „Ent-“ deutet. Das alethes ist jedoch nicht dasjenige, was der Verborgenheit entrissen ist, sondern das genaue Gegenteil: dasjenige, was keine Verborgenheit zulässt, was sich nicht verbirgt oder verbergen lässt. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu bedenken, dass die lethe durch die Griechen oft als ein negatives Phänomen empfunden wurde: als etwas, das jeweils, wie eine bedrohliche Macht, den Menschen ergreifen könnte, womit dasjenige, was wichtig für ihn ist, sich seiner Andacht entzieht. Das Vergessen der lethe hat Konnotationen wie keine Andacht für etwas haben, nicht gut sorgen für etwas oder jemand, vernachlässigen, verwahrlosen. Bei Platon begegnen wir der lethe als der Ebene, durch die der Strom mit dem Namen Ameles fließt – die Unsorgsamkeit, die Vernachlässigung oder Verwahrlosung. Bei Hesiod gehört lethe zur Nachkommenschaft der Nacht; sie ist zusammen mit Morden und unwahrhaften Wörtern die böse Tochter der Epis (Zwist). Wenn wir die Verborgenheit und Vergessenheit der lethe unter Berücksichtigung dieser Konnotationen lesen, so wird klar, wie die a-privans der a-leth-Wörter die oben genannten Bedeutungen hervorruft. Wir hatten bereits erwähnt, dass Heideggers Interpretation der aletheia mit seinem Methodenbegriff und seiner Bestimmung des logos apophantikos zusammenhängt. Die Dominanz der visuellen Begrifflichkeit hat sich in Heideggers Interpretation der aletheia – und das heißt zugleich Wahrheit – festgesetzt. In unseren bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass der ursprüngliche Sinn der aletheia sich nicht primär oder jedenfalls nicht ausschließlich in einem visuellen Sinne verstehen lässt. In Bedeutungen wie sorgfältig, ehrlich, wahrhaft und gerecht ist eine gewisse „ethische“ Dimension im aleth-Stamm, die uns im Kontext des praktischen Lebens vertraut ist. Wollen wir diesen Sinn der Privation der lethe besser verstehen, dann müssen wir die Gegensätze dieser Bedeutungen näher bestimmen: „Unsorgfältig sein oder mit etwas umgehen“ bedeutet weniger: es nicht sehen, sondern ohne Aufmerksamkeit und Achtung mit etwas umgehen, es verwahrlosen in dem, was es ist, es nicht zu seinem Rechte kommen lassen, sich nicht mit ihm verbunden und für es verantwortlich fühlen. „Unwahrhaft- und unehrlich-sein“ bedeuten, dass er dem Anderen etwas verheimlicht, ihn betrügt, ihn belügt und in diesem Sinne sich vor ihm verbirgt. Das kommt noch schärfter heraus im „ungerecht-sein“, wo es darauf ankommt, das Recht des Anderen zu verletzen, ihn nicht zu seinem Recht kommen lassen. Die Privation der lethe bedeutet jeweils, dass einer nicht die (gute und rechte) Einheit und Zusammengehörigkeit mit jemand oder
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etwas durchbricht, sondern sie bewahrt. Insofern dabei die lethe als eine destruktive, bedrohende Macht erfahren wird, geht aus der Konnotation „sich dieser lethe zur Wehr setzen“ hervor. Dies ist der ethische Sinn, der in dem aleth-Stamme beschlossen liegt. Bekanntlich hat Aristoteles das aletheuein als das edle Werk der fünf dianoetischen Tugenden bestimmt. Diese guten und schönen Haltungen sorgen gleichsam für die Wahrheit. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Aristoteles nur die phronesis (prudentia – Verständigkeit oder Bedachtsamkeit) als eine a-lethes hexis, d. h. als eine wahrhafte Haltung definiert, die nicht vergessen wird.14 Der bedachtsame Mensch ist nicht bisweilen verständig, sondern ständig. Er überlegt mit Bedacht, was er am besten tun kann. Eine solche Haltung kann nicht vergessen werden, sie verwahrt sich selbst und ist als verständiges Handeln die Wahrheit der Praxis. Im Bereich des Theoretischen versteht Aristoteles den nous als das unvergängliche göttliche Wesen, das überhaupt keine Unwahrheit hat und die höchste Wahrheit selbst darstellt. Als Denken des Denkens ist das Sein des nous zugleich Wahrheit, die der Mensch entdecken kann, da der göttliche nous in gewissem Sinne bereits in ihm ist. Damit ist die Wahrheit des nous nicht selbst Entdecktheit, sonst würde der menschliche Weg zur höchsten Wahrheit mit der Wahrheit selbst zusammenfallen. Das Höhlengleichnis Platons erzählt uns zwar, dass der gute und wahrheitsliebende Philosoph aus der Verborgenheit herauskommt, aber dabei entdeckt er auch, dass der Wahrheit selbst keine Verborgenheit anhaftet. Das eigentliche Wahre und Seiende ist nicht mit Dunkelheit vermischt. Die Sonne und das Licht sind Symbole eines Bereichs, in dem es überhaupt keine Verborgenheit gibt. Da dieser Bereich nicht empfänglich für die Verborgenheit ist, ist er als der Grund der kosmischen Ordnung erfahrener als das Gute (das einem bürgt). Dass sich der Mensch laut Platon der höchsten Wahrheit wieder erinnern kann (anamnesis), macht uns darauf aufmerksam, dass die aletheia im Grunde genommen nicht völlig vergessen werden kann, dass sie unvergesslich ist.15 Heidegger betont oft, dass die griechische Erfahrung der aletheia von unserem Verständnis der Wahrheit grundsätzlich verschieden ist. Seine Bestimmung der aletheia ist jedoch von einer theoretischen Herkunft geprägt, die nicht mit der griechischen Erfahrung zusammenfällt. Vergleichen wir unsere Interpretation von Wahrheit mit der ursprünglichen Bedeutung von aletheia, ist eine gewisse Verwandtschaft zwischen beidem unübersehbar. Das Wahre im Sinne von Bürgschaft, Schutz, Gunst, Freundlichkeit und Treue haben wir als ein gerecht werdendes Eingedenksein interpretiert. Der Eindruck der Verwandtschaft verstärkt sich, wenn wir den etymologischen Sinn der aleth-Wörter verstehen als nicht empfänglich sein für Vergessenheit oder Verborgenheit und an Bedeutungen
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wie sorgfältig oder Gerechtsein denken. In der aletheia klingt jetzt Bürgschaft, Gewähr, die Zuverlässigkeit, das Wahren und Sorgen für etwas an. Die theoretische Bestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung lässt sich in ihrem Vollzug als ein Modus und Moment dieser ursprünglichen Wahrheit verstehen.
IV. Heidegger und die Frage nach der Wahrheit Unbestritten ist das große Verdienst der Phänomenologie des frühen Heidegger, die Aufmerksamkeit darauf gelenkt zu haben, wie schwierig es ist, den Sachen verstehend näher zu kommen. Wie wir dargelegt haben, bestimmt sein Begriff der phänomenologischen Methode jedoch die Auffassung der Sache in ihrem Sein und ihrer Wahrheit. Die in der Forschungsliteratur seit langem bekannte Spannung zwischen realistischen und transzendentalen Motiven in Heideggers Fragestellung geht im Grunde genommen auf diese Zweideutigkeit seiner Methode zurück. Die Dominanz der (transzendental-)visuellen Motive ist sowohl im frühen Werk als auch im Seinsdenken des späten Heidegger der Fall. Hier aber begegnen wir dem ursprünglichen Sinn von Wahrheit und aletheia, den wir in unseren Ausführungen herausgearbeitet haben. Der Mensch im technischen Zeitalter bestellt das Seiende als Bestand. Der Rhein und der Baum im Schwarzwald „sind“ ein solcher Bestand, die im „Gestell“ zum Vorschein kommen. Aus diesem Grund ist das Wesen der modernen Technik die aletheia in Heideggers Sinne, d. h. eine Weise des Ent-bergens. Dieser Begriff der aletheia reicht Heidegger nicht aus, um das menschliche Verhältnis zum Sein und Seienden zu bestimmen: „Jedes Geschick eines Entbergens ereignet sich aus dem Gewähren und als ein solches.“16 Daraus folgt: Die Weisen des Entbergens gründen in einem Gewähren. Die Erfahrung, die wir in der griechischen aletheia und Wahrheit antrafen, erscheint bei Heidegger als Hinter-grund und tiefstes Wesen der Wahrheit. Was Heidegger in seiner Bestimmung der aletheia nicht zum Ausdruck bringt, tritt nachträglich hinzu: die „ethische“ Dimension. Das geschieht im Gedanken des Gewährenden: „Das Gewährende, das so oder so in die Entbergung schickt, ist als solches das Rettende. Denn dieses läßt den Menschen in die höchste Würde seines Wesens schauen und einkehren. Sie berührt darin, die Unverborgenheit und mit ihr je zuvor die Verborgenheit alles Wesens auf dieser Erde zu hüten.“17 Im Zentrum von Heideggers Seinsdenken treffen wir eine Bestimmung, auf die wir bereits in der ursprünglichen Erfahrung der Wahrheit und der aletheia gestoßen sind. Damit aber könnte wohl auch der Sinn der Seinsfrage selbst sich radikal verwandeln.
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Anmerkungen Vgl. Parmenides, DK 28 Bl. Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke (GW), Band 2, Tübingen 1990, 46. 3 Ders., GW 1, 490. 4 Ebd., 491. 5 Dieser Aufsatz stützt sich weitgehend auf mein Buch De Verwaarlozing van het zijnde (Die Verwahrlosung des Seienden), SUN 2001, in dem ich, im Rückgriff auf Aristoteles, eine „ethologische“ Kritik am Denken des jungen Heidegger dargelegt habe. 6 Martin Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), Tübingen 1984, 216. 7 Zum Terminus „Lebensintentionalität“ vgl. „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles“ (PIA), Dilthey-Jahrbuch 1989, 237–269. 8 Husserl versteht die Identifikation deshalb als eine Bedeutungserfüllung, in der der intuitive Gehalt, d. h. Sichtbarkeitsgehalt, der intentionalen Beziehung zunimmt. Im „Nur-etwas-sagen“ ist der intuitive Gehalt gleichsam auf dem Nullpunkt; man ist zwar auf den Gegenstand bezogen, aber nur im Modus des Leermeinens. Erst in der identifizierenden Wahrnehmung zeigt sich der Gegenstand wirklich so, wie er gemeint war. 9 Andacht verstehe ich hier als eine Art von Denken, das sich auf eine Sache richtet, sorgfältig mit ihr umgeht und ihr gerecht wird. Das Wort hat im Deutschen leider nicht diese Bedeutung, die im Niederländischen selbstverständlich ist. Ich möchte es jedoch wortwörtlich übersetzen, da es innerhalb meiner Überlegungen ein sehr wichtiger Begriff ist. 10 Laut Aristoteles ist das Zusammen- und Auseinandersetzen (synthesis/ diairesis) von Denken und Sache in diesem Eingedenksein ein und dieselbe Bewegung. Es ermöglicht sowohl das apophantische Wahr- und Unwahrsein als eine Art von Selbstbeurteilung des Denkens als auch, dass der Mensch sich überhaupt in seinem Verhalten zum Seienden vertiefen kann. 11 Vgl. für diese Auseinandersetzung: Aristoteles, De Interpretatione, Kap. 1–6. 12 Aristoteles, Metaphysica, herausgegeben von W. Jaeger, 1027b20–23. 13 Nicht umsonst treffen wir die wichtigste Auseinandersetzung über den logos apophantikos in der Schrift von Aristoteles mit dem Titel PERI ERMHNEIAS – De Interpretatione. In der alltäglichen griechischen Sprache hat das apophainesthai eine ähnliche Bedeutung. 14 Vgl. dazu auch Gadamer GW 1, 322. 15 Hat nicht auch Heraklit eine ähnliche Erfahrung, wenn er fragt: to me dynon pote pos an tis lathoi – Wie könnte einer sich dem nie Untergehenden entziehen? DK 22 B16. Dies nie Untergehende ist die a-letheia, der logos, der das All in einer harmonischen Fügung verwaltet, und somit auch das Verhalten des Menschen als tauglich bestimmt und gewährt. Von diesem logos sondern sich aber die meisten Leute, die Unverständigen, ab. Deswegen ist es gerade für sie verborgen, was sie im Wachen tun, genau wie das, was sie auch im Schlaf vergessen – epilanthanontai. DK 22 B1. Heidegger sagt dazu: „Sie vergessen, das heißt, es sinkt ihnen wieder in die Verborgenheit zurück. Also gehört zum logos die Unverborgenheit, a-letheia“ (219). Damit wird jedoch die Wahrheit des logos vom Vergessen her bestimmt. Es 1 2
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ist aber gerade umgekehrt. Der logos ist das nie Untergehende, für das man sich nicht verbergen kann, nur die Unverständigen verbergen sich bei und für sich selbst – epilanthanontai. So entgeht ihnen, was die Wahrheit ist. Nur die Unverständigen sind demnach empfänglich für die gefährliche Verborgenheit und deswegen nicht a-letheia; sie wissen und tun nicht wirklich diese a-letheia, sie bewahren die Wahrheit nicht. 16 Heidegger, Martin, „Die Frage nach der Technik“, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1985, 34. 17 Ebd.
Brice R. Wachterhauser Finite Possibilities Gadamer on Historically-Mediated Truth Hans-Georg Gadamer’s philosophical hermeneutics is well known for the claim that all understanding is historically mediated. Following Heidegger’s insight that the very being of Dasein is time itself, Gadamer insists that all human understanding is marked by a fundamental historicity that connects all understanding to a past, to which it is internally related as a condition of possibility. Our involvement in history not only limits what and how we understand, but it’s also productive of new understanding. As I will argue, Gadamer claims that historicity both limits and enables us as knowers. Gadamer himself sometimes puts this point provocatively by claiming that our understanding is inevitably conditioned by „prejudices“ or prejudgments (Vor-urteile).1 Such prejudices reach out of the past to affect what we can understand and say in a way that always outstrips in some fashion the ability of our conscious reason to control. Hence for Gadamer, understanding is primarily an „event“ that happens to us and not one that we primarily orchestrate, control and preside over as rational agents. As historical beings, we inevitably find ourselves in a crucible of such events, which Gadamer calls a „history of effects“ (Wirkungsgeschichte)2. Our conscious judgments are much more a product of these historical effects, which are often unconscious. For Gadamer, such a history of effects constitutes the very nature of tradition itself, from which all understanding proceeds. Gadamer’s claims about the historicity of understanding, however, can make him vulnerable to worries about irrationalism, relativism and even a certain kind of conservatism. Irrationalism because it seems that as an event of tradition, understanding just happens to us willy nilly, as it were. Gadamer’s account of our fundamental historicity seems to leave no room for reason to gain a purchase or element of control independent of the movement of history itself. History seems, in Heraclitus’ image, a child playing draughts; each turn seems to throw us this way or that. If such is the case, it might also seem that Gadamer’s position amounts to an extreme version of relativism where any view is as valid as any other because all positions are equally products of historical forces over which we can exercise no autonomous, critical control. If history just happens to us arbitrarily, even in the realm of understanding, then who is to say that one understanding is superior to another in some normative, rational sense? In a
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similar line of argument, it might seem that Gadamer’s account allows no understanding to be seen as an „advance“ on a preceding one in the sense of offering a new and better understanding. This would seem to entail a conservatism in that there would be no normative, rational grounds for preferring any new understanding over a previous one.3 The only grounds for accepting an understanding would be the pragmatic grounds of what has worked before, i.e., we can only justify that understanding that has always and already allowed us to cope with a situation in a relatively acceptable way. Such an appeal, with its cautious, backward-looking glance, would seem to be inherently conservative. All of these concerns stem from a common worry that reason does not have the capacity to step back from its historical conditions and critically identify its own conditions and mistakes. There seems to be no way to improve upon a past understanding if all attempts to do so would have to be measured by the standards of the past and not by the inherent merits of the proposed change itself. It would seem that we are either dupes of a past that continues to hurl us forward to God knows where or we are condemned to repeat the past we know because no better alternatives could possibly be recognized as „advances“, even if they were to present themselves. In my view, the ability of Gadamerians to address these concerns depends on explicating a convincing Gadamerian account of truth. The ability of truth to emerge from history and to be recognized as such can save Gadamer’s account of historicity from irrationalism, extreme relativism and blind conservatism. But what is that account of truth? Does it exist anywhere in a clear and succinct form? It must be admitted that Gadamer’s account of truth does not exist anywhere in a formulaic account of the type that seems to be demanded by many philosophers today. One cannot give Gadamer’s account a convenient label such as a „coherentist“ or „correspondence“ theory of truth. Although there are elements in Gadamer’s account of truth that seem to fall within these theories, it would be misleading to simply identify Gadamer outright as being an unequivocal proponent of either theory. Moreover, Gadamer does not offer an account of truth that proposes a set of criteria for adjudicating conflicting truth-claims. Closer to the mark, one might say that Gadamer’s insight into historically-mediated truth claims purport to be more descriptive rather than normative; they are more concerned with what one experiences in the human sciences in the search for truth than how one justifies the outcome of such inquiry.4 If one were to point to some close family resemblances to Gadamer’s account, one can plausibly attempt to align Gadamer’s account of truth with Heidegger’s account of truth as a-letheia, as dis-closure. However, even here, there are differences that make any unqualified equation suspect.5
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In reality, what Gadamer says about truth can only be gleaned from a close and critical reading of his writing, particularly „Truth and Method“. I say a „close and critical“ reading because if we hope to understand Gadamer we must read him in the context of his entire argument in „Truth and Method“, a reading that must be self-disciplined enough not to identify Gadamer’s position too quickly with other philosophical positions we are familiar with and self-critical enough not to be taken in by rhetorical emphases in Gadamer’s writing, emphases that are sometimes read in abstraction from the dominant semantic import of the text read as a whole. The charges of irrationalism, relativism and conservatism stem, in my opinion, from just such a superficial and cursory reading of Gadamer’s work. To correct such a reading, we must begin by better understanding what Gadamer means by the claim that all understanding is historically conditioned, that it proceeds from tradition and is more a function of our „prejudices“ or „pre-judgments“ than our judgments. An adequate understanding of these claims depends on grasping first of all what Gadamer means by human „finitude“. The key insight can be summed up in the claim that historical finitude must be distinguished from historical determinism. I will return to this claim below. But if we hope to understand the Gadamerian account of truth we must understand more than Gadamer’s account of human finitude. We must also understand Gadamer’s insight into the relationships that exist between history, possibility and truth, insights that are suggestively summed up in the claim that truth „asserts itself by reason of its own merit within the realm of the possible and probable“ (TM, p. 485). Gadamer’s understanding of these relationships suggest at least the outlines of an account of both rational evidence and human freedom, accounts which finally point to the primacy of practical reason over theoretical reason in philosophical hermeneutics. It is my claim that if we hope to understand Gadamer’s account of truth and to use it to answer the charges of irrationalism, relativism and conservatism, we must not only understand what Gadamer does and does not say about human finitude, but we must also understand how the conceptual relationships of history, possibility, and truth are intertwined in Gadamer’s thought. Let me begin by discussing the specter of historical determinism that seems to haunt both the logic and rhetoric of Gadamer’s position. Consider the following quote from „Truth and Method“: „Does being situated within traditions really mean being subject to prejudices and limited in one’s freedom? Is not, rather, all human existence, even the freest, limited and qualified in various ways? If this is true, the idea of an absolute reason is not a possibility for historical humanity. Reason exists for us only in concrete, historical terms – i.e. it is not its own master, but remains constantly dependent on the given
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circumstances in which it operates […] In fact, history does not belong to us; we belong to it. Long before we understand ourselves through the process of self-examination, we understand ourselves in a self-evident way in the family, society and state in which we live. The focus of subjectivity is a distorting mirror. The selfawareness of the individual is only a flickering in the closed circuits of historical life. That is why the prejudices of the individual, far more than his judgments, constitute the historical reality of his being“ (TM, pp. 276, 277).
Such statements are typical of Gadamer’s claims regarding the relationship between human understanding and historicity. It is even understandable that such statements are often read in a deterministic way. What’s important to realize, however, is that at no time does Gadamer describe our relationship to historicity in strictly deterministic terms. Even claims such as „it [reason] is not its own master“, which move perilously close to determinism, actually stop short of embracing it. What does concern Gadamer in such claims is the pretension to absolute control of reason over its own conditions. On Gadamer’s account, such conditions are never completely transparent to reason, nor are they completely subject to reason’s control. This is the import of the claim that „the focus of subjectivity is a distorting mirror.“ Subjective self-awareness is limited in its capacity to control all that leads it to formulate its judgments. This implies that in all understanding there is always something that escapes our awareness and rational control. But to say that there is always something that escapes our awareness and control is not to say that we have no capacity for awareness and rational control. Such judgments are both suffered and enacted; they are the product of both our historical conditioning and our conscious freedom as rational agents. Such claims about the dependence of human reason on historical conditions are not claims about being blindly determined by history, but they are claims about the finitude of reason vis a vis history. Such finitude circumscribes and limits our freedom as rational agents, but it does not abrogate it. To say that our ability to be aware of our own historicity and its effects on us is limited, is not tantamount to a denial of selfawareness and the freedom that comes from such awareness, even if we must humbly admit that that awareness sometimes amounts to no more than a mere „flickering in the closed circuits of historical life.“ To be sure, our freedom and self-awareness are limited, as Gadamer’s metaphor of a light that merely flickers implies. Our finitude can catch us by surprise, suddenly revealing a dependence of which we were previously unaware. Such blindspots in our rational self-understanding do in fact limit our ability to be the masters of our own understanding, but they do not determine us to be the blind dupes of history as such. Even when we are called up short by our own blindness to some of the historical factors that
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condition and limit a particular understanding, we still have the capacity to react critically to that blindness and to correct our understanding accordingly. Although we can never say with certainty that we are finally done with such self correction – we remain always „finite“ and therefore fallible – the point is that Gadamer’s claims about the fact that all understanding stands in a tradition of Wirkungsgeschichte do not amount to an irrationalism. We are neither the masters of history nor its powerless pawns. Instead, we are finite participants in a process of emerging understandings, which occur neither arbitrarily as a matter of course, nor are they issued absolutely like decrees from a sovereign, ahistorical reason. Historical reason implies a limited capacity for self-critical control of our understanding, but it is a capacity that we genuinely possess and that Gadamer never denies. The fallibilism that our awareness of finitude imposes on us as a matter of logical necessity is meant to challenge the pretensions of reason and as such it may be unnerving to those who insist on such pretensions, but it does not undermine reason itself. Even as historically conditioned, reason has the capacity to critically rise above its current understandings, albeit in a limited, „finite“ way. Historically-affected consciousness is something that we both suffer and enact, although Gadamer’s emphasis on finitude makes it clear that our freedom to enact such judgments is always limited. Nevertheless, historicity cannot be cast as a straight jacket that completely immobilizes a real but limited rational freedom. In fact, one can claim for Gadamer that historically-conditioned reason has this finite capacity of self-critical transcendence because it is tied at least in part to something that transcends the conventions of a particular time, place or language. „[B]ehind all the relativities of language and convention,“ Gadamer writes, „there is something in common which is no longer language, but which looks to an ever possible verbalization, and for which the well-tried word ‘reason’ is, perhaps, not the worst“ (TM, p. 547). Other words that Gadamer uses more frequently to refer to this common point of reference for our disagreements are „world“ and „subject matter“ (die Sache). „Reaching an understanding in language places a subject matter before those communicating like a disputed object set between them. Thus the world is the common ground, trodden by none, recognized by all, uniting all who talk to one another“ (TM, p. 446). Gadamer calls the subject matter (die Sache) „the path and goal of mutual understanding itself“ (TM, p. 180). Despite the fact that Gadamer’s account is not primarily concerned with normative questions, I think that „reason“, „world“, and „subject matter“ are all normative terms in Gadamer’s thought. As such they provide normative touchstones that govern interpretation and understanding. Although I wish that Gadamer had attempted to draw some cru-
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cial distinctions between these terms, he does not clearly do so. For our purposes it suffices to say that human reason is a limited capacity to freely look to the world or subject matter as a guide for settling our disputes. This implies not only the relative freedom of reason from history, but also the relative freedom of the world or subject matter from our historically-conditioned disputes. In fact, Gadamer’s hermeneutics rests on the ontological claim that „being is self-presentation“ (TM, p. 484 ff.). Gadamer claims that the world, or the issues or subject matters (die Sachen) that constitute the world, have the capacity to guide our interpretations and even to manifest themselves in new ways through our interpretations. What all this means, however, particularly in light of the well-known plurality of interpretations and the disputes they give rise to, remains to be explored. One might wonder why these disputes are so frequent and seemingly intractable if reason is simply this capacity to look to a selfpresenting reality. It might seem that the problem is simply one of cultivating the right „method“ of disclosing the world or subject matter, reminiscent of, say, Husserl’s many attempts to develop a definitive phenomenological method. Such, however, is clearly not Gadamer’s approach. Historicity does in fact have a profound conditioning effect on how we understand, but what it means must also be understood in light of these oftoverlooked Gadamerian claims about reason and world. The world does present itself through historically-mediated interpretations, but to better understand this claim we must look more closely at how history mediates this understanding. As the long quote from Gadamer given above suggests, history affects us first of all through our relationships with others. We are inherently social beings that find ourselves always already with others in situations that are not of our own choosing. Such relations in such situations inevitably mean that we inherit and appropriate a set of concerns and questions that form a point of entry or perspective on the world. Such concerns and questions, however, need not place themselves between us and the world like an irremovable and impenetrable shroud. Instead, Gadamer sees them as a potential bridge or gateway to the world rather than an inevitable barrier keeping us from the world.6 Far from blocking our vision of the world, such concerns and questions offer us a perspective on the world; they are in principle a point of vision and not necessarily a point of blindness. Such concerns and concerns and questions constitute a historical standpoint, which we largely inherit by being socialized into a shared world of intelligible meaning. But it can be said that such a standpoint not only limits our vision as any limited or „finite“ standpoint would, but it must also be seen as enabling a vision of the world, a vision which is certainly open to expansion and development.
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Key to gaining this vision, however, is our ability to follow the logic of these questions. „The path of all knowledge leads through the question,“ writes Gadamer (TM, p. 363). For Gadamer, it is a matter of exploring the semantic space or field of intelligibility opened up by these questions. Gadamer sometimes calls this listening to the „inner word“7 of a discourse, the „word“, „words“, or linguistically-constituted „meanings“ that suggests themselves as a response to the question that animates a discourse. If we were destined both to start from and end with the concerns and questions that we more or less blindly inherit from our tradition, then they would be static givens that would act as a straight jacket. If such were our situation, then our understanding would indeed be blindly determined by the questions we inherit. But this is not the real situation in which we find ourselves. We can in fact make these questions and concerns our own, asking them ourselves, following their logic, responding to their semantic import and being attentive to how the world shows itself in their light. When we do this not only does the subject matter under concern begin to show itself, but other questions begin to suggest themselves, questions which in turn present new perspectives and yet further questions. For Gadamer, understanding is forever finite and historical because the world only shows itself through these historically-mediated questions. „Posing a question implies openness, but also limitation“ (TM, p. 363), he writes. There is no knowledge-claim, no claim to understanding that does not presuppose a question or a set of questions. There is no view of reality that does not pass through a series of questions. The ideal of an infinite intellect that would comprehend the whole of the world in a single timeless glance is not an ideal to which historical beings can successfully aspire. Neither is it possible for us to occupy all standpoints at once or even successively. We really have no idea of what such a standpoint, which would give access to all standpoints either successively or simultaneously, would be like. Such an imagined standpoint really would have us standing no place in particular. This is part of Gadamer’s point that a standpoint that would encompass all standpoints or transcend all standpoints is either contradictory or simply impossible. Either way, such an imagined vantage point is not possible for human reason. Our reason is finite and this implies that it is always relative to the questions we ask or that get asked through us. Gadamer claims that it is this dialectic of question and answer that „determines understanding as an event“ (TM, p. 472). Understanding „happens“ to us, because it occurs only in light of the questions we find ourselves asking. Such questions arise from the crucible of historically-affected consciousness and as such they are never entirely of our own making. Nevertheless, we can make such questions our own and follow their inher-
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ent sense down new paths of disclosure and discovery. We both inherit such questions by virtue of being „thrown“ into a historical situation and we can appropriate them or make them our own by following their inner logic to reach new insights. This is admittedly a tenuous position we find ourselves in as knowers. Our knowing and understanding is never entirely of our own making. We have a relative, finite freedom in these matters, but it’s just such an awareness of our tenuous position as knowers that Gadamer seeks to illuminate by his insistence that human reason is „finite“ or limited to the standpoint of the questions we ask. If, however, our rational freedom is finite from the point of view of our own Wirkungsgeschichte, it is also important to realize that understanding is also limited by and relative to the subject matter itself. Here we come back to the Gadamerian claim that „being is self presentation,“ a claim that Gadamer describes as „the first and last insight“ (TM, p. 484). Our questions are not self-answering; their answer depends on the subject matter itself and how it shows itself in their light. Although we formulate these questions, often from our historically-mediated pre-judgments, the answers to them need not be willfully imposed by us as questioners or blindly imposed on us by our prejudices. Instead, Gadamer insists that there is a sense in which the subject matter should determine and control the answer to our questions. Gadamer claims that the answers to our questions are not so much our doing as „the doing of the thing itself“ (TM, p. 421). Although human reason both inherits and formulates its own questions, we do not simply invent answers. Instead, we also „find“ them by looking to the subject matter itself. In the final analysis, Gadamer thinks that the subject matter itself plays a definitive role in determining the answers to our questions. Such an emphasis on „finding“ answers to our questions by looking to the subject matter itself suggests that Gadamer is a realist of sorts.8 I think this is true, but I would say that Gadamer’s is not the naïve realism of someone who simply thinks that intelligibility is inherent to reality, only waiting to be grasped by the mind disciplined enough not to interpose its own prejudices between its capacity for vision and world itself. Gadamer’s emphasis on the historically-mediated nature of all our understanding precludes such a realism, where intelligibility simply gives itself up to the right method. Gadamer’s emphasis on the role of our „prejudices“ in understanding also precludes the possibility of comparing reality unaffected or unmediated by our prejudices with our prejudices themselves. Nevertheless, Gadamer insists that the world or reality can show itself through our historically-mediated interpretations. What we understand when we understand something of the subject matter of our disputes is not necessarily our own prejudices, but the subject matter itself as historically-me-
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diated. In our interpretive efforts, what comes back at us from the subject matter need not be an inverted image of the prejudgments or questions through which we approach an issue. Rather the „things themselves“ can be reflected back in and through our historically-mediated inquiries. Gadamer would freely grant that such a „reflecting back“ is not a reflecting back of the subject matter absolutely or timelessly, but only a reflection of the subject matter presented relatively and finitely in light of the questions posed, but Gadamer’s „realism“ is a realism that rests on the insight that the relative, temporally-conditioned light of our „prejudices“ need not be seen as a light that is inherently foreign and inimical to the presentation of whatever is intelligible in the world. Far from necessarily hindering our contact with reality, such light from our historically-mediated questions actually makes the intelligibility of the subject matter manifest, but not manifest completely or all at once in a once and for all vision, but rather in ways that change with the questions asked and the light of the interpretations that emerge from them. In fact, the metaphor that a certain interpretation inevitably presents the issues in a certain light is a metaphor that is central to Gadamer’s thought. Taking his cue from the so-called metaphysics of light, Gadamer compares the „light“ of our questions to the light of the sun.9 Just as the sun is not identical with physical objects, but makes contact with them through visual perception possible, so the light of our questions is not to be confused with the subject matter of our questions. Nevertheless, it is by the historically-mediated light of our questions that the subject matter itself is illuminated and grasped. Of course, the sun affects what is seen in the perceptual world in such a way that what is seen is in a very important sense relative to the medium in which it is seen, but what is seen is still the „things themselves“, albeit in this limited, „finite“ medium of natural light. So, too, in the historically-mediated world, the light of our prejudices or questions conditions and relativizes what is seen, but what is seen is still the subject matter, albeit in the medium of our historically-affected questions. Gadamer’s claim that we are seeing the subject matters themselves, despite the fact that they are always historically mediated, is not strictly demonstrable. We can never step outside this mediated contact with intelligible reality and somehow compare it to an unmediated intelligible reality. Instead, Gadamer seems to appeal to the nearly ineffable immediacy of our encounters with these subject matters, an immediacy which could be compared to the nearly ineffable immediacy of our encounter with perceived objects. The immediacy of visual objects does not fade away to nothing once we become conscious of the fact that our encounter with such objects is highly mediated by both the conditions of the external
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world and by our own neurophysiology. Gadamer’s account of truth cannot be separated in the final analysis from this sense of immediacy. Repeatedly, Gadamer claims that the truth „presents itself“ with a kind of self-evidence. Such self-evidence, like the self-evidence of perception, is inherently immediate and immanent to our experience. We know of no vantage point outside such experience that would vouchsafe its veridicality. Nevertheless, there is something inherently compelling about the experience that one cannot verify independently of the experience itself. Just as perception gives us an encounter with something real outside ourselves, so interpretation gives us an encounter with something equally real in the realm of intelligible meaning and understanding. I think Gadamer almost posits this immediate givenness of the real in and through our historically grounded interpretations, because he knows that there is a tendency to cast hermeneutics in a kind of subjective idealist mold, a mold that would inevitably confuse the realities that we interpret with the interpretations themselves. This is decidedly not the direction of his position. Such a confusion undermines the very logic of interpretation itself, a logic or way of speaking (logos) that logically distinguishes that which is interpreted from its interpretation. Gadamer always insists that the subject matters of interpretation have a kind of integrity of their own that makes possible their „self-presentation.“ Although, he cannot demonstrate that interpretations „rub up against the real“, Gadamer maintains the reality of the things interpreted in distinction from the interpretations themselves in much the same way we might distinguish perceived objects from the perceptions through which we come into contact with them. Gadamer is cognizant, however, of a real difference between our experience of perceived objects and our experience of historically-mediated objects. Gadamer insists that views of different perceived objects are clearly distinct and discreet in ways that historically mediated views of the world are not. Gadamer argues that we can actually move in principle from any historically-mediated view of the world into any other because they are all internally related. „[W]hat the world is is not different from the views in which it presents itself […] each one [verbal worldview] potentially contains every other one within it – i. e., each worldview can be extended into every other“ (TM, pp. 447, 448). Although Gadamer speaks here of the world as interpreted through language, the same insight applies mutatis mutandis to the historically-mediated subject matters of our interpretations. Each interpretation contains in principle a view or perspective on the subject matter that is internally related to all other views of the subject matter. One might argue that if all interpretations are in principle open to each other, i.e., that one can find a logical way to link them, to demonstrate that
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they each contain the other somehow, that this amounts to an implicit Hegelianism or it implies a coherence theory of truth. While Gadamer’s view does imply that the subject matters of interpretation have a unified integrity, that they are, in other words, „one“ and as such are distinct from the „many“ interpretations of them, it does not imply that this unified being of the subject matter is readily accessible. What is potentially misleading about the claim that Gadamer is a coherentist of sorts is the presupposition that historically mediated truths can reach a level of fixity such that one could say here we have „the whole“ or here we have unambiguous coherence of either the world or of the various „things“ that make up the world. Gadamer might well say that such a claim to final coherence overlooks the relationship between historically-mediated truth claims, immediacy and the sense of possibility that is inherent to the experience of hermeneutical truth. Let’s look again at an excerpt from „Truth and Method“ on this issue: „The idea is always that what is evident has not been proved and is not absolutely certain, but it asserts itself by reason of its own merit within the realm of the possible and probable. Thus we can even admit that an argument has something evidently true about it, even though we are presenting a counterargument. How it is to be reconciled with the whole of what we ourselves consider correct is left open. It is only said that it is evident ‘in itself’, i.e., that there is something in its favor“ (TM, p. 485).
Here we see again the appeal to immediate evidence that I touched on above, but what becomes more apparent about Gadamer’s appeal to immediacy is that Gadamer does not understand such immediacy as arbitrarily acting like a court of last appeal, curtailing and stifling further argument. Instead, what „asserts itself by reason of its own merit“ opens up further lines of inquiry and debate. In the same context as the above quote, Gadamer compares this experience to our experience of the beautiful: „The beautiful charms us, without its being immediately integrated with the whole of our orientations and evaluations. Indeed, just as the beautiful is a kind of experience that stands out like an enchantment and an adventure within the whole of our experience and presents a special task of hermeneutical integration, what is evident is always something surprising as well, like a new light being turned on, expanding the range of what we can take into consideration“ (TM, pp. 485, 486).
The beautiful is indeed a mediated experience, but one aspect of our experience of the beautiful that intrigues Gadamer is it’s seeming ability to stand alone on it’s own terms and merits. Gadamer suggests that insofar as historically mediated truth claims are experienced like the beautiful, they are experienced as similarly self-standing. They open a horizon of ques-
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tioning and meaning that has to be approached on its own terms if it’s to be approached at all. In the logical space of truth claims, historically mediated truth claims can do this precisely because they don’t present themselves as „true absolutely“, but as „true possibly“. As „true possibly“ such claims are relative to the questions in light of which they offer themselves as answers. To say that such claims are „true possibly“ is not to say that they are temporarily uncertain, awaiting further confirmation or warrant, at which time they will become „true absolutely“ or „true simpliciter“ or, as the case may be, that they are awaiting definitive refutation, at which time they be revealed as simply false. Rather, it is to say that the truth of these claims can never be separated from the sense of the question that prompts the truth claim as its intended „answer“. Such „possible truths“ are not just lacking in certainty for the time being, but they lack the capacity for inherent certainty because they remain always internally related to the questions for which they function as answers. They are relative truths, truths relative to the realm of insight opened up by the questions posed. If this is the case, then one important implication is that propositions as such are never true or false, but only true or false relative to the question which gives them their sense. Thus „S is p.“ and „S is not-p.“ can both be true, but only relative to the questions to which they are answers. Whether such claims are reconciled with other apparently conflicting claims is not a condition of their truth. They stand on their own merits as possible truths that may or may not be taken up into other horizons. There is, as I see it, no conflict here with the classical law of non-contradiction. Such a principle merely states that contradictory propositions cannot both be true at the same and in the same respect. Gadamer’s account suggests that seemingly conflicting claims that take the form of „S is p.“ and „S is not-p.“ can both be true, but not in the same respect, but only relative to the different questions to which they present themselves as answers. There is in fact no known horizon or standpoint from which all these historically mediated truth-claims can be reconciled. The implication of this insight is a pluralism of truths, possible truths, each of which has the integrity to assert itself on its own merits and freely interact in our discourse. Historical finitude implies that no one person or community of inquirers will ever be in a position to reconcile all these claims, but Gadamer would not insist that this is necessarily a loss. What’s important is that we can experience their immediate claim on us. In doing so, we hold ourselves open to the integrity of the world in the only way it presents itself to us as finite beings, i.e. from the standpoint of historically mediated questions, questions that can (and often do) change with the changes in our historical context.
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Such change, however, need not be seen as an arbitrary event completely divorced from the concerns of rational beings. In fact, whether we take up this set of questions rather than another is often a function of practical reason, i.e. the choice is itself mediated by an insight into what is most morally urgent at this time for a particular community of inquirers. Such an insight is neither arbitrary in the sense that it just happens to us, nor is it strictly demonstrable. It involves a seeing that is both historically conditioned and able to penetrate to something true and essential of the subject matter, albeit relative to the questions themselves. Gadamer calls this element of interpretation the moment of „application“ (Anwendung).10 By application, Gadamer does not mean that first we somehow understand the subject matter at hand and then only subsequently apply it to our current situation. Application is not an afterthought of interpretation, but an essential, integral feature of it. In fact, interpretation is only possible because we bring our concerns to bear on a text or the issues that animate a text. This insight stems from the more fundamental insight that all interpretive perspectives are open to each other. Thus Gadamer insists that our morally-motivated interpretations do not necessarily shut us off from the subject matter. They would do so if they interposed something foreign to the subject matter between us and the issue at hand, but Gadamer insists that such morally-motivated concerns are not in priniciple foreign to the things themselves, but somehow inherent to them. In other words, seeing the issues in light of their potential practical application to us does not shut us off from the issues, but in principle can open us to the issues themselves. In principle, their intelligibility is made further manifest in the light of the different morally-motivated concerns that can be brought to bear on the issues. I say „in principle“ because there is such a thing as the arbitrary, unjustified interpretation that arises from willfully imposing a set of moral concerns that have no purchase in the things themselves. What differentiates such unjustifiable interpretations from the many justifiable interpretations is not that the former are morally-motivated and the latter are not. It is rather a matter, once again, of the subject matter itself. In other words, what differentiates justifiable interpretations from unjustifiable interpretations is not the presence or lack of morally-motivated starting points; all interpretations are mediated by such moral motivations. The valid ones, however, find a purchase in the issues of a text in a way that opens up both the text and the horizon of the interpreter. Space constraints do not allow me to explore this claim in any depth, but as an example consider the emergence of a „possible“ reading of a text like Plato’s Republic that highlights the relationship between the sexes from the perspective of promoting a future society that does not suffer
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from gender discrimination. From this perspective, we can see that Plato highlights the issue of the relation between the sexes by proposing that the „guardians“ have „all things in common“, all things including property, spouses, children, education and responsibility for the defense and common good of the state. In so doing, we can see that Plato is pointing to a state of affairs that was at best a remote possibility for his society, but perhaps more of a real possibility for us. In seeing interpreting Plato’s text in light of our contemporary concerns with gender equality, we „apply“ it in Gadamer’s sense to our situation. However, in doing so we do not necessarily falsify Plato’s position or our own. In fact we can become more aware of the differences between Plato’s situation and ours. Such an awareness of difference emerges from this moment of application and what is important to realize is that far from cutting us off from Plato’s concerns, it can actually open us to them. Such a perspective does not attribute a modern egalitarianism to Plato. Plato is not motivated by the modern concerns of individual dignity and freedom that motivate most modern concerns about gender egalitarianism. We can see clearly that while Plato’s concern for the good of the whole state requires a certain indifference to gender when it comes to deciding who should perform what functions within the state, it does not prevent him from asserting the general physical, psychological and intellectual superiority of men over women in ways that are clearly incompatible with egalitarian norms. Gadamer would say that such concerns neither shut us off from Plato’s concerns nor our own. Rather what happens in such instances of application is what Gadamer describes as a „fusion of horizons,“11 our own and the text’s. Gadamer insists that it would be a false abstraction to insist that the horizon of the interpreter is necessarily at odds with the horizon of the text. What happens in the moment of „application“ is an actual instance of the claim that the different horizons of the text and the interpreter are actually open to and internally related to each other. If this is the case, then our different practical concerns will mediate different questions from the questions that originally motivated a text like Plato’s Republic, but this fact will not preclude the possibility that our concerns can actually open the Plato’s text for us and in turn this text, as interpreted, can actually help us understand our own position better. Gadamer would insist that when such a fusion of horizons takes place the intelligibility of the subject matter is actually deepened and enhanced or even expanded. Such an event is neither the arbitrary imposition of meaning on the subject matter itself, nor a discovery of a timeless truth. It is instead the emergence of a „possible truth“ whose sense is limited to the morally-motivated questions that animate it and that give it a point of purchase on the things themselves, things that motivate both Plato and us,
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albeit in different ways. Such questions belong to the issues themselves in such a way that new questions actually can elicit new aspects of the intelligibility of issues. Such questions shed a new light on the issues and in their light new ways of conceiving the issues become manifest or revealed. In such moments we neither create meaning nor simply find it waiting for us. Instead, we participate in an event where our understanding finds that it „belongs to the being of that which is understood.“12 To conclude, let me summarize. To begin with, we have seen that Gadamer’s emphasis on historicity does not entail an irrational determinism of understanding. While we are always finite because of our dependence on history, such dependence does not determine us to be entrapped in the circle of the questions we inherit. Gadamer rightly points out that questions not only limit our view, but also open it up and they do so even though they are inevitably motivated by our practical concerns or moral choices. In short, we can follow the logic of our questions to new horizons of insight. Moreover, such historical starting points do not entail an „anything goes“ relativism, a „hermeneutical nihilism“ as Gadamer calls it only to dismiss it.13 We are guided by the logic of the questions to certain answers and not others. Moreover, the self-presentation of intelligible reality resists certain interpretations in favor of others. The world has an intelligible integrity of its own, albeit one that manifests itself in multiple ways, relative to the questions we ask. Of course, there is the relativism that must be admitted in Gadamer’s analysis of finitude, which makes all insight relative to the questions asked, but this is not a vicious relativism that stifles conversation by implying that the horizons of different conversation partners are necessarily closed off from each other. Rather, Gadamer’s insistence on the finite starting points of all inquiry is an open finitude, i.e., one that insists that all viewpoints are in principle internally related and hence open to each other. Gadamer reinforces this sense of openness by the pluralism of many possible truths that can stand on their own merits as possibly true without final logical reconciliation. Lastly, such a position is not inherently backward looking or „conservative“. The new can indeed emerge relative to the old and, as the analogy with our experience of the beautiful suggests, it can challenge us in surprising, unexpected ways. When we allow it to do so, we embark on something of an adventure, an adventure of discovery and mediated insight, an adventure of finite, rational beings who share a common world of meaning, a world of many „possible truths“.
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Notes 1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41976. Revised English translation: Truth and Method, trans. Joel Weinsheimer and Donald G. Marshall, New York 1990, pp. 265 f. All citations from this work will be from this edition and cited as TM. 2 TM, pp. 341f. 3 Jürgen Habermas was, of course, the first to raise a concern of this sort. See Jürgen Habermas, „Zu Gadamers ‘Wahrheit und Methode’“ in: Jürgen Habermas et al., Hermeneutik und Ideologiekritik (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag), 1971. Originally published in Philosophische Rundschau, Beiheft 5, Tübingen 1967. 4 Gadamer describes his own efforts as „philosophic: not what we do or what we ought to do, but what happens to us over and above our wanting and doing“ (TM, p. XXVIII). This is not to say that there is no trace of a normative concern in Gadamer’s hermeneutics. I will briefly touch on this issue later in the paper. 5 See Robert Dostal, „The Experience of Truth for Gadamer and Heidegger: Taking Time and Sudden Lightening,“ in: Hermeneutics and Truth, ed. Brice R. Wachterhauser, Evanston 1994, pp. 47–67. 6 See TM, p. 447: „[T]he verbal world, in which we live, is not a barrier that prevents knowledge of being in itself, but fundamentally embraces everything in which our insight can be enlarged and deepened.“ Although the subject of this sentence is language (the verbal world) it applies mutatis mutandis to the questions that mediate our knowledge, all of which are based in language. Space does not allow us to explore Gadamer’s views on language as a source of mediation, but language is for Gadamer a fundamental vehicle of historicity. 7 Again, space does not allow us to explore at any length Gadamer’s use of this notion of the „inner word.“ Gadamer traces it’s development from Stoic sources, which draw the distinction between the uttered word (logos prophorikos) and what lies behind each uttered word (logos endiathetos) in the sense of what the uttered word presupposes, implies or suggests by way of analogy, association, etc. In Truth and Method, Gadamer explicates his usage of this concept by saying that it involves „thinking through the subject matter to the end“ (TM, p. 422). For more on this concept see Jean Grondin, „Gadamer and Augustine: On the Origen of the Hermeneutical Claim to Universality“ in: Hermeneutics and Truth, ed. Brice R. Wachterhauser (Evanston: Northwestern University Press), 1994, pp. 137–147. 8 See Brice R. Wachterhauser, „Getting it Right: Relativism, Realism and Truth“ in: The Cambridge Companion to Gadamer, ed. Robert J. Dostal, Cambridge 2002, pp. 52–78. 9 See TM, p. 483. 10 See TM, pp. 307f. 11 See TM, pp. 306, 307. 12 TM, p. XXXI. 13 See TM, pp. 94, 95.
Mirko Wischke Sprache und Wahrheit Zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie bei Hans-Georg Gadamer Praktische Philosophie, Rhetorik und Hermeneutik bilden in Gadamers Werk eine ebenso zentrale wie problematische Konstellation: zentral, weil sie die philosophischen Grundlinien der Hermeneutik Gadamers verdeutlichen, und problematisch, da sowohl Gadamers Rhetorikverständnis klärungsbedürftig bleibt, als auch, was praktische Philosophie, Rhetorik und Hermeneutik miteinander verbindet. So ist über das Verhältnis von praktischer Philosophie und Rhetorik in der Vorlesung über „Das Problem des historischen Bewußtseins“ (1958) zu erfahren, dass die praktische Philosophie „der alles menschliche Zusammenleben tragenden praktischen Vernünftigkeit, die in der Tradition der Rhetorik durch die Jahrhunderte geht, ihre wissenschaftliche Rechtfertigung“ erteilt.1 In dieser knappen Darlegung stehen mehrere Aspekte in einem Zusammenhang, der philosophiegeschichtlich Fragen aufwirft. Das betrifft erstens die These, dass die Tradition der praktischen Vernünftigkeit sich in der Rhetorik herausbildet; zweitens die Annahme, dass die wissenschaftliche Rechtfertigung dieser Form von Vernünftigkeit in der praktischen Philosophie erfolgt; und drittens schließlich bleibt das Verhältnis von praktischer Philosophie und Hermeneutik ungeklärt. Dieses Verhältnis wird im Aufsatz „Hermeneutik als praktische Philosophie“ (1972) im Sinne einer Koinzidenz von Hermeneutik und praktischer Philosophie erläutert. Gadamer spricht gelegentlich auch von einer „nachbarschaftlichen Verwandtschaft“2, betont jedoch immer wieder die Übereinstimmung von Hermeneutik und Philosophie, beispielsweise in der These: „Hermeneutik ist Philosophie, und als Philosophie praktische Philosophie.“3 Zwar ist ausdrücklich hervorgehoben, dass die Hermeneutik der praktischen Philosophie darin verwandt ist, dass ihr „Gegenstand“ im Kontext wechselnder Situationen jeweils neu zu präzisieren ist und ihre Erkenntnis dadurch charakterisiert ist, dass sie immer wieder neu auf die konkrete Situation der jeweiligen Praxis und Interpretation angewandt wird.4 Einen präzisen Hinweis, der zur Klärung der Frage dienen könnte, in welcher Hinsicht Hermeneutik und praktische Philosophie koinzidieren, gibt jedoch Gadamer erst in der Formulierung, dass seine Auffassung einer philosophischen Hermeneutik auf ihren „lebensweltlichen Grund“ zurückgeht, im Unterschied zur „traditionellen“ Hermeneutik, die sich auf das Verstehen von Texten konzentriert. Allerdings ist die Exposition dieses Rückgangs nicht unproblematisch. Denn
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was versteht Gadamer unter einem lebensweltlichen Grund der Hermeneutik? Und vor allem: In welchem Erklärungszusammenhang steht der lebensweltliche Grund der Hermeneutik mit der praktischen Philosophie und der Rhetorik? Gadamer nimmt den aus Heideggers Entwurf einer Hermeneutik der Faktizität stammenden Gedanken einer Selbstauslegung des Daseins auf, den er seinem Verständnis von Sprache als fundamentaler „Seinsbedingung allen menschlichen Handelns und Schaffens“ zugrunde legt.5 Das erklärt, warum Gadamer behaupten kann, dass die Hermeneutik es nicht allein nur mit der Auslegung klassischer Texte und ihrer Begrifflichkeit zu tun hat. Ist die Sprachlichkeit und Sprachbezogenheit allen Verstehens für die Hermeneutik von theorieprägender Kraft, so sind zwar die Gründe thematisiert, die Gadamer bewegen, den engen Begriff von Hermeneutik als einer Kunst des Verstehens von Texten aufzubrechen. Sein Verständnis von Hermeneutik als praktischer Philosophie lässt sich jedoch nur durch einen Zwischenschritt rekonstruieren, der im Folgenden als eine Rehabilitierung der Rhetorik bezeichnet werden soll. Dass die rehabilitierte Rhetorik die Grundlage für Gadamers Verständnis von Hermeneutik als praktischer Philosophie bildet, ist die These, von der sich meine folgenden Überlegungen leiten lassen. Dabei geht es mir nur insoweit um Gadamers Verständnis von praktischer Philosophie, als es für die Klärung des systematischen Zusammenhanges von Hermeneutik und Rhetorik wichtig ist. Doch um welches Verständnis von Rhetorik handelt es sich? Was ist Rhetorik, wenn sie keine Kunst der Überredung sein soll, als die sie Platon in seinen Dialogen darzustellen scheint?
I. Was ist Rhetorik ursprünglich? Um die Problemkonstellation, die sich hinter diesen Fragen verbirgt, in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen, reicht es nicht aus, allgemein der Befürchtung Ausdruck zu verleihen, dass die hermeneutische Rehabilitierung der Rhetorik eine Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Meinung und Wissenschaft unmöglich macht.6 Ein solcher Verdacht beruht auf der Annahme, dass die Rhetorik als eine Kunst der Überredung zu definieren ist, und zwar in der Weise, dass der Zuhörer, überwältigt vom Redefluss des Redners und geblendet von der einleuchtenden Darlegung, nicht zur klaren Besinnung über das Gesagte kommt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist die Rhetorik die Kunst, alles und sein Gegenteil beweisen zu können – eine Praxis der Rhetorik, deren Ausübung mit der Frage nach der Wahrheit kaum etwas zu tun haben dürfte. Gadamer ist diese tradierte Auffassung der Rhetorik wohlvertraut.
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Einen ernsthaften Einwand gegen eine hermeneutische Rehabilitierung der Rhetorik stellt diese Auffassung jedoch nicht dar, da sie für ihn der Ausdruck eines Verständnisses ist, das den Blick auf die Rhetorik durch die Gleichsetzung ihrer Überredungskunst mit einem Erzwingen verengt. Mit dieser Überlegung verbunden ist folgende Konsequenz: Ließe sich zeigen, dass das Überreden der Rhetorik nicht mit einem Erzwingen gleichzusetzen ist, müsste die Vorstellung einer rein instrumentellen Rhetorik, auf die die erwähnte Gleichsetzung hinausläuft, korrigiert werden. Doch wie kann gegen das verengte Verständnis der Rhetorik argumentiert werden? Was versteht Gadamer unter einem „weiten“ Begriff der Rhetorik? In seiner Ablehnung des engen Begriffs von Rhetorik beruft sich Gadamer auf Platon, der jenen Recht zu geben scheint, für die zwischen der rhetorischen Überredungskunst und dem Erzwingen einer Meinung kaum ein Unterschied besteht. Die Aspekte in Platons Schilderung der Rhetorik, die Gadamer aufgreift, scheinen weniger ihn als vielmehr diejenigen in ihrem Verständnis der Rhetorik zu bestätigen, die er kritisiert. Denn auch er betont die Leistung der Rhetorik, die sich am Grad der Überzeugungskraft einer Darlegung bemisst und sich durch wohlgeformte Worte und die Kunst des sprachlichen Vortrages auszeichnet. Das Kriterium des Erfolgs einer solchen Darlegung ist die Überredung oder Überzeugung der über den dargelegten Sachverhalt urteilenden Zuhörer. Für Gadamer ist das weniger ein Argument für als vielmehr ein Argument gegen den engen Begriff von Rhetorik: Es ist die Eigentümlichkeit des Rhetorikers, seine Hörer zu etwas überreden zu wollen, was er schlechterdings nicht beweisen kann, die Gadamer als Argument gegen die Auffassung einer instrumentellen Rhetorik vorbringt. Auch wenn der Rhetoriker mit aller Kraft seine Hörer zu bewegen suche, seiner Darlegung Glauben zu schenken und als wahr zu empfinden, so könne er ihnen doch die Richtigkeit seiner Gedanken nicht in der Weise beweisen, wie es ein Mathematiker tun würde. Er verfügt nicht über die Mittel, andere zu nötigen, seine Ansicht zu teilen. Fehlt die Gewissheit, wie sie ein mathematischer Beweis vermitteln kann, so vermag der Rhetoriker seine Hörer letztlich auch nicht wirklich zu zwingen, sich von seinen vorgetragenen Überlegungen überzeugen zu lassen. Gadamers These, die Rhetorik sei negativ zu definieren als die Kunst des Überzeugens, ohne etwas beweisen zu können, stützt sich auf Platons Überlegung, dass der Rhetoriker etwas zu beweisen versucht, zu dem er lediglich überreden kann; überzeugt von der Evidenz seiner Gedanken, sucht er die Zustimmung seiner Zuhörer zu gewinnen, indem er ihnen die Richtigkeit seiner Ansicht zu beweisen trachtet, ohne über der Mathematik vergleichbare Mittel der Begründung und Evidenz zu verfügen. Die Zustimmung des dem Vortrag des Rhetorikers hörenden Publikums ist kein Vorgang, der auf Gründe und Gegengründe zurückzuführen
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ist. Dem Hörenden kann am Gesagten etwas einleuchten, ohne dass er es deshalb bereits beurteilt hätte. Wenn der Redende durch keinen klaren Beweis Einfluss darauf nehmen kann, ob und vor allem wie seine Hörer das Gesagte kritisch durchdenken, so ist die Behauptung eines Erzwingens nicht plausibel. Gadamer entkräftet das gegen die Rhetorik vorgebrachte Argument, die glaubhaft und einleuchtend vorgetragenen Erklärungen des Redners würden die Zuhörerschaft daran hindern, sich ein eigenes Urteil über die gehörten Argumente bilden zu können, indem er fragt, wie sich das Überreden denn erzwingen lassen soll. Auch wenn dem Hörer das Vorgetragene einleuchtet, muss das nicht notwendigerweise das Resultat des Gehörten sein, sondern kann sich ebenso aus der kritischen Rekonstruktion und dem nachdenklichen Nachvollzug des Dargelegten ergeben. Inwiefern die Rhetorik Wahres durch Überzeugen zur Geltung zu bringen vermag, ist völlig offen. Bekanntlich hat bereits Hobbes darauf verwiesen, dass die Rhetorik „weit entfernt von der wahren Erkenntnis der Dinge“ ist, da ihr Zweck nicht Belehrung über die Wahrheit, sondern Überredung zur „Wahrheit“ ist bzw. zu dem, was man für wahr hält.7 Wie Blumenberg nachgewiesen hat, ist die Antithese von Wahrheit und Wirkung, die mit Hobbes angenommen werden könnte, oberflächlich, da die rhetorische Wirkung keine „wählbare Alternative zu einer Einsicht (ist), die man auch haben könnte, sondern zu der Evidenz, die man nicht oder noch nicht […] haben kann“8. In dieser Hinsicht ist die Rhetorik nicht als eine Notlösung zu betrachten, da die Evidenz des Wissens, um das es bei der Überredung geht, vom Nicht-Widerspruch der Konsistenz der Vernommenen abhängt, die von der Vorläufigkeit der Resultate wissenschaftlichen Erkennens deutlich zu unterscheiden ist. Ist die Zustimmung als das auf Widerruf erlangte Resultat der Überredung zu betrachten, so ist es nicht nur konsequent, wenn Gadamer die Ansicht vom Automatismus des Überredens und Erzwingens als unbegründet zurückweist; es ist auch folgerichtig anzunehmen, dass Rhetorik den Verzicht auf Zwang impliziert. Aus dieser Überlegung folgt ein Problem, das dem Überreden gleichsam vorgelagert ist: das Problem der Mitteilbarkeit, das in Gadamers Äußerungen gegenwärtig ist, ohne ausdrücklich thematisiert zu werden. Unter diesem Aspekt ist die Rhetorik ein Instrumentarium, das die Evidenz über einen Sachverhalt durchschaubar machen soll, die man zu haben meint oder noch nicht voll hat. Was Gadamer am Problem der Mitteilbarkeit beschäftigt, ist nicht die Frage, wie sich etwas in der Weise mitteilen lässt, dass andere der Plausibilität des Gehörten Glauben schenken. Was ihn interessiert, lässt sich mit Hilfe einer Überlegung Kants herausarbeiten, die unserer bisherigen Betrachtung der Rhetorik einen wichtigen Aspekt hinzufügt. In der Frage der Mitteilbarkeit die eigentliche Schwierigkeit der Rheto-
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rik erfasst zu haben zeichnet Kants Erörterungen zu diesem Thema aus; seine Bezeichnung der Rhetorik als eine unkritische Wissenschaft des Scheins9 hindert ihn nicht wahrzunehmen, dass das Überreden der Rhetorik eine Form des Fürwahrhaltens ist, das auch in der Form der Überzeugung auftreten kann. Laut Kant ist der tiefere Beweggrund des Überredens im Fürwahrhalten zu suchen; von der Richtigkeit seiner Gedanken durchdrungen, sucht der Redner anderen seine Auffassungen mitzuteilen, ohne dass ihm unterstellt werden könnte, er wolle seine Meinung anderen aufzwingen. Dass ihm dies nicht generell vorgeworfen werden kann, geht für Kant aus dem Ursprungsmotiv des Mitteilens hervor: nicht dem Erzwingen, sondern der Frage, inwiefern sich für wahr gehaltene Ansichten dergestalt mitteilen lassen, dass sie auch von anderen als wahr anerkannt werden können.10 Kant ist sich bewusst, dass die Überredung kaum von der Überzeugung zu trennen ist, sofern nicht die Gründe, die eine Person für seine private Überzeugung vorträgt, auf andere Personen die gleiche Wirkung ausüben; erst dann lässt sich laut Kant definitiv sagen, dass es sich um eine Überredung handelt. Sollte eine Meinung von anderen wiederholt zurückgewiesen werden, enthüllt sich die Privatgültigkeit des Urteils, durch das eine Person zu seiner Überzeugung gelangt: „Der Probierstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist […] die Möglichkeit, dasselbe mitzuteilen und das Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden.“11 Mitteilbarkeit und Plausibilität des Mitgeteilten sind die Kriterien, die darüber entscheiden, ob das Fürwahrhalten in den Grenzen der privaten Gültigkeit verbleibt oder jene Begrenzung durchbricht. Die von der Rhetorik zu leistende Überredung, die den strengen Nachweis ihrer Richtigkeit nicht führen kann, vollzieht sich in einer sprachlichen Mitteilung, die den Zuhörern einleuchten muss, wenn diese vom Mitgeteilten überzeugt werden sollen. Kants Bezeichnung des Verhältnisses von überzeugender Mitteilung und Sachbezug als Fürwahrhalten lässt darauf schließen, dass er auf ein ambivalentes Problem der Rhetorik aufmerksam machen will. Ambivalent ist dieses Problem, weil der Redner, wenn er seine Zuhörer davon überzeugen will, dass seine Darlegung des Sachverhalts wahr und richtig ist, bemüht sein muss, seine Beispiele und Erklärungen so verständlich, begreiflich und glaubhaft wie nur möglich vorzutragen. Ob seine Ausführungen auch dem vorgetragenen Sachverhalt gegenüber angemessen sind, ist eine andere Frage. Das ist zu beachten, wenn man nicht aus der rhetorischen Überredung durch einleuchtende Argumente zu folgern bereit ist, dass eine wahre Ansicht sich letztlich immer durchsetzen wird, so wünschenswert das auch sein mag. Es ist durchaus denkbar, dass sich auch „falsche“ Anschauungen behaupten können, weil sie Sachverhalte begreiflich darzulegen scheinen, die zuvor völlig unerklärlich waren. Ebenso ist es
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denkbar, dass eine Auffassung immer wieder auf Unverständnis stoßen kann, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist. Auf die Frage, ob eine Betrachtungsweise zum Allgemeingut werden kann, ist mit Kant zu antworten: nur dann, wenn das Fürwahrgehaltene über die Grenzen der privaten Akzeptanz hinaus Zustimmung findet. Auf diese Gefahr mache ich deshalb mit so großem Nachdruck aufmerksam, weil sie in Gadamers Perspektive nur im Horizont eines engen Begriffs von Hermeneutik gegeben zu sein scheint. Das Beispiel des platonischen Gorgias, das gern zitiert wird, um die Wahrheitsblindheit der Rhetorik zu demonstrieren, interpretiert Gadamer in einem anderen Sinn: Wenn Gorgias jemanden von einer These und der Gegenthese überzeuge, so wolle er nicht demonstrieren, dass beide Thesen beweisbar seien. Seine Redekunst zeuge vielmehr davon, dass die Macht der Überzeugung nicht mit dem Beweis zu verwechseln sei. Denn wie könnte Gorgias eine These vortragen und ihr Gegenteil als wahr darstellen, wenn es erwiesen wäre, dass eine seiner Behauptungen schlechterdings unstimmig, absolut falsch oder absurd sei? Aus dieser Überlegung schließt Gadamer, dass die These, die Rhetorik überrede per se zum Falschen, eine bloße Vermutung ist. Aus der Redekunst der Rhetorik geht weder hervor, dass sie ausschließlich von falschen Annahmen ausgeht, noch dass die Rhetorik in der Lage ist, die Zustimmung anderer zu erpressen. Was Gadamers Überlegungen deutlich machen wollen, ist eine Möglichkeit, die das überlieferte Vorurteil von der Rhetorik prinzipiell verneint: dass es nicht auszuschließen ist, dass die Rhetorik Wahres mitteilen will. Aber auch wenn es stimmt, dass weder die Gleichsetzung von Überreden und Erzwingen aufrechtzuhalten ist, noch die Annahme von der Wahrheitsgleichgültigkeit des Überredens stimmt, bleibt die Frage offen, wie Gadamer das Verhältnis von Intensität des Einleuchtenden und dem Grad der Wahrheit bestimmen will. Wie die Kritiker der Rhetorik zu sehr auf den Einwand fixiert sind, dass die Rhetorik jedes beliebige Argument verwendet, und nicht zur Kenntnis zu nehmen bereit sind, dass damit weder etwas über die Wahrheit noch über die Falschheit der Argumente gesagt ist, so scheint Gadamer, wenn er der Rhetorik das Recht auf Wahrheit zuspricht, uneingestanden vorauszusetzen, dass die Rhetorik prinzipiell Wahres mitteilt. Der Zweifel daran, ob dies wirklich so betrachtet werden kann, beginnt mit dem Gedanken, dass die Rhetorik von der Wahrheit ausgehen kann, es aber nicht muss, was nicht heißt, dass sie ihr durch eine überzeugende Rede zu ihrem Recht verhelfen kann. Unklar sind die Gründe, die Gadamer bewegen anzunehmen, dass es der Rhetorik prinzipiell um die Mitteilung von Wahrem geht, wenn es dem Redner – in der platonischen
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Schilderung – primär darum geht, die Zuhörer durch die einleuchtende Demonstration seiner eigenen Argumente mitzureißen Der Rhetorik zu unterstellen, prinzipiell von der Wahrheit auszugehen, bedeutet, etwas von ihr erwarten, was die von Platon geschilderten Meister der Redekunst nicht generell einlösen können, da sie die Zustimmung ihrer Zuhörerschaft allein durch ihre künstlerische Leistung gewinnen, die für sich genommen nichts über die Wahrheit oder Falschheit des dargelegten Sachverhalts einer schönen Rede aussagt. Diesen Gedanken auszublenden hieße die Ambivalenz unterschätzen, auf die Kant in seiner Erörterung des Fürwahrhaltens die Aufmerksamkeit lenkt. Vorausgesetzt, Gadamer lässt diese Ambivalenz nicht außer Acht, stellt sich die Frage, wie er auf sie reagiert. In Gadamers Platon-Lektüre findet sich ein Hinweis, der darauf schließen lässt, dass die von Kant beobachtete Ambivalenz der Rhetorik im Problem der sprachlichen Mitteilbarkeit ontologisch neutralisiert werden soll. Wenn Gadamer auf den Phaidros-Dialog verweist, wo Sokrates die Redekunst verteidigt, weil man mit ihr die Erkenntnis dessen, was wahr und richtig ist, dem Anderen mitteilen kann12, so fragt sich, ob Gadamer wirklich die Rhetorik meint oder an die durch die Rhetorik vollzogene sprachliche Mitteilbarkeit von Fürwahrgehaltenem denkt. Viele Bemerkungen Gadamers zur platonischen Dialog-Dialektik legen den Akzent auf den letzten Aspekt. Davon auszugehen, dass der Rhetoriker in seiner Rede nur dem zu seinem Recht verhelfen will, von dessen Wahrheit er zutiefst überzeugt ist, unterstellt ihm ethisch eine Rechtschaffenheit, die sich mit dem kantischen Begriff des Fürwahrhaltens und der Hilflosigkeit, dass, was er für wahr hält, nicht anders als in beredten Worten mitteilen zu können, charakterisieren lässt. Auf der Ebene rein ethischer Betrachtungen erscheint Gadamers Bemerkung, dass auch unmoralische Wesen einander zu verstehen bemüht sind13, widersprüchlich, da er ein Wohlwollen vorauszusetzen scheint, das nicht ausdrücklich thematisiert wird. In einem anderen Licht erscheint Gadamers Bemerkung auf der Ebene der sprachlichen Mitteilung. Der Wille und die Bereitschaft zur Verständigung, die Gadamer in jedem Gespräch voraussetzt, ergeben sich notwendigerweise aus der Prämisse, dass jede Sprache ein Austausch von Rede und Antwort ist: „Sprache meint den Anderen und das Andere und nicht sich selbst.“14 Die sprachliche Mitteilung ist noch in einer anderen Hinsicht von besonderer Relevanz, insofern mit ihr präzisiert wird, was unter dem Rückgang auf den lebensweltlichen Grund der Hermeneutik zu verstehen ist. Im Hinblick auf ihren Vollzug ist die sprachliche Mitteilung ein Phänomen des dialogischen Redens, bei dem jemand von dem überzeugt werden soll, was andere für das Wahre halten – ein Element des Miteinander-Redens
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und gegenseitigen Verstehens, das die Rhetorik mit besonderer Aufmerksamkeit berücksichtigt. Miteinander im Gespräch zu sein schließt für Gadamer den gegenseitigen Austausch von Überzeugungen ein, deren Äußerung sowohl Zustimmung und Verständnis als auch Kritik und Widerspruch hervorrufen können. Welchen Platz nimmt aber die „Wechselrede“ (Humboldt) in der Rhetorik ein? Die Wahrheitsansprüche, die Äußerungen begleiten, von deren Wahrheit andere Personen überzeugt werden sollen, äußern sich im Bemühen um Plausibilität. Die Rhetorik ist keine Ausnahme. Mangels einer Form des Beweisens, das der Mathematik vergleichbar wäre, kann es beim Vorgang des Überredens keine wahren oder falschen Darlegungen im strikten Sinne geben, sondern allenfalls überzeugende und weniger überzeugende Ausführungen des Redenden, die weder unbezweifelbar noch unwiderlegbar oder sicher sind. Alle sprachlichen Mitteilungen dessen, wovon man selbst überzeugt ist, sind allenfalls eine Anstrengung, etwas glaubhaft zu machen – ein Versuch, der nie endgültig abgeschlossen ist. Diese Überlegung ist unentbehrlich, um zu verstehen, wie Gadamer auf der Ebene der sprachlichen Mitteilung den Wahrheitsbegriff fasst. Welche sprachliche Darlegung als einleuchtend und überzeugend erscheint, darüber entscheidet laut Gadamer die „bloß innere Evidenz des Verstehens […], die plötzlich aufleuchtet, zum Beispiel, wenn ich einen Satzzusammenhang, eine Aussage von irgend jemandem in einer bestimmten Situation plötzlich verstehe“15. Die Evidenz des Verstehens, das überraschende Verständnis von etwas zuvor Unklarem, Dunklem und Fremdem, beruht auf einer Voraussetzung, die Gadamer als eine verständnisvolle Zuwendung zum anderen bezeichnet, die basaler als das ethische Verständnis von einer solchen Zuwendung aufzufassen ist. Die hermeneutische Rehabilitierung der Rhetorik, um die es Gadamer geht, stützt sich auf zwei Momente, die das Grundcharakteristikum des Miteinander-Redens sind: das Vernehmen und Verlautbaren. Dass wir einander zu verstehen trachten, ist laut Gadamer weder ein ursprünglich moralisches Phänomen noch bedarf es moralisch-ethischer Voraussetzungen, von denen das Verstehen abhängt. II. Hermeneutik ohne Ethik? Durch Natorp ist Gadamer früh darauf aufmerksam geworden, dass die Sprache und ihr Vernehmen zusammengedacht werden müssen. Laut Natorp macht das Vernehmen überhaupt erst die bloße Verlautbarung zur Sprache; wo es kein Vernehmen gibt, existiert auch kein Sprechen: „Das so verstandene Sprechen ist [ein] sich-Aussprechen von der einen Seite, Vernehmen, sich mit sich selbst ebenso wie mit dem andern in Einvernehmen
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Setzen von der andern, und beides fällt so ganz in eines zusammen, daß überhaupt nicht gesprochen ist, was nicht vernommen wird und zugleich sich selbst vernimmt, und nicht vernommen, was nicht im Vernehmen selbst wiederum Sprechen, inneres mit sich und zu sich selbst Sprechen wird.“16 Natorp geht in seinen Überlegungen von der Prämisse aus, dass sprachliche Mitteilungen, ihr Vernehmen und Verstehen im Hören auf das Gesagte als gleichursprünglich anzusehen sind. Gadamer folgt den Gedanken seines neukantianischen Lehrers, wenn er das Fundament der Sprache im Sprechen und Aufeinanderhören erblickt, das er mit dem Verstehen gleichursprünglich setzt. Diese Betrachtung ist aufschlussreich für Gadamers Rhetorikverständnis: Wenn die Aufgabe der Rhetorik darin besteht, eine Meinung zu verstehen zu geben und mitzuteilen, ohne sie beweisen zu können, die rhetorische Darlegungsweise jedoch weniger auf der logischen Schlüssigkeit der Argumentation als vielmehr auf menschlicher Überzeugungskraft beruht, schließt das eine Offenheit für den anderen und dem, was er sagt, ein. Gadamers These, dass die gesamte Ethik Rhetorik ist17, verallgemeinert nicht nur den Umstand, dass die Voraussetzung der Rhetorik im interessierten Zuhören des in der Meinung eines anderen sich äußernden Sachverhalts liegt. Seine Überlegung, dass die Kunst der überzeugenden Rede in der uns angeborenen Fähigkeit besteht, uns mit anderen verständigen zu können und im Gespräch „zu offenbaren, wovon wir selber überzeugt sind und das sonst in der üblichen Weise des Beweises nicht als solches erscheinen könnte“18, geht auch von der Vorstellung aus, dass im Vollzug der Sprache sich jene spezifischen Formen des Miteinanderseins herausbilden, ohne die keine Ethik denkbar wäre: Verständnis, Einsicht und Achtung. Auf den ersten Blick scheinen diese Ausführungen mit dem zusammenzufallen, was Vattimo behauptet, wenn er seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, dass in der Hermeneutik Gadamers „die Kriterien bei der Suche nach dem rechten Wort, die Kriterien der Unterscheidung von Wahrem und Falschem wie auch von gelungener oder abwegiger Deutung, allesamt in der Sprache selbst zu finden sind“19. Was aber bedeutet „in der Sprache selbst“? Die Frage ist, ob allein der Sprache das Verdienst zuzuschreiben ist, neben den Mitteln der Mitteilbarkeit auch die Merkmale für wahr und falsch auszubilden. Das Problem lässt sich in folgender Frage veranschaulichen: Ist der in der jeweiligen Sprache des Dialogs zum Ausdruck kommende Vollzug des Verstehens wirklich ohne ethische Maßstäbe denkbar? Wenn bereits das Verständnis für andere als ein prämoralisches Phänomen in der Sprache existieren soll, wie erklärt sich dann, dass Menschen sich dem wohlmeinenden Rat anderer Personen verschließen, und warum hören Menschen nicht anderen Ansichten zu, die im Gespräch zur Sprache kommen?
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Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Gadamers Rehabilitierung der Rhetorik in eine rein ethische Dimension zu rücken liegt nicht in meiner Intention; auf Gadamers Bemerkungen im Umfeld seiner These, Ethik sei Rhetorik, hätte ich sonst verzichtet. Es soll nicht bestritten werden, dass der Rede eines anderen zu folgen ein Merkmal der Sprache ist. Aber die Frage ist, ob dies ohne ein Mindestmaß an ethischen Voraussetzungen denkbar ist. Gegen den Sinn dieser Frage könnte mit Gadamer und Natorp eingewendet werden, dass das Wort an den Anderen gerichtet ist und deshalb nach einer Antwort verlangt. Man richtet nicht das Wort an jemanden, ohne von ihm zu erwarten, dass er versteht, was wir sagen, und weil er uns versteht, können wir mit Recht annehmen, dass er uns antworten wird. Das Verstehen des Gesprochenen und das Hören auf das, worüber die Rede Aufschluss in jeweils bestimmter Hinsicht gibt, setzt nicht notwendig voraus, zwischen Redendem und Hörendem ethische Maßstäbe aufzurichten. Gadamer hat gute Gründe anzunehmen, dass das Gespräch keine ethischen Voraussetzungen hat, löst sich ihm doch das Geheimnis des Gesprächs, von dem er Platons Bemühen in der Dialog-Dialektik umgeben sieht, in der Fassung der Sprache als dem Ineinander des Vollzugs von Verständigung und Welterschließung auf. Der Wille und die Bereitschaft zur Verständigung, die er in jedem Gespräch voraussetzt, ergeben sich notwendigerweise aus der sprachlichen Verfasstheit unserer Lebensform. Denselben Gedanken hat Karl Löwith näher ausgeführt, wenn er darauf verweist, dass dem Sprechen eine immanente Verständigungstendenz eigentümlich ist, insofern der Redende schon von vornherein in einer dem Anderen verständlichen Sprache spricht, weil er den Zuhörenden sowohl im Hinblick auf die Verständnismöglichkeiten dessen, worüber gesprochen wird, als auch um der Erwiderung willen anspricht.20 Gadamer stimmt Natorp darin zu, dass es Platon war, der zuerst am Dialog die Dimension der sprachlichen Mitteilung erkennt, indem er die Momente des Sich-Unterredens, wechselseitigen Austauschs und Verständigens mit sich selbst und mit anderen im „Dia-Logos“ hervorhebt.21 Laut Gadamer ist das Reden „nicht nur das Durchlaufen eines Gefüges von bedeutungstragenden Worten. […] Rede ist zu jemanden gesagt und spricht durch den Ton, die überzeugende und nicht überzeugende Weise der Rede.“22 Was Gadamer nicht erwähnt: Ohne ein gewisses Maß an Wohlwollen würde eine sprachliche Mitteilung kaum Interesse hervorrufen und Beachtung finden. Die Aufmerksamkeit im Zuhören auf einen mitgeteilten Sachverhalt würde erlöschen, wenn die Hörer der Darlegung des Vorgetragenen mit gleichgültiger Verständigkeit folgen würden – eine Voraussetzung, die nicht ohne ethische Implikationen ist. Diesen Aspekt vermisse ich in Vattimos Darlegung.
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Ohne Frage stützt sich seine Ansicht von der Gleichsetzung von Sein und Sprache23 auf Gadamers These aus „Wahrheit und Methode“, dass Sein, das verstanden werden kann, Sprache ist. Dennoch ist Vattimos Bemerkung missverständlich, weil sie Gadamers Überlegungen zur Sprache unter einem Aspekt auf den Begriff zu bringen sucht: dem des Erkenntnispotentials der Sprache. Vattimo unterstellt Gadamer nicht die Überzeugung, dass die Existenz eines Wortes mit der Existenz des damit bezeichneten Dinges gleichzusetzen sei. Aber er übersieht, dass Gadamers Absage an eine Ontologie des Vorhandenen zwischen Denken, Sprache und Sein differenziert, um den Aneignungsvollzügen von Überlieferungen phänomenologisch auf die Spur zu kommen. Laut Gadamer sind die Dinge weder im Verstehen noch in der Sprache wirklich da. Natorps Einsicht in das „Urwunder des Wortes“, das kein „Stellvertreter dessen (ist), was es ausspricht“, keine „bloße Repräsentation“, sondern als eine „ursprüngliche Präsentation“, d. h. als ein „ursprüngliches Sichaussprechen“ zu verstehen ist24, dürfte Gadamer aus seiner Marburger Zeit vertraut gewesen sein. Wie wirklichkeitsnah die Dinge zur Sprache gebracht werden (oder nicht), ist für Gadamer nicht das eigentliche Problem: „Denken ist vom Grund der Sprache abhängig, sofern Sprache nicht ein bloßes Zeichensystem zur kommunikativen Übermittlung von Informationen ist. Die Vorbekanntheit des zu Bezeichnenden vor aller Bezeichnung ist nicht der Fall von Sprache. Im sprachlichen Weltbezug artikuliert sich vielmehr das Besprochene selbst erst durch die Sprachverfassung unseres In-der-WeltSeins.“25 Die Sprachverfasstheit umfasst mehr Aspekte als den der Welterschließung und Erkenntnis, auf den es Gadamer im Grunde genommen auch nicht ankommt: „Die ‘Wahrheit’ des Wortes liegt […] nicht in seiner Richtigkeit, seiner richtigen Anmessung an die Sache. Sie liegt in seiner vollendeten Geistigkeit, d. h. dem Offenlegen des Wortsinns im Laut. In diesem Sinne sind alle Wörter ‘wahr’, d.h. ihr Sein geht in ihrer Bedeutung auf, während Abbildungen nur mehr oder minder ähnlich und insofern – am Aussehen der Sache gemessen – mehr oder minder richtig sind.“26 Ebenso wie die Wörter besitzt auch die Sprache keine wirkliche Erkenntnisbedeutung27. Wenn Vattimo dennoch behauptet, die sprachliche Weltverfasstheit würde die Kriterien von wahr und falsch miteinschließen, liegt die Vermutung nahe, dass er Gadamer von Heidegger her liest. Heidegger ist bekanntlich in seiner Interpretation von Georges Gedicht „Das Wort“, das zuerst 1919 in die „Blätter für die Kunst“, später in den zuletzt veröffentlichten Gedichtband Georges mit dem Titel „Das neue Reich“ (1928) aufgenommen wurde, davon ausgegangen, dass dem Gedicht der Gedanke zugrunde liegt, Wort und Sein seien in einer kaum bedachten Weise zueinander gehörig. Den Schwerpunkt seiner Interpretation bildet die Schlussstrophe, die Heidegger in dem Sinne versteht, dass
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ein Ding nur dort ist, wo das Wort gewährt ist. In dieser Weise hätte auch Gadamer die Sprache verstehen können, wenn er das „Walten“ der Sprache als ein Sagen betrachtet hätte, das Seiendes in sein es ist erscheinen lässt. Während es Heidegger im Blick auf die Sprache darum geht, dass ihr Wort etwas als Seiendes erscheinen lässt, betont Gadamer, dass die „im Logos gelegene Wahrheit nicht die des bloßen Vernehmens […] ist, kein bloßes Erscheinenlassen von Sein, sondern immer Sein in eine Hinsicht stellt, ihm etwas zuerkennt und zuspricht“; nicht „das Wort (onoma), sondern der Logos [ist] der Träger der Wahrheit (und freilich auch der Unwahrheit)“.28 Haben Wörter keine wirkliche Erkenntnisbedeutung, so ist es nur konsequent, dass Gadamer ein angemessenes Verständnis der Hermeneutik nicht darin sieht, die im Wort und Begriff kristallisierten Einsichten dem Vergessen zu entreißen. Auch wenn Gadamer den Begriff des Logos als den „Inbegriff der in der Sprache niedergeschlagenen und in sprachlicher Form weitergereichten Einsichten der Menschen“ bezeichnet29, so stützt sich die Annahme, dass die Philosophie die Sprache gründlich durchdenkt, um durch ein sorgsames Befragen ihrer Begriffe die in ihnen eingesenkten Weisheiten freizulegen, auf eine wenig überzeugende Folgerung. Auf Gadamers Hervorhebung, dass Begriffe „immer schon aus der Erfahrung erwachsen“, unser „Weltverständnis“ artikulieren und „den Gang der Erfahrung“ vorzeichnen30, scheint Vattimos Bemerkung zu zielen, die Merkmale von wahr und falsch ausnahmslos in der Sprache selbst zu suchen, sei charakteristisch für Gadamers Hermeneutik. Wie unpräzis diese Behauptung in ihrer Verallgemeinerung ist, zeigt der Kontrast mit Gadamers Ansicht, dass weder Philosophie noch Hermeneutik die Aufgabe haben, nur an jene zu Boden gesunkenen Bedeutungssegmente der Begriffe und ihrer Wahrheit (oder Falschheit) zu erinnern.
III. Die erkenntniskritische Funktion der Rhetorik Dass die Wörter keine wirkliche Erkenntnisfunktion haben, steht im Zusammenhang mit Gadamers Auffassung, dass es bei der Rhetorik primär nicht um die Mitteilung von evidenten Wahrheiten geht, sondern um die Mitteilung von etwas, was man für wahr hält. In der philologischen Tradition besitzt diese Auffassung ihre eigene Wirkungsgeschichte, die sich insbesondere mit dem Namen Friedrich Nietzsches verbindet. Unter dem Eindruck der Lektüre von Gustav Gerbers Untersuchung zur „Sprache als Kunst“ (1871, 1. Bd.) stehend, vertritt Nietzsche die These, dass es bei der Rhetorik nicht um Wahrheit, Erkenntnis und Einsicht, sondern um Wahrscheinliches und Fürwahrgehaltenes geht. In der Rhetorik gehe es nicht um Wissen, sondern um das, was wir für wahr hal-
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ten, aus Gründen, über die wir keine Rechenschaft abgeben können31: um „gewohntes für-Wahrhalten“32. Es hieße Nietzsches Ansicht misszuverstehen, wollte man ihm unterstellen, dass seine Rhetorikauffassung von der Alternative Fürwahrhalten versus Wissen ausgeht, wie sie Platon in seinen Dialogen zu explizieren scheint. Die Wahl zwischen bloßem Dafürhalten und wirklicher Erkenntnis ist für Nietzsche insofern keine Alternative, als er davon ausgeht, dass es keine Erkenntnis der Wahrheit im eigentlichen Sinne gibt. Der Mensch hat keinen Zugang zu den Dingen, wie sie wirklich sind – eine Verlegenheit, die er laut Nietzsche mit dem Schein bewältigt, der keine oberflächliche oder unangemessene Betrachtungsweise der Realität ist, sondern die einzig wirkliche Realität der Dinge.33 Nicht um eine Präsenz der Dinge im Unterschied zu deren „wahrem“ Sein geht es Nietzsche mit dem Schein; was sein Schein-Begriff zum Ausdruck bringen will, lässt sich auch nicht auf das Begehren nach dem Scheine jener Vereinfachung, die wir zum Zwecke praktischer Weltorientierung benötigen, verkürzen34; und ebenso wenig ist der Schein Ausdruck einer Sehnsucht nach Rettung vor einer Welt unvorstellbaren Grauens und Leidens, wie ihn Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ expliziert. Der Schein, den die Metaphorizität und der Anthropozentrismus der Sprache, ihre kunstvolle Form und schöpferische Potenz konstituieren, dient der Selbstbehauptung des Menschen, und zwar in elementarster Weise: Allein in der Sprache hat der Mensch einen Zugang zum Sein, deren Uranschauung das Werden ist35; ohne die Sprache könnte er sich weder in der Welt orientieren noch sich diese verfügbar machen. Weder stellt die Sprache etwas dar, noch bildet sie etwas ab; was sie bezeichnet, ist allein die Relation der Dinge zu den Menschen: Denn „nicht die Dinge (selbst) treten ins Bewusstsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen“36. Nietzsches Rehabilitierung des rhetorischen Schein-Problems ist verbunden mit der Entdeckung der erkenntniskritischen Dimension der Rhetorik37, die sich gegen den falschen Schein eines naiven Objektivismus richtet. An diese Dimension erinnern Gadamers Vorbehalte gegen einen naiven Objektivismus, der den Wörtern eine reale Entsprechung zu den Dingen zuspricht. Die Parallelität zu Gadamers Überlegungen zur Rhetorik umfasst noch andere Aspekte.38 Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass Nietzsche unter Rhetorik keine Art von Hilfsdisziplin zur Vermittlung der Wahrheit versteht; vielmehr soll Rhetorik die Zustimmung anderer zu dem bewirken, was wir für wahr halten. Bestätigen andere unser Verhältnis zu den Dingen, so hat diese Relation etwas Überzeugungskräftiges und Plausibles. Daraus folgt, dass die Sprache nicht monologisch, sondern immer schon an andere gerichtet ist, denen eine Mitteilung mit dem Zweck zuteil wird, ihre Zustimmung zu dem zu finden, was wir für wahr halten. Wer zustimmungsfähig machen will, was er für wahr hält, ist auf die
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Virtualität der Sprache und die evokative Leistung des gesprochenen Wortes angewiesen. Beides in Anspruch zu nehmen, zeichnet die Rhetorik in der Perspektive Gadamers und Nietzsches aus. In Zusammenfassung der bisherigen Darlegungen stellen sich folgende Fragen: Was macht den „weiten“ Rhetorikbegriff hermeneutisch so interessant für Gadamer? Ist die Rehabilitierung der Rhetorik für die These vom Verstehen als Andersverstehen aus „Wahrheit und Methode“ unverzichtbar? Was verbindet die Rhetorik mit der praktischen Philosophie und Hermeneutik? Welche Bedeutung hat Gadamers Rhetorikbegriff für die Koinzidenz von Hermeneutik und praktischer Philosophie?39
IV. Hermeneutik ohne (rehabilitierte) Rhetorik? An der Rhetorik erkennt Gadamer eine Fähigkeit an, die sie für die begriffsgeschichtliche Aufklärung, die die philosophische Hermeneutik leisten soll, zum Vorbild werden lässt. Denn auch wenn selbst jene „echte“, die bloße Technik der Redekunst übersteigende Rhetorik, nach der Platon im Gorgias-Dialog suchte, nicht die Sache selbst aufzeigt, sondern sie den Hörern so darstellt, wie sie der Redner sieht, so ist sie doch für Gadamer immer noch von der Absicht geleitet, die Anderen von etwas zu überzeugen und zu etwas zu überreden, woran ihm liegt, das sich jedoch nicht einfach so zeigen lässt, wie es ist. Es ist die Fähigkeit, dieselbe Sache auf vielfältige Weise wiedergeben zu können, die Gadamer an der Rhetorik hervorhebt und als Aufgabe der begriffsgeschichtlichen Aufklärung bezeichnet, am philosophischen Begriff neu zur Aussage zu bringen, was an ursprünglicher Erfahrung in ihm aufbewahrt ist. Platons These aus dem „Phaidros“ 235b und 236b, um eine geschriebene oder gesprochene Rede übertreffen zu können, müsse dem diskutierten Sachverhalt zu einem anderen und besseren Inhalt verholfen werden können, interpretiert Gadamer in dem Sinne, mit Hilfe der Vieldeutigkeit des geschriebenen Wortes die verschiedenen Sichtweisen auf diesen Sachverhalt freizulegen – und damit eben diesen Sachverhalt selbst so angemessen wie nur möglich in den Blick zu bekommen. Platons Rede vom nie alternden Pathos der Logoi als dem Widerfahrnis des Denkens, sich in Widersprüchen zu verstricken, versteht Gadamer nicht nur negativ als eine Verwirrung von Begriffen und Anschauungen, überlieferten Vorstellungen und Denkweisen, wie sie die griechische Aufklärung in Gestalt der rhetorischen Rede- und Argumentationskunst der Sophisten begleitet. Für ihn hat Platon an der rhetorischen Rede eine echte philosophische Funktion nachgewiesen: im Verwirren der Denkweisen und Ansichten den Blick auf die „wahren“ Verhältnisse der Dinge
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richten zu können, indem diese im Verlauf einer Rede in sich vielseitig entwickelt werden, um die Auslegung des erkannten Sachverhalts voranzutreiben. Da für das Reden jene Verwirrbarkeit der Erkenntnis, auf die Platon als ein nie alterndes Widerfahrnis verweist, nicht zu bannen ist, bieten ihm weder der Name noch die Begriffsbestimmung, ebenso wenig das anschauliche Bild oder die Erkenntnis eine Gewähr dafür, dass in ihnen die Sache selbst in ihrem wahren Sein jeweils zur Erkenntnis kommen könnte. Gleichwohl sind sie laut Gadamer unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt von Platon zusammengefasst worden: dass sie unabdingbar dafür sind, der Sache wirklich inne zu werden, auch wenn diese selbst nicht im Wort, Begriff, in der Veranschaulichung und der Einsicht unverborgen hervortritt. Dies ist ein Aspekt, der in unserer Darstellung von Gadamers Rhetorikbegriff bislang unerwähnt blieb. An ihrer inneren Verkehrungstendenz, mit der das Wort, der Begriff, die Einsicht und die Veranschaulichung sich selbst zur Geltung zu bringen versuchen, anstatt hinter dem, was sie gegenwärtig machen sollen, zu verschwinden, weist Gadamer die Schwäche der Logoi nach: sich gleichsam vor das zu drängen, was sich in ihnen zeigt. Aber nicht nur deshalb neigen sie dazu, sich als das geltend zu machen, was sie für sich sind. Sie alle haben auch ein Sein für sich selber, durch das sie sich von dem unterscheiden, was sie als die Sache darstellen. Aus dieser Differenz erklärt sich, warum die sprachliche Erkenntnisleistung, die Gadamer würdigt, nicht darin besteht, einen Zugang zu den Dingen, wie sie wirklich sind, zu ermöglichen. Das Wort der Sprache verweist für Gadamer nicht wie ein Zeichen auf etwas anderes40. Zu Recht hebt Vattimo an Gadamers Hermeneutik die Überlegung hervor, nicht die Dinge so erkennen zu wollen, wie sie wirklich sind. Wenn er daraus den Schluss zieht, dass „die Dinge nur in der Interpretation und der Sprache das sind, was sie wirklich sind“41, stellt sich die Frage, ob diese Charakterisierung wirklich auf Gadamers Verständnis von Sprache zutrifft. Vattimos These kommt m. E. Nietzsches Sprachauffassung näher als der Gadamers. Wenn bereits die Sprache selbst ausgelegt ist, können die Dinge nicht in der Sprache das sein, was sie wirklich sind. Vielmehr werden sie in der Sprache als das angesprochen, was sie in ihrem Sinnzusammenhang jeweilig sind. Ansonsten wäre es kaum möglich, dass das, was in der sprachlich aufgespeicherten Erfahrung vorliegt, ebenso wenig im Verstehen ausschöpfbar und im Verstandenen erschöpfbar ist, wie das, was in einem Schriftwerk gelegen ist und durch das Wiedererkennen (Anamnesis) an einem bestimmten Punkt in seinem Wesen neu erfasst werden kann. Diese Überlegung lässt sich mit Hilfe vom Gadamers These von der Schwäche der Schrift verdeutlichen.42 Von Platon lernt Gadamer, dass alle Schriftlichkeit einen unheilbaren Mangel aufweist: etwas festzuhalten, das zugleich in seinem Festhalten zu
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entschwinden droht. Die Frage, wie das Wissen, das Sokrates durch seine Kunst des Fragens hervorzuholen helfen will, am Grunde der Seele verborgen liegen kann, obwohl wir es selbst nicht zu wissen scheinen, beantwortet sich für Gadamer durch die Eigentümlichkeit der Sprache, die Sachverhalte, die mitgeteilt werden sollen, oft nur unangemessen in Worten Ausdruck verleihen zu können, so dass anderes und weiteres gesagt werden muss, um dieses Sachverhalts möglichst in seiner ganzen Komplexität gewahr werden zu können. Für diese Unangemessenheit gibt es zwei Ursachen: einmal die schwankende Bedeutungsbreite, die die Wörter trotz ihrer konkreten Bedeutung haben, durch die die erfahrenen Sachverhalte nie vollständig, also in der Ganzheit ihrer Sinnbezüge mitteilbar sind. Zum anderen, weil die Sachverhalte, die sprachlich mitgeteilt werden sollen, nicht selbst zur Sprache kommen, sondern in einer bestimmten Interpretation, ist doch die Sprache selbst bereits ausgelegt. So sind die erfahrenen Sachverhalte in den Wörtern nicht nur geborgen, sondern auch verborgen. Die Behauptung, die Dinge sind nur in der Interpretation und der Sprache das, was sie wirklich sind, ist nicht falsch, aber eine grobe Verallgemeinerung von dem, was aus Gadamers Ausführungen zu diesem Thema in seiner differenzierten Bedeutung zu erfahren ist. Denn auf die Frage, wie ein anderes Verstehen möglich ist, wenn es doch ein und dieselben Wörter eines Textes sind, die wir neu und fremdartig erfahren sollen, erhalten wir die Antwort: durch das „Volumen der Sprache, das sich durch die Vieldeutigkeit und Vielstelligkeit anreichert, welche die Worte haben und mit-aus-spielen“43. Erst der Stellenwert, den das Wort im Zusammenhang der jeweiligen Rede besitzt, mindert seine Vieldeutigkeit, ohne diese zu eliminieren. Denn seinerseits bringt dasjenige Wort, das den Sinn der Rede auslegend trifft, diesen nicht allein nur zur Sprache, sondern lässt zugleich auch, indem es ihn herausstellt, den Sinn zu einer vorläufigen Darstellung kommen. Ist die Sprache das ontologische Fundament, auf dem die maieutische Fähigkeit des Dialogs sich entfaltet, erscheint die These, die Ethik sei ihrem Wesen nach Rhetorik, folgerichtig, wenn auch nicht unproblematisch. Wie zu erfahren gewesen war, ergeben sich der Wille und die Bereitschaft zur Verständigung, die Gadamer in jedem Gespräch voraussetzt, notwendigerweise aus der sprachlichen Verfasstheit unserer Lebensform. Man kann mit Hofer sagen, dass die Ethik in der Hermeneutik Gadamers gewissermaßen anthropologisch fundiert ist44. Denn Gadamers These, dass auch unmoralische Wesen verstehen wollen, überzeugt auf der Ebene der hermeneutischen Philosophie. In der Sprache erfahren wir Sachverhalte, deren Kenntnisnahme keine ethischen Einstellungen voraussetzt. „Unmoralische Wesen“ müssen einander verstehen wollen, weil die Welt, in der sie leben, sprachlich verfasst ist. Demgegenüber setzt Gadamers These sich auf der Ebene der philosophischen Hermeneutik dem Einwand aus,
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dass der interne Verstehensvollzug des Interpreten voraussetzt, mit dem Text in ein wirkliches Gespräch kommen zu wollen. Um die Bedingungen für einen wirklichen Gedankenaustausch mit dem Text zu benennen, der einer Korrektur des lebendigen Gesprächs entbehrt, reicht es nicht aus, auf den guten Willen zur Verständigung zu verweisen. Der Vergleich der Sprachlichkeit des im Verstehen erneut Zur-Sprache-Kommens der Überlieferung mit der Sprachlichkeit menschlicher Welterfahrung täuscht darüber hinweg, dass der Dialog ohne ein gewisses Maß an Wohlwollen seine maieutische Qualität nicht entfalten kann. Nun scheinen die bisherigen Ausführungen zum Thema Ethik und Hermeneutik uns von unserer ursprünglichen Fragestellung beträchtlich entfernt zu haben. Der Anschein trügt jedoch; mit Hilfe der vorgetragenen Überlegungen lässt sich eine Frage aufwerfen, die bereits im Hintergrund präsent war, als es um Gadamers Gedanken zur Sprache ging: die Frage nämlich, ob Gadamer die Rhetorik für etwas in Anspruch nimmt, was im Grunde genommen auch schon die Sprache leistet. Ist die Sprache nicht so beschaffen, dass aufgrund der Vieldeutigkeit des gesprochenen Wortes von ihr „eine ständige Beirrung unserer Erkenntnis auszugehen vermag“45? Was ist die Aufgabe der Rhetorik, wenn es die Eigentümlichkeit der Sprache ist, Sachverhalte oft nur unangemessen in Worten Ausdruck verleihen zu können, so dass immer wieder erneut über diesen Sachverhalt etwas gesagt werden muss, um ihn komplex und differenziert wahrzunehmen? Bedarf die auf der Konzeption einer Ontologie der Sprache begründete Hermeneutik Gadamers einer rehabilitierten Rhetorik? Platons Folgerung, dass die bloße Kunstfertigkeit der Rede zur leeren Sophistik wird, wenn sie keinen angemessenen Inhalt besitzt, kehrt sich bei Gadamer in eigentümlicher Weise um: Die Hermeneutik muss, wenn sie das „tote“ Wort der Schrift zu lebendigem Sprechen auferwecken soll, der in Schrift fixierten Rede zur Beredsamkeit verhelfen. Wie die Beredsamkeit zu verstehen ist, lässt sich aus der genannten Umkehrung nicht präzis ableiten, sondern erst im Zusammenhang mit Platons Behauptung, die Schrift allein erzeuge keine Weisheit. Daraus folgt für die Hermeneutik: Wenn die Auslegung die Aufgabe hat, einen Text verständlich darzulegen, so muss sie mehr und anderes sein als der auszulegende Text selbst. Indem die Hermeneutik das zur Schrift erstarrte Wort neu zum Leben erweckt, überträgt sie die Sprache des Textes in die jeweilige Sprache der Auslegung, die ein ganz bestimmtes Verständnis des Textes zu explizieren sucht – und nicht die Dinge so erscheinen lässt, wie sie „wirklich“ sind. Würde sich die hermeneutische Aufgabe in diesem Aspekt erschöpfen, wäre es unwahrscheinlich, dass Gadamers Konzeption von Hermeneutik einer rehabilitierten Rhetorik als Voraussetzung für die Begründung und Erklärung der These vom Verstehen als Andersverstehen bedarf.
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Inwiefern aber trägt die Rhetorik zur Klärung dieser These bei? Ist das geschriebene Wort bereits mit „Leben“ erfüllt, nachdem es in die Sprache der Gegenwart übersetzt worden ist? Wenn es richtig ist, dass die Schrift allein keine Weisheit erzeugt, ist die Aufgabe, der in Buchstaben erstarrten Sprache die Einsichten zu entreißen, die mittels der Schrift anderen mitgeteilt werden sollen, nicht durch eine interpretative Übersetzung allein zu bewältigen. Um die Angemessenheit (oder Unangemessenheit) des Verstandenen zu prüfen, muss das, was verstanden worden ist, anderen mitgeteilt werden. Wenn Gadamer von den im „Phaidros“ getroffenen Bestimmungen zur „wirklichen“ Rhetorik behauptet, sie müssten auch auf die Hermeneutik zutreffen, und von ihrem Gegenstand erklärt, eine Spracherscheinung darzustellen, wie alle Phänomene der Verständigung, des Verstehens und Missverstehens, so zieht er offenbar die Möglichkeit in Erwägung, die sich weniger in der Kunst des Verstehens als vielmehr in der Kunst der Darlegung des Verständnisses angelegt findet. Auf die besondere Problematik dieser Weise der Mitteilung sind wir bereits durch Kant aufmerksam gemacht worden, für den Mitteilbarkeit und Plausibilität des Mitgeteilten letztlich darüber entscheiden, ob von dem, was jemand für wahr hält, andere überzeugt werden können. Diese Problemstellung kehrt bei Gadamer wieder; für ihn stellt die Verständigung eine Aufgabe dar, die ein jeder, der etwas verstanden hat, meistern muss, um prüfen zu können, ob das, was er verstanden zu haben meint, d. h. für wahr hält, auch von anderen als wahr anerkannt werden kann. Dazu muss er seine Darlegung des Verstandenen so vornehmen, dass diese in sich einleuchtend, evident und plausibel ist, so dass demjenigen etwas an Einsicht aufgeht, dem er es darlegt. Entscheidend dafür ist der Grad an Plausibilität und Wahrscheinlichkeit, die derjenige, der darlegt, was er für wahr hält, seinen Ausführungen zu verleihen vermag. Ob andere von seinen Darlegungen sich überzeugen lassen, hängt davon ab, was sie als glaubwürdig, richtig und offenkundig beurteilen. Da das Einleuchtende ebenso wenig bewiesen werden kann wie es schlechthin gewiss ist, bietet sich keine andere Möglichkeit, als andere durch die Kraft der Rede zu überzeugen, nicht um Recht zu behalten, sondern um den für wahr gehaltenen Sachverhalt selbst ausdrücklich zu Wort kommen zu lassen. Die Überzeugung, etwas verstanden zu haben, lässt sich nur auf dem Wege der Mitteilung des Verstandenen an andere prüfen. Die Leistung, die sich Gadamer von der Rhetorik verspricht, umfasst zwei Aufgaben: die Begründung der These vom Verstehen als Andersverstehen auf der Ebene der Rechtfertigung dessen, was anders und in neuer Weise verstanden worden ist, und die Erläuterung dieser These auf der Ebene des Schriftwerks46. Wenn die Auslegung mehr und anderes als der auszulegende Text selbst sein soll, um einen Text verständlich darzulegen,
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wird dieser Text nicht nur in die jeweilige Sprache der Auslegung übersetzt. Um einer solchen Aufgabe überhaupt gewachsen zu sein, bedarf es zunächst der Wiedererkenntnis von Sinnbezügen, über die der Interpret nachdenkt. Dem Verstehen ist ein Wiedererkennen vorausgesetzt, durch das es zum Andersverstehen wird. Im Nachdenken über das Wiedererkennen des vom Autor Erkannten vollzieht sich das den Sinn des Gelesenen aufnehmende Verstehen, das sich gegenüber dem Text und anderen Auslegungen in einer Weise zu rechtfertigen hat, die der Tätigkeit der Rhetorik, wie Gadamer sie beschreibt, gleicht. Auf unsere Frage, welche Konstellation die rehabilitierte Rhetorik zusammen mit der praktischen Philosophie in der Hermeneutik Gadamers bildet, erhalten wir eine Antwort, wenn wir betrachten, welche Überlegung Rhetorik und Hermeneutik bei der Begründung der hermeneutischen Grundthese vom Verstehen als einem Andersverstehen gemeinsam ist. Gadamer hat diese Überlegung im Zusammenhang mit der Destruktion der am modernen Methodengedanken orientierten Hermeneutik dargelegt: „Wo sonst sollte sich die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschließen als an die Rhetorik, die von der ältesten Tradition her der einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruches ist, der das Wahrscheinliche […] und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und Gewissheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt? Überzeugen und Einleuchten, ohne eines Beweises fähig zu sein, ist offenbar ebensosehr das Ziel und das Maß des Verstehens und Auslegens wie der Rede- und Überredungskunst […].“47 Ist die Hermeneutik der Anwalt eines solchen Wahrheitsanspruchs, so ist es nur konsequent, wenn Gadamer behauptet, dass Hermeneutik und praktische Philosophie konvergieren: Die philosophische Hermeneutik Gadamers ist in dem Sinne praktisch, als sie sich einer spezifischen, nicht objektivierbaren Wissensform der Überlieferung zuwendet, die weder ein Bestand noch etwas schlechthin Vorhandenes ist, da das Verstehen dieser Form von Wissen ein beständig prüfendes, alte Einsicht erweiterndes wie korrigierendes und neue Erfahrungen integrierendes Geschehen ist, das abhängig ist von der Sprache als der „allumfassende[n] Vorausgelegtheit der Welt“48. Gadamers Verständnis von Hermeneutik als praktischer Philosophie basiert auf der Korrektur eines wirkungsgeschichtlich diffamierten und verengten Rhetorikbegriffs, in dem das Problem, mit dem wir bei der Erörterung des Verhältnisses von Ethik und Hermeneutik konfrontiert worden sind, ungeklärt fortbesteht. Um andere zu dem überreden zu können, von dessen Wahrheit wir überzeugt sind, bedarf es einer wohlwollenden Aufmerksamkeit für das Dargelegte auf Seiten der anderen, ohne die sie kaum Anteil an dem nehmen werden, was uns wichtig erscheint. Dieser Aspekt ist von Gadamer unterschätzt worden.
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Anmerkungen 1 Hans-Georg Gadamer, Einleitung (1975) in: Das Problem des historischen Bewußtseins (1958). Tübingen 2001, 5. 2 Ders., Hermeneutik als praktische Philosophie, in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1991, 78–109, hier: 89, 105. 3 Ebd., 108. 4 Ebd., 84. 5 Ders., Historik und Sprache (1987), Gesammelte Werke (im Folgenden abgekürzt als GW), Bd. 10, 324–330, hier: 328. 6 Vgl. Gianni Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern. In: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2002, 50–60, hier: 54. 7 Thomas Hobbes, Grundzüge der Philosophie. Dritter Teil: Lehre vom Bürger (De Cive), aus dem Englischen übersetzt von Max Frischeisen-Köhler, Leipzig 1949, X, 11 und 12. 8 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1999, 111. 9 Immanuel Kant, Vorlesung über Encyclopädie und Logik, Berlin 1961, 56. 10 Auf Kants definitorische Erklärungen einzugehen, wann das Fürwahrhalten eine Überredung bzw. Überzeugung ist, halte ich in Bezug auf meine Fragestellung für nicht sinnvoll. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Bd. IV, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 111990, B 848, 687. 11 Ebd., 688. 12 Hans-Georg Gadamer, Über Hören (1998), in: ders., Hermeneutische Entwürfe: Vorträge und Aufsätze, Tübingen 2000, 48–55, hier: 54. 13 Ders., Und dennoch: Macht des Guten Willens, in: Philippe Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984, 59–61, hier: 59. 14 Ders., Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992), GW 8, 400–440, hier: 432f. 15 Ders., Sprache und Verstehen (1970), GW 2, 184–198, hier: 185. 16 Paul Natorp, Philosophische Systematik, Hamburg 2000, 371. 17 Hans-Georg Gadamer, Die Lektion des Jahrhunderts. Ein philosophischer Dialog mit Riccardo Dottori. Münster 2002, 59. 18 Ebd., 57. 19 Gianni Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern, a.a.O., 55. 20 Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, in: Sämtliche Schriften. Bd. 1, hrsg. von Klaus Stichweh und Marc B. de Launay, Stuttgart 1981, 9–197, hier: 126. 21 Paul Natorp, Philosophische Systematik, a.a.O., 371. 22 Hans-Georg Gadamer, Die Philosophie und ihre Geschichte (1998). In: ders., Hermeneutische Entwürfe: Vorträge und Aufsätze, Tübingen 2000, 69–96, hier: 205. 23 Gianni Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern, a.a.O., 54. 24 Paul Natorp, Philosophische Systematik, a.a.O., 33. 25 Hans-Georg Gadamer, Hegel und Heidegger (1971), GW 3, S. 87–101, hier: 101.
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Ders., Wahrheit und Methode, a.a.O., 415. Ebd., S. 413. – Sprache „ist nicht ein verschwindendes und vorübergehendes Medium des Gedankens oder seine sinnliche ‘Einhüllung’. Ihr Wesen beschränkt sich überhaupt nicht auf das bloße Offenbarmachen des Gedachten.“ Die Idee der Hegelschen Logik (1971), GW 3, 65–86, hier: 82. 28 Ders., Wahrheit und Methode, a.a.O., 416. 29 Ders., Bürger zweier Welten (1985), GW 10, 225–237, hier: 227. 30 Ders., Kausalität in der Geschichte (1968), GW 4, 107–116, hier: 110. 31 Im Folgenden orientiere ich mich an der erhellenden Darstellung von Josef Kopperschmidt, Nietzsches Entdeckung der Rhetorik. Rhetorik im Dienste der unreinen Vernunft, in: Josef Kopperschmidt u.a. (Hrsg.), Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, München 1994, 39–62, hier: 54. 32 Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885–1887, Kritische Studienausgabe (= KSA), hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München 1988, Bd. 12, 103, 2 (84). 33 Vgl. ders., Nachlaß 1884–1885, KSA 11, S. 654, 40 (53). 34 Diese Position vertritt u. a. Wilhelm Windelband mit der These, die Kenntnis, dass dies ein Stuhl, ein Baum usw. sei, Voraussetzung dafür ist, „was ich mit der Sache anfangen kann und wie ich mich zu ihr verhalten soll“. Geschichtsphilosophie. Eine Kriegsvorlesung, Kant-Studien Ergänzungsheft Nr. 38 (1916), 45. 35 Zu diesem Problemkreis vgl. die ausgezeichnete Untersuchung von Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999. Mit Kopperschmidt ist festzuhalten, dass der Bedeutungsgehalt des Schein-Begriffs sich nach 1872 bei Nietzsche von einem Schein, in dem die tragische Wahrheit menschlichen Daseins in bildhafter Gestalt erscheint, hin zu einem Schein verschiebt, der prinzipiell unaufhebbar und unhintergehbar ist. Nietzsches Entdeckung der Rhetorik, a.a.O., 43. 36 Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA 1, 875–890, hier: 879. 37 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, 115. 38 Zu anderen Aspekten dieser Parallelität habe ich mich geäußert in: Nietzsche and Neo-Kantianism: On Gadamer and Philology as an Untimely Reflection. In: New Nietzsche Studies. The Journal of the Nietzsche Society, Volume Five, No. 1 & 2, Spring/Summer 2002, 97–112. 39 Diese Fragen sollen die Komplexität einer Problemkonstellation veranschaulichen, die man zu unterschätzen in Gefahr ist, wenn die „Platonische Erörterung des Zusammengehörens von Rhetorik und Dialektik“ als diejenige philosophische Konzeption gelten soll, an die Gadamer sich – neben dem Entwurf einer praktischen Philosophie bei Aristoteles – orientiert habe. Günter Figal, Philosophische Hermeneutik – hermeneutische Philosophie, in: ders., Jean Grondin und Dennis J. Schmidt (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, Tübingen 2000, 335–344, hier: 338. 40 Hans-Georg Gadamer, Heidegger und das Ende der Philosophie. In: ders., Hermeneutische Entwürfe: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 195–207, hier: 205. 41 Gianni Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern, a.a.O., 53. 26
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42 Dazu Mirko Wischke, Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, Weimar/Köln 2001. 43 Hans-Georg Gadamer, Heidegger und das Ende der Philosophie, a.a.O., 202. 44 Michael Hofer, Selbstanzeige, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 12 (1999/2000), 275–277, hier: 277. 45 Hans-Georg Gadamer, Begriffsgeschichte als Philosophie (1970), GW 2, 77–91, hier: 79. 46 Von Gadamer ist diese These in der Frage veranschaulicht worden: „Wie ist es zu verstehen, daß ein und dieselbe Botschaft, die von der Tradition überliefert wird, trotzdem immer verschieden begriffen wird, nämlich je im Verhältnis zur konkreten historischen Situation dessen, der sie empfängt?“ Das Problem des historischen Bewußtseins (1958), Tübingen 2001, 33. Zu Gadamers Antwort auf diese Frage vgl. Mirko Wischke, Verstehen als Andersverstehen? In: Rainer Born u. Otto Neumaier (Hrsg.), Philosophie – Wissenschaft – Wirtschaft. Akten des VI. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Wien 2002, 467–472. Ders., Platon und der Historismus. Ein neukantianisches Interpretationsmotiv bei HansGeorg Gadamer. In: Methexis. Revista internacional de Filosofía Antigua XV (2003), 125–143. 47 Hans-Georg Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik (1967), GW 2, 232–250, hier: 236. 48 Ders., Begriffsgeschichte als Philosophie, a.a.O., 79.
Die Autoren Andreas Arndt, apl. Professor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Nicholas Davey, Head of Department at the University of Dundee (Schottland). Oscar M. Esquisabel, Professor an der Universidad Nacional de La Plata. Günter Figal, Professor an der Universität Freiburg im Breisgau. Jean Grondin, Professor für Philosophie an der Université de Montréal. Kai Hammermeister, Professor am Department of Germanic Languages and Literatures an der Ohio State University. Michael Hofer, Univ. Ass. am Institut für Philosophie der Kath. Theol. Privatuniversität Linz. Konrad Paul Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität Wien. James Risser, „Axer Professor of Philosophy“ an der Seattle University. Holger Schmid, Privatdozent in Halle. Robert Schnepf, Oberassistent am Lehrstuhl für theoretische Philosophie des Instituts für Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gunter Scholtz, Professor für „Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften“ am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. P. Christopher Smith, Professor für Philosophie an der University of Massachusetts Lowell. Ruth Sonderegger, Assistent Professor für Philosophie/Abteilung Metaphysik an der Universiteit van Amsterdam. Šteˇpán Špinka, lehrt Philosophie an der Karlsuniversität Prag, wo er Mitglied des Instituts für Philosophie und des Zentrums für Phänomenologische Forschung ist. Ad Verbrugge, Hauptdozent (Kandidat-Professor) für soziale und kulturelle Philosophie an der Vrije Universiteit in Amsterdam. Brice R. Wachterhauser, Associate Professor für Philosophy und Dean of the College of Arts and Sciences an der Saint Joseph’s University in Philadelphia. David Weberman, Associate Professor of Philosophy an der Georgia State University. Mirko Wischke, seit 2002 Gastprofessor an der Universität Olmütz, ab 2003 Direktor von Scientia humana Olomucensis. Mährisches Forschungszentrum für deutschsprachige Philosophie.