Gerechtigkeit und inklusiver Rechtspositivismus [1 ed.] 9783428510573, 9783428110575

Lilja Székessy behandelt die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und ihrer Realisierung durch das Recht.Im ersten Tei

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German Pages 180 Year 2003

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Gerechtigkeit und inklusiver Rechtspositivismus [1 ed.]
 9783428510573, 9783428110575

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LILJA SZEKESSY

Gerechtigkeit und inklusiver Rechtspositivismus

Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Heinrich Dömer Dr. Dirk Ehlers Dr. Ursula Nelles

Band 150

Gerechtigkeit und inklusiver Rechtspositivismus

Von

Lilja Szekessy

Duncker & Humblot . Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden im Allgäu Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-11057-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Meiner Familie

Vorwort Diese Arbeit hat der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Sommersemester 2002 als Dissertation vorgelegen. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Valentin Petev, möchte ich von ganzem Herzen für die Anregung zu diesem Thema, für seine kontinuierliche Unterstützung und sein Verständnis danken. Ohne seine Geduld und sein Engagement wäre diese Arbeit nicht vollendet worden. Ich danke auch Herrn Professor Dr. Thomas Klicka für seine zügige Zweitkorrektur. Dank schulde ich ferner dem Freundeskreis Rechtswissenschaft e. V., dem Verein zur Förderung der juristischen Ausbildung an der Universität Münster, für seine großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ich möchte diese Arbeit meiner Familie widmen, die mich in vielfältiger Weise bei ihrer Erstellung und Fertigstellung unterstützt hat. Meinen Eltern danke ich insbesondere für ihre ständige Ermunterung durch freundliche Nachfragen und ihre finanzielle Förderung. Mein Mann Martin und meine Söhne Jasper und Jakob waren eine große Inspiration und Hilfe und haben mir auf vielen Spaziergängen als Diskussionspartner geholfen. Ihnen danke ich für ihr Verständnis, ihre Geduld und ihre liebevolle Unterstützung. Berlin, im Juni 2003

Lilja Szekessy

Inhaltsverzeichnis Einleitung ....................................... . . . ............. . ....

II

Erstes Kapitel

I.

Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

15

Analyse ausgewählter Gerechtigkeitstheorien .......................

15

1. Grundlegende Gerechtigkeitstheorien: Aristoteles und Rawls .........

16

a) Die Nikomachische Ethik des Aristoteles . . ............. . .......

16

b) A Theory of Justice von John Rawls .... .. .................. . . . 20 c) Vergleich der beiden grundlegenden Gerechtigkeitstheorien ....... 22 2. Modeme Gerechtigkeitsansätze ............. . ............ . ........ 24 a) Überblick über die derzeitige Gerechtigkeitsdiskussion ........... 24 aa) Gerechtigkeit als impartiality: Brian Barry .......... . ...... 24 bb) Gerechtigkeit als desert: Wojciech Sadurski . ........ .. ..... 25 cc) Gerechtigkeit verteilt auf gesellschaftliche Sphären: Michael Walzer ............ .. ..................................

25

dd) Gerechtigkeit als komplexe soziale Moral: Valentin Petev . . . 26 ee) Gerechtigkeit als universeller Wert: Jürgen Habermas ...... . 27 b) Analyse der modemen Gerechtigkeitstheorien ................... 28

11.

Analytik des Gerechten ........................................... 29 1. Formale Gerechtigkeitskomponente ........... . . . .................

30

2. Materielle Gerechtigkeitskomponente ... . ... .. ....... . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Entstehung des Moralbegriffs in einer Gesellschaft .......... . ...

33

b) Moralvorstellungen einer wertpluralistischen Gesellschaft. . . . . . . ..

34

3. Subjektives Element der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

36

4. Funktion der Kategorien der Gerechtigkeit ... ....... . . . . .. ... . .... . 37 5. Ergebnis .... . ......... . ................ . . . ........... . . . .......

38

6

Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel

Gerechtigkeit durch Recht I.

40

Der Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus zur Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Recht: die angelsächsische Diskussion ....................................................... 41 1. Klassischer Positivismus: Jeremy Bentham und John Austin . . . . . . . . .. 42 a) Positivistische Reaktion auf Blackstones Naturrecht: Bentham .... 42 b) Bestätigung und Erweiterung Benthams durch Austin ............ 44 2. Grundlage der modemen Diskussion: H. L. A. Hart ................. 45 a) Harts Kritik des klassischen Positivismus ....................... 45 b) Die Regellehre Harts ......................... . . . . . . . . . . . . . . .. 46 c) Die Trennungsthese .......................................... 48 d) Minimum content of natural law .............................. 50 e) Das Verhältnis von Recht, Gerechtigkeit und Moral bei Hart ......

51

3. Moralität des Rechts durch seine Ordnungsfunktion: Lon Fullers Kritik an Harts Theorie ................................................ 51 4. Ein nichtpositivistisches Gegenmodell als Gesamtkritik an Hart: Ronald Dworkin ................................................

54

a) Dworkins Kritik an Hart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

54

b) Dworkins eigene Theorie: Die Betonung der Rolle von Richtern und Rechten ................................................

56

c) Kritik des Dworkinschen Ansatzes ............................. 57 5. Inklusiver Positivismus: Verteidigung und Weiterentwicklung der Hartsehen Theorie .................................................. 59 a) Betonung des inklusiven Positivismus durch Jules Coleman, und die Kritik von Dworkin ......................................

60

b) Matthew Kramer und die Frage nach einer noch weitergehenderen Integration der Moral in das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

65

6. Exklusiver Positivismus: Betonung der Autorität durch Joseph Raz ...

66

a) Die Autorität des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

66

b) Die Geltung des Rechts ......................................

67

c) Das Problem der discretion ...................................

67

d) Die Rolle der rule of recognition für die Autorität des Rechts .....

69

e) Die Rolle der Trennungsthese bei Raz ......................... 71 7. Bewertung der angelsächsischen Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

72

Inhaltsverzeichnis 11.

7

Die deutschsprachige Diskussion zwischen Positivismus und Nichtpositivismus ........................ . ............. . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. 73 I. Klassischer deutschsprachiger Rechtspositivismus: Der frühe Gustav Radbruch und Hans Kelsen .... . ................................. 74 a) Der frühe Radbruch ....... . . .. . .. . . . . .. . . . .. . .. .. . . .. . . . .. ... 74 b) Hans Kelsen: Recht und Gerechtigkeit auf der Basis der Reinen Rechtslehre ................................. . ........... . ... 75 2. Radbruch nach dem 2. Weltlcrieg: die Radbruchsche Formel . . . . . . . . .. 77 3. Moderner deutscher Nichtpositivismus: Die Verbindung von Gerechtigkeit und Recht durch den Richtigkeitsanspruch bei Robert Alexy ..... 79 a) Der Richtigkeitsanspruch in Alexys Rechtsbegriff ......... . . . ... 79 aa) Das Richtigkeitsargument ......... . ...................... 80 bb) Das Unrechtsargument .. . . ... . . . . . . . . . .. . ... . . . .. . . . . . ... 82 cc) Das Prinzipienargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 86 b) Kritik des Alexyschen Richtigkeitsanspruchs .............. . . . ... 88 aa) Bulygins Kritik des Richtigkeitsarguments ................. 89 (I) Nichterhebung des Richtigkeitsanspruchs bei einzelnem

Gesetz/Urteil ................... . ............. . ..... 89

(2) Die Unzulänglichkeit der Begründungsbeispiele für den Richtigkeitsanspruch . . ...... ... ............... . ..... 90 (3) Methodisches Problem der Begründung durch Beispiele . 92 (4) Berechtigung von Bulygins Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 92 bb) Eigene Kritik des Alexyschen Richtigkeitsanspruchs ........ 93 (I) Kritik des Richtigkeitsarguments ... . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

93

(2) Kritik des Unrechtsarguments ................. . . . .... 94 (3) Kritik des Prinzipienarguments ....................... 98 4. Moderner deutschsprachiger Rechtspositivismus .......... .. ........ 99 a) Für einen besseren Rechtspositivismus: Ralf Dreier .......... . ... 99 b) Klassischer Positivismus: Norbert Hoerster ..................... 100 c) Institutionalistischer Rechtspositivismus: Ota Weinberger und Neil MacCormick ................................................ 101 aa) Nonkognitivismus und institutionelle Tatsachen ............. 101 bb) Der Begriff des Rechts im Institutionalistischen Rechtspositivismus ................................................. 102 cc) Gerechtigkeit im Institutionalistischen Rechtspositivismus ... 104 dd) Kritik des Institutionalistischen Rechtspositivismus . . . . . . . . .. 105 5. Bewertung der deutschsprachigen Diskussion ....................... 106

8

Inhaltsverzeichnis

IH. Vergleich der angelsächsischen und der deutschsprachigen Diskussion zur Analyse des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit .......... 108 I. Vergleich der angelsächsischen und deutschsprachigen Diskussionen .. 108 2. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Recht ...... 1II

Drittes Kapitel

Anwendungsfälle von Gerechtigkeit in verfassungsrechtlicher Rechtsprechung I.

Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in Ungarn nach 1989

114 115

I. Historischer und politischer Überblick ............................. 115 2. Verfassung und Verfassungsprinzipien ............................. 119 a) Die Verfassung von 1989 ..................................... 119 b) Die Wertehierarchie der Verfassungsprinzipien .................. 121 3. Die politische und rechtliche Stellung des Gerichts .................. 123 a) Die Stellung des Gerichts in der ungarischen Gesellschaft ........ 124 b) Die rechtliche Stellung des Gerichts ........................... 126 4. Wichtige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts .................. 128 a) Die Entscheidung über den Gesetzlichkeitseinspruch ............. 128 b) Die Verjährungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . .. 130 aa) Das erste Verjährungsgesetz .............................. 130 bb) Das zweite Verjährungsgesetz und die Rolle des Völkerrechts 132 c) Argumentationsansätze in den Urteilen ......................... 134 aa) Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit ................... 135 bb) Materielle Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit ............ 136 cc) Die Auswirkungen des Systemwechsels auf das Recht ....... 137 dd) Völkerrechtliche Aspekte ................................ 139 5. Analyse der Rechtsprechung des Gerichts ............ '" ........... 139 a) Das Wesen des Umbruchs in der Rechtsprechung des Gerichts .... 140 b) Der Rechtsbegriff des Verfassungsgerichts ...................... 144 H.

Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in Deutschland nach 1945 und nach 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 146 I. Verfassung, insbesondere Art. 103 Abs. 2 GG ...................... 146 2. Wichtige Entscheidungen des Verfassungsgerichts ................... 147 a) Nach dem 2. Weltkrieg: Wiedereinbürgerungsurteil .............. 147 b) Nach der Wiedervereinigung: Mauerschützenurteil ............... 149

Inhaltsverzeichnis

9

aa) Das Urteil des BGH ..................................... 149 bb) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts .... . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Analyse der Rechtsprechung des Gerichts ......................... . 152 a) Die Kritik von Alexy ......................... . . . ............ 153 b) Der Rechtsbegriff des Verfassungsgerichts ............... . ...... 158 III. Vergleich der Argumentationsweisen und der theoretischen Ansätze der beiden Verfassungsgerichte und ihre Bedeutung f"ur die Gerechtigkeit 158 l. Vergleich der geschichtlichen Hintergründe in Deutschland und Ungarn 159

2. Vergleich der Rechtsbegriffe der beiden Gerichte und die Auswirkung auf die Gerechtigkeit ............................................ 160 Ergebnis ....... . ....................... . .............................. 163 Literaturverzeichnis ................................................... 165 Stichwortverzeichnis .................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Einleitung Jeder Mensch, jede Gesellschaft hat moralische Vorstellungen über das gute Leben des einzelnen und das Leben der Gemeinschaft, darüber, was der einzelne und die Gemeinschaft dürfen und sollen. Die Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang einer der wichtigsten moralischen Begriffe, der jahrtausendelang die Debatte über das Konzept des öffentlichen Lebens bestimmt hat und eine Vielzahl von philosophischen und politischen Theorien inspiriert hat. Die Frage, wann eine Situation oder ein Handeln als gerecht zu bewerten ist, hat Theoretiker und Praktiker immer wieder aufs neue beschäftigt. 1 Eng verbunden mit der Frage nach der Gerechtigkeit ist die Frage nach ihrer Realisierung. Als wichtigstes Instrument gilt hier das Recht, dessen regulative Idee der Gerechtigkeit besonders nahe steht. Auch das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Recht, das allgemein als ein besonderes angesehen wird, ist vielfältig interpretiert und bewertet worden. Ziel dieser Arbeit ist es, einerseits eine Konzeption von Gerechtigkeit zu entwickeln und andererseits die Beziehungen zwischen Gerechtigkeit und dem Recht zu beleuchten, um ein für die Praxis anwendbares Kriterium von Gerechtigkeit und gerechtem Recht zu erhalten. Eine differenzierte Anwendung der beiden Konzeptionen soll eine möglichst genaue Betrachtung von Gerechtigkeitssituationen und -verhältnissen und eine Bewertung konkreter Ereignisse ermöglichen. Die Anwendbarkeit der Analyse soll dann anhand von zwei konkreten Beispielen verfassungsgerichtIicher Rechtsprechung untersucht werden. Im folgenden soll daher im I. Kapitel der Begriff der Gerechtigkeit analysiert werden, um eine Kategorie der Gerechtigkeit zu erhalten. Zu diesem Zweck werden beispielhaft einzelne Gerechtigkeitstheorien herangezogen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit zu erhalten. Dabei soll argumentiert werden, daß Gerechtigkeit grundsätzlich aus zwei Aspekten besteht: einem gerechtigkeitsspezifischen formellen Aspekt und einem materiellen Aspekt, der seine normative I Allerdings gewinnt neben der Gerechtigkeit zunehmend die Konzeption der Menschenrechte an Bedeutung, möglicherweise weil Gerechtigkeit oft in Verbindung mit dem Staat theoretisiert wird, während die Beschäftigung mit den Menschenrechten die wachsende Bedeutung des Individuums gegenüber dem Staat reflektiert. Vgl. auch Campbell, Justice, S. 254 ff.; ders., Human Rights, S. 55 ff.

12

Einleitung

Bedeutung durch die jeweilige gesellschaftliche Moral erhält. Die jeweilige gesellschaftliche Moral beruht auf den in einer gegebenen Gesellschaft vorherrschenden moralischen Vorstellungen; als Sozialmoral ist sie das Gemeinsame in den individualmoralischen Vorstellungen von Mehrheiten einzelner Mitglieder einer Gesellschaft. Gerechtigkeit ist daher nicht absolut zu sehen, sondern unterliegt dem historischen Wandel. Damit zielt Gerechtigkeit als Kategorie auf die Realisierung von moralischen Überzeugungen, die in einer gegebenen Gesellschaft vorherrschen. Gerechtigkeit unterscheidet sich daher ihrem Wesen nach von anderen moralischen Kategorien wie Gut und Böse, da diese Ausdruck individueller Moral sind. Hinzu kommt, daß die Gerechtigkeit einerseits einen formellen Teil beinhaltet, zum anderen aber gesellschaftlich festgelegter moralischer Kriterien bedarf, um ihren formellen Teil mit Sinn zu erfüllen. Im 2. Kapitel soll sodann das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit untersucht werden. Dem Recht wird oft eine besondere Nähe zur Gerechtigkeit nachgesagt, die sich vor allem daraus ergibt, daß beide sozial relevante Handlungsstandards darstellen. Es soll argumentiert werden, daß Recht das geeignete Instrument zur Durchsetzung von Sozialmoral und Gerechtigkeit ist, und untersucht werden, wie das Recht beschaffen sein muß, um vorherrschende moralische Vorstellungen einer Gesellschaft durchzusetzen. Hier wird von der Regelungsfunktion des Rechts ausgegangen. Das Recht kann diese seine Funktion nur erfüllen, wenn seine Geltung von der normativen Kraft der jeweils herrschenden Moralvorstellung unabhängig ist. Seine Funktion als Ordnungssystem ist gefährdet, wenn es mit moralischer Gebundenheit überfrachtet wird. Jedoch bleibt eine "moralische" Kritik des geltenden Rechts davon unberührt. Die Frage, wie das Verhältnis von Recht und Moral zu sehen ist, ist Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Rechtspositivismus und "Nichtpositivismus,,2. Diese Auseinandersetzung soll in ihren wichtigsten Grundzügen vorgestellt werden, um das Verhältnis von Recht und Moral im allgemeinen und dessen Funktion für die Umsetzung von Gerechtigkeit im besonderen zu analysieren. Die verschiedenen Ausprägungen des Rechtspositivismus und des Nichtpositivismus sollen vor allem daraufhin überprüft werden, ob sie der spezifischen Natur der Gerechtigkeit "gerecht" werden. Im angelsächsischen Raum wurde die Problematik, inwieweit Recht moralisch sein kann und soll, seit der grundlegenden Auseinandersetzung zwi2 Der Begriff des "Nichtpositivismus" stammt ursprünglich aus dem Bereich der angelsächsischen Rechtstheorie und beschreibt dort die Theoretiker, die bewußt gegen den Positivismus argumentieren. Der Begriff ist zunehmend aber auch in Deutschland gebräuchlich, vgl. Alexy, Begriff des Rechts.

Einleitung

13

sehen H. L. A. Hart und Lon Fuller weiterentwickelt. Auf der positivistischen Seite hat sich eine Unterscheidung zwischen "inklusivem" und "exklusivem" Positivismus herausgebildet. Ersterer, der vor allem von Jules Coleman vertreten wird, behauptet, daß die Geltung des Rechts von einer rule of recognition abhängt, in die auch moralische Elemente aufgenommen werden könnten, und versucht so, Bedenken des Nichtpositivismus zu integrieren, ohne die Grundthesen des Positivismus in Frage zu stellen. Letzterer, der von Joseph Raz entwickelt wurde, bestreitet, daß solch eine "Aufweichung" möglich ist. Beide sehen sich dabei in der Nachfolge von Hart. Die nichtpositivistische Position, daß das Recht in Regeln und Prinzipien aufgeteilt sei, daß letztere moralischen Charakter hätten und somit die Geltung des Rechts doch auch von seiner moralischen Richtigkeit abhängen müsse, wird in der Nachfolge Fullers, aber mit veränderter Schwerpunktsetzung, vor allem von Ronald Dworkin vertreten. In der deutschsprachigen Diskussion ist es vor allem Robert Alexy, der aufbauend auf Gustav Radbruch einen eigenen nichtpositivistischen Ansatz entwickelt hat, dergestalt, daß in Fällen extremen Unrechts der moralische Unwert eines Gesetzes seine Gültigkeit aufhebt; positivistische Positionen vertreten in der speziellen Form des institutionalistischen Rechtspositivismus Ota Weinberger und Neil MacCormick und in der direkten Nachfolge Herbert Harts Ralf Dreier und Norbert Hoerster. Die spezifische Auseinandersetzung zwischen inklusivem und exklusivem Positivismus ist in Deutschland bislang nicht nennenswert rezipiert worden 3 ; insofern ist es ein Anliegen dieser Arbeit, sie auch hier bekannt zu machen. Es soll argumentiert werden, daß der angelsächsische inklusive Positivismus am besten geeignet ist, das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit zu bestimmen und zu zeigen, wie Recht dazu dienen kann, Gerechtigkeit durchzusetzen. Dabei wird wie schon erwähnt argumentiert, daß die Geltung des Rechts nicht von moralischen Überlegungen abhängt. Die Gegenpositionen von Dworkin, der die Individualmoral in den Vordergrund stellt und für die Geltung des Rechts bestimmend macht, und der deutschen Nichtpositivisten, für die die Geltung des Rechts von seiner Übereinstimmung mit der Sozialmoral abhängt, vermögen nicht zu überzeugen. Im 3. Kapitel sollen schließlich die in den ersten beiden Kapiteln herausgearbeiteten theoretischen Ergebnisse daraufhin untersucht werden, ob sie durch die Praxis bestätigt werden und verwendbar sind. Zu diesem Zweck wird die Rechtsprechung von zwei Verfassungsgerichten in Umbruchssitua3 Nicht einmal das recht breit angelegte Werk von Walter Ott, Rechtspositivismus, erwähnt die Debatte zwischen inklusivem und exklusivem Positivismus, sondern läßt es mit Hart bewenden, obwohl die 2. überarbeitete Version von Otts Werk 1992 erschienen ist. 2

Sz~kessy

14

Einleitung

tionen daraufhin untersucht, ob und wie sie in ihren Entscheidungen gerechtigkeitsspezifische Überlegungen miteinbeziehen, und ob sie die These des 2. Kapitels bestätigen, daß zur Durchsetzung dieser Gerechtigkeit - die in einem bestimmten Typus von Recht jeweils enthalten ist - ein "inklusivpositivistischer" Begriff des Rechts erforderlich ist, dessen Geltung allerdings nicht von seiner moralischen Wertigkeit abhängt. Sowohl in Ungarn wie in Deutschland ist es wegen des Zusammenbruchs des Sozialismus in Osteuropa zu Systemveränderungen gekommen; die sozialistische Staatsform wurde abgelöst durch eine parlamentarische Demokratie. Im Falle von Deutschland war dies sogar der zweite System wechsel innerhalb von fünfzig Jahren, nach dem Fall des Dritten Reichs 1945. Die Umbruchssituationen, mit denen das ungarische und das deutsche Verfassungsgericht konfrontiert wurden, bieten sich für grundlegende Untersuchungen an, da der Wechsel der zugrundeliegenden Rechts- und Werteordnungen das Problem kollidierender Werte und damit das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht besonders deutlich macht. Verfassungsgerichte wenden im Rahmen der Verfassungsinterpretation direkter grundlegende Werte an als es nachgeordnete Gerichte tun. Die grundlegend verschiedene theoretische Herangehensweise des deutschen und des ungarischen Verfassungsgerichts liefert den Nachweis, daß die hier durchgeführte Analyse verwertbar ist und praktische Folgen hat. Das ungarische Gericht trennt zwischen Gerechtigkeit und Moral auf der einen Seite und Recht auf der anderen, indem es die Geltung eines Gesetzes nicht von seinem moralischen Gehalt abhängig macht; im Gegenteil geht die formale Rechtssicherheit materieller Gerechtigkeit vor. Damit folgt es dem Ansatz des inklusiven Positivismus. Das deutsche Gericht hingegen postuliert einen absoluten Gerechtigkeitsanspruch des Rechts zumindestens in Fällen extremen Unrechts, und macht in diesen Fällen die Geltung des Rechts von seinem moralischen Gehalt abhängig. Es folgt somit Radbruchs und Alexys Ansatz. Es zeigt sich, daß sich die in der theoretischen Diskussion in Kapitel 2 ermittelten Ergebnisse auch bei der Analyse der praktischen Beispiele als haltbar erweisen. Der ungarische Ansatz ist überzeugender, seine Begründung des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit ist argumentativ stichhaltiger.

Erstes Kapitel

Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit Im folgenden sollen zur Ermittlung des Wesens der Gerechtigkeit und der Formulierung einer Gerechtigkeitskonzeption zunächst einige einflußreiche Gerechtigkeitstheorien untersucht werden und darauf aufbauend dann die analytisch notwendigen Bestandteile einer Gerechtigkeitskonzeption ermittelt werden. Auf diese Weise soll das Wesen der Gerechtigkeit bestimmt werden, um eine verwertbare Konzeption der Gerechtigkeit zu ermitteln.

I. Analyse ausgewählter Gerechtigkeitstheorien Es gibt eine Vielzahl von Gerechtigkeitstheorien aus allen Zeiten und Denkschulen. Betrachtet man jedoch beispielhaft die einflußreichsten Theorien, so stellt man fest, daß trotz aller Unterschiede bestimmte Merkmale immer wieder genannt werden, und eine bestimmte Grundstruktur erkennbar ist. Jede Gerechtigkeitstheorie enthält ein Verfahren zur Gewinnung der Gerechtigkeit, indem mindestens zwei Tatbestände zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Jede Gerechtigkeitstheorie enthält moralische Vorgaben als Maßstab des Verfahrens. Und schließlich ist das Ziel jeder Theorie ein Equilibrium, ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Tatbeständen. Die Theorien unterscheiden sich vor allem in der Art der moralischen Vorgaben, ob diese absolut oder relativ sind, bezüglich der Breite dessen, was die Gerechtigkeit umfaßt sowie in den Einzelheiten des Verfahrens zur Gerechtigkeitsgewinnung. Dieses kann aus schlichter Gegenüberstellung bestehen oder in der Konstruktion aufwendiger Verfahren. Im folgenden sollen anhand ausgewählter Gerechtigkeitstheorien die beschriebenen Gemeinsamkeiten nachgewiesen werden, um darauf aufbauend unter 11. eine Analytik des Gerechten zu ermitteln. Dazu werden zunächst die Theorien von Aristoteles und Rawls untersucht. Aristoteles als der prägende Gerechtigkeitstheoretiker der Antike und der frühe Rawls als der Begründer der modemen Gerechtigkeitstheorie zeigen die Kontinuität bestimmter Gerechtigkeitselemente über die Epochen. Beide verbindet neben diesen Gerechtigkeitselementen, daß sie von einer Gesellschaft mit einer einheitlichen Moralvorstellung ausgehen. Schließlich haben beide einen uni2"

I. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

16

versalistischen Anspruch für ihre Gerechtigkeitstheorie, auch wenn Rawls recht offensichtlich von einer bestimmten Gesellschaftsform ausgeht. Ein kurzer Überblick über eine Reihe moderner Theoretiker wird zeigen, daß diese zwar ebenfalls strukturell gleiche Grundelemente haben, andererseits aber sich von dem universalistischen Ansatz verabschiedet haben. Am Beispiel von Barry, Sadurski, Walzer, Petev und Habermas sollen die Bandbreite heutiger Gerechtigkeitstheorien sowie die verschiedenen Interessenlagen, die diese Theorien bedienen, aufgezeigt werden. 1. Grundlegende Gerechtigkeitstheorien: Aristoteles und Rawls Sowohl Aristoteles wie Rawls behandeln die Gerechtigkeit als substan~ tieHe moralische Kategorie. Das Verfahren zur Gewinnung eines gerechten Zustandes ist bei bei den jedoch formalisiert.

a) Die Nikomachische Ethik des Aristoteles Aristoteles hat als einer der ersten eine umfangreiche Theorie der Gerechtigkeit entwickelt. Sein Ansatz ist praktisch orientiert, auf die reale Welt hin, in Abgrenzung etwa zu Platon und seiner Lehre der Ideenwelt. Für Aristoteles ist Gerechtigkeit eine Tugend, also eine Gerichtetheit des Willens auf das sittlich Gute. Seine Betrachtungen über die Gerechtigkeit sind Teil seiner Ethik und werden vor allem im 5. Kapitel der Nikomachisehen Ethik erläutert. Darin unterscheidet er zwischen verstandes mäßigen Tugenden, die der Mensch erlernt, und ethischen Tugenden, die aus der Gewohnheit entstehen. Zu ersteren gehören die Weisheit, die Auffassungsgabe und die Klugheit, zu den letzteren Großzügigkeit, Besonnenheit oder Gerechtigkeit. I Das Wesen der ethischen Tugend besteht darin, daß es zwischen zwei Extremen das Mittlere bildet; Aristoteles geht davon aus, daß jede Art der ethischen Tugend in Eigenschafts-Bereichen mit entgegengesetzten Extremen liegt (also zu viel oder zu wenig von einer Eigenschaft) und in diesem jeweiligen Bereich die Mitte bildet. 2 Die Tugend besteht darin, diese Mitte zu finden und sich dafür zu entscheiden, sie impliziert also ein Handeln. So bildet Tapferkeit die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Besonnenheit die Mitte zwischen Zügellosigkeit und Gefühlskälte und Großzügigkeit die Mitte zwischen Übermaß und Mangel. Hinzu kommt, daß das tugendI

2

Aristoteles, 1103 a 3 ff. Die sogenannte Metotes-Lehre, Aristoteles, 1106 b 24.

I. Analyse ausgewählter Gerechtigkeitstheorien

17

hafte Handeln in der Hand des Menschen liegt, also das Produkt einer freiwilligen Entscheidung ist. Die vornehmste der oben genannten ethischen Tugenden ist für Aristoteles die Gerechtigkeit, da sie nicht nur auf den einzelnen selbst gerichtet ist, sondern nur auf den anderen? Insofern ist die Gerechtigkeit nicht nur eine einzelne Tugend wie die Tapferkeit oder die Besonnenheit, sondern sie ist auch der gesamte Gebrauch der Tugend gegenüber anderen, ebenso wie die Ungerechtigkeit die Schlechtigkeit gegenüber anderen ist. Die beiden Extreme, zwischen denen die Gerechtigkeit die Mitte bildet, sind zum einen, mehr zu nehmen, als einem zusteht (Unrecht tun), und zum anderen, Ungerechtigkeit freiwillig hinzunehmen, also weniger als das Verdiente oder Unverdientes hinzunehmen (Unrecht leiden). Gerechtigkeit beinhaltet Proportionalität, und die beiden Extreme, zwischen denen die Gerechtigkeit das Mittel bildet, verletzen die Proportionalität, die letztlich Rechtmäßigkeit bedeutet. Das Besondere an der Gerechtigkeit ist, daß sie die Mitte selbst schafft, während die Ungerechtigkeit beide Extreme schafft4 , das Übermaß und den Mangel. s Allerdings ist für Aristoteles Ungerechtigkeit nicht gleich Unrecht. Zwar ist jede Ungerechtigkeit Unrecht, aber nicht jedes Unrecht ist ungerecht. Unrecht tun besteht darin, sich selbst zu viel an sich Gutes zuzuteilen. 6 Hinzu kommt, daß auch zufälliges Handeln zu der selben Folge führen kann wie gerechtes oder ungerechtes, ohne daß man das Handeln gerecht oder ungerecht nennen kann. Aristoteles geht davon aus, daß die Fähigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit darin beruht, daß er Teil einer Gruppe ist. Das Individuum allein und für sich ist nicht gerechtigkeitsfähig, da das Gleiche als wichtigster Bestandteil der Gerechtigkeit immer mindestens zwei Individuen voraussetzt. 7 Aristoteles unterscheidet zwei Formen der Gerechtigkeit, die allgemeine und die besondere. Die allgemeine Gerechtigkeit bezeichnet als Oberbegriff die vollständige Befolgung aller Tugenden in Bezug auf andere Menschen zur Förderung des Gemeinwohls und ihre Wirkung auf diese. 8 Aristoteles nennt sie rechtliche Gerechtigkeit, da er seine Gerechtigkeitsanalyse auf der Aristoteles, 1129 b 26. Aristoteles, 1133 b 32. 5 Während man sich die anderen Tugenden in der Tugendlehre als Mittelpunkt einer Geraden vorstellen kann, die auf beiden Seiten des Mittelpunkts gleich verläuft, ist das Bild bei der Gerechtigkeit so, daß die beiden Seiten, die von der Gerechtigkeit in der Mitte sich wegbewegen, unterschiedlich aussehen. 6 Aristoteles, 1134 a 30 ff. 7 Aristoteles, 1131 a 15. 8 Aristoteles, V,I: 1129 b 26 bis IBO a 13. Die Frage ist, inwieweit eine solche allgemeine Gerechtigkeit nicht einfach Tugendhaftigkeit als moralische Kategorie darstellt. 3

4

I. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

18

griechischen Polis aufbaut, in der das gesamte Leben durch positives Recht geregelt ist. Dies zeigt sich besonders in seiner Betonung der Billigkeit als Teil der besonderen Gerechtigkeit. Diese dient als Korrektur des gesetzlich Gerechten, da Gesetze notwendigerweise allgemein fonnuliert sind, und diese Allgemeinheit im Einzelfall nicht ausreichend sein kann. 9 Die besondere Gerechtigkeit regelt, wie im Rahmen der Beziehungen der einzelnen Menschen untereinander Gleichheit zu erzielen ist. Aristoteles differenziert dabei zwischen der distributiven und der korrektiven Gerechtigkeit. 10 Die distributive Gerechtigkeit verteilt innerhalb einer Gemeinschaftsfonn die verschiedenen Güter, um Gleichheit zu erlangen, wobei nicht numerisch vorgegangen wird, sondern proportional. Aristoteles vergleicht die distributive Gerechtigkeit mit geometrischer, also proportionaler Gleichheit. 11 Die korrektive Gerechtigkeit, auch iustitia correctiva genannt, regelt die Beziehungen der einzelnen untereinander, wobei diese freiwillig oder unfreiwillig sein können. Allerdings beschränkt sich die Regelung der Beziehungen, im Unterschied zum späteren weiteren Begriff von der iustitia commutativa, auf den Ausgleich von Ungleichgewichten zwischen den Parteien, die etwa durch vertragswidriges Verhalten oder allgemein schädigendes Verhalten entstanden sind, z. B. indem der durch den Schädiger erworbene Gewinn weggenommen wird oder indem bei einer Körperverletzung der Verletzende bestraft wird (was Aristoteles ebenfalls als "Gewinn wegnehmen" bezeichnet).12 Die iustitia correctiva stellt die Mitte zwischen Schaden und Gewinn dar. Aristoteles bezeichnet sie als arithmetische Gerechtigkeit. Während die distributive Gerechtigkeit eine höhere Autorität erfordert, die die Verteilung vornimmt und gegenüber unbegrenzt vielen Individuen denkbar ist, solange es mehr als zwei sind, gehen bei der korrektiven Gerechtigkeit die Parteien direkt miteinander um. 13 Aristoteles, 1137 b I ff. Der bekanntere Ausdruck der iustitia commutativa stammt nicht von Aristoteles, sondern von Thomas von Aquin, der in seinen Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik diesen Begriff erstmals einführte und zugleich den Anwendungsbereich erweiterte. Vgl. Thomas von Aquin, 11-11 q. 61, 1-3. 11 Aristoteles, V 1131 b28, I132b24. 12 Aristoteles, 1131 b 24 ff. Nach Finnis ist diese Betonung der korrektiven Natur der Gerechtigkeit sehr eng und benötigt eine vorherige Festlegung dessen, was ein Vertrag oder eine schädigende Handlung ist. Der von Aquinas eingeführte Begriff der kommutativen Gerechtigkeit, der sich auf jede Form zwischenmenschlicher Beziehungen bezieht, sei daher vorzuziehen. s. Finnis, Natural Law, S. 178 f. 13 Weinrib vergleicht die korrektive Gerechtigkeit mit den synallagmatischen Beziehungen im Privatrecht, während die distributive Gerechtigkeit eher mit dem öffentlichen Recht zu vergleichen sei, s. Weinrib, S. 216. 9

10

I. Analyse ausgewählter Gerechtigkeitstheorien

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Die Unterscheidung zwischen korrektiver und distributiver Gerechtigkeit dient vor allem als analytisches Hilfsmittel, da viele Handlungen sowohl korrektiv wie distributiv gerecht sein können. Jedoch geht die Ansicht von Sadurski, daß es gar keinen Unterschied zwischen korrektiver und distributiver Gerechtigkeit gebe, da es zwei Facetten desselben Prozesses seien die Verteilungsgerechtigkeit erklärt, was Gerechtigkeitsregeln sind, die kommutative Gerechtigkeit fordert, daß man Regeln beachten bzw. sich an Verträge halten soll - zu weit. 14 Ein weiterer Kritikpunkt könnte sein, daß auch bei der korrektiven Gerechtigkeit eine höhere Instanz gegeben ist, die die Beziehungsregeln, nach denen sie funktioniert, erst vorgibt und somit in gewisser Weise auch verteilt. Beide Ansichten übersehen, daß das Ergebnis von distributiver und korrektiver Gerechtigkeit gleich sein kann, weil beide dem einzelnen geben, was ihm zusteht, daß aber die Struktur des Zustehens eine andere ist. Die Unterscheidung ist daher aus Gründen analytischer Klarheit durchaus sinnvoll. Kelsen geht noch weiter; er bestreitet den gesamten Sinn der aristotelischen Analyse und meint, daß diese lediglich aus der Tautologie besteht, daß jedem das seine zuzubilligen sei. Entscheidend sei jedoch, die Kriterien für das Zustehende zu ermitteln, die wiederum nur dem positiven Recht entnommen werden könnten. Greife man aber ohnehin auf dieses zurück, sei der weitere Hinweis auf daraus ableitbare Gerechtigkeitskriterien überflüssig. 15 Kelsen hat insoweit recht, als Aristoteles' Theorie ohne eine materielle Anbindung sinnlos wäre. Er irrt jedoch, wenn er annimmt, das Vorhandensein der materiellen Anbindung mache den Rückgriff auf die theoretischen Überlegungen des Aristoteles überflüssig, da diese als konzeptionell formale Intelligibilitätskriterien dem materiellen Inhalt gedanklich vorrangig sind. Die aristotelischen Gerechtigkeitskriterien sind keine induktiven Schlüsse aus empirisch existierenden Rechtsphänomenen, sondern konzeptionelle Muster, die als dem menschlichen Verhalten immanent angesehen werden. 16 Bei Aristoteles herrscht zwischen dem Formalen und dem Materiellen eine notwendige Verbindung: das Formale ist zuerst zu denken, ist aber ohne materielle Anbindung sinnlos, das Materielle wiederum wäre ohne den formellen Rahmen beliebig und somit ebenfalls sinnlos. Aristoteles sieht das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Moral dergestalt, daß er ein gerechtigkeitsspezifisches Verfahren annimmt, und moralische Werte verwendet, um diesem Verfahren Sinn zu verleihen. 14 15 16

Sadurski, S. 26, 32 f. Vgl. auch Finnis, Natural Law, S. 179 ff. Kelsen, Gerechtigkeit, S. 34-36. Weinrib, S. 218-220.

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Insofern ist der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristoteles rein fonnal; er konstruiert Gleichheit nicht als materielles Ideal, sondern als konzeptionell notwendiges Element funktionierender Beziehungen zwischen Individuen. Auch zwischen korrektiver und distributiver Gerechtigkeit wird hinsichtlich der Struktur der Anwendung auf die jeweilige Materie unterschieden und nicht hinsichtlich der Anwendungsmaterie selbst. 17 Dabei ist allerdings zu beachten, daß die von Aristoteles als Bewertungsmaßstab notwendig erachtete Moral selbstverständlich von einem homogenen Wertebild ausgeht; dies ändert aber an der getrennt zu sehenden Fonnalität seiner Grundstruktur nichts, die auch mit einem pluralistischen Wertebild denkbar ist. b) A Theory

0/ lustice

von lohn Rawls

lohn Rawls unterscheidet sich von Aristoteles vor allem durch sein aufwendiges Verfahren zu Bestimmung von Gerechtigkeit. Er hat in seinem Werk A Theory of lustice versucht, ein unabhängiges Verfahren zur Gerechtigkeitsgewinnung zu ennitteln. Seine Gerechtigkeitstheorie will möglichst überzeugende Prinzipien aus möglichst wenig (moralischen) Annahmen herleiten. Der Rawlssche Ansatz beruht auf einem Gesellschaftsvertrag. Dieser ist hypothetisch und wird von den gedachten Teilnehmern der vorvertrag lichen Situation, der sogenannten original position, für die Zukunft aller als bindend abgeschlossen. Die Teilnehmer gehen davon aus, daß bestimmte Bedingungen menschlicher Umstände bestehen, und einigen sich auf dieser Basis auf bestimmte Prinzipien die dann absolut festgesetzt werden. Nur diese Prinzipien sind angesichts der Situation, in der sich die Teilnehmer der original position befinden, denkbar. Die Legitimation der solcherart ennittelten Prinzipien beruht auf ihrer Akzeptanz durch die Teilnehmer der original position, die Nonnativität auf der moralischen Richtigkeit der Prinzipien selber, die durch den Vertrag als vernünftig bewiesen werden. 18 Die original position wird von einer Ansammlung rationaler Menschen eingenommen, deren moralische Sichtweise nicht durch persönliche Interessen und Vorlieben beeinträchtigt wird, sondern von einem Schleier des Nichtwissens bedeckt wird. Diese Menschen einigen sich dann auf bestimmte Prinzipien, ohne zu wissen, ob und wie die Prinzipien auf sie selber angewendet werden würden. Aus der original position werden Prinzipien der Gerechtigkeit ennittelt. Das Erste Prinzip der Gerechtigkeit verlangt, daß jeder das gleiche Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben soll, das mit dem entsprechend umfangreichsten Sy17

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Weinrib, S. 214.

Rawls, Theory of Justice, S. 20 ff.

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stern für alle anderen vereinbar ist l9 • Das Zweite Prinzip der Gerechtigkeit behauptet, daß kein wirtschaftlicher Gewinn aller, und sei er noch so groß, eine noch so kleine Einschränkung der Freiheit eines einzelnen rechtfertigt. 2o Dieses difference principle setzt fest, daß eine Ungleichverteilung von Gütern nur dann gerechtfertigt ist, wenn die, denen es am schlechtesten geht, hinterher mehr haben als vorher?) Für Rawls ist dabei wichtig, daß zu den allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien noch die Inspiration durch moralische Intuitionen kommt. Durch eine reflektive Interaktion zwischen den Prinzipien, die durch die original position ermittelt wurden, und den persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, die der einzelne qua Menschsein hat, können die beiden Positionen aneinander angeglichen werden, um einen kohärenten Zustand (reflective equilibrium) zu erreichen, wo Prinzipien und Intuitionen in konkreten Einzelfällen übereinstimmen. In seinen neueren Schriften entwickelt Rawls eine moralische Begründung für die Rechtfertigung und die Gerechtigkeit staatlicher Herrschaft im pluralistischen und demokratischen Verfassungsstaat, die durch einen breite Zustimmungsfähigkeit in der Gesellschaft gedeckt ist (overlapping consenSUS).22 Es soll eine allgemein anerkannte Konzeption der Gerechtigkeit geben, der jedes Mitglied der Gesellschaft trotz seiner persönlichen Gerechtigkeitskonzeption zustimmen kann. Sie entsteht aus dem öffentlichen Gerechtigkeitsdiskurs. Aus dieser allgemein anerkannten Konzeption werden die Gerechtigkeitsargumente und -inhalte inhaltlich gerechtfertigt und nicht aus den kontroversen moralischen Theorien der einzelnen Gesellschaftsteilnehmer. Damit verstärkt Rawls die Betonung des sozialen Elements, gibt aber die Bindung an eine bestimmte gesellschaftliche Moralvorstellung auf, die A Theory of J ustice prägt. Das Erfordernis der Einigung in der original position, das Rawls aufstellt, impliziert, daß es eine Reihe absoluter Prinzipien gibt, die von vernünftigen Personen erkannt werden können. Diese versucht er durch sein aufwendiges Verfahren nachzuweisen. Rawls' Modell kann aber nur funktionieren, wenn er keine bestehenden moralischen Urteile voraussetzt und wenn die Bedingungen der original position nur dieses Modell hervorbringen können. Da es aber sowohl für die Konstruktion der original position wie für die Ableitung der Gerechtigkeitsprinzipien erforderlich ist, auf die 19 Nach Kritik von Hart an diesem Prinzip (Hart, Rawls on Liberty, S. 225 f.) hat Rawls das Erste Prinzip geändert: ,Jede Person hat ein Recht auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit dem entsprechenden System von Freiheiten für alle vereinbar ist." s. Rawls, Vorrang der Grundfreiheiten, S. 160. 20 Rawls, Theory of Justice, S. 60 ff. 21 Rawls, S. 65 ff. 22 Rawls, Political Liberalism, S. 15, 39 f.

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l. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

vorbestehende moralische Intuition der Teilnehmer zurückzugreifen, sind beide Bedingungen nicht erfüllt. So bewerten die Teilnehmer die Freiheit höher als wirtschaftlichen Gewinn, dies folgt jedoch keineswegs zwingend aus den Bedingungen der original position. 23 Rawls müßte daher die vorbestehende moralische Intuition herleiten, was bedeutet, daß der Gesellschaftsvertrag für die Prinzipien der Gerechtigkeit keine originär begründende, sondern lediglich eine demonstrierende Funktion haben würde. 24 Somit sind moralische Vorstellungen originär begründend für die Gerechtigkeit bei Rawls. Das Verfahren der original position als Begründer gerechtigkeitsspezifischer Werte funktioniert hingegen nicht. c) Vergleich der heiden grundlegenden Gerechtigkeitstheorien

Die beiden dargestellten Theorien zeigen erhebliche strukturelle Gemeinsamkeiten bei der Erklärung der Gerechtigkeit und einen Hauptunterschied. Beides sind universalistische Theorien (auch wenn Rawls diesen Anspruch mittlerweile widerrufen hat25 ). Ferner gehen sowohl Rawls wie Aristoteles davon aus, daß Gerechtigkeit nur bei mehreren Personen Anwendung findet, beschreiben sie also als sozialen Wert; beide beschreiben auch ein Verfahren, um ein wie auch immer geartetes Gleichgewicht oder Equilibrium, meist in Form von Gleichheit, darzustellen. Gemeinsam ist ihnen zudem, daß ihre jeweiligen Verfahren nur durch den Einsatz moralischer Werte Sinn erlangen. Schließlich herrscht Einigkeit darüber, daß das Ergebnis der Anwendung von Gerechtigkeitsmaßstäben etwas Gutes und Erstrebenswertes ist, Gerechtigkeit also ein Wert ist. Der Unterschied zwischen den beiden Theorien beruht vor allem darauf, in welchem Verhältnis die Moral, die sie als Maßstab für ihre Verfahren einsetzen, zu diesem Verfahren steht. Bei Aristoteles ist Gerechtigkeit ein rein formales Prinzip, das die externen Verhältnisse von Individuen regelt. Sie ist mit allen möglichen moralischen Inhalten kompatibel. Dennoch steht für Aristoteles fest, daß dem formalen Prinzip logisch nachfolgend ein moralischer Inhalt zugeordnet ist, ohne den das formale Prinzip nicht zu realisieren wäre und keinen Sinn ergibt. Diesen moralischen Inhalt findet er in seiner allgemeinen Tugendlehre. Zwar reflektiert auch diese Tugendlehre die Moral seiner Zeit - so ist Sklaverei damit vereinbar - aber das Verfah23 Hart, Rawls on Liberty, S. 243 ff.; Rawls räumt a\lerdings ein, daß er die original position so definiert, daß er das gewünschte Ergebnis erhält, s. Rawls, Theory of Justice, S. 14l. 24 Sadurski, S. 64. 25 In letzter Zeit hat Rawls a\lerdings begonnen, eine freistehende Gerechtigkeitskonzeption zu entwickeln, die unabhängig ist von spezifischen moralischen Theorien, vgl. Rawls, Political Liberalism.

I. Analyse ausgewählter Gerechtigkeitstheorien

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ren von Aristoteles ist für seine Wirkung nicht notwendigerweise an diese bestimmte Moralvorstellung gebunden. Rawls hat demgegenüber zwar ein vermeintlich rein formales Verfahren, die original position, entwickelt, seine Ergebnisse zeigen jedoch, daß er diesem formalen Verfahren ganz bestimmte inhaltliche Setzungen vorausstellt, ohne die das Verfahren sinnlos wäre, nämlich die Prinzipien eines modernen liberalen, pluralistischen Staats. Sowohl der Ansatz von Aristoteles wie der von Rawls werden wegen ihres universalistischen Anspruchs zuweilen als naturrechtliehe Theorien bezeichnet. Naturrechtliche Gerechtigkeitstheorien beruhen entweder auf göttlicher oder sonstiger metaphysischer Setzung, wie bei Thomas von Aquin, oder werden - ontologisch neutral - aus der allgemeinen Natur und dem Wesen des Menschen hergeleitet, der offensichtlich nach dem Guten oder bestimmtem Guten strebt. Letzteres findet sich sehr pointiert bei lohn Finnis. Nach seiner Theorie besteht Gerechtigkeit in den praktischen Auswirkungen des Postulats, daß in der Gesellschaft das Allgemeinwohl zu verwirklichen sei. 26 Entscheidend für naturrechtliche Gerechtigkeitstheorien ist, daß sie von der Existenz absoluter Werte ausgehen, die je nach Theorie auf unterschiedlicher Herkunft gründen (Gott, Natur des Menschen), und daß diese Werte das gerechte Ergebnis bestimmen. Das Verfahren zur Gerechtigkeitsgewinnung, das bei Aristoteles (Zueinander ins Verhältnis setzen) und Rawls (original position) gleichrangig und selbständig neben der als Maßstab eingesetzten Moral steht, ist dagegen zweitrangig. Wie bereits erwähnt besteht zum Beispiel die Gerechtigkeitstheorie von Finnis, die in der Literatur große Beachtung findet, im wesentlichen aus Bewertungsmaßstäben, die der Autor aus der Natur des Menschen herleitet, und aus denen wiederum konkrete Gerechtigkeitsentscheidungen hergeleitet werden. 27 Insofern ist es unzutreffend, die Theorien von Rawls und Aristoteles als naturrechtlieh zu bezeichnen. Aus dem Vergleich zwischen den beiden Theorien läßt sich eine zweigeteilte Natur der Gerechtigkeit postulieren. Einerseits stellt sie ein Verfahren zur Erreichung eines bestimmten Zustandes, wie etwa die Distribution, die korrektive Struktur oder die original position; andererseits benötigt sie moralische Kriterien, um das Verfahren mit Sinn zu erfüllen. Vgl. Finnis, Natural Law, S. 161. Finnis nennt folgende drei allgemeinen Faktoren der Gerechtigkeit: daß sie immer auf andere gerichtet ist (other-directedness), daß sie eine Verpflichtung gegenüber diesem anderen umfaßt, aber nur insoweit es darum geht, Unrecht zu vermeiden, und daß sie eine Gleichheit propagiert, wobei diese geometrisch oder arithmetisch sein kann. Vgl. Finnis, Natural Law, S. 161-163. 26 27

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I. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

2. Moderne Gerechtigkeitsansätze Die im folgenden kurz dargestellten Gerechtigkeitsansätze bieten einen Überblick über die breitgefächerten Variationen der Erklärung von Gerechtigkeit in den letzten zwanzig Jahren. Ausgewählt wurden sie, weil sie alle deutlich differenzierte Variationen darstellen und zugleich den Anspruch erheben, eine eigene Theorie der Gerechtigkeit zu präsentieren.

a) Überblick über die derzeitige Gerechtigkeitsdiskussion Die folgenden Theoretiker stehen in der Nachfolge der klassischen Gerechtigkeitstheorien, weil sie im Gegensatz zu neueren Ansätzen, die in der Nachfolge Dworkins auf Menschenrechte fokussieren, in ganz unterschiedlicher Weise eine Theorie der Gerechtigkeit als soziale Moral formulieren. aa) Gerechtigkeit als impartiality: Brian Barry Barry definiert eine Gerechtigkeitstheorie als eine Theorie darüber, welche sozialen Arrangements gerechtfertigt werden können, angesichts immenser Ungleichheiten bei politischer, sozialer und wirtschaftlicher Macht. 28 Gerechtigkeit ist für ihn also primär Verteilungsgerechtigkeit. Der Mensch ist für Barry nicht nur ein "rational, self-interested actor", der gerechte Zustände aus Vernunft anstrebt, sondern er ist auch von Natur aus bestrebt, sein Verhalten in einer selbstlosen Weise rechtfertigen zu können (justice as impartiality). Diese Eigenschaft entwickelt sich aus dem menschlichen Zusammenleben. 29 Dieser natürliche Gerechtigkeitssinn ist die Grundlage für das Hervorbringen der gerechten Institutionen, durch die sich Gerechtigkeit in erster Linie manifestiert. Die Maßstäbe dafür, was Gerechtigkeit ist und wonach die Institutionen handeln, entstehen aufgrund von Verhandlungen, in denen Gegner überzeugt werden müssen. Voraussetzung für die Verhandlungen ist angesichts der erheblichen Machtdifferenzen zwischen den Teilnehmern, daß sie von allen mit gutem Willen betrieben werden und der einzelne bereit ist, auch ein Argument gegen sich gelten zu lassen, selbst wenn es gegen das rationale Eigeninteresse verstößt. Einigkeit wird aufgrund von Prinzipien erreicht, die man vernünftigerweise trotz unterschiedlicher kultureller und historischer Erfahrungen nicht zurückweisen kann. Vernunft bedeutet dabei, daß jede Meinung in Betracht gezogen werden muß. Wird eine sol-

28 29

Barry, S. 3. Barry, S. 364.

I. Analyse ausgewählter Gerechtigkeitstheorien

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che Einigkeit erreicht, ist das Ergebnis unter unvoreingenommenen (impartial) Bedingungen zustande gekommen, also gerecht. 30 bb) Gerechtigkeit als desert: Wojciech Sadurski Für Sadurski ist Gerechtigkeit eine Frage dessen, was einem moralisch zusteht (justice as desert). Er geht von einem idealen, hypothetischen Equilibrium sozialer Güter und Belastungen aus, die dem einzelnen moralisch zustehen, dem Zustand sozialer Gerechtigkeit, der immer wieder herzustellen ist, wenn er gestört wird. 31 Dabei gehören für Sadurski zu moralischem Zustehen nicht die sozialen Güter und Belastungen, die man unverdient erhält (aus Glück oder genetischer Vorbelastung); er unterscheidet davon auch den individuellen Verdienst. Zu dem Zustehen gehört auch der Einsatz, den der einzelne für eine sozial nützliche Folge erbringt. Zustehen ist daher personenorientiert (es wird einzelnen zugebilligt aufgrund ihres Verhaltens), wertbehaftet (das Verhalten wird als gut oder schlecht beurteilt) und vergangenheitsorientiert (für das Zustehen können nur bereits geschehene Handlungen evaluiert werden).32 Dabei kommt es Sadurski bei der Beurteilung dessen, was dem einzelnen zusteht, zwar auf den Vorsatz beim Erreichen sozial wertvoller Zustände an, aber nicht auf den moralisch guten Vorsatz. 33 Problematisch an Sadurskis Betonung dessen, was einem zusteht, ist, daß es kaum möglich ist, für alle Mitglieder einer Gesellschaft das ihnen Zustehende zu ermitteln, dessen Einhaltung das Equilibrium gewährleistet. cc) Gerechtigkeit verteilt auf gesellschaftliche Sphären: Michael Walzer Walzer sieht Gerechtigkeitsdiskurse als gesellschaftlich gebunden an, und ihre ebenfalls gesellschaftlich situierten Teilnehmer in einer Situation komplexer Gleichheit. Sämtliche wichtigen (und von ihm abschließend aufgezählten) sozialen Güter sind in Sphären aufgeteilt - dazu gehören sowohl Mitgliedschaften wie auch Geld, Freizeit, Liebe, harte Arbeit etc. Diese sozialen Güter sind Gegenstände der Verteilungsgerechtigkeit, die je nach Zeit und Ort verschieden bewertet werden; es läßt sich kein Satz von diesen Gütern für alle Arten von Gesellschaften bestimmen. Die Bedeutung der Güter variiert und bestimmt ihren Verteilungsprozeß, die Gerechtigkeit 30 31

32 33

Barry, S. Sadurski, Sadurski, Sadurski,

364 ff. S. IOI. S. 116 ff. S. 122.

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der Verteilung ergibt sich aus der jeweiligen Bedeutung. Die Sphären sind untereinander in einem Verhältnis relativer Autonomie. 34 Insgesamt bemüht sich Walzer darum, die ohnehin bestehenden Ungleichheiten moderner Gesellschaften nicht durch einen starren Satz von Gerechtigkeitsprinzipien noch weiter zu verschärfen. Sein komplexes Sphären system soll eine komplexe Gleichheit erzeugen, die darin besteht, daß man zwar möglicherweise in einer Sphäre weniger hat, als einem von dem jeweiligen sozialen Gut zusteht, aber eigentlich nicht in allen gleichzeitig davon betroffen sein kann, da die Sphären voneinander unabhängig sind. Auf diese Weise wird eine größtmögliche Verteilung sozialer Güter und größtmöglicher gegenseitiger Respekt gewährleistet, da jeder insgesamt soviel der ihm zustehenden sozialen Güter hat wie möglich. 35 Problematisch ist bei Walzer die Definition der Sphären, also der relevanten sozialen Güter - so fehlen z. B. Recht oder Autonomie, dafür ist aber die Mitgliedschaft aufgeführt. Ferner ist das Modell sehr eng auf eine bestimmte Gesellschaftsform zugeschnitten, nämlich die amerikanische Demokratie, und kaum übertragbar auf andere Gesellschaften. Schließlich bietet er kein überzeugendes Modell der Lösung einzelner konkreter Verteilungskonzepte, da seine Sphären nicht verbindlich zueinander im Verhältnis stehen. 36 dd) Gerechtigkeit als komplexe soziale Moral: Valentin Petev Petev geht bei seinem Gerechtigkeitsbegriff von einer pluralistischen Gesellschaft aus. Für ihn ist Gerechtigkeit der höchste soziale Wert, ein Ausdruck komplexer sozialer Moral innerhalb des moralischen und rechtlichen Systems einer Gesellschaft. Damit ist Gerechtigkeit von der sie formenden Gesellschaft abhängig, die sie zur Umsetzung ihrer Moralvorstellungen einsetzt; die soziale Gerechtigkeit hat keinen ihr eigenen spezifischen Inhalt?7 Gerechte soziale Zustände sind solche, deren rechtliche Ordnung den weitgehend übereinstimmenden und diskursiv ennittelten Interessen und politisch-ethischen Überzeugungen von sich mehrheitlich durchgesetzten (relevanten) Gruppen in der Gesellschaft entspricht. 38 Auf der Grundlage dieser Überzeugungen und Interessen der Beteiligten werden diskursiv geWalzer, S. 46. Walzer, S. 321. 36 Buchwald, S. 68-74. 37 Petev, Gerechtigkeit durch Recht, S. 43; ders., Recht der offenen Gesellschaft, S.53. 38 Petev, Recht der offenen Gesellschaft, S. 53. 34 35

I. Analyse ausgewählter Gerechtigkeitstheorien

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rechtfertigte Lösungen praktischer Probleme sowohl generell wie auch im konkreten Falle ermittelt. Der Diskurs findet unter vier Verfahrensbedingungen statt, der Freiheit, alles zu sagen, der Anerkennung des von den anderen Gesagten, der Wahrhaftigkeit der eigenen Aussagen sowie der Anerkennung der einmal erreichten Position. Generell normbegründende Diskurse führen zu einem rationalen Ergebnis, das für die Teilnehmer akzeptabel ist, dem sie jedoch nicht unbedingt zustimmen müssen, etwa weil wichtige Interessen der repräsentierten sozialen Gruppe dagegen sprechen. Das unterscheidet den realen, politisch-rechtlichen Diskurs von einem idealen. ee) Gerechtigkeit als universeller Wert: Jürgen Habermas Habermas sieht Gerechtigkeit als universellen Wert, der allgemeine moralische Normen ausdrücken. Maßstab der Gerechtigkeit ist ein universalistischer Test, der untersucht, was das für alle gleichermaßen Gute ist. 39 In seiner Theorie bemüht sich Habermas zum einen um die Herleitung seiner konkreten Gerechtigkeitsprinzipien aus abstrakten ethischen Vorgaben und zugleich um die Verbindung dieser Prinzipien zu tatsächlichen sozialen Prozessen. Das Mittel zur Herleitung der Gerechtigkeitsprinzipien ist der Diskurs, dessen Voraussetzung unter anderem ist, daß es so etwas wie universelle Gerechtigkeit gibt. Gerechtigkeit ist somit Ergebnis kommunikativen Handelns. 4o Um allerdings Einigung in diesem Diskurs herbeizuführen, beschränkt er die inhaltliche Ausformulierung der Gerechtigkeit auf abstrakte deontologische Normen, die die Prinzipien von gleicher Freiheit und Würde ausdrücken. Wichtig für Habermas ist, daß seine Gerechtigkeitstheorie für eine wertpluralistische Gesellschaft geeignet ist. Daher postuliert er einen Vorrang des Gerechten, das letztlich im Recht seinen Ausdruck findet, vor dem Guten, um ein ethisch neutrales Gerechtigkeitskonzept zu erhalten, das unabhängig ist von verschiedenen ldentitäten und Moralvorstellungen. 41 Es stellt sich die Frage, inwieweit das Verfahren, das Habermas entwirft, in der Lage ist, substantielle Regeln für bestimmte konkrete Situationen zu entwickeln. 39 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 78 ff.; ders., Einbeziehung des Anderen, S. 41 ff. 40 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 78 ff. 41 Habermas, Einbeziehung des Anderen, S. 41 ff.

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I. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

b) Analyse der modernen Gerechtigkeitstheorien Bei den hier vorgestellten Gerechtigkeitstheorien fallen vor allem die fast verwirrende Vielfalt der Definitionen42 sowie die immer wieder auftretenden Gemeinsamkeiten unter den Theorien auf. Mit Ausnahme von Habermas haben sich die Theorien vom universalistischen Anspruch des Aristoteles und auch des frühen Rawls verabschiedet. Die Theorien werden - explizit oder implizit - nur für die modeme westliche Demokratie formuliert. Insbesondere Walzer hat seine Theorie sehr eng auf eine sehr bestimmte Form der modemen westlichen Demokratie zugeschniuen. 43 Nicht nur der Geltungsbereich der Theorien ist enger, sondern auch der Bereich dessen, was die Gerechtigkeit umfaßt. So formulieren Barry, Sadurski und Walzer Gerechtigkeit enger als es etwa Rawls getan hat - sie betonen in ihren Theorien vor allem eine Funktion der Gerechtigkeit, etwa Gerechtigkeit als impartiality, als desert oder als Sphäre. Damit beschränken sie Gerechtigkeit auf Verteilungsgerechtigkeit. Hingegen sind die Gerechtigkeitstheorien von Petev und Habermas breiter und somit letztlich Ausdruck einer moralischen Epistemologie. Alle Theorien bieten Kriterien der Bewertung gerechter sozialer und ökonomischer Arrangements. Während Diskurs oder Verhandlungen für Barry, Petev und Habermas das Mittel zum Erreichen gerechter Zustände ist, kommen diese bei Sadurski und Walzer aus dem individuellen Sein und Tun. Schließlich gehen Petev und Habermas von einer wertpluralistischen Gesellschaft aus, für die der Gerechtigkeitsbegriff zu konstruieren ist. Allerdings unternimmt es keiner der Autoren, eine derart ausgefeilte Prozedur zur Gewinnung von Gerechtigkeit zu konstruieren, wie es Rawls tut; das Vertrauen in die Möglichkeit, ein gerechtes Verfahren zu entwickeln, das automatisch zu gerechten Ergebnissen führt, scheint erschüttert. Hinzu kommt bei den Theorien, daß sie Gerechtigkeit als sozialen Wert ansehen, als einen Wert, der auf das Zusammenleben in einer Gesellschaft (vorzugsweise in einer modemen Demokratie westlicher Prägung) gerichtet ist. Dies steht im Gegensatz zu anderen Theoretikern wie Nozick oder Dworkin, die die Gerechtigkeit auf der Basis prä-existierender individueller (Menschen)rechte definieren und die Wahrung dieser Rechte zur Grundlage der Gerechtigkeit machen. 44 Dabei stellt sich allerdings das Problem, daß 42 CulJen spricht angesichts der vielen von ihm analysierten Gerechtigkeitstheorien sogar von "philosophical pandemonium", s. Cullen, S. 59. 43 Insofern ist die Beschreibung der Theorie von Walzer als "spannend narrativ und mit zahlreichen ... Beispielen illustriert" sowie als dazu in der Lage, den verschiedensten sozialwissenschaftlichen Ansätzen einen gemeinsamen Ort der Auseinandersetzung zu bieten, der auch andere Gerechtigkeitstheorien nicht tout court verabschiedet, sicher zutreffend, vgl. Buchwald, S. 76.

11. Analytik des Gerechten

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dies eine einheitliche Definition dieser Menschenrechte voraussetzt, was in modemen pluralistischen Gesellschaften nicht immer gewährleistet ist. 45 Insbesondere lassen sich auch bei den modemen Gerechtigkeitstheorien wieder die gleichen Grundelemente der Gerechtigkeit finden wie bereits bei Aristoteles und Rawls. Ziel der Gerechtigkeitsanwendung ist die Herstellung eines Gleichgewichts; dies geschieht durch ein Verfahren, das moralischer Maßstäbe bedarf, um sinnvoll zu sein. Gerechtigkeit wird als erstrebenswertes soziales Gut angesehen. Man kann also konstatieren, daß über die Jahre und bis heute bestimmte Grundstrukturen der Gerechtigkeit sich immer wieder wiederholen. 46

11. Analytik des Gerechten Nimmt man nun die unter I. ermittelten Ergebnisse als Grundlage, lassen sich einige Elemente identifizieren, die trotz der inhaltlichen Verschiedenheit der Theorien offensichtlich einen gewissen Wesenskern der Gerechtigkeit ausmachen und sie von anderen Moralbegriffen unterscheiden. Um das spezifische Wesen der Gerechtigkeit zu erfassen, ist es also erforderlich, sie als zweiteilig zu konstruieren, bestehend aus einem gerechtigkeitsspezifischen formalen und einem materiellen Element. Dadurch setzt sich die soziale Gerechtigkeit von anderen moralischen Werten ab, die das formale Element nicht benötigen, um ihre ethische Wirkung zu entfalten. Gegenstand der Gerechtigkeit ist dabei alles, was als gerecht zu beurteilen ist, Gerechtigkeitssubjekt ist entweder der einzelne, der Anspruch auf Gerechtigkeit hat, oder die Gesellschaft, die Gerechtigkeitsmaßstäbe anlegt. Viele Aspekte menschlichen Zusammenlebens können als gerecht beurteilt werden: Handlungen, Behandlungen, Verhältnisse, Strukturen, Handlungssubjekte, Normen und Normenordnungen. 47 Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 150 ff.; Nozick, S. 150 ff. Petev, Recht der offenen Gesellschaft, S. 52. 46 Mit Ausnahme, wie oben dargestellt, der naturrechtlichen Theorien, die aufgrund ihres Letztbegründungsansatzes anders vorgehen. 47 Aus der Anwendbarkeit von Gerechtigkeit auf Normen schließt Jansen, daß Gerechtigkeitsgrundsätze höherstufige Kriterien einer Normenhierarchie sein müßten, bzw. sogar die höchste Stufe einnehmen müßten, da Gerechtigkeitsgrundsätze aus der Sicht eines Teilnehmers (im Alexyschen Sinne) nicht bezüglich ihrer moralischen Richtigkeit kritisiert werden können - ein metaphysisch zu nennender Ansatz. Wie alle moralischen Grundsätze ist es Teil der Bedeutung des Begriffs "gerecht", daß dieser Grundsatz moralisch geboten ist; es kann ihm also lediglich vorgeworfen werden, daß es keine Gerechtigkeit gibt, daß der betreffende Grundsatz kein Gerechtigkeitsgrundsatz ist oder daß ein anderes moralisches Gebot vorgeht (Moralkollision). s. Jansen, S. 48 ff. 44 45

3 Sztkcssy

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I. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

1. Formale Gerechtigkeitskomponente

Die Gerechtigkeit besteht zunächst aus einer fonnalen, gerechtigkeitsspezifischen Komponente. Zweck dieser Komponente ist es, die Regeln für das Zusammenspiel der Werte und Interessenlagen einer Gerechtigkeitssituation zu stellen. Dabei erschöpft sich diese Komponente nicht in einer schlichten Proportionalitäts- oder Ausgleichregel, sondern besteht aus mehreren Elementen, die das Zusammenspiel der Werte sichern. Sie baut darauf auf, daß Gerechtigkeit ein sozialer Wert ist, daß die Anwendung von Gerechtigkeit immer mindestens zwei Parteien erfordert und in der Situation, die die Anwendung von Gerechtigkeit erfordert, eine Verpflichtung zwischen diesen begründet. Zu sich selber kann man allenfalls im metaphorischen Sinne gerecht sein.48 Im Rahmen der fonnalen Komponente sind zwei verschiedene Gerechtigkeitssituationen zu unterscheiden. Dazu gehört zum einen das Verfahren, die Situation mindestens zweier Parteien oder zwei Sachverhalte miteinander zu vergleichen, um dann durch Verteilung einen gerechten Zustand zu erreichen oder wiederherzustellen. Zum anderen gilt es, im Falle von direkten Beziehungen zwischen zwei Parteien einen gerechten Zustand zu erreichen oder wiederherzustellen. In beiden Fällen ist der gerechte Zustand ein ausgeglichener Zustand, ein Equilibrium. Diese Unterscheidung greift die aristotelische Unterscheidung zwischen iustitia distributiva und iustitia correctiva auf. Das Verfahren ist komparativ, da die zwei Personen oder Sachverhalte immer anhand bestimmter Kriterien zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, wobei die genaue Methode des Zueinander-Ins-Verhältnis-Setzens variieren kann. 49 Die Vergleichskriterien rühren aus dem unten besprochenen materiellen Teil der Gerechtigkeit her. Zeigt der Vergleich eine nicht optimale Verteilung von Gütern oder Lasten, so muß diese geändert werden und ein Zustand des Equilibriums hergestellt werden, wobei dieser numerisch oder proportional sein kann.

48 Aristoteles, 1138 a 4 ff.; vgl. Finnis, Natural Law, S. 161 f. und Petev, Recht der offenen Gesellschaft, S. 51. Für Petev ist Gerechtigkeit Ausdruck komplexer sozialer Moral, die nur als sozio-ethischer Begriff denkbar ist, innerhalb des moralischen und rechtlichen Systems einer Gesellschaft. 49 loel Feinberg, der amerikanische Strafrechtsphilosoph, unterscheidet zwischen komparativer und nicht komparativer Gerechtigkeit. Letztere setzt ein Individuum nicht gegen ein anderes Individuum, sondern gegen einen objektiven Standard, vgl. Noncomparative lustice, in: Feinberg, Rights, lustice, and the Bounds of Liberty. Dabei übersieht Feinberg, daß es für das Komparative nur auf den Prozeß ankommt, und nicht auf das, was verglichen wird.

11. Analytik des Gerechten

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Daraus folgt, daß Gerechtigkeit als Anstreben des Equilibriums immer einen Anspruch auf etwas fonnuliert, und zwar auf dasjenige, was einer bestimmten Partei zusteht, um den gleichgewichtigen Zustand herzustellen. Damit steht hinter der Gerechtigkeit auch ein Gebot, diesen Zustand des Equilibriums nach entsprechenden Kritierien herzustellen, durch Verteilung oder Ausgleich. Wird ein distributives Verfahren gewählt, so gilt es, einen zu weiten Distributionsbegriff zu venneiden, da in einem sehr weiten Sinne fast jede Situation eine Verteilungssituation ist: jedes Gesetz, das Rechte und Pflichten mehrerer Personen regelt, verteilt diese Rechte und Pflichten auch, so daß man sagen könnte, auch die unten näher erläuterten Ausgleichssituationen seien im Grunde Verteilungssituationen. 50 Dennoch ist der moralisch richtige Verteilungsaspekt ein wichtiger Teil der Gerechtigkeit und derjenige, der bei intuitiven Gerechtigkeitsbewertungen im Vordergrund steht. 51 Das vergleichende Element der Gerechtigkeit ist somit die Basis für ihren Verteilungscharakter. Der Verteilungscharakter der Gerechtigkeit deckt jedoch nicht alle ihre Facetten ab, bzw. täte dies nur, wenn man einen sehr weiten Distributionsbegriff annähme. Die andere Facette ist der Ausgleich einer Ungleichgewichtigkeit. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, wenn in Beziehungen zwischen zwei Parteien, gleich ob diese freiwillig von beiden Seiten herbeigeführt, oder einer Seite durch die andere aufgezwungen wurde, eine ungewollte und so nicht vorgesehene Ungleichgewichtigkeit auftritt. Das kann im Falle einer freiwilligen Beziehung, etwa bei einem Vertrag, dann passieren, wenn eine der Parteien vertragsbrüchig wird. Beispiel für die Aufzwingung einer Beziehung ist ein Diebstahl. In diesem Fall ist es das Gebot der Gerechtigkeit, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Den Maßstab für die Ungleichgewichtigkeit stellt wiederum der unten erläuterte materielle Bestandteil der Gerechtigkeit. Man könnte argumentieren, daß die Ausgleichsgerechtigkeit eine Unterform der Verteilungsgerechtigkeit darstellt, da auch in ihrem Fall anhand eines Kriteriums zwei Situationen verglichen werden und dann eine Veränderung vorgenommen wird. Es wird aber nicht etwas verteilt oder umverteilt durch eine höhere Instanz, sondern in einem gleichberechtigten VerJansen. S. 41 f. Hingegen ist der von Jansen aufgebrachte Gesichtspunkt. daß Gerechtigkeit häufig in Über- und Unterordnungsverhältnissen thematisiert wird. irreführend. Verteilung oder Ausgleich findet häufig unter Gleichgestellten statt, allerdings wird die Verteilung oft durch eine höhere, mit der entsprechenden Autorität ausgestatteten Stelle vorgenommen. Dann gilt es aber zu differenzieren, ob der Aspekt der Gerechtigkeit das Verhältnis zwischen den Gleichgestellten betrifft oder das Verteilungsverfahren. Vgl. Jansen. S. 43. 50

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1. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

hältnis einzelner untereinander ausgeglichen. Der Vertragsbrüchige, der Schadensersatz leistet, teilt nicht etwas aus, sondern leistet Ersatz. Allerdings sind Fälle denkbar, die sowohl Verteilungs- wie Ausgleichscharakter haben, vor allem, wenn zwischen zwei Parteien verteilt wird. Der Gebrauch der Formulierung "formale Gerechtigkeitskomponente" soll allerdings nicht ausdrücken, daß der hier vertretene Ansatz der weitverbreiteten Ansicht folgt, daß es zwei verschiedene Arten der Gerechtigkeit gibt, nämlich eine formale oder prozedurale, die sich im Recht manifestiert, und eine soziale oder materiale, die Gerechtigkeit als inhaltliche moralische Kategorie bezeichnet. 52 So unterscheidet Sadurski zwischen der Gerechtigkeit einer Regel an sich und Gerechtigkeit bei der Regelanwendung, also zwischen Gerechtigkeit als materiellem Wert und als formalem Prinzip.53 Diese Differenzierung zwischen zwei verschiedenen Arten der Gerechtigkeit wirft zum einen die Frage auf, worin genau die spezifische Natur der materialen Gerechtigkeit im Gegensatz zu anderen moralischen Setzungen besteht, und zum anderen die Frage danach, welchen ethischen Sinn eine Ansammlung reiner Verfahrensregeln wie Gleichheit vor dem Gesetz ohne eine moralische Unterfütterung hat, und worin der Unterschied zum Recht liegt. Ein Beispiel für die Annahme zweier Gerechtigkeitsarten ist die Art und Weise, wie Cullen den Positivismus H. L. A. Harts bewertet. 54 Danach stellt Harts Positivismus, nach dem die Geltung von Recht von seiner moralischen Bewertung unabhängig ist, eben eine Trennung von prozeduraler Gerechtigkeit (also Recht) und moralischer Gerechtigkeit dar. Damit verkennt Cullen völlig Harts Theorie, die keineswegs für sich in Anspruch nimmt, zwei solche Formen der Gerechtigkeit darzustellen, sondern im Gegenteil ebenfalls der Ansicht ist, daß es sich dabei um Komponenten einund derselben Gerechtigkeit handelt. 55 Zum anderen stellt sich bei dieser Sichtweise von Harts Theorie die Frage, welchen Sinn diese Trennung haben kann und was das Gerechtigkeitsspezifische an den einzelnen Teilen ist.

52 Vgl. etwa Cullen, S. 16 f., der der (unzutreffenden) Ansicht ist, daß viele Philosophen ihren Theorien sozialer Gerechtigkeit mit Prinzipien formaler Gerechtigkeit Bodenhaftung verleihen. Bell, S. 126 ff., 140, der zwischen legal justice und substantive justice unterscheidet, definiert legal justice als die gerechte Anwendung bekannter Regeln des positiven Rechts. 53 Sadurski, S. 21 f. 54 Cullen, S. 16. 55 Hart, Positivism, Law and Morals, S. 81.

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2. Materielle Gerechtigkeitskomponente Die Gerechtigkeit besteht neben dem formalen Teil aus einem materiellen Teil, der die moralischen Kriterien für den formalen Teil der Gerechtigkeit bereitstellt. Diese moralischen Kriterien bestehen aus der in der jeweiligen Gesellschaft vorherrschenden Moral. Die in der Gesellschaft vorherrschende Moral ist das Gemeinsame in den Individualmoralvorstellungen von Mehrheiten einzelner Mitglieder der Gesellschaft. Sie ist sozialsphärenspezifisch. Die jeweils vorherrschende soziale Moral stellt nun die Kriterien für den Prozeß des Zueinander-Ins-Verhältnis-Setzens, anhand dessen zugeteilt wird, und sie bietet auch die Kriterien, anhand derer festgestellt werden kann, ob in einer Beziehung zwischen zwei Parteien oder zwischen bestimmten sozialen Situationen ein Gleichgewicht herrscht. So ist die Moral notwendiger Maßstab des Gerechtigkeitsverfahrens. Durch die Herkunft aus der Gesellschaft ist die Moral damit ein historisch gebundenes Konstrukt. Der Moralbegriff ist also wandelbar und nicht absolut zu sehen. a) Entstehung des Moralbegriffs in einer Gesellschaft

Es stellt sich die Frage, wie moralische Überzeugungen und ein Moralbegriff innerhalb einer Gesellschaft entstehen. Grundsätzlich beantwortet Moral sowohl die persönliche Frage des Menschen "wie handle ich moralisch gut" wie auch die soziale Frage "was ist gut aus der Sicht der Gesellschaft". Die Herkunft moralischer Kategorien beim einzelnen Menschen und innerhalb einer Gesellschaft ist umstritten. Zwar wird allgemein davon ausgegangen, daß sie zum Teil angeboren und zum Teil erlernt sind, das genaue Verhältnis dieser Teile ist jedoch nicht klar. Empiristische Theorien gehen davon aus, daß nur die Fähigkeit zum Lernen angeboren ist, während alle übrigen Fähigkeiten, also auch die moralischen, durch die Umwelt geprägt werden. Vertreter eines rationalistischen Modells hingegen vertreten die Ansicht, daß der Mensch von Natur aus auch moralische Grundfähigkeiten besitzt, die durch die Umwelt lediglich differenziert werden. 56 Im ersten Fall prägt die Umwelt den Menschen und seine Moral, im anderen Fall ist es umgekehrt. Beide Möglichkeiten sind zu einseitig. Die empiristische Sicht wird der Tatsache nicht gerecht, daß aufgrund der Individualität des Menschen ein konformes Verhalten im Bereich persönlicher Moral innerhalb einer Gesellschaft, die nach der Theorie vorhanden sein müßte, nicht gegeben ist. Die rationalistische Sicht ihrerseits unterschätzt den Sozialisierungsdruck, der von einer Gesellschaft ausgeht; ferner berücksichtigt sie nicht, 56

Mahlmann, S. 114 ff.

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I. Kap.: Wesen und Konzeption der Gerechtigkeit

daß moralische Vorstellungen dem Individuum zwar zu eigen sind, aber nur erforderlich sind gegenüber anderen, daß also eine Gesellschaft erforderlich ist. Vielmehr ist davon auszugehen, daß der Mensch nicht nur über Lernfähigkeit verfügt, sondern auch über die grundsätzliche Fähigkeit, moralische Kategorien zu entwickeln, eine Art Wertintuition. Fehlt es jedoch an den entsprechenden sozialen Anreizen oder überhaupt an einem sozialen Umfeld, wird er solche Kategorien nicht entwickeln. Der Mensch kann also, muß aber nicht moralisch werden. Grundsätzlich ist dem Menschen sowohl Rationalität, also Fähigkeit zum Denken nach bestimmten Regeln, zu unterstellen wie auch Irrationalität, also von außen nicht unbedingt nachvollziehbare oder vorhersehbare Gedanken und Handlungen. Es muß davon ausgegangen werden, daß ein Mensch in jeder gegebenen Situation rational oder irrational handeln kann; feststellbar sind allenfalls Wahrscheinlichkeiten. Zusätzlich hat der Mensch ein Bedürfnis nach Gesellschaft, Regeln und einer Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Aus der Interaktion von Menschen mit anderen Menschen entsteht eine große Komplexität menschlichen Denkens und Handelns. Durch Erziehung, Erfahrung und Diskurs mit der Umwelt entwickelt der einzelne ein Gefühl dafür, was er für sich und andere für richtig hält. Dies gilt nicht nur für den materiellen Bereich, also alles, was zugeteilt werden kann, sondern auch für den Bereich dessen, was dem Menschen widerfahren kann. Die Moral innerhalb einer Gesellschaft entsteht somit aufgrund der Fähigkeit der Individuen, im Umgang mit anderen moralische Kategorien zu entwickeln. Sie ist dann die Summe der moralischen Kategorien der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Moral ist somit kein absoluter Wert, sondern wandelbar. b) Moralvorstellungen einer wertpluralistischen Gesellschaft

Problematisch in diesem Zusammenhang ist das Bestehen mehrerer einander widersprechender Moralvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft, etwa in einer modemen - auch multikulturellen - Gesellschaft. Wiewohl homogene Gesellschaften denkbar sind, in denen es einheitliche Moralvorstellungen gibt, so ist dies in der modemen Welt zunehmend nicht mehr der Fall. So kann die Moralvorstellung einer kleinen herrschenden Klasse gegen die der großen beherrschten Mehrheit stehen, oder die Moralvorstellung einer großen Mehrheit gegen die einer kleinen Minderheit stehen. Denkbar sind auch mehrere Gruppen innerhalb einer Gesellschaft mit völlig unter-

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schiedlichen Moralvorstellungen, die mehr oder weniger friedlich zusammenleben, etwa in einem modemen, multikulturellen Staat. Es stellt sich daher die Frage, ob die Moralvorstellung einer Gesellschaft nur anhand der realen Machtverhältnisse bestimmt werden soll. Dann besteht die Gefahr, daß ein reiner Werterelativismus sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzt. Es gibt verschiedene Ansätze dafür, wie die Mitglieder einer Gesellschaft die moralischen Vorstellungen dieser Gesellschaft bestimmen. Sadurski konstruiert eine moralische Intuition des einzelnen, auf der sein Konzept von Gerechtigkeit beruht. Damit will er keinen absoluten Ansatz postulieren, der anhand von inneren Einsichten offensichtliche Wahrheiten entdeckt, sondern lediglich die Natur der Moral erklären. Danach kann es keine absolute Moral geben, Menschen haben aber moralisches Empfinden, das rational gerechtfertigt werden kann. Das heißt auch nicht, daß alle sich auf dieselben moralischen Intuitionen einigen müßten und daß diese beweisbar wären. 57 Problematisch an dem Einsatz einer moralischen Intuition ist, daß sie sich einer analytischen Bewertung entzieht. Häufig wird auch versucht, die Prozedur der Gewinnung der normativen Kategorien in einer Gesellschaft durch Einsatz eines Diskurses nachzuvollziehen.58 Ein rationaler Diskurs könnte beschreiben, wie in einer pluralistischen Gesellschaft ein moralischer Konsens gewonnen wird, da er eine Beteiligung aller Individuen vorsieht und kein vorher festgesetztes Ergebnis aufzwingt. Jedoch ist die Konstruktion eines rationalen Diskurses zur Ermittlung von sozio-ethischen Werten problematisch, da ein rein als formal definiertes Verfahren substantielle Werte hervorbringen soll.59 Hinzu kommt, daß der Diskurs keineswegs zwangsläufig die gewünschten oder überhaupt positive Werte hervorbringen muß. Kommt es nicht zu einer Einigung, weil die moralischen Positionen unvereinbar sind, stehen einander zwei moralische Urteile gegenüber, die weder willkürlich noch verifizierbar sind, so daß am Ende keine Antwort stehen kann. Der Diskurs kann kein Ergebnis erzwingen. Gestaltet man den Diskurs mit wenig Bedingungen, werden die Werte zu abstrakt formuliert, setzt man viele Bedingungen, verliert er entweder den formalen Charakter, oder funktioniert nicht mehr. Nichtsdestotrotz ist der Diskurs zumindestens in einer wertpluralistischen Gesellschaft die einzige Möglichkeit, aussagekräftige normative Kategorien für einen materiellen Gerechtigkeitsbegriff zu gewinnen. Insofern ist zur Bestimmung der in einer Gesellschaft herrschenden Moralvorstellungen ein 57 58 59

Sadurski, S. 72 ff. Vgl. Jansen, S. 165 ff.; Petev, Recht der offenen Gesellschaft, S. 49 f. Vgl. MacCormick, Entrechtlichung der Moral, S. 560.

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realer Diskurs einzusetzen, der unter den Bedingungen rationaler Diskurse stattfindet und die Möglichkeit des Scheiterns enthält, wenn die Interessen der Diskursteilnehmer nicht durchgesetzt werden können. Auf diese Weise macht man dem Diskurs so wenig Vorgaben wie möglich und vermeidet es, ihn von vorneherein auf bestimmte Ergebnisse festzulegen. 60 Der rationale Diskurs erfolgt auf der Grundlage von vier Bedingungen. Diese sind die Freiheit, alles zu sagen, die Anerkennung des von den anderen gesagten, die Wahrhaftigkeit der eigenen Aussagen sowie die Anerkennung der einmal erreichten Position. Der rationale Diskurs führt zu einem Ergebnis, das für die Diskursteilnehmer akzeptabel ist. Dieser Erfolg ist jedoch nicht immer gegeben, etwa wenn wichtige Interessen der Repräsentierten dagegen sprechen. Die Möglichkeit des ergebnislosen Diskurses unterscheidet den realen politisch-rechtlichen Diskurs von einem idealen. Beim realen Diskurs werden auf der Grundlage vorhandener ethischer Überzeugungen und materieller sowie ideeller Interessen diskursiv gerechtfertigte Lösungen praktischer Probleme in der Gesellschaft gesucht. Der aufgrund des Diskurses erlangte Konsens der Teilnehmer (so er denn erlangt wird) legitimiert die Werte, auf die man sich geeinigt hat. 61 Durch Anwendung des rationalen Diskurses kann man der Kritik von MacCormick entgegentreten: die Möglichkeit des Scheiterns wird von vorneherein einkalkuliert und das Verfahren kann deswegen Werte hervorbringen, weil das Vorhandensein von Werten an sich vorausgesetzt wird und nur die bestimmten für diese Gesellschaft ermittelt werden. Somit kann man zumindestens für pluralistische Demokratien auch dem Vorwurf des Werterelativismus entgegentreten, allerdings sind die Werte historisch und sozial bedingt. 3. Subjektives Element der Gerechtigkeit Zu den formalen und materiellen Komponenten der Gerechtigkeit tritt das subjektive Element. Der aufgrund der formalen und materiellen Elemente erlangte Zustand muß von den Parteien auch als gerecht empfunden werden. Es ist davon auszugehen, daß alle Individuen neben ihren allgemeinen ethischen Überzeugungen eine individuelle ethische Überzeugung speziell bezüglich der Gerechtigkeit haben. Diese Überzeugung ist zum einen von der Person des Individuums selbst geprägt und zum anderen von der GesellVgl. Petev, Recht der offenen Gesellschaft, S. 43 ff. Petev, Gerechtigkeit durch Recht, S. 41 ff.; ders., Recht der offenen Gesellschaft, S. 45 f. 60

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schaft und der Tradition bestimmt, in der er lebt. Sie erstreckt sich auf die Kombination von gerechtigkeitsspezifischem Verfahren und materieller Komponente. Darin unterscheidet sich das subjektive Element der Gerechtigkeit vom allgemeinen Moralgefühl. Das Gerechtigkeitsgefühl wird von den einzelnen in den rationalen Diskurs eingebracht; somit ist das Ergebnis des Diskurses zwangsläufig von den individuellen Teilnehmern abhängig. Gerechtigkeit ist das, was der einzelne anhand der fonnellen und materiellen Gerechtigkeitskomponente für sich und andere als angemessen und ihm zukommend empfindet. Eine Gerechtigkeitsvorstellung entsteht dadurch, daß ein Mensch im Rahmen seiner Gesellschaft Erfahrungen macht. Aus dem was ihm widerfährt sowie aus dem, was sich bei ihm und anderen als wünschenswert herausbildet, fonnt er ein Gerechtigkeitsgefühl. Dieses entsteht durch einen Prozeß, ist also nicht per se da. Entscheidend ist aber das soziale Konzept von Gerechtigkeit, die Verallgemeinerung der individuellen Gerechtigkeitsüberzeugungen innerhalb der Gesellschaft, denn ein rein individualisierter Gerechtigkeitsbegriff würde keinen theoretischen Wert haben, da sich jeder auf die Einstellung "Gerecht ist das, was ich dafür halte" zurückziehen könnte. Soziale Gerechtigkeit ist ein Komplex ethischer Vorstellungen und Aspirationen, die sich auf sozial relevante Bereiche beziehen. Innerhalb einer Gesellschaft herrscht ein Gruppengerechtigkeitsgefühl, das aus der Summe der Einzelgerechtigkeitsgefühle entsteht. Verschiedene Gesellschaften können verschiedene Gerechtigkeitsgefühle haben. In pluralistischen Gegenwartsgesellschaften sind auch mehrere solche Gruppengerechtigkeitsgefühle nicht nur denkbar, sondern tatsächlich vorhanden. Aber auch innerhalb einer Gruppe können zwei verschiedene Personen, die dasselbe Gerechtigkeitsgefühl teilen, in konkreten Situationen zu völlig verschiedenen Ergebnissen kommen. Das Gerechtigkeitsgefühl einer Gruppe kann sich ändern; meist geschieht dies langsam, etwa durch technischen Fortschritt oder Veränderungen religiöser Einstellungen. Manchmal kann es auch schnell geschehen, etwa durch Revolutionen oder Systemwechsel. Deutlich ist der ontologische Befund, daß es keine absolute Gerechtigkeit gibt. Eine solche ist aber theoretisch entbehrlich.

4. Funktion der Kategorien der Gerechtigkeit Die einzelnen sozialen Werte, also die moralischen Werte innerhalb einer Gesellschaft und die diesbezüglichen Überzeugungen, können isoliert genommen noch keine erstrebenswerte, weil gerechte soziale Ordnung beziehungsweise konkrete politisch-rechtliche Regelungen begründen. Werte wie

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Freiheit, Gleichheit oder Menschenwürde, auch wenn sie in einer konkreten Regelung implementiert sind, weisen diese noch nicht als gerecht aus. Erst bei einer Gesamtschau der jeweiligen komplexen Situation und des Zusammenwirkens aller in ihr enthaltenen Interessen, Werte und Inspirationen kann davon gesprochen werden, ob eine bestimmte Lösung gerecht ist oder nicht. Die Gerechtigkeit zielt also auf eine Koordinierung der einzelnen Komponenten, auf das Erreichen eines Equilibriums. Zugleich bedarf es einer Kategorie, die in der Lage ist, das Ganze theoretisch zu erfassen. Damit hat Gerechtigkeit immer mit den Situationen, Interessen und Werten zu tun, die im politischen und sozialen System einer Gesellschaft einer aus Sicht dieser Gesellschaft und ihrer Werte gerechten Lösung zuzuführen sind. Gerechtigkeit ist also nicht nur historisch gebunden, sondern auch stets praktisch-politisch aktuell.

5. Ergebnis Nur durch die Kombination von Verfahren und materieller Komponente ist es möglich, einen moralisch relevanten Gerechtigkeitsbegriff zu erhalten, der dennoch das enthält, was durch die Zeit von Menschen als gerechtigkeitsspezifisch empfunden worden ist - die Abwägung zweier Sachverhalte, um ein als gerecht empfundenes Equilibrium zu erhalten. Würde man lediglich auf den moralischen Teil abstellen, ginge das Gerechtigkeitsspezifische verloren, und die Gerechtigkeit wäre von der Moral an sich nicht mehr unterscheidbar. Dies wäre nicht erstrebenswert, da eine solchermaßen verstandene Gerechtigkeit nicht in der Lage wäre, unterschiedliche moralische Situationen zu differenzieren. So sind eine Reihe von Situationen denkbar, in denen die Bewertung "gerecht" nicht angebracht ist, sondern es um "schlecht" oder "gut" geht - etwa die Frage nach der Zulässigkeit von Fremdgehen oder Tierquälerei. 62 Hingegen ist die unterschiedliche Bewertung zweier Tierquäler durch die Gesellschaft eine Frage der Gerechtigkeit. Würde man nur auf das Verfahren abstellen, würde es an sinnvollen Kriterien fehlen, da das Verfahren an sich zu abstrakt ist und weiterführender Kriterien bedarf. Eine Beschränkung des Gerechtigkeitsbegriffs wiederum auf Grundsätze wie Gleiches gleich zu behandeln, suum cuique oder die Befriedigung von Bedürfnissen, ist sinnlos. 63 62 Rawls, Theory of Justice, S. 9; Sadurski, S. 11 f. Allerdings ist das von Sadurski verwendete Beispiel von sehr grausamen Strafen für triviale Vergehen, die aber gerecht angewendet werden, problematisch, da man dabei argumentieren kann, daß die Grausamkeit aus einem Ins-Verhältnis-Setzen zu anderen Strafen erwächst, so daß wieder ein gerechtigkeitsspezifischer Vorgang vorläge. 63 Vgl. Petev, Recht der offenen Gesellschaft, S. 51; Lyons, Formal Justice, S. 850 f.

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Durch die Kombination der beiden Elemente erhält man für die betreffende Gesellschaft eine Gerechtigkeitskonzeption, die durch Diskurse, an denen alle potentiell Interessierten beteiligt sind, für die jeweilige Gesellschaft begründet erscheint. Sowohl die formelle wie die materielle Komponenten der Gerechtigkeit sind sozial-philosophisch konzipiert. Dies zeichnet die Gerechtigkeit im System der moralischen Werte aus.

Zweites Kapitel

Gerechtigkeit durch Recht In diesem Kapitel soll das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht diskutiert werden und der im 1. Kapitel beschriebene Gerechtigkeitsansatz auf seine Umsetzbarkeit durch Recht untersucht werden. Grundsätzlich wird angenommen, daß das Recht das wichtigste Instrument zur Durchsetzung von Gerechtigkeit ist. Das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Recht wird allgemein als besonders eng angesehen, der Gerechtigkeit wird vor allen moralischen Werten eine besondere Affinität zum Recht nachgesagt. I Aufgrund seiner Regelungs- und Ordnungsfunktion und weil es verteilt, zuteilt und gewährleistet, ist das Recht in der Lage, Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft durchzusetzen, und die Hauptanwendungsebene für Gerechtigkeit zu sein. Das Recht setzt die Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen einer Gesellschaft um, unabhängig von deren (jeweils anderen) Inhalt. Die Geltung des Rechts beruht wiederum unabhängig von seinem moralischer Bewertung nur darauf, daß es nach den herrschenden Regeln zustande gekommen ist. Eine andere Sichtweise des Rechts würde, wie noch zu zeigen sein wird, die Ordnungsfunktion des Rechts beeinträchtigen und Recht als Konstruktion sinnlos machen. Das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit ist umstritten: die Diskussion über dieses Verhältnis ist Teil der weiteren Diskussion über das Verhältnis von Recht und Moral. Diese wird häufig als ein Disput zwischen zwei Positionen gesehen, zwischen dem rechtlichen Nichtpositivismus und dem Rechtspositivismus. Der Nichtpositivismus argumentiert, daß es eine notwendige Verbindung zwischen Moral im allgemeinen und Gerechtigkeit im besonderen und dem Recht gibt. Kernstück des Positivismus sind wiederum die Trennungsthese, daß es keine notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral gibt, und die soziale These, daß das Recht in erster Linie aus sozialen Tatsachen oder Konventionen erwächst, und nicht aus moralischen Argumenten. Der Streit zwischen den beiden Positionen geht zurück auf Benthams Kritik an Blackstones naturrechtlichem Ansatz. Nach dem zweiten Weltkrieg lebte der Disput mit den Aufsätzen von Hart und Fuller in der Harvard Law Review wieder auf. Seither hat es zahlreiche neue AnI Dies legt nicht zuletzt die Tatsache nahe, daß in vielen Sprachen Recht und Gerechtigkeit denselben Wortstamm haben (ius/iustitia).

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sätze in beiden Richtungen gegeben - die Diskussion ist weiterhin ebenso fruchtbar wie unabgeschlossen. Vor allem die Entwicklung des sogenannten inklusiven Positivismus durch Coleman und andere in den letzten zwei Jahrzehnten hat eine Position geschaffen, die versucht, Kritikpunkte des Nichtpositivismus am Positivismus zu integrieren und somit einen Mittelweg zwischen den beiden Positionen zu finden. Die Stichhaltigkeit dieses Mittelweges wird allerdings von Vertretern sowohl des sogenannten exklusiven Positivismus wie des Nichtpositivismus bestritten. Dennoch soll hier argumentiert werden, daß der inklusive Positivismus die Konzeption von Recht darstellt, die am überzeugendsten das Verhältnis von Recht, Moral und Gerechtigkeit zu bestimmen vermag und somit am besten in der Lage ist, moralische Werte im allgemeinen und insbesondere die Gerechtigkeit durch Recht durchzusetzen. Zu diesem Zweck soll im folgenden der Disput zwischen Positivismus und Nichtpositivismus beleuchtet werden, unter besonderer Berücksichtigung des derzeitigen Diskussionsstandes zwischen inklusivem Positivismus auf der einen Seite und exklusivem Positivismus sowie Nichtpositivismus auf der anderen Seite. Ferner sollen die unterschiedlichen Ansätze der Betrachtung von Positivismus und Nichtpositivismus im angelsächsischen und im deutschsprachigen Raum einander gegenüberstellt werden, um dadurch die argumentative Überlegenheit des inklusiven Positivismus zu bestätigen.

I. Der Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus zur Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Recht: die angelsächsische Diskussion Der Rechtspositivismus ist im angelsächsischen Raum seit langer Zeit die vorherrschende Rechtstheorie. Der klassische Positivismus begann mit Bentham und Austin und stand in enger Verbindung mit der vorherrschenden Ideologie der Zeit, dem Utilitarismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf H. L. A. Hart eine modeme, zeitgemäße Form des Positivismus, der auf dem klassischen zwar aufbaut, ihn aber in wichtigen Punkten verändert. Hart löste den Positivismus vom Utilitarismus, und verband ihn mit dem Liberalismus. Weiterhin erweiterte er den Rechtsbegriff des klassischen Positivismus, indem er die Beschränkung der Gesetzesdefinition auf sanktionsbewehrte Befehle aufhob. Die Kemthesen des Positivismus ließ Hart jedoch unverändert. Insbesondere behielt er die Trennung der Geltung des Rechts von seinem moralischen Gehalt, des Rechts wie es ist von dem Recht wie es sein soll, bei, wie auch die Erkenntnis der klassischen Positivisten, daß das Studium des Rechts als Rechtskonzept etwas anderes ist als das Studium der Geschichte, Soziologie oder eine moralische Überprüfung des Rechts. 2

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2. Kap.: Gerechtigkeit durch Recht

Im folgenden wird daher kurz der klassische Positivismus als Basis aller modemen Formen dargestellt; sodann werden die Theorien von Hart mit ihrer Betonung der Trennung von Recht und Moral sowie die Theorien von Harts wichtigsten Kritikern dargestellt. Zu diesen gehören Lon Fuller, aber auch Ronald Dworkin, der den Positivismus als Rechtskonzept ganz in Frage stellt und dagegen eine Rechtstheorie setzt, die auf Rechten beruht. Schließlich wird die modeme Diskussion zwischen inklusivem und exklusivem Positivismus erläutert und untersucht, inwieweit sich daraus eine fruchtbare Perspektive für den Positivismus ergibt. 1. Klassischer Positivismus: Jeremy Bentham und John Austin

Bentham und Austin gelten als die Begründer des klassischen Rechtspositivismus, der aus dem Geist des Liberalismus und des Utilitarismus gegen die bis dahin vorherrschenden naturrechtlichen Positionen, insbesondere von Blackstone, entstanden ist. a) Positivistische Reaktion auf Blackstones Naturrecht: Bentham

Der Positivismus von Jeremy Bentham bildete eine Gegenbewegung zu dem ausgeprägt naturrechtlichen Ansatz von William Blackstone, der als erster das englische common law systematisch darstellte. 3 Blackstone hatte in seinen Commentaries on the Laws of England erklärt, daß alles irdische Recht dem göttlichen Recht gegenüber subsidiär sei. Das englische common law und die ihm innewohnende Moral seien auf Gottes Recht zurückzuführen, und bildeten eine kontinuierliche Einheit seit der Erschaffung Englands. Dadurch gebe es eine höchste und absolute Autorität. Ferner sei das Recht so wie es sein solle und bedürfe keiner Änderung, etwa durch das Parlament4 (Everything-as-it-should-be-Blackstone, wie Jeremy Bentham ihn nennt\ Bentham kritisierte den Ansatz Blackstones vor allem bezüglich seiner Reformfeindlichkeit, seines Souveränitätsbegriffs und seines naturrechtlichen Ansatzes. Er warf Blackstone vor, die Rolle des expositors, der die Fakten des Rechts beschreibt, und die des censors, der das Recht rechtfertigt und sagt, wie es sein soll, unzulässig zu vermengen ("Das Recht der Gotteslästerung ist so wie es sein sollte."). 6 Hinzu komme, daß das engli2

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Han, Concept of Law, S. 253. Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. I bis IV. Blackstone, Bd. 4, S. 41. Wobei Bentham Blackstone an diesem Punkt falsch interpretiert, s. Bums, S. 24. Bentham, Fragment on Govemment, S. 397.

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sehe common law kein richtiges Recht sei, da es keine einzelnen identifizierbaren Gesetze gebe. Richter würden bestimmen, was Recht sei, seien dabei aber nicht konsistent. Würden sie den Präzedenzfällen strikt folgen, gebe es zwar Rechtssicherheit, aber keine Aexibilität, würden sie es nicht tun, gäbe es keine Rechtssicherheit und letztlich nur rückwirkendes Recht. Nur Gesetzesrecht sei richtiges Recht, da es von einer autorisierten Legislative erlassen werde und den Willen der Repräsentierten widerspiegele. Er schlug daher vor, das common law in Gesetzesrecht umzuwandeln. Im Gegensatz zu Blackstone postulierte Bentham eine kritische Jurisprudenz als rationale Wissenschaft; das Recht und seine Institutionen sollten einer steten Kritik unterzogen werden, um ihren essentiellen Zweck erfüllen zu können. Diesen essentiellen Zweck definierte Bentham unter Bezugnahme auf den Utilitarismus mit seinem fundamentalen Axiom, daß das größte Glück der größten Zahl der Maßstab von richtig und falsch sei. 7 Die jeweiligen Gesetze sollten einer konstruktiven Kritik durch den guten Bürger unterzogen werden, der nichtsdestotrotz im Rahmen der Gesetze lebt er soll pünktlich gehorchen und frei kritisieren. Widerstand darf nur geleistet werden, wenn der Nachteil des Widerstandleistens weniger schwer wiegt als der Nachteil des Befolgens. 8 Bentham bestritt auch Blackstones Theorie, daß es eine höchste, unwiderstehliche, absolute und unkontrollierte Autorität gebe und geben müsse9 • Dazu zählte er Staaten auf, die auch ohne eine solche Autorität regiert würden (Schweiz, Holland), und erläuterte seine Annahme politischer Autorität und Souveränität, nämlich die empirisch verifizierbare Gehorsamsgewohnheit gegenüber einer Person oder Gruppe. Die Existenz einer solchen gemeinsamen Gewohnheit zeige, daß eine Gruppe von Individuen eine politische Gesellschaft bilde. 1O Das Gegenstück der Regierenden zu der Gehorsamsgewohnheit sei der Befehl (im Gesetzesrecht) beziehungsweise der Quasi-Befehl im common law. Seine Ablehnung des letzteren, die darin begründet lag, daß Richter seiner Ansicht nach kein Recht machen sollten, ließ ihn langfristig ein reines Gesetzesrecht empfehlen. 11 Bentham ging dabei davon aus, daß mehrere Gehorsamsgewohnheiten gegenüber mehreren akzeptierten Autoritäten auf verschiedenen Gebieten möglich seien - anders als bei Austin. Die Autorität der höchsten Gesetzgebungsgewalt dagegen solle keine Grenzen kennen, außer denen, die durch ausdrückliches Gesetz bestimmt seien. 12 Ein Vertragsmodell als Gesellschaftsmodell lehnte er deshalb ab. Bentham, Comment, S. 393. Bentham, Comment, S. 484. 9 Blackstone, Bd. I, S. 48 f. 10 Bentham, Comment S. 428. 11 Bentham, Comment, S. 429 ff.

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Schließlich argumentierte Bentham für eine Trennung von Recht und Moral, also dafür, daß zwischen Recht und Moral keine notwendige Verbindung herrsche. Allerdings betonte er, daß häufig kontingente Verbindungen zwischen den beiden bestünden. Er glaubte nicht an natürliche Rechte, sondern hielt sie für utopisch; zudem fand er es absurd (nonsense on stilts), daß etwas vorgeblich Uneinschränkbares staatlichen Schutzes bedürfe. Dieser Schutz führe notwendigerweise zu einer Einschränkung widerstreitender Rechte. Auch die Annahme grundlegender nicht-rechtlicher, etwa moralischer, Rechte hielt er für falsch, da sie unbestimmbar und ohne Kriterien seien.

b) Bestätigung und Erweiterung Benthams durch Austin John Austin hat Benthams Theorie erweitert und differenziert, seine grundlegenden Thesen aber beibehalten, insbesondere die, daß die Geltung des Rechts nicht von seiner Richtigkeit oder Unrichtigkeit abhängt. 13 In seinem Werk Lectures on Jurisprudence sind rechtliche Regeln nur einige der zahlreichen Normen, die menschliches Verhalten regulieren. Es gibt göttliches Recht, das von Gott für die Menschen gemacht wird, positives Recht (die normalen Gesetze) und positive Moral (alle anderen menschlichen Standards, Moral, Gewohnheit, Etikette etc.), die von Menschen für Menschen gemacht werden. 14 Göttliches Recht besteht aus moralisch gültigen und bindenden Prinzipien, die nicht beweisbar sind. Da Gott gütig ist, ist die allgemeine Utilität ein Hinweis auf göttliches Recht. Das positive Recht hingegen beruht auf Macht und Gehorsam: der Macht eines Souveräns (einer oder mehreren Personen), dem die Gemeinschaft gewöhnlich gehorcht; dieser erteilt allgemeine Befehle, die durch Sanktionsdrohung durchgesetzt werden (orders backed by threats). Austins Souverän ist allmächtig, eine Einschränkung seiner legislativen Gewalt etwa durch eine Verfassung, wie es Bentham in seinem späteren Leben immerhin für möglich hielt, ist für ihn undenkbar. 15 Die positive Moral schließlich wird nicht von einem Souverän bewußt gesetzt oder durchgesetzt, sie ist einfach in der Gesellschaft präsent und 12 Bentham, Comment, S. 484. Anfangs war Bentham allerdings gegen eine Verfassung, die der Gesetzgebungsgewalt des Parlaments Zügel angelegt hätte, später revidierte er diese Ansicht dann und forderte auch für Großbritannien eine Verfassung. 13 Austin, Province of Jurisprudence, S. 184. 14 Austin, Lectures, S. 171. 15 Austin, Lectures, S. 86 ff.

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wird durch sozialen Druck durchgesetzt. Sie kann auf bestimmten Gebieten mit dem positiven Recht überlappen, ist aber davon unabhängig. Legalität ergibt sich für Austin somit aus der Quelle des Rechts, den rechtmäßigen Erlaß durch den Souverän, nicht durch den Inhalt des Rechts. Normativität als Geltungsanspruch gegenüber dem Bürger entsteht hingegen aus der Sanktionsdrohung, die nur dem Empfänger des faktisch bestehenden Befehls den Anreiz liefert zu gehorchen. l6

2. Grundlage der modernen Diskussion: H. L. A. Hart H. L. A. Hart weist die Rechtstheorie des klassischen Positivismus in Teilen als nicht adäquat zurück. In seinem bahnbrechenden Werk The Concept of Law kritisierte er sie, da sie nur einen Teil der Rechtswirklichkeit erfassen würde.

a) Barts Kritik des klassischen Positivismus Harts Kritik richtete sich vor allem gegen die Deutung des Rechts als sanktionsbewehrtem Befehl, der von einem einzelnen Souverän ausgeht. So sei es unzutreffend, daß die Bürger das Recht lediglich als sanktionsbewehrte Befehle sähen. Dies vernachlässige, daß reiner Gehorsam nicht das selbe sei wie das Handeln aufgrund einer Verpflichtung, so daß Austin niCht erklären könne, warum Menschen auch dann Gesetze befolgen, wenn sie nicht sanktionsbewehrt seien. l7 Zudem hätten auch nicht alle Gesetze Befehlsnatur und würden dem Bürger nur ein Tun oder Unterlassen vorschreiben. Dies gelte zwar im Strafrecht, erfasse aber nicht die Ermächtigungsnormen des Zivil- und Verwaltungsrechts, oder Gesetze, die Gesetzgebungsvollmachten erteilten. lB Schließlich entstehe das Recht nicht lediglich aufgrund des Willen eines einzelnen oder einer Gruppe. Diese Personalisierung des Souveräns, dem die Mehrzahl der Bürger aus Gewohnheit gehorchen würden und der selber keiner anderen Person gehorchen würde, führe zu Problemen mit der Sterblichkeit eines menschlichen Souveräns. So würden Gesetze nicht einfach außer Kraft treten, weil der sie erlassende Souverän gestorben sei, sondern ihre Wirkung würde anhalten. l9

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Austin, Lectures, S. 86 Hart, Concept of Law, Hart, Concept of Law, Hart, Concept of Law,

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f. S. 83 ff. S. 36 ff. S. 51 ff.

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b) Die Regellehre Barts Hart schlägt eine andere Rechtskonzeption vor. Diese besteht darin, daß Recht auf konvergierenden sozialen Konventionen beruht, die von einer bestimmten kritischen Haltung zu diesen Konventionen getragen werden. Die Befolgung von Regeln erfolge, im Unterschied zu der Befolgung von Befehlen, nicht aus Gehorsam, sondern nur aus einer bestimmten Einstellung zum Recht, die Hart den internen Standpunkt nennt. Die interne Einstellung sei nicht die Gewohnheit, sondern bestehe darin, daß der Bürger annimmt, daß die Regel dem Befolgenden einen Grund für ihre Befolgung gibt, was sich darin zeige, daß die Nichtbefolgung der Regel durch einen anderen ein Grund sei, den Nichtbefolger zu kritisieren. 2o Ferner müsse das Recht eine institutionelle soziale Praxis sein, um die anhaltende Wirkung des Rechts zu erklären. Schließlich müsse eine Rechtstheorie die Flexibilität aufweisen, die ein reines Befehlssystem vermissen lasse. Hart sieht dafür vor, daß Regeln geschaffen, geändert und identifiziert werden müssen. Daher besteht Recht für Hart aus zwei verschiedenen Arten von Regeln, den primären und den sekundären. Die ersteren legen den einzelnen Verpflichtungen auf und beschränken ihre Freiheit, wie zum Beispiel im Strafrecht. Die letzteren sind ermächtigende Regeln, die regeln, was es für Institutionen gibt, wie diese gültige primäre Regeln entstehen lassen und was für Verpflichtungen sie den einzelnen auferlegen, und erweitern somit die Freiheit der einzelnen?) Es gibt drei Arten von sekundären Regeln, Rechtsprechungsregeln, die die Rechtsprechung regeln, Änderungsregeln, die Gesetzesänderungen regeln, und die wichtigste, die rule of recognition. Diese legt fest, welche Kriterien eine Norm erfüllen muß, um als primäre Regel anerkannt zu werden, also um Rechtsgeltung zu erlangen. 22 Die rule of recognition ist im Gegensatz zu den anderen Regeln allerdings keine Ermächtigungsnorm, sondern eine Rechtsgeltungsnorm. Sie bezieht ihre Geltung nicht aus einer höheren Norm, sondern daraus, daß sie eine soziale Regel ist, daß die Amtsträger von einer internen Sicht aus diese Regel als Grundlage ihres Handeins akzeptieren. 23 Regeln, die aufgrund der rule of. recognition ergehen, bedürfen bei ihrer Befolgung nicht dieser Einsicht, um gültig zu sein. Die rule of recognition macht das Recht

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Hart, Concept of Law, S. 90. Hart, Concept of Law, S. 94. Hart, Concept of Law, S. 94 f. Coleman/Leiter, Legal Positivism, S. 245.

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zu einer institutionellen sozialen Praxis und erklärt die anhaltende Wirkung des Rechts. Schließlich besteht für Hart das gegenwärtige Recht aus den zu einer gegebenen Zeit geltenden Regeln, und nicht aus den Regeln, die eine bestimmte Person nach ihrem Willen erlassen hat. In Harts rechtstheoretischem System sind Regeln soziale Regeln, sie ergeben sich aus übereinstimmender gesellschaftlicher Praxis und einer gemeinsamen reflektiven Haltung der Gesellschaft zu dieser Praxis. Insbesondere bei der rule of recognition erkennen und akzeptieren Amtsträger, die in einem Rechtssystem arbeiten, die Identifikationskriterien des Rechts im System. Die Existenz dieser Akzeptanz ist eine Tatsache, die zum Beispiel im Gewohnheitsrecht der Richter zu finden ist. 24 Hart bezeichnet seinen Ansatz als deskriptiv soziologisch, sein Rechtsbegriff ergibt sich aus dem tatsächlich bestehendem Recht und nicht aus dem Willen eines einzelnen?5 Er bezieht auch nicht wie etwa Fuller die Funktion des Rechts in seine Theorie ein. Jedoch soll dies nicht heißen, daß Hart durch die interne Sicht ein Sollen aus einem Sein entstehen läßt. Die interne Sicht ist eine Existenzbedingung der rule of recognition; durch sie sehen die Amtsträger die rule of recognition als begründend für ihr Handeln an. Normativität wird erklärt, nicht begründet, was nicht heißt, daß normative Projekte für die Theorie nicht wünschenswert sein können. 26 Hart macht allerdings deutlich, daß sich die Autorität des Rechts nicht daraus ergibt, daß alle Regeln soziale Regeln sind, da Regeln auch geschaffen werden, um soziale Praktiken erst zu ermutigen. Vielmehr reicht es, daß die rule of recognition eine soziale Regel ist, das heißt, daß die Mehrzahl der Amtsträger sie aus einem internen Standpunkt akzeptiert. Auf den moralischen Gehalt einer Regel kommt es hingegen für ihre Autorität nicht an. Die Richter in Harts Rechtssystem entscheiden anhand der geltenden Regeln. Dabei weist Hart darauf hin, daß jede Regel zwar einen klaren Bedeutungskern hat, bei dem die Anwendbarkeit offensichtlich ist, daß aber darüber hinaus jede Regel einen Begriffshof (penumbra) hat, in dem ihre An24 Hart, Concept of Law, Kapitel 7. Allerdings macht ihm Kramer genau diese Faktizität zum Vorwurf, indem er behauptet, daß die faktische Akzeptanz durch die Amtsträger in der Vergangenheit keine normative Begründung für die weitere Akzeptanz in der Zukunft bieten kann, s. Kramer, Rule of Misrecognition, S. 431. Dem widerspricht Hart, indem er eben keine Normativität für die weitere Akzeptanz annimmt, sondern diese lediglich beschreibt. 25 Hart, Concept of Law, Einleitung, S. vi. 26 Coleman schlägt vor, die Normativität aus der Koordinierungsfunktion der rule of recognition entstehen zu lassen. Sie schafft unter den Amtsträgern ein System gegenseitiger legitimer Erwartungen, die zu konvergierendem Verhalten führt. Vgl. Coleman, Incorporationism, S. 392, 400 f.; ders/Leiter, Legal Positivism, S. 248.

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wendung nicht so deutlich ist. 27 In solchen Fällen ist der Richter nicht durch die Regel gebunden, sondern hat discretion anzuwenden, also außerrechtliche Maßstäbe zu Hilfe zu nehmen. Hart geht allerdings davon aus, daß die Mehrzahl der zu entscheidenden Fälle in den klaren Kern fällt, und die Anwendung der discretion nur in Extremfällen erforderlich ist. 28 Die discretion ergibt sich zum einen aus der offenen Textur von Sprache, zum anderen aus der rule of recognition. Die offene Textur der Sprache manifestiert sich vor allem in der häufigen Verwendung allgemeiner Begriffe im Recht. Diese haben einen allgemein akzeptierten Bedeutungskern und eine penumbra von unsicherer Bedeutung. Die rule of recognition setzt die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, daß eine Norm Teil des Rechts ist. Jedoch wird es Fälle geben, in denen keine auf der rule of recognition beruhende Norm anwendbar ist, sondern deren Tatbestand ausschließlich in der penumbra einer oder mehrerer Normen anzusiedeln ist. In diesen Fällen hat der Richter die rechtliche Pflicht, seine Entscheidungsgründe außerhalb des Systems bindender Normen zu suchen und außer-rechtliche Standards einsetzen. Das heißt allerdings nicht, daß er nach Lust und Laune entscheiden kann. Die Macht des Richters, außerrechtliche Standards einzusetzen, ist durch Rationalität und Vernünftigkeit (reasonableness) geregelt und unterliegt der Kritik und der Evaluation, etwa nach dem Ziel des Gesetzes. 29 c) Die Trennungsthese

Für Hart heißt moralische Neutralität des Rechts, daß Recht sich nicht ableitet von moralischen Prinzipien, die ein vorbestehendes höheres System bilden, und daß es keine notwendige konzeptionelle Verbindung zwischen Recht und Moral gibt. 30 Demnach ist die Geltung des Rechts von seinem moralischen Gehalt unabhängig, und ergibt sich aus seiner Herkunft aus einer ordnungsgemäßen Quelle (sogenannte Trennungsthese). Diese Trennungsthese ist erforderlich, um die Autorität des Rechts zu begründen. 31 27 Hart wählt hier das Beispiel der Nonn, die das Bringen von Fahrzeugen in den Park verbietet, s. Hart, Concept of Law, S. 126 ff. Dabei sei klar, daß Autos und Lkws von dieser Regel erfaßt seien, bei Autos als Kunstwerken oder motorisierten Fahrrädern sei es jedoch schon unklarer. 28 Hart, Concept of Law, S. 134. 29 Hart, Concept of Law, S. 147. Himma ist der Ansicht, daß die discretion des Richters im Widerspruch zu dem Anspruch Harts steht, daß die rule of recognition für alle Nonnen die notwendigen und hinreichenden Bedingungen setzt, da eine richterliche discretion nur in einigen Systemen gegeben sei und daher die Konstruktion dieser discretion nur empirisch sei, und nicht nonnativ, wie die Konstruktion der rule of recognition. Vgl. Himma, ludicial Discretion, S. 79 ff. 30 Hart, Concept of Law, Postscript, S. 240.

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Aus der Trennungsthese folgt, daß selbst unmoralisches oder grausames Recht Recht sein kann. Jedoch heißt dies für Hart nicht, daß es keine moralische Bewertung des Rechts gibt; er beansprucht im Gegenteil, daß die Trennung von Recht und Moral die moralische Bewertung des Rechts erleichtert beziehungsweise erst ermöglicht, da nur so deutlich wird, welches die in Frage stehenden moralischen Probleme sind. Nur so ist es dem einzelnen möglich, Gesetze als das zu sehen, was sie sind, nämlich gesellschaftlich geschaffene Ordnungsregeln, die der ständigen moralischen Überprüfung bedürfen. Davon losgelöst soll die Frage nach dem Befolgen von geltenden Gesetzen sein. Bestehen die geltenden Gesetze die moralische Überprüfung nicht, soll der einzelne die Entscheidung fällen, ob er die verwerflichen Gesetze befolgen Will?2 Die rule of recognition kann auch ausdrücklich moralische Prinzipien enthalten, z. B. im Rahmen einer Verfassung 33 , dies ändert aber nicht die Natur des Rechts, sondern fügt lediglich Moral auf der Basis ihrer Herkunft (pedigree) in das System ein?4 Somit bewertet Hart die Trennungsthese als moralisch besser und effektiver, und weist gleichzeitig den Werterelativismus zurück, wie es zuvor auch schon Bentham und Austin taten. 35 Sein Rechtsbegriff ist damit Teil einer Handlungsethik.

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35

Kranenberg, S. 11. Hart, Concept of Law, S. 210 f. Hart, Concept of Law, S. 204. Guest, Ronald Dworkin, S. 98. Guest, Two Strands, S. 31 ff., sieht in dieser moralischen Bewertung einen

Widerspruch zu Harts Aussage, daß sein Rechtsbegriff deskriptiver Natur sei, da die Bewertung einen notwendigen Zusammenhang zwischen Harts Rechtsbegriff und Moral herstellt. Hinzu kommt nach Guests Meinung, daß eine rein deskriptive Sicht des Rechts ohnehin kaum möglich ist, da nur jemand mit einem vollständig externen Sicht dazu in der Lage wäre, und ein solcher wiederum kaum etwas sinnvolles darüber sagen könnte. Jeder Teilnehmer würde automatisch auch bewerten, da die Beschreibung eines komplexen Systems nach gewissen Auswahlkriterien vorgenommen werden müßte, vgl. Guest, Two Strands, S. 34. Diese Ansicht stellt die moralische Bewertung einer Theorie auf dieselbe Stufe wie die der Theorie innewohnenden notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral. Dabei übersieht Guest, daß der eine Satz analytisch und der andere normativ ist. Den sei ben Fehler macht Kranenberg, s. Kranenberg, S. 8, und auch Waluchow geht davon aus, daß man eine deskriptive Rechtstheorie nicht mit moralischen Gründen verteidigen darf, sondern nur um Genauigkeit der Darstellung bemüht sein soll, s. Waluchow, S. 88-90. Wie Alexy zu Recht anmerkt, macht es keinen Sinn, die gesamte Diskussion um die Verbindung von Recht und Moral auf der Stufe des analytischen Ansatzes zu behandeln, Alexy, Defence, S. 25, Fußnote.

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d) Minimum content

0/ natural law

Hart räumt ein, daß Recht und Moral sich häufig teilweise überschneiden können, ja sogar wegen spezifischer Eigenschaften der Menschen teilweise überschneiden müssen. Dies ist aber keine konzeptionelle Notwendigkeit, sondern eine kontingente. 36 Hart selbst hatte in The Concept of Law argumentiert, daß das Recht notwendigerweise einen Minimalgehalt an Naturrecht hat. Dieses ergibt sich aus bestimmten natürlichen Eigenschaften der Menschen allgemein, auf die das Recht reagieren muß, um Recht zu sein. Der minimum content ist die inhaltliche Erweiterung der Ordnungsfunktion des Rechts. Nach Hart gibt es fünf grundlegende Aspekte menschlicher Wesen, die bestimmend für das Recht wirken: die Schwäche des einzelnen, die ihn körperlich verletzbar macht; die Tatsache, daß alle mehr oder weniger gleich sind; daß in jedem eine Mischung aus Selbstsucht und Sorge um andere steckt; daß natürliche Ressourcen selten und schwierig zu erlangen sind; .und schließlich, daß das menschliche Verstehen und die menschliche Kraft eingeschränkt sind. Aus diesen Faktoren folgert Hart, daß es Regeln gegen Mord, Raub, Vandalismus und schweren Betrug geben muß, da sonst Anarchie herrschen würde. Die Menschen machen diese Regeln, um zu überleben. Da die Substanz dieser Regeln der Substanz grundlegender moralischer Normen entspricht, gibt es eine Konvergenz zwischen rechtlichen und moralischen Anforderungen, den minimum content of naturallaw. 37 Allerdings können sich diese Regeln in unterschiedlichen Systemen auf ganz unterschiedliche Gruppen erstrecken; so kann eine kleinere oder auch größere Gruppe innerhalb einer Gesellschaft von der Wirkung dieser Regeln ausgeschlossen werden, ohne daß es zu Anarchie kommt, etwa die Sklaven in den Sklavenhaltergesellschaften, oder die Schwarzen in den USA während der Segregationszeit oder in Südafrika während der Apartheid. Dabei können diejenigen, auf die die Regeln nicht anwendbar sind, mehr zu leiden haben oder jedenfalls weniger Chancen haben als in einem anarchischen System. Wie groß die ausgeschlossene Gruppe sein kann, hängt von den Herrschaftsmitteln der dominierenden Klasse ab; sie kann sogar, wie im Apartheidsystem, die Mehrheit darstellen?8 Wie die von Hart selber schon gemachten Einschränkungen zeigen, ist es schwer, aus den menschlichen Eigenschaften verbindliche moralische Normen herzustellen, die tatsächlich zum Wohl aller dienen. Insofern ist der minimum content of natural law wenig mehr als eine inhaltliche Ausformu36 37

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Hart, Concept of Law, S. 193-200. Hart, Concept of Law, S. 189 ff. Hart, Concept of Law, S. 195.

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lierung der oben bereits dargestellten Ordnungsfunktion des Rechts. Hinzu kommt, daß eine Übereinstimmung bestimmter menschlicher Eigenschaften auf abstrakter Ebene noch lange nicht heißt, daß sich dies auch praktisch so auswirkt. Zudem kann Sicherheit und Schutz vor Anarchie auch bedrükkend sein, weil mit strengsten Strafen verbunden, so daß am Ende die Bevölkerung zwar vor Raub und Mord geschützt ist, nicht aber vor dem Staat. Und schließlich können Amtsträger Sicherheitsregeln auch rein aus Nützlichkeitserwägungen erlassen - auch ein Unrechtsregime funktioniert mit bestimmten sicherheitsfördemden Regeln besser, darin muß sich keine moralische Sorge auf Seiten der Amtsträger manifestieren. 39 Insgesamt ist es also durchaus denkbar, daß ein System, das ein minimum content of natural law enthält, dennoch ein moralisch zu verurteilendes System sein kann. Die Annahme eines minimum content of natural law widerspricht daher nicht der Trennungsthese.

e) Das Verhältnis von Recht, Gerechtigkeit und Moral bei Hart Für Hart ist Gerechtigkeit ein spezifischer, deutlich abgegrenzter Bereich der Moral, der eine spezifischere Form der moralischen Kritik erlaubt. Als ethischer Wert hat die Gerechtigkeit eine besonders enge Verbindung mit dem Recht. 4o Gerechtigkeit ist eine Frage des Gleichgewichts. Dieses wird erreicht durch die Anwendung der Maxime "Gleiches gleich behandeln, und Ungleiches ungleich", die allerdings inhaltlicher Kriterien bedarf, um sinnvoll zu sein. 41 Jedoch trennt Hart auch bei seiner Definition der Gerechtigkeit deutlich zwischen der Geltung des Rechts und den Vorgaben der Gerechtigkeit. 42

3. Moralität des Rechts durch seine Ordnungsfunktion: Lon Fuliers Kritik an Harts Theorie Fuller geht davon aus, daß ohne die Möglichkeit, Verhalten zu koordinieren und Ordnung zu bewahren, das Zusammenleben von Individuen in einer Gesellschaft und das Verfolgen individueller Lebenswege nicht möglich wäre. Autoritative Normen, die menschliches Verhalten regeln, und die Möglichkeit, die Normen durchzusetzen, sind dafür unverzichtbar. Aus dieser Funktion des Rechts hat Fuller eine innere Moral des Rechts hergeleitet. 43 Kramer, Defence, S. 265. Hart, Concept of Law, S. 157 f. 41 Hart, Concept of Law, S. 159-164. Er nennt dabei folgende Ausfonnulierungen seiner Maxime: durch Verteilung und durch Kompensation beziehungsweise Ausgleich. 42 Hart, Concept, S. 161 ff. 39

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In seinem Aufsatz "Positivism and Fidelity to Law", der als Reaktion auf Harts Aufsatz "Positivism and the Separation of Law and Morals" entstand, in dem Hart zuerst seine Trennungsthese postuliert hatte, erklärte Fuller insbesondere diese These für unhaltbar. Die notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral entsteht für Fuller deswegen, weil es illusorisch sei anzunehmen, daß man etwas beschreiben könne, ohne seinen Zweck zu kennen. Der richtig verstandene Zweck eines Rechtssystems ist ein inhärent moralischer. Diese inhärente Moral ergibt sich aus acht Mindestanforderungen, die Fuller an das Recht stellt. Diese sind 1. es muß Regeln geben, 2. sie dürfen nicht rückwirkend sein, 3. sie müssen veröffentlicht und 4. verständlich sein, 5. sie dürfen nicht widersprüchlich sein, 6. die Befolgung muß möglich sein, 7. sie dürfen sich nicht ständig ändern und 8. es muß eine Übereinstimmung zwischen dem erlassenen Recht und dem von den Amtsträgern angewandten Recht herrschen. 44 Diese acht Bedingungen stellen den Zweck des Rechts und damit seine sogenannte "innere Moral"; sie sind eine moralische Aspiration für das Recht. Als Rechtsstaatsideal sind sie implizit im Recht enthalten. Sie bilden eine Ordnung, innerhalb derer der Mensch vom blinden Zufall erlöst wird und sich bewußt entfalten kann. Fuller geht davon aus, daß sowohl das Schreiben von wie das Urteilen nach festen Regeln eher geeignet sei, minimale Moral zu gewährleisten, da Kohärenz und das Gute einander näher seien als Kohärenz und das Schlechte45 ; ferner würden auch die schlimmsten Regimes zögern, Grausamkeit und Intoleranz direkt und offen als Recht zu bezeichnen. Dies ergebe sich unmittelbar daraus, daß Recht automatisch mit den drängendsten Fragen der Moral identifiziert werde. 46 Die acht Bedingungen stellen zudem ein Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten her und vermeiden so die Betonung des Amtsträgers in der Theorie von Hart, die dazu führt, daß die rule of recognition ein eher einseitiges Verhältnis von oben nach unten erzeugt. 47 Fuller behauptet nicht, daß die innere Moralität des Rechts materiell gerechtes Recht garantiert, er weist aber darauf hin, daß materiell ungerechtes Recht nicht aus einem System der Legalität entstehen kann. 48 Interessant bei Fuller ist, daß er trotz seiner (zum Teil recht rüden 49 ) Angriffe auf Hart nicht so weit geht zu sagen, daß es auf moralische Fragen Fuller, Morality; ders., Positivism. Fuller, Morality, S. 33 ff. 45 Fuller, Positivism, S. 636. 46 Fuller, Positivism, S. 637. 47 Simmonds, S. 124. 48 "Coherence and goodness have more affinity than coherence and evil", Fuller, Positivism, S. 674. 43

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objektiv richtige Antworten gibt, wie es die Naturrechtier postulieren. Ferner folgt er trotz seiner Unterstützung für Radbruch diesem nicht darin, daß extrem unrechtes Recht wegen des Unrechts seine Rechtsqualität verliert. 50 Jedoch stimmt Fuller bezüglich des Dritten Reichs mit Radbruch darin überein, daß die allgemeine Akzeptanz positivistischer Rechtsphilosophie in Deutschland vor 1933 rechtlich nützlich für Hitler war, da für diese Philosophie die innere Moral des Rechts ohne Belang war. 51 Die Hauptkritik an Fullers These ist, daß seine acht Regeln keine Moral darstellen, sondern lediglich effektivitätsfördernd sind. 52 Grundsätzlich muß man festhalten, daß Ordnung an sich nicht moralisch sein muß, sondern im Gegenteil auch den verwerflichsten Zielen dienen kann. Funktionalität meint lediglich Geeignetheit zur Erreichung eines gewünschten Ziels, sagt aber nichts über die Natur des Ziels. 53 Simmonds verteidigt Fuller damit, daß eine solche Kritik noch nichts aussagt, da sie nicht über den Zweck der Effektivität enthält. Zwar sei ein Unrechtsstaat, der die acht Regeln einhält, theoretisch denkbar und logisch konsistent, aber nicht sehr wahrscheinlich, da die meisten Unrechtsstaaten lieber im Verborgenen agieren würden. Allenfalls sei es bei einem Regime mit großem Rückhalt bei einer Mehrheit der Bevölkerung denkbar, die sich einig sei, daß eine Minderheit gequält werden solle. Und selbst wenn es einen Unrechtsstaat gebe, der die acht Regeln befolgt, so sei dieser einem rein willkürlichen Unrechtsstaat vorzuziehen, da ein geregelter Unrechtsstaat mehr Freiräume bieten würde, um das Regime zu bekämpfen. 54 Hinzu kommt, daß Vorhersehbarkeit und Regelmäßigkeit an sich moralisch neutral sind. Die Vorstellung, daß geordnete Abläufe dem Unrecht entgegenwirken können oder es zumindestens abmildern können, ist auch von Rawls vertreten worden, der meint, daß es besser sei, ungerechte Gesetze "impartially" und nicht willkürlich anzuwenden.55 Die Erfahrungen mit dem Dritten Reich und seinen Regeln und Verwaltungs vorschriften zum Massenmord zeigen, wie problematisch diese Ansicht ist. Auch kann es für ein Unrechtsregime, vor allem in einer Massengesellschaft, sehr sinnvoll sein kann, effizienzsteigernde Regeln einzuführen und sich daran zu halten. 56 Weiterhin 49 Fuller, Positivism. Auch gibt er, wie Kramer zutreffend anmerkt, Hart vielfach falsch wieder, Kramer, Scrupulousness, S. 236, FN. 4. 50 Greenawalt, S. 3. 51 Fuller, Positivism, S. 657, 659. 52 Hart, Lon Fuller, S. 350 ff. 53 Dies ist allerdings umstritten; Moore argumentiert, daß es keine neutralen Funktionen gibt, Moore, S. 198. 54 Simmonds, S. 123 f. S5 Rawls, Theory of Justice, S. 59. S6 Kramer, Scrupulousness, S. 252-255.

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wirft diese Vorstellung die Frage auf, ob zwei Unrechtsregime wie das Dritte Reich und Stalins Terrorherrschaft sich wirklich moralisch unterscheiden, weil das eine nach furchtbaren Regeln und das andere vom Prinzip der Willkür getragen war. Raz ist der Ansicht, daß der Rechtsstaat, den Fuller aufgrund seiner acht Regeln als moralisch bezeichnet, eher eine negative Tugend ist. Das Recht birgt gewisse Gefahren der Willkür, Unsicherheit, Rückwirkung etc. Der Rechtsstaat soll dies verhindern - verhält man sich rechtsstaatlieh, vermeidet man Böses, das nur durch das Recht entstanden wäre. Daß das Recht aus seiner Struktur heraus nicht Willkür oder Freiheitsverletzungen oder Mangel an Klarheit sanktionieren kann, kann es sich nicht als moralisches Verdienst anrechnen, das heißt lediglich, daß bestimmte Formen des Bösen nicht durch das Recht selbst hervorgebracht werden können. 57 Insgesamt kann man mit einer gewissen Berechtigung feststellen, daß Fuller schlicht die Vorstellung eines moralisch schlechten Systems in seine Rechtsdefinition nicht mit einschließt; dies ermöglicht es ihm zu folgern, daß das Recht intrinsisch moralisch ist. 58 4. Ein nichtpositivistisches Gegenmodell als Gesamtkritik an Hart: Ronald Dworkin Dworkins Kritik von Harts Theorie ist wohl die einflußreichste und wirkt bis heute nach. Dabei ist besonders seine Darstellung von Harts Theorie maßgebend geworden. 59 a) Dworkins Kritik an Hart

Dworkins Kritik beruht auf drei Punkten. Zum einen sieht er Harts Konstruktion von Primär- und Sekundärregeln als unzureichend an, da Richter in schwierigen Fällen auch Standards verwenden, die nicht nach dem starren Ja/Nein-Schema von Regeln funktionieren. Diese Standards nennt er Prinzipien. 6O Weiterhin argumentiert Dworkin, daß auch moralische Prinzipien Rechtscharakter haben können. Ihre rechtliche Autorität beruht nicht wie bei Regeln darauf, daß sie in Übereinstimmung mit einer rule of recognition erlassen worden sind, sondern ergibt sich aus einer öffentlichen Akzeptanz, die Authority of Law, S. 224. Kramer, Scrupulousness, S. 247 59 Coleman, Incorporationism, S. 381. 60 Dworkin, Model of Rules, S. 29; er nennt darüber hinaus auch noch policies, die aber für die weitere Untersuchung nicht von Bedeutung sind. 57

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Raz,

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sich im Laufe der Zeit bei Rechtskundigen und bei der Bevölkerung herausgebildet hat. 61 Ihre Rechtsgeltung beruht also auf inhaltlichen Kriterien. Allerdings hat Dworkin in Law's Empire einen Unterschied zwischen den Bedingungen rechtlicher Geltung und der Bedeutung einer gültigen rechtlichen Regel gemacht. Er besteht nicht darauf, daß die Geltung rechtlicher Prinzipien von ihrer Moral abhängen, sondern lediglich darauf, daß es oft nötig ist, bei der Interpretation von gültigen rechtlichen Regeln Prinzipien zu konsultieren. 62 Obwohl Prinzipien von Handlungen öffentlicher Institutionen durchaus unterstützt werden können, und teilweise auch durch eine als rule of recognition bezeichnete Regel wie die Verfassung in das Rechtssystem eingeführt werden63 , ist dies mit der Definition einer rule of recognition nicht vereinbar. Aus deren Logik läßt sich keine direkte Legitimationsmöglichkeit für alle Prinzipien herleiten, wie sie der Positivismus nach Dworkins Ansicht durch eine rule of recognition als soziales Kriterium verlangt. Damit weist Dworkin die Trennungsthese zurück, nach der Moral keine Bedingung für Rechtsgültigkeit sein kann. Schließlich übt der Richter bei der Rechtsprechung keine discretion, das heißt eine Entscheidungsfreiheit (Ermessen) aus; die Rechtsprechung findet also nicht im außerrechtlichen Raum statt. Vielmehr setzt der Richter rechtliche Standards, nämlich Prinzipien, ein. 64 Prinzipien, und die durch sie verkörperte Moral sind für Dworkin also selbstverständlich Bestandteil des Rechts. Folgt man Dworkin und betrachtet Prinzipien als Recht, dann kann der positivistische Grundsatz nicht gelten, daß alles Recht nur durch einen formalen Test wie eben den Erlaß aufgrund einer rule of recognition entsteht, die von Dworkin als Herkunftstest bezeichnet wird. 65 Dies liegt daran, daß der Positivismus, der sich auf inhaltsneutrale Herkunftstests beruft, daraus klare Bestimmbarkeit der geltenden Regeln herleitet und daher nicht mit einer Unsicherheit darüber, was Recht ist, vereinbar ist. Eine solche Unsicherheit läßt sich bei harten Interpretationsfällen, die bei inhalts bezogenen Geltungskriterien entstehen, häufig feststellen. Wenn die rule of recognition inhaltliche Kriterien inkorporieren würde, wäre sie nicht mehr in der Lage, die Sicherheit zu bieten, die von ihr verlangt wird. Dworkin, Model of Rules, S. 40. Dworkin, Law's Empire, S. 176. 63 Dworkin, Model of Rules, S. 40. Waluchow, S. 168 f., mißversteht Dworkin insofern, als Dworkin seiner Ansicht nach gesagt hat, Positivisten würden nie moralische Grundsätze inkorporieren. Dies ist aber mit Dworkins Ausführungen nicht vereinbar, wie Himma, Waluchows Defense, S. 105 f., zu Recht sagt. Die Positivisten versuchen es zwar nach Dworkins Ansicht, es funktioniert aber nicht. 64 Dworkin, Model of Rules, S. 35. 65 Dworkin, Model of Rules, S. 44. 61

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Diese Situation entsteht für Dworkin deswegen, weil Hart Gesetze als soziale Regeln ansieht. Gültiges Recht muß gewöhnlich eingehalten werden, und die Gültigkeit ergibt sich aus der rule of recognition, die von den Amtsträgern akzeptiert werden muß. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit sicherer Bestimmbarkeit. 66 Da Moral inhärent kontrovers ist, und die rule of recognition als soziale Regel nicht kontrovers sein darf, kann die rule of recognition keine Moral enthalten. Aufgrund der genannten Kritikpunkte hat Dworkin den Hartschen Positivismus als eine interpretative substantive Rechtstheorie unter der Bezeichnung "Konventionalismus" umformuliert. Nur so ist es seiner Meinung nach möglich, aus dem Positivismus brauchbare und plausible Einsichten zu gewinnen. Dworkins Uminterpretation wird von Positivisten allerdings zurückgewiesen. 67

b) Dworkins eigene Theorie: Die Betonung der Rolle von Richtern und Rechten Dworkins eigene theoretischer Ansatz beruht darauf, daß eine normative Praxis wie das Recht aus der Sicht der Beteiligten konstruiert wird. Die Beteiligten sind dabei für Dworkin die Richter. Moralische Prinzipien werden durch richterliche Rechtsprechung Teil des Rechts. Das Recht ist eine Einheit von Regeln und Prinzipien. Zentrale Merkmale dieser Theorie sind Fairness, prinzipientreue Urteile und Auseinandersetzungen, die durch substantielle Argumente beigelegt werden. Zusammen stellt dies die Integrität des Rechts dar. 68 Dworkins Vorstellung von Legalität und Autorität erwächst aus seiner Rechtsprechungstheorie. Er bemüht sich, das Verhalten von Richtern beim Urteilen zu erklären. Richter sind nach Dworkins Meinung darüber uneins, welche Regeln und Prinzipien Geltung haben und was sie genau verlangen, und gehen auch bei schwierigen Fällen davon aus, daß sie rechtliche Regeln anwenden, und nicht etwa nicht-rechtliches Ermessen ausüben. Diese theoretischen Auseinandersetzungen sind für Dworkin ein wichtiger Teil des Rechts und ein Hauptgrund dafür, daß er die Rechtsprechung in den Mittelpunkt seiner Theorie stellt. Da Positivisten zu diesem Thema wenig zu sagen haben, ist Dworkin der Ansicht, daß der Positivismus nicht über eine plausible Erklärung der Natur von Rechtsprechung verfügt.

Dworkin, Model of Rules, S. 61 f. So z.B. von Hart, Concept of Law, S. 248-250; Coleman, Incorporationism, S.384. 68 Dworkin, Law's Empire, S. 176 ff. 66 67

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Ein weiterer Schwerpunkt der Theorie Dworkins ist seine Betonung der Rechte des Individuums. Der Richter trifft seine Entscheidungen in der oben beschriebenen Weise unter Beachtung der "pre-existing rights" der Prozeßparteien. Damit sind nicht die gemäß der Verfassung ohnehin zu beachtenden Grund- und sonstige Rechte gemeint, sondern sogenannte background rights, die sowohl sozialer wie moralischer Natur sind. Auf diesen Rechten baut Dworkin auch seine Gerechtigkeitskonzeption auf - nur ihre Beachtung gewährleistet eine gerechte Entscheidung. 69 c) Kritik des Dworkinschen Ansatzes

Dworkins Kritik an Hart ist problematisch, da man ihm vorwerfen kann, den Positivismus zu verzerren. So erwähnt Hart zwar in The Concept of Law in erster Linie Regeln, es spricht jedoch nichts dagegen, den Begriff "Regeln" weit auszulegen, so daß er auch Prinzipien umfaßt. 7o Entscheidend ist lediglich, daß die Geltung der Regel auf der Tatsache beruht, daß sie im Einklang mit der rule of recognition erlassen wurden, und nicht auf ihrem eventuellen moralischen Gehalt. Dieser Gedanke, daß moralische Prinzipien durchaus rechtlich bindende Standards sein können, sofern sie ihre Rechtsgeltung der rule of recognition verdanken, ist der Ausgangspunkt für die Debatte zwischen inklusivem und exklusivem Positivismus, die mittlerweile die angelsächsische positivistische Diskussion bestimmt. Diese Diskussion ist der Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen dieser Arbeit und soll daher im nächsten Kapitel behandelt werden. Was Dworkins Kritik an richterlicher discretion angeht, so könnte man in der Tat argumentieren, daß mit der Aufnahme moralischer Prinzipien in das Hartsche System die Anzahl anwendbarer Standards steigt, so daß richterliche discretion immer seltener anzuwenden wäre. Andererseits werden gerade moralische Prinzipien häufig mit allgemeinen, ausfüllungsbedürftigen Formulierungen umschrieben, deren Bedeutungshof (penumbra) recht groß ist. Dies würde dazu führen, daß die Notwendigkeit für discretion sprunghaft anwüchse, vor allem in Bereichen wie der Verfassungsrechtsprechung?1 Dworkins Kritik, daß der Positivismus keine vernünftige Rechtsprechungslehre hat, ist sicher zum Teil berechtigt. Dies liegt daran, daß die Rechtsprechung im Positivismus nicht wie bei Dworkin tragender Teil der

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Dworkin, Model of Rules, S. 86 ff. Hart, Concept of Law, Postscript, S. 247. Colenum/Leiter, Legal Positivism, S. 251.

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Rechtstheorie ist. 72 So trennt Hart die Struktur der Begründung von Gerichtsurteilen ganz von der Frage nach der Natur des Rechts. 73 Dyzenhaus weist auf ein Problem des positivistischen Ansatzes hin, das aus der discretion des Richters folgt. Wenn ein Richter bei schwierigen Fällen seine moralischen Vorstellungen einbringen müßte, stellt sich die Frage nach einer Theorie der richterlichen Verantwortung, angesichts der Tatsache, daß bei der Entscheidung schwieriger Fälle ein Richter möglicherweise lieber die Dworkinsche Variante eines moralischen Rechts anstelle der Trennungsthese bevorzugt. Da Positivisten aber, wie auch Dworkin sagt, keine Theorie richterlicher Verantwortung zur Verfügung steht, würden sie schwierige Fälle nicht als verschiedene rechtstheoretische Möglichkeiten, sondern als Ausübung der discretion in Übereinstimmung mit unterschiedlichen moralischen Vorstellungen ansehen?4 Man ist versucht, den Unterschied zwischen Dworkin und den Positivisten als rein semantisch anzusehen, wenn ohnehin beide der Ansicht sind, daß moralische Prinzipien in einem bestimmten Fall bindend sein können, und nur darin voneinander abweichen, daß die Positivisten sie außerhalb und Dworkin sie innerhalb des Rechts ansiedelt. Dies verkennt jedoch, daß für exklusive Positivisten (wie zum Beispiel Raz) gerade diese Positionierung des Moralischen außerhalb des Rechts entscheidend ist, da sie keine rivalisierende Autorität zu der Autorität des Rechts haben wollen, weil dann die Grenzen der rechtlichen Autorität verschwimmen würden. Für inklusive Positivisten wie Coleman hingegen kommt es nicht darauf an, ob die moralischen Prinzipien Richter binden, weil sie Recht sind, sondern darauf, daß sie nur dann Recht sind, weil sie die Bedingungen der rule of recognition erfüllen. 75 Die Betonung der Rechte bei Dworkin ist insofern problematisch, weil sie von einer in der Gesellschaft vorhandenen einheitlichen Konzeption der den einzelnen zustehenden Rechte ausgeht, was in einer modernen wertpluralistischen Gesellschaft nicht von vorneherein, also vor jeder Positivierung, feststeht. Diese Rechte sind nach Dworkin nicht durch eine rule of recognition in das Recht inkorporiert, sondern sind vor-rechtlich. 76

72 Kranenberg beschreibt Dworkins Rechtstheorie als eine, die aus einer Rechtsprechungstheorie entwickelt wurde, s. Kranenberg, S. 18. Das geht sicher zu weit, zumindestens kann man aber sagen, daß er seine Rechtstheorie aus seiner Rechtsprechungslehre bezieht, vgl. Coleman, Incorporationism, S. 407. 73 Hart, Concept of Law, S. 145 f. 74 Dyzenhaus, Hard Cases, S. 31. 75 Coleman, Incorporationism, S. 405. 76 Vgl. Petev, Recht der offenen Gesellschaft, S. 52, 90.

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5. Inklusiver Positivismus: Verteidigung und Weiterentwicklung der Hartschen Theorie Die Diskussion, ob mittels der rule of recognition Moral ins Recht zu integrieren ist, entstand in Reaktion auf Dworkins Kritik an Harts Theorie. Dabei haben sich zwei Hauptgruppen herausgebildet, die inklusiven und exklusiven Positivisten. 77 Die ersteren meinen, daß Dworkins Ansatz mit dem von Hart vereinbar sei. Es sei in rechtlichen Systemen zwar nicht nötig, aber doch möglich, daß die Geltung einer Regel von ihrem moralischen Gehalt abhänge. Über die rule of recognition könnten moralische Standards auch als rechtliche Standards herangezogen werden, solange sie ihre Geltung als Maßstab des Rechts durch die rule of recognition erhielten und nicht lediglich aufgrund ihres moralischen Gehalts an sich?8 Die exklusiven Positivisten hingegen sind der Ansicht, daß es niemals ein Kriterium rechtlicher Geltung sein kann, daß eine Regel moralischen Wert hat. Sie erkennen zwar an, daß die rule of recognition in bestimmten Fällen den Richter anweisen kann, auch moralische Standards zu berücksichtigen, sie bestreiten aber, daß diese Standards dadurch Teil des Rechts werden. Das Einbeziehen moralischer Standards kann nur im Rahmen der Ausübung richterlicher discretion erfolgen, sie bleibt also im außerrechtlichen Bereich. 79 Grundsätzlich bestreitet kein Positivist, daß es zwischen dem Recht und der Moral einer Gesellschaft inhaltlich erhebliche Überlappungen geben kann. Das Wesen der Trennungsthese ist es aber, daß selbst bei einer vollständigen tatsächlichen Konvergenz zwischen Recht und Moral die grundlegende Forderung der Trennungsthese bezüglich der Bedingungen der Legalität nicht berührt ist. Es ist aber festzuhalten, daß Hart einige Punkte offengelassen hatte und diese auch in dem posthum veröffentlichten Postscript zu seinem Werk The Concept of Law nicht mehr präzisiert hat. So ist nach Colemans Ansicht die interne Sichtweise des Rechts nicht hinreichend, die

77 Das Begriffspaar hat von verschiedenen Protagonisten eine Reihe von Namen erhalten: Hart selber bezeichnet sie als weichen und harten Positivismus, s. Hart, Concept of Law, S. 250 ff.; Coleman als Inkorporationismus und exklusiven Positivismus, s. Coleman, Negative and Positive Positivism, S. 139; Waluchow als inklusiven und exklusiven Positivismus, s. Waluchow, S. 2; und Dworkin als weichen und harten Konventionalismus, s. Dworkin, Law's Empire, S. 124 ff. Ich habe mich hier für die Begriffe inklusiver und exklusiver Positivismus entschieden, da diese den Kern der jeweiligen Theorie am besten treffen. 78 Vgl. Hart, Concept of Law, Postscript; Coleman, Negative and Positive Positivism; Waluchow, Inc1usive Positivism; Kramer, In Defence of Legal Positivism. 79 s. Raz. Authority of Law und Ethics in the Public Domain; Kranenberg, Legal Positivism Divided; Mitrophanous, Soft Positivism.

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Nonnativität des Rechts zu erklären. Sie beschreibt nur, daß etwas von den Amtsträgern akzeptiert wird, nicht aber, warum dem so ist. 8o Hart hatte in dem Postscript darauf hingewiesen, daß die rule of recognition so wie er sie konstruiert hatte auch moralische Kriterien rechtlicher Gültigkeit inkorporieren könne. 81 Er relativiert diese Aussage allerdings dahingehend, daß er es offen läßt, ob moralische Regeln als Gültigkeitsvoraussetzung für Rechtsregeln oder als Anweisungen an die Gerichte, Recht im Einklang mit Moral zu sprechen, gelten sollen. 82 Insofern kann man auch den Hartsehen, Positivismus schon als inklusiven Positivismus bezeichnen (er nennt ihn soft positivism), die Frage nimmt aber bei ihm aber keinen großen Stellenwert ein. Erst durch die Kritik von Dworkin und die Aufsätze von Coleman und seinen Anhängern hat dieser Punkt seine heutige Bedeutung erlangt.

a) Betonung des inklusiven Positivismus durch lules Coleman, und die Kritik von Dworkin Coleman entwickelte als erster den inklusiven Positivismus als eigenständige Position innerhalb des Positivismus in seinem Aufsatz "Negative and Positive Positivism", der als Reaktion auf Dworkins Aufsatz "The Model of Rules" entstand. Er positioniert den inklusiven Postivismus, den er Inkorporationismus nennt, in dem logisch freien Feld zwischen dem exklusiven Positivismus von Raz und der nonnativen Rechtstheorie von Dworkin. 83 Positivismus beruht für Coleman auf sozialen Tatsachen, die durch die rule of recognition ausgedrückt werden, die ihrerseits eine soziale Konvention, und aus diesem Grund nonnativ ist. 84 Nach Colemans Ansicht ist eine rule of recognition, die substantielle moralische Prüfungen zuläßt, durchaus schlüssig und mit der Trennungsthese vereinbar. Es darf dabei lediglich keine notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral geben. Auf diese Weise können moralische Kriterien für die Existenz und für den Inhalt und die Bedeutung einer rechtlichen Nonn relevant werden und ihre Geltung begründen. 85 Das heißt, sie werden nicht nur von Richtern zur ArgumentaColeman, Negative and Positive Positivism, S. 141. Hart, Concept of Law, S. 250. 82 Han, Concept of Law, S. 254. 83 Coleman, Second Thoughts, S. 260. 84 Coleman, Relationship, S. 72. 85 Vgl. auch Waluchow, S. 2; Han, Concept of Law, S. 269. Mitrophanous, S. 622 ff., differenziert noch einmal zwischen einem inklusiven Positivismus, der moralische Kriterien nur für die Existenz einer Regel zuläßt, und einem, der sie auch den Inhalt und die Bedeutung der Regel erlaubt. Diese Unterscheidung ist aber, wie sie selber sagt (S. 626) nicht nötig, da das eine aus dem anderen folgt, 80 81

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ti on in schwierigen Fällen herangezogen, sie können Richter und andere Amtsträger auch binden, weil sie wegen ihres substantiellen Gehalts rechtlich gültig sind. Dies alles können sie tun, weil sie durch die rule of recognition in das Rechtssystem inkorporiert worden sind. 86 Diese These ist problematisch, soweit sie die Geltung der Rechtsnormen angeht, da es auch nach der rule of recognition spezifische Geltungskriterien gibt, die zu beachten wären. Was aber die moralisch-inhaltlichen Standards angeht, so können und müssen sie beachtet werden bei der Erschließung des Inhalts der anzuwendenden Norm. Darauf soll hier aber nicht weiter eingegangen werden. Wiewohl Coleman Dworkin zustimmt, daß bei einer sozialen Regel wie der rule of recognition unter den Amtsträgern allgemeines Einverständnis über die Standards dieser sozialen Regel herrschen müsse, so folgt daraus für Coleman keineswegs, daß es keine Auseinandersetzung unter den Amtsträgern geben darf, was aufgrund der Standards in einem Einzelfall erforderlich ist. Die Kontroversen unter Richtern entstehen nicht darüber, was Inhalt der rule of recognition ist, sondern darüber, wie die rule of recognition am besten zu verwirklichen bzw. anzuwenden ist. Auch wenn zwei Richter über die Rechtsnatur verschiedener Standards streiten, so heißt dies nicht, daß sie nicht dieselbe rule of recognition akzeptieren. Im Gegenteil, sie erkennen die selben "Wahrheitsanforderungen" für Gesetze an. 87 Diese Kontroverse zwischen Coleman und Dworkin ist vor allem im Rahmen des angelsächsischen Rechtskreises bedeutsam. Dworkin teilt zwar im Gegensatz zu Raz die Ansicht des inklusiven Positivismus, daß moralische Prinzipien ohne Rücksicht auf ihre soziale Quelle Teil des Rechts sein können, er kritisiert Colemans inklusiven Ansatz aber unter vier Gesichtspunkten, die sämtlich darauf abzielen, daß ein inklusiver Positivismus die Grundregeln des Positivismus verletzt und sich somit selbst aufgibt. Dworkins Ansicht nach würde eine rule of recognition, die moralische Prinzipien inkorporiert, die Trennungsthese verletzen. Hinzu kommt, daß für den Positivisten das Recht seine Geltung aus seiner Herkunft oder der Art des Erlasses bezieht und daher nicht aus dem substanti ven Wert eines Prinzips. Ferner erfülle die rule of recognition eine epistemische Funktion, da Individuen sie als Anhaltspunkt nehmen können, um zu erkennen, was Recht sei. Eine rule of recognition, die Prinzipien beinhalte, würde diese hinzu kommt, daß kein inklusiver Positivist ausdrücklich zwischen diesen beiden Positionen unterscheidet. 86 Coleman, Negative and Positive Positivism S. 154 ff.; ders., Incorporationism, S. 408; ders. Second Thoughts, S. 263. 87 Coleman, Negative and Positive Positivism, S. 156. 5 Szekessy

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Funktion verlieren. Schließlich widerspreche die Inkorporation von Prinzipien dem Wesen der rule of recognition als sozialer Norm (der von Coleman sogenannten Konventionalität88). Die kontroverse Natur von Prinzipien und Moral unterminiere die für eine soziale Norm erforderliche Einigkeit. 89 Generell sei der Positivismus nicht in der Lage, die Natur von Kontroverse und Nichtübereinstimmung im Recht, vor allem in der Rechtsprechung, zu erklären. Dafür brauche es Fairness, eine Rechtsprechung, die Gebrauch von Prinzipien macht, sowie substantielle Argumentation. Daher sei exklusiver Positivismus (umformuliert zum Konventionalismus, s.o.) die einzige Weise, den Positivismus als kohärentes Ganzes zu begreifen, auch wenn er dadurch insgesamt natürlich immer noch nicht richtig sei. 9o Schließlich stellt Dworkin auch Colemans Differenzierung zwischen Inhalt und Anwendung einer Norm in Frage. Im folgenden soll dieser Argumentation von Dworkin im einzelnen nachgegangen werden. Die Kritik von Dworkin übersieht insbesondere, daß die Einbeziehung von Prinzipien in die rule of recognition nichts daran ändert, daß sie eine Herkunftsnorm ist. Auch ein Prinzip erlangt rechtliche Geltung nur, weil es im Einklang mit der rule of recognition als Rechtsnorm steht. Die epistemische Funktion der rule of recognition, die dem einzelnen erlaubt zu erkennen, was Recht ist und somit Unklarheit darüber vermeidet, was Recht ist, wird ebenfalls durch die Einbeziehung von Prinzipien nicht gestört. Die rule of recognition hat zwei epistemische Funktionen, die der Validation und der Identifikation. Die Validationsfunktion ist vor allem der Standard für Amtsträger, um die Geltung einer Regel zu bestimmen. Diese Funktion wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß Amtsträger sich uneins sind darüber, was aus der rule of recognition folgt, was sie also validiert, solange sie sich darüber einig sind, was die rule of recognition ist und was sie für eine Moral enthalten soll.91 Eine rule of recognition kann auch dann eine soziale Regel sein, wenn die Richter der sozialen Praxis folgen, Streitigkeiten in einer bestimmten Weise, nämlich unter Bezugnahme auf moralische Kriterien, zu entscheiden. Das übereinstimmende Verhalten, das für die soziale Regel erforderlich ist, bezieht sich auf die Festlegung dessen, was die rule of recognition ist. Ein nicht-übereinstimmendes Verhalten oder eine Diskussion darüber, was die rule of recognition bedeutet und welche Moral sie genau enthält, ändert daran nichts. 92 88

89 90 91

92

Coleman, Dworkin, Dworkin, Coleman, Coleman,

Incorporationism, S. 384. Law's Empire, S. 124 ff. Law's Empire, S. 129. Negative and Positive Positivism, S. 160. Negative and Positive Positivism, S. 161.

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Moralische Kriterien können also streitentscheidend sein, solange die rule of recognition dies so festlegt. Dann können etwa Richter mit Hilfe der Moral Normen direkt auf der Grundlage ihrer Meriten evaluieren. 93 Kontroversen darüber, wie und wann die rule of recognition anzuwenden ist, ändern an ihrem legalitäts stiftenden Charakter nichts, sie behindern allenfalls ihre Effektivität. 94 Hier stellt sich das Problem, daß die Konstruktion der rule of recognition als eine soziale Praxis, also eine Einstellung von Amtsträgern und Individuen - Akzeptanz oder auch Ablehnung - zu bereits vorhandenen Norminhalten, einen wichtigen Faktor außer Acht läßt. Denn moralische Vorstellungen gelangen nicht erst im Nachhinein, also bei der Anwendung (und der damit verbundenen Akzeptanz) durch Amtsträger oder der Befolgung durch die einzelnen Normadressaten in das Recht, sondern sind schon bei der Entstehung des Rechts ein Faktor. Wie dieser sozio-ethische Charakter des Rechts entsteht, erklärt die rule of recognition nicht. Schließlich ist Dworkins Infragestellung der Differenz zwischen Inhalt und Anwendung einer Norm seltsam, da zwischen den beiden ein Zusammenhang besteht, weil die Anwendung ein Faktor des Inhalts ist. 95 Dworkins Zweifel ist allenfalls aus den Eigenheiten des anglo-amerikanischen case law zu erklären, in dem der Inhalt einer Norm zum Beispiel im leading case, also der Entscheidung, die normprägend wird, auch bereits zum ersten Mal angewendet wird. Für Coleman drückt die rule of recognition eine soziale Praxis unter Amtsträgern aus, bestimmte Standards als Kriterien rechtlicher Geltung zu behandeln. Diese Standards können von Rechtssystem zu Rechtssystem unterschiedlich sein. Entscheidend ist, daß in dieser Konstruktion der rule of recognition kein Hinderungsgrund besteht, auch moralische Werte als Geltungskriterien zumindestens für manche Arten von Normen anzunehmen. Es kommt also nicht auf bestimmte Geltungskriterien an, die die rule of recognition in einem bestimmten System anerkennt, sondern auf die tatsächliche soziale Praxis. Dadurch bleibt die Trennungsthese unberührt, denn aufgrund ihrer faktischen Konstruktion verlangt die rule of recogni-

93 Waluchow überlegt, ob Richter moralische Prinzipien, die in das Recht inkorporiert wurden, nur im Rahmen der discretion anwenden können, da Moral nie objektiv sei und zumindestens in nicht eindeutigen Fällen anders nicht geurteilt werden könne, s. Waluchow, S. 219 ff. Hart scheint in eine ähnliche Richtung zu denken, wenn er anmerkt, daß ein Gesetz mit moralischen Vorgaben so zu verstehen sei, daß es den Richter anweist, discretion in Ausübung seines bestmöglichen Moralverständnisses auszuüben, vgl. Hart, Concept of Law, S. 253 und oben unter 5. 94 Coleman, Incorporationism, S. 411 f. 95 Coleman, Incorporationism, S. 410, FN 46 in der Mitte. 5*

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ti on nicht notwendigerweise immer, daß Moral ein Kriterium der Rechtsgeltung ist, sie schließt es nur nicht aus. 96 Ein weiterer bestimmender Punkt von Colemans inklusivem Positivismus ist die Zurückweisung der Herkunftsthese, die Raz in den Vordergrund stellt, insofern sie die Bedingungen rechtlicher Geltung einschränkt. Daraus folgt aber nicht, daß Colemans Position einen substantiellen Geltungstest fordert, sondern lediglich, daß er ihn erlaubt oder ermöglicht. Ebenso können moralische Prinzipien rechtlich bindend sein, sie müssen es aber nicht. Entscheidend ist, daß die Existenzbedingungen der rule of recognition verlangen, daß sie eine soziale Konvention ist und daß die rule of recognition inhaltsreiche Validitätskriterien auferlegen kann. 97 Dworkin meint, daß diese beiden Existenzbedingungen der rule of recognition nicht vereinbar sind, daß die substantiven Geltungskriterien, die die rule of recognition für moralische Normen aufstellt, nicht mit dem sozialen Charakter des Rechts, seinem Konventionalismus, vereinbar sind.98 Die Auseinandersetzungen, die bei moralischer Argumentation unvermeidlich sind, unterminieren die Konvergenz der sozialen Praxis. Dabei übersieht Dworkin aber den Unterschied zwischen dem Inhalt und der Anwendung der Norm. Nur weil Richter über bestimmte moralische Anforderungen einer Norm in einem Fall streiten, heißt es nicht, daß sie darüber streiten, ob sie diesen Fall durch die Anwendung dieser Norm entscheiden wollen. Die Konvergenz der sozialen Praxis wird also durch die Auseinandersetzungen über die Moral nicht notwendigerweise verhindert. Bei der Bestimmung dessen, wie beim inklusiven Positivismus die Moralvorstellungen in das Recht inkorporiert sein müssen, gibt es divergierende Ansichten. Coleman meint, daß moralische Prinzipien nicht nur dann rechtsbestimmende Standards sind, wenn sie als solche etwa in einer Verfassung, einem Gesetz oder einer Auslegungsregel enthalten sind, sondern auch dann, wenn sich die Amtsträger regelmäßig implizit auf dieses Prinzip verlassen, da so die Beschaffenheit von Rechtsregeln deutlicher wird. 99

96

97

98 99

Coleman, Coleman, Dworkin, Coleman,

Incorporationism, S. 406 f. Second Thoughts, S. 263. Model of Rules, S. 39 ff. Authority and Reason, S. 315, FN 5; Kramer, Defence, S. 199.

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b) Matthew Kramer und die Frage nach einer noch weitergehende ren Integration der Moral in das Recht

Auf der Grundlage des inklusiven Positivismus überlegt Kramer, ob nicht eine noch weitergehende Integration von Moral in das Recht deswegen möglich ist, weil das Recht aus seiner Struktur heraus inhärent und untrennbar moralische Elemente enthält, weil sein Status als Recht dem einzelnen eine moralische Gehorsamsverpflichtung auferlegt. 1OO Er gründet seine Version des Gehorsamsgebotes auf dem Gebot der Fairness, der Überlegung, was passieren würde, wenn alle dieses Gesetz nicht befolgen würden. Denkbar sind nun Normen, die zwar gut gemeint und nötig sind, deren Befolgung in bestimmten Fällen aber unsinnig wäre. 101 Eine Gehorsamsverpflichtung kann eben nicht universal und absolut sein und nicht einmal allgemein für die Gesellschaft gesehen werden. Dies ergibt sich aus der notwendigen Unmöglichkeit, durch Recht jede Einzelfallsituation zu regeln. Da die Gehorsamverpflichtung also allenfalls typisch ist, kann sie nicht moralisch sein. Gegen eine moralische Gehorsamsverpflichtung spricht ferner, daß ein Verstoß gegen ein schlechtes Gesetz in einem moralisch verwerflichen Staat wünschenswert sein kann. Dies soll nicht heißen, daß in einem solchen Staat alle Gesetze schlecht sind; manche Unrechtsregimes haben Teile des Rechts unangetastet weiterlaufen lassen, z.B. im Zivilrecht. 102 Auch soll nicht ausgeschlossen werden, daß man aus anderen Gründen gehorcht, etwa aus Angst oder um vorwärtszukommen. Auch der mehrheitliche Gehorsam aus Angst oder Vorsicht kann aber keine moralische Gehorsamsverpflichtung schaffen, nicht einmal eine prima facie Verpflichtung. 103 \00 Kramer, Defence, S. 254 ff. David Lyons argumentiert, daß es eine prima facie moralische Verpflichtung gebe, jeder rechtlichen Regel zu gehorchen, weil sie eine rechtliche Regel ist. Dies soll eine Voraussetzung sozialen Zusammenhalts sein. Allerdings räumt auch er ein, daß diese prima facie Verpflichtung überkommen werden kann, selbst in einem an sich moralisch guten Regime. V gl. Lyons, Justifications, S. 178. \01 Kramer verweist auf die strengen US-Gesetze gegen jay-walking, gegen das Überqueren von Straßen außer an den dafür vorgesehenen und gekennzeichneten Übergängen. So sinnvoll diese Regelung in einer Stadt wie New York sein mag, so sinnlos ist sie in einer schläfrigen Kleinstadt, wo jemand im schlimmsten Fall kilometerweit entlang einer leeren Straße zum Übergang gehen müßte, um den Nachbarn auf der gegenüberliegenden Seite zu besuchen. Die jay-walking Regel kann in einem solchen Fall keine Gehorsamsverpflichtung aus moralischen Gründen einfordern; die Nichtbefolgung hat auch keine problematischen Folgen, da sie nicht die typische prima facie Gehorsamsverpflichtung in einem guten Rechtssystem kippt. s. Kramer, Defence, S. 280 ff. \02 Allerdings argumentiert Rüthers, S. 175 ff., 189, daß selbst bei gleichlautenden Normen die Interpretation im Sinne des Regimes erfolgt - so gelten zum Beispiel die erbrechtlichen Regeln eben nicht für Juden.

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Kramer unterscheidet also zwischen einer typischen Gehorsamsverpflichtung gegenüber Gesetzen in einem guten System, wo sich die Verpflichtung aus dem Inhalt der Norm ergibt, und einer intrinsischen moralischen Gehorsamsverpflichtung, die nur aus dem Wesen des Rechts als Recht erwächst. Allenfalls läßt sich also eine moralische Pflicht konstruieren, moralisch guten Gesetzen in einem moralisch guten System zu gehorchen. Kramer sieht jedoch selbst ein, daß der reine Status einer Norm als rechtlicher Norm keine automatischen moralischen Konsequenzen haben kann. Zum einen gibt es auch in der besten Gesellschaft harmlose Verstöße gegen gute Gesetze, zum anderen kann man argumentieren, daß eine prima facie Verpflichtung sich nicht auf schlechte Gesetze in einer verwerflichen Gesellschaft beziehen kann. 104 Die Sicherheits- und Ordnungsfunktion des Rechts reicht nicht, um eine Gehorsamsverpflichtung zu begründen. 105 Dieser Versuch der noch weitergehenden Integration von Moral in das Recht durch Kramer scheitert daher. 6. Exklusiver Positivismus: Betonung der Autorität durch Joseph Raz Raz' Kritik am inklusiven Positivismus und seine eigene Weiterentwicklung von Harts Theorie ergibt sich aus seiner Konzeption der Autorität des Rechts. Inklusiver Positivismus unterminiert für ihn diese Autorität des Rechts. Dabei ist er sich keineswegs mit Dworkin einig, daß die inhärente Kontroversität der Moral als eine Bedingung der Rechtsnatur mit einer positivistischen Auffassung unvereinbar ist. Vielmehr verbietet das Konzept der Autorität es, die Rechtfertigungsgründe des Rechts zu ergründen, um seinen Status oder Inhalt festzulegen. I06

a) Die Autorität des Rechts Recht dient für Raz dazu, öffentlich feststell bare Standards zu etablieren, die die Mitglieder der Gesellschaft binden und ihnen nicht die Möglichkeit geben, die Rechtfertigung der Standards in Frage zu stellen. Damit sieht er Recht als soziale Institution und als normative Autorität. 107 Raz definiert Autorität anhand der Frage "Was soll ich tun?" Diese Frage wird stets Gründe für Verhalten aufwerfen, die moralisch und bzw. oder vernünftig sein können und aus denen die Vernunft die entsprechenden Gründe aus103 104 105 106

107

Kramer, Defence, S. 291 ff. Kramer, Defence, S. 275. Kramer, Defence, S. 308. Raz, Ethics, S. 226 f.

Raz, Authority of Law, S. 52.

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wählen wird. Raz unterscheidet meistens (manchmal geht es nicht) zwischen legitimer und effektiver Autorität. Erstere verlangt zu Recht Gehorsam, letztere, die in jeder Art von System existieren kann, nicht. 108 Die ausgewählten Gründe nennt Raz die richtigen Gründe. Das Recht gewinnt seine praktische Autorität daraus, daß es einen eigenständigen und einen anderen als den "richtigen" Grund zum Handeln zumindestens beansprucht, der von den Handelnden miteinbezogen wird. 109 Entscheidend ist nun das Verhältnis zwischen den rechtlichen und den richtigen Gründen. Die rechtlichen Gründe können nicht lediglich zusätzliche Gründe sein, die mit den richtigen nichts zu tun haben, da, wie Hart für Austins sanktionsbewehrte Befehle nachgewiesen hat 11O, das Recht aus sich heraus keine Autorität hat. Die rechtlichen Gründe können auch nicht zu den richtigen Gründen im Widerspruch stehen, da es dann für die Handelnden nicht rational wäre, den rechtlichen Gründen zu folgen, da diese nicht das gebieten, was man tun soll. Und schließlich können die rechtlichen Gründe auch nicht vollständig mit den richtigen übereinstimmen, da sie dann überflüssig wären und lediglich das bestätigen würden, was man tun soll. Daher kann das Recht nur dann normativ sein, wenn rechtliche Gründe den Individuen Anlaß geben, den richtigen Gründen besser, umfangreicher und zufriedenstelIender zu folgen (sogenannte normale Rechtfertigungsthese).111 Es muß einen Unterschied machen, wenn man rechtlichen Gründen folgt, weil sie rechtlich sind, anstelle nur aus anderen Gründen. Eine solche Verbesserung bei der Befolgung der richtigen Gründe ist etwa dann gegeben, wenn die Befolgung durch einzelne nicht mit der Befolgung durch andere koordinierbar ist. Institutionen von allgemeiner Bedeutung wie Schulen, Straßenverkehr, Polizei können einzelne nicht herstellen, selbst wenn sie den richtigen Gründen folgen. 112 Eine weitere Möglichkeit der Verbesserung liegt darin, angesichts der Probleme in einer komplexen und interagierenden Welt festzustellen, was in einer bestimmten Situation jeweils das richtige Verhalten ist. Es könnte sinnvoller sein, die Entscheidung gewählten Vertretern zu überlassen, die einen besseren Überblick haben. I 13 Es gibt also eine Reihe von Situationen, in denen es sinnvoller ist, den rechtlichen Gründen zu folgen als direkt den richtigen, vor allem bei Koordinations- oder Unsicherheitsproblemen, da dann die richtigen Gründe 108 109

lIO 111 ll2 ll3

Kranenberg, S. 13. Raz, Authority of Law, S. 29, 66. Hart, Concept of Law, S. 24 f. Raz, Ethics, S. 214. Raz, Ethics, S. 215. Raz, Ethics, S. 216.

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leichter befolgt werden können. In solchen Fällen ist es rational, die Autorität des Rechts zu akzeptieren. I 14 b) Die Geltung des Rechts Die Geltung des Rechts beruht auf seinen sozialen Quellen (sogenannte starke soziale Quellenthese). Dies bedeutet, daß die Geltung jeglichen Rechts nur auf Tatsachen übereinstimmenden menschlichen Verhaltens beruht, die wortneutral dargestellt werden können, ohne Zuhilfenahme moralischer Argumente. 115 Dies muß so sein, da eine Bestimmung des (moralischen) Inhalts unweigerlich zu grundlegenden moralischen Argumentationen führen würde, um die rechtfertigenden richtigen Gründe aufzudecken. Diese bestehen jedoch bereits. Um das Recht als Autorität zu sehen, das heißt, damit es seine Fähigkeit zur Vermittlung zwischen Individuen und Gründen aufrechterhält, muß auf eine Untersuchung der Rechtfertigungsgründe verzichtet werden. I 16 Dennoch können die rechtfertigenden moralischen Gründe herangezogen werden, um festzustellen, was das Gesetz in einem bestimmten Fall erfordert. Moralische Prinzipien können jedoch nicht Bedingungen rechtlicher Geltung sein. Daher ist die Quellentheorie vonnöten. Raz benutzt dafür nicht das Konzept einer rule of recognition; er benutzt den Begriff Legalitätsstandards, von denen es auch mehrere geben kann. ll7 c) Das Problem der discretion

Ist eine Frage nicht von einer rechtlich bindenden sozialen Norm gedeckt, so hat der Richter außerrechtIiches Ermessen, die discretion, anzuwenden. 118 In unvollständigen oder ungesicherten Fällen der rule of recognition hat der Richter ebenfalls seine discretion anzuwenden, und damit die rule of recognition zu modifizieren beziehungsweise zu vervollständigen. I 19 Dies nutzt Mitrophanous zu einer Kritik am inklusiven Positivismus, die auch schon von Dworkin angesprochen wurde, nämlich daß der inklusive Raz, Ethics, S. 219. Raz, Authority of Law, S. 39 f. Wiewohl Raz ebenfalls die soziale Übereinstimmung als Grundlage für das Recht ansieht, erwähnt er nicht, wie Hart, die Notwendigkeit einer rule of recognition. Seiner Ansicht nach lassen sich die Geltungskriterien für das Recht auch ohne die Konstruktion einer rule of recognition herleiten, aus dem übereinstimmenden Verhalten. 116 Raz, Ethics, S. 231 f. 117 Raz, Authority of Law, S. 95 f. 118 Raz, Authority of Law, S. 42-50. 119 Raz, Authority of Law, S. 94. 114

115

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Positivismus nicht mehr zwischen der Anwendung von discretion, die er ja bejaht, und der Anwendung von moralischen Prinzipien unterscheiden kann, die durch die rule of recognition rechtsgültig gemacht worden sind. Das heißt, er kann nicht erkennen, welche Fälle von der rule of recognition erfaßt werden und welche nicht. Mitrophanous zweifelt daher an der Fähigkeit kontroverser moralischer Regeln, unvollständige oder ungesicherte Fälle zu klären, und weist darauf hin, daß es auch die Funktion des Rechts sei, mit Sicherheit zu definieren, welche Normen Recht sind und welche nicht, die beeinträchtigt wird. 120 Coleman hält dem entgegen, daß durch diese Argumentation zwei Ebenen durcheinander gebracht werden: die Bestimmung des moralischen Werts einer Norm (und damit ihrer Geltung) anhand der durch die rule of recognition inkorporierten Moral und der Bestimmung der moralischen Gründe, diese Norm zu erlassen. So ist etwa das Mordverbot nur gültig, wenn es gemäß der Verfassung rechtmäßig erlassen wurde und nicht willkürlich ist. Dies ist aber unabhängig davon, warum man überhaupt Mord verbieten will, etwa zum Schutz der Menschenwürde und des menschlichen Lebens. Nur die Berücksichtigung des letzteren stellt nach Coleman eine Bedrohung der Autorität des Rechts dar, nicht die Berücksichtigung des ersteren. 121 Waluchow argumentiert wie vor ihm schon Hart, daß es keineswegs die einzige oder Hauptrolle des Rechts sei, Sicherheit, Bestimmbarkeit und Vorhersehbarkeit zu gewährleisten, solange nicht vollständige Unsicherheit über diese Punkte herrsche. 122

d) Die Rolle der rule of recognition für die Autorität des Rechts Raz trägt weiterhin vor, daß das Recht, um Autorität zu haben, auch eine Identifikations- und nicht lediglich eine Validationsfunktion ausüben muß. Die Identifikationsfunktion ist erforderlich, damit Individuen den Anforderungen der richtigen Gründe besser folgen können als ohne rechtliche Normen. Um dies tun zu können, müssen sie jedoch wissen, was das Recht ist - das Recht muß ihnen durch die rule of recognition ersichtlich sein (epistemische Funktion). Eine außerrechtliche discretion stünde auch dem entgegen, wie Recht allgemein verstanden wird. 123 Dieser Ersichtlichkeit kann die kontroverse und somit unklare Natur moralischer Überlegungen entgegenstehen. Allerdings ist die kontroverse Natur 120 121

Mitrophanous, S. 627 ff. Coleman/Leiter, Legal Positivism, S. 256 f.; Coleman, Second Thoughts,

S.266: 122 Vgl. Waluchow, S. 121; Hart, Concept of Law, S. 251 f. 123 Raz, Authority of Law, S. 48.

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der Moral für Raz kein konzeptionelles Problem, sondern ein Effektivitätsproblem. Eine kontroverse rule of recognition macht es für Individuen schwerer, das Recht festzulegen; sie ist daher kein effektives Instrument der gesellschaftlichen Regelung. Raz stellt auf die sozialen Quellen oder Herkunft des Rechts ab, um soziales Verhalten zu regulieren. Insoweit kontroverse Quellen diese Regulation behindern, ist dies nur ein praktisches Problem. 124 Inklusive Positivisten widersprechen dieser Behauptung von Raz: Hart argumentiert, daß die rule of recognition in der Tat vor allem epistemisch ist, daß aber die Eliminierung aller Unsicherheiten aus dem Recht um jeden Preis nicht Sinn der rule of recognition sei. Vielmehr sei eine gewisse Unsicherheitsmarge nicht nur zu tolerieren, sondern geradezu wünschenswert, um Flexibilität bei unvorhergesehenen Fällen zu ermöglichen. 125 Coleman stellt dagegen auf die Frage ab, ob die Eingliederung von Moral ins Recht dieses wirklich unsicherer macht. Dazu stellt er ebenfalls auf den Unterschied zwischen Validation und Identifikation ab und darauf, daß die rule als recognition als Validationsnorm sich an Amtsträger richtet. Sie muß daher nicht dieselbe Regel sein, die der einzelne benötigt, um das auf ihn anwendbare Recht zu identifizieren. Dies kann er auch tun, ohne die dahinterliegende rule of recognition zu kennen. Ihm genügt eine Identifikationsnorm, die zuverlässig das Recht identifiziert, er benötigt nicht die Validationsnorm der rule of recognition. Nur diese Identifikationsnorm müßte mit der Quellentheorie übereinstimmen. Dann ist auch nicht einzusehen, warum die rule of recognition nicht moralische Bedingungen für die Rechtsgeltung postulieren sollte. Allerdings gibt es grundsätzliche Probleme bezüglich der Verläßlichkeit der Identifikationsregel, wenn sie nicht mit der Validationsregel übereinstimmt. 126 Hier zeigt sich, daß die von Simmonds kritisierte einseitige Ausrichtung der rule of recognition durch Hart ausschließlich auf die Amtsträger, von oben nach unten, theoretisch sinnvoll ist l27 , wobei sich nach wie vor die Frage stellt, ob eine strikte Trennung zwischen Amtsträgern und privaten Individuen überhaupt erforderlich ist.

124 Raz, Ethics, S. 234; vgl. auch Mitrophanous, S. 629 ff. Colemans Einwand, daß dann wohl nur unkontroverses Recht als Autorität dienen könne, s. Coleman, Authority and Reason, S. 296, hat er nunmehr zurückgezogen, s. jetzt Coleman, Incorporationism, S. 386, FN 10. 125 Hart, Concept of Law, S. 251 f.; Waluchow, S. 121 f. 126 Coleman, Authority and Reason, S. 296 ff.; ders., Rules and Social Facts, S. 720 f.; ders., Incorporationism, S. 416 f. 127 Vgl. Simmonds, S. 124.

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Problematisch an Colemans Argumentation ist die Annahme, daß die Autorität des Rechts von der Identifikationsregel, die ihrerseits wiederum auf der Quellentheorie beruht (das Recht gibt Gründe, die richtigen Gründe zu befolgen), abhängt, während die Validationsregel breiter im Sinne des inklusiven Positivismus sein kann und Moral enthalten kann. Diese Validationsregel, die rule of recognition, bezieht ihre Autorität aus dem konvergenten Verhalten der Amtsträger, das interne Einsicht in die Notwendigkeit von Koordination ausdrückt, oder darin, daß das Verhalten der anderen angemessene Validitätsstandards ausdrückt. Die rule of recognition ist nicht erforderlich, damit der Normalbürger das Recht identifizieren kann, sie kann also durchaus moralische Prinzipien und die damit einhergehende Kontroversen zulassen, ohne daß dadurch die Identifikation des Rechts gestört wird. Validationsregel und Identifikationsregel müssen für Coleman also nicht identisch sein, und auch keine identische Autorität haben. 128 Waluchow schließlich widerspricht Raz auf der Basis einer konzeptionellen Einschränkung, die er in Raz' Theorie sieht. Wenn das Recht nur Autorität hat, wenn keine moralischen Überlegungen seine Gültigkeit bestimmen, so folgt daraus, daß autoritative Regeln dahingehend eingeschränkt sind, daß die Identifikation und Interpretation solcher Regeln nicht aufgrund von Verweisen auf die Sachverhalte erfolgen kann, die diese Regeln regeln sollen. 129 Dem hält Waluchow entgegen, daß nicht alle autoritativen Regeln einer solchen Einschränkung unterliegen, daß Raz fälschlicherweise davon ausgeht, daß autoritative Regeln nur streitentscheidend sein sollen, daß moralische Überlegungen nicht zu den Überlegungen gehören müssen, auf die nicht verwiesen werden darf, und daß man autoritative Regeln lieber aufgrund einer Abwägung der relevanten Handlungsgründe definieren sollte. 130 Wie Dare aber darlegt, greift keines dieser Argumente, da sie auf einer zu engen Definition Waluchows von streitentscheidenden Regeln beruht. 131

e) Die Rolle der Trennungsthese bei Raz Grundsätzlich ist Raz bereit, die Trennungsthese in ihrer konzeptionellen Form aufzugeben, da er nicht wie Hart die Sorge hat, daß sie erforderlich ist, um zu verhindern, daß moralischer Wert eine notwendige Bedingung für die Geltung einer Norm wird. Auch befürchtet er im Gegensatz zu Hart nicht, daß dann die Moral ihre unabhängige und kritische Stellung verlieren würde. 132 Dennoch ist ganz klar, daß moralische Prinzipien nicht Teil des 128 Coleman, Authority and Reason, S. 293; ders./Leiter, Legal Positivism, S. 258 f. 129 Vgl. Ra