Armut und Gerechtigkeit: Christliche und islamische Perspektiven 9783791771090, 3791771094

Armut ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Sie ist oft Folge wie Ursache sozialer Ausgrenzung und Margi

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German Pages 329 Year 2016

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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Armut und Gerechtigkeit - Einleitende Hinweise
I. Ursachen und Deutungen von Armut aus sozialwissenschaftlicher und theologischer Perspektive
Mit dem Koran für Gerechtigkeit streiten - Zu Farid Esacks befreiungstheologischer Programmatik
Die Feuerprobe des Glaubens – Wirtschaftliche Gerechtigkeit in den frühen mekkanischen Suren
Armut als soziale Provokation - Sieben Anmerkungen zu einer sozialethischen Herausforderung
Option für die Armen - Theologische Sensibilität für Ausgeschlossene
Armut und Gerechtigkeit: islamische Theologie als gesellschaftspolitische Kraft?
II. Freiwillige Armut – ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit?
»Arm dem armen Christus folgen« - Das Ideal der freiwilligen Armut bei Franziskus von Assisi (1182–1226) und in der franziskanischen Bewegung
Armut aus der Sicht des Sufismus
Beobachterbericht
III. Frauenarmut bekämpfen – eine christliche und muslimische Aufgabe
Armut ist weiblich - Christlich-theologische Impulse
Eine islamische Perspektive zur Frauenarmut – Theologische Impulse zur Bekämpfung von Frauenarmut
Beobachterbericht
IV. Weltweite Armut – globale Gerechtigkeit - Sozialethische Perspektiven auf »Entwicklung« und Armutsbekämpfung
Weltweite Armut – globale Gerechtigkeit - Sozialethische Perspektiven auf »Entwicklung« und Armutsbekämpfung aus evangelischer Sicht
Islamische Wohltätigkeit und Entwicklungsorganisationen - Grundlagen des Engagements und exemplarische Einblicke in die Praxis
Beobachterinnenbericht
V. Gerechter Reichtum? Eigentum und Verantwortung
Vom sakralisierten archaischen Eigentumsbegriff zur vorrangigen Option für die Armen: die Eigentumsethik der katholischen Soziallehre
Geschütztes Rechtsgut und sozialpflichtiges Treugut: zum ambivalenten Verständnis von Eigentum und Vermögen im Islam
Beobachterbericht
VI. Beiträge der Religionen zur Armutsbewältigung im Rahmen des Wohlfahrtsstaates in Deutschland
Vom Charisma zum Stigma - Armutsbewältigung und Diakonie aus christlicher Sicht
Soziale Dienste und ihre theologischen Grundlagen - Islamische Beiträge zum Wohlfahrtsstaat
Muslime und Christen in der Gesellschaft – individuelles und strukturelles Veränderungspotential
Armut und Gerechtigkeit: Theologische Zentralthemen mit gesellschaftlichem Auftrag - Zusammenfassende Perspektiven
Autorinnen und Autoren
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Armut und Gerechtigkeit: Christliche und islamische Perspektiven
 9783791771090, 3791771094

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Christian Ströbele · Anja Middelbeck-Varwick · Amir Dziri · Muna Tatari (Hg.)

Theologisches Forum Christentum — Islam

Armut und Gerechtigkeit Christliche und islamische Perspektiven

Verlag Friedrich Pustet

Theologisches Forum Christentum – Islam

Christian Ströbele · Anja Middelbeck-Varwick · Amir Dziri · Muna Tatari (Hg.)

Armut und Gerechtigkeit Christliche und islamische Perspektiven

Verlag Friedrich Pustet · Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. www.verlag-pustet.de eISBN 978-3-7917-7109-0 (pdf) © 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Satz und Layout: Corinna Schneider, Heidelberg eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich ISBN 978-3-7917-2775-2 Weitere Publikationen aus unserem Verlag finden Sie auf www.verlag-pustet.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...............................................................................................

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Christian Ströbele/Muna Tatari Armut und Gerechtigkeit Einleitende Hinweise ...........................................................................

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I.

Ursachen und Deutungen von Armut aus sozialwissenschaftlicher und theologischer Perspektive

Anja Middelbeck-Varwick Mit dem Koran für Gerechtigkeit streiten Zu Farid Esacks befreiungstheologischer Programmatik ...................

23

Farid Esack Die Feuerprobe des Glaubens – Wirtschaftliche Gerechtigkeit in den frühen mekkanischen Suren ......................................................

30

Berthold Vogel Armut als soziale Provokation Sieben Anmerkungen zu einer sozialethischen Herausforderung .......

55

Ansgar Kreutzer Option für die Armen Theologische Sensibilität für Ausgeschlossene ...................................

66

5

Muna Tatari Armut und Gerechtigkeit: islamische Theologie als gesellschaftspolitische Kraft? ......................

84

II. Freiwillige Armut – ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit? Margareta Gruber OSF »Arm dem armen Christus folgen« Das Ideal der freiwilligen Armut bei Franziskus von Assisi (1182–1226) und in der franziskanischen Bewegung ........ 107 Reza Hajatpour Armut aus der Sicht des Sufismus ....................................................... 124 Beobachterbericht (Andreas Renz) ...................................................... 136

III. Frauenarmut bekämpfen – eine christliche und muslimische Aufgabe Ulrike Bechmann Armut ist weiblich Christlich-theologische Impulse ......................................................... 145 Elif Medeni Eine islamische Perspektive zur Frauenarmut – Theologische Impulse zur Bekämpfung von Frauenarmut ........................................ 160 Beobachterbericht (Fahimah Ulfat) ..................................................... 178

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IV. Weltweite Armut – Globale Gerechtigkeit

Sozialethische Perspektiven auf „Entwicklung“ und Armutsbekämpfung

Dietrich Werner Weltweite Armut – Globale Gerechtigkeit Sozialethische Perspektiven auf »Entwicklung« und Armutsbekämpfung aus evangelischer Sicht ................................ 185 Sebastian Müller Islamische Wohltätigkeit und Entwicklungsorganisationen Grundlagen des Engagements und exemplarische Einblicke in die Praxis ......................................... 202 Beobachterinnenbericht (Sigrid Rettenbacher) ................................... 216

V. Gerechter Reichtum? Eigentum und Verantwortung Wolfgang Palaver Vom sakralisierten archaischen Eigentumsbegriff zur vorrangigen Option für die Armen: die Eigentumsethik der katholischen Soziallehre ................................................................ 225 Osman Sacarcelik Geschütztes Rechtsgut und sozialpflichtiges Treugut: zum ambivalenten Verständnis von Eigentum und Vermögen im Islam ...................................................................... 236 Beobachterbericht (Serdar Kurnaz) ..................................................... 246

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VI. Beiträge der Religionen zur Armutsbewältigung im Rahmen des Wohlfahrtsstaates in Deutschland Gerhard Wegner Vom Charisma zum Stigma Armutsbewältigung und Diakonie aus christlicher Sicht .................... 255 Mouez Khalfaoui Soziale Dienste und ihre theologischen Grundlagen Islamische Beiträge zum Wohlfahrtsstaat ............................................ 270 Constantin Wagner/Johannes Frühbauer/ Zekirija Sejdini/Simone Sinn Muslime und Christen in der Gesellschaft – individuelles und strukturelles Veränderungspotential ............................................. 287

Anja Middelbeck-Varwick/Amir Dziri Armut und Gerechtigkeit: Theologische Zentralthemen mit gesellschaftlichem Auftrag Zusammenfassende Perspektiven ........................................................ 306 Autorinnen und Autoren ...................................................................... 323

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Vorwort

Vorliegender Band dokumentiert die elfte christlich-muslimische Fachtagung des Theologischen Forums Christentum – Islam, die vom 6. bis 8. März 2015 an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart stattfand. Wiederum diskutierten fast 130 TeilnehmerInnen aus zwölf Ländern, darunter gut 40 Prozent muslimische FachkollegInnen, zum Thema »Armut und Gerechtigkeit«. Dieses Thema bildete zugleich den Auftakt einer Themenreihe zu Fragestellungen von jeweils besonderer gesellschaftspolitischer Relevanz. Das Forum unternimmt damit eine stärkere Ausrichtung auf die kooperative Inblicknahme gemeinsamer Herausforderungen. Mit dem diesjährigen Thema widmete sich das Forum einer der größten Bedrohungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Selbstwertgefühl von Menschen. Mit den Begriffen Armut und Gerechtigkeit verbinden sich Grundfragen von Menschenbild und Gesellschaft, ebenso wie Fragen nach einer besseren Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten und nach einem wirksameren religionsübergreifenden Einsatz zur Überwindung von Armut und für mehr Gerechtigkeit. Die Themensetzung ergab in diesem Jahr Synergien mit der Deutschen Islam-Konferenz, die sich zeitgleich der muslimischen Wohlfahrtsarbeit widmete, und zwar dort im Blick v. a. auf denkbare Strukturen, gebotene Handlungsfelder und mögliche Handlungsziele für die Mitwirkung muslimischer Akteure im kooperativen Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften in der Wohlfahrtspflege. Demgegenüber bearbeitete das Theologische Forum religiöse Motive und Begründungsformen wohlfahrtlichen bzw. karitativen Engagements, einschlägige Traditionslinien ebenso wie historische und gegenwärtige Formen der Institutionalisierung des Einsatzes zur Armutsbekämpfung und für soziale Gerechtigkeit und sich ergebende theologische Herausforderungen. Die sinnvolle Komplementarität beider Herangehensweisen wurde auch durch Staatssekretär Prof. Dr. Günter Krings im eröffnenden Grußwort herausgestellt. Beide Zugangsweisen, Austausch und Zusammenar9

beit auf politischer Ebene und das theologische Fachgespräch, so Krings, »ergänzen sich grundsätzlich in dem Ziel, das Miteinander in unserem Land zu verbessern«. Keineswegs sei »Religion in unserer freiheitlich demokratischen Ordnung unerheblich« oder könnten »wir etwa das Religiöse ins Private abdrängen« – »Unser säkularer Staat braucht vielmehr auch die sinnstiftende Kraft von Religion«, und »aus diesem positiven Verständnis für Religion heraus fördert der deutsche Staat auch den interreligiösen Dialog«. Gerade in »einer religiös vielfältiger werdenden Gesellschaft« sei »das bessere Verstehen und Verständnis zwischen den Religionen ein wichtiges Anliegen.« Seit über zehn Jahren wird ganz in diesem Sinne das Theologische Forum Christentum – Islam durch das Bundesinnenministerium finanziell und ideell unterstützt. Für dieses Vertrauen und die Ermöglichung unserer kontinuierlichen Arbeit haben wir einmal mehr herzlich zu danken. Wie gewohnt wurde die Tagung vorbereitet und geleitet von einem christlich-muslimischen Team. Neben den HerausgeberInnen dieses Bandes gehörten ihm Esnaf Begic M. A., Dr. Mohammad Gharaibeh, Prof. Dr. Klaus Hock, Dr. Andreas Renz, PD Dr. Hansjörg Schmid, JProf. Dr. Tobias Specker SJ und Dr. theol. habil. Jutta Sperber an. Bei der Herstellung und Drucklegung dieses Bandes haben zudem in bereits gewohnter und dankenswerter Gründlichkeit und guter Zusammenarbeit Corinna Schneider und Christa Wassermann sowie vonseiten des Verlags Friedrich Pustet Dr. Rudolf Zwank mitgewirkt. Gewidmet ist dieser Band in besonderer Weise PD Dr. Hansjörg Schmid, der seit Januar 2015 das Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Fribourg aufbaut und leitet. In den vergangenen Jahren an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat er dieses Forum mitbegründet, -getragen und -entwickelt zu einem weit über den deutschsprachigen Raum hinaus beachteten Ort des interreligiösen Fachgesprächs. Stuttgart/Berlin/Münster/Paderborn, im November 2015 Christian Ströbele Anja Middelbeck-Varwick Amir Dziri Muna Tatari

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Armut und Gerechtigkeit Einleitende Hinweise Christian Ströbele/Muna Tatari

1. Armut und Gerechtigkeit als Herausforderung für Christentum und Islam »side by side« Nach der zehnten Jubiläumstagung 2014 hat das »Theologische Forum Christentum – Islam« eine programmatische Neujustierung vorgenommen: Künftig sollen verstärkt gesellschaftspolitisch relevante Themen gemeinsam in den Blick genommen werden. »Gemeinsam« heißt hier: aus den Perspektiven der christlichen und islamischen Theologien »side by side« auf drängende Herausforderungen blickend. Der Rabbiner Jonathan Sacks hat in Bezug auf interreligiöse Begegnungen, für die auch dieses Forum eine Plattform bietet, vor einigen Jahren die Formulierung geprägt, dass eine Interaktion zwischen Anhängern verschiedener Religionen »face to face« oder »side by side« geschehen könne.1 Mit Ersterem verbindet er das wechselseitige Kennlernen der jeweiligen anderen Religion, wie dies im Austausch in wissenschaftlichen Kontexten möglich wird. Dies könne zu einem tieferen Respekt und einer Haltung der Anerkennung führen, sei aber in der Regel ein langsamer Prozess und zudem äußerst fragil und voraussetzungsreich. Mit dem Ausdruck »side by side« bezeichnet Sacks eine interreligiöse Praxis des gemeinsamen, »Seite an Seite« engagierten Einsatzes für geteilte Herausforderungen. Zuvorderst kann es dabei um die Erfüllung basaler menschlicher Bedürfnisse gehen, die auch allen religiösen Differenzen vorangehen, wie Nahrung, Schutz und Sicherheit.2 Dieses 1 2

Vgl. Jonathan Sacks, The Home We Build Together. Recreating Society, London/New York 2007, 173–182. Vgl. ebd. 181: »For we are cast into this world together. We have souls, we have religions, and they are different. But we also have bodies and they have needs [...]. These are human universals that cut across cultural dividing lines, and they suggest a model for benign coexistence.«

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Zusammenwirken für eine bessere Welt setzt insofern tiefer an als jede theoretische Auseinandersetzung. In Weiterführung der Überlegungen von Sacks, der dabei z. B. an lokale Projekte konkreten Engagements denkt3, kann man das von ihm skizzierte Paradigma auch beziehen auf das gemeinsame Inangriffnehmen aktueller Herausforderungen durch Theologien unterschiedlicher religiöser Traditionen. Dabei geht es zugleich um die theologischen Grundlagen konkreten Engagements. Sacks hatte unterschieden zwischen einerseits inspirierenden, »poetischen« Zielvorstellungen, wie etwa in der prophetischen Utopie vom harmonischen Zusammenleben von Wolf und Lamm (Jes 11,6–9), und andererseits »prosaischen« Programmen, wie sie die Rabbinen im Talmud umschreiben.4 Die Propheten hatten, so Sacks, aus offensichtlichen Gründen eine »bessere Presse«, sie galten als die »ersten und größten Gesellschaftskritiker«, »unermüdlich in ihrem Ruf nach Integrität und Gerechtigkeit« – »ihr Erfolg jedoch war begrenzt«, einzig Jona erreicht tatsächlichen Gesellschaftswandel; anders dagegen der eminente Erfolg der Rabbinen, die »für das Hier und Jetzt« Gesetze machten.5 Freilich sind es gerade die prophetischen Sozialutopien, welche den religiösen Sinnhorizont, den motivationalen Impetus und die kritische Sensibilität speisen für das Engagement unter den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die Erarbeitung der Gehalte und Implikationen dieser Traditionen geht entsprechend bei den Rabbinen Hand in Hand mit der Ausarbeitung gegenwarts- und gesellschaftsbezogener Pragmatik.

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Vgl. ebd. 180: »Each church, synagogue, temple or mosque should have some project of kindness to strangers: unconditional kindness, with no element of evangelism or hope of conversion, that we extend to people simply because they are human and have needs, not all of which they can satisfy themselves.« Und S. 181: »It is simply working together across divides to solve the simple, practical problems we all face.« Vgl. ebd. 177 mit Bezug auf Mishnah Shevi’it 4,3; 5,9 und weitere Passagen: »[...] for the sake of the ways of peace, the poor of the heathens should be supported as we support the poor of Israel, the sick of the heathens should be visited as we visit the sick of Israel [...]«. Ebd. 177. Im Anschluss (S. 178) verweist Sacks noch auf Jer 29,4–7, also den Aufruf des »politischen Realisten« Jeremia zur konstruktiven Einbringung (dort der exilierten Juden) in die (babylonische) Gesellschaft: »Take the city’s welfare as your own. Work for it, pray for it, contribute to it. Keep your faith. Preserve your identity. Stay true to yourself but be a blessing to those among whom you live.«

Theologisch greifen die Hermeneutik der eigenen – vielfach mit benachbarten verwobenen – Traditionen und die Frage nach ihren gegenwärtigen Implikationen ineinander. Gerade dort, wo die Konkretisierung dieser Implikationen uneindeutig geworden ist, stehen die Theologien vielfach vor gemeinsamen praktischen, methodischen und konzeptionellen Dringlichkeiten. Die Theologien sind daher in vielerlei Hinsicht gleichermaßen herausgefordert durch gesellschaftlich aktuelle Fragen und Infragestellungen, auch wenn die Suche nach Antworten die je eigenen Traditionen, Sprachen und Perspektiven voraussetzt. Dass solche gemeinsamen Anstrengungen vermehrt nachgefragt werden – wie z. B. auch in den Teilnehmerbefragungen des »Theologischen Forums Christentum – Islam« der letzten Jahre –, ist auch ein Indikator einer erfreulichen Fortentwicklung des christlich-islamischen und interdisziplinären Fachgesprächs. In diesem Kontext ist die Inblicknahme geteilter gesellschaftspolitischer Herausforderungen besonders dringlich und relevant: Nach wie vor ist die islamische Theologie in Deutschland eine im Werden begriffene Disziplin. In ihrer Formierungsphase (und darüber hinaus) ist sie angewiesen auf den fruchtbaren Dialog mit anderen Wissenschaften wie der Islamwissenschaft, der Philosophie oder den Sozialwissenschaften. Gleichzeitig stehen Diskussionen an über den Aufbau und die Professionalisierung muslimischer Strukturen in den unterschiedlichsten Bereichen vom Religionsunterricht über Jugend- und Wohlfahrtsarbeit, zunehmend auch in der Flüchtlingsarbeit und Seelsorge-Angeboten bis hin z. B. zu Fragen der Entwicklungszusammenarbeit. Viele dieser Herausforderungen erfordern eine theologische Profilklärung auch in praktischtheologischer und theologisch-ethischer Perspektive. In besonderem Maße, aber in der Sache nicht anders als etwa christliche und jüdische Theologie6, steht die islamische Theologie also zum einen vor der Herausforderung, in der Öffnung zu den wissenschaftlichen und gesellschaftsrelevanten Diskursen sprachfähig zu werden, und gleichzeitig zum anderen, den eigenen Werdegang zu reflektieren und darauf zu achten, die unverzichtbaren Merkmale der eigenen religiösen Tradition zu bewahren und fortzuschreiben. In diesem Balanceakt vollziehen sich die 6

Vgl. zu Selbstverständnissen, aktuellen Methodenfragen und exemplarischen Herausforderungen der Theologien zuletzt auch die Beiträge in: Hansjörg Schmid/Mohammad Gharaibeh/Esnaf Begic/Christian Ströbele (Hg.), Zwischen Glaube und Wissenschaft: Theologie in Christentum und Islam, Regensburg 2014.

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Formulierungsversuche einer authentischen Theologie und ihres Beitrags zur Debattenlandschaft auf universitärer und allgemein-gesellschaftlicher Ebene. Nachdem dabei die islamische Theologie in Deutschland mittlerweile stärkere Stabilität und inhaltliche Vertiefung gewonnen hat, ist das »Theologische Forum Christentum – Islam« zunehmend ein Ort für deren interreligiöse und interdisziplinäre Einbindung. Insofern ist die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragen, wie sie sich über die Thematik von Armut und Gerechtigkeit ergeben, in besonderem Maße geeignet, die Ressourcen der vielschichtigen religiösen Traditionen in eine hier verortete Debattenlandschaft einzubringen. Die Thematik »Armut und Gerechtigkeit« ist paradigmatisch ein Thema, welches die Theologien sachgemäß und konstruktiv »side by side« angeht. Denn es kann dabei nicht allein abstrakt und eigenbezogen darum gehen, was christliche und islamische Theologie sich bezüglich Armuts- und Gerechtigkeitsfragen gewissermaßen »face to face« zu berichten haben über die jeweilige Begriffs-, Ideen-, Traditions-, Institutionen- und Realgeschichte. Vielmehr ist geradezu mit Händen zu greifen: Die sich täglich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich verlangt nach konkreten Antworten – Antworten, welche die Theologien zunehmend im Gespräch miteinander und mit ihren Nachbardisziplinen zu suchen haben. Dabei können und sollten »Muslime und Christen Bündnispartner in gemeinsamen Anliegen sein«.7

2. Religiöse Traditionen und sozialethische Begründungen Dass die Suche nach theologischen Antworten auf die Herausforderungen von Armut und eklatanter Ungerechtigkeit durchaus bei gemeinsamen motivischen Grundlagen starten kann, liegt auf der Hand. In normativen Texten wird immer wieder zentral und prägnant davon gesprochen, dass Gott Gerechtigkeit will. So nennt das Buch Jeremia Gott den »Herrn, unsere Gerechtigkeit« (Jer 23,6); die jesuanische Bergpredigt nennt jene selig, »die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit« (Mt 7

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So programmatisch bereits Hansjörg Schmid/Kay Mutlu, Christen und Muslime in ethischer Verantwortung. Zur Einführung, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Abdullah Takim/Bülent Ucar (Hg.), Verantwortung für das Leben. Ethik in Christentum und Islam, Regensburg 2008, 11–18. Zahlreiche Beiträge dieses Bandes widmen sich Grundfragen der Ethik in beiden Traditionen mit Konkretisierungen in den Bereichen Familie, Staat und Politik, Wirtschaft und Biomedizin.

5,6); nach Sure 57 schickt Gott seine Gesandten, damit »die Menschen Gerechtigkeit üben« (57,26).8 Aber welchen Status haben solche Texte? Und was ist im Einzelnen hier eigentlich gesagt? »Gerechtigkeit« erscheint geradezu als Inbegriff für das, was Gott will und im vollsten Sinne selbst ist. Und umgekehrt: Die prophetische Kritik gilt Strukturen der Ungerechtigkeit. Aber um welche Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit geht es jeweils im Einzelnen? Eine konkretisierende Antwort auf derartige Fragen verlangt die Berücksichtigung verschiedener Problemkreise: Nötig ist eine innertextliche und historische Kontextualisierung entsprechender Motive ebenso wie eine von daher mit gespeiste, aber auch kritisch gespiegelte Erarbeitung der Prinzipien und Kriterien theologischer Sozialethik im Gespräch mit Nachbardisziplinen wie der philosophischen Sozialethik und Sozialwissenschaften. Erst dann können religiöse Aussagen zu Armut bzw. Gerechtigkeit in Korrelation zu den jeweiligen gesellschaftlichen Zuständen methodisch nachvollziehbar interpretiert werden. Die Wahrnehmung sozialer Gegebenheiten hat in derartigen Interpretationsversuchen also ihr eigenes und unverzichtbares Gewicht. Deshalb spricht auch vieles dafür, nicht in direkter Weise von religiösen Texten und Überzeugungen her ethische Kriterien für begründbar zu halten. Im Verfahren der Bestimmung ethischer Normen liefern diese demnach nicht im unmittelbaren Sinne bereits Beweisgründe. Eher dürfte es sich um weiterführende, verstärkende oder kritische Motive handeln, die insofern Beweggründe statt Beweisgründe ausmachten.9 8 9

Zum Gerechtigkeitsbegriff im Koran siehe auch den grundlegenden Beitrag von Toshihiko Isutzu, Ethico-religious concepts in the Qurʾan, Montreal 1966, und in vorliegendem Band v. a. den Artikel von Farid Esack. In diesem Sinne argumentiert im Ausgang von Alfons Auer beispielsweise Dietmar Mieth, Bioethik in christlicher Sicht, in: Thomas Eich/Helmut Reifeld (Hg.), Bioethik im christlich-islamischen Dialog, St. Augustin 2004, 55–64, 58–61; einführend: ders., Kleine Ethikschule, Freiburg/Br. 2004, 86 ff.; ders., Kriterien für eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung, in: Jean-Pierre Wils/Michael Zahner (Hg.), Theologische Ethik zwischen Tradition und Modernitätsanspruch, Fribourg 2005, 179–196: »Beweggründe sind aber in mehrfacher Hinsicht wichtig: – Sie helfen bei der Entdeckung dessen, was schief liegt bzw. nottut. Wer davon bewegt wird, hat schärfere Kontrasterfahrungen zwischen gut und schlecht, richtig und falsch. – Sie motivieren nicht nur das Denken, sondern auch den Einfallsreichtum, bringen also auch Phantasie in die Ethik. – Sie drängen darauf, vernunfterhellte Einsichten auch praktisch umzusetzen.«

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Das gilt umso mehr, wo komplexe Abwägungen anstehen, wie dies in konkreten Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Gestaltung von Wohlfahrt und Armutsbewältigung oft unvermeidlich ist: Was angezeigt und »gerecht« ist, ist offenbar gerade nicht nur ein Anwendungsproblem von allgemeinen Prinzipien. Aber gerade die Theologie bleibt hier oft im Ungefähren, im Appellativen und Deklamatorischen. So wurde es z. B. anhand von Texten wie der Enzyklika »Caritas in veritate« diagnostiziert: So legitim und wohl notwendig es ist, Personen und Verantwortungsträger zu adressieren und an das individuelle Gewissen zu appellieren, so notwendig ist doch auch die Ebene der Strukturen und Institutionen.10 Besonders eklatant wird dies im Blick auf jene Ungerechtigkeiten, auf welche das einfache Wort »Armut« verweist: Wenn es z. B. biblisch heißt, dass die Armen vor Gott »gesegnet« sind, oder wenn Bibel und Koran einen religiös motivierten Eigentumsvorbehalt reklamieren, so dürfte es nicht hinreichen, darin nur in individualethischer Perspektive ein Motiv z. B. für einzelne Almosen zu sehen (vgl. dazu die prägnanten Positionierungen von Esack und Kreutzer in diesem Band), gar im Sinne einer »Werkgerechtigkeit« oder eines »wirtschaftlichen Tausch[es]« (Esack). Vielmehr wird es auch strukturethisch um Fragen der Kritik und möglichen Änderung von Institutionen gehen müssen. Das schließt auch religiöse Institutionen mit ein – wie dies etwa christlicherseits in der vielbeachteten Forderung von Papst Franziskus zum Ausdruck kommt nach einer »armen Kirche für die Armen« (vgl. dazu in diesem Band Kreutzer, Renz, Palaver). Die Frage nach gerechten und der Armutsbekämpfung förderlichen Strukturen und Institutionen ist in mehreren Problemfeldern von besonderer Relevanz und Dringlichkeit: Das betrifft sowohl die Organisationsund möglichen Kooperationenformen im Gebiet der globalen Armutsbekämpfung und Entwicklungszusammenarbeit (Werner, Müller) wie die Bekämpfung von Frauenarmut und der sie befördernden strukturellen Ungerechtigkeiten (Bechmann, Medini). Aber auch im Blick auf die Einbettung religiöser Organisationen in die Strukturen des deutschen Wohlfahrtsstaates ergeben sich aktuelle Herausforderungen, ist doch dieser selbst in mehrfacher Hinsicht unter Druck, etwa angesichts der 10

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Vgl. z. B. Dietmar Mieth, Vorwort, in: ders. (Hg.), Solidarität und Gerechtigkeit. Die Gesellschaft von morgen gestalten, Stuttgart 2009, 7 f. Vgl. auch: Soheil H. Hashmi, The Problem of Poverty in Islamic Ethics, in: William A. Galston/Peter H. Hoffenberg (Hg.), Poverty and Morality. Religious and Secular Perspectives, Cambridge 2010, 180–203.

Entwicklung hin zu einem »Wohlfahrtsmarkt« (Vogel). Welchen spezifischen Beitrag können in diesem Kontext die Religionen einbringen? In welcher Weise ist insbesondere eine Mitwirkung muslimischer Organisationen11 in diesen in Deutschland historisch gewachsenen Strukturen denkbar und begründbar (Tatari, Khalfaoui)?

3. Die Fragestellungen im Einzelnen Ein ganzes Bündel gesellschaftlicher Entwicklungen und drängender Probleme im Zusammenhang von Armut und Gerechtigkeit verlangt gegenwärtig nach angemessenen, kontextrelevanten und -adäquaten theologischen Reflexionen. Dazu zählen globale Flucht- und Wanderbewegungen von Menschen, Marginalisierung, Rechtlosigkeit, kulturelle Entwurzelung und schutzlose Ausgesetztheit. Viele dieser Fragen hängen wiederum direkt zusammen mit theologischen Profilbildungen u. a. in Fragen der Wohlfahrtsseelsorge und ihren Herausforderungen z. B. durch Prozesse interreligiöser Öffnung und Handlungsfelder wie der Arbeit mit Flüchtlingen und Marginalisierten. Die nachfolgenden Beiträge sondieren zunächst (I.) Ursachen und Deutungen von Armut aus sozialwissenschaftlicher und theologischer Perspektive, um dann einzelne Themenstränge zu vertiefen, und zwar (II.) Ideale »freiwilliger Armut« v. a. in Traditionen der Mystik bzw. des Sufismus und (III.) Aspekte der Frauenarmut sowie (IV.) globale Armut und ihre Bekämpfung im Engage11

Vgl. inzwischen auch die Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz von Dirk Halm/Martina Sauer, Soziale Dienstleistungen der in der Deutschen Islam Konferenz vertretenen religiösen Dachverbände und ihrer Gemeinden, Berlin 2015, online unter: http://www.deutsche-islam-konferenz.de/ SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/WissenschaftPublikationen/soziale-dienst leistungen-gemeinden.pdf, sowie die Erhebung hg. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Religionssensible soziale Dienstleistungen von und für Muslime. Ein Überblick aus Kommunen und den Mitgliedsorganisationen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), Nürnberg 2015, online unter: http://www.deutsche-islamkonferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/Sonstiges/sozialedienstleistungen-kommunen-BAGFW.pdf und die Wohlfahrtspflege als Thema der Deutschen Islam Konferenz, Ergebnisse der Sitzung des DIK-Lenkungsausschusses vom 10. November 2015 in Berlin, Wohlfahrtspflege als Thema der Deutschen Islam Konferenz, online unter http://www.deutscheislam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/Lenkungsaus schussPlenum/20151110_LA_Ergebnisse_dik.pdf

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ment für Gerechtigkeit und Entwicklung und (V.) eigentums- und finanzethische Fragen. Der dialogische Charakter dieser (II.–V.) Sondierungen spiegelt sich jeweils in resümierenden Beobachterberichten wider. Den Abschluss bilden Perspektiven auf mögliche (VI.) Beiträge der Religionen zur Armutsbewältigung im Rahmen des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und in zusammenfassender Reflexion auf das gesellschaftliche Veränderungspotential durch das Engagement von Muslimen und Christen. I. Fragen von Armut und Gerechtigkeit rücken in theologischer Perspektive besonders in den Blick im Rahmen der Ansätze bei einer »Option für die Armen« und der »Befreiungstheologie«. Einer ihrer wichtigsten gegenwärtigen Vertreter im globalen Kontext ist Farid Esack12, der in diesem Band einen pointierten Auftakt setzt. Voraus steht eine Einführung in dessen islamische Theologie konsequenter Parteilichkeit für die Marginalisierten durch Anja Middelbeck-Varwick. Esacks Beitrag bietet zugleich eine fokussierte Erarbeitung koranischer Grundlagen für die in diesem Band verhandelte Thematik. Eine soziologische Perspektive auf »Armut als soziale Provokation« gibt Berthold Vogel. Er erörtert Ursachen und Mechanismen von Armut und Exklusion und mögliche Reaktionen darauf. Begreift Vogel dabei Religion als »Chance und Ressource«, so formuliert dies zugleich eine Aufgabenstellung an die Adresse christlicher und islamischer Theologie. Diese nimmt Ansgar Kreutzer mit einer symboltheologischen Perspektive auf. Aus islamischer Sicht entfaltet Muna Tatari einen Entwurf entlang des theologischen Zusammenhangs von Glaube und Handeln, wie er sich u. a. auch von Farid Esack her ergibt. II. Einflussreich unter den theologischen Deutungen von Armut ist auch das Ideal freiwilliger Besitzlosigkeit, was in dem Motiv gründen kann, dass aller materielle Besitz an der vollständigen Ausrichtung auf Gott hindere. Ein solches Ideal verfolgen Margareta Gruber bei Franziskus von Assisi und der franziskanischen Bewegung und Reza Hajatpour im Blick auf sufische Traditionen und in diesen rezipierte metaphysische Auffassungen der Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit des Menschen und der gesamten Existenz.

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Vgl. zu Einordnung und Auseinandersetzung mit seinem Ansatz mehrere Beiträge in Klaus von Stosch/Muna Tatari (Hg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum, Paderborn u. a. 2012.

III. Sowohl im globalen Kontext wie auch im Rahmen von Wohlstandsgesellschaften wie der deutschen sind Frauen deutlich häufiger von Armut betroffen – »Armut ist weiblich«, so formuliert Ulrike Bechmann. Sie begründet im Ausgang von gesellschaftlichen Befunden und biblischen Traditionen eine »Option für die Armen, die Anderen, die Frauen«. Elif Medeni erörtert, neuere Ansätze der Armutsforschung aufgreifend, islamisch-theologische Impulse und Beiträge islamischer Organisationen und Projekte zur Bekämpfung von Frauenarmut. IV. Religiöse Begründungen für Engagements der Bekämpfung der globalen Armut v. a. in christlichen und islamischen Hilfswerken und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit erörtern die beiden folgenden Beiträge. Dietrich Werner geht dabei aus von der biblischen prophetischen Sozialkritik und Gerechtigkeitsidee, zeichnet die Geschichte des evangelischen kirchlichen Entwicklungsdienstes und seiner Leitbilder nach und skizziert interreligiöse Kooperationsmöglichkeiten. Sebastian Müller beschreibt Grundlagen des Engagements islamischer Wohltätigkeits- und Entwicklungsorganisationen und umreißt deren Programmatiken und praktische Maßnahmen. V. Sowohl christliche wie islamische Traditionen kennen den Gedanken einer Legitimität, aber Sozialpflichtigkeit des Eigentums und der Verantwortung menschlicher Treuhänderschaft im Blick auf Gott als Urheber und letztlichen Eigentümer von allem. Wolfgang Palaver widmet sich der Eigentumsethik der katholischen Soziallehre in Absetzung vom archaischen Eigentumsrecht. Osman Sacarcelik diskutiert das ambivalente Verständnis von Eigentum bzw. Vermögen im Islam zwischen Rechts- und Treugut. VI. Die Beiträge von Gerhard Wegner und Mouez Khalfaoui diskutieren Aspekte der Interaktion von Religionen und Staat im Zusammenhang der Armutsbewältigung im Rahmen des Wohlfahrtsstaates. Welche Bedingungen und Effekte ergeben sich durch diese Einbindung und in welchem Verhältnis stehen dabei theologische Ziele und Motivationen zu staatlichen Anliegen? Angesichts der spezifischen Entstehungsgeschichte der deutschen Wohlfahrtsverbände stellt sich dabei insbesondere die Frage nach möglichen Strukturen muslimischer Wohlfahrt in Deutschland. Reflexionen auf den Diskussionsprozess geben Constantin Wagner, Johannes Frühbauer, Zekirija Sejdini und Simone Sinn. Sie beleuchten Beiträge der Religionen zur Armutsbewältigung in individueller und struktureller Hinsicht und aufgeworfene Anschlussfragen in den interdisziplinären sozialwissenschaftlichen, -ethischen und islamisch- wie christ19

lich-theologischen Blickwinkeln. Der Schlussbeitrag von Amir Dziri und Anja Middelbeck-Varwick nimmt rückblickende Perspektiven des Vorbereitungsteams auf die Tagung und die einzelnen Beiträge des Bandes auf.

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I. Ursachen und Deutungen von Armut aus sozialwissenschaftlicher und theologischer Perspektive

Mit dem Koran für Gerechtigkeit streiten Zu Farid Esacks befreiungstheologischer Programmatik Anja Middelbeck-Varwick

Die drängenden Fragen, die sich theologisch dartun, wenn es gilt, über »Armut und Gerechtigkeit« zu sprechen, werden in christlicher Perspektive vergleichsweise rasch auf die Positionen der Befreiungstheologie rekurrieren: Mit der theologischen Zentrierung der »Option für die Armen« und der Gründung von gesellschaftspolitisch engagierten »Basisgemeinden« nahm die »Theologie der Befreiung« in den 1960er Jahren in Lateinamerika ihren Ausgang. Namen wie Gustavo Gutiérrez, Ignacio Ellacuría, Elsa Támez oder Leonardo Boff werden aufgerufen. Mit Blick auf die islamische Theologie hingegen scheinen sich hinsichtlich der Thematik »Armut und Gerechtigkeit« zunächst völlig andere Stationen der Theologiegeschichte anzubieten, wie zum Beispiel das Ringen um die Bedeutung der Gerechtigkeit Gottes und um die Freiheit des Menschen in der Frühzeit des Islams. Zwar ist die Befreiungstheologie als theologische Strömung ohne Zweifel christlicher Provenienz. Auch wurde sie innerhalb des Christentums und seiner weltweiten Kontexte aufgrund analoger Problemstellungen breit und vielgestaltig rezipiert. Doch ist eine exklusiv-christliche Inanspruchnahme des Begriffs und seines Gegenstands keinesfalls notwendig, zumal sie Gefahr läuft, mindestens zwei Sachverhalte zu übergehen.1 Erstens: Eine christliche Befreiungstheologie ist immer auch eine interreligiöse Befreiungstheologie. Vergäße die christliche Befreiungstheologie angesichts ihres lokalen wie weltweiten Aufgabenkatalogs ihre interreligiöse Dimension, geriete sie 1

Zur Frage interreligiöser Vergleiche und Problematik angemessener Analogiebildung vergleiche weiterführend: Reinhold Bernhardt/Klaus von Stosch (Hg.), Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009, und Reinhold Bernhardt/Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Kriterien interreligiöser Urteilsbildung, Zürich 2005.

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zweifelsohne in einen Selbstwiderspruch. Dies gilt nicht nur, weil es biblisch gesprochen um »die Rettung aller« geht. Dies gilt vor allem, weil nur ein solidarisches Handeln, das die Grenzen der Religionsgemeinschaften überschreitet, wirksam (d. h. dauerhaft und konsequent) Menschen aus ungerechten und notvollen Bedingungen lösen kann.2 Die Praxis der Befreiung, so entschieden sie christlich-theologisch das Evangelium Jesu Christi voraussetzt, erfordert nicht primär Bekenntnisse oder elaborierte Abhandlungen, sondern verlangt Taten. Zweitens: Eine allein christliche Inanspruchnahme der Befreiungstheologie übersähe darüber hinaus die mögliche interreligiöse Anschlussfähigkeit ihres eigenen Anspruchs: Diese gilt namentlich für den gewiss exzeptionellen – und zugleich international wirkmächtigen – Ansatz des islamischen Theologen und Aktivisten Farid Esack. Esack zentriert in seiner islamischen Befreiungstheologie zwar einerseits Prozesse und Perspektiven der Befreiung, jedoch übernimmt er die Wendung »Theologie der Befreiung« nicht ungebrochen. Vielmehr spricht er bewusst sehr vorsichtig von der Suche nach einer islamischen Befreiungstheologie, zu der er »unterwegs« sei.3 Dies nicht etwa, weil es keine islamische Befreiungstheologie gäbe, sondern um davor zu warnen, »[…] dass Begrifflichkeiten lediglich das bedeuten, was wir beabsichtigen, mit ihnen auszusagen. Zweitens ist der Befreiungstheologie grundsätzlich die Vorstellung inhärent, dass Ideen und Begriffe im Rahmen einer befreienden Praxis ständig neu geformt werden – einem Handeln in Solidarität mit den Marginalisierten.«4 Zwar mag die islamische Befreiungstheologie der christlichen in gewissen Hinsichten augenscheinlich nachfolgen, wenn z. B. die Rezeption der Texte von Gutiérrez dafür in Anschlag gestellt wird. Doch bezüglich Esacks Ansatz legt Muna Tatari überzeugend dar, dass er »das genuin islamische Moment des Einsatzes für Gerechtigkeit über politische Wirkungsfelder eindeutig

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Vgl. Stefan Silber, Christus im Antlitz der Armen. Entwicklung und Aktualität der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, in: Klaus von Stosch/ Muna Tatari (Hg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzeptionen in Islam und Christentum, Paderborn 2012, 117–126, hier 116 f. Einige Hinweise und Einsichten des nun Folgenden verdanke ich Dr. theol. habil. Jutta Sperber (Münster), die mir freundlicherweise ein unveröffentlichtes Vortragsmanuskript zu Esacks Religionstheologie zur Verfügung gestellt hat. Farid Esack, Unterwegs zu einer islamischen Befreiungstheologie, in: von Stosch/Muna Tatari (Hg.), Gott und Befreiung (s. Anm. 2), 19–42, hier 21.

herausgearbeitet hat«5. Esack sei im Folgenden entlang einiger biographischer und bibliographischer Notizen in seinem theologischen Profil näher eingeführt.

1. Ein islamischer Befreiungstheologe aus Südafrika In knapper Aufzählung einiger Schlagworte sei eingangs skizziert, wer Farid Esack ist: Er ist ein bedeutender muslimischer Gelehrter aus Südafrika und als solcher zugleich ein bekannter Menschenrechtsaktivist, der sich in den 1980er Jahren führend im Kampf gegen die Apartheid einsetzte. Seit Jahrzehnten engagiert er sich akademisch wie politisch für antirassistische, interreligiöse, ökologische und antisexistische Themen.6 Derzeit ist er Professor für Islamische Studien an der Universität Johannesburg, zuvor lehrte er an zahlreichen Universitäten weltweit, vor allem aber in den USA und Europa. Gegen die Zuschreibung, als »liberaler« oder »progressiver« muslimischer Theologe zu gelten, äußert er deutliche Vorbehalte.7 Die akademische Welt zu erreichen und eine so prominente Rolle als politischer Aktivist einzunehmen, war mit Blick auf Esacks Herkunft keineswegs selbstverständlich. Zugleich aber begründen die Erfahrungen, die er in Kindheit und Jugend machte, den theologischen und politischen Weg; so verweist er selbst in vielen seiner Veröffentlichungen auf die Relevanz eben dieser biographischen Prägungen.8 Geboren wurde Farid Esack 1959 in armen Verhältnissen in Wynberg, Kapstadt. Er wuchs mit seinen fünf älteren Brüdern in Bonteheuwel, in einem Township, auf. Seine Mutter, von zwei Männern verlassen, versuchte als unterbezahlte Fabrikarbeiterin ihr Möglichstes, um ihre Söhne durchzubringen. Dennoch mussten diese bei ihren Nachbarn um Brot betteln gehen. Esack schreibt hierüber: »My early life as a victim of 5

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Muna Tatari, Eine Praxis der Gerechtigkeit und Liebe. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in christlichen und islamischen Entwürfen einer Theologie der Befreiung ausgehend von Gustavo Gutiérrez und Farid Esack, in: von Stosch/Tatari, Gott und Befreiung (s. Anm. 2), 255–276, hier 268. Esack, Befreiungstheologie (s. Anm. 4), 21. Ebd. 20, 29. Im Folgenden wird entsprechend Bezug genommen auf Esacks Einleitung zu seiner Monographie: Qurʾan, Liberation and Pluralism: An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity Against Oppression, Oxford 1997, 1– 18.

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apartheid and poverty, seeing my mother succumb under the burden of economic exploitation and patriarchy, filled me with an abiding commitment to a comprehensive sense of justice.«9 Neben dem familiären Hintergrund beeinflusste auch die multireligiöse Nachbarschaft Bonteheuwels sein Denken und Empfinden: Hier erfuhr er erstmals den Wert, den religiöse Alterität besitzen kann.10 In seiner Schulzeit und Jugend war die örtliche Moschee ein wichtiger Ort für Esack: Mit 9 Jahren bereits gehörte er der Tablīġī Ǧamāʿat (Gemeinschaft der Verkündigung) an, einer antiintellektualistischen sunnitischen »Erweckungsbewegung«, deren Ziel es ist, (junge) Muslime in ihrem Glauben zu stärken und zu einer geregelten Religionspraxis zurückzuführen, die streng an Koran und Sunna ausgerichtet ist.11 Für seine Mitarbeit in der National Youth Action (einer AntiApartheid-Gruppe) und der South African Black Scholars Association wurde Esack schon in seiner Jugend mehrfach verhaftet. Da er in Südafrika als »Farbiger« galt, war ihm hier das Studium verwehrt. Er entschied, nach Karachi (Pakistan) zu gehen, um eine traditionelle Ausbildung zum muslimischen Geistlichen zu machen. An der Ǧāmiʿa ʿālimīya al-islāmīya schloss er mit Auszeichnung das Studium in islamischem Recht und islamischer Theologie ab. Eben dort, nun an der Ǧāmiʿa Abu Bakr, widmete er sich Koranstudien. Zugleich beendete er seine Mitgliedschaft in der Tablīġī Ǧamāʿat: Die eigenen Erfahrungen als Teil einer Minderheit hatten ihn dafür sensibilisiert, wie in Pakistan muslimische Frauen, aber auch die christlichen und hinduistischen Minderheiten diskriminiert wurden. Ihm wurde bewusst, welche Spannungen zwischen seiner progressiven Praxis und seiner konservativen Theologie bestanden. Diese stellten ihn vor Entscheidungen, die ihn noch in Pakistan zu einer Abkehr von der Tablīġī Ǧamāʿat, damit aber auch von vielen scheinbar selbstverständlichen muslimischen Überzeugungen führte. Zurück in Südafrika wurde er eine der prominentesten muslimischen Personen des Widerstands gegen das Apartheid-System; so war er von 1984–1989 der Koordinator der Bewegung The Call of Islam in Südafri9 10 11

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Ebd. 2. Ebd. 3. Von einer »Erweckungsbewegung« zu sprechen, ist womöglich ebenso unpräzise wie von einer »Missionsbewegung«. Entscheidend ist, dass sich die Tablīġī Ǧamāʿat nicht nach außen richtet, sondern an Muslime. Vgl. Dietrich Reetz, The »Faith Bureaucracy« of the Tablīghī Jamāʾat: An Insight into their System of Self-Organisation (Intizam), in: Wilym Beckerlegge (Hg.), Religious reform movements in South Asia, Delhi/Oxford 2007.

ka. Zusammen mit anderen hatte er The Call of Islam als Zweig der United Democratic Front gegründet, einer multireligiösen Bewegung gegen die Apartheid. The Call of Islam wurde bald zur aktivsten muslimischen Befreiungsbewegung. Als eine Person, die sich der interreligiösen Solidarität für Gerechtigkeit, Frieden und dem Kampf gegen die Apartheid verschrieben hatte, spielte er hier und in anderen Organisationen eine führende Rolle. An der Universität Birmingham setzte er ab 1990 seine Studien fort, dort wurde er zum Thema »Qurʾan, Liberation and Pluralism« promoviert. Als Forschungsstipendiat an der PhilosophischTheologischen Hochschule Sankt Georgen beschäftigte er sich dann noch intensiver mit (bibel-)hermeneutischen Fragen; von seinen Tätigkeiten als Hochschullehrer war bereits eingangs die Rede. Unter der Regierung von Nelson Mandela wurde er zum Berater für GeschlechterGleichstellung berufen. Er betrachtet sich selbst als muslimischen Feministen, da die Gleichheit aller Menschen nicht ohne Geschlechtergerechtigkeit erreicht werden kann.12 Esack wendet sich bis heute entschieden gegen alle Formen der Diskriminierung und des globalen Imperialismus und tritt ein für eine Solidarität über Religionsgrenzen hinweg. Aktuell findet dies Ausdruck in seinem Einsatz gegen HIV/Aids.13

2. Befreiung – ein islamisches Theologumenon Das biographisch Skizzierte trägt sich in Esacks Theologie ein: Die Revolte gegen Ungerechtigkeit, die Identifikation mit den Marginalisierten sowie die Praxis der Befreiung finden in Esacks Deutung des Korans ihren Bezugsrahmen und ihre Basis.14 Wenn Esack eine politische, soziale und wirtschaftliche Befreiung, die sich religiös begründet, anzielt, so plädiert er damit für die Übernahme gesellschaftspolitischer Verantwortung seitens der muslimischen Gläubigen.15 Die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Eintreten für die Rechtlosen im Hier und Heute und damit der Vorrang der Praxis vor der Theoriebildung sind kennzeichnend 12 13 14 15

Vgl. diesbezüglich Farid Esack, Islam and Gender Justice. Beyond Apologia, in: John C. Raines/Daniel C. Maguire (Hg.), What Men owe Women: Men’s Voices from World Religions, Albany 2001, 187–210. Vgl. hierzu Farid Esack/Sarah Chiddy (Hg.), Islam and AIDS: Between Scorn, Pity, and Justice, Oxford 2009. Vgl. u. a. Farid Esack, Islam and Politics, London 1998; ders., On Being a Muslim. Finding a Religious Path in the World Today, Oxford 1999. Vgl. Tatari, Praxis (s. Anm. 5), 262.

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für Esacks theologischen Ansatz. Erst durch die befreiende Praxis gewinnt der Glaube an Gott und mit ihm das Verständnis von Gott Konturen.16 Im Koran spreche der transzendente Gott als ein Gott, der zugleich aktiv, fürsorglich und parteiisch in die Angelegenheiten der Welt und der Menschen einwirkt.17 Esack lehnt es daher ab, abstrakt über Gott zu sprechen, vielmehr müsse sich Theologie immer auch mit dem Menschen beschäftigen: »Sowohl die transzendente Gottheit als auch der Mensch sind daher Teil derselben theologischen Auseinandersetzung. Die Befreiungstheologie ist daran interessiert, sich der Religion und dem Glauben von den Schattenseiten, der Unterseite der Geschichte zu nähern. In gewisser Weise stellt sich die Befreiungstheologie dem ambitionierten Versuch, religiöse Authentizität abseits der Macht zu suchen bzw. zu etablieren, und ist daher kontinuierlich daran interessiert, religiöse Authentizität von der Idee zu befreien, dass sie unwiderruflich mit der Macht und den Machtvollen verwoben sein muss. Dies bedeutet, auch die Vorstellung einer endgültigen Authentizität, die fein säuberlich in ein Glaubensbekenntnis eingebettet werden kann, in Frage zu stellen.«18 Grundlegend mahnt Esack an, gegenüber dominierenden Paradigmen misstrauisch zu bleiben. Entsprechend diskutiert er auch die traditionellen Koranauslegungen kritisch, indem er danach fragt, »inwiefern sie eine ungerechte Ordnung aufrechterhalten und sich gegebenenfalls mitschuldig machen, um dann den Text mit einer interessengeleiteten Hermeneutik derart neu zu lesen, dass nach Gottes Parteilichkeit in diesen Strukturen gefragt wird und sich in der Dynamik eines hermeneutischen Zirkels, der den Qurʾan, seine Leser, ihren Glauben und ihre Praxis umschließt, eine immer präzisere Vorstellung von dem ergeben kann, was Gottes Vision von einer in Gerechtigkeit gegründeten Welt sein mag.«19 Esack unterstreicht in seinen Schriften die Kontextualität der koranischen Verse und führt aus, dass sie in ihren sozio-historischen Kontexten gelesen werden müsse, was auch eine Berücksichtigung des sprachlichen Milieus der koranischen Offenbarung einschließe.20 Da es keinen Text ohne Kontext gebe, habe auch für den Koran zu gelten: »No Text is an Island unto Itself«21. Doch um den Text, seine Kontexte und Deutungs16 17 18 19 20 21

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Vgl. Tatari, Praxis (s. Anm. 5), 67. Vgl. Esack, Qurʾan (s. Anm. 8), 54. Vgl. Esack, Befreiungstheologie (s. Anm. 4), 24 f. Tatari, Praxis (s. Anm. 5), 263. Vgl. u. a. Farid Esack, The Qurʾan: A Short Introduction, Oxford 2002 und ders., The Qurʾan: A User’s Guide, Oxford 2005. Ebd. 53.

optionen hermeneutisch präzise zu relationieren, sei auch die Perspektive der Interpretation der heutigen Leser/innen von entscheidendem Gewicht.22 Ihre Lebensbedingungen, Fragehorizonte und ihr Erkenntnisinteresse, so Esack weiter, bedingen die jeweilige Lesart und seien daher ebenfalls zu reflektieren. Er fasst dies in die prägnante Formel: »Interpreters are people«23. Trotz der steten Bedingtheit menschlicher Deutungen bewahren, erschließen und vergegenwärtigen doch nur diese Verstehensbemühungen und Auslegungen von Menschen die Bedeutung der koranischen Offenbarung.24 Eine islamische Theologie der Befreiung bedeutet für Esack nicht etwa eine Verkürzung theologischer Argumente zugunsten einer einseitigen Parteinahme für die Marginalisierten. Gerade in der Bedeutung der Geschöpflichkeit des Menschen und dem Unterstreichen der Einheit Gottes liegt m. E. der entscheidende koranische Schlüssel der Gesamtkonzeption: Weil Gott die Menschen als für die Schöpfung und die Mitgeschöpfe verantwortlich eingesetzt hat, kommt es ihnen auch zu, für gesellschaftliche Gerechtigkeit zu sorgen bzw. die Hybris der Herrschenden zu brechen. Im Bewusstsein der fortwährenden, wahrnehmbaren Präsenz Gottes in der Schöpfung, der gegenüber es achtsam zu sein gilt, sowie im glaubenden Vertrauen auf seine Rechtleitung gestalten Menschen ihre Welt und verhelfen den Unterdrückten und Armen zu ihrem Recht. Esacks nachfolgende Abhandlung über die »Wirtschaftliche Gerechtigkeit in den frühen mekkanischen Suren« gibt beredt Zeugnis von den eingeführten Axiomen.

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Unter Bezugnahme auf David Tracy formuliert Esack, dass es keine »unschuldige Interpretation« gebe: »Every interpreter enters the process of interpretation with some preunderstanding of the questions adressed by the text – even of its silences – and brings with him or her certain conceptions as presuppositions of his or her exegesis. Meaning, wherever else it maybe located, is also in the remarkable structure of understanding itself.«, Esack, Qurʾan (s. Anm. 8), 75. Ebd. 49–81, hier 50: »›Interpreters are people‹‚ who carry the inescapable baggage and convivility of the human condition.« Vgl. Tatari, Praxis (s. Anm. 5), 264.

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Die Feuerprobe des Glaubens – Wirtschaftliche Gerechtigkeit in den frühen mekkanischen Suren1 Farid Esack

Einleitung Die frühesten Offenbarungen des Korans stellen die ersten Warnungen dar, die ersten Tröstungen und Vorschriften, die der Prophet Muḥammad durch den Engel Gabriel kundtat. Diese frühen mekkanischen Suren, deren Offenbarung um das Jahr 610 beginnt, sind weitestgehend kurzen Umfangs und reich an Bildlichkeit und poetischer Rede. Sie zeigen das Bild einer arrogant gewordenen Gesellschaft, die vergessen hat, wie vollkommen abhängig sie von Gott ist. In apokalyptischen Visionen, in Erzählungen von Gottes Interventionen in der Geschichte, Versprechen von Belohnung und Bestrafung und direkten moralischen Unterweisungen sind diese frühen Offenbarungen Ausdruck eines Rufes an die arabische Gesellschaft, der deutlich macht: Gebt eure Wahnvorstellungen von Selbstgenügsamkeit auf und unterwerft euch Gott! Bemerkenswert oft und übereinstimmend handeln die frühen mekkanischen Suren von Praktiken und Einstellungen von sozio-ökonomischer Bedeutung. Zwar werden Geld und dessen soziale Funktion oft nicht explizit erwähnt. Dennoch machen die Themen, die in den frühen Offenbarungen immer wieder betont werden, die Wichtigkeit deutlich, sozio-ökonomische Normen und Verhaltensweisen zu reformieren. Dieser Aufsatz wird untersuchen, wie der Koran in diesen frühen Offenbarungen die Glaubenden aufruft zu Freigiebigkeit und wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Insbesondere wird untersucht, wie diese Weisung kommuniziert wird mittels der koranischen Zurechtweisungen der Menschen, der Beschreibung der Eigenschaften und Handlungen Gottes und der Sorge um den Tag des Gerichts sowie der expliziten Anweisungen zur 1

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Übersetzung ins Deutsche von Christian Ströbele.

Fürsorge für die Armen, Hungrigen und Waisen. Im letzten Abschnitt werden die maßgeblichen sozialen Implikationen dieser Suren untersucht und ihre Einforderung von Gerechtigkeit und individueller Wohltätigkeit.

Der Mensch in den frühen mekkanischen Suren Beginnend mit den frühesten Offenbarungen, gibt der Koran eine eigentümliche Charakteristik des Empfängers des Göttlichen Wortes – des Menschen. So fordern die ersten Āyāt (wörtlich »Zeichen«, hier im Sinne von »Verse«), die Muḥammad durch den Engel Gabriel offenbart werden, auf: »Lies im Namen deines Erhalters (rabb), der erschaffen hat – der den Menschen aus einem Blutklumpen erschaffen hat!« (Sure 96,1– 22). Bevor sonst etwas über die Menschen gesagt wird, betont der Koran, dass unsere Existenz gänzlich abhängt von Gottes schaffendem Wirken. Man kann noch nicht einmal exklusiven Anspruch erheben auf das eigene Leben; ohne Gott wären wir schlechterdings nicht existent. Darüber hinaus zeigt die erste Bezugnahme auf Gott als rabb – als derjenige, welcher in die Schöpfung bringt und dann nährt und erhält bis zur Vollendung – an, dass diese Abhängigkeit von Gott fortdauert. Nicht nur wären die Menschen nicht zur Existenz gekommen, hätte Gott dies nicht gewollt, sondern sie sind auch fortwährend abhängig davon, dass Gott sie im Sein erhält. Des Weiteren lehrt diese Sure, dass Gott »den Menschen gelehrt hat, das Schreibrohr zu verwenden – das gelehrt hat, was er nicht wusste« (96,4–5). Muḥammad Asad interpretiert dies so, dass damit alles Wissen gemeint ist, die Fähigkeit zum Wissen und ebenso alle spirituelle und moralische Einsicht.3 Die allerersten Worte Gottes im Koran stellen unmissverständlich klar: Die Menschheit ist vollkommen abhängig von Gott. Die Sure (wörtlich »Zeile«, hier im Sinne von Kapitel) fährt in der Beschreibung damit fort herauszustellen, dass die Menschheit gekennzeichnet ist durch die Anfälligkeit zu Verfehlungen. »Der Mensch ist ein Tyrann« (96,64). Der allererste Ausdruck, der zur Beschreibung des Menschen gebraucht wird, zeigt an, dass die Menschen, möglicherweise 2 3 4

Die Übertragung der Koranverse orientiert sich, wenn nicht anders vermerkt, an Muhammad Asad, The Message of the Qurʾan, Samanabad 1992. Vgl. Asad, Message, 963 f. Entsprechend übersetzt Michael Sells, Approaching the Qurʾan: The Early Revelations, Ashland, Oregon 1999: »The human being is a tyrant« (layaṭġā, wörtlich: aufsässig).

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unvermeidlich, zur Überschreitung moralischer Grenzen neigen. Der nächste Vers offenbart, was genau die Menschen tun, das so schuldhaft ist: »[…] er hält sich selbst für autark […]« (96,7). Als erste Handlung oder erstes Verhalten schreibt die koranische Offenbarung den Menschen zu, sich für selbstgenügsam zu halten. Indem die Menschen leugnen (oder vergessen), dass sie gänzlich in allem von Gott abhängen, begehen die Menschen ihre grundlegende moralische Verfehlung. Bezeichnenderweise steht diese Charakterisierung am Anfangspunkt der von Muḥammad empfangenen Offenbarungen. Dadurch zeigt sie an, dass diese Überschreitung im Zentrum der frühen mekkanischen Suren steht. Alle moralische Kritik oder Mahnung, die in den folgenden Offenbarungen ausgesprochen wird, wird in dieser ersten Schuld gründen oder sich auf sie zurückbeziehen: Leugnen oder Vergessen der menschlichen Abhängigkeit von Gott. In Sūra al-Tīn (d. h. Die Feigen, Sure 95) sehen wir, dass das koranische Bild der menschlichen Verfasstheit begleitet ist von zugleich Erhebung wie Erniedrigung: »Wir erschufen den Menschen in der besten Gestalt; und dann erniedrigten wir ihn zum Niedrigsten der Niedrigen […]« (Sure 95,4–5). Diese Sure bekräftigt die Charakterisierung, wonach der Mensch aus erhabenem Ursprung stammt, aber herabgesetzt wurde. Asad und Sells interpretieren dies als Folge von menschlichem Fehlhandeln und Vergehen.5 Der Mensch kann jedoch die zu seinem Sturz führende Schuld zurückweisen und die erhobene Stellung der »besten Gestalt« wiedererlangen. Dies bildet die Grundlage für den Ruf nach Glauben und moralischer Reform, der die frühen mekkanischen Suren durchzieht. In der Tat setzt der Text fort: »mit Ausnahme derer, die zum Glauben kommen und gute Werke tun: Ihnen soll nimmer endender Lohn zuteil werden!« (95,6). Die Erniedrigung zum »Niedrigsten der Niedrigen« können jene vermeiden, welche Glauben haben und dem »moralischen Gesetz« (95,7) folgen. Diese Struktur wird in den frühen Offenbarungen durchgehend wiederholt. An dieser Stelle ist es nützlich, den historischen Kontext6, in welchem die frühen mekkanischen Suren offenbart wurden, kurz zu erörtern. Die im Koran ausgedrückte Charakterisierung des Menschen mag gewiss auch eine Beschreibung mancher zeitgenössischer Personen sein. Aber 5 6

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Vgl. Asad, Message (s. Anm. 2), 961, und Sells, Approaching (s. Anm. 4), 95. Vgl. allgemein Fred M. Donner, The historical context, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg.), The Cambridge Companion to the Qurʾan, Cambridge 2006, 23–39.

sie hängt zweifellos zunächst zusammen mit der menschlichen Gesellschaft, in welcher sie offenbart wurde. Der Koran antwortet auf einen bestimmten historisch-gesellschaftlichen Kontext und spricht zu einer durch diesen Kontext bestimmten Person. Hervorzuheben ist hier als wichtigstes Merkmal der vor-islamischen arabischen Gesellschaft die vorherrschende Orientierung an einer stammesbezogenen Solidarität. Der Stamm bzw. die Sippe war die maßgebende Grundlage für das soziale Gefüge und moralische Verpflichtungen. »Die Bande der Blutsverwandtschaft mehr als alles in der Welt zu respektieren, […] war nach allgemeiner Auffassung eine heilige Pflicht für jedes […] einzelne Mitglied der Gruppe«.7 Der Stamm bildete die Grundlage für den sozialen Status und die Privilegien des Individuums und fungierte als Mechanismus, um die rechte Verwaltung der Gesellschaftsordnung sicherzustellen.8 Dabei war das individuelle Moralempfinden fast ausschließlich durch die Ebene des Stammes bestimmt.9 Wie Izutsu argumentiert hat10, begründeten die von Muḥammad empfangenen Offenbarungen eine Form des ethischen Individualismus, der dieser vorherrschenden Norm scharf entgegengesetzt war. Durch diesen neu geoffenbarten Standard war jedes Individuum rechenschaftspflichtig nach einem Maßstab, der die Ebene des Stammes überstieg und eine Rechtfertigung durch stammesbezogene Solidarität ausschloss. Trotz des Vorherrschens einer stammesbezogenen Ordnung der vorislamischen Gesellschaft wurden bereits vor der Offenbarung des Korans die Anfänge einer Form des Individualismus sichtbar.11 Dies hing zusammen mit und wurde befördert von einer Entwicklung in Mekka von einer nomadischen zur einer kapitalistischen Ökonomie und den wirtschaftlichen Chancen, welche diesen Übergang begleiteten.12 Diese neuen wirtschaftlichen Bedingungen überwanden bisweilen Stammesallianzen und förderten neue Allianzen aufgrund gemeinsamer materieller Interessen. Die Wende zum Kapitalismus machte auch eine neue Form individuellen Wohlstands möglich, die zuvor unerreichbar war: »Die Ansammlung großer Vermögen, die der Koran als Hauptbeschäftigung 7 8 9 10 11 12

Vgl. Toshihiko Izutsu, Ethico-Religious Concepts in the Qurʾan, Montreal 1966, 55. Vgl. W. Montgomery Watt, Muhammad at Mecca, Oxford 1953, 17. Vgl. Izutsu, Concepts (s. Anm. 7), 58. Vgl. Izutsu, Concepts (s. Anm. 7), 59 f. Vgl. Watt, Muhammad (s. Anm. 8), 19; Izutsu, Concepts (s. Anm. 7), 62. Vgl. Watt, Muhammad (s. Anm. 8), 19.

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vieler Mekkaner zeigt, ist ein Zeichen für diesen Individualismus«.13 In der Tat also unternahm der Koran eine Infragestellung der Zersetzungen der stammesbezogenen Solidarität, indem er jedes Individuum für ethisch verantwortlich für seine oder ihre Handlungen erklärte. Gleichwohl erscheint die Offenbarung des Korans als eine Antwort auf Perversionen (Gier, Materialismus) des Individualismus, der bereits in Mekka im Entstehen war und der die Menschen zu Selbsttäuschungen einer eigenen Unabhängigkeit von Gott führte. Zusammengefasst können wir drei hauptsächliche Merkmale ausmachen, welche die frühen mekkanischen Offenbarungen den Menschen zuschreiben. An erster Stelle ist der Mensch gänzlich abhängig von Gott für sein Leben, seine Erhaltung und seine Erkenntnis. Zweitens neigen die Menschen dazu, diese Abhängigkeit zu leugnen oder zu vergessen. Drittens hat Gott, durch und als Konsequenz dieses Vergehens, die Menschen herabgesetzt und nur jene verschont, welche »zum Glauben kommen und gute Werke tun«, was den Auftakt bildet für den Ruf zum Glauben und zur moralischen Rechtschaffenheit. Der Koran wurde geoffenbart im Kontext einer zwischen Tradition stammesbezogener Allianzen und einem aufkeimenden Individualismus gefangenen Gesellschaft. Von daher verurteilt er die Selbstgenügsamkeit, wie sie in einer Gesellschaft entsteht, die sich auf eine stammesbezogene Grundlage moralischer Rechtfertigung verlässt. Zugleich tadelt er jene, welche kapitalistische und materialistische Interessen ohne Rücksicht auf andere verfolgen.

Gott in den frühen mekkanischen Suren In gleicher Weise, wie die frühen mekkanischen Suren eine markante Sicht auf den Menschen vorstellen, zeigen sie Gott als einheitlich eine Reihe wesentlicher Merkmale und Einstellungen manifestierend. In den ersten geoffenbarten Āyāt (in Sūra al-ʿAlaq, d. h. Der Blutklumpen, Sure 96) war die Beziehung der Menschen zu Gott als eine der gänzlichen Abhängigkeit auszumachen. Entsprechend wird hier Gott als allschaffend und allmächtig charakterisiert. Gott ist mehr als »nur« Schöpfer, er ist der Erhalter, der alles im Sein erhält. Gott ist der Eine, der vermag, die Menschen alles Wissen zu lehren und ihnen die Fähigkeit zum Wissen zu verleihen. Ein späterer Vers dieser Sure bemerkt, dass Gott »alles sieht« 13

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Watt, Muhammad (s. Anm. 8), 72.

(96,14) und »die Mächte der Strafe herbeizurufen« vermag (96,18). Auch mehrere andere Suren beziehen sich auf Gottes Macht über das Universum. Sūra ʿAbasa (d. h. Er blickte finster drein, Sure 80) beispielsweise erklärt: »Aus einem Spermatropfen schuf Er ihn (bzw. sie) und bestimmte dann seine (bzw. ihre) Natur, dann machte Er ihm (bzw. ihr) den Lebensweg leicht, schließlich lässt Er ihn (bzw. sie) sterben und begraben, dann, wenn es Sein Wille ist, wird Er ihn (bzw. sie) wieder auferstehen lassen […]« (80,19–22). Gott beherrscht jeden Moment und jede Phase des Lebens einer Person, er bringt ihn bzw. sie ins Leben und führt sie bzw. ihn ebenso aus dem Leben. Bemerkenswert ist auch der letzte Vers, der Gottes Macht anzeigt, sich über Naturgesetze hinwegzusetzen, wenn er die Toten zum Leben erhebt, »wenn es Sein Wille ist«. Sūra al-Ġāšiya (d. h. Die Bedeckende, Sure 88) hebt Gottes Hoheitsgewalt über die nichtmenschlichen Bereiche des Universums hervor: »Schauen sie, die die Auferstehung leugnen, denn nicht zu den wassergefüllten Wolken, wie sie geschaffen wurden? Und zum Himmel, wie er emporgehoben wurde? Und zu den Bergen, wie sie aufgerichtet wurden? Und zur Erde, wie sie ausgebreitet wurde?« (88, 17–20) Impliziert ist, dass jene, welche Gottes Existenz leugnen (»die die Auferstehung leugnen«), nicht darin fehlgehen könnten, auf Seine Existenz zu schließen, würden sie nur die wundervollen Schöpfungen, die Gott angeordnet hat, erwägen. Die frühen mekkanischen Suren präsentieren Gott als den Einen, der alles Geschehen im Universum leitet, von der Befestigung der Himmel bis zum Spermatropfen, aus dem ein Mensch geschaffen wird. Gottes Herrschaft schließt die Makro- und Mikrowelt ein, das Großartige und Winzige. Unter den Handlungen, die Gott in den frühen Offenbarungen unternimmt, wird mehrfach die Bestrafung erwähnt. Diese Erzählungen – nicht zu verwechseln mit dem Tag des Gerichts, wenn die Strafe zugemessen werden wird (ein im nächsten Abschnitt aufzunehmendes Thema) – handeln von vergangenen Ereignissen göttlicher Bestrafung im gewöhnlichen Geschichtsverlauf. Die erste dieser Bestrafungserzählungen findet sich in Sūra al-Fīl (d. h. Der Elefant, Sure 105), wo berichtet wird, wie Gott »mit der Armee des Elephanten verfuhr« (105,1), einer Armee von Gegnern der Muslime, die auf dem Weg nach Mekka durch Krankheit bezwungen wurde.14 Der Text beschreibt deren Niederlage als Ergebnis göttlicher Intervention in der Geschichte. Sūra aš-Šams (d. h. Die Sonne, Sure 91) enthält eine weitere Bestrafungserzählung, diesmal etwas reicher ausgeschmückt mit Gottes aus14

Vgl. Asad, Message (s. Anm. 2), 976.

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drücklicher Überlegung, warum Er einem Volk Strafe zufügt. Der Stamm der Ṯamūd und die Zerstörung ihrer größten Stadt waren für die Bewohner der arabischen Halbinsel starke Symbole für »das Vergehen der Zivilisation im beständigen Werk des Schicksals bzw. der Zeit«15. Der Koran schreibt ihren Niedergang jedoch ihrem moralischen Versagen zu: »Das Volk der Ṯamūd nannte die Wahrheit eine Lüge […]« (91,116). Der Umschlagpunkt kommt, wenn ein Repräsentant der Ṯamūd eine Kamelin schlachtet, die der Prophet als »Gott gehörend« identifiziert hatte. Infolgedessen »suchte Gott sie heim mit völliger Zerstörung wegen ihrer Schuld und zerstörte sie alle gleichermaßen« (91,14). Diese Bestrafungserzählung stellt die allgemeine Form der frühen koranischen Strafereignisse dar, in welchen ein Volk bestraft – und oft vernichtet – wird für ihre moralischen Vergehen. Ein weiteres Beispiel findet sich in Sūra alFaǧr (d. h. Die Morgendämmerung, Sure 86), die davon erzählt, wie mehrere Völker (ʿĀd, ʾIram, Ṯamūd, und »Pharao, dem mit den vielen Zeltpfählen« [89,6–10]) »in all ihren Landen alle Grenzen der Billigkeit überschritten und dort großes Verderben anrichteten« (89,11–12). Dafür »entließ Gott über sie eine Geißel der Peinigung« (89,13). Diese spezifische Erwähnung der Strafe ist bezeichnend, da sie politische Korruption und ökonomische Unterdrückung als Sünden identifiziert, die eine Geißelung verdienen. Gott wird zur Ausübung der Strafe bewegt durch jene, welche andere ungerecht behandeln. David Marshall hat argumentiert17, dass diese Bestrafungserzählungen bezwecken, die Bewohner Mekkas davor zu warnen, was auf sie kommen kann, wenn sie in moralisch anstößiger Praxis verharren. Diese Erzählungen sollten nicht leichtfertig identifiziert werden mit Visionen des Jüngsten Tags, sondern vielmehr verstanden werden als Warnungen vor diesseitiger Bestrafung, die innerhalb der menschlichen Geschichte ergehen kann. Dieser Punkt ist wichtig, weil er bekräftigt, dass Gottes Handeln nicht beschränkt ist auf das Jenseits und dass Gott in der Tat wirkt, um problematische Situationen im Bereich des Zeitlichen zu berichtigen. Marshall argumentiert, dass das Instrument einer Bestrafungserzählung die wichtige Fähigkeit besitzt, im Leser oder Hörer eine persönliche Reaktion hervorzurufen. Dadurch soll sich der Leser mit einer Figur in der Erzählung identifizieren können. »Eine Erzählung ist nicht 15 16 17

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Sells, Approaching (s. Anm. 4), 85. Hier übertragen nach Sells, Approaching (s. Anm. 4). Vgl. David Marshall, God, Muhammad and the Unbelievers, Surrey 1999, 49 f.

lediglich ein Mittel, eine Botschaft zu kommunizieren, sondern auch ein potentiell wirkmächtiges Mittel, um den Leser/Hörer in eine herausfordernde persönliche Begegnung mit dieser Botschaft hineinzuziehen. […] Diese Erzählungen präsentieren nicht lediglich zu erwägende Ideen. Vielmehr rufen sie fortwährend die Hörer Muḥammads dazu auf, sich selbst in einem neuen Licht zu sehen, als Menschen, die von Gottes Strafe bedroht sind, aber für die ein Ausweg bereitet ist […].«18 Die Bestrafungserzählungen weisen auf ein Thema, das sich klar in allen Darstellungen von Gottes Handeln in den frühen mekkanischen Suren durchzieht: Gott stellt sich auf die Seite der Armen, Verletzbaren und Unterdrückten. Wie wir in Sure 89 sahen, bestraft Gott jene, welche andere unterdrücken. In Sure 105 sahen wir, dass Gott jene bestraft, die es darauf anlegten, die frühe muslimische Gemeinschaft zu schädigen, eine verletzbare Minderheit innerhalb der mekkanischen Gesellschaft. Die göttliche Strafe richtet sich im Allgemeinen auf jene Gruppe, die als »Ungläubige« angesprochen werden. Der Koran identifiziert die Schuld dieser Menschen als kufr, ein Wort, das mit Undankbarkeit konnotiert ist und »sich besonders manifestiert in verschiedenen Akten von Anmaßung, Arroganz und Überheblichkeit«19. Die Undankbarkeit und Arroganz jener, welche ihre Abhängigkeit von Gott leugnen oder vergessen, oft verbunden mit materieller Gier, ist eben jene Art von Einstellung, welche göttliche Intervention verdient. Diese selektiven Strafhandlungen zeigen Gottes Entscheidung, sich auf die Seite derer zu stellen, die schwach oder unterdrückt sind und frei sind von einer Anmaßung der Selbstgenügsamkeit. Sūra aḍ-Ḍuḥā (d. h. Der helle Morgen, Sure 93) bietet ein klares Beispiel für Gottes Verpflichtung zur Sorge um die Bedürftigen. Der Text fragt: »Hat Er dich nicht als Waise gefunden und Zuflucht gewährt? Hat Er dich nicht als Irrenden gefunden und auf den rechten Weg geleitet? Hat Er dich nicht als Bedürftigen gefunden und reich gemacht?« (93,6–8). Diese Āyāt wurden geoffenbart als ein Trost für Muḥammad zu einer Zeit, da er sich in Mekka Gegnerschaft und Verfolgung gegenüber sah.20 Der Text bezieht sich auf Muḥammads Status als Waise (seine Eltern starben beide, als er noch jung war), aber spielt auch an auf den Umstand, dass »jeder Mensch auf die eine oder andere Art eine ›Waise‹

18 19 20

Ebd. 33 f. Vgl. Izutsu, Concepts (s. Anm. 7), 120. Vgl. Sells, Approaching (s. Anm. 4), 91; Asad, Message (s. Anm. 2), 958.

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ist«.21 Diese Verse offenbaren Gottes Barmherzigkeit gegenüber Muḥammad in einem Zustand der Schwäche und zeigen des Weiteren Gottes Barmherzigkeit für alle, die sich in solchen Zuständen der Verletzbarkeit befinden. In Sūra ʿAbasa sehen wir, wie Muḥammad von Gott gemaßregelt wird für sein Scheitern im Befolgen von Gottes Weg, sich der Bedürftigen anzunehmen. Die ersten zehn Āyāt dieser Sure wurden Muḥammad geoffenbart an einem Tag, als er sich mit einem der einflussreichsten Stammesfürsten von Mekka unterredete in der Hoffnung, ihn von den Vorzügen des Islams zu überzeugen. Während des Gesprächs näherte sich ihm ein Blinder – einer von Muḥammads Anhängern – mit einem Anliegen. Muḥammad, »verärgert über diese Unterbrechung eines von ihm gerade als wichtiger angesehenen Unterfangens«22, runzelte die Stirn und wandte sich ab. Ob diese Āyāt dem Propheten geoffenbart wurden, als er in sein Zimmer zurückkehrte, oder später am selben Tage23 oder just dann und dort24, sie sind jedenfalls eine direkte Rüge Muḥammads, weil er aufgrund der sozialen Stellung einen eifrig wartenden Anhänger fortschickte. »Der aber, der sich für selbstgenügsam hält« – der heidnische Stammesfürst –, »dem hast du deine ganze Aufmerksamkeit gewidmet […], aber der, welcher dich eifrig aufsuchte und der Gott fürchtet, ihn hast du vernachlässigt!« (80,5–10). Der Fehler Muḥammads lag darin, dass er dem Reichen und Einflussreichen einen Vorrang gab gegenüber dem Armen, Blinden, obwohl der Erstere kein Glaubender war, der Letztere durchaus. Gottes unmittelbare (oder nahezu unmittelbare) Zurückweisung einer solchen Bevorzugung zeigt das Verpflichtetsein auf eine gleiche Anerkennung der schwächeren Glieder der Gesellschaft. Tatsächlich stellt Zaman heraus, dass die frühesten Anhänger des Islams Schwache, Arme, Jüngere und Frauen waren.25 Gottes Offenbarung in den frühen mekkanischen Suren macht Seine Sorge und Parteinahme für die Armen und Unterdrückten deutlich. Zusammengefasst können wir drei wesentliche Eigenschaften Gottes in den frühesten koranischen Offenbarungen ausmachen. Zum Ersten ist 21 22 23 24 25

38

Asad, Message (s. Anm. 2), 958. Asad, Message (s. Anm. 2), 930. Vgl. Shaykh Fadhlalla Haeri, Keys to Understanding the Qurʾan, Bd. 5: The Last Section of the Qurʾan, Reading 1993, 34. Vgl. Asad, Message (s. Anm. 2), 930. Vgl. Muhammad Qasim Zaman, Oppressed on Earth, The, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg.), Encyclopaedia of the Qurʾan. 6 Bände, Leiden 2007, Bd. 3, 580–583.

Er eine allmächtige Gottheit, die über alles Geschehen im Universum regiert, zugleich aber aufs Engste involviert ist in die Lebenswege der Menschen. Zum Zweiten wird Gottes Wille geschildert, diejenigen zu bestrafen, welche das moralische Gesetz verletzen. Die in den frühen mekkanischen Suren häufigen Bestrafungserzählungen bezwecken eine Warnung und dadurch eine Reform von Einstellungen und Handeln der Hörer und deren Unterordnung gegenüber Gott. Zum Dritten zeigen die Handlungen und Äußerungen Gottes in den frühen Offenbarungen, dass Gott sich explizit verpflichtet auf die Sorge um die Verletzbaren und Unterdrückten. Die Verfasstheit der frühen Gemeinschaft der Glaubenden entsprach diesem Vorrang. Die frühen Offenbarungen sind bestimmt von Gottes Reaktion (wobei Er sich machtvoll zeigt, strafend und für die Armen sorgend) auf die Menschen (die ihre Abhängigkeit von Gott hintanstellen und zur Arroganz neigen) im Kontext der vor-islamischen arabischen Gesellschaft. Die Eigenschaften Gottes führen, für sich betrachtet, nicht notwendigerweise zu einem Satz moralischer Verpflichtungen. Gleichwohl sind sie wesentlich, um die in den frühen mekkanischen Suren sich durchziehende Sorge um Fragen wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu erfassen.

Visionen des Jüngsten Tags Die frühen mekkanischen Suren enthalten zahlreiche Visionen dessen, was im Arabischen yaum ad-dīn oder yaum al-ḥiṣāb genannt wird. Dies wurde übertragen als »Tag des Gerichts«, »Tag, an dem Gerechtigkeit (wieder)hergestellt wird«, »Tag des Aufrechnens« oder einfach »Jüngster Tag«. Sells hebt hervor, dass dieser Ausdruck eine Implikation wie »Moment der Wahrheit« mit sich führt.26 Obwohl die Übersetzungen in ihren Konnotationen schwanken, beziehen sie sich allesamt auf eine Zeit, zu der »sich jeder Mensch dem gegenüber sehen wird, was er oder sie getan oder nicht getan hat«.27 Der Fokus auf den Jüngsten Tag durchzieht die frühen mekkanischen Suren. (Sells spricht sogar vom »vorrangigen Thema« dieser Suren.28) Die oben behandelten Bestrafungserzählungen sollten davon deutlich unterschieden werden. Obwohl der Text bisweilen Bezug nimmt auf eine Bestrafung oder eine Belohnung, die am Tag des 26 27 28

Vgl. Sells, Approaching (s. Anm. 4), 35. Sells, Approaching (s. Anm. 4), 17. Vgl. Sells, Approaching (s. Anm. 4), 35.

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Gerichts zuteil wird (z. B. 74,17.27; 82,13–16; 84,7–12), liegen diese Konsequenzen außerhalb der Bedingungen gewöhnlicher Zeit und Geschichte. Dagegen beziehen sich die Erzählungen von Gottes früherem Bestrafungshandeln auf göttliche Interventionen in die Geschichte. Diese Visionen boten ein deutliches Bild, wie es sich gestalten wird, wenn Gott Recht, Ordnung und Wahrheit in der Welt setzt. Festzuhalten ist außerdem, dass die Bestrafungserzählungen eine Bestrafung schildern, die nicht unausweichlich ist; man kann der Strafe entfliehen durch moralische Umkehr und Unterwerfung unter Gott. Der Jüngste Tag hingegen kann nicht vermieden oder abgewendet werden. Es handelt sich um eine Zeit, deren Kommen festgesetzt ist und die alle treffen wird, ob positiv oder negativ. In diesem Abschnitt werden wir einige der gemeinsamen Charakteristika der frühen apokalyptischen Visionen im Koran untersuchen. Ein offensichtliches, aber nichtsdestotrotz bedeutsames Element der Visionen des Jüngsten Tages ist das Aufbrechen der Trennung von Himmel und Erde. Obwohl der Koran Gottes Leitung über alles Irdische betont, heben diese apokalyptischen Bilder hervor, dass der Jüngste Tag ein Ereignis ist, welches die Grenze (sei sie real oder vorgestellt) zwischen den Bereichen Gottes und der Menschen überschreitet. Beispielsweise beschreibt Sūra al-ʾInšiqāq (d. h. Die Spaltung, Sure 84) den Tag, »wenn der Himmel zerbirst […] und die Erde eingeebnet wird […]« (84,1–3). Sells vermerkt, dass diese Apokalypse sich sowohl im Himmel wie auf Erden ereignet, und schlägt vor, dies bedeute, »dass der Himmel und die Erde am Tag des Gerichts zurechtgerückt werden und ausgerichtet werden auf die tiefere Realität, welche die Offenbarung kundtut […]«.29 Sūra al-Infiṭār (d. h. Der Riss, Sure 82) beschreibt gleichfalls einen Tag, an dem der Himmel gespalten und die Sterne zerstreut werden, die Meere bersten und die Gräber aufgewühlt werden (82,1–4) – ein Tag, an dem der Vorhang zurückgezogen wird, der den Anblick des Himmels von der Erde aus verdeckt, und an dem die Wahrheit offenbar wird. Eine Folge dieses Umsturzes ist, dass am Gerichtstag die menschlichen Normen, Maßstäbe und Einrichtungen zunichte und bedeutungslos werden. Das Handeln der Menschen wird im Lichte des ewigen moralischen Gesetzes und seinem wahren Charakter nach angesehen werden. Beispielsweise berichtet Sūra at-Takwīr (d. h. Das Zusammenrollen, Sure 81) davon, dass am Jüngsten Tag »die lebendig begrabene Tochter 29

40

Vgl. Sells, Approaching (s. Anm. 4), 61.

dazu gebracht wird, die Frage zu stellen, für welches Verbrechen sie umgebracht wurde« (81,8–9). Dieser Vers bezieht sich auf den altertümlichen arabischen Brauch eines Femizids, bei dem Töchter lebendig begraben wurden. Dies geschah aus zwei Beweggründen: (1) um die wirtschaftliche Last zu vermeiden, die eine Zunahme weiblicher Nachkommenschaft mit sich brachte, und (2) um die Risiken zu vermeiden, Frauen in einem politisch chaotischen Kontext aufzuziehen, in dem weibliche Kinder in Zeiten von Stammesfehden eine strategische Bürde bedeuteten und der Gefahr ausgesetzt waren, eine erniedrigende und herabsetzende Gefangennahme zu erleiden durch Gegner, welche die Mädchen verkauften und als Sklaven handelten.30 Am Tag des Gerichts wird dieser barbarische Brauch untersucht werden auf seine Übereinstimmung mit Gottes ewigem moralischem Gesetz. Dabei wird deutlich, dass er inakzeptabel ist, woraufhin er zunichte wird. (Auf diese Āyāt kommt unten der Abschnitt »Gerechtigkeit, oder nur Almosen?« zurück.) In ähnlicher Weise wird die »Abrechnung« am Gerichtstag nicht die Maßstäbe irgendeiner menschlichen Metrik zugrunde legen und damit die Bedeutungslosigkeit menschlicher Maßstäbe von Vermögen, Status und Prestige offenbaren. Zusätzlich zur Verurteilung der Ermordung von Töchtern vermerkt Sūra at-Takwīr noch, dass am Jüngsten Tag »die im zehnten Monat trächtigen Kamelstuten aufgegeben werden« (81,4). Maudūdī (gest. 1979) merkt an, dass die vor ihrer Niederkunft stehende Kamelstute für die arabische Gesellschaft von höchstem Wert gewesen sein musste.31 Ihre Aufgabe am Tag des Gerichts bedeutet offenkundig, dass die gewöhnlichen Wertstandards ihre Bedeutung verloren haben. Ein weiteres Beispiel gibt die Beschreibung in Sūra az-Zalzala (d. h. Das Beben, Sure 99) des Tages, an dem »die Erde durch ein gewaltiges Beben erschüttert und all ihre Bürden abwerfen wird« (99,1–2). Maudūdī interpretiert dies dahingehend, dass die Erde »ihre Kostbarkeiten von Gold, Silber, Juwelen und jeder Art Schätzen, die im Bauch der Erde liegen, auswerfen wird, und die Menschen dies sehen werden und verstehen werden, wie sie um diese Dinge in der Welt dürsteten«.32 Der Tag des Gerichts wird die Vergeblichkeit des menschlichen Strebens nach 30

31 32

Vgl. Asad, Message (s. Anm. 2), 933; Sayyid Abu-l-Aʿlā Maudūdī, The Meaning of the Qur’an, Hg./Übers. ʿAbdul ʿAzīz Kamāl/Ch. Muḥammad Akbar, 16 Bände, Delhi/Lahore 1967–1988 (in der Übers. v. Zafar Ishaque Ansari/Muḥammad Akbar auch online einsehbar unter http://www.tafheem.net/ main.html), Anmerkung 9 zu Sure 81,9 (S. 258). Maudūdī, Meaning (s. Anm. 30), Anmerkung zu Sure 81,4. Maudūdī, Meaning (s. Anm. 30), Anmerkung zu Sure 99,2.

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Reichtum und die Bedeutungslosigkeit der von Menschen angesetzten Wertmaßstäbe offenbar machen. Die Visionen des Jüngsten Tags betonen, dass Gott der einzige Richter über die Handlungen der Menschen und deren Rechtheit sein wird und dass jeder Mensch individuell für seine oder ihre Taten rechenschaftspflichtig sein wird. Dann »wird eine Seele wissen, was sie vollbracht hat« (Sure 81,14). Die frühen mekkanischen Suren betonen, dass Gottes umgreifende Vision und sein allumfassendes Wissen am Tag des Gerichts zur Anschauung kommen werden. So spricht Sūra al-Infiṭār davon, dass wir unter der Aufsicht von »ehrwürdigen Wesen« leben, »die verzeichnen bzw. wissen, was es ist, das ihr tut« (82,11–12). Und Sūra al-Zalzala erklärt, dass »der, welcher das Gewicht eines Atoms an Gutem getan hat, es dann schauen wird; und der, welcher das Gewicht eines Atoms an Schlechtem getan hätte, dieses zu schauen bekommen wird« (99,7–8). Der Text betont, dass jede einzelne individuelle Person des Urteils über seine oder ihre Taten ansichtig wird. Keine persönlichen Bindungen – auch nicht die Bande von Freundschaft oder Familie – werden der Person dazu verhelfen, dieser Rechenschaft zu entgehen. Das steht dem Brauch deutlich entgegen, sich auf Stammesbande für die moralische Rechtfertigung zu verlassen, und stellt in der Tat einen neuen Standard ethischer Beurteilung auf.33 Der Koran setzt einen Maßstab vollständiger moralischer Verantwortung für jedes Individuum. »Es wird ein Tag sein, da kein Mensch für den anderen von auch nur dem geringsten Nutzen sein wird: denn an diesem Tag wird offenbar, dass alle Herrschaft allein Gott zukommt« (82,19). Weiter noch betont Sūra al-Masad (d. h. Die Palmfaser), dass auch das Vermögen am Tag des Gerichts nicht als Schutz dienen wird: »Sein Vermögen und alles, das er erworben hat, wird ihn nicht retten« (Sure 111,2). Das Insistieren auf der individuellen Rechenschaftspflicht ist nur eine Konsequenz aus der Vormacht eines einzigen Gottes; keine Stammesbindungen, Sozialbeziehungen oder irdischen Vermögen haben statt im Angesicht von Gottes Herrschaft. An dieser Stelle kann eine Ähnlichkeit konstatiert werden zwischen den apokalyptischen Visionen und den Bestrafungserzählungen in den frühen mekkanischen Suren. Wie die Erzählungen von Gottes Strafhandeln bezweckten, die Mekkaner zu motivieren, von ihren Wegen reuevoll umzukehren und an Gott zu glauben, so mahnen die Präfigurationen des Jüngsten Tags die Glaubenden, der kommenden Rechenschaft gewärtig zu sein und sich entsprechend zu verhalten. In Sūra al-Faǧr spricht der 33

42

Vgl. Izutsu, Concepts (s. Anm. 7), 59 f.

Text davon, dass der Mensch am Jüngsten Tage sagen wird: »Oh hätte ich doch im Vorhinein für mein kommendes Leben gesorgt!« (89,24). Die Ereignisse des Jüngsten Tages werden also die Menschen wünschen lassen, sie wären auf ihrem Lebensweg des Wissens um den Tag des Gerichts eingedenk gewesen. Wie die Bestrafungserzählungen, werden die apokalyptischen Visionen als Warnungen für die Glaubenden vorgestellt, damit sie ihre Verhaltensweisen neu gestalten in der Vorausschau auf die endgültige Beurteilung. Nach A. Kevin Reinhart ist diese Warnung die Grundlage der Islamischen Ethik. »Der vorrangigste Appell an den Gehorsam und das religiöse und moralische Verhalten, den der Koran vorträgt, ist Furcht oder, um es mit gewöhnlicheren Worten zu sagen, eine umsichtige Sorge um das eigene ewige Schicksal.«34 Diese Erkenntnis mag die Zusammenfassung des in diesem Kapitel unternommenen Überblicks zu den frühmekkanischen Bildern vom Jüngsten Tag einleiten. Die erörterten Visionen der Zeit der Apokalypse beschreiben eine natürliche Folge der Konfrontation des koranischen Gottes und der Menschen, wie sie der Koran beschreibt. Die Menschen – Glaubende und Nichtglaubende gleichermaßen – sind gezwungen, sich ihrer gänzlichen Abhängigkeit von Gott zu erinnern. Sie durchbricht alle Stammesbindungen und ebenso alle Anhäufungen materieller Güter, die als Schutz gedacht waren. Insignien von zeitlichem Status und materiellem Reichtum sind für Gott irrelevant; alle Menschen werden in gleicher Weise angesehen, ohne Bevorteilung durch irdischen Erfolg. Ein solches Vorgehen ist nur notwendig für einen Gott, dessen Barmherzigkeit den Verwundbaren und Unterdrückten gilt. Die Visionen vom Tag des Gerichts veranschaulichen daher Gottes Einstellung gegenüber dem zeitlichen Dekor von Wohlstand und Status. Zugleich dienen sie als Warnung für die mekkanische Bevölkerung, die von Gott für sie aufgestellten moralischen Verpflichtungen zu beachten.

Das Verhältnis von Glaube und Wohltätigkeit Die frühen mekkanischen Suren betonen den göttlichen Ruf zum islām – zur Unterwerfung – und spornen die Glaubenden dazu an, ihre Einstellungen und ihr Verhalten im Lichte von Gottes Anforderungen zu be34

A. Kevin Reinhart, Ethics and the Qurʾan, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg.), Encyclopaedia of the Qurʾan. 6 Bände, Leiden 2007, Bd. 2, 55–78, 58.

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trachten und Seiner Entschlossenheit zur Strafausübung, wie auch in Vorwegnahme des unausweichlichen Jüngsten Tags. Diese frühen Offenbarungen sind reich an göttlichen Urteilen und Anweisungen bezüglich persönlichem Reichtum, finanzieller Großzügigkeit und umfassender Wohltätigkeit. Dieser Abschnitt wird untersuchen, wie der Koran den Glauben an Gott verbindet mit der moralischen Verpflichtung zur Barmherzigkeit gegenüber anderen Menschen. Bereits eine oberflächliche Lektüre der frühen mekkanischen Suren erweist, dass der Text durchdrungen ist von der Verurteilung von Besitzanhäufung und der Mahnung zu Freigiebigkeit. Die fast durchgehende Betonung von moralischer Rechtheit, rechtem Handeln und Erwägung des Jüngsten Tags überträgt sich zwingend in ethische Anweisungen bezüglich des individuellen Reichtums und der Rücksicht auf die Armen und Verletzlichen. W. Montgomery Watt meint sogar, dass »die frühe koranische Ethik sich ganz den Fragen von Großzügigkeit und Knausrigkeit oder Kleingeiz widmet«.35 Wenn der Koran in diesen frühen Texten davon spricht, was richtig und was falsch ist, bezieht sich dies entweder direkt oder indirekt auf Fragen der Ökonomie und Wohltätigkeit. Beispielsweise lesen wir in Sūra al-Humaza (d. h. Der Stichler): »Wehe jedem Stichler und Nörgler! Wehe ihm, der Reichtum anhäuft und darauf als Absicherung rechnet in der Meinung, dieser Reichtum würde ihn ewig leben lassen!« (104,1–3). Diese Verse zielen unmissverständlich auf jene Tendenz zu Arroganz und Selbstgenügsamkeit, die der Koran in den Menschen ausmacht. Die Verse zeigen, dass die göttliche Verurteilung solcher Einstellungen die Form einer Kritik an wirtschaftlichem Handeln annimmt. In den frühen Offenbarungen nehmen die »Früchte« menschlichen Hochmuts Gestalt an im Bereich der Ökonomie. Dies ist folglich der Bereich, auf welchen der Text seine moralischen Anweisungen richtet. Sūra al-ʾInšiqāq endet mit der folgenden Warnung: »So verkünde ihnen schmerzhafte Strafe (im Jenseits) – nicht so jenen, die zum Glauben kommen und gute Werke tun: Ihnen soll nimmer endender Lohn zuteil werden!« (84,24–25). Der Koran kommuniziert seine indirekte moralische Weisung in der Ausnahme, die für die allgemeine Anordnung »schmerzhafter Strafe« gewährt wird. Die Kriterien, solcher Qual zu entgehen, enthalten sowohl das Zum-Glauben-Kommen wie auch das Tun guter Werke. An jene, welche auf Gottes Wohlgefallen hoffen, richten sich Anforderungen sowohl im Religiösen wie im Moralischen. Kei35

44

Watt, Muhammad (s. Anm. 8), 71.

ner dieser Bereiche ist für sich selbst zureichend. Des Weiteren macht eine sorgfältige Lektüre der frühen mekkanischen Suren deutlich, dass diese Bereiche nicht als gänzlich distinkt und exklusiv gesehen werden dürfen. In den frühen koranischen Offenbarungen bedingt und erfordert der Glaube die moralische Rechtschaffenheit. Durchgehend verbindet der Text den Ruf zum Glauben und zu guten Werken. Man darf das eine nicht gesondert vom anderen betrachten, sondern muss beide als engstens und von Natur aus aufeinander bezogen verstehen. Sūra al-Muṭaffifīn (d. h. Die Knauserer, Sure 83) bezieht die Zurückweisung des Glaubens direkt auf unmoralisches Sozialverhalten: »Wehe den Leugnern! Ihnen, die den Tag des Gerichts für Lüge erklären! Wer würde ihn leugnen außer der Unterdrücker, der Übles tut?« (83,10–12). In diesem Beispiel legt der Text nahe, dass die Arroganz desjenigen, der die Unterwerfung unter Gott verweigert, der Arroganz desjenigen gleichkommt, der absichtlich für eine ungerechte Sozialordnung sorgt und davon profitiert. Das Tun des Üblen ist ausdrücklich verbunden mit der Ablehnung des Glaubens. Als eine Art Gegenstück zu dieser Verbindung von zugleich religiösem und moralischem Fehlverhalten spricht Sūra al-Balad (d. h. Der Ort, Sure 90) von einem ähnlichen Zusammenhang der Erfüllung beider göttlicher Mahnungen: »Haben wir […] ihm nicht die beiden Wege (zum Guten und Bösen) gezeigt? Er aber unternahm nicht den Anstieg auf dem steilen Weg. Und was könnte dich verstehen lassen, was das ist, der steile Weg? Es ist die Befreiung des eigenen Nackens von den Lasten von Sünde, oder die Speisung an einem Hungertag, oder die Speisung einer nahverwandten Waise, oder eines bedürftigen Fremden, der im Staub liegt […]. Das sind die zur Rechtschaffenheit Gelangten […]« (90,8–18). In einer Anmerkung zu seiner Übersetzung von fakku raqabatin (90,13) als »Befreiung des eigenen Nackens von den Lasten von Sünde« erklärt Asad, man könnte dies auch wiedergeben als »Befreiung eines Menschen aus Fesseln«.36 (In der Tat übersetzt Sells mit »einen Sklaven befreien«37.) Er bemerkt außerdem, dass »die zur Rechtschaffenheit Gelangten« wörtlich zu übertragen ist als »die Leute zur rechten Hand«, ein koranischer Ausdruck, der mit »Rechtschaffenheit« und »Gesegnetsein« assoziiert ist. Er wird allgemein gebraucht, um all jene Menschen zu beschreiben, deren Leben Gottes Wohlgefallen gefunden hat.38 Demnach umschreiben diese Āyāt 36 37 38

Vgl. Asad, Message (s. Anm. 2), 953. Vgl. Sells, Approaching (s. Anm. 4), 82. Vgl. Asad, Message (s. Anm. 2), 953, 910.

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die Handlungen, welche den Weg zum Gesegnetsein ausmachen. Die wesentlichen Werke rechten Handelns sind: sich den Armen widmen, für die Verwundbaren sorgen und die Unterdrückten befreien. Die Sure betont ausdrücklich auch, dass eine frühere Beziehung zum Empfänger solcher Freigiebigkeit ohne Belang ist. Die Handlungen der Menschenliebe sollen sowohl die »nahverwandte Waise« wie den »bedürftigen Fremden« erreichen. Gesegnet sind jene, welche den »steilen Weg« gewählt haben, den Weg der Barmherzigkeit für die Bedürftigen. Die kurze Sūra al-Māʿūn (d. h. Die Hilfeleistung, Sure 107) zieht eine direkte Verbindung zwischen wohltätigen Werken und dem Glauben an Gott. Sie hebt damit an, den Leugner des Gerichts zu identifizieren mit dem, der sich wohltätiger Werke der Obdachgewährung für Waisen und Speisung von Hungrigen verweigert (107,1–3). Michael Sells stellt heraus, dass diese wenigen Āyāt, mit ihrer einfachen, aber bezwingenden Verurteilung einer Gleichgültigkeit gegenüber Bedürftigen, die Grundlage für einen Großteil islamischer Moraltheologie bilden.39 Die übrigen vier Verse der Sūra rügen dezidiert jene, welche Frömmigkeit vortäuschen, aber gleichzeitig die vorgeschriebene aktive Wohltätigkeit vernachlässigen. »Verflucht seien jene, welche das Gebet verrichten und unbedacht sind, wie sie beten, die sich selbst zur Schau geben, jedoch die kleine Hilfestellung verwehren« (107,4–7). Herausgehoben werden jene Menschen, welche ein Bild von Andacht und Frömmigkeit aufsetzen, aber »die kleine Hilfestellung verwehren«. Diese Verse weisen die Idee zurück, dass eine Person wahren religiösen Glauben haben könnte ohne eine entsprechende Verpflichtung zur Wohltätigkeit. Schlimmer noch sind jene, welche eine andächtige Pose annehmen, um über ihren Charakter zu täuschen in der Hoffnung, andere zu beeindrucken oder Bewunderung zur ernten. ʿAbdullāh Yūsuf ʿAlī (gest. 1953) fasst zusammen, wie die frühen mekkanischen Suren Glauben und anteilnehmendes Handeln verbinden: »Die persönliche Wohltätigkeit wird die Feuerprobe des Glaubens sein und die Lehre aller Tugend […] Nicht nur werden sie die Prüfung sein, durch welche die Aufrichtigkeit ihres Glaubens beurteilt wird: Sie werden die Frucht sein, welche ihr Glaube fortwährend hervorbringen wird«.40 Obgleich, wie wir gesehen haben, die frühen mekkanischen Suren die Evokation von Furcht als Ansporn zur ethischen Verantwortung be39 40

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Vgl. Sells, Approaching (s. Anm. 4), 125. ʿAbdullāh Yūsuf ʿAlī, The Holy Qurʾān: Arabic text with an English translation and commentary, Lahore 1937, 1739 (Anm. 6144 zu Sure 90,17).

tonen, stellen sie ein weit komplexeres und vielgestaltigeres System moralischer Motivation dar, als sich allein auf die Angst vor Strafe zu stützen. Eines der im Koran dazu gebrauchten Mittel ist, die Glaubenden zum Guten anzuspornen, um Gott nachzuahmen. Gott ist barmherzig, und folglich sollten die Menschen barmherzig sein, wenn sie dem Göttlichen an Ähnlichkeit näherkommen wollen. Sūra aḍ-Ḍuḥā beschreibt die Güte, die Gott den Menschen erweist, und mahnt dann die Menschen, ähnliche Güte zu zeigen. »Hat Er dich nicht als Waise gefunden und Zuflucht gewährt? Hat Er dich nicht als Irrenden gefunden und auf den rechten Weg geleitet? Hat Er dich nicht als Bedürftigen gefunden und reich gemacht? Niemals sollst daher du der Waise Unrecht tun, und niemals den schelten, der deine Hilfe sucht […]« (93,6–10). Weil Gott an uns barmherzig handelt, sollen auch wir andere in gleicher Weise behandeln. Bemerkenswert ist auch, dass der Text nicht im Unklaren lässt, welcher Art Wohltätigkeit Gott den Menschen gewährt. Gottes Barmherzigkeit richtet sich auf (1) jene, die wahrhaft Waise, Verlorene oder Hungernde sind, und (2) alle Menschen, insofern sie diese Eigenschaften teilen. Folglich wird sich die rechte Nachahmung gottähnlicher Barmherzigkeit manifestieren als Sorge um diese Eigenschaften der Verwundbarkeit in allen Menschen. Das Streben um Nachahmung Gottes findet weiteren Ausdruck als moralische Motivation in der Anrufung der basmala: Die Worte »Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen« stehen fast allen koranischen Suren voran und werden auch gebraucht als Segen über bestimmte Ereignisse und Handlungen, die von den Frommsten zu den Weltlichsten reichen können. Maudūdī erklärt, ein Grund für die Anrufung des Namens Gottes zu solchen Anlässen bestehe darin, die Glaubenden zu erinnern, dass ihr Verhalten der Beschreibung Gottes als »des Erbarmers, des Barmherzigen« entsprechen soll.41 Diese Beschreibungen wurden auch übersetzt als »der Erbarmungsvolle, der Sorgende«42 oder »der Gnädige, der Erbarmungsvolle«43. Ihre Rezitation inspiriert den Glaubenden, die Natur seiner oder ihrer Handlungen zu prüfen und darauf zu achten, dass diese vernünftigerweise in Einklang zu bringen ist mit dem Aussprechen des Namens Gottes und der beschreibenden Attri41 42 43

Vgl. Maudūdī, Meaning (s. Anm. 30), Anmerkung zu Sure 1,1. So Sells, Approaching (s. Anm. 4), zu Sure 1,1: »the Compassionate, the Caring«. Maudūdī, Meaning (s. Anm. 30), zu Sure 1,1: »the Merciful, the Compassionate«.

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bute. Auf diese Weise ist die basmala ein Element im Streben nach moralischer Güte durch Nachahmung der Güte Gottes. Die frühen mekkanischen Suren führen auch das Konzept wohltätiger Handlungen ein, die als Anstrengung um Reinigung vollbracht werden können. Die barmherzige Gabe wird verstanden als ein reinigendes Handeln sowohl für den Geber wie den Empfänger.44 Der Gebende wird gereinigt durch das Zügeln von Gier und Gleichgültigkeit, der Empfänger durch das Beseitigen von Eifersucht und Missgunst gegenüber dem Vermögenden. Die Vorstellung reinigender Großzügigkeit wurde schließlich auch institutionalisiert in der islamischen Lehre der Zakāt – die dritte der fünf Säulen der Religion – oder des Almosengebens. Benthall bemerkt, dass die Praxis der Zakāt verstanden wird als eine Art »finanzieller Gottesdienst«, der als notwendiges Gegenstück dient zu frommer Andacht und Gebet. Tatsächlich würde ohne Befolgung der Zakāt »die Wirksamkeit des Gebets negiert«.45 Sūra al-Layl (d. h. Die Nacht, Sure 92) gibt an, dass dem »flammenden Feuer« (92,14) der Strafe entgeht, wer »seinen Besitz für andere gibt, um selbst in Reinheit zu wachsen« (92,18). Die frühesten vom Propheten Muḥammad empfangenen Offenbarungen sind vorrangig besorgt um die soziale und wirtschaftliche Disposition der Glaubenden. Die in diesen Suren kommunizierten moralischen Anweisungen beziehen sich ausnahmslos auf die Neigungen der Menschen, Besitz anzusammeln oder zu teilen, Barmherzigkeit zu üben oder den Armen gegenüber gleichgültig zu bleiben. Der Text macht die notwendige Verbindung deutlich zwischen Glaube und Freigiebigkeit, wie auch zwischen Unglaube und Geiz. Der Gebende wird identifiziert als derjenige, welcher Gottes Wohlgefallen verdient, während demjenigen, welcher seinen Besitz bei sich behält, Strafe vorherbestimmt ist. Die Menschen werden weiter ermahnt, in Nachahmung Gottes, der barmherzig und gnädig ist und seine Sorge um Sein Volk erwiesen hat, Barmherzigkeit zu üben. Schließlich wird beschrieben, dass das großzügige Geben reinigende Wirkungen zeitigt und auch zur Selbstreinigung unternommen werden sollte.

44 45

48

Vgl. Jonathan Benthall, Financial Worship: The Qurʾanic Injunction to Almsgiving, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute 5 (1999), 27–42, 29. Vgl. ebd. 29.

Gerechtigkeit oder nur Almosen? Die – impliziten wie expliziten – moralischen Konsequenzen der frühen mekkanischen Suren für den individuellen Glaubenden sind deutlich. Der wahre Glaubende ist, wer sich Gott unterwirft und wohltätig handelt zugunsten der Verwundbaren und Unterdrückten in einer Gesellschaft. Solche Freigiebigkeit ist entscheidendes Element wahren Glaubens. Gleichwohl können wir weiterhin fragen: Geben diese Offenbarungen irgendein Anzeichen eines sozialen Aufrufs zu moralischer Reform? Gehört die Aufgabe, Vermögen zu teilen und Mitgefühl mit Bedürftigen zu zeigen, allein ins Gebiet des Individuellen, oder leiten die frühen Offenbarungen auch dazu an, wie eine Gesellschaft die am schlechtesten Gestellten behandeln sollte? Kurzum, geben die frühen mekkanischen Suren überhaupt Hinweise zu ökonomischer Gerechtigkeit, oder ist der moralische Appell beschränkt auf das Gebiet individueller Wohltätigkeit? Dieser Abschnitt wird diese Frage positiv beantworten. Er wird zeigen, dass diese Suren die Glaubenden dazu ermahnen, gerechte soziale Praktiken einzurichten und Ausdrucksformen einer Freigiebigkeit der Sozialgemeinschaft zuzuarbeiten. Dabei wird aufgezeigt, inwiefern im vor-islamischen arabischen Kontext diese Botschaft einen Aufruf zu sozio-ökonomischer Gerechtigkeit bedeutete. Wichtig ist zunächst die Erinnerung daran, dass die moralbezogenen Aspekte der frühen mekkanischen Suren nicht einfachhin als nur am Individuum orientiert charakterisiert werden können. Obwohl die Mehrzahl der Verfügungen sich direkt an individuelle Personen richtet, und obwohl kritischer Nachdruck auf deren individuelle Verantwortung gelegt wird, kritisieren diese Verse nichtsdestoweniger soziale Praktiken ebenso wie individuelles Versagen. Das ausdrücklichste Beispiel dafür findet sich in Sūra at-Takwīr, wo eine typische apokalyptische Vision die Vorstellung enthält, dass »die lebendig begrabene Tochter dazu gebracht wird, die Frage zu stellen, für welches Verbrechen sie umgebracht wurde […]« (81,8–9). Wie oben verfolgt, bezieht sich dies auf eine übliche Praxis, einige Töchter aus Furcht vor – hauptsächlich ökonomischen – Lasten für die Familie lebendig zu begraben. Diese Āyāt verurteilen nicht das Verhalten weniger Individuen; sie kündigen die Umwälzung einer etablierten sozialen Praxis an. Sie zeigen an, dass Gott nicht nur um die Moral spezifischer Personen besorgt ist, sondern auch um den Anstand ganzer Gesellschaften. Mehr noch, Maudūdī bemerkt, dass der Koran nicht nur erklärt, dass die Tochter von ihrem Schicksal gerettet wird, sondern ihr auch gewährt wird, zu ihren Mördern zu sprechen, sie zu 49

konfrontieren und eine Erklärung zu verlangen. In der Tat »radierte der Koran die Vorstellung aus, dass die Geburt einer Tochter überhaupt in irgendeiner Weise ein Unglück wäre«.46 Wie in diesem Fall deutlich wird, bleibt Gott nicht dabei stehen, die Unterdrückten zu retten; Gott konfrontiert mit den sozialen Normen und Verhaltensweisen, die eine Situation der Unterdrückung schaffen, beseitigt sie und ersetzt sie mit Bedingungen, die für Gerechtigkeit sorgen. Zum Zweiten sehen wir wiederholt in den frühen mekkanischen Suren eine Anweisung, nicht nur Freigiebigkeit zu zeigen, sondern auch andere zu solchen Erweisen von Mitgefühl anzuspornen. Beispielsweise beschreibt Sūra al-Balad dieses Verhalten als den oben erwähnten »steilen Weg«. Das letzte Element in der Reihe der den wahren Glauben ausmachenden Handlungen ist, »einander Geduld im Ungemach und Barmherzigkeit ans Herz zu legen« (Sure 90,17). Die moralische Verantwortung der Glaubenden erstreckt sich über das eigene individuelle Handeln hinaus. Der koranische Aufruf zum Glauben erfordert Aufmerksamkeit für und Sorge um die Einstellungen und Handlungsweisen anderer, die zu Geduld und Barmherzigkeit angehalten werden müssen. Mit Bezug auf Sūra al-Māʿūn (»Siehst du jenen, welcher das Gericht eine Lüge nennt? Er ist der, […] der darin versagt, für die Speisung eines Bedürftigen zu sorgen […]« (107,1–347) merkt Benthall an, der Islam sei »die einzige der drei abrahamitischen Religionen, die explizit den Glaubenden nicht nur dazu anhält, freigiebig im Geben von Almosen zu sein, sondern auch andere zu überzeugen, wohltätig zu sein«48. Diese frühen Offenbarungen stellen eine Reihe moralischer Verpflichtungen auf, welche für die Ausrichtung der Gesellschaft revolutionär sind. Von den Hörern des Korans wird erwartet, Werke der Barmherzigkeit zu tun und sich ebenso anzustrengen, dass auch andere in gleicher Weise handeln. In der modernen Gesellschaft muss dies eine Sorge um die moralische Integrität von Systemen zur Konsequenz haben, welche Macht, Reichtum und Privilegien bestimmen und verteilen. In einer Gesellschaft, in der Armutslagen von administrativen Systemen und von Organisationen sowohl geschaffen wie auch in Angriff genommen werden, erfordert »einander Barmherzigkeit ans Herz zu legen«, sich der Natur dieser Systeme zu widmen und sicherzustellen, dass sie in der Tat Gerechtigkeit

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Maudūdī, Meaning (s. Anm. 30), Anmerkung zu Sure 81,9. Hier im Anschluss an die Übertragung durch Sells, Approaching (s. Anm. 4). Benthall, Financial Worship (s. Anm. 44), 35.

schaffen, dass sie die Aufgabe leisten, die Armen zu speisen und für die Bedürftigen zu sorgen. Schließlich ist nicht zu unterschätzen, mit wie starkem Nachdruck die frühen mekkanischen Suren die Begründung eines neuen Paradigmas für das Verstehen des Verhältnisses von Selbst und Gesellschaft herausstellen. Watt macht als Kontext der koranischen Offenbarung eine Gesellschaft im Übergang von einer nomadischen zu einer merkantilen Ökonomie aus. Dieser Übergang hat zu einer asymmetrischen Entwicklung in der zeitgenössischen Bevölkerung geführt: zu »einem Individualismus in gesellschaftlichen Angelegenheiten ohne ein neues moralisches Ideal, das diesen ausbalancieren würde, und ohne eine neue religiöse Perspektive, welche dem Individuum Bedeutung geben würde«.49 Der Koran gibt eine Situationsanalyse und auch eine Orientierungshilfe für das zur Korrektur dieses Ungleichgewichts nötige Handeln. Die frühen Offenbarungen setzen zur Begrenzung wirtschaftlichen Individualismus an, indem sie die moralische Verpflichtung einführen, sich auf andere Gesellschaftsglieder zu besinnen, insbesondere die Armen. Sūra al-Qalam (d. h. Das Schreibrohr, Sure 68) gibt ein Beispiel für Gottes Konfrontation solcher kapitalistischen Habgier. Sie berichtet davon, wie Gott »die Besitzer eines bestimmten Gartens auf die Probe stellte« (68,17), die in gieriger Weise die Ernte ihrer Saaten vorhatten. Eines Morgens standen sie auf und sprachen zueinander: »Wahrlich, kein Bedürftiger soll heute den Garten betreten und dich unversehens aufsuchen!« (68,24) Gottes Antwort auf dieses Vergehen der Besitzhortung bestand darin, den Garten aufzusuchen und alle Erzeugnisse fortzunehmen. Als die Gärtner erschienen, um ihre Früchte einzusammeln, fanden sie den Garten leer und erkannten sofort die Verfehlung ihrer Wege (68,26–27). Asad stellt heraus, dass das Vergehen der Gärtner in ihrem Versagen liegt, das Recht der Armen auf den Überschuss der Ernte der Reichen anzuerkennen.50 Der Koran beschreibt diese arroganten und geizigen Gärtner als Personen, die »keinen Vorbehalt (für Gottes Willen) einräumten« (68,18). Gottes Wille ist, dass die Armen und Hungrigen versorgt werden, und als die gleichgültigen Gärtner darin versagten, für die Erfüllung dieses göttlichen Willens zu sorgen, intervenierte Gott und erinnerte sie an ihre Pflicht, den Forderungen der Gerechtigkeit nachzukommen. In diesem Fall schildert der Koran einen Gott, welcher die selbstsüchtigen Einstellungen des Kapitalismus und merkantilen Indivi49 50

Watt, Muhammad (s. Anm. 8), 79. Vgl. Asad, Message (s. Anm. 2), 884.

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dualismus korrigiert und abändert, so dass eine Verpflichtung für die Notleidenden aufgenommen wird. Einen weiteren, subtilen Fall bietet Sūra al-Layl. Sie präzisiert die Praxis des Gebens zum Wachstum in Reinheit (Zakāt, wie oben erörtert): Die Gabe darf weder eine Begleichung erhaltener Begünstigungen sein noch Rückzahlung erwarten (92,19).51 Die koranische Offenbarung weist zurück, dass der moralischen Verpflichtung zur Großzügigkeit Genüge zu tun ist durch einen wirtschaftlichen Tausch. Stattdessen muss es um eine bedingungslose Gabe gehen. Diese Form des Gebens, als ob die Gabe gerechterweise dem Empfänger gebührte, so dass keine Rückzahlung nötig ist, kann nur beschrieben werden als Besorgung der Erfordernisse der Gerechtigkeit. Zusammengefasst können wir drei deutliche Hinweise ausmachen, dass die frühen mekkanischen Offenbarungen moralische Implikationen besitzen, welche über den Bereich der individuellen Person hinausgehen. Zum Ersten beschränkt sich die Kritik des Textes nicht auf das individuelle Verhalten, sondern verurteilt auch Praktiken der Gesellschaft als Ganze. Zum Zweiten werden die Glaubenden vielfach im Text ermahnt, nicht nur wohltätige Werke zu tun, sondern auch andere dazu anzuhalten. Die koranische Vorstellung individueller Verantwortung schließt das Verhalten der Gesellschaft mit ein. Schließlich kann mit dem Verständnis des sozio-ökonomischen Kontextes, in welchen hinein der Koran geoffenbart wurde, deutlich werden, wo der Text die vorherrschenden Verhaltensweisen konfrontiert und ein Korrektiv anbietet. Insbesondere prangern die frühen mekkanischen Suren die aufkommende Tendenz zu einer selbstsüchtigen Anhäufung von Reichtum an und betonen als Ausgleich die Verpflichtung zur Barmherzigkeit. Wir sehen somit, dass die frühen Offenbarungen moralische Anleitung in einem spezifischen sozialen Rahmen anbieten und dabei aufrufen zur Reform sozialer Praktiken ebenso wie individueller. Der Text ermahnt die Glaubenden, sich nicht nur um die Anliegen persönlicher Wohltätigkeit zu kümmern, sondern auch um Fragen sozio-ökonomischer Gerechtigkeit. Michael Bonner beschreibt die Wichtigkeit dieses umfassenderen sozialen Anliegens wie folgt: »Der Koran bietet eine Blaupause für eine neue Gesellschaftsordnung, in welcher der Arme fairer behandelt wird als zuvor.«52

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Vgl. zur Stelle Asad, Message (s. Anm. 2) und Sells, Approaching (s. Anm. 4). Michael Bonner, Poverty and Economics in the Qur’an, in: Journal of Interdisciplinary History 35 (2005), 391–406, 391, Hervorhebung hinzugefügt.

Fazit Dieser Aufsatz hat einen weiten Bogen gespannt. Vieles, was aus den frühen mekkanischen Suren hervorgehoben wurde, hat im Text selbst nicht explizit mit sozio-ökonomischen Fragen zu tun. Dies gilt besonders für die Vorstellung des Menschen und Gottes, wie sie im ersten und zweiten Abschnitt erörtert wurden. Deshalb beabsichtigte dieser Aufsatz zu sondieren, wie die grundlegenden Themen der frühen koranischen Offenbarungen in den offenkundigeren Behandlungen von Wohltätigkeit und sozio-ökonomischer Gerechtigkeit zum Tragen kommen. Die ethischen Implikationen des Gehalts dieser Suren sind umfassender und tiefgreifender, als sie bei einer oberflächlichen Lektüre erscheinen, die sich nur auf jene Āyāt konzentriert, welche deutliche moralische Weisungen artikulieren. Dieser Aufsatz hat zu zeigen versucht, dass (1) die grundlegenden Themen der frühen mekkanischen Suren einen wichtigen Bezug haben auf die deutlich ausgedrückten moralischen Verpflichtungen, für die Armen zu sorgen und Gerechtigkeit zu erwirken, und (2) dass zum Verständnis dieses Bezugs die Einsicht gehört, dass die Sorge um sozio-ökonomische Maßstäbe und Verhaltensweisen das übergeordnete moralische Anliegen der frühen Offenbarungen ist. Zusammengefasst charakterisieren diese Suren den Menschen als Person, die von Gott geschaffen ist, von Gott erhalten wird und in Leben und allem Vermögen gänzlich abhängig ist von Gott. Dennoch vergessen (oder leugnen) die Menschen diese Realität oft und fallen der Ursünde der Arroganz anheim. Deshalb hat Gott ihren Status herabgesetzt auf den »der Niedrigsten der Niedrigen«. Der in den frühen koranischen Offenbarungen adressierte Mensch ist eine Person, die sich in Fragen moralischer und sozialer Legimitation verlässt auf ein Bewusstsein stammesbezogener Solidarität, die zugleich den Lockungen einer Markwirtschaft unterliegt und, in Einklang mit ihrem natürlichen Hang zur Arroganz, angezogen wird von einem Individualismus materieller Besitzanhäufung. Gott wird dargestellt als allmächtig, als willens, die Ungläubigen zu bestrafen, und insbesondere besorgt um das Geschick der schwächeren Glieder einer Gesellschaft – der Armen, Waisen, Unterdrückten. Wie die Erzählungen von Gottes Bestrafungen der Ungläubigen, so dienen auch die frühen koranischen Visionen des Jüngsten Tags als Warnungen und bieten Ansporn, von den eingeschlagenen Wegen umzukehren. Im Unterschied zu den Bestrafungserzählungen schildern die apokalyptischen Visionen aber keine zukünftige Möglichkeit, sondern eine absolute Gewissheit. Als solche offenbaren sie Gottes letztgültige Ant53

wort auf den Unglauben der Menschen. Sie bieten eine Vision davon, wie Gott einbricht in die Realität der Menschen und die menschlichen Institutionen und Wertstandards gänzlich aufhebt. Am Jüngsten Tag wird jede Person für sich selbst geprüft – unabhängig von jedem zeitlichen Reichtum oder Status – auf der Grundlage seines oder ihres moralischen Verhaltens. Das moralische Verhalten ist in den frühen mekkanischen Suren eng verbunden mit dem Begriff des Glaubens. Der Glaube bedingt stets moralische Rechtschaffenheit, und moralische Rechtschaffenheit ist zwingend verbunden mit Handlungen der Freigiebigkeit und Wohltätigkeit. In Nachahmung Gottes, im Streben nach Reinheit und schlicht im Erfüllen der moralischen Mahnungen im Text, wird vom Glaubenden verlangt, seinen Pflichten nachzukommen, die Hungrigen zu speisen, den Armen zu geben und für die Bedürftigen zu sorgen. Diese ethische Verpflichtung beschränkt sich nicht auf das eigene persönliche Handeln, sondern zieht auch eine Aufmerksamkeit nach sich für die sozialen Praktiken und Systeme, die beitragen zur Verursachung oder zur Beseitigung von Unterdrückung. Die frühen koranischen Offenbarungen halten nicht hinter dem Berg, sowohl die Praktiken individueller Glaubenden zu verurteilen wie auch der Gesellschaft, und sie legen eine radikal neue Maßgabe vor, die Spannung zwischen individuellem und sozialem Bewusstsein auszusteuern. Am Ursprung des Korans und folglich der Grundlage des Islams steht also eine bemerkenswerte Betonung der Verpflichtung des Glaubenden, im wohltätigen Handeln für andere zu sorgen und zugleich zu achten auf die umfassenderen sozialen Fragen wirtschaftlicher Gerechtigkeit.

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Armut als soziale Provokation Sieben Anmerkungen zu einer sozialethischen Herausforderung1 Berthold Vogel

1. Armut ist eine soziale Provokation Armut als soziale Lage fordert Gesellschaften heraus – aber auch jedes einzelne Gesellschaftsmitglied. Armut verändert Gesellschaften, ihre Strukturen und ihre Mentalitäten. Sie provoziert kollektive Abstiegsängste, Verteilungskonflikte und Ressentiments. Auf der individuellen Ebene beschämt sie, macht wütend, irritiert und verletzt. Sie ist Bedrohung und Menetekel, sie steht für eine bestimmte Typik des Sozialen: für beruflich Deklassierte und Menschen, die ihren familiären Halt verloren haben, für Menschen ohne Arbeit oder Obdach. Armut provoziert seit jeher aber auch Streit – den Streit um würdige und unwürdige Arme. Schon an den Klostertoren des Mittelalters wurde entschieden, wer würdig und berechtigt ist, als Armer Hilfe zu empfangen. Unterstützungswürdig waren die »guten Armen«, die schuldlos in Not Geratenen, die unser Mitleid verdienen, die kollektive Unterstützung brauchen. Daher sind mit der sozialen Frage der Armut immer auch Haltungen der Barmherzigkeit und des Mitgefühls verknüpft. In modernen, wohlhabenden und demokratisch organisierten Gesellschaften ist Armut ein Appell an Solidarität und Hilfsbereitschaft. Notlagen und die Dynamik sozialer Ausgrenzung fordern auf, über Fragen des Zusammenhalts und seiner politischen wie rechtlichen Garantien kollektiv nachzudenken.

1

Der vorliegende Text beruht auf einem Vortragsskript. Er akzentuiert soziologische Perspektiven auf die »soziale Frage« der Armut und soll die Diskussion zwischen Soziologie und Theologie in diesem Themenfeld profilieren. Für die Publikation wurden die Thesen ein wenig erweitert, allerdings in ihrer Grundstruktur nicht verändert.

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Die Rede über Armut ist daher eine wertende Rede und eine Rede moralischer Zuschreibungen. Armut provoziert normative Aussagen. Und Armut lässt sich nicht als ein (mehr oder weniger bedauerlicher) Teilaspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit behandeln. Die Tatsache, dass Menschen arm sind oder dass sie gesellschaftlich und wirtschaftlich nicht mithalten können, ist mehr als nur ein Problem sozialer Randgruppen oder Randlagen. Armut konstituiert gesellschaftliche Verhältnisse und Beziehungen. Sie ist eine soziale Relation, die alleine in ihrem Verhältnis zu Wohlstand, Reichtum und Sicherheit zu verstehen ist. Die Klassifikationen der Armut und des Ausgeschlossenseins sind in unserem wohlfahrtsstaatlichen Breitengrad vom Wohlstand her bestimmt. Der Reichtum und der Wohlstand einer Gesellschaft definieren auch deren Armut. Und in Gesellschaften, deren Vermögenszuwächse und wirtschaftliche Aufstiege beachtlich sind, werden diejenigen, die wenig haben, in anderer Weise wahrgenommen als in Gesellschaften, in denen die große Mehrheit um das wirtschaftliche Überleben kämpfen muss. So müssen auch die Fluchtbewegungen nach Europa oder in die USA verstanden werden – sie sind der Ausdruck eklatanter globaler Unterschiede in Lebenschancen und Wohlstand. In ihnen manifestieren sich der Wille zum Aufstieg und der Wunsch, mehr aus dem eigenen Leben zu machen sowie den Zwängen einer armutsdominierten Gesellschaft zu entkommen. Auch im Stichwort »Lampedusa« spiegelt sich die soziale Provokation der Armut.2

2. Armut ist ein allgegenwärtiges Thema Als soziale Tatsache ist Armut heute Gegenstand intensiver sozialwissenschaftlicher Beobachtung und Berichterstattung. Immer wieder erhalten wir Hinweise auf die Verfestigung und die Ausweitung der Armut hierzulande – eine aktuelle Zahl aus dem Frühjahr 2015 ist: 15 % der in Deutschland lebenden Bevölkerung sind arm, sie haben weniger als 60 % des durchschnittlichen Einkommens.3 Ein weiterer Befund ist: Egal wie 2

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Ein früher und paradigmatischer Text zu »Lampedusa« – verstanden als ein Symbol der globalisierten Armut und ihrer provokativen Konsequenzen – ist die Reportage von Fabrizio Gatti, Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, München 2010. Vgl. Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin 2013.

wir Armut definieren – sie repräsentiert einen Pol wachsender sozialer Spaltungen; in der Armut spiegelt sich eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der Reichtum und Armut an Gewicht gewinnen, in der die Mitte der Gesellschaft unter Druck gerät.4 In der Furcht vor dem Weniger in den sozialen Mittelschichten kommt das Wissen um das Mehr an Armut und Deklassierungsgefahr zum Ausdruck. Die Angst vor dem Absturz, die Sorgen, den beruflichen und sozialen Halt zu verlieren, haben eine reale Grundlage – die Sichtbarkeit der Armut, die klare Sprache der Einkommens- und Vermögensstatistiken, die Berichte aus einem sozialen Umfeld, dem Arbeitslosigkeit oder die Erfahrung, sozial zurückzubleiben, nicht fremd sind. Armut ist in einer Gesellschaft, in der die sozialen Unterschiede wachsen, kein abstrakter Begriff, sondern auch Erfahrung. Drei prominente Stichworte der soziologischen, aber auch der öffentlichen Diskussion sind »Prekarität«, »Vulnerabilität« und »Exklusion«.5 Hier geht es primär um die Veränderungen der Arbeitswelt, zum Beispiel um die deutliche und anhaltende Zunahme unsicherer und unverbindlicher Beschäftigungsverhältnisse. Dazu zählen Beschäftigungsverhältnisse auf Leihbasis oder im Bereich der Niedriglohntätigkeit. Auf diese Weise verändern sich auch die Mobilitätsformen in der Arbeitswelt. Aufstieg durch Erwerbstätigkeit wird schwieriger, wenn das Arbeitsleben projektförmiger, joborientierter und kontingenter wird. Aber auch der Wandel des Wohlfahrtsstaates spielt eine zentrale Rolle. Der Wohlfahrtsstaat als spezifische rechtliche und politische Programmatik hat sein Arbeitsprogramm von Statussicherung auf Chancenermöglichung umgestellt. Dieses Arbeitsprogramm verzichtet auf universale Integrationsansprüche, es bietet keine auf Dauer gestellte Lebensstandard- und Statussicherung mehr, und eine Dämpfung sozialer Ungleichheit wird in diesem Programm eher als ökonomisch kontraproduktiv betrachtet. Der Wohlfahrtsstaat bietet keinen Statusschutz, sondern er gewährleistet Rahmenbedingungen. Die »Wohlfahrtsproduktion« wird auf diese Weise mehr und mehr zu einem »Wohlfahrtsmarkt«. Entlang dieser Veränderungen der Arbeitswelt und des Wohlfahrtsstaates lassen sich die sozialen Kreise der Armut markieren.

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Vgl. Berthold Vogel, Die Furcht vor dem Weniger. Welche Zukunft hat die Mitte?, in: Sozialer Fortschritt 12 (2011), 274–281. Vgl. Berthold Vogel, Sicher – prekär, in: Stephan Lessenich/Frank Nullmeier (Hg.), Deutschland. Eine gespaltene Gesellschaft, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, 73–91.

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Ein exemplarischer Fall für die sich ausweitenden Kreise der Armut ist das Wachstum einer sozialen Gruppe am Arbeitsmarkt, die als »working poor« beschrieben werden. Die »working poor« nehmen aktiv am Erwerbsleben teil, sie sind überwiegend beruflich qualifiziert, aber es gelingt ihnen dennoch nicht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, die sie hinreichend finanziell versorgt. Sie sind arm trotz ihrer Beteiligung am Arbeitsleben. Sie sind der Ausdruck einer zunehmend fragmentierten, auch ethnisch gespaltenen Arbeiterschaft. Denn in der sozialen Gliederung der Arbeitswelt kommen in einer Zuwanderergesellschaft nicht mehr nur berufliche und qualifikatorische oder regionale Unterschiede zum Ausdruck, sondern in starkem Maße auch Migrationsgeschichte. In der Tatsache der Armut trotz Arbeit spiegeln sich daher auch Zuwanderungswellen und ethnisch strukturierte Arbeitsmärkte – sei es im Baugewerbe, in der Altenpflege oder in der Gastronomie. Wer von Armut spricht, der muss seinen Blick auch auf die Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen richten, die aufgrund ihres Alters, ihrer (fehlenden) Qualifikation, ihrer Zuwanderungsgeschichte keinen Zugang zu den Quellen des Wohlstands finden. Sie bleiben vom Erwerbsleben ausgeschlossen. Zwar gilt Deutschland als wirtschaftliches Erfolgsmodell in Europa, das stabile Industriestrukturen vorzuweisen hat, innovative Produkte herstellt und dessen Arbeitsmärkte nur relativ geringe Arbeitslosenquoten kennen. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich innerhalb der Arbeitslosigkeit eine problematische Struktur. Annähernd die Hälfte aller Arbeitslosen in Deutschland sind Langzeitarbeitslose.6 Der Verlust der Arbeit ist daher überdurchschnittlich häufig eine dauerhafte oder periodisch immer wieder kehrende Erfahrung. Arbeitslosigkeit wird dann zu einem Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist und die Erfahrung manifestiert, gesellschaftlich nicht dazuzugehören. Schließlich bezieht sich die sozialwissenschaftliche Diskussion um Armut auch auf die Bewohner ländlicher Abwanderungsgebiete. Sie sind immobil und können den absteigenden, sich allmählich entleerenden Dörfern und Kleinstädten nicht »entkommen«. Es gibt auch hierzulande – und erst recht im europäischen Kontext – wieder dörfliche bzw. ländliche Armut, die neben dem Wohlstand der Städte Vgl. Alexander Hagelüken, 16 Millionen seit langem ohne Arbeit, Süddeutsche.de vom 09.07.2015, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/oecd-laendermillionen-seit-langem-ohne-arbeit-1.2558471.

existiert. Gerade bei der zuletzt genannten Gruppe kommt dann nicht nur individuelle oder familiäre Armut ins Spiel, sondern auch öffentliche Armut. Zu dieser öffentlichen Armut zählt der Mangel an Einrichtungen der Daseinsvorsorge oder an öffentlichen Gütern, die zum Gelingen eines Gemeinwesens beitragen. Die infrastrukturelle Seite der Armutspolitik kommt in den Blick.7

3. Armut – verstanden als Provokation – kann die Hefe im Teig der gesellschaftlichen Entwicklung sein Armut ist auf der individuellen und familiären Ebene eine in der Regel deklassierende und beschämende Erfahrung. Ja, noch mehr: Armut zerstört soziale Beziehungen, sie macht physisch, psychisch und soziokulturell verwundbar, sie blockiert eine Lebensführung auf sicherer Grundlage. Wenn wir uns von der Ebene der individuellen Erfahrung weg bewegen, dann kann Armut allerdings in der Perspektive des sozialen Wandels auch die Hefe im Teig der gesellschaftlichen Wirklichkeit sein. Möglicherweise ist diese Perspektive irritierend – aber berührt Armut in ihrer Sichtbarkeit und sozialpolitischen Präsenz nicht immer auch die Grundlagen des sozialen Ganzen? In welcher Weise reagieren Gesellschaften auf die Tatsache der Armut? Strafend oder barmherzig? Ausgrenzend oder sorgend? Armut fordert auf, Konflikte einzugehen, Institutionen zu bilden, Ideen des Sozialen zu entwickeln. Armut wirft die Fragen auf: Was ist gesellschaftlicher Fortschritt? Wer sind dessen Profiteure? Wer zahlt welchen Preis in den Veränderungen des Arbeitslebens, im Rahmen der technologischen Entwicklung oder in der Neujustierung des Wohlfahrtsstaates? Mit diesen Fragen sind Aspekte der Legitimität des Politischen verbunden. Welche Antworten finden Politik und Recht, Wirtschaft und Markt auf die Herausforderungen desintegrativer Kräfte? Am Erfolg der Armutsbekämpfung bemisst sich somit auch der Erfolg einer generalisierenden, auf soziale Kohäsion zielenden Politik. Diese Politik findet ihre Bezugspunkte im bereits erwähnten Begriff der Infrastruktur, aber auch in den Begriffen der guten Verwaltung und des Gemeinwohls. Infrastrukturen sind die sachlichen Voraussetzungen und 7

Vgl. Berthold Vogel, Wohlstandskonflikte?! Anmerkungen zu den Folgen des demografischen Wandels für Gemeinsinn und sozialen Zusammenhalt, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hg.), Landflucht 3.0. Welche Zukunft hat der ländliche Raum? Freiburg 2015, 34–42.

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Medien des Gemeinwohls. Der Ausbau der öffentlichen Verwaltung verwandelte gerade in Armutsfragen die nachholende Fürsorge in eine planende Vorsorge. Der Zweck der Infrastrukturentwicklung lag dabei weniger darin, Armut überlebensfähig zu gestalten, sondern das Alltagsleben der Bevölkerung durch Verkehrseinrichtungen, Gesundheitsvorsorge und Bildungsangebote systematisch zu stärken – und auf diese Weise auch Armut zu verhindern. Damit einhergehend wurden insbesondere mit Blick auf den Kampf gegen Armut und soziale Deklassierung Verfahren der Sozialstatistik entwickelt, Wissensbestände der Sozialmedizin erweitert und Ressourcen der Sozialverwaltung verstärkt.8 Die Sorge um Armut – mag sie paternalistisch oder demokratisch motiviert sein – forciert soziale Innovationen.

4. Armut mobilisiert und politisiert Gesellschaften Dass Armut Gesellschaften mobilisiert und grundsätzliche Fragen des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenlebens aufwirft, ist kein neues Phänomen. Das zeigen schon frühe Quellen. So formuliert der Hallenser Gelehrte Christian Wolff (1679–1754) als protestantischer Aufklärer im 18. Jahrhundert: »Die Absicht eines Staates besteht im hinlänglichen Lebensunterhalt (sufficentia vitae), d. i. im Überfluss alles dessen, was zur Notdurft, zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen des Lebens, auch zur Glückseligkeit der Menschen erfordert wird, in der inneren Ruhe des Staates (tranquillitas civitatis) […] und der Sicherheit (securitas) […]. Die Wohlfahrt eines Staates aber (salus civitatis) besteht in dem Genuß des hinlänglichen Lebensunterhalts, der Ruhe und der Sicherheit. Insoweit diese nun zu erhalten stehet, wird es das gemeine Beste (bonum publicum) genannt«.9 Der Staat schafft sorgende Institutionen. Die cura promovendae salutis erscheint auf der Tagesordnung. Die Bewirtschaftung der und die soziale Sorge um die Armutspopulationen spielen bereits in vorkapitalistischen 8 9

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Vgl. exemplarisch: Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat: Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt am Main/New York 1982. Vgl. Jus naturae methodo scientifica pertractatum, Frankfurt am Main/Leipzig 1740 (Nachdruck Hildesheim 1972), Bd. 8, § 13.

Zeiten bei den Kameralisten und Merkantilisten eine große Rolle. Diese cura ist auch ein Akt der Selbstbehauptung des frühneuzeitlichen Staates gegenüber dem Anspruch der Kirche, Armut zu regulieren und damit auch Gesellschaft zu kontrollieren. Armenpolitik wird Teil der »guten Policey«.10 Zum Aufbau politischer und administrativer Einrichtungen der Wohlfahrt und zu Ansätzen einer Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaates kommt es beispielsweise in Frankreich während der Ersten Republik. Im Verfassungstext vom 24. Juni 1793 findet sich in Artikel 21 der Passus: »Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Bürgern den Unterhalt, sei es, dass sie ihnen Arbeit verschafft, sei es, dass sie denen, welche zu arbeiten außerstande sind, die Existenzmittel gewährt.«11 Diese Formulierungen skizzieren Revolutionäres, das uns heute als Selbstverständlichkeit erscheint: Sie bringen ein neues Gesellschaftsverständnis, eine Neudefinition sozialer Beziehungen und eine neuartige Politisierung des Sozialen zum Ausdruck. Mit der Etablierung und Durchsetzung einer öffentlichen Wohlfahrtspolitik war der Startschuss gegeben für den Wandel von einer ständisch-stabilitätsorientierten hin zu einer mobil-aufstiegsorientierten Gesellschaftsordnung. Die soziale Provokation der Armut sorgte für eine Mobilisierung der Gesellschaft! Stabile Armut war kein Schicksal mehr. Die unbestimmte Zukunft, die Möglichkeit, etwas aus sich zu machen, vorwärts zu kommen, aufzusteigen, wurde nun Gegenstand der Politik.

5. Armut hat institutionelle Effekte An der komplexen Struktur und Lebenswelt der Armut lässt sich daher auch erkennen, wie sich in historischer Perspektive die Machtbalancen zwischen Kirche und Staat verschoben haben. Der Staat drängt seit dem 17. Jahrhundert vermehrt auf das Feld der Armenfürsorge, der Bildung an Schulen und Hochschulen, der karitativen Einrichtungen der Kran10

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Vgl. Peter Blickle/Peter Kissling/Heinrich Richard Schmidt (Hg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland, Frankfurt am Main 2003; Andrea Iseli, Gute Policey: Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009; Thomas Simon, »Gute Policey« – Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2004. Text in Walter Grab (Hg.), Die Französische Revolution. Eine Dokumentation. 68 Quellentexte und eine Zeittafel, München 1973, 152.

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kenpflege – kurzum: auf kirchlich besetztes Terrain. Der französische Soziologe Robert Castel oder auch der niederländische Historiker Abram de Swaan beschreiben diese Verschiebungen in den Machtbalancen jeweils in sehr interessanter Weise; Castel in »Die Metamorphosen der soziale Frage«12, de Swaan in »Der sorgende Staat«13. Sichtbar wird in ihren sozialhistorischen Analysen ein Konkurrenzverhältnis zwischen Staat und Kirche, das bis heute produktiv wirkt. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass der allmähliche Aufbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen eben nicht nur eine neues soziales Sicherungs- und Schutzsystem etablierte, sondern dass mit der Entwicklung der Wohlfahrtsstaatlichkeit zugleich auch der Startschuss für den Wandel von einer ständisch-stabilitätsorientierten hin zu einer mobil-aufstiegsorientierten Gesellschaftsordnung erfolgte. Woraus bezog die Entwicklung von der paternalistisch gewährten Wohlfahrt und Armenfürsorge im aufgeklärten Absolutismus hin zur demokratisch legitimierten Wohlfahrtsstaatlichkeit mit ihren sozialen Sicherungssystemen ihre Kräfte und Ideen? Wer waren die Träger und Treiber? Bemerkenswerterweise haben Politiken sozialer Integration und Kohäsion gerade in den eher staatskritischen und -distanzierten Milieus des 19. Jahrhunderts ihre starken Kraftquellen gefunden. Das gilt mit Blick auf den politischen Liberalismus, auf das sozialdemokratisch geprägte Genossenschaftswesen und insbesondere hinsichtlich des sozialen Katholizismus, der sich aus katholischen Laienverbänden und Vereinsorganisationen entwickelte.14 Der hegemoniale Erfolg der säkularen Industriegesellschaft forderte Aktivitäten im katholischen Sozialmilieu heraus. Exemplarisch kann hier der Mainzer Bischof und Sozialethiker Friedrich Wilhelm Ketteler genannt werden. Er war wesentlicher Impulsgeber der päpstlichen Sozialenzykliken »Rerum novarum« und »Immortale Die« von Papst Leo XIII. In dem expandierenden Milieu des katholischen Vereinswesens entfaltet sich der staatskritische wie staatszugewandte Gedanke der Subsidiarität, der sich sowohl auf Strukturen der Selbsthilfe und Selbstorganisa12 13 14

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Vgl. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000. Vgl. Abram de Swaan, Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit, Frankfurt am Main 1993. Vgl. Hans Maier, Katholizismus und Demokratie, Schriften zu Kirche und Gesellschaft 1, Freiburg i. Br. 1983; sowie Kees van Kersbergen, Social Capitalism. A Study of Christian Democracy and the Welfare State, London 1996.

tion stützt als auch auf die unbedingte Notwendigkeit des staatlichen Schutzes dieser Selbsthilfe. Die Befürwortung einer interventionsfähigen und daseinsbesorgten Staatlichkeit ist in der katholischen Soziallehre immer mit der dezidierten Kritik staatlicher Allzuständigkeit und bürokratischer Vermachtung des Sozialen verbunden. Das »Recht der kleinen Kreise« als ordnungspolitisches Modell der Subsidiarität lebt gleichermaßen vom Staat und gegen den Staat. Die Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip forcierte die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung. Es entwickelte sich in seiner programmatischen Ausstrahlung zur Erfolgsbasis des modernen Wohlfahrtsstaates, insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, forciert durch Oswald von Nell-Breuning (1890– 1991).15 Nicht nur, aber gerade auch in der Armutspolitik wurde die Nachrangigkeit des Staates als zentrale Strategie der Bekämpfung sozialer Benachteiligung ins Feld geführt. Die Bekämpfung der Armut – als soziale Provokation – ist nicht nur Staatsaufgabe, sie ist zuallererst Gesellschaftsauftrag.

6. Gesellschaften reagieren auf Armut, indem sie Institutionen der Armutsbewirtschaftung erfinden Der Wohlfahrtsstaat als politisches Projekt und rechtliches Verfahren ist eine soziale Invention und Intervention. Die katholische Soziallehre ist eine zentrale und für die Konstitution des modernen Wohlfahrts- und Sozialstaats wesentliche Quelle. Die katholische Soziallehre verfügt über eine spezifische normative Energie, die darin besteht, dass sie gleichermaßen und durchaus widersprüchlich durch ihren Staatsbezug und ihre Staatsdistanz geprägt ist. Auf diese Weise begründet sie eine Ethik der Solidarität und der Subsidiarität. Die Gedanken der wechselseitigen Verantwortung und des hilfreichen Beistands prägen das sozialkatholische Denken – und das gesellschaftspolitische Denken! Wichtig ist hierbei, dass das »Recht der kleinen Kreise« als ordnungspolitisches Modell der Subsidiarität gleichermaßen vom und gegen den Staat lebt. Hierdurch ist ein eigenes gesellschaftspolitisches Feld entstanden – die karitative und diakonische Praxis, die Kirche und Religion mit der Gesellschaft verknüpft. Fragen der Kirche werden zu Fra15

Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Erwägungen zum Subsidiaritätsprinzip, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft heute, Band 1: Grundfragen, Freiburg i. Br. 1956, 67–78.

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gen der Gesellschaft, und Fragen der Gesellschaft werden zu Fragen der Kirche. Es ist die enge Verbindung (d. h. Bündnis und Konflikt) von Staat und Kirche, die gesellschaftliche Antworten auf die Armutsfrage liefert und die erst das möglich macht, was wir heute als Wohlfahrtsstaat bezeichnen. Das frühneuzeitliche Verhältnis von Policeyordnung, Caritas und Pietismus als Reaktionsmuster auf soziale Fragen und als Aktivitätspotentiale für soziale Fragen hat sich im modernen Rechts- und Sozialstaat selbstverständlich grundlegend gewandelt, bleibt aber als Grundverhältnis des Sozialen bis heute bestehen. Die These lautet: Produktivität durch Provokation! Kirchliche und religiös gebundene Sozialpolitik hat dadurch an Qualität und gesellschaftlicher Wirkkraft gewonnen, dass sie durch staatliche, kommunale, gewerkschaftliche oder unternehmerische Aktivitäten immer wieder herausgefordert wurde. Zunächst sah es wie ein Verlust für die Kirchen aus, doch langfristig hat sich diese Konkurrenz in einen Gewinn verwandelt. Denn die Kirchen und die christlichen Religionsgemeinschaften sind heute aus den wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen moderner demokratischer und rechtsstaatlicher Gesellschaften nicht mehr wegzudenken. Das gilt hierzulande, das gilt in Frankreich, in Skandinavien und erst recht in den Vereinigten Staaten.

7. Armut als globale Provokation – und die Potentiale der Kirchen und Religionsgemeinschaften Die wahrscheinlich größte Zukunftsherausforderung für die nationale wie internationale Politik, aber auch für Kirchen und Religionsgemeinschaften als »global player« sind aus sozialwissenschaftlicher Sicht die markanten sozialen und ökonomischen Ungleichheiten bzw. die weltweit wachsenden ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte zwischen kolossalem Reichtum und eklatanter Armut. Sie gilt es einzuhegen sowie politisch und normativ zu bearbeiten. Denn wachsende und eskalierende gesellschaftliche Ungleichheiten sind die Konfliktpotentiale, die Kriegen, Flucht und Vertreibung ständig neue Nahrung geben. In der Hege und Dämpfung dieser Konfliktpotentiale liegen gleichermaßen christliche und islamische Perspektiven und Handlungsfelder. Religion ist Chance und Ressource, jedenfalls weit mehr als ein wohlfeiler Wertekanon, der bei passender Gelegenheit aufgerufen werden kann. Denn gerade mit Blick auf die kritischen Herausforderungen der Gesell64

schaft, z. B. in Fragen der Armut und des sozialen Ausschlusses, bietet Religion Handlungsimpulse, die die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne egalitärer und gerechter Strukturen voranbringen können. Religion besitzt eine starke normative Kraft: Das gilt mit Blick auf die religiös begründete Idee der Gemeinschaft, auf die Wertschätzung der Solidarität als soziale Tugend, auf die Haltung und Praxis der Barmherzigkeit und auf die Hervorhebung der absoluten Gleichwertigkeit menschlichen Daseins (Gottesebenbildlichkeit). Wir finden im globalen Maßstab in den Religionen und Glaubenspraktiken keineswegs nur den Anlass für Streit, Zwist und Zorn, sondern vielmehr die Quellen, aus denen heraus Antworten auf die globale Herausforderung der Armut gefunden werden können. Diese Quellen repräsentieren die Hoffnung auf eine neue, auch sozialpolitisch begründete Ökumene, die die sozialen Menschenrechte stärkt.

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Option für die Armen Theologische Sensibilität für Ausgeschlossene Ansgar Kreutzer

Einleitung. Die symbolische Dimension von Armut »Alle [in den materiell wohlhabenden Ländern] haben genug zu essen, keiner geht unbekleidet, und jeder hat ein Dach über dem Kopf. Ebenso haben alle Zugang zu schulischen, medizinischen und kulturellen Einrichtungen. Not im eigentlichen Sinne dieses Wortes braucht niemand mehr zu leiden.« So zitiert die Journalistin Kathrin Hartmann in ihrer engagierten Reportage über Armut und Exklusion »Wir müssen leider draußen bleiben« einen »neokonservativen Sozialwissenschaftler«.1 Es hängt viel davon ab, was man unter »Not im eigentlichen Sinne« versteht: Leidet Not nur, wer Hunger hat, friert, kein eigenes Bett besitzt, wem keine schulische, medizinische und kulturelle Minimalversorgung zu Verfügung steht? Hartmann erzählt in ihrem Buch eine Kontrastgeschichte zu dem von ihr angeführten Zitat:2 Frau Müller ist alleinerziehende Mutter von sechs Kindern. Um über die Runden zu kommen, besorgt sie sich häufig Essen von gemeinnützigen Lebensmitteltafeln. Dort werden einwandfreie Nahrungsmittel, deren Haltbarkeitsdatum jedoch abgelaufen ist, gegen ein geringes Entgelt an Bedürftige abgegeben.3 »Ihren kleineren Kindern sagt Elisabeth Müller 1 2 3

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Zit. n. Kathrin Hartmann, Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft, München 2012, 21 f. (Einschub durch die Autorin). Vgl. ebd. 40 ff. Vgl. zum Phänomen der Lebensmitteltafeln und einer theologischen Kritik am damit bewirkten sozialen Ausschluss auf symbolischer Ebene: Ansgar Kreutzer, Brot und Rosen. Die Symbolik von Inklusion und Exklusion aus systematisch-theologischer Sicht, in: Edeltraud Koller/Michael Rosenberger/Anita Schwantner (Hg.), Werke der Barmherzigkeit. Mittel zur Gewissensberuhigung oder Motor zur Strukturveränderung? (Linzer WiEGe Rei-

deshalb, dass Montag der ›Einkaufstag‹ sei. Seit sie in einer Fotogeschichte in einem Stadtmagazin erzählt habe, dass sie Essen bei der Tafel hole, seien ihre Kinder im Kindergarten und in der Schule ausgelacht worden: ›Igitt, dein Pausenbrot ist ja vom Müll!‹«4 Um solchem Spott zu entgehen, vermeidet Frau Müllers Tochter Klara den Freibadbesuch mit Freundinnen. »Zwar ist der Eintritt für Bedürftige in München kostenlos. Doch wenn Klara ihren München-Pass an der Kasse vorzeigt, lachen die andren sie wegen ihres ›Penner-Passes‹ aus.«5 Not in der Wohlstandsgesellschaft hat andere Gesichter als in den ärmsten Regionen der Welt. Dennoch ist unsere Wahrnehmung von Armut durch die massenmediale Berichterstattung aus Entwicklungsländern geprägt. »[Man] glaubt […] irrtümlich, Armut in Kamenz, Karlsruhe oder Kassel sei weniger problematisch als solche in Kalkutta, Kapstadt oder Karatschi, sodass es sich überhaupt nicht lohne, darüber zu sprechen. Dabei kann Armut hierzulande sogar erniedrigender, bedrückender und bedrängender sein, weil vor allem Kinder und Jugendliche in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren einem viel stärkeren Druck seitens der Werbeindustrie wie auch ihrer Spielkamerad(inn)en und Mitschüler/innen unterworfen sind, durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter ›mitzuhalten‹, als in einer weniger wohlhabenden Umgebung.«6 Armut in

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he. Beiträge zu Wirtschaft – Ethik – Gesellschaft 5), Linz 2013, 118–133 (http://ku-linz.at/fileadmin/user_upload/WiEGe/liwirei-band_5.pdf). Hartmann, Wir müssen leider draußen bleiben (s. Anm. 1), 43. Ebd. 47. Christoph Butterwege, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Frankfurt/M. 22011, 14 f. Auf diese Relativierung der vermeintlich »kleinen Not« in Wohlstandsgesellschaften durch den Hinweis auf die immer noch größeren materiellen Entbehrungen in wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern haben Pierre Bourdieu und seine MitarbeiterInnen in der wichtigen empirischen Studie »Das Elend der Welt« eindrücklich aufmerksam gemacht: »Doch indem man die große Not zum ausschließlichen Maß aller Formen der Not erhebt, versagt man sich, einen ganzen Teil der Leiden wahrzunehmen und zu verstehen, die für eine soziale Ordnung charakteristisch sind, die gewiß die große Not zurückgedrängt hat (allerdings weniger als zuweilen behauptet wird), im Zuge ihrer Ausdifferenzierung aber auch vermehrt soziale Räume […] und damit Bedingungen geschaffen hat, die eine beispiellose Entwicklung aller Formen kleiner Nöte begünstigt haben.« (Pierre Bourdieu u. a., Das Elend der Welt. Gekürzte Studienausgabe, Konstanz 2005, 18) Zur Bedeutung der sozioökonomische und soziokulturelle (u. a. symbolische) Dimensionen zusammendenkenden Soziologie Bourdieus für eine politisch sensible Theologie

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reichen Ländern äußert sich weniger materiell als soziokulturell. Ihre Ausdrucksform ist nicht nur der Mangel an im biologischen Sinne Lebensnotwendigem, an Essen, Wärme, Obdach, medizinischer Grundversorgung. Armut wird primär als symbolische Zurücksetzung und Ausgrenzung erfahren. »Soziale Inklusionen und Exklusionen manifestieren sich auf einer symbolischen Ebene.«7 Dies lässt sich, um ein Beispiel herauszugreifen, mit dem exzessiven Handykonsum gerade materiell unterprivilegierter Schichten belegen. Ausgerechnet Menschen mit geringer Kaufkraft greifen zu solchen »Luxusgütern«, weil sie auf deren Symbolwert abzielen: »Das Mobiltelefon ist symbolisch aufgeladen: Weil man damit überall und mit jedem kommunizieren, oft filmen und via Internet wahrgenommen werden kann, steht es […] auch für freie Rede, ja für Meinungsfreiheit und Demokratie. […] Bedürftigen das Recht auf ein Handy abzuerkennen, heißt nichts anderes als: Ihr dürft nicht mehr mitreden. Ihr gehört nicht mehr dazu. Ihr müsst leider draußen bleiben.«8 Diese Form von Armut, die über soziale Ausgrenzung erlebt wird und sich symbolisch äußert, ist charakteristisch für unsere Wohlstandsgesellschaften.9 Die These der folgenden Überlegungen lautet: Ausgerechnet die von einem Papst »vom anderen Ende der Welt«10 neu konturierte Form einer

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9 10

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vgl. Ansgar Kreutzer, Die Kunst, nicht auszuschließen. Christliche Gottesrede in der Distinktionsgesellschaft, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 161 (2013), 69–81; ders., Aktualisierung der Politischen Theologie. Impulse aus dem Werk Pierre Bourdieus, in: Theologische Quartalschrift 194 (2014), 343–360. Aida Bosch, Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld 22011. In dieser Studie zeigt die Autorin auf empirischem Wege die zentrale Bedeutung von Konsum und Konsumgütern für sozialen Einund Ausschluss: »Das vorliegende Buch handelt von den symbolischen Formen der Inklusion und Exklusion der spätmodernen Gesellschaft, in der Konsum und Besitz bestimmter modischer Dinge und ihrer ›symbolischen Aura‹ so bedeutend für die gesellschaftliche Integration und Prozesse der Identitätsbildung geworden sind.« (ebd. 9) Hartmann, Wir müssen leider draußen bleiben (s. Anm. 1), 18. Hartmann verweist gleichzeitig darauf, dass nur 20 % der Deutschen »finden, dass ein Handy zum Existenzminimum für Hartz IV-Empfänger gehört« (ebd.). Die hohe Bedeutung von Kommunikationsmedien für soziale Inklusion bestätigt: Bosch, Konsum (s. Anm. 7), 366–403. Vgl. zu den verschiedenen, keineswegs nur materiellen Erscheinungsformen von Armut den vielschichtigen Beitrag von Berthold Vogel in diesem Band. Papst Franziskus hat sich aufgrund seiner argentinischen Herkunft gleich in seiner ersten Ansprache nach seiner Wahl in Rom als »Papst vom anderen

theologischen »Option für die Armen« ist dazu angetan, Armut auch in unseren reichen Gesellschaften sensibel wahrzunehmen und politisch zu bekämpfen. Dazu wird zunächst die besondere Version einer »Option für die Armen«, wie sie Papst Franziskus/Jorge Mario Bergoglio als programmatische Grundlinie seines Pontifikats entwirft, skizziert (1). Dann wird in Aufnahme des religionswissenschaftlichen Modells von Clifford Geertz die »Option für die Armen« als ein theologisches Grundaxiom des Christentums auszuweisen versucht (2). Schließlich deutet der letzte Abschnitt spezifische Beiträge der Religion(en) für Wahrnehmung und Kritik von Armut unter den Bedingungen der Wohlstandsgesellschaften an (3).

1. Programmatik: »Eine arme Kirche für die Armen«. Die Option für die Armen bei Papst Franziskus In einer Audienz kurz nach seiner Wahl zum Papst verkündete Franziskus das Motto seines Pontifikates: »Ach, wie möchte ich eine arme Kirche für die Armen.«11 Um seine theologische Programmatik zu erfassen, ist es sinnvoll, diese beiden Aspekte seiner Vision von einer »armen Kirche – für die Armen« zu beleuchten:12

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Ende der Welt« bezeichnet. Vgl. unter unzähligen Medienberichten z. B. den Artikel in der österreichischen Zeitung Kurier nach der Papstwahl: »Ein Papst vom anderen Ende der Welt« (www.kurier.at/politik/weltchronik/einpapst-vom-anderen-ende-der-welt/5.408.268). Audienz für die Vertreter der sozialen Kommunikationsmittel, Ansprache von Papst Franziskus am 16.03.2013, zit. n. Nancy Raimondo, Franziskus, der Papst vom Ende der Welt für die Welt. Zwei Pinselstriche seines Denkens und seiner Pastoral in Argentinien, in: Magdalena M. Holztrattner (Hg.), Innovation Armut. Wohin führt Papst Franziskus die Kirche? Innsbruck/Wien 2013, 29–49, 38. Franziskus nimmt die für sein Pontifikat repräsentative Formulierung einer armen Kirche für die Armen auch in seinem programmatischen Apostolischen Schreiben »Evangelii gaudium« (EG) wieder auf: Franziskus, Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben »Evangelii gaudium« über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Freiburg 2013, Nr. 198. Als Überblick zu Programm, Theologie und Rezeption von Papst Franziskus vgl. u. a. das Themenheft »Phänomen Franziskus« der Theologisch-praktischen Quartalschrift 163 (2015), H. 1. Im größeren theologiegeschichtlichen Zusammenhang ist Franziskus der in Argentinien einflussreichen befreiungstheologischen Spielart der »Theologie des Volkes« zuzuordnen. Die »Theologie des Volkes« ist wie die ganze

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1.1

»… für die Armen«. Sozialethisches Programm

In einer Ansprache am 25.05.1999 zum argentinischen Nationalfeiertag, an dem der politischen Unabhängigkeit des Landes gedacht wird, prägte der einstige Kardinal von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, die merkwürdig anmutende Formulierung von der Notwendigkeit, »sich das Vaterland auf die Schultern [zu] laden«13. Mit dieser Metapher erinnerte er die Argentinier an ihre Verantwortung für eine solidarische, von sozialem Zusammenhalt geprägte Gesellschaft. Bergoglio forderte »ein Band, das die schmerzhafte Kluft zwischen jenen verkleinert, die mehr besitzen, und jenen, die weniger besitzen. Ein Band, das die Jugendlichen anzieht, die es schwer haben, ihre soziale Berufung zu finden. Ein Band, das die Liebe zu Kindern erneuert, vor allem zu jenen, die gering geschätzt werden und verarmt sind. Ein Band, das uns in Alarmbereitschaft versetzt, wenn jemand arbeitslos wird. Das unsere Solidarität und Gastfreundschaft weckt für ImmigrantInnen, die ins Land kommen – und immer wieder kommen dürfen – und die nichts besitzen als einen guten Willen. Ein Band, das uns vor allem den Alten gegenüber sorgsam sein lässt, die ihr Leben für uns verbraucht haben und ihren Platz in der Gesellschaft als Weise und LehrerInnen wiedererhalten sollen«14. Dabei verbindet Bergoglio mit dem von ihm hochgehaltenen Ethos von Zusammenhalt und wechselseitiger Unterstützung nicht primär schmerzlichen Verzicht zugunsten anderer. Gemeinschaftlichkeit ist eine schlichte Bedingung guter Gesellschaft und guten Lebens. »So verstandener und gelebter Dienst aus Liebe ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, ein Ehrenamt für Menschen mit überflüssiger Freizeit oder ein utopisches Gebot. Wenn wir davon ausgehen, dass das Leben ein Geschenk ist, dann

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Befreiungstheologie zutiefst von der »Option für die Armen« geleitet, fokussiert jedoch – eher soziokulturell als sozioökonomisch orientiert – insbesondere auf die Lebens-, Kultur- und Glaubensformen des »einfachen Volkes«, also der unterprivilegierten sozialen Schichten. Vgl. zur Charakterisierung der »Theologie des Volkes« etwa: Enrique C. Bianchi, Der Geist weht vom Süden her und drängt die Kirche hin zu den Armen, in: Holztrattner (Hg.), Innovation (s. Anm. 11), 51–61 und das wichtige Buch eines zentralen Vertreters dieser Richtung: Juan Carlos Scannone, Weisheit und Befreiung. Volkstheologie in Lateinamerika (Theologie interkulturell 5), Düsseldorf 1992. Zit. n. Raimondo, Franziskus (s. Anm. 11), 34. Zit. n. ebd.

sind wir unserem Wesen treu, wenn wir dienen.«15 Damit ist die Option für die Armen in Franziskus’ Sicht kein mildtätiges »Sich-Herabneigen« der selbstlos verzichtenden Reichen zu den bemitleidenswerten Almosenempfängern, sondern die zu gutem Leben gehörende Verwirklichung von Solidarität, Integration und Gemeinschaftlichkeit, die allen dient.

1.2

»Arme Kirche …«. Pastorales Programm

Papst Franziskus propagiert nicht bloß den Einsatz seiner Kirche für arme Menschen. Das Prinzip Armut soll zugleich Strukturen und Mentalitäten seiner Kirche durchdringen. Die »arme Kirche für die Armen« ist nicht nur ein sozialethisches, sondern auch ein pastorales, ja ein ekklesiologisches Programm. Immer wieder formuliert er den Imperativ, die kirchliche Selbstzentrierung aufzugeben und sich nach draußen, an die Peripherien von Kirche, Pastoral und Gesellschaft zu begeben: »Verlasst Eure Höhlen. Heute sage ich Euch wieder: Verlasst Eure Sakristeien, eure Pfarrbüros, euren VIP-Bereich: Geht hinaus.«16 An die Stelle einer Pastoral der Sakristeien, Büros und VIP-Lounges tritt eine »Pastoral des Hinterhofes, der Türen, der Häuser, der Straßen«17. Ähnlich wie in seiner sozialethischen Argumentation, wonach von einem integrativen Gemeinschaftsethos alle, nicht bloß die Außenseiter profitieren, ist Franziskus der festen Überzeugung, dass eine Kirche, die 15

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Raimondo, Franziskus (s. Anm. 11), 35. Das Gemeinschaftsethos, das die notwendige Einbindung Einzelner in sie tragende Sozialstrukturen betont, lässt sich auch als Charakteristikum der befreiungstheologischen »Theologie des Volkes« ansehen, wie sich etwa bei Lucio Gera, einem weiteren zentralen Vertreter dieser Richtung und einem entscheidenden Lehrer Bergoglios, zeigt: »Lucio Gera, der ›maestro en teología‹, wie Erzbischof Bergoglio ihn gewürdigt hat, hat gerade die Bezogenheit auf andere und das Bedürfnis der anderen als ein Charakteristikum dieses Verständnisses von ›Volk‹ herausgearbeitet. ›Die erste Bedingung, zu einem Volk zu gehören, ist das Bewusstsein, anderer zu bedürfen, und das ist für den Armen eine lebendige und verwundete Erfahrung.‹« (Margit Eckholt, Ein Papst des Volkes. Die lateinamerikanische Prägung von Papst Franziskus, in: Theologischpraktische Quartalschrift 163 [2015], 4–19, 14 [Zitat im Zitat von Lucio Gera in der Übers. v. Margit Eckholt]) Aus einer Predigt, zit. n. Raimondo, Franziskus (s. Anm. 11), 31. Zu dieser grundsätzlichen Ausrichtung der Kirche in Richtung auf die kirchliche und gesellschaftliche Peripherie vgl. Franz Gruber, Kirchenbild und Kirchenreform von Franziskus, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 163 (2015) 30–42. Aus einer Predigt, zit. n. Raimondo, Franziskus (s. Anm. 11), 33.

71

von den Armen und einer Haltung der Bescheidenheit bestimmt wird, eine gute Kirche für alle ist. In der Tradition der argentinischen »Theologie des Volkes« verleiht er den Armen, ihrem Ethos und ihrer Lebensweise ein sehr hohes normatives und theologisches Gewicht.18 Den für theologische Virtuosen reservierten Ehrentitel der Kirchenlehrer spricht er auch den Armen zu. Von ihnen sind die Grundlagen des Christentums, ist die spirituelle Beziehung zu Jesus Christus zu lernen, teilen sie doch dessen Schicksal von Armut und Ausgrenzung. »Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen.«19 Dieser Besinnung auf die Armen und ihre Lebensformen folgt eine veränderte, erweiterte Selbstsicht: Wer in die Schule der Armen geht, lernt, seine eigene Armut, seine eigene Zerbrechlichkeit und Bedürftigkeit anzuerkennen: Die Armen lehren uns, wie Franziskus in einer für ihn typischen poetischen Sprache formuliert, »unsere Zerbrechlichkeit zu umarmen«20. Mit diesem nicht nur ethischen, sondern auch theologischen Fokus auf Armut ist eine starke Aufwertung und Wertschätzung der Kultur armer Menschen verbunden: »Das schließt ein, den Armen in seinem besonderen Wert zu schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur und mit seiner Art, den Glauben zu leben.«21 Mit diesem Fokus auf die kulturellen Ebenen von Armut geht bei Franziskus eine Sensibilität für die mit Ausgrenzung und Einschluss verbundene Symboldimension einher, auf die wir eingangs 18

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72

In diesem Sinne einer epistemologischen und theologischen Aufwertung der Kultur breiterer und unterprivilegierter Schichten spricht die »Theologie des Volkes« von der »Volksweisheit«: »Der Begriff ›Volksweisheit‹ meint also zunächst einmal und ganz allgemein: die Weisheit des Volkes als eines geschichtlich-kulturellen Kollektivträgers eines gemeinsamen Lebensstiles, d. h. einer Kultur. Darüber hinaus bezeichnet dieser Begriff dann aber auch die Weisheit der Armen und Einfachen im Besonderen, die, weil sie das Privileg des Reichtums, der Macht des akademischen Wissens nicht genießen, eben darum auch nur Volk (nur ›Juan Pueblo‹, d. h. Herr Jedermann) sind.« (Scannone, Weisheit [s. Anm. 12], 69) EG 198 (Hervorh. von »lehren« v. A. K.). Aus einer Predigt, zit. n. Raimondo, Franziskus (s. Anm. 11), 32. EG 199. Damit ist bei Franziskus keine Idealisierung – und somit möglicherweise eine implizite Stabilisierung – von Armutsverhältnissen verbunden, sondern – im Gegenteil – der Aufruf zur Armutsbekämpfung: »Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, sodass sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können.« (EG 187)

angesichts von Armut in reichen Ländern ebenfalls das Augenmerk gelegt haben.

1.3

Symbolsensibilität

Im Apostolischen Lehrschreiben Evangelii gaudium bezieht der Papst die Aufforderung Jesu an seine Jünger »Gebt ihr ihnen zu essen!« (Mk 6,37) auf verschiedene Dimensionen des Umganges mit Armut, sowohl auf die »Mitarbeit, um die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung der Armen zu fördern, als auch [auf] die einfachsten und täglichen Gesten der Solidarität angesichts des ganz konkreten Elends, dem wir begegnen«22. Ohne Zweifel ist Franziskus’ Agieren durch eine ausgeprägte Symbolsensibilität gekennzeichnet. Dies durchzieht seine Amtsführung von Beginn an: »Vor allem aber waren es die Gesten, die Papst Franziskus im Nu zu einem neuen Hoffnungsträger der Kirche machten. Der berühmte erste Auftritt auf der Loggia des Petersdomes, ohne Mozetta und Goldkreuz, seine Selbstvorstellung als ›Bischof von Rom‹, seine einladenden Worte, gemeinsam nun den Weg zu beginnen, seine Bitte um das Gebet des Volkes vor dem Segen Urbi et orbi, der Verzicht auf Mercedesfahrt und päpstliches Appartement, sein aktives Zugehen auf die Menschen, seine Herzlichkeit und Spontaneität, vor allem auch sein Name, der den heiligen Poverello aus Assisi erstmals zum Vorbild für einen Papst macht – all das sind äußerst starke Zeichen für einen päpstlichen Amtsantritt, den es so noch nie gegeben hat.«23 Franziskus gibt seiner Programmatik einer »armen Kirche für die Armen« eine symboltheologische Form. Sie ist wegweisend für eine innovative Neufassung der Option für die Armen, die es theologisch zu vertiefen gilt.

2. Systematisierung: Eine symboltheologische Fassung der Option für die Armen Will man die symbolische Dimension, welche die christliche Option für die Armen hat, systematisch-theologisch erfassen, erweist sich das symbolorientierte Religionsverständnis von Clifford Geertz (1926–2006), der

22 23

EG 188 (Hervorh. A. K.). Gruber, Kirchenbild (s. Anm. 16), 31.

73

als Klassiker von Ethnologie und Religionswissenschaft gelten darf,24 als hilfreich.

2.1

Geertz’ symboltheoretisches Religionsmodell

Innerhalb seines Ansatzes einer interpretativen Ethnologie, die auf Sinnstrukturen kultureller Ausdrucksformen abhebt, hat Geertz die entscheidende Bedeutung von Symbolen herausgestrichen. In symbolischen Formen stellen sich »die Leute […] vor sich selbst und vor anderen [dar]«25. Um Religion adäquat zu interpretieren, muss daher auf zentrale religiöse Symboliken geachtet werden. Denn Symbole verbinden zwei wesentliche Dimensionen von Religion: ihre weltanschauliche Ebene, die Glaubensinhalte gewissermaßen, einerseits und die Ethik, die Vorstellungen von und Anweisungen zu gutem Leben, andererseits. »[H]eilige Symbole haben die Funktion, das Ethos eines Volkes – Stil, Charakter und Beschaffenheit seines Lebens, seine Ethik, ästhetische Ausrichtung und Stimmung – mit seiner Weltauffassung – dem Bild, das es über die Dinge in ihrer reinen Vorfindlichkeit hat, seinen Ordnungsvorstellungen im weitesten Sinne – zu verknüpfen.«26 Symbolen, also ästhetisch inszenierten Zeichen, die auf andere Wirklichkeiten als sie selbst verweisen, gelingt die Verbindung dieser beiden für Religionen so bedeutsamen Bereiche, weil sie – in Geertz’ Symboltheorie – die Fähigkeit zu einer doppelten Verweisung besitzen: Sie können einerseits etwas abbilden, 24

25 26

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Vgl. als kurze Überblicke etwa: Karsten Kumoll, Clifford Geertz. Die Ambivalenz kultureller Formen, in: Stephan Möbius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 22011, 168–177; Wilhelm Gräb, Clifford Geertz. Religion dicht beschreiben, in: Volker Drehsen/Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 204–215; Hans G. Kippenberg/Kocku von Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, 32–34; Ansgar Kreutzer, Kenopraxis. Eine handlungstheoretische Erschließung der Kenosis-Christologie, Freiburg 2011, 153–163. An Geertz’ Religionsmodell ist nicht zu Unrecht Kritik geübt worden, da es in – zumindest implizit – hegemonialer Form westlichchristliche Vorstellungen und Begriffe von Religion auch auf andere Kulturen übertrage (so mit Bezug auf Talal Asad: Kippenberg/von Stuckrad, Einführung, 34). Da es mir mit der »Option für die Armen« primär um eine Systematisierung eines Glaubensbestandes innerhalb der christlichen Tradition geht, scheint die Verwendung der Geertz’schen Konzepte in diesem Zusammenhang wissenschaftlich vertretbar und analytisch fruchtbar. Kippenberg/von Stuckrad, Einführung, 34. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 51997, 47.

etwas darstellen. Sie dienen in dieser Funktion als »Modelle von etwas«. Sie können aber auch etwas vorbilden, ein Muster abgeben. Symbole sind zugleich »Modelle für etwas«. Geertz erläutert dies beispielsweise anhand des Zusammenhangs von christlichem Gottesbild (»Gott als Liebe«: Abbildcharakter) und christlichem Ethos der »Nächstenliebe« (Vorbildcharakter): »Nächstenliebe wird zur christlichen Nächstenliebe, wenn sie in eine Vorstellung von Gottes Ratschluß eingebettet ist […].«27 Religiöse Symbole binden auf diese Weise, als Modelle von etwas und für etwas, theologische Inhalte und ethische Bestände aneinander. »Religiöse Symbole behaupten eine Grundübereinstimmung zwischen einem bestimmten Lebensstil und einer bestimmten (wenn auch meist impliziten) Metaphysik und stützen so jede Seite mit der Autorität der jeweils anderen.«28 Zu diesen beiden entscheidenden religiösen Dimensionen, den Glaubensinhalten und der ethischen Lebensweise, tritt in Geertz’ Religionsmodell noch ein dritter Phänomenbereich: die Rituale, in welche die bedeutungsschwangeren religiösen Symbole zumeist eingebunden sind. Auch Rituale tragen zur Verbindung von Theologie und Ethik bei, indem sie eine feierliche Aura schaffen, innerhalb derer die religiösen Inhalte geglaubt und die Gebote befolgt werden: »Denn es ist das Ritual, d. h. der Komplex heiliger Handlungen, in dessen Rahmen sich in der einen oder anderen Weise die Überzeugung herausbildet, daß religiöse Vorstellungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen und religiöse Verhaltensregeln begründet sind.«29 Dieses hier nur sehr knapp skizzierte Religionsmodell von Geertz lässt sich nutzen, um die »Option für die Armen« – wie sie Franziskus u. a. programmatisch fordern – als theologisches Grundaxiom, das Christentum und Kirche als Ganze durchwirkt, zu begreifen.

2.2

Die »Option für die Armen« als theologisches Grundaxiom

Legt man das Geertz’sche Schema von Religion (Weltauffassung/Glaubensinhalte – Ethos – Ritus) zugrunde, fällt es verhältnismäßig leicht, die Option für die Armen auf der Ebene der Ethik anzusiedeln. Längst ist theologiegeschichtlich die Aufforderung zur Solidarität mit den Armen aus dem Binnenraum der lateinamerikanischen Befreiungstheologie 27 28 29

Ebd. 58. Ebd. 47 f. Ebd. 78.

75

herausgetreten, wo sie einst formuliert wurde,30 und zu einem (durchaus überkonfessionellen) Allgemeingut kirchlicher Sozialverkündigung geworden.31 Option für die »Armen« meint dabei die sensible, solidarische und empathische Wahrnehmung derer, »die ›heute in unserer Mitte‹ am meisten ›leiden‹«32. »Option« bedeutet, dass in den Augen des Glaubens dem Armen besondere Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Zuwendung zukommt, ohne dadurch andere auszuschließen. Das »für« im Topos der »Option für die Armen« lässt sich als Anwaltschaft ohne Bevormundung verstehen, also »nicht nur zugunsten der Armen handeln zu wollen, sondern dabei von der Sicht der Armen selbst auszugehen«33. Papst Johan30

31

32 33

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Hier hat die »Option für die Armen« in dieser terminologischen Präzision ihren Entstehensort: vgl. etwa das befreiungstheologische Werk: Clodovis Boff/Jorge Pixley, Die Option für die Armen (Bibliothek der Theologie der Befreiung 1), Düsseldorf 1987, oder den instruktiven lexikalischen Überblick: Franz Weber, Option für die Armen, in: LThK3 7 (1998), 1078; zur Aktualisierung der Option für die Armen vgl. Magdalena Holztrattner (Hg.), Eine vorrangige Option für die Armen im 21. Jahrhundert? (Salzburger Theologische Studien 36), Innsbruck/Wien 2005; zu ihrer interdisziplinären Ausweitung: Clemens Sedmak (Hg.), Option für die Armen. Die Entmarginalisierung des Armutsbegriffs in den Wissenschaften, Freiburg/Basel/Wien 2005. Obwohl zumindest die Formulierung einer »Option für die Armen« eher der katholischen Tradition entstammt, lässt sie sich der Sache nach auch in der evangelischen Sozialethik finden (vgl. etwa Heinrich Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit [Öffentliche Theologie 4], Gütersloh 1993). Dass die Option für die Armen zum ökumenischen Allgemeingut gehört, belegt das sogenannte Ökumenische Sozialwort von 1997, in das sie prominent Einzug gehalten hat: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der DBK zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Bonn 1997, Nr. 105–107. Peter Knauer, Glaube befreit zur Option für die Armen, in: Holztrattner (Hg.), Option (s. Anm. 30), 37–59, 55. Ebd. Nur ein solch nicht-paternalistisches Verständnis der Option für die Armen, das sich deutlich bei Papst Franziskus zeigt, entgeht der Kritik, die Jürgen Moltmann – in diesem Sinne zu Recht – an der Formulierung geübt hat: »Meine Probleme mit der Formel ›preferential Option for the Poor‹ sind einmal, dass diese Option nicht die Option ›of the Poor‹ ist, zum anderen, dass die Armen nicht nur auf das angesprochen werden wollen, was ihnen in Beziehung zu den Reichen fehlt, sondern zuerst auf das, was sie sind, auf ihre Kräfte, ihre Kultur, ihre Rasse, ihr Geschlecht, ihre Religion und ihr Ethos.« (Jürgen Moltmann, Politische Theologie in ökumenischen Kontexten, in: Francis Schüssler Fiorenza/Klaus Tanner/Michael Welker (Hg.),

nes Paul II. hat klargestellt, dass sich die Solidarität mit Armen und Leidenden nicht in akuten Hilfsmaßnahmen erschöpfen darf, sondern es »ebenso auch notwendig ist, Strukturen zu verändern, die sich auf die Armen negativ auswirken«34. Das Motiv der Option für die Armen bleibt jedoch – folgt man Geertz’ Religionstheorie – nicht auf den Bereich der Ethik beschränkt. Es durchdringt auch die anderen Vollzüge christlicher Religion: Der ethischen Solidarität mit den Armen entspricht theologisch das Gottesbild eines zugunsten der Armen parteilichen Gottes. Diese genuin theologische Deutung von Armut findet sich u. a. in einem grundlegenden Text des für die katholische Kirche nach wie vor maßgeblichen II. Vatikanischen Konzils: »Christus wurde vom Vater gesandt, ›den Armen die frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind‹ (Lk 4,18), ›zu suchen und zu retten, was verloren war‹ (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.«35 Das Zentrum der christlichen Religion, die Christusgestalt, wird hier von der Idee der Armut und der Solidarität mit den Armen her erschlossen. Arme und Christus werden geradezu spirituell identifiziert: Wer den Armen dient, dient damit in eins Christus. Auch im rituellen Zentrum des Christentums steht – dem Geertz’schen Modell folgend – die Option für die Armen. Dies zeigt sich etwa in der evangelischen Abendmahlsfeier oder in der katholischen Eucharistie. Die Symbolik der liturgischen Mahlfeiern verbindet die Erinnerung an Jesus Christus, sein dramatisches Schicksal und seine theologische Deutung als von Gott in der Auferstehung ins Recht Gesetzter mit einer Ethik des Einsatzes für Ausgegrenzte und Arme, die ganz und gar aus Jesu solida-

34 35

Politische Theologie. Neuere Geschichte und Potenziale [Theologische Anstöße 1], Neukirchen-Vluyn 2011, 1–12, 5) Knauer, Glaube, 57 mit Verweis auf die Enzyklika Johannes Pauls II. Solicitudo rei socialis, Nr. 43. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vaticanums, Freiburg 261994, 123–200, Nr. 8. Vgl. auch die ausdrückliche theologische Deutung der Formulierung bei Papst Franziskus: »Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage.« (EG 198)

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rischer Lebensform spricht. Symboltheologisch konsequent werden in dieser heiligen Handlung die eingesetzten Symbole, die zum Verzehr bestimmten Grundnahrungsmittel Brot und Wein, mit der solidarischen Selbsthingabe Jesu Christi für andere identifiziert: »Dieses Interpretament [Brot und Wein, A. K.] hält Jesus in Erinnerung als einen, der sich in seinem Leben aufgerieben hat, damit andere nicht nur ›etwas‹ vom Leben haben, sondern ein Leben in Fülle möglich wird.«36 Die christlichen Mahlfeiern sind – in dieser Sicht – zugleich Erinnerung an den unbedingte Solidarität lebenden Gottessohn (Glaubensinhalt) und eine Vitalisierung der sich aus seiner Nachfolge ergebenden Solidarität (Ethik). Beide Ebenen werden in der sprechenden Symbolik von Brot und Wein zusammengehalten, die in eine idealiter ergreifende Feier eingebunden ist (Ritus). Mit Geertz’ mehrdimensionaler Religionstheorie lässt sich so eine grundlegende, wenn man so möchte, eine axiomatische Bedeutung erkennen, welche der Option für die Armen im Christentum in seinen wesentlichen Vollzügen, den Glaubensinhalten, der Ethik und der Liturgie, zukommt.37 Wie kann sich diese theologisch zentrale Bedeutung der Option für die Armen gesellschaftlich auswirken?

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37

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Hans-Joachim Höhn, Spüren. Die ästhetische Kraft der Sakramente (GlaubensWorte 4), Würzburg 2002, 87 f. Als christliches Zentralsymbol für die unbedingte Solidarität Jesu Christi könnte auch das besonders in der evangelischen Konfessionskultur zu Recht ins Zentrum gerückte Zeichen des Kreuzes stehen. Vgl. die Formulierung aus dem berühmten und christologisch zentralen biblischen Philipperhymnus: »er [Christus] erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.« (Phil 2,8) Auch bei Geertz findet sich der Hinweis auf das Kreuz als – vielschichtig zu interpretierendes – religiöses Symbol: vgl. Geertz, Beschreibung (s. Anm. 26), 49. Vgl. die Parallelen des Geertz’schen dreidimensionalen Modells von Religion (mit den Ebenen religiöse Weltauffassung, Ethos, Ritus) zu den sogenannten kirchlichen Grundvollzügen (Martyria, Diakonia, Leiturgia) in der christlich-theologischen Selbstsicht. Zur Theologie dieser Grundvollzüge vgl. z. B. Michael Sievernich, Kirchliche Grundvollzüge in epochalen Kontexten. Die Trias von Martyria, Leiturgia und Diakonia in der frühen und späten Moderne, in: Gerhard Gäde (Hg.), Hören – Glauben – Denken. FS Peter Knauer (Theologie: Forschung und Wissenschaft 14), Münster 2005, 361–377.

3. Konsequenzen: Gesellschaftliche Beiträge einer Symboltheologie der Armut 3.1

Sensibilität für das Thema Armut

Wenn die Option für die Armen so eng mit dem christlichen Selbstverständnis verbunden ist, dass es seine Grundvollzüge in Glaube, Ethik und Liturgie durchdringt, dann gehört es zur christlichen Kernidentität, die Themen Armut, Solidarität und Befreiung aus Strukturen von Entbehrung und Ausgrenzung auf die gesellschaftspolitische Tagesordnung zu setzen. Den christlichen Kirchen kommt schon aus ihrem eigenen, oben aufgezeigten theologischen Selbstverständnis heraus die zivilgesellschaftliche Rolle zu, Armut in der Gesellschaft sensibel wahrzunehmen, sie moralisch anzuprangern und sie diakonisch und politisch zurückzudrängen. Die christlichen Kirchen sind aus ihrer genuinen religiösen Identität heraus wichtige Bündnispartner von Staat und anderen gesellschaftlichen Gruppen, um gegen herrschende Armut im nationalen wie im globalen Maßstab vorzugehen.38

3.2

Sensibilität für die Symboldimension von Armut und Integration

Ein spezifischer Beitrag zur Armutsbekämpfung, den symbolorientierte Religionen wie das Christentum leisten können, liegt darin, gerade die kulturellen und symbolischen Formen von Armut, von sozialem Ausund Einschluss bewusst zu machen, die – wie eingangs gezeigt – für unsere Wohlstandsgesellschaften typisch sind.39 Hierfür gibt der symbolbewusste Papst Franziskus mit seiner Form der Option für die Armen ein Beispiel ab. In einer seiner populärsten Gesten führt Franziskus die Sym38

39

Vgl. allgemein zu Beiträgen einer politisch-öffentlich ausgerichteten Theologie und Kirche für die Zivilgesellschaft: Hans-Joachim Höhn, Fremde Heimat Kirche. Glauben in der Welt von heute, Freiburg 2012, bes. 55–67; Ansgar Kreutzer, Kirche und Theologie im Rahmen der Zivilgesellschaft, in: G. Krieger (Hg.), Bekenntnisorientiert und wissenschaftlich. Zur Zukunft der Theologie im Spannungsfeld von Kirche, Universität und Gesellschaft, Freiburg [im Erscheinen]. Vgl. zu symbolischen und kulturellen Beiträgen des Christentums für ein Ethos der Solidarität: Ansgar Kreutzer, Riten und Symbole entgrenzter Solidarität. Der kulturelle Beitrag des Christentums zum sozialen Zusammenhalt, in: Severin J. Lederhilger (Hg.), Wer ist mein Nächster? Das Soziale in der Ego-Gesellschaft, Frankfurt/M. u. a. 2014, 73–93.

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boldimension von Inklusions- und Exklusionsprozessen deutlich vor Augen: Am Gründonnerstag nimmt er den in der katholischen Liturgie für diesen Tag vorgesehenen Ritus der Fußwaschung an jugendlichen Strafgefangenen unterschiedlicher Religion in einem Gefängnis vor.40 Damit vollzieht er sehr gezielt einen zentralen diakonischen und integrierenden Ritus der katholischen Kirche an gesellschaftlich real exkludierten Menschen und verleiht den christlichen Leitbildern von Diakonie, sozialer Integration und der Bewahrung von Menschenwürde auch unter schwierigen Bedingungen Anschauung. Die äußerst positive mediale Aufnahme dieser Symbolhandlungen zeigt, dass in der heutigen Gesellschaft, in der religiöse Sinngehalte und Sprachformen zunehmend erodieren, Riten und Symbole eine größere Wirkkraft entfalten können als Worte. Zugleich hat der Papst die Bedeutung von Symbolen, von Zeichen und Gesten für die Wahrnehmung und Wirkung sozialer Integration unterstrichen.

3.3

Interreligiöse Allianz in der Verbindung von Ethik und (Symbol-)Ästhetik

Nicht nur das Christentum ist symbolbewusst, damit ästhetisch- oder »Form-sensibel«; der Islam ist es nicht minder. Gerade neuere religionsphilosophische und systematisch-theologische Reflexionen des Islams verweisen auf einen inneren Zusammenhang zwischen islamischem Religionsverständnis und einer Sensibilität für Form oder Ästhetik. Der in den USA wirkende, in Teheran geborene Islamwissenschaftler Seyyed Hossein Nasr etwa macht auf eine intrinsische Beziehung (»inner link«41) zwischen islamischer Spiritualität, der islamischen Offenbarungs- und Weltsicht einerseits und islamisch geprägter Kunst andererseits aufmerksam: »This [Islamic, A. K.] art crystallizes in the world of forms the inner realities of the Islamic revelation […].«42 Dabei geht es Nasr nicht nur darum, dass islamische Religiosität lediglich die »hochkulturelle« Kunstproduktion durchdringe, wie bildende Kunst oder Architektur. Er behauptet mit seiner engen Verbindung von Spiritualität und Kunst des Islams eine grundsätzliche »Formung« kultureller, auch alltäglicher Le40 41 42

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Vgl. unter vielen (darüber positiv berichtenden) Pressemitteilungen z. B.: www.welt.de/vermischtes/article139092439/Papst-waescht-Haeftlingen-dieFuesse-und-einem-Kind.html Seyyed Hossein Nasr, Islamic Art und Spirituality, New York 1987, 11. Ebd. 7.

bensvollzüge durch den islamischen Glauben. So lassen sich religiöse (Alltags-)Riten durchaus als selbstverständlich gewordene Verbindung von Ästhetik und Lebensform unter islamischen Vorzeichen lesen: »Islamic spirituality is of course also related to Islamic art through the manner in which the Islamic rites mould the mind and soul of all Muslims including the artist or artisan.«43 Für den deutschen Sprachraum einflussreich hat der deutschiranische Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani in einer eindrucksvollen Studie zu Sprache und Rezitationsformen des Korans ebenfalls herausgearbeitet, von welch zentraler Bedeutung die »ästhetische Dimension der Religion im muslimischen Selbstverständnis«44 ist. Auch Kermani betont dabei die Bedeutung der Alltagsästhetik für das Verständnis und die Ausübung der islamischen Religion. Wie Nasr möchte er die für die islamische Identität relevante Ästhetik keineswegs auf hochkulturelle Kunst unter dem Anspruch des Schönen enggeführt wissen. Der für seine Islaminterpretation entscheidende Ästhetikbegriff 43

44

Ebd. 10. Vgl. seine »alltagsreligiösen und -ästhetischen« Beispiele: »The daily prayers which punctuate the day and night and systematically break the strangling hold of daydreaming upon the soul, the proximity to virgin nature which is the primordial mosque that the mosque in Islamic cities and towns only emulate, the continuous references in the Quran to the eschatological realities and the fragilities of the world, the constant repetition of Quranic phrases which remould the soul of the Muslim into a mosaic of spiritual attitudes, the emphasis upon the grandeur of God which prevents any kind of Promethean humanism from taking place, and many other factors related to the particular genius of Islam have moulded and continue to mould the mind and soul of every Muslim.« (Ebd.) Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 42011, 9. Eine ähnliche Interpretation des Korans und des muslimischen Offenbarungsverständnisses allgemein nimmt – mit Bezug zu Kermani – Ahmad Milad Karimi vor: vgl. ders., Der Koran – Gottespoesie oder Menschenwort? In: Internationale Katholische Zeitschrift. Communio 40 (2011), 457–465; ders., Versuch einer ästhetischen Hermeneutik des Qurʾān, in: Mouhanad Khorchide/Klaus von Stosch (Hg.), Herausforderungen an die islamische Theologie in Europa – Challenges for Islamic Theology in Europe, Freiburg 2012, 14–31. Einer jeweiligen Erschließung des Offenbarungskonzeptes mit ästhetischen Kategorien traut u. a. Reinhold BernBernhardt ein Potenzial für den theologischen Dialog von Christentum und Islam zu: Reinhold Bernhardt, »Da wurden ihre Augen geöffnet« (Lk 24,31). Offenbarung als Wahrnehmungsereignis, in: Mohammad Gharaibeh u. a. (Hg.), Zwischen Glaube und Wissenschaft. Theologie in Christentum und Islam (Theologisches Forum Christentum – Islam), Regensburg 2015, 143–156, bes. 155 f.

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bezieht sich auf eine Sensibilität für sinnlich wahrnehmbare Form allgemein: »Eine ›ästhetische Rezeption‹ ist eine Rezeption, die sich zuvörderst auf die sinnliche Erscheinungsweise eines Gegenstandes richtet, also auf dessen optischen, akustischen, haptischen, geruchlichen, geschmacklichen Eigenschaften oder auch auf seine expressiven Qualitäten.«45 Diese hier exemplarisch vorgeführte, offenbar im islamischen Selbstverständnis und seinen Kulturformen angelegte Affinität zur (Alltags-)Ästhetik legt eine Sensibilität der islamischen Religionskultur für Fragen der Form, für ästhetische und – konkreter – symbolische Einkleidungen nahe. In diesem Sinne und im Anschluss an Kermani hat der christliche Theologe Klaus von Stosch das religiöse Gesetz des Islams, die Scharia, und deren Übersetzung in Lebensformen auch im Licht der engen Verbindung von Ethik und Ästhetik interpretiert: »Zumindest kann man die Scharia nicht nur ethisch verstehen, sondern das Erfüllen ihrer Gebote auch als ästhetisch stilisierte Antwort auf die Schönheit Gottes deuten, die in der Rezitation des Koran spürbar wird. […] Indem der Muslim die Gebote der Scharia befolgt, schafft er Raum für Gott in seinem Alltag, antwortet auf seine Schönheit durch seine Liebe und wählt eine ästhetische Stilisierung als Ausdrucksform, um die eigene Liebe zu zeigen […].«46 Ein mit Geertz’ Symboltheorie gut begründbarer Zusammenhang von Ethik mit Ästhetik in der Religion, der Zusammenhang von der Darstellung, Verdeutlichung, ja Verwirklichung von Ethik (wie Solidarität) mit entsprechenden Symbolen und Riten (wie den christlichen Mahlfeiern oder der rituell eingebundenen islamischen Sozialabgabe Zakāt47) 45 46 47

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Kermani, Gott (s. Anm. 44), 12. Klaus von Stosch, Befruchtendes Denken. Warum sich christliche Theologie für den Islam interessieren sollte, in: Herder Korrespondenz Spezial 2/2009. Die unbekannte Religion. Muslime in Deutschland, 60–64, 63. Im Rahmen einer islamischen Wirtschaftsethik stellt Muhammad Kalisch ausdrücklich den Zusammenhang zwischen Gebetsritus und Sozialabgabe (zakāt) her: »Zakāt wird im qur’ān häufig mit dem Gebet verbunden. An vielen Stellen finden sich Wendungen wie ›und verrichtet das Gebet und gebet die zakāt‹ (Sure 2, Vers 44). Hier zeigt sich, wie der Islam die Religion als allumfassendes System betrachtet. Das Gebet, welches die individuelle Beziehung eines jeden Menschen zu Gott herstellt, wird mit der Verantwortung eines jeden Einzelnen für das materielle Wohlergehen seiner Mitmenschen auf eine Stufe gestellt.« (Muhammad Kalisch, Islamische Wirtschaftsethik in einer islamischen und in einer nichtislamischen Umwelt, in: Hans G. Nutzinger (Hg.), Christliche, jüdische und islamische Wirt-

haben christliches und islamisches Glaubensverständnis offenbar gemein.48 Die Sensibilisierung für ästhetische und symbolische Dimensionen von Armut und Ausgrenzung, aber auch von Integration und Solidarität könnten und sollten daher zu einem sozialethischen und politischen Kooperationsprojekt der symbolaffinen Religionsgemeinschaften werden – und damit insbesondere auch von Christentum und Islam.

48

schaftsethik. Über religiöse Grundlagen wirtschaftlichen Verhaltens in der säkularen Gesellschaft, Marburg 2003, 105–129, 114 f.). In diesem Zusammenhang ist interessant zu sehen, dass eine islamische Befreiungstheologie, wie sie etwa Farid Esack vertritt, nicht nur Armut im materiellen Sinne in den Blick bekommt, sondern auf Diskriminierung, Zurücksetzung, Entwürdigung in einem weiten, auch kulturelle Formen mit einschließenden Sinne abhebt (vgl. Farid Esack, Unterwegs zu einer islamischen Befreiungstheologie, in: Klaus von Stosch/Muna Tatari (Hg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum [Beiträge zur komparativen Theologie 5], Paderborn u. a. 2012, 19–42 und seinen Beitrag im vorliegenden Band). So spricht Esack zu recht, semantisch weit, von einer »vorrangigen Option für die Marginalisierten« (ders., Befreiungstheologie, 28) und diagnostiziert an sozialen Pathologien, gegen die eine befreiende Theologie religionsübergreifend anzugehen hat, neben Armut und wirtschaftlicher Unterdrückung auch »Rassismus, Sexismus, […] Umweltzerstörung und andere Formen der Diskriminierung« (ebd. 21).

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Armut und Gerechtigkeit: islamische Theologie als gesellschaftspolitische Kraft? Muna Tatari

»Und was ist mit euch, dass ihr euch nicht für die Sache Gottes und der Schwachen – Männer, Frauen und Kinder – einsetzt, die da sprechen: ›Unser Herr, bringe uns aus dieser Stadt, deren Einwohner Unterdrücker sind, und gib uns von Dir her einen Freund und gib uns von Dir her einen Helfenden!‹«1 (Sure 4,77) Diesen Hilferuf legt der Koran in die Münder von Menschen, die Unrecht erleiden und sich nicht selbst daraus befreien können. Wie kann eine zeitgenössische islamische Theologie diesen Hilferuf aufnehmen und wirksame gesellschaftspolitische Impulse setzen, um die Bekämpfung von Armut und die Schaffung gerechterer Verhältnisse voranzubringen? Das ist die leitende Frage dieses Textes. Es soll also nach den diesbezüglichen Ressourcen der islamischen Tradition für einen Begründungsrahmen gefragt werden, der den Einsatz gegen Armut und für Gerechtigkeit in den Fokus nimmt. Jeder Versuch, innerhalb der Koordinaten einer säkularen Gesellschaftsordnung der Spätmoderne, mit ihren vielfältigen Infragestellungen vormals etablierter Geltungs- und Ordnungsmuster, in Loyalität zu den eigenen religiösen Quellen deren Gehalt und gesellschaftskritische Kraft zu artikulieren, ist voraussetzungsreich. Deshalb wird im Folgenden mit grundsätzlichen kontextualisierenden Bemerkungen eingesetzt, zunächst zum Verhältnis von Theologie und säkularer Gesellschaft (1) und darauffolgend zum Verhältnis von Glauben und Handeln (2). Im so umrissenen Gesamtrahmen folgt eine Diskussion des Gerechtigkeitsbegriffs (3) sowie des theologischen Imperativs, der im Armutsbegriff enthalten ist (4). Mit der Aufnahme eines Gedankens von Hannah Arendt (5) wird eine konzep1

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Eigene Übersetzung in Anlehnung an: Hartmut Bobzin, Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen, München 2010.

tionelle Zuspitzung versucht und mit Überlegungen zu möglichen interreligiösen Allianzen, die in (2) angedeutet werden, abgeschlossen (6).2

1. Zum Verhältnis von Theologie und säkularer Gesellschaft Die klassische »Säkularisierungstheorie« deutete das Verhältnis von Moderne und Religion als latent oder in Gänze inkompatibel. Dies speiste die empirische Hypothese, wonach moderne Gesellschaften einen zunehmenden Bedeutungsrückgang der Religion erfahren. Demgegenüber herrschen inzwischen differenziertere Einschätzungen vor.3 Kaum bestreitbar ist hingegen eine Fortentwicklung sozialer und politischer Strukturen und der sie begleitenden Reflexionen hin zu einer faktischen und methodischen Differenz gegenüber einer vormals vielfach theologisch postulierten Einheit von religiöser Norm und gesellschaftlicher Ordnung. »Säkularität« meint dann, bezogen auf staatliche Ordnungen und ihre Aushandlung, eine Neutralität gegenüber religiösen normativen Traditionen.4 Derartige Prozesse prägen auch die tatsächlichen oder zumindest vielfach erfahrenen Realitäten in Deutschland. Betroffen davon sind auch die Lebensentwürfe von in Deutschland muslimisch Sozialisierten. Religiöse Konventionen und Wahrheiten werden zunehmend nicht mehr als selbstverständlich bzw. selbsterklärend verstanden. Sie werden nicht mehr ohne weiteres als konkurrenz- und spannungsfreier Bezugsrahmen des eigenen Lebensentwurfs und Weltverständnisses wahrgenommen. 2

3

4

Teile dieses Artikels sind meiner Dissertation entnommen: Muna Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Diss. Paderborn 2013. Die Arbeit befindet sich in Publikationsvorbereitung. Vgl. Detlef Pollack/Christel Gärtner/Karl Gabriel (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012. Zuletzt aus christlich-theologischer Perspektive: Hans-Joachim Höhn, Gewinnwarnung: Religion – nach ihrer Wiederkehr, Paderborn 2015. Vgl. z. B. Heiner Bielefeldt, Die Menschenwürde als Grundlage des säkularen Rechtsstaats, in: Severin J. Lederhilger (Hg.), Gottverlassen. Menschenwürde und Menschenbilder, Frankfurt 2006, 110–125. Zum Befund der Normtexte des deutschen Religionsverfassungsrechts vgl. Gerhard Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, Heidelberg 2008, 31 et passim.

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Vielmehr sehen sich viele Muslime vor der Herausforderung, neue und andere Wege zu finden, um die Konventionen und Inhalte der eigenen religiösen Tradition nach innen und außen zu kommunizieren und ihren theologischen Gehalt und ihre Sinnhaftigkeit zu plausibilisieren.5 Gleichzeitig wird aber auch von einer »Deprivatisierung« des Religiösen gesprochen6 und vielfach erinnert an eine Verwiesenheit von Gesellschaft und Staat auf ihm vorausliegende religiöse und andere weltanschauliche Ressourcen7, wie dies das sogenannte BöckenfördeTheorem zum Ausdruck bringt: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«8 Wenn ich also in diesem Bezugsrahmen von einer gesellschaftspolitischen Kraft der Islamischen Theologie sprechen möchte, die kritische und konstruktive Impulse in einem gesellschaftlichen Diskurs über Armut und Gerechtigkeit zu setzen vermag, so verortet sich dies in den Koordinaten einer »öffentlichen Theologie«, wie sie beispielsweise von Robert Cummings Neville9 und Heinrich Bedford-Strohm10 vertreten werden. Dieser Anspruch nimmt die Forderung von Habermas auf und überschreitet sie zugleich, wonach es im Modus einer »Säkularisierung,

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Inzwischen gibt es zahlreiche Stellungnahmen aus muslimischer Perspektive, vielbeachtet z. B. jene von Khaled Abou El Fadl, vgl. zuletzt: ders., Reasoning with God: Reclaiming Shari’ah in the modern age, Lanham, Md 2014; vgl. ferner Geoffrey Brahm Levey/Tariq Modood (Hg.), Secularism, Religion and Multicultural Citizenship, Cambridge 2009; Nader Hashemi, Islam, Secularism and Liberal Democracy: Toward a Democratic Theory for Muslim Societies, Oxford 2009; Talal Asad, Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003 sowie Waeel B. Hallaq, The Impossible State. Islam, Politics and Modernitiy’s Predicament.New, York 2015. Vgl. José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. Derartige Thesen sind freilich nicht unwidersprochen. So vertritt beispielsweise Richard Rorty in normativer Hinsicht eine Beschränkung der Religion auf den persönlich-privaten Raum, was auch einen Wissenschafts-Charakter der Theologie ausschließt. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/Main 1976, 60, bzw. ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/Main 1991, 92. Vgl. Robert Cummings Neville, Religion in late Modernity, New York 2002. Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, Gütersloh 1999 (zugl. Habil. Heidelberg 1998).

die nicht vernichtet«11, darum gehe, religiöse Motive und Intuitionen in eine »säkulare« Sprache zu »übersetzen« und sie in öffentliche und damit auch politische Diskurse einzubringen.12 Die daran anknüpfenden Fragen, inwieweit die islamische Theologie ihre Inhalte vor dem Forum einer autonom konzipierten Vernunft plausibilisieren kann, um erst so für säkulare Zusammenhänge nachvollziehbar und fruchtbar zu werden, können an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass die Beziehung von Offenbarung und Vernunft von Anbeginn der Scholastischen Theologie und auf dem Gebiet der uṣūl al-fiqh (Methodenlehre13) variantenreich diskutiert wurde.14 Insofern dieser Prozess nicht als abgeschlossen eingestuft werden muss, können zeitgenössische Wissenschaftsanforderungen zur Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung in den Diskurs aufgenommen und, ohne den Selbststand Islamischer Theologie zu vernachlässigen, neue Konstellationen erprobt werden. Ein wechselseitiges gleichberechtigtes, sich gegenseitig herausforderndes und inspirierendes Verhältnis erscheint mir im Kontext der Spätmoderne nicht nur angemessen, sondern auch aus der islamischen Tradition herleitbar.15

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Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main 2001, 9–31, 29. Vgl. hierzu die politiktheoretische Rekonstruktion bei Michael Haus, Ort und Funktion der Religion in der zeitgenössischen Demokratietheorie, in: Michael Minkenberg/Ulrich Willems (Hg.), Politik und Religion (= PVS – Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 33/2002), Wiesbaden 2003, 45– 67, 53 ff. Die Disziplin der uṣūl al-fiqh weist dabei mit dem in europäischen Wissenschaftskontexten bekannten Feld der Propädeutik eine große Schnittstelle auf. Vgl. Hierzu Kevin Reinhart, Before Revelation. The Boundaries of Muslim Moral Thought (SUNY Series in Middle Eastern Studies), New York 1995. Vgl. Klaus von Stosch, Offenbarung und Vernunft in Islam und Christentum, in: Anja Bettenworth/Andreas Funke/Mirja Lecke/Klaus von Stosch (Hg.), Herausforderung Islam, Paderborn 2011, 100–130, und vgl. Muna Tatari, On Developing Islamic Theology in a Western Context: Considerations on aspects of Bonheoffer’s Theology within this Process, in: Christiane Tietz/Jens Zimmermann (Hg.), Dietrich Bonhoeffer’s Concept of Theology (International Bonhoeffer Interpretations 6), Peter Lang, Frankfurt u. a. 2016 (in Vorbereitung).

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2. Zur Verbindung von Glaube und Handeln Die meisten Entwürfe Islamischer Theologie stehen gesellschaftspolitischen Herausforderungen nicht indifferent gegenüber, sondern folgen diesbezüglich der engen koranischen Verknüpfung von Glauben und Handeln.16 Demnach erstreckt sich der Wirkungsbereich von Religion über den intrasubjektiven Bereich hinaus und manifestiert sich besonders in zwischenmenschlichen Interaktionen.17 Gerade die frühesten Verse und Suren des Korans, also jene der frühmekkanischen Zeit, thematisieren sowohl den Glauben an Gott als auch das Handeln in Seinem Sinne. Kritikpunkte der koranischen Lehre der Frühzeit waren unter anderem eine Form der religiösen Praxis, die die Marginalisierung von ganzen Gruppen zugunsten der Privilegierung bestimmter anderer Gruppen beförderten. Nach islamischem Verständnis kulminierte die Korrelation von einem Vielgötterglauben und gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit und Ausbeutung in der pagan-überformten religiösen Praxis der Ḥaǧǧ, die stark von wirtschaftlichen Interessen geprägt war. Diese Verbindung von polytheistischen Glaubensvorstellungen und einer als ethisch korrupt wahrgenommen Gesellschaft war ein wesentlicher Ausgangspunkt für die koranische Botschaft: eine Rückbesinnung auf monotheistische Glaubensüberzeugung bzw. eine Erneuerung des Bundes mit dem einen Gott, die, so die koranische Lehre, nicht zu denken ist ohne einen ethischen Neuaufbruch. Die schon in vorislamischer Zeit wahrgenommene unerträgliche Situation von Armen und Sklaven gegenüber einer reichen mekkanischen Aristokratie, die in Hilfsorganisationen wie der von Muḥammad mitbegründeten Organisation ḥilf al-fuḍūl (»Bündnis der Tugendhaften«) ihren Ausdruck fand, bekam durch den Koran ihre theologische »Unterfütterung«. Einer der Ausdrücke, die im Koran immer wieder auftauchen, ist der von jenen, »die glauben und gute Werke tun« (allaḏīna amanū wa-ʿamilu -ṣalihāt). Glaube bzw. Vertrauen auf Gott (imān) und gutes Handeln (ʿamal ṣāliḥ) tauchen in der Regel als Begriffspaar im koranischen Text 16

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Vgl. zur differenzierten Diskussion der Glauben-Handeln-Verschränkung und einen Überblick über diesbezüglich frühe Entwicklungen: Abū ʾl-Ḥasan ʿAlī b. Ismāʿīl al-Ašʿarī, Maqālāt al-islāmīyīn wa-iḫtilāf al-muṣallīn, Kairo 1969; W. Montgomery Watt, Der Islam II. Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart 1985, und Fazlur Rahman, Islam, Chicago (u. a.) 32002, 85–94. Vgl. zum Konzept von dīn als religiös-ethisches Lebenssystem Fazlur Rahman, Major Themes of the Qurʾan, Chicago 1980, 37–64.

auf und sind nach Izutsus Einschätzung geradezu als Synonyme zu verstehen: »Kurz, die ṣāliḥāt sind ›Glaube‹, der vollkommen in äußeren Handlungsweisen zum Ausdruck gebracht wird«, so dass der Glaube sich per se in guten Werken ausdrückt.18 Die Tatsache, dass in der koranischen Ausdrucksweise zwischen beiden begrifflich unterschieden wird, deutet m. E. allerdings auf eine intendierte Unterscheidung hin und dadurch auf eine bestimmte Dynamik zwischen Glaube und Handeln, deren theologischen Implikationen im Folgenden weiter nachgegangen werden sollte. Das Konzept von ǧihād in der Lesart von Farid Esack thematisiert genau diese Verschränkung von Glaube und Handeln und begreift sie als eine Anstrengung, die Gesellschaft und sich selbst zu transformieren, und als eine Praxis, die in einen dialektischen Verstehensprozess eingebunden ist. Er bezieht sich dabei zentral auf Sure 29,69: »Jene, die sich für uns anstrengen, werden Wir gewiss auf Unseren Wegen leiten. Wahrlich, Gott ist mit denen, die Gutes tun.« Esack interpretiert die zunächst einseitig erscheinende Bewegung, wonach Anstrengung zu Glauben führt, in eine wechselseitige: Die eigene Praxis wird sowohl durch den Koran und den Glauben gestaltet, wie auch das Verständnis des Korans und der Glaube durch die Praxis geformt werden.19 Mit Hilfe einer Theorie des Expressivismus, wie sie Charles Taylor entwickelt hat, zeigt sich die Stichhaltigkeit der Glaube-PraxisBeziehung, die Esack u. a. mit der Formulierung, dass Praxis ein Ausdruck des Glaubens ist20, vertritt, aber nicht näher ausführt.21 Die Ver18

19 20

Vgl. Toshihiko Izutsu, Ethico-religious concepts in the Qurʾan, Montreal 1966, 204 [eig. Übers.] et passim; vgl. ders., God and Man in the Koran. Semantics of the Koranic Weltanschauung, Toyko 1980. Dabei ist es unabdingbar wichtig, dass die Vorstellung einer engen Glauben-Handeln-Verbindung nicht zu Formen einer Gesinnungsmentalität führt, in der die Gottesbeziehung von Menschen derart von ihren Taten hergeleitet wird, dass einer biogott anmutenden Frömmigkeit Tür und Tor geöffnet würde. Ganz sicher lassen hier koranische Texte, die von der Schwäche des Menschen berichten, und die weit verbreitete Vorstellung, dass Taten zu einem großen Teil nach ihren Absichten bewertet werden, den Anspruch an den Menschen bestehen bleiben, ohne ihm die Ausweglosigkeit eines perfektionistischen Lebensentwurfes zuzumuten. Esack bewegt sich damit eindeutig in den Koordinaten einer jeden Befreiungstheologie, die vom Primat der Praxis startet und von dorther Theorie entfalten möchte. Vgl. Farid Esack, Qurʾān Liberation Pluralism. An Islamic Perspective of Inter-Religious Solidarity Against Oppression, Oxford 1997, 108.

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bindung von Innerem, seien es Gedanken, Überzeugungen oder Ideen, und äußerlich sichtbarem Handeln versteht Charles Taylor so, dass der innere Impuls eines Menschen und sein Handeln keine getrennten Gegebenheiten, sondern vielmehr dialektisch miteinander verknüpft sind. Was im Menschen vorhanden ist, ist demnach zunächst eine reine Potenzialität, eine eher vage Möglichkeit, die aber den Impuls zur Konkretisierung in sich hat. Auf dem Weg ins Dasein durchläuft sie eine Transformation, welche die entsprechende Manifestation kein Abbild der inneren Disposition sein lässt, sondern einen innovativen und kreativen Charakter aufweist.22 Aufgrund dieser Verknüpfung von innerer Potenzialität und ihrer Manifestation lässt sich Letztere nach Taylor so verstehen, dass sie den inneren Impuls nicht nur realisiert, sondern zugleich präzisiert. Hierdurch kann der Erkenntnisgewinn einer Praxis begründet werden, den eine rein theoretische Reflexion nicht zu leisten vermag. Handeln bzw. eine Praxis ist demnach sowohl eine rückwirkend nach innen gerichtete Bewegung als auch der Ausdruck einer Verantwortung den Mitmenschen und Gott gegenüber. Glaube wird, mit den Worten von Klaus von Stosch, »erhandelt«23. Die Wirklichkeit der formulierten Glaubensüberzeugungen wird somit erst in der Praxis begreifbar. Wenn es stimmt, dass innere Glaubensvollzüge eine Bühne brauchen, dann kann diese nach Ansicht Esacks nicht allein auf gottesdienstliche Vollzüge (ʿibādāt) begrenzt sein, sondern müsste auch die zwischenmenschlichen Interaktionen im Blick haben.24 Die folgende Überlieferung, deren dritter Teil je nach theologischer Auffassung Teil der Überlieferung ist oder nicht, zeigt noch einmal die tiefe Verwurzelung dieser Überzeugung in der islamischen Tradition: »Glaube ist Erkenntnis im Herzen, Bekenntnis mit der Zunge und Verwirklichung mit allen Fähigkeiten.« (al-īmān iʿtiqādun bi-l-ğanān, iqrārun bi-l-lisān wa-ʿamalun bil-arkān).25 21

22 23 24 25

90

Diesbezüglich orientiere ich mich an der von Lewis aufgezeigten Entsprechung zwischen Überlegungen von Taylor und des christlichen Befreiungstheologen Gutierrez: Thomas A. Lewis, Actions As the Ties that Bind: Love, Praxis, and Community in the Thought of Gustavo Gutierrez, in: Journal of Religious Ethics 33/3 (2005), 539–567, 548. Vgl. ebd. 542. Klaus von Stosch, Philosophisch verantwortete Christologie als Komplizin des Antijudaismus?, in: ZKTh 125 (2003) 370–386, hier u. a. 378 f. Vgl. Esack, Liberation (s. Anm. 20), 87. Diese Beschreibung beruht auf einer Überlieferung, die in unterschiedlichen Variationen mit geringen Abweichungen vom Propheten als auch vom Imām (?) ʿAlī tradiert worden ist. Vgl. ʿAlī al-Muttaqī al-Hindī, Kanz al-

Unter anderem in den Ritualen wird diese Erfahrung eingeübt. Menschen gehen in der Ḥaǧǧ beispielsweise den Erfahrungen von Abraham und seiner Frau Hāǧar nach mit der Intention, sich über ein Handeln einer Erfahrung zu öffnen. Wie Hāǧar zwischen den Hügeln Ṣafā und Marwa zu laufen, alleingelassen zwischen Furcht und Hoffen und dann mit der Erfahrung einer unbegrenzten Fülle der Quelle Zamzam konfrontiert zu werden, sind zentrale Bestandteile der Ḥaǧǧ und laden durch ihre ritusförmige Aneignung zum Nacherleben ein. Zudem wird die Liebe zu den Mitmenschen als Geschöpfen Gottes und der Respekt ihnen gegenüber in den Anstrengungen der Ḥaǧǧ inmitten von Menschenmassen auf den Prüfstand gestellt und kann eine tiefe Einsicht hervorbringen. Sie kann affizieren, im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten unbedingte Liebe, Respekt und Rücksichtnahme umzusetzen, was auf eine Art und Weise den Menschen verändern kann, die theoretische Reflexionen entsprechend den Ausführungen von Taylor nicht leisten können, ein eher unbestimmtes Fürwahrhalten schon gar nicht. Der arabische Begriff für Ritual šaʿāʾir weist mit seiner Wortbedeutung von fühlen, spüren und dichten auf eine sinnliche, handlungsorientierte Aneignung von Glaubensüberzeugungen und hat eine unmittelbare Ausrichtung zum Symbolbegriff.26 Ein Zugang, der m. E. eine in sich konsistente theoretische Reflexion nicht ersetzen, wohl aber um wichtige Dimensionen erweitern kann, indem die direkte Betroffenheit durch religiös-theologische Wahrheiten eine fruchtbare Basis für das daraus folgende Handeln bereitstellen kann. Kreutzer weist m. E. also zu Recht auf das wirkungsmächtige Potenzial des Symbolhandels hin und verdeutlicht dies zentral am Handeln des derzeitigen Papstes Franziskus. Hier werden Glaubensinhalte und Ethik verknüpft sowohl zu einem Abbild der Realität als auch ihrer gewünschten Antizipation und eröffnen damit den in jeder Befreiungstheologie vorzufindenden Spannungsbogen einer utopischen Ist- und Soll-Beschreibung.27

26 27

ʿummāl (= Schatz der Handlungen) I, ḥadīṯ 2, 27; Muḥammad b. Ya’qūb Kulaynī, Kitāb al-Kāfī (= das Buch von al-Kāfī), ed. ‘Alī Akbar al-Ġifārī, 1–8, Teheran 1961, Bd. 2, 27; Muḥammad Bāqir al-Mağlisī, Biḥār al-anwār (= Meere der Lichter), ed. Ğawād al-’Alawī/Muḥammad Āḫundī u. a., 1–110, Teheran 1376/1956–1392/1972, 74 ff. Vgl. die entsprechenden Ausführungen im Beitrag von Kreutzer in diesem Band. Vgl. Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung. 10. erw. und neubearb. Auflage, Mainz 1992, 296–305.

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Symbolhaftes Handeln ist in der Regel in Rituale eingebettet. Meines Erachtens liegt eine große Herausforderung aller Religionen und der in ihnen tradierten Symbolhandlungen darin, sie nicht als Taten und Bekenntnisse abflachen zu lassen, die (dann womöglich nur) formalistisch und eher sinnfern ausgeführt werden. Es sollte die persönliche Betroffenheit jahrhundertealter Rituale erhalten bleiben, wenn dieses Symbolhandeln eine Wirkung auf konkrete Lebenswelten haben soll. Mir scheint, dass ein Weg darin liegen könnte, neben der Ausarbeitung in sich kohärenter theologischer Entwürfe die weniger kognitiven, sondern vielmehr die imaginativen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen anzusprechen. Dass und inwiefern dieser Imperativ vor allem im Problemfeld der Armut liegt und mit der Schüsselkategorie der Gerechtigkeit verknüpft ist, sollen die folgenden zwei Abschnitte zeigen.

3. Islamisch-theologische Konzepte von Gerechtigkeit Farid Esack hat sich mit der Schlüsselkategorie der Gerechtigkeit einem theologischen Prinzip verpflichtet, das in der Theologie der Muʿtaziliten bereits eine prominente Funktion einnahm. Umso interessanter ist es nachzuvollziehen, inwieweit der befreiungstheologische Kontext Farid Esacks eine deutliche Akzentverschiebung in der Begriffsdefinition nach sich zieht. Indem er einen politischen Geltungsanspruch von Religion entsprechend historischer Erfahrungen und den zeitgenössischen Herausforderungen der Spätmoderne und ihres säkularen Bezugsrahmens als gesellschaftspolitisches Engagement reformuliert, erscheinen seine Ansätze für die Frage nach dem religiösen Imperativ, der hinter der Verknüpfung von Armut und der Frage nach Gerechtigkeit steht, für die Entwicklung einer europäischen Islamischen Theologie instruktiv. Während es der Muʿtazila in der Regel darauf ankam, Gottes Gerechtigkeit in Bezug auf die Schöpfung zu entfalten, die dann vor allem in eschatologischer Perspektive relevant werden sollte, sieht Farid Esack die Bedeutung der Gerechtigkeit vor allem in ihrer diesseitsbezogenen zwischenmenschlichen Relevanz gegeben. Für ihn bekommt der eigene Glaube und das Verständnis von Gott erst aus diesem Engagement heraus seine Konturen. Grundlegend hierfür ist die Überzeugung Esacks, dass koranische, theologische Aussagen vor allen Dingen das gegenwärtige Leben im Zentrum sehen und weniger jenseitsbezogene Betrachtun-

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gen zum Inhalt haben.28 Dementsprechend sieht Esack in der Spannung von Befreiung und eschatologischer Erlösung keine Konzepte, die sich gegenseitig ausschließen, sondern sich vielmehr gegenseitig durchdringen.29 Diese Einschätzung, dass Befreiung, die intersubjektiv geschieht, also horizontal, in theologischer Perspektive nur vor der Blaupause der Erlösung gedacht werden kann, die vertikal geschieht, bündelt sich in der Formulierung von Ebrahim Moosa, der dafür plädiert, den koranischen Religionsbegriff dīn als salvatorial praxis zu übersetzen.30 Farid Esack schließt sich den Gerechtigkeitsdiskurs betreffend der Überzeugung des ḥanbalitischen Gelehrten Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya an, der sagt, dass der Sinn von Offenbarung und Religion darin liegt, Gerechtigkeit herzustellen31 und sich Glaube im Einsatz für Gerechtigkeit adäquat ausdrückt. Die Kontextualisierung dieses Gedankens in eine Situation der Ungerechtigkeit bedeutet für Farid Esack konsequenterweise, dass passive Neutralität als Sünde zu werten sei, da sie eine Verletzung der göttlichen Vision von einer gerechten Welt darstelle.32 Vielmehr entspricht es dem Verständnis Esacks, dass sich die Verantwortung des Menschen als Statthalter Gottes darin erschließe, Gottes Buch und damit Gottes Vision von Gerechtigkeit in konkreten Kontexten praktisch zu entfalten und den hilfesuchenden Ruf der Marginalisierten nach Gott als Aufruf an die Menschen – also sich selbst – zu übersetzen, dem sie handelnd antworten sollen, wie es der eingangs zitierte koranische Text für ihn nahelegt: »Und was ist mit euch, dass ihr euch nicht für die Sache Gottes und der Schwachen – Männer, Frauen und Kinder – einsetzt, die da sprechen: ›Unser Herr, bringe uns aus dieser Stadt, deren Einwohner Unterdrücker sind, und gib uns von Dir her einen Freund und gib uns von Dir her einen Helfenden!‹« Aus dem koranischen Aufruf zur Gerechtigkeit in sozio-ökonomischen Beziehungen ergibt sich für Farid Esack auch die Verpflichtung, diejenigen sozialen Ordnungen zu stören, die diesem nicht entsprechen. In seinem Anliegen, angesichts der Dringlichkeit von Leid und Unrecht das politisch wirksame und revolutionierende Potenzial der Islami28 29 30 31 32

Vgl. Esack, Liberation (s. Anm. 20), 130. Vgl. ebd. 199. Vgl. Ebrahim Moosa/A. A. Mian, Art. Islam, in: Ruth Chadwick (Hg.), Encyclopedia of Applied Ethics, Bd. 2, San Diego 22012, 769–776. Vgl. Esack, Liberation (s. Anm. 20), 104. Vgl. ebd. 106.

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schen Theologie zu entfalten und zu gestalten, ist sich Farid Esack der Gefahr einer theologischen Verengung der koranischen Botschaft bewusst. So fragt er, ob eine Konzentration auf die Ziele politischen Handelns als einzige Quelle zur Erschließung des koranischen Textes diesen nicht um weitere wichtige Dimensionen verkürzen würde. Daher merkt er kritisch an, dass zur Zeit des Kampfes gegen die Apartheid Gerechtigkeit bisweilen auch über Gebühr in Texte des Korans hineingelesen wurde.33 Die Betonung der Gerechtigkeit eröffnet allerdings gerade in multireligiösen bzw. areligiösen Kontexten wichtige Perspektiven. Für Esack gilt die Solidarität mit den Marginalisierten aufgrund der Bedingungen, unter denen sie leben – also aufgrund eines Mangels an Gerechtigkeit –, und ist nicht an die Vorbedingung geknüpft, dass die Empfänger dieser Solidarität Muslime bzw. Monotheisten sein müssten. Der Koran spricht sich eindeutig für die mustaḍʿafūn (die als schwach Erachteten, Unterdrückten) und gegen die mustakbirūn (die sich als überlegen Erachtenden) aus, auch wenn erstere keine Muslime sind (7,136–137; 28,5).34 Diese Präferenz, den Einsatz für die Gerechtigkeit vor Fragen des Glaubens zu stellen, weist nochmals eindrücklich darauf hin, dass in der Überzeugung von Farid Esack Gerechtigkeit nicht nur wichtig ist, sondern eine Grundvoraussetzung für das Leben schlechthin bedeutet.35

4. Problematisierung des Gerechtigkeitsbegriffs Dass Gerechtigkeit ein prominentes Thema des Korans ist, ist offensichtlich. Ob es das ausschließlich wichtigste ist, wie Rahbar Daud in seinem Werk als These aufstellt, ist diskutierbar.36 33

34 35 36

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Vgl. ebd. 104, 105, 109. Da Esack prinzipiell Eisegese als legitimes Korrelat zur Exegese sieht, muss seine kritische Anmerkung in der Tat auf eine auch von ihm bisweilen betriebene Überstrapazierung des Begriffes der Gerechtigkeit gewertet werden. Zur Eisegese vgl. Farid Esack, Contemporary Religious Thought and the Emergence of Qurʾanic Hermeneutical Notions, in: Journal for the Study of Islam and Christian-Muslim Relations 2/2 (1991), 206–225, hier 223. Esack, Liberation (s. Anm. 20), 98. Vgl. ebd. 195. Vgl. Daud Rahbar, God of Justice. A study of the ethical doctrine of the Qurʾān. Leiden 1960.

Dass es in Religionen um Gerechtigkeit geht, ist zunächst eine triviale Aussage. Begriffe werden erst durch ihren jeweiligen Kontext mit Inhalt gefüllt. Dass es sich bei dem Gerechtigkeitsbegriff von beispielsweise Ibn Taimīya und heutigen Begriffsfüllungen um deckungsgleiche Begriffe handelt, kann stark angezweifelt werden.37 Ich werde daher an dieser Stelle keine vermeintlich objektive koranische Begriffsbestimmung vornehmen38, sondern vielmehr der Frage nachgehen, welche theologisch verantwortbaren Möglichkeiten einer Begriffsbestimmung im Kontext einer säkularen Gesellschaft denkbar sind. Im erkenntnistheoretischen Kontext sollte die islamische Theologie zum einen ihren innertheologischen konfessionsbestimmten Fachdiskurs aufrechterhalten, der sich in der Regel im hermeneutischen Zirkel von Glauben, Offenbarung und weiteren Quellen und Texten der Tradition bewegt. Zudem sollte sie sich dem Methodenkanon der Spätmoderne öffnen, also von der Offenbarung unabhängige Verstehenszugänge erproben und damit u. a. die Sinnhaftigkeit der eigenen theologischen Rede vor dem Forum einer autonom arbeitenden Vernunft demonstrieren. 37

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Folgendes Zitat von Ibn Taimīya weist auf die Deutungsbedürftigkeit von Begriffen in ihren Kontexten hin, da bei aller Brisanz des folgenden Zitates Ibn Taimīya sicher keine Rechtsordnung im Sinne eines säkularen Staates vorschwebte, wenn er die Beutung von Gerechtigkeit im Gegensatz zur Religiosität so prominent in den Vordergrund stellt: »Die Angelegenheiten der Menschen in dieser Welt können besser durch Gerechtigkeit und ein gewisses Ausmaß an Sünde geregelt werden als durch fromme Tyrannei. Deshalb ist gesagt, dass Gott den gerechten Staat aufrechterhält, selbst wenn er ungläubig ist, und einen ungerechten Staat nicht, selbst wenn er islamisch ist. Es ist auch gesagt, dass die Welt fortdauern kann mit Gerechtigkeit und Unglaube, aber nicht mit Ungerechtigkeit und Islam.« Vgl. Fatih Emriṣ, A History of Ottoman Economic Thought: Developments Before the Nineteenth Century (Routledge History of Economic Thought), New York 2014, 32, mit Bezug auf Ibn Taymiyya, Traité sur la ḥisba (al-ḥisba fī l-islām), ed.,Henri Laoust, in: Revue des Études Islamiques 52 (1984), 25–207, hier 85 (eigene Übersetzung). Wenngleich eine inhaltliche Füllung von Begriffen ohne Kontextbeziehung zu apodiktischen Aussagen führen würde, die keinerlei Anschluss an die Lebensrealitäten der Menschen mehr hätte, so lässt sich aus dem Koran doch behutsam eine Ausrichtung des Gerechtigkeitsbegriffes feststellen, der womöglich überzeitlich verstanden werden kann: selbstkritisch und offen. »Oh, die Ihr glaubt, seid aufrichtig in der Wahrung der Gerechtigkeit und Zeugen gegenüber Gott, auch wenn es gegen Euch, die Eltern oder Verwandte sein sollte, ob reich oder arm […]« (Sure 4,135). Sure 17, 22–39 beschreibt eine ganzheitliche Ethik, die vom Impuls des Gebens her aufgebaut wird.

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Wenngleich Ömer Özsoy zuzustimmen wäre, dass sich die Methoden der Wissenschaft nicht nach Fächern unterscheiden sollten39, so bleibt m. E. dennoch festzuhalten, dass gerade die Wissenschaft der Theologie auf Inhalte angewiesen ist, die von der Vernunft allein nicht ableitbar sind, wohl aber plausibilisiert werden können. Mir scheint, dass in der Diskursethik, wie sie u. a. von Jürgen Habermas maßgeblich geformt wurde, eine sinnvolle Fortschreibung des Konsensgedankens (iǧmāʿ) aus dem Methodenkanon der islamischen Tradition begründbar ist. Die Fülle an Ergebnissen aus der formativen Zeit der islamischen Geistesgeschichte müsste um diese methodische Zuspitzung erweitert werden, um die Aktualität theologischer Arbeit weiter zu gewährleisten. Bis in jüngste Zeit beschäftigt sich Habermas vor allem in seinem Werk Theorie des kommunikativen Handelns40 mit der Frage nach Wahrheit und Geltung und nach gesellschaftlichen Strukturen, die in der Lage sind, geteilte Normen und Werte wie beispielsweise solche der Gerechtigkeit auszubilden und in Geltung zu setzen. Dieses Ziel sieht er erreicht in einer idealen Gesprächssituation, dem sogenannten herrschaftsfreien Diskurs.41 In seinem späteren Werk Wahrheit und Rechtfertigung42 setzt sich Habermas kritisch mit seinen eigenen früheren Thesen auseinander und modifiziert sie folgendermaßen: Der Wahrheitsfindungsprozess sei an ideale Bedingungen geknüpft, die real nicht möglich sind, womit eine gesicherte Gültigkeit der Ergebnisse, deren Verbindlichkeit er in der Formulierung vom sanften Zwang des besseren Arguments zum Aus39

40 41

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Vgl. Ömer Özsoy, Islamische Theologie als Wissenschaft. Funktionen, Methoden, Argumentationen, in: Mohammad Gharaibeh u. a. (Hg.), Zwischen Glaube und Wissenschaft. Theologie in Christentum und Islam, Regensburg 2015, 56–68. Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981. Habermas unterscheidet zwei Arten von Kommunikation: erstens die erfolgsorientierte, in der ein Machtgefälle existiert oder erzeugt wird, um einseitige Interessen durchzusetzen; zweitens eine verständigungsorientierte Kommunikation, die von einer prinzipiellen Gleichheit und Unausgeschlossenheit der Teilnehmer ausgeht, einer prinzipiellen Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen und die von authentischen Gefühlen geprägt ist. Nur über diese letztere Art der Kommunikation können nach Habermas vernünftige und damit berechtigterweise mit Geltungsansprüchen verbundene Ergebnisse erzielt werden. Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Erw. Ausg., Frankfurt a. M. 2004.

druck brachte, nicht realisierbar wäre; Wahrheit sei noch mehr als das, was mittels einer Diskursethik erhandelt werden könne; daher brauche es in einer Theorie des Diskurses einen Raum für das Moment des Unbedingten.43 M. E. weist Habermas mit dieser Formulierung darauf hin, dass Wahrheit auch einen unverfügbaren Charakter hat, womit aus einer theologischen Perspektive Offenbarung als Referenzpunkt eine neue Wichtigkeit erhält und sich das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft in der Tat als ein wechselseitiges erweisen kann.44 Eine Folge dieser Korrekturen seiner ursprünglichen Thesen ist m. E. seine Hinwendung zu einer intersubjektiv vermittelten Vernunft45, um die korrektivische Wirkung des Anderen für eine Diskursethik fruchtbar zu machen.46 Er schwingt m. E. damit in Ansätzen auf Merkmale einer Levinas’schen Ethik ein, in der der Anspruch des Anderen eine Größe darstellt, die kritisch auf die eigene Position einzuwirken vermag. Zur inhaltlichen Begriffsbestimmung von Gerechtigkeit, die sich nur kontextgebunden erweisen kann, kann m. E. eine modifizierte Diskursethik als eine zeitgemäße Fortschreibung der klassischen Quelle des iǧmāʿ (Konsens) verstanden werden. Nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass es, wie Habermas zu Recht festgestellt hat, ideale Diskursbedingungen nicht gibt und Gefahren des Diktats der Masse bedacht werden sollten, müsste als Option für eine ggf. korrektivische Funktion in einer modernen Diskursethik allerdings auch das Moment des Widerspruchs zu finden sein, der in der islamischen Tradition in der Akzeptanz des Dissenses (iḫtilāf) zum Ausdruck kommt. In Kontexten der Unterdrückung ist der Einsatz für Gerechtigkeit unter Umständen lebensentscheidend. So ist es nicht verwunderlich, dass in diversen Entwürfen christlicher und islamischer Befreiungstheologie Gerechtigkeit eine Schlüsselkategorie darstellt und dass der Stimme derer, die unter einem Mangel an Gerechtigkeit leiden, nicht nur eine paritätische Einflussnahme auf den Diskurs um die Bestimmung dieses Begriffs eingeräumt wird, sondern dass deren Stimme priorisiert wird. 43 44 45 46

Vgl. Reese-Schäfer, Habermas, 22 f. Zum Verhältnis von Offenbarung und Vernunft vgl. Anm. 15. Vgl. Eun-Young Kim/Norbert Elias, Im Diskurs von Moderne und Postmoderne. Ein Rekonstruktionsversuch der Eliasschen Theorie im Licht der Diskussion von Foucault und Habermas, Marburg 1995, 38. Habermas geht nunmehr davon aus, dass ein bewusstseinsphilosophisches Konzept eher dazu führt, die je eigenen Interessen zu befördern, und damit ungeeignet erscheint, eine allgemeingültige Ethik zu entwickeln. Vgl. Kim/Elias, Diskurs (s. Anm. 45), 39.

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5. Theologischer Imperativ des Armutsbegriffs Die Betonung der Gerechtigkeit eröffnet gerade in multireligiösen bzw. areligiösen Kontexten wichtige Perspektiven. Für Farid Esack beispielsweise gilt, wie bereits erwähnt, die Solidarität mit den an Ungerechtigkeit Leidenden aufgrund der Bedingungen, unter denen sie leben. Diese Solidarität ist also nicht an die Vorbedingung geknüpft, muslimischen Glaubens bzw. Monotheisten zu sein. Diese Präferenz des Einsatzes für Gerechtigkeit vor Glaubensfragen weist nochmals eindrücklich darauf hin, dass Gerechtigkeit im koranischen Text und in einer Reihe von theologischen Entwürfen nicht nur wichtig ist, sondern eine Grundvoraussetzung für das Leben schlechthin bedeutet.47 M. E. knüpft dieser Gedanke an den koranischen Satz an, dass Gott keine Seele über Gebühr belastet48. Die empirisch festzustellende Überlastung von Menschen darf also nicht als Ausdruck von Gottes Willen verstanden werden, sondern ist vielmehr zum einen aus der Freiheit des Menschen und zum anderen aus den Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erklären.49 Die dahinterliegende Theodizeeproblematik kann an dieser Stelle nur markiert, aber nicht ausgeführt werden. Im Fall der von Menschen verursachten Ungerechtigkeit hat der Mensch demnach eine Verantwortung, untragbare Zustände abzuwenden. Die prophetische Überlieferung, dass Armut zu Unglaube(kufr) führt,50 besagt nichts anderes, als dass Menschen durch belastende Lebensumstände in ihrer Beziehung zu Gott überbeansprucht werden können und es Grenzen des Ertragbaren gibt. Wenn Menschen durch ihr persönliches Verhalten oder durch die Strukturen, die sie schaffen oder unterstützen, diese Grenze nicht einhalten, machen sie sich mitschuldig daran, dass Menschen ihr Vertrauen auf Gott möglicherweise aufgeben und sich abwenden. Anders herum gewendet und an das obige Zitat von Esack anknüpfend, bedeutet es, dass 47 48 49

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Vgl. Esack, Liberation (s. Anm. 20), 195. Vgl. Sure 2,286. Aspekte wie Krankheit, Not und Katastrophen als Prüfung, pädagogische Maßnahme oder Strafe zu verstehen, ist problematisch. Zur Frage der Theodizee aus christlicher bzw. islamischer Perspektive vgl. Klaus von Stosch, Herausforderung Theologie. Ein christlicher Blick auf muslimische Perspektiven des Theodizeeproblems, in: Mouhanad Khorchide/Klaus von Stosch (Hg.), Herausforderungen an die Islamische Theologie in Europa – Challenges for Islamic Theology in Europe, Freiburg i. Br. 2012, 77–100. Vgl. Farid Esack, HIV, AIDS and Islam. Reflections on Compassion, Responsibility and Justice, Oberservatory 2004, 49.

unter Umständen erst eine durch Gerechtigkeit bestimmte Lebenssituation den Menschen freisetzen kann, wirklich zu leben und sich ggf. Gott zuzuwenden. Letzteres, der Glaube an Gott, kann demnach keine Voraussetzung für ein Eintreten für seine Rechte darstellen. M. E. ist dieser Zusammenhang zwischen Armut bzw. einem Leben in Unrechtsstrukturen und dem möglichen Einfluss auf die Gottesbeziehung ein starkes theologisches Argument für den Einsatz für Gerechtigkeit, insofern es in der Verantwortung der Menschen liegt, Bedingungen zu schaffen, die eine freie Entscheidung für Gott nicht nur philosophisch begründen. Wenn vielmehr eine Theologie den ganzen Menschen meint, dann sollte dies auch in der Argumentation für die Schaffung konkreter Freiheitsräume zum Ausdruck kommen und in befreiungstheologischer Perspektive auch eine konkrete Praxis nach sich ziehen.51 Ein solcher gelebter Glaube, der die Freiheit und Würde des anderen ermöglichen will, kann einen ermöglichenden Glaubensgrund darstellen, da in dieser Praxis Gottes Wort vermittelt bzw. offenbar wird. Im Hinblick auf den Graben, der sich zwischen einem theologisch herleitbaren und begründbaren Einsatz gegen Armut und für Gerechtigkeit und tatsächlich geschaffenen Freiheitsräumen auftut, sind m. E. die Mobilisierungspotenziale der Islamischen Theologie noch nicht ausreichend ausgeschöpft. Ich möchte daher in den beiden letzten Abschnitten der Frage nachgehen, welche Wege es geben könnte, die Ressourcen der Islamischen Theologie im Spannungsfeld von Armut und Gerechtigkeit in eine reale gesellschaftspolitische Kraft zu transformieren, so dass sie keine rein theoretische Angelegenheit bliebe. Vielmehr bekäme sie dann Relevanz in einem Kontext, der einerseits zunehmend die Sinnhaftigkeit von Theologie in Frage stellt und in dem andererseits soziale gesellschaftliche Spannungen weiter zunehmen, die u. a. auf mangelnder Chancengleichheit und der größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich beruhen. Anhand meiner Ausführungen zum Ritual der Ḥaǧǧ habe ich bereits erste Schritte diesbezüglich angedeutet.

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Vgl. zu Strukturen, die Armut befördern: Angus Deaton, The Great Escape. Health, Wealth and the Origins of Inequality, Princeton 2013, und zu Denkanstößen alternativer Lebensmodelle vgl. Nico Peach, Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in eine Postwachstumsökonomie, München 2012.

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6. Hannah Arendt und das Gewissen als innersubjektive moralische Instanz Die Wechselwirkungen zwischen Handeln und bestimmten innerlichen Dispositionen sind in der Islamischen Theologie bisher eher wenig bedacht worden. Sie sind aber im Bereich der Mystik, dort, wo es um Selbsterkenntnis und Selbsterziehung geht, Gegenstand der Reflexion gewesen, wenngleich hier in der Regel eher die individuelle Perspektive relevant war und weniger eine sozialpolitische. Diese Verknüpfung unternimmt allerdings Farid Esack, indem er persönliche Innerlichkeit und gesellschaftspolitisches Engagement über den Begriff von taqwā in eine konstruktive wechselseitige Verbindung bringt. In der Lesart von Farid Esack verweist der Begriff taqwā auf die Aufrichtigkeit dem eigenen Gewissen gegenüber, vor Gott und den Menschen in Verantwortung zu stehen.52 Die ethische Komponente des Begriffes ist für ihn innertextuell (tafsīr al-qurʾān bi-l-qurʾān) grundgelegt, und da der Begriff taqwā zahlreich an nicht zu ignorierenden Stellen des Korans so offensichtlich mit einem ethischen Verhalten verbunden ist, kommt Esack zu dem Schluss, dass: »… [n]ach dem Koran […] das Engagement für Gottes Geschöpfe untrennbar mit dem Engagement für Gott verbunden [ist]«53. Vor einem säkular geprägten Umfeld erschließt sich das in diesem Ansatz vorhandene Potenzial m. E. noch deutlicher über diesbezügliche Analysen von Hannah Arendt. Angesichts ihrer Reflexion über die NS-Zeit, in der sie einen totalen Kollaps aller theologisch und philosophisch zivilisatorisch wirksamer Bezugsysteme diagnostizierte54, stellt sie das Gewissen des Menschen und damit verbunden die Stärkung seiner moralischen Urteilsfähigkeit in den Mittelpunkt ihrer ethischen Überlegungen. Nach Hannah Arendt steht der Mensch über sein Selbst zu sich in einer unausweichlichen Beziehung. Wenn er einen beständigen inneren Dialog, so Hannah Arendt, mit sich selbst aufrechterhalten kann, ist er herausgefordert, sich so zu verhalten, dass er es mit sich selbst im Angesicht seiner Taten und 52 53 54

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Vgl. Esack, Liberation (s. Anm. 20), 87. Ebd. 87. Vgl. Jürgen Goldstein, 27–29 rückbezüglich Hannah Arendt, Das »deutsche Problem«. Die Restauration des alten Europa, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, München 1989, 23–41, hier 25, und Hannah Arendt, Die Nachwirkungen des Naziregimes – Berichte aus Deutschland, in: dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, 38–63, hier 38.

Gedanken aushalten kann. Die eigene Menschlichkeit ist damit durch ein positives Verhältnis zu sich selbst im Antlitz des anderen verankert und damit auch ein Anliegen von Arendt.55 Das sprichwörtlich schlechte Gewissen dient hier als Lackmustest für das eigene Handeln und wird in der Lage gesehen, Grenzen zwischen ethisch sich selbst (und anderen) zumutbaren und nicht mehr zumutbaren Haltungen und Handlungen zu setzen. Hannah Arendt hat aus ihren Beobachtungen im Kontext der Nürnberger Prozesse den verallgemeinerbaren Schluss gezogen, dass ein Abreißen des inneren Dialogs im Menschen diese Grenzen aufweichen lässt. Die intrasubjektive Instanz des Gewissens korrespondiert in der Islamischen Philosophie und Mystik mit dem Begriff der sich selbst anklagenden Seele (nafs al-lawwāma)56, die in enger Beziehung zu den Vernunftpotenzialen des Menschen gedacht wird, und wurde in der islamischen Tradition bis heute als wichtige Instanz zur Ermöglichung ethischen Verhaltens eingestuft.57 Hier überlappen sich die Anliegen von Theologie und Philosophie, die beide das gesunde Menschsein als Basis einer gelingenden Ethik verstehen. Dieses Anliegen hat lebenspraktisch u. a. seinen Platz im Erziehungsauftrag von Bildungseinrichtungen, also dort, wo der Mensch gebildet werden soll zu einem zur Selbstreflektion fähigen und damit einhergehenden mündigen Bürger.

55

56

57

Zur Vorstellung der Wahrung der Menschlichkeit im Antlitz des Anderen: »In the words of Maryam Rajavi, ›in a society where women are secondclass citizens, deprived of their genuine rights, how can any man claim to be free and not suspect his own humanity? […] Are men not in bondage too?‹ (1996, 31) While I, as a male, may therefore owe women many debts, the debt is essentially to myself. I owe it to my own humanity to be free and, therefore, I must work for gender justice.« Farid Esack, Islam and Gender Justice: Beyond Simplistic Apologia, in: John C. Raines/Daniel C. Maguire (Hg.), What Men Owe to Women. Men’s Voices from World Religions, Albany 2001, 187–210. Vgl. zu den Stufen der Seele in der islamischen Philosophie resp. Mystik Th. Emin Homerin, Art. Soul, in: Jane McDammen Auliffe (Hg.), Encyclopedia of the Qurʾān, Bd. 5, Leiden u. a. 2006, 80–84, hier 83, und den Korantafsīr von Yūsuf ʻAlī zur Sure 75,2: The Meaning of the Holy Qurʾān. New Edition with Revised Translation and Commentary by ʿAbdullah Yūsuf ʿAlī, Brentwood, Maryland 1989, 1565. Vgl. hierzu: Ebrahim Moosa, Ghazālī and the Poetics of Imagination, North Carolina 2005, 229–232 (Constructing the Ethical Self).

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7. Zu Möglichkeiten interreligiöser Allianzen Wie können die theologischen Potenziale, die nicht nur der islamischen Tradition, sondern auch der christlichen Theologie in einem reichen Maße innewohnen, zum Nutzen der Menschen aktiviert werden?58 Wie kann bewerkstelligt werden, über die theoretische theologische Reflexion hinaus eine praktische Relevanz zu erreichen? Im Anschluss an Hannah Arendts Plädoyer für eine intrasubjektive Auseinandersetzungsfähigkeit des Menschen kann diesbezüglich an die wichtige Funktion von Narrativen erinnert werden. Narrative können nicht nur Inhalte nahebringen. Sie können einen Raum persönlicher Betroffenheit schaffen und so eine Motivationsbasis bieten, erlebte Erfahrung und Einsicht weiterzugeben, die über eine theoretische Reflexion hinausgehen können. Angesichts der Herausforderung, Orientierung für das eigene Leben im Überangebot der medial geprägten Lebenswelten zu finden, plädiert beispielsweise Hofheinz nachvollziebar dafür, »die zusammenhängende ethische Praxis einer Tradition narrativ in Erinnerung zu rufen, ihre Grundlinien durch neues Erzählen hervortreten lassen, um somit den Zusammenhang zu finden, in dem sich ethische Besinnung bewegt«.59 Wannewetsch spricht vom »Leben im Leben der Anderen«. Das Vermögen zur Perspektivübernahme ist demnach ein konstituierendes Moment in der Entwicklung eines ethischen Bewusstseins und ethischer Handlungsweisen. Über die analogische Imagination kann Ethik »erprobt« werden.60 Den Spuren anderer Menschen zu folgen und aus ihren Geschichten zu lernen, entspricht wiederum dem koranischen Konzept von Erzählung (qaṣaṣ).61 Sure 12 ist die einzige Sure, die sich komplett der Erzählung 58 59 60

61

102

Siehe zur islamischen Tradition, die sich gegen Armut und Unrechtstrukturen stellt, den eindringlichen Beitrag von Farid Esack in diesem Band. Marco Hofheinz, Narrative Ethik als Typfrage, in: Marco Hofheinz/Frank Mathwig/Matthias Zeindler (Hg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, 11–65, hier 27. Vgl. Bernd Wannewetsch, Leben im Leben der Anderen. Zur theologischen Situierung und Positionierung der narrativen Dimension der Ethik in der angelsächsischen Diskussion, in: Marco Hofheinz/Frank Mathwig/Matthias Zeindler (Hg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, 93–112, hier 94 f. Das Leben im Leben eines Anderen bedeutet dabei keineswegs einen Weg in die Unmündigkeit. Vielmehr ist dieser Ansatz getragen von der Idee, dass der Mensch mittels seiner Fähigkeit der Imagination, die durch Narrative

einer einzigen Geschichte widmet, und diese literarische Besonderheit wird verstärkt, indem die erzählte Geschichte von Yūsuf in diesem Fall von Hinweisen auf die Erzählphilosophie des Korans eingefasst wird. Eingeleitet wird die Geschichte mit den Worten: »Erzählen wollen wir dir die schönste der Geschichten (ʾaḥsana l-qaṣaṣi)« (12, 3). Der Begriff iḥsān (der u. a. für Vollkommenheit, Vollendung, wahre Güte und Tugend steht) färbt also das Rahmensetting der Erzählung, in der es darum geht, auf schöne Art und Weise Gutes zu tun. Diese Färbung kann bewusst wahrgenommen werden oder unterbewusst wirkend als hermeneutische Einstimmung auf die Erzählung, der man, wie am Ende gesagt ist, nachgehen soll: »Wahrlich, in ihren Geschichten ist eine Lehre (ʿibratun) für Menschen mit Herz und Verstand […]« (12,111). Hinter dem koranischen Begriff für Erzählung, qaṣaṣ, steht das Wortfeld: Spuren suchen und ihnen folgen. Entsprechend lädt eine solche Erzählung den Leser oder Hörer nicht zu einer passiven Haltung ein, sondern fordert auf zum aktiven Anteilnehmen. Hinter dem Begriff für Lehre (ʿibra) stehen die Wortbedeutungen: etwas durchqueren, durchwaten (einen Fluss), über etwas nachdenken, meditieren, etwas studieren, um Verständnis ringen und als Nomen: Lehre in Form einer Warnung oder Aufmerksammachens.62 Diesem koranischen Anstoß liegt also die Aufforderung zugrunde, theologische Wahrheiten nicht nur in einem in sich kohärenten System zu entwickeln, sondern sie auch wahrhaft erzählen zu können. In dieser Hinsicht könnten christliche und muslimische Engagements gerade zu Fragen der Gerechtigkeit im Angesicht von Armut eine synergetische Verbindung eingehen. Akteure beider Traditionen sind aufgerufen, der Frage nach sinnhaften Vermittlungsprozessen nachzugehen. Dazu kann fachpädagogische Reflexion aus Islam und Christentum wichtige Anregungen bieten und wichtige Impulse in theologisches Arbeiten bereitstellen.63

62 63

angeregt werden kann, sich selbst zu bilden vermag. Die daran anknüpfende Frage, ob darin eine Präferenz von heteronomen Ethikansätzen liegt im Auschluss an eine autonom konzipierte Ethik, kann hier nicht beantwortet werden. Vgl. dazu als Anregung: Mohammad Reza Hosseini Beheshti, Moralisches Handeln als Antwort auf Gottes Ruf. Erläuterung einiger Grundfragen der islamischen Ethik, in: Klaus von Stosch/Muna Tatari (Hg.), Handeln Gottes, Antwort des Menschen (Beiträge zur Komparativen Theologie 11), Paderborn 2014, 137–149. Vgl. Edward William Lane, Arabic-English Lexicon, Beirut 1968 (erste Veröffentlichung: Edinburgh 1867), Band 5, 1936–38 und Band 7, 2526–28. Da ich keine Religionspädagogin bin, können meine diesbezüglichen ausblickhaften Ausführungen nur werkstatthaften Charakter haben.

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II. Freiwillige Armut – ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit?

»Arm dem armen Christus folgen« Das Ideal der freiwilligen Armut bei Franziskus von Assisi (1182–1226) und in der franziskanischen Bewegung Margareta Gruber OSF

Name und Gestalt des Franziskus von Assisi (1181–1226) ist im Christentum wie kein anderer mit dem Wort »Armut« verbunden. Was Armut christlich bedeutet, ist bis heute wesentlich von seiner charismatischen Person und der sich auf ihn beziehenden franziskanischen Bewegung bestimmt. Das gelebte Ideal der freiwilligen Armut gab es im Christentum seit den asketischen Bewegungen der Spätantike, aus denen das christliche Mönchtum erwuchs; im 12. und 13. Jahrhundert entstand im christlichen Europa jedoch eine breite Bewegung unter den Laien, die das Armutsideal mit der Nachfolge des armen Christus und der Suche nach einem Leben nach dem Evangelium und nach dem Vorbild der Apostel verband. Dies ist zu sehen im Zusammenhang mit der Veränderung der Gesellschaft im Mittelalter, die eine Zunahme realer Armut mit sich brachte. Die Kirche hat die Armutsbewegung, die zum Teil ein erhebliches institutionskritisches Potenzial enthielt, immer wieder bekämpft. Eine gewisse Wende geschah unter Papst Innozenz III. (1161– 1216), der die größten Armutsbewegungen, die des Franziskus und seines Zeitgenossen Dominikus (1170–1221), förderte und auf diese Weise in die Großkirche integrierte. Die Auseinandersetzungen um das Armutsideal rissen jedoch nicht ab und wurden auch innerhalb des nach dem Tod des Gründers 1226 schnell etablierten Franziskanerordens heftig geführt. Kein Orden hat so viele Heilige, aber auch so viele Spaltungen hervorgebracht wie der Orden, der sich auf den »Poverello«, den Armen aus Assisi berief. Im Folgenden möchte ich zunächst einige zentrale Texte der so genannten »Bullierten Regel« (BR) des Franziskus vorstellen. Dann möchte ich einen Blick auf den Wandel des franziskanischen Armutsideals in der 107

Moderne werfen und mit einigen zeitgenössischen Perspektiven schließen. Mir ist bewusst, dass ich als Franziskanerin, die in Westeuropa akademisch tätig ist, einen anderen Blick auf das Thema Armut habe als franziskanische Schwestern und Brüder in anderen Teilen der Welt. Insofern bleiben meine Überlegungen notwendig bruchstückhaft.

1. Armut in der »Bullierten Regel« des Franziskus von Assisi Das Original der von Papst Honorius III. am 29. November 1223 unterschriebenen Bestätigungsbulle, in der der vollständige Text der von Franziskus verfassten Regel aufgenommen ist, wird in Assisi als kostbare Reliquie aufbewahrt. Für die drei franziskanischen Männerorden mit ihren weltweit ca. 20.000 Mitgliedern ist die Bullierte Regel »nicht nur ein Gesetzeswerk, sondern auch ein geistliches Dokument, ja eine Mahnrede des Heiligen an seine Brüder, damit sie dem Leben nach dem Evangelium, das sie fest versprochen haben, treu bleiben. Die Regel ist bis heute die spirituelle Grundlage für uns Franziskaner. Durch Konstitutionen und Statuten wird sie allerdings für die Herausforderungen der jeweiligen Zeit aktualisiert.«1 Die an Zahl noch größere Gruppe der Franziskanerinnen und die ebenfalls weltweite Laienbewegung (der so genannte Dritte Orden) betrachten diesen Text ebenfalls als ein spirituelles Gründungsdokument.

1.1

»Dass die Brüder kein Geld annehmen sollen« (Bullierte Regel, Kapitel 4,1–3) »1. Ich gebiete allen Brüdern streng, auf keine Weise Münzen oder Geld anzunehmen, weder selbst noch durch eine Mittelsperson. 2. Doch für die Bedürfnisse der Kranken und die Bekleidung der anderen Brüder sollen einzig die Minister und Kustoden mit Hilfe geistlicher Freunde gewissenhaft Sorge tragen nach Maßgabe der Orte und Zeiten und kalten Gegenden, wie sie sehen werden, dass es der Not

1

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So auf der Homepage des Ordens, auf der der Text der Regel abrufbar ist: http://www.franziskaner.de/Bullierte-Regel.19.0.html. Einführend zur Ordensregel: Helmut Feld, Franziskus von Assisi, München 32013, 90–93.

abhelfe; 3. immer aber mit dem Vorbehalt, dass sie, wie gesagt, nicht Münzen oder Geld annehmen.«2 Das absolute Geldverbot, wie es hier festgeschrieben ist, wurde zu einem Proprium des Ordens und war lange ein Hauptmerkmal franziskanischer Armut. Geld ist das Symbol der Macht in der neuen Klasse des Bürgertums, das im 13. Jahrhundert durch Handel und Geldwirtschaft in den freien Städten Italiens stark zu werden begann. Durch Geld konnte man Privilegien kaufen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, was der reiche Bürgerspross Franziskus in seiner eigenen Biographie erfahren hatte.3 Die Lebensform der Minderen Brüder ist dagegen durch ein Leben an der Seite der Mittellosen charakterisiert; deshalb steht die Handarbeit im Vordergrund, die jedoch nicht durch Geld, sondern durch das Lebensnotwendige entlohnt werden darf. Der freiwillige Verzicht auf die eigenen Rechte soll den Erwerb neuer geistlicher Privilegien verhindern. Der Franziskaner Javier Garrido stellt sich in seiner auf die Gegenwart ausgerichteten Interpretation der Regel die berechtigte Frage, ob Franziskus strenger als Jesus gewesen sei. War er ein weltfremder Idealist, der auf den gesellschaftlichen Wandel mit der Rückkehr in eine archaische Einstellung reagierte?4 Seine Antwort spiegelt die Hermeneutik, mit der der Orden seine Regel heute zu leben versucht: Garrido sieht im radikalen Geldverbot des Franziskus den prophetischen Ausdruck einer eigenen »sozio-ökonomischen Option«5, in der die Solidarität mit den Mittellosen, den in der Gesellschaft »Minderen« im Zentrum steht. Ihr Leben sollten die Brüder, die sich die »Minderen Brüder« (fratres minores) nannten und bis heute nennen, teilen. Die Gefahr der Interpretation bestehe darin, den Text der Regel auf seine rechtlichen Aspekte zu reduzie2

3 4

5

Ich zitiere die Texte der Bullierten Regel aus den 2009 herausgegebenen Franziskus-Quellen: Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden. Im Auftrag der Provinziale der deutschsprachigen Franziskaner, Kapuziner und Minoriten herausgegeben von Dieter Berg/Leonhard Lehmann, Kevelaer 2009, 94– 110. Nach wie vor ein Klassiker der Franziskus-Biographien ist Raoul Manselli, Franziskus. Der solidarische Bruder, Freiburg 1989. Javier Garrido OFM, Die Lebensregel des Franz von Assisi. Inspiration für heute, Freiburg 2001, 177. Garrido, ein spanischer Franziskaner, versteht seinen Kommentar explizit im Anliegen der erneuerten Praxis des franziskanischen Armutsideals. Ebd. 177. Vgl. dazu auch Giorgio Agamben, Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Frankfurt 2012.

109

ren.6 Die Sorge Garridos hat ihren Grund: Im Orden der Brüder wurde das Verbot, Geld zu verwenden, über Jahrhunderte buchstäblich genommen und vor allem verrechtlicht. So musste noch im Jahr 1900 der Obere der Brüder mit einem Nicht-Franziskaner unterwegs sein, der das Geld bei sich führte!7 Erst 1967 wurden die päpstlichen Regelerklärungen außer Kraft gesetzt und dadurch die Voraussetzungen geschaffen, sich der Armutsoption in neuer Weise stellen zu können.8 Dass das absolute Geldverbot für das franziskanische Charisma nicht unverzichtbar ist, belegt bereits 1252 die Regel des so genannten Zweiten Ordens, der Klarissen. Klara von Assisi (1193/94–1253), erste weibliche geistliche Gefährtin des Franziskus im Armutsideal und Gründerin der Armen Schwestern von Assisi (Klarissen), schrieb ihre eigene Regel, die zwei Tage vor ihrem Tod, am 9. August 1253, von Papst Innozenz IV. bestätigt wurde. Auch hier geht es um das Ideal der »höchsten Armut«, das Klara in asketischer Hinsicht in manchem sogar noch strenger lebte als die Brüder; doch hier wird einer Schwester, der von ihren Eltern oder anderen Personen etwas geschickt wird, erlaubt, es zu gebrauchen, und zwar auch Geld.9 Daran zeigt sich, dass Geld kaum 30 Jahre nach dem Tod des Franziskus ein normales Zahlungsmittel geworden war. Es zeigt auch, dass der Prozess einer notwendigen Hermeneutik des Armutsideals bereits in der Gründungsphase der franziskanischen Bewegung einsetzte.

6 7

8 9

110

Garrido, Lebensregel (s. Anm. 4), 177. Vgl. sehr aufschlussreich Gisela Fleckenstein, Verwaltete Armut. Franziskaner in der Industriegesellschaft, in: Heinz-Dieter Heimann/Angelica Hilsebein/Bernd Schmies/Christoph Stiegemann (Hg.), Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn u. a., 2012, 553–564, hier 562. Garrido, Lebensregel (s. Anm. 4), 177. Vgl. Regel der Heiligen Klara, KlReg 8,6 in der Edition der Klara-Quellen: Die Schriften der heiligen Klara, Zeugnisse zu ihrem Leben und ihrer Wirkungsgeschichte. Im Auftrag der Provinziale der deutschsprachigen Franziskaner, Kapuziner und Minoriten herausgegeben von Johannes Schneider/ Paul Zahner, Kevelaer 2013. Weiterführend vgl. Lehmann, Leonhard, »Arm an Dingen, reich an Tugenden«. Die geliebte und gelobte Armut bei Franziskus und Klara von Assisi, in: Heimann/Hilsebein/Schmies/Stiegemann (Hg.), Gelobte Armut (s. Anm. 7), 37–65.

1.2

»Dass die Brüder nichts als ihr Eigentum erwerben dürfen« (Bullierte Regel, Kapitel 6) »1. Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch irgendeine andere Sache. 2. Und gleichwie Pilger und Fremdlinge (vgl. 1 Petr 2,11) in dieser Welt, die dem Herrn in Armut und Demut dienen, mögen sie voll Vertrauen um Almosen bitten gehen; 3. und sie sollen sich dabei nicht schämen, weil der Herr sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat (vgl. 2 Kor 8,9).«

»Sich nichts aneignen« (nihil sibi approprient), ohne Eigentum leben, ist eine absolute und umfassende Formulierung. Der »gesetzliche Verzicht auf das Eigentumsrecht auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene … gehört zur Wesensbeschreibung unseres Ordens. (…) Diese Option wies den Brüdern automatisch einen Platz unter den Ärmsten zu, mitten unter denen, die sich nicht einmal vor Gericht verteidigen konnten. Diese Option zeigt ihre Übereinstimmung mit der Friedensmission, die von der Bewegung praktiziert wurde.«10 Das Betteln, das Franziskus vorsieht, war damals für Kleriker verboten, also unerhört. Der Text lässt noch die Schwierigkeiten erkennen, die die Brüder damit hatten. Garrido bezeichnet das Betteln des Franziskus als »Option an der Grenze« und warnt davor, es zu mystifizieren.11

1.3

Armut und Brüdergemeinschaft (Bullierte Regel, Kapitel 7–9) »7. Und wo immer die Brüder sind und sich treffen, sollen sie sich einander als Hausgenossen erzeigen. 8. Und vertrauensvoll soll einer dem anderen seine Not offenbaren; denn wenn schon eine Mutter ihren leiblichen Sohn nährt und liebt (vgl. 1 Thess 2,7), um wie viel sorgfältiger muss einer seinen geistlichen Bruder lieben und nähren? 9. Und wenn einer von ihnen in Krankheit fällt, dann müssen die anderen Brüder ihm so dienen, wie sie selbst bedient sein wollten (vgl. Mt 7,12).«

Armut an sich ist noch keine Nachfolge Jesu und führt keineswegs automatisch zur Solidarität. »Franziskus weiß, … dass die Brüdergemeinschaft erst in der Not glaubwürdig wird. Und genau da, in der Dialektik 10 11

Garrido, Lebensregel (s. Anm. 4), 181. Ebd. 182.

111

von Armut und Brüdergemeinschaft, formt sich die echte Praxis des Evangeliums.«12 Diese Verbindung von strengem Armutsideal und brüderlicher Solidarität und Liebe spiegelt sich in unzähligen Legenden und Erzählungen und macht die Liebenswürdigkeit des Heiligen aus, die seine Strenge immer wieder mildert.

1.4

Der mystische Kern der franziskanischen Armut: die göttliche Armut

Den Zugang zur echten »Mystik« des Franziskus gibt das Schriftwort, das er in BR 6,3 zitiert: In 2 Kor 8,9 spricht Paulus vom Tausch von arm und reich in der Menschwerdung Jesu. »Ihr kennt ja die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Um euretwillen ist er, obwohl er reich war, arm geworden, damit ihr durch seine Armut reich werdet.«13 Es ist die Entäußerung des Gottessohnes in der Menschwerdung, der Franziskus in seiner Armut folgen möchte. Ein weiterer Schlüsseltext ist der Hymnus im Philipperbrief, in dem der Statusverzicht des Gottessohnes geschildert wird: »Er, der doch von göttlichem Wesen war, hielt nicht wie an einer Beute daran fest, Gott gleich zu sein, sondern gab es preis und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven, wurde den Menschen ähnlich, in seiner Erscheinung wie ein Mensch. Er erniedrigte sich und wurde gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.« (Phil 2,6–8). Armut ist zunächst die kreatürliche Armut und Erbärmlichkeit des Menschen, seine existentielle Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit. Dieser steht der Reichtum Gottes gegenüber. Das Paradox der christlichen Gotteserfahrung ist der »wunderbare Tausch«, in der Gott aus seiner Fülle heraus sich selbst bedürftig macht: In der Menschwerdung seines Sohnes nimmt er die menschliche Armut an und liefert sich einem menschlichen Leben aus. Die kreatürliche Armut des Menschen wird dadurch nicht aufgehoben, sondern ihre eigentliche Bedeutung in den Augen Gottes wird enthüllt: Armut als Empfänglichkeit, als dankbare Angewiesenheit auf den Reichtum Gottes, der sich im Verschenken an die Armut reali12 13

112

Ebd. 199. Die Übersetzung der neutestamentlichen Texte ist die der Neuen Zürcher Bibel, Zürich 2007.

siert, als Bedingung von gelebter Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit. Diese »göttliche Armut« will die franziskanische Armut zeichenhaft als Lebensstil zum Ausdruck bringen. In seinem Brief an den Orden fasst Franziskus den Kern der Armutshaltung zusammen: »Behaltet daher nichts von euch selbst für euch selbst zurück, damit euch als Ganze aufnehme, der sich euch ganz hingibt.«14 Ida Friederike Görres nennt den Armen aus Assisi – oder den, den er durch seine Armut repräsentieren wollte? – daher den »göttlichen Bettler«: »Darum ist Franziskus ein Symbol und kein Programm. Er zeigt uns nicht ein Vorbild dessen, was jeder tun kann, sondern ein Leitbild dessen, was jeder ist, als Geschöpf, als gefallener Mensch und als der durch den Abstieg des Sohnes zu dessen Bruder erhöhter Mensch. Franziskus hat sich aller ›natürlichen Tugenden Gottes‹ entäußert, die er ja in hohem Maß besaß. Er stieg als reicher Sohn und Erbe von der Rechten seines Vaters in das Dasein eines Bettlers hinab. Franziskus wollte nicht mehr ›wie Gott sein‹ und wurde dadurch wie Christus. So empfängt er unter umgekehrten Vorzeichen gerade das, worauf er verzichtet.«15

2. Verwaltete Armut und soziale Bewegung – Streiflichter des 19. Jahrhunderts Die gesamte Geschichte des Franziskanerordens ist begleitet von der Auseinandersetzung um das Armutsverständnis und vom immer neuen Versuch, zu einer neuen Radikalität franziskanischer Armut nach dem Evangelium vorzustoßen. Dies verlief parallel zum Wandel des Armutsverständnisses in der Gesellschaft. Galt Armut im Mittelalter als gottgewolltes Leiden, dem man mit Frömmigkeit und Ergebenheit zu entsprechen hatte, so war nach dem revolutionären Sturz der hierarchischen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts der Ruf nach »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« zu hören. Gleichzeitig wuchs die reale 14 15

Franz von Assisi, Brief an den gesamten Orden, Satz 29, in: FranziskusQuellen (s. Anm. 2), hier 116. Ida Friederike Görres, Der Göttliche Bettler. Versuch einer Franziskusdeutung, in: dies., Der Göttliche Bettler und andere Versuche, Frankfurt 1959, 9–41, hier 40 f. »Natürliche Tugenden Gottes« meint in diesem Zusammenhang die Tugenden, die Gott Franziskus geschenkt hat wie z. B. seine gewinnende Persönlichkeit, die mit seiner reichen Herkunft verbundenen Möglichkeiten usw. Dieser Geschenke hat er sich entäußert und ist darin der Entäußerung Christi in seiner Menschwerdung ähnlich geworden.

113

Armut in den Städten Europas, und das soziale Elend nahm neue Ausmaße an.16 In der Industriegesellschaft veränderten sich die Realität der Armut und auch ihre Interpretation noch einmal. »Seit dem 19. Jh. gibt es politische Bewegungen, welche soziale Ungerechtigkeit als Unrecht brandmarken. Armut war jetzt eine Folge eines fehlerhaften Produktionsund Verteilungssystems. (…) In der modernen Industriegesellschaft sind – im Gegensatz zu früherer Zeit – jene arm, die keine Arbeit haben oder deren Arbeit nicht ausreichend entlohnt wird.«17 1891 veröffentlichte Papst Leo XII. die erste Sozialenzyklika Rerum novarum. Die Franziskaner rezipierten sie, doch blieb ihr Wirken im vorpolitischen Raum. Ihr Verständnis einer freiwilligen, evangelischen Armut führte nicht dazu, an der Beseitigung realer Armut mitzuwirken.18 Gisela Fleckenstein schließt: »Der Schritt von der verwalteten Armut zur solidarischen Armut wurde erst im 20. Jahrhundert gemacht.«19 Eine neue, produktive franziskanische Antwort auf die Armutsfrage setzte dagegen in den karitativen Frauenorden des 19. Jahrhunderts ein. Nach der Säkularisation 1803 entstand Mitte des 19. Jh. in Europa eine breite katholische Laienbewegung, die auf die sozialen und ökonomischen Umwälzungen der beginnenden Industriegesellschaft reagierte.20 Es entstanden innerhalb kurzer Zeit unzählige Frauenkongregationen, die sich der franziskanischen Spiritualität verpflichteten und das Ideal christlicher Nächstenliebe im Geist der Demut und Armut des heiligen Franziskus in großen karitativen Werken umsetzten. Relinde Meiwes kommt in ihrer Untersuchung über die Franziskanerinnen in der sozialen Arbeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu dem Schluss, »dass es den Frauen gelang, die mittelalterlichen Ideen von einem gemeinschaftlichen christlichen Leben an die Bedingungen der sich modernisierenden Gesellschaft des 19. Jh. anzupassen. Das lässt sich nicht zuletzt auch an dem praktizierten Armutskonzept der franziskanischen Frauenkongregationen ablesen. Die persönlichen Lebensumstände der Frauen sollten von Einfachheit und Bescheidenheit geprägt sein, persönlichen Besitz hatten die Schwestern in der Regel nicht. Die Kongregation als solche legte sich im Hinblick auf ihren Umgang mit ihren Finanzen und Immobilien meist weniger strenge Vorgaben zu, als es zur gleichen Zeit in den franziskani16 17 18 19 20

114

Vgl. Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München 1988. Fleckenstein, Verwaltete Armut (s. Anm. 7), 556. Ebd. 557. Ebd. 563. Vgl. dazu den Beitrag von Ulrike Bechmann in diesem Band.

schen Männerklöstern üblich war. Aber nur so war es den Frauengemeinschaften möglich, ihr anspruchsvolles tätiges Leben mit der Frömmigkeitspraxis in Einklang zu bringen.«21

3. Solidarische Armut. Die noch unabgeschlossene Suche nach einer zeitgenössischen Lebensform nach dem Evangelium Die 1960er und 1970er Jahre waren eine Zeit politischer Umwälzungen in Europa. In der katholischen Kirche öffnete das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) die Fenster der Kirche für die Welt. Die Kirche wurde zunehmend politisch; die Armutsfrage wird, auch im Orden, nicht mehr mit einer Theologie und Praxis des Almosengebens beantwortet, sondern mit der Gerechtigkeitsfrage verbunden. Die bedeutendste Bewegung ist dabei die v. a. in Lateinamerika entstehende Theologie der Befreiung, in der führende Theologen aus der franziskanischen Familie stammen.22 Es entstehen Konflikte im Orden und zwischen dem Orden und der »Amtskirche«. Gleichzeitig wird Franziskus von Assisi auch außerhalb des Ordens wiederentdeckt als Bewahrer der Schöpfung, Mann des Friedens und Freund der Marginalisierten.23 Diese Themen bestimmen bis heute das Ringen der franziskanischen Familie um eine Erneuerung des Charismas der Armut.24 Der entscheidende Wandel im Armutsverständnis des Franziskanerordens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann als der Schritt von der »verwalteten Armut zur solidarischen Armut«25 bezeichnet werden, von einem individuell und gemeinschaftlich der asketischen Armutspraxis verpflichteten Leben, das der 21 22 23 24

25

Relinde Meiwes, Armut und Arbeit. Franziskanerinnen in der sozialen Arbeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Heinz-Dieter Heimann u. a. (Hg.), Gelobte Armut (s. Anm. 7), 528–552, hier 552. Vgl. v. a. den franziskanischen Theologen Leonardo Boff und seine Franziskusdeutung: Zärtlichkeit und Kraft: Franziskus von Assisi, mit den Augen der Armen gesehen, Düsseldorf 1983. Vgl. dazu Andreas Henkelmann, Solidarische Armut? Nachkonziliare Konzepte franziskanischer Lebensentwürfe, in: Heimann u. a. (Hg.), Gelobte Armut (s. Anm. 7), 565–587. Vgl. zur Umweltfrage etwa das Ordensdokument »Franziskanisches Engagement für Umweltgerechtigkeit«. Die englische Originalversion »Environmental Justice« und die deutsche Übersetzung finden sich unter: http://www.ofm.org/ofm/?page_id=439&lang=en. Fleckenstein, Verwaltete Armut (s. Anm. 7), 563.

115

Selbstheiligung diente, zum Leben an der Seite der Armen und als Stimme der Armen. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, weder praktisch noch konzeptionell. Bei allen Erneuerungsbewegungen geht es darum, die mystische Wurzel der Christusnachfolge als Ursprung und Quelle franziskanischer Lebenspraxis wieder zu gewinnen und das Leben des »Minderseins«, das dem Orden der fratres minores, der Minderbüder,in den Namen eingeschrieben ist, in den unterschiedlichen Lebenskontexten eines weltweiten Ordens auszubuchstabieren. Gefahren werden einerseits in einer Spiritualisierung der Armut gesehen, andererseits in einer Politisierung. Als Beispiel des Armutsverständnisses als solidarische Armut zitiere ich aus den aktuellen Generalkonstitutionen des Franziskanerordens OFM:26 Art. 66,1: »Um dem Erlöser in der Selbstentäußerung nachdrücklicher zu folgen und sie deutlicher vor Augen zu führen, sollen die Brüder das Leben und den Stand der kleinen Leute in der Gesellschaft teilen und stets als die Minderen unter ihnen sein; durch diese soziale Haltung arbeiten sie am Kommen des Gottesreiches mit. 66,2: In ihrer Lebensart sollen die Brüder als Gemeinschaft und auch einzeln sich so geben, dass niemand von ihnen ferngehalten wird, vor allem nicht die sozial und geistlich gewöhnlich im Stich Gelassenen. […] 68,1: Die Brüder sollen in dieser Welt als Anwälte der Gerechtigkeit und als Herolde und Bauleute des Friedens leben, die das Böse durch das Gute besiegen. 68,2: Mit dem Munde sollen sie den Frieden verkünden, mehr noch ihn tief im Herzen tragen, so dass niemand zu Zorn und Ärgernis provoziert wird, sondern alle durch die Brüder zu Frieden, Freundlichkeit und Wohlwollen aufgerufen werden. 69,1: Wenn sie Rechte der Unterdrückten verteidigen, sollten die Brüder auf Gewalttätigkeit verzichten und auf Mittel zurückgreifen, die auch sonst den Schwächeren zur Verfügung stehen.« Das Generalkapitel des Franziskanerordens 2009 veröffentlichte ein Dokument »Das Geschenk des Evangeliums bringen«, das als inspirierende Botschaft an den Orden und darüber hinaus verstanden werden will.27 Dort wird im Kapitel 23 die Bewegung der Flüchtlinge und Migranten als Ort genannt, an dem die Minderbrüder gegenwärtig die Prä26 27

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Herunterzuladen unter http://www.ofm.org/ccssgg/ Herunterzuladen unter: http://www.ofm.org/01docum/cg2009/DocFinCG 09TED.pdf

senz des Evangeliums leben können. Der Text ist ein Beispiel, wie sich ein auf Christus und das Evangelium bezogenes Verständnis der Armut mit einer wachen Analyse der Gegenwart und konkreten Optionen verbindet: »Gleichzeitig gibt es das Phänomen, dass andere Grenzen unscharf werden und immer weniger abgrenzen. Die Globalisierung kann als ein Paradigma dafür betrachtet werden. Sie stellt eines der großen Paradoxien unserer Zeit dar: für einige werden die Grenzen unüberschreitbar, für andere existieren sie fast nicht. Das Phänomen der Immigration gehört in diese Dialektik, besonders wenn es um Flüchtlinge geht. Jedes Jahr gibt es zahllose Menschen, die durch Armut oder Gewalt aus ihren Ländern vertrieben werden, und nicht wenige von ihnen kommen bei dem Versuch zu Tode, für sich oder ihre Familien Mittel für den Unterhalt der elementarsten Bedürfnisse zu finden. Ihre Itineranz beruht auf ihrer Armut und ihrem Mindersein. Können wir Minderbrüder ein soziales Feld finden, in dem diese Werte unseres Charismas besser repräsentiert werden? Eine vom Evangelium getragene Präsenz unter ihnen wäre ein besonders beredtes Zeichen der Rückerstattung in dieser Welt, in der der Fluss des Geldes, der Güter und der Dienste freie Wege findet, nicht aber die Menschen, und noch weniger die Armen, die doch das ›Sakrament‹ des Gottessohnes sind, der arm und fremd war. Durch die Inkarnation hat sich das Wort an die Peripherie begeben, ist es verwundbar und arm geworden. Wir dürfen daher nicht vergessen, dass unser Mindersein, für das Christus das Paradigma ist, uns zu mutigen Entscheidungen führen muss, die uns helfen, einige soziale und kirchliche Aufgaben aufzugeben, um mit größerer Entschlossenheit ›Orte der Front‹ und das Leben am Rand, die integrierende Bestandteile unserer Tradition sind, zu wählen.«28 Parallel zu diesen Entwicklungen im Brüderorden verläuft in den franziskanischen Frauenkongregationen derzeit ein intensiver Prozess, ihre großen karitativen Werke unter den sich verändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in die Zukunft zu führen. Die Abnahme der Ordensmitglieder führt zu neuen Formen der Trägerschaft. Hier geht es darum, das materielle Erbe der Schwestern im Sinn der 28

Hier zitiert das Dokument den damaligen Generalminister des Ordens: José R. Carballo, Authentisch und offen für die Zukunft, Bericht an das Generalkapitel, Rom 2009, 32b.

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Gründungsintention für die Armen zu sichern; gleichzeitig werden Wege gesucht, den franziskanischen Geist der Institutionen, die sich in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild verpflichtet sehen, angesichts neuer Herausforderungen, etwa im gesundheitspolitischen und ethischen Bereich, zu wahren. Die Verbindung der Armut mit der Gerechtigkeitsfrage ist also eine moderne Fragestellung. Die Geschichte der franziskanischen Bewegung zeigt, wie sie in einem mühsamen Prozess in der Geschichte freigelegt wurde. Die Frauenkongregationen im 19. Jh. waren die ersten, die ihre franziskanische Lebensform ganz konkret als Antwort auf die soziale Frage und die Armutsproblematik des 19. Jahrhunderts hin entwarfen. Der Brüderorden und die franziskanische Bewegung als Ganze konnten den Schritt zur solidarischen Armut erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil tun. Eine Voraussetzung dafür war die neuere Franziskusforschung, die einen neuen Zugang zum mystischen Proprium des franziskanischen Charismas ermöglichte. Was auf diesem Weg der Erneuerung ebenfalls immer deutlicher zu Bewusstsein kommt, ist die Größe des Ideals und die menschliche Armut in allen Versuchen, ihm zu entsprechen.

4. Schlussreflexion: Die Armut des Franziskus und die Armut der Sufis Eine Gegenüberstellung der christlich-franziskanischen mit der muslimisch-sufischen Tradition zeigt immer wieder Übereinstimmungen in der asketischen Geisteshaltung und Praxis.29 Auch in der metaphysischen Bedeutung der Armut ergeben sich entsprechend der mittelalterlichen Tradition Gemeinsamkeiten: Der Mensch ist vor Gott seinshaft mangelhaft und bedürftig, während Gott Reichtum ist. Faqr als asketisch praktizierte seinshafte Armut dient der Vervollkommnung des Menschen mit dem Ziel, den Reichtum Gottes zu erreichen. Faqr ist deswegen kein Ziel in sich, sondern ein Weg zur Gottesnähe. Obwohl die Sufis asketische Armut praktizierten, lehnten sie deshalb Reichtum nicht grundsätzlich 29

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Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die Diskussion mit Reza Hajatpour und den Teilnehmern am gemeinsamen »Thematischen Forum« in Hohenheim. Sie sind deswegen keineswegs umfassend. Vorgestellt wurde ein Text von ʿAbd al-Qadīr al-Ğīlī, gest. 1166, also 40 Jahre nach Franziskus.

ab. Die Armut des Franziskus ist vom asketischen Vorbild des östlichen Mönchtums inspiriert, das auch die muslimischen Sufis beeinflusste; er ist unter den christlichen Heiligen des Abendlands vielleicht derjenige, der am reinsten den Typos oder das Ideal des Gottesmannes verkörpert, dessen absolute Armut von Gott mit seinem Reichtum erfüllt wurde und dessen glühende Gottesliebe selbst das Elend kreatürlicher Armut in Friede und Freude verwandelt hatte. Franziskanische Armut bringt jedoch über diese christlich-monastische Tradition hinaus ihr spezifisch christologisches Proprium zum Tragen: die Heiligung der Armut der Kreatur durch die Menschwerdung des Gottessohnes zwischen Krippe und Grab. Dieses Geheimnis der Erlösung soll durch die Lebensform als Armer symbolisch inszeniert und zeichenhaft vergegenwärtigt werden; deswegen ist Armut bei Franziskus immer und selbst in Situationen der Not mit Freude verbunden. Dieser zutiefst mystische Impuls wurde auch von seinen eigenen Anhängern nicht immer verstanden, was die lange Geschichte der Verrechtlichung des Charismas zeigt. Die Nähe zwischen den sufischen Gottesnarren und dem gotttrunkenen Bettler aus Assisi illustriert eine Episode aus dem Leben des Heiligen: Thomas von Celano berichtet in seiner 1229 verfassten Lebensbeschreibung, wie Franziskus auf seiner Reise ins Heilige Land 1219 in Damiette in die Hände muslimischer Soldaten fiel und dem muslimischen Sultan gegenübergestellt wurde. Dieser empfing den Gottesmann, der in seinem einfachen Wollhabit »innen und außen geflickt, samt Gürtelstrick und Hosen«30 und seiner demütigen und friedfertigen Haltung an einen sufischen Asketen erinnert haben muss, »höchst ehrenvoll. (…) Er ehrte ihn, so gut er konnte, und ging darauf aus, durch zahlreiche Angebote an Geschenken sein Herz den Gütern der Welt zugänglich zu machen. Als er jedoch sah, dass Franziskus mit großer Entschiedenheit alles wie Kot erachtete, wurde er von höchster Bewunderung erfüllt und betrachtete ihn wie einen Mann, der seinesgleichen auf Erden nicht hat.«31 Die Quellen stehen im Dienst franziskanischer Hagiographie, doch die Verwandtschaft des christlichen Asketen mit einem muslimischen Sufi in den Augen seiner muslimischen Zeitgenossen ist historisch wahrschein30 31

So beschreibt Franziskus selbst seine Kleidung und die seiner Brüder in seinem Testament, 16. Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung oder Vita des hl. Franziskus (1 C), Kap. 57, in: Franziskus-Quellen (s. Anm. 2), 195–288, hier 234.

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lich zu machen und entspricht auch dem Selbstverständnis des Poverello.32 Wenn die muslimischen Gesprächspartner wahrnehmen konnten, dass sich der gottbegeisterte Bettelmönch von der materialistischen Mentalität der Kreuzfahrer unterschied und dass seine Armut auch einen kritischen Impuls gegenüber der mächtigen Kirche bedeutete, könnte er sie zudem an die asketische und kalifatskritische Haltung mancher Prophetengefährten erinnert haben; doch dies bleibt Spekulation. Es gibt eine einzige muslimische Quelle, die von manchen Forschern auf die Begegnung zwischen Franziskus und dem Sultan gedeutet wird: »Auf dem Grabstein des Fakhr ad-Din Muhamad ibn Ibrahim Farisi, der geistlicher Berater des Sultans Malek al-Kamil war, und im Jahre 1224, also fünf Jahre nach dem Besuch des Franziskus starb, steht der folgende Satz: ›Dieser hat eine Tugend, die allen bekannt ist, Sein Abenteuer mit Malek al-Kamil und was mit ihm geschah aufgrund des Mönchs, ist sehr berühmt‹.«33 Ob dieser »Mönch« der christliche Bettler Franziskus oder ein Sufi-Mönch war, ist allerdings nicht sicher. Auch was mit dem Berater des Sultans auf Grund der Begegnung geschah, wissen wir nicht. Neuerdings hat Navid Kermani in seinen essayistischen Meditationen über das Christentum eine weitere schöne Quelle ins Spiel gebracht:34 In Assisi wird ein kostbarer Autograph des Heiligen aufbewahrt, die etwa postkartengroße so genannte »Chartula« aus Pergament, auf der Franziskus nach seiner Erfahrung der Verwundung durch eine Erscheinung des Gekreuzigten im September 1224, seiner Stigmatisation, den »Lobpreis von La Verna« niederschrieb. Es handelt sich um eine Litanei der Namen Gottes, die immer wieder mit der muslimischen Tradition der 99 Namen Gottes in Verbindung gebracht wurde: »Du bist die Schönheit. Du bist die Milde. Du bist der Beschützer. Du bist der Wächter und Verteidiger. Du bist die Stärke. Du bist die Zuflucht«, heißt es da 32

33 34

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Zur ersten Orientierung über den Besuch des Franziskus beim Sultan und zu den Auswirkungen, die die Begegnung mit der Gläubigkeit der Muslime im Nahen Osten für Franziskus hatte, vgl. Jan Hoeberichts, Feuerwandler. Franziskus und der Islam, Kevelaer 2001. Vgl. ferner die sorgfältige Analyse aller Quellen zu dieser Begegnung in Paul Zahner, Der Besuch des Franziskus von Assisi beim Sultan von Ägypten im Jahre 1219, in: Michaela Sohn-Kronthaler/Paul Zahner (Hg.), Pax et bonum. Franziskanische Beiträge zu Frieden und interreligiösem Dialog, Innsbruck/Wien 2012, 7–39. Zahner, Besuch (s. Anm. 32), 54; Augusto Natali, Gli Arabi e S. Francesco alle crociate, in: L’Italia francescana 33 (1958), 154–162. Navid Kermani, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015.

unter anderem.35 Auf der Rückseite ist ein Segen zu lesen, der nach der Aufschrift auf dem Pergament selbst36 und nach dem frühen Biographen Thomas von Celano Bruder Leo, dem Gefährten des Heiligen, gegolten hat.37 Mit Bezug auf eine neuere Veröffentlichung des Franciscan Institute in St. Bonaventure in New York schlägt Kermani vor, dass dieses Schriftstück und auch der dazugehörige Segen nicht Bruder Leo, sondern dem muslimischen Sultan al-Kāmil Muḥammad al-Malik gegolten habe, den Franziskus »Freund« nennt und mit den Worten des aaronitischen Segens (Num 6,24–26) segnet. Die Chartula wäre dann vielleicht das früheste Dokument der Freundschaft zwischen Christentum und Islam.38 Die Behauptung seiner Quelle, Franziskus habe auf den Autograph auch das bärtige Gesicht des Sultans gezeichnet und aus dessen Mund das kreuzähnliche »Tau« als Segenszeichen aufragen lassen, will Kermani bei eingehender Besichtigung des kleinen Pergaments in Assisi zwar nicht bestätigen, worin ihm die Verfasserin folgen würde. Dennoch: Sind es nicht die »Fioretti«, jene liebevollen Legenden-Geschichten um den Heiligen,39 die oft tiefere Wahrheit enthalten als die historischen Berichte? So mag ich die Erzählung um das neu entdeckte Freundschaftsdokument gern in den Kreis der »Fioretti« aufnehmen.40 Was daran wahr ist, ist die kritische Haltung, die Franziskus gegenüber der Kreuzzugsideologie einnahm41 und die sich am eindringlichsten in einem Passus seiner nicht-bullierten Regel niederschlägt. Dort heißt es, dass die Brüder, »die unter den Sarazenen wandeln … um Gottes willen jeder menschlichen 35 36

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Franziskus von Assisi, Lobpreis Gottes (LobGot), in: Franziskus-Quellen (s. Anm. 2), 37 f. Der ganze Text ist im Netz zu lesen unter: http://www.franziskaner.de/Lobpreis-Gottes.21.0.html Franziskus von Assisi, Segen für Bruder Leo (SegLeo), in: FranziskusQuellen (s. Anm. 2), 38 f. Br. Leo hat auf dem Pergament mit roter Tinte als Rubrik vermerkt, in welcher Situation der Lobpreis entstanden ist, und hinzugefügt, dass »der selige Franziskus […] diesen Segen mit eigener Hand für mich, Bruder Leo« schrieb, vgl. ebd. 39. Thomas von Celano, Zweite Lebensbeschreibung, Kapitel 49 (2Cel 49), in: Franziskus-Quellen (s. Anm. 2), 329. Kermani, Staunen (s. Anm.. 34), 275. Die Blümlein des hl. Franziskus (Fioretti), in: Franziskus-Quellen (s. Anm. 2), 1346–1438. Das Weitere mögen die Fachleute entscheiden. Vgl. dazu Laurent Gallant, Franz von Assisi und der Fünfte Kreuzzug – Eine Erfahrung »loyaler Dissidenz« in der Kirche seiner Zeit, in: Adrian Holderegger/Mariano Delgado/Anton Rotzetter (Hg.), Franziskanische Impulse für die interreligiöse Begegnung, Stuttgart 2014, 59–76.

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Kreatur untertan sind und bekennen, dass sie Christen sind.« (NbR, 16)42 Ein Leben unter der Herrschaft von Nicht-Christen – Juden wie Muslimen – war den Christen damals kirchenrechtlich untersagt. In solchen, dem Mainstream sich widersetzenden Anweisungen des Franziskus liegen die Ursprünge eines Zusammenlebens in Freundschaft, die Kermani in der Chartula ausgedrückt sehen will. Könnte man vielleicht sogar in der Formulierung »und bekennen, dass sie Christen sind« einen Bezug auf Sure 5,82 erkennen? »Und Du wirst sicher finden, dass unter ihnen diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, welche sagen: ›Wir sind Christen‹. Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester und Mönche gibt und weil sie nicht hochmütig sind.« Dann wäre es die Regel, in der sich ein früher Hinweis auf einen Dialog des Heiligen mit Muslimen findet, den wir im Geist des Heiligen als freundschaftlich imaginieren. Kermani findet wunderschöne Worte, um den Respekt, die Ehrerbietung und die aufkeimende Freundschaft zweier frommer und humaner Männer zwischen den inhumanen und verblendeten Kreuzzugsfronten zu beschwören; wenn er dagegen über den Islam schreibt, zitiert er die Worte einer fast schwärmerischen Franziskanerin. Auch darin sehe ich eine zeichenhafte Bedeutung, wie in der Schaffung einer neuen Franziskus-Legende: den eigenen Glauben mit den liebevollen Worten des anderen zu sehen und selber respektvolle Worte für den fremden Glauben zu finden. Dass es Franziskus ernst war mit der Achtung vor der anderen Religion, zeigen noch zwei weitere Quellen: Als Franziskus aus dem Orient zurückkam, schrieb er einen Brief an die Verantwortlichen seines Ordens sowie mit großer Kühnheit einen weiteren an die »Lenker der Völker«, also an die Politiker. Darin schlägt er, inspiriert von der Erfahrung des Gebetsrufs im Islam, so etwas wie einen gemeinsamen Aufruf zum Gebet der Gläubigen vor, den er sich wohl religionsübergreifend dachte: »Und möget ihr doch unter dem euch anvertrauten Volk dem Herrn so große Ehre bereiten, dass an jedem Abend durch einen Herold

42

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Franziskus von Assisi, Nicht-bullierte Regel (NbR), Kap. 16, in: FranziskusQuellen (s. Anm. 2), 69–93, 81. Vgl. dazu Leonhard Lehmann, Franziskanische Existenz unter Sarazenen als »Inter-Esse« (NbR 16) und das Lob Gottes als Brücke zwischen den Religionen, in: Holderegger/Delgado/Rotzetter (Hg.), Franziskanische Impulse (s. Anm. 41), 35–58. Ferner: Niklaus Kuster, Der eine Gott und die vielen Religionen – Die universale Vision des Franz von Assisi, in: ebd. 13–32.

oder sonst ein Zeichen dazu aufgerufen werde, vom gesamten Volk Gottes, dem allmächtigen Herrn, Lobpreis und Dank zu erweisen.«43 Das Anliegen verhallte ungehört und bleibt prophetische Mahnung bis heute. Wie sehr Franziskus aus seiner Mystik des alleinigen und einzig guten Gottes Grenzen überwinden konnte, bezeugt wiederum sein Biograph Thomas von Celano, und es schmerzt heute fast, diesen alten Text zu lesen: »Als ihn eines Tages ein Bruder fragte, warum er auch die Schriften der Heiden und solche, in denen der Name des Herrn nicht stand, so eifrig sammle, antwortete er: ›Mein Sohn, weil in ihnen die Buchstaben vorkommen, aus denen man den glorwürdigsten Namen des Herrn, unseres Gottes, zusammensetzen kann. Auch gehört das Gute, das sich dort findet, nicht den Heiden noch sonst irgendwelchen Menschen, sondern Gott allein, dem jegliches Gute zu Eigen gehört.‹«44

43 44

Franziskus von Assisi, Brief an die Lenker der Völker (Lenk), in: Franziskus-Quellen (s. Anm. 2), 136 f. Vgl. dazu Lehmann, Franziskanische Existenz (s. Anm. 42). Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung des hl. Franziskus (1 C 82), in: Franziskus-Quellen (s. Anm. 2), 248.

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Armut aus der Sicht des Sufismus Reza Hajatpour

Der Sufismus, die so genannte »islamische Mystik«, hat eine große Wirkung auf das soziale Verhalten von muslimischen Gläubigen ausgeübt. Zugleich hat er vielfach ein vorbildliches religiöses Verhalten für fromme Gläubige in der Gesellschaft geprägt. Armut ist eine wichtige Kategorie in der Tugendlehre des Sufismus. Sie wird selbst gewählt, um Gott näherzukommen, und ist daher kein Ziel an sich, sondern der Weg zur Gottesnähe. Anders als in christlicher Tradition gibt es jedoch keine »Theologie der Armut« im Islam. Obwohl die Armut den Sufis zufolge als eine Eigenschaft des Propheten betrachtet wird, da er angeblich gesagt habe, »Armut ist mein Stolz«,1 wurde sie keineswegs als Ziel der Frömmigkeit angesehen, jedenfalls nicht bei der Mehrheit der Sufis. Sie ist nur eine asketische Station, die den Sufi zum Ziel führen sollte. Da die Armut eine asketische Haltung ist, positioniert sie sich nicht explizit gegen Reichtum. In diesem Sinne kommt der Armut eine weitere Bedeutung zu. Sie ist ein Aspekt der menschlichen Existenz. Gegenüber Gott ist der Mensch arm. Denn Gott ist reich im Sinne von »absolut« und »vollkommen«. Durch Gottes Nähe überwindet der Mensch seine existentielle Armut und seine Mängel. Daher soll hier »Armut« im Islam unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden. Zum einen geht es um die metaphysische Bedeutung der Armut im Kontext der Schöpfung und zum anderen um den asketischethischen Aspekt der Armut. Für beide Bereiche verwenden die Sufis den Begriff faqr.

1. »Armut« in metaphysischer Bedeutung Der Terminus faqr, wie er insbesondere im Kontext der transzendentalen Philosophie des Isfahaner Philosophen Ṣadr ad-Dīn aš-Širāzī (»Mullā 1

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Vgl. Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, München 1992, 178.

Ṣadrā«, gest. 1640) gebraucht wird, bezieht sich auf die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der gesamten Existenz gegenüber der Vollkommenheit Gottes. Die Schöpfung ist deshalb »arm«, weil sie in ihrer Existenz abhängig von Gott ist und in ihrer Beschaffenheit vergänglich. In diesem Sinne wird von der Dichotomie von Sein und Nichtsein gesprochen. Um zu existieren, braucht man das Sein, und um das Sein zu erhalten, müssen der Mensch und damit einhergehend auch sämtliche Geschöpfe ihre existentielle Armut bzw. die Mangelhaftigkeit überwinden. Die Schöpfung in ihrer materiellen Erscheinungsform ist damit der Mangelhaftigkeit und Armut ausgesetzt. Dennoch ist sie entwicklungsfähig. Nach der Theorie der »substantiellen Bewegung« aš-Širāzīs befindet sich die Welt in einer ständigen Erneuerung. Überhaupt haben alle Phänomene der Welt für aš-Širāzī zwei Gesichter: Das eine ist veränderlich und das andere unveränderlich. Nach dieser Vorstellung gehören die Leiblichkeit und damit auch die Vergänglichkeit zu dem Prozess, der zu einem perfekten Zustand führt. Denn nach der substantiellen Bewegung geht jeder neuen Schöpfung bzw. Entstehung ein Nichtsein voraus. Die Mangelhaftigkeit ist damit eine Eigenschaft der Natur, die das Leben durchdringt, was aš-Širāzī mit faqr bezeichnet. Dieser Begriff geht aus seiner ontologischen Lehre hervor: Wenn die Existenz nicht »per se« notwendig ist, so stellt sie nur eine Möglichkeit (imkān) dar, die logischerweise in ihrer Essenz bedürftig ist.2 Damit werden essentiell sowohl die Vollkommenheit als auch die Unvollkommenheit als zwei Aspekte des Seins mitgegeben. Veränderung bedeutet demnach, eine neue Form anzunehmen, und dies betrifft die Seele. Solange die Seele nicht den geistigen Zustand erreicht hat, ist sie abhängig vom Körper. Die Perfektion ist dagegen die Überwindung der Vergänglichkeit und Mangelhaftigkeit, nämlich faqr. Das ist der Sinn des materiellen Lebens.3 2

3

Vgl. Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm aš-Širāzī (Mullā Ṣadrā), alḤikma al-mutaʿālīya fī l-asfār al-ʿaqlīya al-arbaʿa (al-Asfār) (Die höchste Weisheit und die vier Reisen des rationalen Geistes), hg. v. Riḍā Luṭfī/ Muḥammad Riḍā Muẓaffar, Ghom 1967, Bd. I, 86 ff. Diese prozesshafte Darstellung des materiellen Lebens zeigt – wie dies von vielen Theologen vertreten wird – vor allem die existentielle Abhängigkeit der Welt und weniger deren normative Verurteilung. Wie Aḥmad Narrāqī betont: »Wisse, Du lieber Bruder, die Welt ist ein Feind Gottes und seiner frommen Diener.« Aḥmad Narrāqī, Miʿrāğ as-saʿāda (Des Glückes Himmelfahrt), hg. v. Riḍā Marandī, Teheran 2000, 313. Es gibt sogar häufig gesonderte Kapitel, die einen Titel wie »Tadel der diesseitigen Welt« (ḍamm ad-dunyā) tragen. Siehe dazu ebd. 311–335.

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Ṣadr ad-Dīn aš-Širāzī geht noch weiter und vertritt die Ansicht, dass die Mangelhaftigkeit und Schwäche des Menschen und seine Bedürftigkeit die Gründe für die Sehnsucht nach der Gnade Gottes und die Potentialität zur Vervollkommnung sind. Denn nur das Unvollkommene sehnt sich nach der Vollkommenheit, und in diesem Sinne ist die Vollkommenheit eine notwendige Reflexion des eigenen Seinsgrundes, der das Ziel und Ideal des Menschen permanent mitbestimmt. »Wisse, in die Welt zu kommen, bedeutet [dasselbe wie] von der Vollkommenheit zur Mangelhaftigkeit herunterzukommen [huwa an-nuzūlu mina l-kamāli ilā n-naqṣi] und von der ersten Disposition herunterzustürzen [wa-s-suqūṭi ilā l-fiṭrati l-ūlā]. Daher ist die Hervorbringung der Geschöpfe durch den Schöpfer zwangsläufig nicht anders möglich, außer auf diesem Weg. Von der Welt zum Paradies zu gehen und danach unter seinem [göttlichen] Schutz und [seiner Anwesenheit] zu existieren, ist [dasselbe wie] die Rückkehr zur [ersten] Disposition und [die Entwicklung] von der Mangelhaftigkeit zur Vollkommenheit.«4 An diesen Aspekt knüpft Ṣadr ad-Dīn aš-Širāzī die Theodizee-Frage. Das Übel bzw. das Böse hat kein eigenständiges Sein. Es existiert aufgrund des Mangels an Gutem. »Wenn du nachdenkst und die Bedeutungen des Bösen und seiner Zustände und Beziehungen näher anschaust [untersuchst], findest du alles, worauf die Bezeichnung des Bösen zutrifft, in zweierlei Form; es ist entweder ein absolutes Nichtsein oder tendiert zum Nichtsein. Man sagt, das Böse ist beispielsweise (wie) der Tod, die Unwissenheit, die Armut, die Schwäche [Dürftigkeit], die Verunstaltung der Schöpfung, das Fehlen eines Gliedes, die Dürre [der Mangel] und Ähnliches von der Sorte des absoluten Nichtseins [ʿadamīyāt, der Nichtseienden, Nichtheiten, des Privativen] und es wird weiterhin gesagt: es gibt Böses in Form von Schmerz, Trauer und absoluter Unwissenheit [al-ǧahl al-murakkab, gemeint ist die komplexe Unkenntnis, d. h. man weiß nicht, dass man nicht weiß] und andere 4

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Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm aš-Širāzī (Mullā Ṣadrā), Asrār al-Āyāt (Korankommentar: die Geheimnisse der koranischen Verse), hg. v. Muḥammad Ḫaǧawī, Beirut 1993, 167 f. Für Ṣadrā sind Anfang und Rückkehr, obwohl sie einander gegenüberstehen, zwei identische Zustände, die von demselben Ziel geprägt sind (anna l-mabdaʾa hiya al-fiṭratu l-ūlā [...] al-maʿādu huwa l-ʿawdu ilayhā). Ebd. 166 f.

ähnliche Dinge, bei denen es sich um die Erfassung eines bestimmten Grundsatzes und einer bestimmten Ursache handelt, nicht um das bloße Verlieren eines bestimmten Grundsatzes bzw. einer bestimmten Ursache, denn das Schädigende, die das Gute und das Vollkommene verneinende Ursache, die zum Erlöschen führt, lässt sich in zwei Bereiche einteilen.«5 Damit ist faqr ein Zustand der Mangelhaftigkeit an Sein und an dem Guten. Die Möglichkeiten der Bewältigung der existentiellen Armut hat Gott, da Gott gerecht ist, bereits in der Existenz des Menschen verankert. Dies geschieht zum einen durch die Möglichkeit der Vervollkommnung und zum anderen durch asketisch-tugendhaftes Leben. In diesem Sinn können wir den sufischen Spruch »wenn faqr vollkommen wird, ist es Gott« verstehen. Das bedeutet, dass das Aufgehen in Gott (fanāʾ) nichts anderes bedeutet, als den Zustand des faqr zu überwinden und die absolute Armut zum absoluten Reichtum zu verwandeln. Manche Mystiker setzten sogar faqr mit fanāʾ gleich, denn »die vollkommene Armut ist der Zustand, da man das reine göttliche Wesen erreicht«.6 Mystiker wie Aḥmad al-Ġazālī (gest. 520/1126) oder Rūzbihān Baqlī Šīrāzī (522–606q/1128–1209) bringen diesbezüglich das Konzept der Liebe ins Spiel.7 Liebe ist das Maß der Entstehung, der Veränderung und der Fortentwicklung der Existenz. Je stärker die Liebe ist, desto vollkommener ist die Existenz. Daher entspricht das Verhältnis zwischen den Liebenden und den Geliebten dem Verhältnis der Armut zur Gnade Gottes. Der Liebende sehnt sich nach der Liebe und wird von ihr angezogen, und vom Geliebten strahlt die Liebe aus. Je mehr der Liebende von dieser Liebe hat, desto geringer ist seine Mangelhaftigkeit und Armut an der existentiellen Fülle. Liebe kann hier als ein Aspekt angesehen werden, der alle Religionen gleichermaßen verbindet, denn die Liebe ist in allen Religionen als Gottesliebe gleichermaßen thematisiert worden, wie beim Aspekt der Nächstenliebe im Christentum oder in der Barmherzigkeit Gottes im Islam.

5 6 7

Aš-Širāzī, al-Asfār (s. Anm. 2), Bd. VII, 59. Schimmel, Mystische Dimensionen (s. Anm. 1), 182. Siehe al-Ġazālī, Aḥmad, Baḥr al-ḥaqīqa (Das Meer der Wahrheit), hg. v. Naṣrullāh Pūrǧawādī (1397q/1977), Teheran; Baqlī Širāzī Rūzbihān: Kitāb abḥār al-ʿāšiqīn (Das Meer, in das die von Sehnsucht Getriebenen eintauchen), hg. v. Henry Corbin/Muḥammad Muʿīn (31366/1987), Paris/Teheran.

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Die Vollkommenheit bedeutet damit den existentiellen Selbstvollzug. Wenn der Mensch die höchste Form des Lebens erreicht, gewinnt er eine Existenzfülle, die das Ziel des vollkommenen Menschen bildet.8

2. »Armut« als Moment des mystischen Pfades Armut wird damit zu einem wichtigen Bestandteil des mystischen Pfades. Die Erkenntnis des mystischen Pfades ist die Erkenntnis von Stationen, die ein Mystiker erreichen muss, um Gottesgnade zu erlangen. Armut gehört daher zu diesen Stationen. Doch Armut kann nicht alleine den Weg bestimmen. Dazu gehören weitere Eigenschaften. Daher gibt es für ʿAlī Ibn ʿUṯmān Huǧwīrī (gest. 1071) drei Arten des Wissens, die das Religionsgesetz, den mystischen Weg und die Wahrheit widerspiegeln. Es sind das Wissen von Gott, das Wissen mit Gott und das Wissen in Gott. Das Letztere ist die Erkenntnis Gottes, das Zweite ist die Erkenntnis von Stationen (maqāmāt) und das Erste ist die Erkenntnis des Religionsgesetzes bzw. der Gebote und Verbote Gottes. Daher steht das Religionsgesetz vor dem mystischen Weg als Vorübung für ein größeres Ziel.9 Die Stationen sind Reue (tawba), Enthaltsamkeit (waraʾ), Askese (zuhd), Armut (faqr), Geduld (ṣabr), Gottvertrauen (tawakkul) und Zufriedenheit (riḍā). Diese Stationen müssen erworben werden, und sie sind im Gegensatz zu den »Zuständen« (aḥwāl), die den mystischen Reisenden auf den Stationen begleiten, nicht veränderbar, sobald sie erworben wurden. Ḍiyā ad-Dīn Abū Naǧīb ʿAbd-al-Qādir as-Suhrawardī (gest. 1168), der Lehrer Šihāb ad-Dīn Abū Ḥafṣ ʿUmar Suhrawardīs (gest. 1191), erläutert in seinem Werk »Adāb al-murīdīn«,10 welche Bedeutung diese Stationen haben: Mit der Reue beseitigt man Unachtsamkeit bzw. Ignoranz, mit der Enthaltsamkeit leistet man Widerstand gegenüber Dingen, die einem nicht zustehen. Mit der Askese zeigt der Mensch sein Vermögen zum Verzicht auf Materialität, mit der Armut befreit er sich vom Besitz – und dies auch im Herzen. Mit der Geduld zeigt er seine 8 9 10

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Aš-Širāzī, al-Asfār (s. Anm. 2), Bd. VII, 169. ʿAbulḥasan ʿAlī Ibn ʿUṯmān Huǧwīrī, Kašf al-maḥǧūb (Das Aufdecken des Vorhanges), hg. von V. A. Zukovskij, eingel. von Qāsim Anṣārī, Teheran 1979, 18 f. Siehe as-Suhrawardī, Adāb al-murīdīn (Das angemessene Verhalten des Adepten). Arabisch-persisch. Übers. v. ʿUmar bin Muḥammad bin Aḥmad Sirǧān, hg. u. kommentiert v. Māyil Hirawī, (1363/1984), Teheran 1984, 74 f.

Standhaftigkeit gegenüber den Schwierigkeiten, mit der Zufriedenheit den Genuss seiner Standhaftigkeit und mit seinem Gottvertrauen das Sich-Lösen aus der Abhängigkeit allem anderen gegenüber. In diesen Zustandsphasen gewinnt der Schüler einen Zustand der »Seelenanalyse« (muḥāsaba). Mit »Zuständen« (aḥwāl) wird eine Art der inneren seelischen Befindlichkeit gekennzeichnet. Da diese aḥwāl von Gott verliehen werden (mawāhib, wörtl. »Gnadengaben«),11 unterstehen sie nicht einem Lernprozess. Diese »Seelenzustände« können, wie die meisten Mystiker glauben, erst stabil zu festen Eigenschaften der Seele werden, wenn die Seele von allen zufälligen und tierischen Einflüssen gesäubert ist und in ihr eine standhafte Selbstkontrolle herrscht. Diese »Zustände« sind: ständige Anwesenheit vor Gott (murāqaba),12 Nähe (qurb), Liebe (maḥabba), Hoffnung (raǧā), Furcht (ḫawf), Scheu (ḥayāʾ), starkes Verlangen (šawq), Vertrautheit (uns), Sicherheit (iṭmiʾnān), Gewissheit (yaqīn) und Schau (mušāhada).13

3. Vorbilder wahrer Armut Schon bereits in der frühislamischen Phase wird die Haltung des Propheten und seiner Gefährten als Symbol für »wahre« Armut bezeichnet. Der Frömmigkeitskult im Sinne des sufischen Kults beginnt erst mit einigen Personen in der Moschee von Ṣuffa, die man als ahl aṣ-Ṣuffa bezeichnet. Es sind die Gefährten des Propheten wie Abū Ḏarr al-Ġifārī (gest. 653), Salmān Fārisī (gest. 656) oder Uways al-Qaranī (7. Jh.). Abū Ḏarr alĠifārī wird als Vorbild der wahren Armut (faqr), der Armen (faqīr) angesehen und von manchen Islamideologen wie ʿAlī Šarīʿatī14 gar als der »erste Sozialist« im Islam. Die asketische Haltung einiger Gefährten des Propheten und ihrer Gefolge war eine Reaktion auf die materialistische Haltung der herrschenden Kalifen. Bis zur Einführung der Askese als einer Station, die 11 12 13 14

ʿIzz ad-Dīn Maḥmūd Ibn ʿAlī Kāšānī, Miṣbāḥ al-hidāya wa-miftāḥ al-kifāya (Der Weg der Rechtleitung und der Schlüssel der Genügsamkeit). Eingeleitet, hg. v. Ǧalāh Humāʾī, Teheran 1956, 404. Annemarie Schimmel übersetzt sie als Kontemplation; siehe Schimmel, Mystische Dimensionen (s. Anm. 1), 206. Siehe dazu as-Suhrawardī, Adāb al-murīdīn (s. Anm. 10), 76 f. Vgl. Ali Rahnema, An Islamic Utopian. A Political Biography of Ali Shariʿati, London 1998, 57–60.

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später in die mystische Lehre einging, war »Askese« (zuhd) eine kritische Haltung gegen die Weltliebe des politischen und luxuriösen Verhaltens vieler Mächtiger. Ebenso richtete sich diese Haltung auch gegen den reinen Formalismus der orthodoxen Auslegung der Glaubensinhalte. Ḥasan al-Basrī (gest. 728) ist ein Beispiel für diese Haltung. Er sah in der Askese die Wurzel der Religion, deren Abgrund die Begierde ist, wie Blum es zusammenfasst.15 Seine Abkehr von der Welt war ein Signal dafür, Gottesvergessenheit durch Gottesanwesenheit zu ersetzen. Er spürte die Gefahren, wie Schimmel betont, die eine Gesellschaft bedrohen. Im koranischen Sinne – vgl. Sure 28,88: »Alles, was auf Erden ist, wird vergehen, außer seinem Angesicht« – ermahnte er seine Hörer, »genau nach den im Koran gegebenen Regeln zu leben, damit sie nicht am Gerichtstag beschämt würden«.16 Auch in diesem Zusammenhang gibt es Ähnlichkeiten zu anderen Weltreligionen. Die Legenden und Überlieferungen über das einfache Leben von ʿUṯmān, dem dritten Kalifen im Islam, und anderen Gefährten und Gefolgsleuten des Propheten, haben unter anderem damit zu tun, dass diese sich bei der breiten Menge großer Beliebtheit erfreuten, wie ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben sogar heute noch gewürdigt wird. Man bringt es mit Motiven, Haltungen und Sinngehalten der Religion zusammen wie etwa der Ausrichtung auf Einfachheit und Zurückgezogenheit oder einer Enthaltung von Habgier. Auch an dieser Stelle lassen sich Parallelen zu anderen Religionen ziehen.

4. Präzisierungen des Askesebegriffs Der Mystiker sieht die Askese (zuhd) und die Armut (faqr) als zentrale Kennzeichen der religiösen Frömmigkeit. Die Liebe zur Welt und das Verlangen nach den diesseitigen Genüssen spiegeln in der Tat die Anbetung einer anderen Wirklichkeit außer Gott wider. Die Lehre von der Einheit Gottes (tawḥīd) ist dagegen der Glaube an eine einzige Wahrheit, denn es gibt demnach keine andere Wahrheit außer der einen Wahrheit. Zuhd ist daher an erster Stelle keine Entsagung der Welt, wie oft übersetzt wird, sondern das Sich-frei-Machen von weltlicher Abhängigkeit. Ein Mystiker trinkt und isst wie jeder andere Gläubige. Doch er begnügt 15 16

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Siehe Georg Günter Blum, Die Geschichte der Begegnung christlichorientalischer Mystik mit der Mystik des Islam, Wiesbaden 2009, 505. Schimmel, Mystische Dimensionen (s. Anm. 1), 55.

sich mit dem Notwendigen und löst sich mental von einer Übertreibung der diesseitigen Genüsse. Daher sind Armut (faqr) und Verzicht (tark) wichtige Bestandteile der Frömmigkeit. Zugleich ist zuhd eine Übung und Stärkung der Seele, damit die Seele die Fähigkeit erlangt, den weltlichen Verführungen standzuhalten. Einige Zeitgenossen Abū Ǧunayds (gest. 910) gehen noch einen Schritt weiter und betonen den asketischen Aspekt der Mystik, der auch äußerlich zum Ausdruck kommt. »Sufismus bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu werden.«17 Mystik, sei sie Armut oder Enthaltsamkeit, sei sie eine moralische Qualität oder ethische Haltung, sei sie eine asketische oder spirituelle Eigenschaft, ist und bleibt eher eine Sache des Inneren als des Äußeren. Mustamlī Buḫārī betont vor allem die sozialen und die persönlichen Dimensionen des Sufismus: »Das Prinzip der Anhänger der taṣawwuf ist: Abwendung gegenüber der Welt, keine Feindseligkeit gegenüber den Mitmenschen, sich begnügen mit dem, was man besitzt, und nicht mehr verlangen, auf Gott vertrauen, seine Zeit nicht selbst wählen, sich gegen Gott nicht auflehnen wegen der Wünsche seiner Triebseele und sich von der Heimat, von Freunden und Angehörigen lösen«.18 Mit der Askese verzichtet der Asket sogar auf das Erlaubte in der Welt und auf die Genüsse von Weltlichem und wendet sich vom Begehren ab. Dann erreicht der Asket die Station der Armut, in welcher der Asket seinen Besitz vernichtet und sein Herz freimacht von dem, was in den Augen des Mystikers fehlt. Mit Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit tritt der Asket in die nächste Station (ṣabr) ein. Das sind das Fernhalten der Triebseele von Unannehmlichkeiten und der Verzicht auf das Klagen. So erreicht der Asket die Station des Gottvertrauens (tawakkul), indem der Mystiker sich auf Gott verlässt. Die letzte Station ist dann die vollkommene Zufriedenheit (riḍā), indem man Freude findet, auch wenn Unangenehmes zustößt.19 Sämtliche Beschreibungen der Stationen und der Zustände von Abū Naǧīb as-Suhrawardī, einem schafiitischen Rechtsgelehrten und Mystiker, der in seiner Zeit Anerkennung von allen Seiten genoss, stehen in 17 18 19

Siehe ebd. 32. Ibrāhīm Ismāʿīl ibn Muḥammad Mustamlī Buḫārī, Šarḫ at-taʿarruf limaḏhab at-taṣawwuf (Die Erkenntnis über den Weg der Askese), hg. v. Muḥammad Rūšan, Teheran 1984, Bd. I, 93 f. Siehe as-Suhrawardī, Adāb al-murīdīn, hg. v. Menahem Milson, Jerusalem 1978 (engl. Übers. von Menahem Milson: A Sufi Rule for Novices, Cambridge u. a. 1975), 74 ff.

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Übereinstimmung mit den traditionellen Vorstellungen von tawḥīd und den Glaubensinhalten im Islam. Es sind Begriffe, die fast alle dem Koran und den Überlieferungen entnommen sind, und sie weisen auf den ersten Blick keinen Widerspruch zur kanonischen Rechtgläubigkeit und den Glaubensüberzeugungen auf. Darüber hinaus drückt zuhd eine metaphysische Dimension aus. Das ist eine Vertiefung des Glaubens und der Rückzug in die Tiefe der Seele, die den Weg zur ihrem göttlichen Ursprung führen würde. Dies ist als eine Art Abkehr von der vergänglichen Welt zum ewigen Leben anzusehen. Zuhd ist daher keine vollständige Auflösung des Ichs, kein Aufgehen in das Absolute, sondern eine willentliche Anstrengung und das Bemühen, die Seele zum Verzicht zu zwingen. ʿAzīz an-Nasafī (13. Jh.) definiert zuhd als Verzicht. Der Asket ist jemand, der bereits über weltliches Vermögen verfügt, aber in der Lage wäre, darauf zu verzichten, denn sonst wäre der arm (faqīr), »der sowieso nichts besitzt«. Auch zuhd hat gemäß an-Nasafī mehrere Stufen: Es gibt Asketen, die aus Angst vor der Strafe Gottes im Jenseits im Diesseits Verzicht ausüben. Es gibt aber auch jene, die wegen der Liebe zum Paradies Verzicht ausüben. Dann gibt es Asketen, die weder wegen der Hölle noch wegen des Paradieses, sondern nur wegen der Liebe zu Gott Verzicht ausüben. Diese Asketen sind diejenigen, in deren Herzen außer Liebe zu Gott keine andere Neigung vorhanden ist. Dennoch sind alle diese Gruppen für Nasafī Asketen (zāhid) und befinden sich nur in verschiedenen Stufen.20 ʿAbdallāh al-Anṣārī (gest. 1089) stellt vor allem die spirituelle Dimension von zuhd in den Vordergrund, in der das Verhältnis und der Grad von zuhd zu den religiösen Vorschriften über Verbote zum Ausdruck kommen. Der Verzicht ist für al-Anṣārī generell die vollständige Beseitigung des Verlangens nach etwas. Das stellt sozusagen eine vollkommene Hingabe und vollständige Zufriedenheit mit dem dar, was man hat oder bekommt. Darüber hinaus ist zuhd ein Mittel für »gewöhnliche« Gläubige, sich Gott zu nähern. Der Verzicht ist für einen gewöhnlichen Gläubigen nicht einfach, aber für einen Novizen auf dem mystischen Weg eine Notwendigkeit, für die »Elite« auf diesem Weg jedoch etwas Gemeines, da diese Elite bereits erfahren ist in dieser Disziplin. Der Mystiker unterscheidet drei Grade von zuhd: 20

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ʿAzīz an-Nasafī, Kitāb al-Insān al-Kāmil (Der vollkommene Menschen), hg. u. eingeleitet v. Marijan Molé. Mit einer Einleitung von Henry Corbin, Teheran 2000, 330 f.

1. 2.

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Verzicht auf das Zweifelhafte nach dem Unterlassen von Verbotenem, weil man sich vor dem Tadel hütet, die Fehlerhaftigkeit verabscheut und eine Abneigung hegt gegen den Umgang mit den Frevlern. Verzicht auf das Überflüssige und alles, was über die lebensnotwendige und hinreichende Nahrung hinausgeht, indem man sich das Freiwerden für die Aufmerksamkeit für das Jetzt zu eigen macht, die innere Unruhe ausschaltet und sich mit dem Schmuck des Propheten und Rechtschaffenen bekleidet. Verzicht auf Verzicht durch drei Vollzüge: durch Geringschätzung dessen, worauf man verzichtet; dadurch, dass man die Zustände für gleichbedeutend hält; dadurch, dass man keine Selbständigkeit mehr wahrnimmt, indem man seinen Blick in das »Tal der Wirklichkeit« lenkt.21

5. Armutsideale in sufischen Orden Während in der allgemeinen Philosophie der Sufis Armut nicht als Ziel der Askese, sondern als eine Station auf dem Weg zur Vereinigung mit Gott bzw. also eine Geisteshaltung verstanden wird, sehen die Bettlerderwische, die von einem Ort zum anderen wandern, in der freiwilligen Armut, wie z. B. auch im christlichen Orden der Franziskaner, eine geistige Vollkommenheit. Die Askese wird somit als »Kleid der Frommen« gesehen.22 Die Anhänger solcher Bettlerderwische bzw. sufischer Orden findet man oft in Gebieten des Nahen Ostens, vor allem in Iran und Afghanistan, einer Gegend, die auch sehr stark von buddhistischen Mönchen aus Süd- und Mittelasien beeinflusst ist. Eine wichtige Schule, die Armut als Lebensstil pflegt, ist der bekannte iranische Gunābādī-Orden, der zurückgeht auf Sultan ʿAlī Shah und in der Herrschaftszeit der Kadscharen aus dem Niʿmatullāhīya-Orden hervorging. Sie waren auch zugleich eine soziale Bewegung. In der Öffentlichkeit trat der gegenwärtige Ordensführer Riḍāʿalīšāh nur als Schiit auf – die einzige Möglichkeit, den Sulṭānʿalīšāhī-Sufismus aufrechtzuerhalten und ihn zu unterstützen, bestand in einer Verheimlichung eben dieser Identität. Gotteshäuser oblagen dem Staat, denn man ging davon aus, dass die fuqarā, die Ar21 22

Richard Gramlich, Islamische Mystik. Sufische Texte aus zehn Jahrhunderten, Stuttgart 1992, 96. Jürgen Wasim Frembgen, Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam, München 2000, 146 ff.

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men, das Haus Gottes im Herzen trügen und daher per se keine Gotteshäuser bräuchten. Die fuqarā wurden von Riḍāʿalīšāh als Märtyrer, die im Iran/Irak-Krieg fielen, angesehen und er war ihnen gegenüber sehr großzügig.23 Obwohl sich Riḍāʿalīšāhs Gesundheitszustand ab dem Beginn der 1980er Jahre zusehends verschlechterte – die fuqarā besuchten ihn in dieser Zeit täglich –, setzte er sich weiter für die sozio-religiöse Re-Integration des Sulṭānʿalīšāhī-Sufismus ein. Auch sein Nachfolger Maḥbūbʿalīšāh sprach von einer »Einheit unter einer islamischen Flagge«. Die Lebensweise der fuqarā betrachtete er als »Erlösung in der heutigen Zeit«. Er starb im Jahr 1997, wobei davon ausgegangen wird, dass er ermordet wurde und somit von den fuqarā als deren »Märtyrer« angesehen wird.24

6. Fazit und weitere Anknüpfungspunkte Das Motiv der »Armut« hat, wie zu zeigen versucht, in religiösen Traditionen – wobei vorstehend v. a. auf islamische eingegangen wurde, sich hier aber auch jeweils interreligiöse Anknüpfungspunkte bieten – unterschiedliche Aspekte und Tiefendimensionen: Zum ersten geht es um einen schöpferischen Aspekt des materiellen Daseins, das vergänglich ist und dem himmlischen Dasein gegenübersteht. Unter diesem asketischen Aspekt ist sie als eine Tugend, eine Lebensweise der Frommen zu verstehen. Zum zweiten wird die Armut unter dem sozialen Aspekt als ein soziales Übel angesehen, das bekämpft werden sollte. Dieser Aspekt geht mit einer Theologie der Gerechtigkeit einher, für die sich auch alle Propheten eingesetzt haben. Wenn der Reichtum als Glück verstanden wird, dann ist die Armut ein Unglück. Das Phänomen »Armut« sollte damit differenziert analysiert werden. Die existentielle Armut ist eine Eigenschaft des Daseins, da die Welt nicht von Dauer ist und das Geschöpf in seiner Existenz abhängig ist von Gottes Beistand. Drittens ist die Überwindung der Armut eine Grenzüberschreitung, um die göttliche Fülle zu erreichen, und steht auch als Symbol dafür, dass das Übel »Armut« unerwünscht ist. Es geht dabei nicht um ein Le-

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Matthijs van Bos, Mystic Regimes. Sufism and the State in Iran, from the late Qajar Era to the Islamic Republic, Leiden u. a. 2002, 157 ff. Ebd. 185, 194 f.

ben in Armut, sondern darum, einem Ausgleich an sozialer Gerechtigkeit zuzuarbeiten und die existentielle Fülle zu erreichen. Aus der spirituellen Perspektive heraus geht es im Grunde um die Reinigung und Befreiung der Seele von der Abhängigkeit von Materiellem. Von frommen Sufis wird verlangt, arm zu leben, da dieser Lebensstil ein Zeichen für Demut und gleichzeitig gegen den materiellen Luxus ist. Jedoch kann nur derjenige arm leben, der die Armut verkraften kann und seinen Glauben dadurch nicht schwächt. In seiner Lehre von Armut warnt ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlī (gest. 1166) vor Armut, wenn sie das Herz verfinstert, denn »er (der Mensch) soll wissen, dass er ein Verführter ist, der sich in seiner Armut schwer versündigt hat«25. Die Spiritualität der Sufis richtet sich gegen Materialität und Herrschsucht und hat damit neue Aktualität in der heutigen Welt, die geprägt ist vom Streben nach Ruhm und Reichtum und einer Übermacht des ökonomischen westlichen Kapitalismus. In der Tat ist es so, dass dies eines der Hauptprobleme unserer gegenwärtigen Welt – mit anderen Worten ein Luxusproblem – ist. Die Relevanz der Religionen in diesem Kontext wird deutlich, wenn diese nicht allein auf ihren institutionellen Aspekt reduziert, sondern zuvorderst in ihrer spirituellen Natur gesehen werden. Religiosität ist in erster Linie eine individuelle Angelegenheit, obwohl wir zugleich von einer »öffentlichen« und »institutionalisierten« Religion sprechen. Institutionen können nicht schlechterdings »arm« im materiellen Sinn sein – so ist auch christlich gesehen die Kirche als Institution per se nicht einfachhin arm, auch wenn Jesus mit den und für die Armen gelebt und eine entsprechende geistige Haltung vermittelt hat. Ohnehin ist fraglich, ob und wie ein konventionelles Modell der Armut in der heutigen, materiell geprägten Gesellschaft weiter funktionieren kann. Die Religionen können allerdings – gespeist von ihren spirituellen und mystischen Traditionen – eine Geisteshaltung motivieren, die für eine Selbstbesinnung und eine sozial gerechtere Welt vonnöten ist: In diesem Horizont greifen, wie gezeigt, die metaphysische, anthropologische und soziale Dimension von »Bedürftigkeit« der Existenz bzw. »Armut« ineinander. Es geht dabei um das Bewusstsein, dass diese Welt und der Mensch selbst vergänglich sind. Von daher ist gerade in einer westlich-kapitalistischen Welt ein moderater Umgang mit der materiellen Fülle geboten. Insofern bieten die Religionen alternative Sinnressourcen, die zu wahrem innerem Reichtum und zur Bereicherung des gesellschaftlichen Zusammenlebens beitragen können. 25

Gramlich, Islamische Mystik (s. Anm. 19), 131 f.

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Beobachterbericht zum Forum: Freiwillige Armut – ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit? Andreas Renz

Freiwillig den Weg der materiellen (darum geht es hier zunächst) Armut zu suchen und zu gehen, erscheint als unsinnig, ja menschen- und schöpfungsfeindlich, denn »Armut bedeutet letzten Endes Tod«1 – das gilt nicht nur für die Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken. Und vor dem Tod ist Armut mit sozialer Ausgrenzung, Stigmatisierung, Demütigung, Einsamkeit, Angst, Abhängigkeit, Gewalt, Krankheit und Leid verbunden – es ist »verworfenes Leben«2. Deshalb ist Armut ein Skandal, theologisch gesehen eine »soziale Sünde«, weil sie den Armen entwürdigt und seiner Freiheit beraubt. Und doch gibt es in vielen Weltreligionen, nicht nur in Islam und Christentum, sondern auch im Buddhismus und Hinduismus, den besonderen Weg der freiwilligen Armut. Es wäre wohl ein Irrweg, wenn er als Selbstzweck verstanden würde, ist Armut doch zumindest aus christlicher und islamischer Sicht etwas grundsätzlich zu Überwindendes, weil Gott der gute Schöpfer aller Dinge ist, an denen sich der Mensch erfreuen soll. Sozio-ökonomische Armut ist eine Realität für einen Teil der Menschen seit Jahrhunderten und Jahrtausenden, nicht selten verbunden mit und verursacht durch Strukturen der Ungerechtigkeit und Schuld. Und so haben besonders die prophetischen Religionen Judentum, Christentum und Islam im Kern ihrer Botschaften eine Ethik des Mitfühlens, der Solidarität, des Teilens mit den Armen und Bedürftigen und der Überwindung solcher tötenden Strukturen: »Bei euch soll/wird es keine Armen 1 2

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Gustavo Gutiérrez, Die Armen und die Grundoption, in: Ignacio Ellacuría/Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 1, Luzern 1995, 293–311, 294. So Zygmunt Baumann, Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005.

mehr geben« (Dtn 15,4, vgl. 1 Joh 3,17; Sure 9,60; 51,19; 2,177).3 Eigener Besitz wird nicht abgelehnt, ja sogar explizit unter rechtlichen Schutz gestellt, gleichzeitig aber auch als soziale Verpflichtung gesehen und dem Gemeinwohl zugeordnet: Weil Gott als Schöpfer der eigentliche Eigentümer ist, zu dem einst alles zurückkehren wird, und der Mensch nur Treuhänder ist, ist er zu einem verantwortlichen Umgang mit den Gütern verpflichtet. Selbst etwas abzugeben, zu spenden, zu teilen – das ist tugendhaft und bekämpft die angeborenen Triebe der Habgier, des Geizes, des Hochmuts (vgl. Sure 47,38; 104,1–4) und ist auch der Vernunft durchaus einsichtig, weil etwa zu große soziale Unterschiede Spannungen und Auseinandersetzungen provozieren können, die das Eigene letztlich gefährden. Doch alles aufzugeben, sich selbst arm zu machen, wie Jesus es immer wieder fordert (vgl. Mt 19,20.22; vgl. Mk 10,17–31; Lk 18,18) – wem kann das dienen? Papst Franziskus fordert heute eine »arme Kirche für die Armen«4 – was kann das heißen? Zunächst muss man sich bewusst machen, dass Geld und Reichtum immer auch mit Einfluss und Macht zu tun haben, und wer diese hat, setzt häufig auch das Recht, das die bestehenden Strukturen legitimiert und zementiert. Diese Strukturen zu durchbrechen durch freiwilligen Verzicht auf Besitz und damit auch auf Macht, die nur den eigenen Zielen dient, ist eines der wesentlichen Motive, wie Margareta Gruber am Beispiel des heiligen Franziskus aufzeigte. Damit ist die freiwillige Armut aber nie nur eine rein individuelle und spirituelle Angelegenheit, sondern erhält – meist zumindest – auch eine strukturelle und politische Dimension wie etwa in Form der »Befreiungstheologie«.5 Hier wird die 3

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Zu einer islamischen Perspektive vgl. Şefik Alp Bahadır, Islamische Wirtschaftsethik – eine kritische Bestandsaufnahme, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Abdullah Takım/Bülent Ucar (Hg.), Verantwortung für das Leben. Ethik in Christentum und Islam, Regensburg 2008, 168–180. Papst Franziskus, Evangelii gaudium. Apostolisches Schreiben vom 24. November 2013 (VAS 194), Nr. 198. Johannes XXIII. hatte bereits vor dem Konzil von der »Kirche der Armen« gesprochen, eine Formulierung, die später die Befreiungstheologie Lateinamerikas rezipierte, vgl. dazu Marietta Calderón, Opción por los pobres – semantische und pragmatische Entwicklungslinien eines Begriff(sfelde)s, in: Magdalena Holzrattner (Hg.), Eine vorrangige Option für die Armen im 21. Jahrhundert?, Innsbruck/Wien 2005, 15–36. Vgl. etwa Gustavo Gutiérrez, Die historische Macht der Armen, München/Mainz 1984, bes. 27; ders., Theologie der Befreiung, Mainz 101992, bes. 343–364. Zu Ansätzen einer islamischen Befreiungstheologie und zur

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Armut der Armen zu einer Prophetie, die ungerechte und sündhafte Strukturen aufdeckt, kritisiert und gewaltfrei zu überwinden sucht, etwa im Bereich der Bildung, des Arbeitsmarktes, der politischen Teilhabe, der Selbstermächtigung, der Gesundheitsversorgung usw. Die freiwillige Armut kann dabei hilfreich sein, weil sie die Armen nicht einfach zum Objekt eigenen, vielleicht paternalistischen Handelns macht, sondern weil man nun unter und mit ihnen lebt und handelt. An einem Punkt scheint es allerdings schon einen Unterschied zu geben in den Biographien der beiden »Stifterpersonen« Jesus von Nazaret und Muhammad: Jesus wurde laut biblischer Überlieferung in einer prekären Situation geboren (vgl. Lk 2,7) und schloss sich als junger Mann der asketischen Bewegung des Täufers Johannes an. Er hatte damit eine große Nähe zur Armen- und Frömmigkeitsbewegung der sog. Anawim6, mit denen er sich solidarisierte und identifizierte und wodurch er im Kern eine machtkritische Haltung einnahm bis hin zu seinem Tod am Kreuz – er verkörperte den sich auf die Ebene der Armen, Machtlosen, Marginalisierten begebenden liebenden Gott, dessen Reich der Liebe und Gerechtigkeit aber gerade begonnen hat zu wirken und der die Verhältnisse umkehren wird: »Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes … Freut euch und jauchzt an jenem Tag; euer Lohn im Himmel wird groß sein. … Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten. Weh euch, die ihr satt seid; denn ihr werdet hungern!« (Lk 6,20.23.24 f.) Die eschatologische Perspektive sollte bei dem Thema Armut und Gerechtigkeit nicht übersehen werden – sie kam auf der Tagung insgesamt wohl zu kurz, vielleicht weil schnell der Verdacht der Vertröstung auf das Jenseits aufkommen könnte; dies jedoch wäre ein falsches Verständnis biblischer – und wohl auch koranischer – präsentischer Eschatologie, geht es doch um das schon hier und jetzt beginnende Heilsgeschehen, dessen Vollendung aber noch aussteht. Muhammad war die Armut zunächst keineswegs fremd: Als frühes Waisenkind aufgewachsen, gehörte er wohl eher zu den Armen, worauf Sure 93 reflektiert: »Hat Er dich nicht gefunden als Waise und gab dir Zuflucht? Hat Er dich nicht gefunden als Irrenden und gab dir Rechtlei-

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Frage einer gemeinsamen Theologie der Befreiung vgl. Klaus von Stosch/ Muna Tatari (Hg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum, Paderborn 2012. Vgl. dazu Norbert Lohfink, Von der »Anawim-Partei« zur »Kirche der Armen«. Die bibelwissenschaftliche Ahnentafel eines Hauptbegriffs der »Theologie der Befreiung«, in: Biblica 67/2 (1986), 153–176; Christoph Levin, Das Amosbuch der Anawim, in: ZThK 94 (1997), 407–436.

tung? Hat Er dich nicht gefunden als Bedürftigen und gab dir Reichtum? Darum unterdrücke die Waise nicht und versage dem Bettler nichts, doch berichte stets von der Gnade deines Herrn!« (VV. 6–11, Übers. Bobzin) Muhammad aber wurde allmählich ein erfolgreicher Kaufmann. Gesellschaftliche und vielleicht auch wirtschaftliche Marginalisierung hat er wieder in der ersten Phase seines prophetischen Wirkens durch den mekkanischen Widerstand erleben müssen, doch in der medinensischen Phase seines Wirkens bekam er politische Macht und war letztendlich religiös wie militärisch erfolgreich – er wusste den mächtigen, siegreichen Gott an seiner Seite (vgl. Sure 5,56; 8,17; 22,39 f.; 48,28).7 Gott ist also durchaus auch aus islamischer Sicht an der Seite der Schwachen, aber wie Paulus von der »göttlichen Armut« (vgl. 2 Kor 8,9), von der »göttlichen Entäußerung« oder von einem »›wunderbaren Tausch‹, in dem Gott aus seiner Fülle heraus sich selbst bedürftig macht« (Gruber), zu sprechen, ist und bleibt dem islamischen Gottesverständnis wohl fremd, ja undenkbar. »Die Inkarnation des Herrn vollzog sich in der Art eines armen Menschen«8, seine Armut aber war »nicht allein eine materielle, sondern Armut bezieht sich auf den ganzen Weg der Kenosis, der Erniedrigung und ›Entleerung‹.«9 Dieser Unterschied zwischen christlichem und islamischem Gottes-, Offenbarungs- und Heilsverständnis sollte nicht vorschnell übergangen werden, ohne ihn apologetisch zu missbrauchen. Das asketische Moment kam in den Islam – abgesehen von den ahl aṣ-ṣuffa zur Zeit Muhammads in Medina10 – wohl erst durch die Sufis in ihren Wollgewändern, die vielleicht als innerislamische Reaktion auf den Machtmissbrauch und den verschwenderischen Lebensstil der frühen muslimischen Herrscher entstanden11 und ziemlich sicher beeinflusst

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Vgl. Kenneth Cragg, Muhammad and the Christian. A Question of Response, London/New York 1984, bes. 31–50. Clodovis Boff/Jorge Pixley, Die Option für die Armen. Gotteserfahrung und Gerechtigkeit, Düsseldorf 1987, 125. Margit Eckholt, Kirche der Armen, in: Mariano Delgado/Michael Sievernich (Hg.), Die großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihre Bedeutung für heute, Freiburg i. Br. 2013, 205–225, 215. Vgl. dazu William Montgomery Watt, Art. Ahl aṣ-Ṣuffa, in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. I, 266a–267a. Vgl. Mouhanad Khorchide, Theologie der Befreiung statt Theologie der Armen. Eine kritische Reflexion aus islamischer Sicht, in: von Stosch/Tatari, Gott und Befreiung (s. Anm. 4), 97–113, 105–108.

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waren vom ebenfalls asketisch geprägten syrischen Mönchtum.12 Hier stand das spirituelle Motiv im Vordergrund, sich von allen materiellen Dingen zu lösen, um so sich ganz frei zu machen für die Wirklichkeit Gottes. Die Askese in Form von Besitzverzicht, Fasten, Rückzug in die Einsamkeit usw. wurde zu einem Weg oder zu einem Mittel auf dem Weg zur Vereinigung mit dem Göttlichen, wie Reza Hajatpour ausführte.13 Die freiwillige Armut hat also, wie beide Vorträge und die Diskussion im Forum ergaben, in christlichen wie in islamischen Traditionen, wenn auch mit kontextuell unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Ausformungen, grundsätzlich den sozialethischen Aspekt der Solidarität mit den Armen, den spirituellen Aspekt des Sich-Lossagens von allen vergänglichen Gütern, um Platz zu machen im eigenen Herzen für den Schöpfer und den bedürftigen Nächsten, und schließlich den dritten Aspekt einer macht- und institutionenkritischen Einstellung, weshalb die Asketen, Mystiker und Armutsbewegungen oft auch kritisch beäugt und nicht selten unterdrückt worden sind von den religiösen und politischen Autoritäten. Den Weg der solidarischen Armut im Sinne des radikalen Besitzverzichts zu gehen, man könnte sie auch »charismatische Form der Armut«14 nennen, ist eine Option, die freilich kaum für alle gläubigen Menschen möglich ist, für die aber einige berufen sind, die als Vorbild für die anderen dienen und immer wieder als kritisches Korrektiv für die Glaubensgemeinschaften wirken können. Eine Ethik und Spiritualität des Besitzes und des Umgangs mit den Gütern aber, die freiwillig Verzicht auf Konsum, Machtsymbole, Privilegien übt und sich so selbst freier macht, die auf Nachhaltigkeit, Sozial- und Umweltverträglichkeit achtet, die sich nicht auf Almosen beschränkt, sondern ungerechte und Armut produzierende und zementierende Strukturen aufzubrechen versucht, eine solche Ethik und Spiritualität ist für alle Christen und Muslime möglich und not-wendig im wahrsten Sinn des Wortes und kann Basis einer gemeinsamen Ethik und Spiritualität sein.15 Es geht bei der »freiwilligen 12 13 14 15

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Vgl. Georg G. Blum, Die Geschichte der Begegnung christlich-orientalischer Mystik mit der Mystik des Islam, Wiesbaden 2009. Vgl. auch Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Frankfurt a. M./Leipzig 1995, bes. 178–182. Vgl. Boff/Pixley, Option für die Armen (s. Anm. 6), 169. Vgl. auch Andreas Renz/Abdullah Takım, Christen und Muslime in der Verantwortung für das Leben. Zusammenfassende und weiterführende Reflexionen, in: Schmid u.a., Verantwortung für das Leben (s. Anm. 2), 255–

Armut« wohl zuerst um eine Mentalitätsänderung, »die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt« (Papst Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 188). Erst ein solcher Mentalitätswandel, eine vollständige Umkehr im spirituellen Sinn, wird auch zu nachhaltigen Veränderungen der Strukturen und des Handelns führen.

275, bes. 266–269, 273–275; Juan José Tamayo, Unterwegs zu einer islamisch-christlichen Theologie der Befreiung, in: von Stosch/Tatari, Gott und Befreiung (s. Anm. 4), 231–253, bes. 244–246.

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III. Frauenarmut bekämpfen – eine christliche und muslimische Aufgabe

Armut ist weiblich Christlich-theologische Impulse Ulrike Bechmann

Armut betrifft Männer, Frauen und Kinder nicht in gleicher Weise. Armut ist weiblich! Diese Erkenntnis1 setzte sich insbesondere in den 1970er Jahren durch die Recherchen, Aktionen und Publikationen von Frauen auf politischer Ebene durch. 1975 fand die erste UN-Weltfrauenkonferenz in Mexiko statt und formulierte Ziele, um Frauen gleiche Anteile an den Ressourcen zugänglich zu machen. Sexismus wurde als Grundübel für die vielfachen und vielfältigen Benachteiligungen von Frauen angeprangert, Aktionspläne beschlossen und Appelle formuliert. »Armut ist sexistisch« formuliert konsequent die Studie zum Weltfrauentag der Entwicklungsorganisation One für ihre Kampagne #MUT2015.2 Inzwischen gibt es bei den Vereinten Nationen die eigene Sektion UN-Women3, die aus dem Entwicklungsfonds der UN entstand, der 1976 als UNIFEM eingerichtet worden war. Und obwohl es allgemeine Menschenrechte gibt, wurde eine spezifische UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) am 18.12.1979 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet (Resolution 34/180). Die Konvention trat am 03.09.1981 völkerrechtlich in Kraft.4

1. Armutsrisiko bei Frauen Frauen werden nicht »zufällig« arm. Die weltweit exorbitant höhere Zahl von armen Frauen gegenüber armen Männern hängt mit den Folgen der 1 2 3 4

Zur Motivation der verschiedenen Zweige der Frauenbewegung seit dem 19. Jh. vgl. Ute Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek 1990. Vgl. http://www.one.org/de/mach-mit/mut2015/ Vgl. http://www.unwomen.org/en Der deutsche Text ist abrufbar unter http://www.institut-fuer-menschen rechte.de/?id=463

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Diskriminierung in vielen Bereichen aufgrund des Geschlechts zusammen. Die Faktoren, die dazu führen, unterscheiden sich je nach Kontext. Selbst in den reichen westlichen Staaten findet sich dieses gender-gap.5 Einer der Faktoren für diesen strukturellen Sexismus ist, dass Frauen aufgrund ihrer Mutterrolle auch auf die gesellschaftlich zugeschriebene Rolle als unbezahlte Haus- bzw. Subsistenzarbeiterinnen und Hauptverantwortliche für die Erhaltung der Familie festgelegt werden. Denn damit fehlt ihnen oft der adäquate Zugang zum Arbeitsmarkt, was wiederum für die Zeit als Rentnerin ein erneutes Armutsrisiko birgt. Und tatsächlich betrifft Armut in zunehmendem Maße alte Menschen, von denen die Mehrheit Frauen sind. Doch Armut ist mehr als ungesichertes oder mangelndes Einkommen. Armut hat viele Gesichter. Sie betrifft alle Lebensbereiche und hat religiöse, kulturelle, politische, soziale, wirtschaftliche und persönliche Dimensionen. Daher ist sie in einem umfassenden Sinn zu verstehen.6 Armut schließt von gesellschaftlichen Prozessen aus, vom Zugang zu Bildung und wertet Fähigkeiten und Leistungen von Frauen anders als von Männern. Armut ist ein Mangel an Lebensmöglichkeiten und ein Mangel an Verwirklichungschancen. Armut von Frauen hat also aufgrund des gesellschaftlichen Sexismus geschlechtsspezifische Formen und insofern sind Frauen, die unter den verschiedensten Formen, von Armut leiden, auch von spezifischen Erfahrungen geprägt. Eine erfahrungsbezogene Theologie wird deshalb in ihrer Analyse wie in ihren Optionen spezifisch auf diese Erfahrungsbereiche hin formulieren und Frauen mit diesen Erfahrungen als Subjekte dieser Analyse einbeziehen. Dass die »Feminisierung der Armut« kein neues Phänomen ist, zeigen in der Geschichte die Antworten auf diese Erfahrungen im politischen, gesellschaftlichen wie im theologischen Bereich.7 Sie reichen von Texten des Alten Testaments zum Schutz von 5 6

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Zu Frauenarmut in Österreich vgl. die Armutskonferenz 2015: http://www.armutskonferenz.at/index.php?option=com_content&task=view &id=242&Itemid=235#Frauen? Vgl. die Dokumentation der Europa-Fachtagung in Salzburg, 02.–04.05.2012: Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Armut bewegt. Spirituelle Herausforderungen für Frauen in Europa, Bonn 2013, insbesondere Hildegund Keul, Armut und Verwundbarkeit – theologische Perspektiven, ebd. 16–22. Zur internationalen Perspektive vgl. Susan L. Thomas, Gender and Poverty. New York/London 1994, zu dem Feminisierungsmodell bes. 65–76; Sylvia Chant, Gender, Generation and Poverty. Exploring the ›Feminization of Poverty‹ in Asia, Africa and Latin America, Cheltenham 2007.

offensichtlich besonders gefährdeten »Witwen und Waisen« bis hin zu den Frauenkonventionen der Vereinten Nationen, um nur zwei historische Pole der Antworten zu nennen. Die Zahlen zeigen, dass selbst in einem Sozial- und Wohlfahrtsstaat wie Deutschland Frauen stärker von Armut betroffen sind als Männer. Zu den gefährdeten Gruppen gehören nach dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtverbandes 2015 unterschiedliche Gruppen, die alle eine höhere Armut von Frauen gegenüber Männern aufweisen. »In der Identifikation besonderer Risikogruppen sind es wie in den Vorjahren im Großen und Ganzen unverändert jüngere Menschen, Alleinerziehende und kinderreiche Familien, Erwerbslose sowie Menschen mit nur niedrigen oder ohne Bildungsabschlüsse und mit Migrationshintergrund.«8 Besonders betroffen sind Alleinerziehende mit Kindern, von denen 43 % arm sind. Da die meisten Alleinerziehenden Frauen sind, gibt es hier einen deutlichen Überhang von Frauenarmut, einschließlich ihrer Kinder. Erwerbslosigkeit und Bildungsabschlüsse hängen eng zusammen, weshalb Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss mit die höchsten Quoten von Armut aufweisen. Die Studie differenziert hier nicht nach Geschlecht. Aber junge Frauen ohne abgeschlossene Ausbildung gehören ebenfalls zur Risikogruppe. Korreliert man die Zahlen mit den Fakten, dass überwiegend Frauen in Teilzeitstellen, im Niedriglohnsektor und in Minijobs beschäftigt sind, dann ist die höhere Frauenarmut schon jetzt, aber auch bei den künftigen Rentnerinnen eine logische Folge. So fiel (gemessen an allen Beschäftigungsverhältnissen) die Vollzeit-Beschäftigung von Frauen von 55 % im Jahr 2001 auf 40 % im Jahr 2014. Laut dem Statistischen Bundesamt arbeiten 1,1 Millionen Frauen unfreiwillig in Teilzeit, weil sie keinen Vollzeitarbeitsplatz finden.9 Und selbst bei gleicher Arbeit gibt es keine gleichen Bezüge, worauf der »Equal Pay Day« hinweist. Eine eklatant höhere Armut gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Auch hier fehlt im Armutsbericht die Differenzierung nach Geschlecht, doch ist anzuneh8

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Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V., Die zerklüftete Republik. Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014, Berlin 2015, 16; Brigitte Sellach, Armut: Ist Armut weiblich?, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden ³2010, 471–479. Vgl. die Zahlen bei: Mehr Frauen in Teilzeitjob – und Armut, in: Zeit online http://www.zeit.de/karriere/beruf/2015-03/frauen-teilzeit-arbeitsmarkt

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men, dass Frauen die stärkste Gruppe sind, insbesondere in den wenig qualifizierten und schlecht bezahlten Tätigkeiten. Rentner und Rentnerinnen zeigen den höchsten Anstieg von Armut mit einer Quote von 15 %, die jedoch seit 2006 viermal schneller angestiegen ist als in anderen Gruppen. Diese Zahl betrifft Männer wie Frauen, aber von den Menschen über 65 Jahren sind die Mehrheit Frauen.10 Sie leiden unter den Folgen der geringeren Arbeitszeiten, schlechteren Arbeitsbedingungen und der Nicht-Bewertung von Familien- und anderer sozialer Arbeit. Im Jahr 2012 hatten Rentnerinnen nur fast die Hälfte der Rente dessen zur Verfügung (obgleich sie in der Mehrzahl sind), was die Rentner hatten. Besonders unter Gewalt und Armut leiden diejenigen, die von Frauenhandel betroffenen sind. Sie unterliegen körperlicher und sexueller Gewalt, von den anderen Zwangslagen ganz abgesehen. Sie sind nicht in dieser Statistik erfasst, weil viele von ihnen nicht legal im Land und deshalb von den Schleppern abhängig sind. Diese Gewalt durch Zuhälter, Schlepper, aber auch Freier und allen, die diese Situation ausnützen, ist die Spitze eines Eisbergs an sexueller und sexualisierter Gewalt, die auch sonst in der Gesellschaft präsent ist. Hier gilt es danach zu fragen, inwieweit solche im Alltag vorhandene Gewalt ein Frauenbild unterstützt, das Frauen als Ware und Objekt sieht.11 Und schließlich gehören als Sondergruppe auch Asylsuchende zu den Armen, da sie ohne Arbeitsmöglichkeit sind. Vielfach erleiden arme Frauen zusätzliche Gefährdungen. Die wohl häufigste Erfahrung ist die der Gewalt. Dabei ist nicht nur körperliche Gewalt gemeint, sondern Gewalt in ihren vielfältigen Formen. Gewalt beginnt mit der Erfahrung der Ausgrenzung, die Frauen in vielen Armutskontexten machen. Diskriminierung, Ausschluss, fehlende Teilhabe, Schuldzuweisungen, Ignorierung oder Vernachlässigung, fehlende Kommunikation und ähnliche Formen werden oft als Gewalt erfahren. Körperliche und sexuelle Gewalt gehen leider oft mit Armut einher, erst recht, wenn Frauen auf der Flucht sind. Die Frauen, die Asyl suchen, benötigen aufgrund ihrer Fluchtgeschichte mit Gewalterfahrung manchmal auch im Zielland eine eigene Unterkunft, wie sie etwa die Caritas in Graz mit dem Wohnhaus für Frauen und Kinder anbietet. Sie reagiert 10 11

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Vgl. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V., Armutsentwicklung (s. Anm. 8), 2. Vgl. Ottmar Fuchs, Menschenhandel aus theologischer Perspektive, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz – Konferenz Weltkirche (c/o Hartmut Klöß, Hg.), Die Sklaverei ist nicht vorbei – Menschenhandel heute bekämpfen, Bonn 2013, 75–89.

damit auf die Bedürfnisse von alleinstehenden Frauen, die sich gezwungen sahen, ihre Heimat mit und ohne Kinder zu verlassen. Da viele Frauen – gerade im weltweiten Kontext – in den allermeisten Fällen diejenigen sind, die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen, haben sie eine doppelte Belastung in Armutssituationen. Dabei geht es nicht immer um individuelles Verhalten. Das Schlagwort von der »Feminisierung der Armut« macht deutlich, dass viele spezifisch Frauen treffende Armutserfahrungen durch ganz grundlegende sexistische Strukturen in der Gesellschaft, aber auch in Religionsgemeinschaften (diese als Segment der Gesellschaft) begünstigt werden. Versteht man Sexismus als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, so kommen soziale Steuerungssysteme wie von Rollenbildern abhängige Bildungschancen, stereotyp geprägte Berufswahl (typische Frauenberufe mit niedrigem Lohn), Strukturen des Arbeitsmarkts, Berufschancen, Benachteiligung bei Aufstiegschancen, sexuelle Belästigungen und vieles mehr in den Blick. Welche spirituellen Ressourcen hat das Christentum, um sich dem Problem zu stellen? Aus der Fülle der Tradition können hier nur zwei Felder herausgegriffen werden, der biblische Umgang mit Frauenarmut und die Herausforderung, die die Pauperisierung des 19. Jahrhunderts mit sich brachte.

2. Frauenarmut in der biblischen Tradition Die Erfahrung, dass Frauen stärker und anders von Armut betroffen sind als Männer, ist nicht neu, wie ein Blick in die Theologiegeschichte zeigt. Schon biblisch werden diese Unterschiede insbesondere im Alten Testament markiert. Fremde, Witwen und Waisen stehen – wie im ganzen Alten Orient – im Zentrum der sozialen Gesetzgebung. Fremde konnten auch Sklavinnen oder Kriegssklavinnen (vgl. Dtn 21,10–14) sein.12 Die alttestamentlichen Gesetze zu ihrem Schutz (vgl. Dtn 14,28 f.; 24,17 ff.) wie viele narrative Texte (vgl. 1 Kön 17,1–24; 2 Kön 4,1–7) zeichnen diese drei als am meisten von Armut bedrohte Glieder der Gesellschaft. Sie waren insbesondere ein leichtes Opfer für Ausbeutung und Ungerechtigkeit (vgl. Ex 22,20–26). Waisen konnte man ihr Erbe vorenthalten, Witwen Land durch das Verrücken von Grenzsteinen stehlen: »Die 12

Zur rechtlichen Eingliederung einer Kriegssklavin vgl. Ulrike Bechmann, Die kriegsgefangene Frau (Dtn 21,10–14), in: Bibel und Kirche 60 (2005), 200– 204; dies., Die Witwe von Sarepta, Gottes Botin für Elija, Stuttgart 2010.

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Gottlosen verrücken die Grenzen, rauben die Herde und weiden sie. Sie treiben den Esel der Waisen weg und nehmen das Rind der Witwe zum Pfande. Sie stoßen die Armen vom Wege, und die Elenden im Lande müssen sich verkriechen« (Ijob 24,2–4). Für Witwen und Waisen war es offensichtlich schwer, gerechte Richter zu finden, die ihr Recht durchsetzten. Es gehörte im ganzen Alten Orient zur Königsideologie, den Schutz der Schwachen gegenüber den örtlichen Gerichten durchzusetzen. Schon im ältesten überlieferten Gesetzeswerk, im Codex des akkadischen Königs Hammurapi (ca. 1800 v. Chr.), kommt der Schutz von Witwen und Waisen vor. Gottheiten werden als Schutz für Witwen und Waisen angerufen, die Armut einer Witwe ist geradezu ein geprägtes Motiv. »Der Herr wird das Haus der Hoffärtigen einreißen; aber den Grenzstein der Witwe wird er schützen« (Spr 15.25). Das bedeutet, dass die Schutzlosigkeit so verbreitet war, dass jede Gesellschaft dazu Regelungen erlassen musste. Dabei war jedoch nicht sicher, dass geschriebenes Recht auch tatsächlich zur Anwendung kam. Auch in Israel rief man JHWH als Schützer der Witwen, Waisen und Fremden an.13 Wenn kein Recht gewährt wurde, konnten die Frauen nur noch auf die Hilfe Gottes hoffen und Gott bitten, sich ihrer Sache anzunehmen. »Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtige und furchtbare Gott, der keine Person ansieht und kein Geschenk annimmt; der Recht schafft der Waise und Witwe« (Dtn 10,17–18). Propheten drohten wegen der Ausbeutung von Witwen, Waisen und Fremden Gottes Zorn an (vgl. Jer 48,11). Da die Frauen sich auf Gott berufen mussten, galten Witwen oft als fromm: Sie lebten, vertrauend auf Gott, eine Hoffnung wider alle Hoffnung. Denn als Frau mit oder ohne Kinder allein zu leben, war fast unmöglich. Man benötigte ein familiäres Umfeld, um überleben zu können, oder musste Land als Existenzgrundlage besitzen. Es war schwierig, mittellos in der extended family eine Versorgung ohne Diskriminierung und Unterdrückung zu finden. Kam zur Armut noch eine weitere Krise hinzu, blieben oft wenige Überlebenschancen. Gerade in schlechten Zeiten von Krieg oder Dürre, die die Lebensmittel knapp werden ließen, kamen Witwen schnell in eine bedrohliche Lage. Ihre Armut konnte dazu führen, dass sie sich und die Kinder als Sklaven verkaufen mussten. 13

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Zur biblischen Bandbreite vgl. Ulrich Berges/Rudolf Hoppe, Arm und Reich (Die Neue Echter Bibel Themen 10), Würzburg 2009; Maria Häusl, Bilder der Not. Weiblichkeits- und Geschlechtermetaphorik im Buch Jeremia (Herders Biblische Studien 37), Freiburg im Breisgau 2003.

Doch waren Witwen nicht völlig rechtlos.14 Sie konnten durchaus Besitz haben oder auch erben. Frauen konnten offensichtlich auch eigenständig Land erwerben oder verkaufen, sofern sie welches hatten. Allerdings war es offenbar schwierig, eigene Rechte durchzusetzen und über das Eigentum selbst zu entscheiden. Aber weil viele Familien doch eher arm waren und von der Subsistenz lebten, gerieten verwitwete Frauen fast immer in Abhängigkeit. Zahlreiche Geschichten erzählen von armen Frauen, die um ihr Überleben kämpfen und die von Gott unterstützt und/oder gerettet werden (müssen). Dazu gehören exemplarisch Rut und Naomi (Buch Rut), die Witwe von Sarepta, die nicht mehr als eine Handvoll Mehl im Topf hat (1 Kön 17), Tamar (Gen 39) oder Sklavinnen wie Hagar (Gen 16; 21). Wer arm ist, steht am Rande der Gesellschaft. Die biblischen Geschichten wechseln meist die Perspektive. Sie sprechen vom angeblichen »Rand« der Gesellschaft her, aus der Perspektive der Armen, der Machtlosen, der Fremden und Ausgebeuteten, wo Gott am Werk ist. Und wo Gott herrscht und wirkt, dort ist die Mitte, das Zentrum des Geschehens. Die Bibel holt die Frauen vom sogenannten »Rand« in die Mitte,15 Propheten und Prophetinnen kämpfen für sie. Denn die Entwicklungen am vermeintlichen »Rand« haben Folgen für das Zentrum. Nur scheinbar kann sich das Zentrum abkoppeln, wenn am »Rand« die Menschen hungern und sterben. Es wäre lebensrettend, wenn das Zentrum auf die Randständigen hören würde. Man könnte diese Einsicht mit Walter Benjamin korrelieren, dass im Extrem die Wahrheit des Ganzen offenbar wird.16 Das Neue Testament holt die Armen ebenfalls in das Zentrum der Verkündigung, allerdings wird die Armut von Frauen kaum eigens thematisiert. Einige Erzählungen nehmen das Thema auf, so verschafft sich die hartnäckige Witwe gegenüber einem ungerechten Richter ihr Recht (vgl. Lk 18), eine Witwe gibt ihr letztes Geld (Lk 21,1–4), doch die spezifischen Blicke auf arme Frauen und ihre Probleme treten gegenüber der 14

15 16

Vgl. Nora Molnár-Hídvégi, Art. Witwe und Waise, in: Michaela Bauks/ Klaus Koenen/Stefan Alkier (Hg.), WiBiLex (wissenschaftliches Bibellexikon), http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/34925; Samuel L. Adams, Social and Economic Life in Second Temple Judea, Louisville, Kentucky 2014, 41–81. Vgl. Uta Schmidt, Zentrale Randfiguren. Strukturen der Darstellung von Frauen in den Erzählungen der Königsbücher, Gütersloh 2003. Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt 1980, 693–704.

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Armutsthematik insgesamt in den Hintergrund. Nur zwei Texte seien kurz in den Blick genommen. Um Armut geht es vorrangig bei den Seligpreisungen. Sie unterscheiden sich zwischen den Evangelien nach Matthäus (Mt 5,3–12) und Lukas (Lk 6,20–21). Die früheste Form in der Logienquelle17, einer beiden Evangelien vorausliegenden Quelle mit vermutlich jesuanischem Spruchgut, hat wahrscheinlich diese Fassung: – – –

Selig ihr Armen, denn euer ist die Königsherrschaft Gottes. Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig ihr Weinenden, denn ihr werdet lachen.

Hier endet das Elend der Armen, Hungernden und Weinenden aufgrund von Gottes Königsherrschaft. »Königsherrschaft Gottes meint ein Leben, in dem es weder Not noch Krankheit noch Ungerechtigkeit gibt. Die Herstellung dieses paradiesischen Zustandes ist ausschließlich Gottes Werk. Die Menschen können […] sich ›nur‹ darauf einlassen.«18 Nicht weltliche Macht und Reichtum repräsentieren Gott. Arme, Hungernde und Trauernde sind nicht wertlos und überflüssig, bei ihnen ist Gott zu finden. Diese Menschen haben eine Zukunft mit Gott. Die Armen stehen auch im Weltgericht bei Mt 25,33–48 im Zentrum und sind der Ort, an dem Gott selbst gefunden wird. Im Neuen Testament spiegelt sich die alltägliche (männliche) Erfahrung eines hohen Armutsrisikos (trotz Arbeit) in den unteren sozialen Schichten im römischen Kaiserreich. Doch Frauenarmut speziell wird gegenüber der allgemein reflektierten Armut relativ wenig thematisiert. In den frühchristlichen Texten fehlt eine eigenständige Behandlung von weiblicher Armut weitgehend.19 Auf der Ebene des praktischen Gemeindelebens unterliegen nicht nur prekär lebende Frauen, sondern auch die aktiv und selbstständig wirtschaftenden Frauen räumlich und funktional (anders als in den Anfängen) zunehmend Restriktionen und werden aus den sich entwickelnden Ämtern gedrängt.20 17 18 19

20

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Vgl. zum Folgenden Joachim Kügler, Menschen mit Zukunft, in: Bibel heute 50 (2014), H. 3, 17–20. Ebd. 18. Vgl. dazu Ulrike Kohn/Bettina Schötz, Tagungsbericht Armut. GenderPerspektiven und ihre Bewältigung in Geschichte und Gegenwart, vom 28.– 29.11.2013 über den Beitrag von Maria Häusl und Hildegard König, in: H-Net Clio online (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5282 &view=pdf). Vgl. Ute E. Eisen, Amtsträgerinnen im frühen Christentum. Epigraphische und literarische Studien, Göttingen 1996.

3. Frauen in Diakonie und Caritas In diesem Rahmen kann der Umgang mit Frauenarmut in der Kirchengeschichte nicht nachgezeichnet werden, ein Sprung zu dem »langen 19. Jahrhundert« ist notwendig. Die These der »Feminisierung von Religion« ließ das 19. Jh. nicht als säkulares, sondern als religiöses Jahrhundert aufscheinen, was eine bedeutende Perspektivenänderung bedeutet. Insbesondere durch die vermehrte Beteiligung und Aufwertung von Frauen blühte religiöses Leben auf. »The image of the 19th century evolved from a secular era to a period characterized by a flourishing religious life with women as its main cornerstones.«21 Diese These blieb jedoch nicht unwidersprochen bzw. wurde modifiziert, so dass aufgrund der unterschiedlichen länderspezifischen kirchlichen und/oder religiösen Kontexte inzwischen plurale Perspektiven auf die Genderrollen des 19./20. Jhs. von Frauen vorhanden sind. Als Beleg für eine Feminisierung gelten z. B. folgende Merkmale: der Anstieg weiblicher Mitglieder bei den Orden, die stärkere (und öffentlich wirksame) Beteiligung von Frauen, etwa in Mission, Bildung und karitativen Einrichtungen oder auch die Veränderung der religiösen Sprache. Frauen engagierten sich in karitativer Arbeit oft spezifisch für arme Frauen und Kinder, die unter der Pauperisierung der Industriegesellschaft besonders stark litten. Als Antwort darauf entstanden Frauenkongregationen und Frauenverbände, die praktische gesellschaftliche Arbeit für Kinder, Waisen und Arme leisteten. Diakonissen, Frauenverbände und Frauenorden setzten sich als Ziel die Verbesserung der prekären Lebensumstände von Frauen und Kindern. Neben dem karitativen Engagement stand auch religiöse und weltliche Bildung für Frauen im Mittelpunkt. Wenngleich konfessionell – und auch gesellschaftlich – sehr unterschiedliche Bildungsziele für Frauen am Anfang standen, so führte im Laufe der Zeit die Arbeit mit den Frauen von einem top-down-Ansatz zu einer emanzipatorischen Bewegung durch die Arbeit mit und für Frauen. Frauenleben und Frauenerfahrungen insbesondere der armen Frauen wurden zum theologischen Ort.

21

Tine van Osselaer/Thomas Buermann, »Feminization« Thesis: A Survey of International Historiography and a Probing of Belgian Grounds, in: Revue d’histoire ecclésiastique 103 (2008), 497–544, hier 497.

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4. Religiöse Stabilisierung von Frauenarmut Die Feminisierung des religiösen Lebens ist jedoch nur ein Teil der christlichen Reaktion auf Frauenarmut. Vielfach wirkte sich das gesellschaftliche wie religiöse Frauenbild stabilisierend und nicht emanzipatorisch aus. Auch wenn es differente Ansätze zwischen den bürgerlichen und kirchlichen Bewegungen gab, sie stimmten im Frauenbild überein. Die Mutterrolle stand im Mittelpunkt, und Armut und fehlende Bildung wurden insbesondere als Hindernis gesehen, eine gute Mutter und Hausfrau zu sein. Im bürgerlichen Ideal galt: »Lernort bürgerlicher Mädchen soll das Haus sein, wo Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen von der Mutter an die Tochter weitergegeben werden. Lernmethode ist Erfahrungslernen. Lernziel ist neben den häuslichen Kenntnissen eine spezifische emotionale Grundausstattung: Im Zentrum weiblicher Bildung steht nicht Wissen, sondern Wesen.«22 Diesem Ideal entsprach auch das kirchliche Frauenbild, wobei die praktische Arbeit in der Bildungsarbeit und Armutsbekämpfung bei vielen Frauengruppen letztlich Realitätssinn förderte. »Lange bevor bürgerliche Sozialreformerinnen mit diesem Konzept (= Gemeindesozialarbeiterinnen) Politik machten, engagierten sich katholische Frauen auf diesem Sektor. […] Wahrscheinlich waren sie insofern ihren Schwestern in der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung näher, als die schroffen Kontraste in der jeweiligen ›Rhetorik‹ es nahelegen.«23 Es liegt also nicht allein am kirchlichen Frauenbild, dass aus mangelnden Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bis heute eine Vorstrukturierung von Frauenbiographien resultiert, die Frauen in die Armut führen. Jedoch stützen und befördern kirchliche Frauenbilder (und das gilt für viele Kirchen) dies teilweise bis heute.24

22

23 24

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Pia Schmidt, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen. Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt 1996, 327–345, hier 344. Relinde Meiwes, »Arbeiterinnen des Herrn«. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 30), Frankfurt/New York 2000, 198. Vgl. exemplarisch Ivy A. Helman, Women and the Vatican, Maryknoll, NY 2012; Heike Walz/David Plüss (Hg.), Theologie und Geschlecht. Dialoge querbeet (Theologie und Geschlecht 1), Wien u. a. 2008.

5. Religiöse Arbeit gegen Frauenarmut Aber es gibt auch im Christentum emanzipatorische Bewegungen, die die strukturellen und kulturellen Ursachen von Frauenarmut analysierten, was hier nur angedeutet werden kann. Die international vernetzte feministische Theologie hat ihren originären Entstehungsort bei den vielschichtigen Diskriminierungen von Frauen in Kirche und Gesellschaft, wozu vor allem Armut und Gewalt gehören und die Erforschung und Bekämpfung ihrer Ursachen. Die Lösungsansätze sind ebenso vielfältig wie die Arten der Diskriminierungen und unterscheiden sich kontextuell. Als Stichworte seien nur genannt: eine Sprachsensibilität, die Frauenerfahrungen nicht negiert und unsichtbar macht, Ermächtigung zur angemessenen Partizipation, Analysen von und Strategien gegen Armutsgründe, Überwindung patriarchaler Strukturen, Frauenerfahrung als Ort der Theologie, Wahrnehmen von Frauen als Subjekte ihrer eigenen Theologie, Überwindung von Frauenbildern, die die Ausbeutung von Frauen ermöglichen, und vieles mehr. International rief der Weltkirchenrat als Antwort auf die Herausforderungen 1988 die »Dekade Kirchen in Solidarität mit den Frauen« aus, in der innerhalb der Kirchen eine höhere Sensibilisierung für die Ungerechtigkeit gegenüber Frauen erreicht werden sollte. Für die sich anschließende Ökumenische Dekade »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« (1998–2008) formulierten Frauen in Zürich: »Wenn wir die Einbeziehung der Sünde des Sexismus in alle Problemanalysen der Ökumenischen Bewegung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung fordern, wissen wir uns in Übereinstimmung mit dem Evangelium, das Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen verheißt. Eine Kirche, die die Zusammenhänge, auf die wir hinweisen, nicht ausdrücklich zur Kenntnis zu nehmen bereit ist, verschweigt eine wesentliche Dimension der weltweiten Katastrophe und perpetuiert die Sünde des Sexismus, ohne deren Erkenntnis und Bearbeitung dem Evangelium in seiner klaren Forderung von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung die elementare Beachtung versagt wird.«25 Frauenarmut ist nicht (nur) ein Problem von Frauen, sondern ein Problem fehlender gesellschaftlicher Gerechtigkeit.

25

Feministisch-theologische Thesen der Ökumenischen Frauenbewegung 1988 in Zürich zur Dekade: http://oikoumene.net/home/zeug/zeug.europa/ zeug.88g/index.html

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6. Option für die Armen, die Anderen, die Frauen »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger und Jüngerinnen Christi.«26 Das Zweite Vatikanische Konzil sieht die Armen als Ort der Kirche und der Theologie. Die Befreiungstheologien in Lateinamerika, Afrika und Asien radikalisieren diese Option für die Armen. Paulo Suess hat durch die Auseinandersetzung mit der Diskriminierung von »Fremden«, Migranten/innen, Asylsuchenden und Menschen, die aufgrund eines Merkmals ausgegrenzt werden, die »Option für die Anderen« als notwendige Weiterführung formuliert.27 Denn werden die Anderen nicht respektiert, kommen sie immer in die Gefahr, Benachteiligte und Arme zu werden. In der gleichen Linie kann man dies nun für Frauen weiterschreiben. Da Frauen nicht nur die Mehrheit der Armen ausmachen, sondern da sich diese Armut mit spezifischen Erfahrungen verbindet, unterscheidet sich auch die Theologie, die auf den Erfahrungen aufbaut, an den Orten von Frauen formuliert und mit und von den Frauen entwickelt wird.28 Wenn benachteiligte Frauen Subjekt der Theologie werden, sich in den biblischen und anderen Texten der Tradition neu entdecken oder ihr Fehlen darin anprangern, dann verändert dies unabdingbar die Rede von und über Gott und die Welt. Die Erfahrungen werden zum Motiv für eine neue, andere Theologie und Ethik und eine veränderte pastorale Praxis. Die Option für die Frauen wird zum Movens eigenen, befreienden Handelns.

7. Christliche Frauensolidarität »ohne Grenzen« Zwei ökumenische, international tätige Organisationen, die aus der Aktivität von Frauen im 19. Jh. hervorgegangen sind, bis heute spezifisch die

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Dogmatische Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes 1. Vgl. Paulo Suess, Die Herausforderung durch die Anderen. 500 Jahre Christentum in Lateinamerika: Conquista – Sklaverei – Befreiung, in: Communicatio Socialis 25 (1992), 232–247. Vgl. z. B. Nyambura J. Njoroge/Musa Dube (Hg.),Thalita cum! Theologies of African Women, Pietermaritzburg 2001; Phyllis Trible/B. Diana Lipsett (Hg.), Faith and Feminism. Ecumenical Essays, Louisville 2014.

Probleme von Frauen im Blick haben und dafür tätig sind, seien hier kurz vorgestellt.

a) Weltgebetstag der Frauen Die erste ist der Weltgebetstag der Frauen, an dem sich heute Frauen in nahezu allen Ländern der Welt beteiligen,29 organisiert im Internationalen Weltgebetstagskomitee (New York). Das Deutsche Weltgebetstagskomitee e.V. ist von Frauenorganisationen aus neun Konfessionen getragen. Am ersten Freitag im März jeden Jahres feiern Frauen den Weltgebetstag mit einer Liturgie, die jeweils Frauen eines Landes verfassen. Der Weltgebetstag entwickelte sich aus ökumenischen Gebetstagen von Frauenmissionswerken in Kanada 1887 und den USA 1912. Mit dem Ziel, mit einer Partnerschaft von Frauen in aller Welt für Frieden einzustehen, wurde 1927 zum ersten Mal zum Weltgebetstag aufgerufen.30 In Deutschland schlossen sich 1927 methodistische Frauen dem Aufruf an und konnten noch bis 1943 den Tag begehen. 1947 initiierte Luise Scholz in Berlin zusammen mit amerikanischen Frauen einen Wortgottesdienst, 1949 versandte Dr. Antonie Nopitsch, damals Leiterin des Bayerischen Mütterdienstes in Stein, die ersten 10.000 Liturgien in ganz Deutschland. »Informiertes Beten – betendes Handeln« heißt das Motto und formuliert ein doppeltes Ziel: Es geht einerseits um Bewusstseinsbildung für die Situation von Frauen weltweit. Es geht aber auch um eine größere praktische Solidarität. In Deutschland fördert der Weltgebetstag der Frauen aus der Kollekte jährlich ca. 150 Frauenprojekte: eigenes Einkommen schaffen, Bildung fördern, politische Arbeit unterstützen, Gesundheitsprojekte für Frauen, AIDS-Aufklärung. Seit Beginn der Arbeit unterstützten die Frauen 6000 Projekte mit 65 Mio. € in 150 Ländern. Was die Bewegung bis heute prägt, war die Einsicht: Es ist nicht so sehr nötig, für andere (arme) Frauen zu beten, sondern mit ihnen. Dies gab Frauen weltweit eine Stimme, ließ sie für sich selbst sprechen und veränderte den ursprünglichen top-down-Ansatz zu einer emanzipatorischen Bewegung. Hinhören auf das, was Frauen, die Subjekt ihrer Botschaft 29 30

Grundinformationen unter www.weltgebetstag.de; vgl. Ulrike Bechmann, Der Weltgebetstag der Frauen – Praxis interkonfessioneller Arbeit, in: Diakonia 25, 1994, 125–130. Vgl. zur Geschichte Helga Hiller, Ökumene der Frauen. Anfänge und frühe Geschichte der Weltgebetstagsbewegung in den USA, in Deutschland und weltweit, Düsseldorf ²2006.

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sind, zu sagen haben und von daher zu handeln, nimmt eine Option für die und mit den Frauen wahr und setzt sie in praktisches Handeln um.

b) World Young Women Christian Association (World YWCA) Ebenfalls zu den ältesten ökumenischen Frauenverbänden gehört der World YWCA31 (Genf), der in 120 Ländern Mitgliedsverbände mit insgesamt 25 Millionen Frauen organisiert. Diese Frauengruppen vor Ort arbeiten zu allen Themen, die jeweils in ihrem Kontext relevant sind: gegen Gewalt gegen Frauen, Sexual and Reproductive Health and Rights, HIV und AIDS, Ausbildung von Frauen, Gesundheitsberatung, leadership-Training, advocacy-Arbeit und vieles mehr. Sie bekämpfen direkte und indirekte Strukturen, die Frauen in Armut bringen und halten. Der Weltverband unterstützt dabei die Verbände vor Ort und kämpft in den relevanten politischen Gremien für die politische Umsetzung von Frauenrechten, wie sie die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) formulierte. Die Verbände in den Ländern, Regionen und vor Ort arbeiten direkt mit den Frauen. Die christlichen ökumenischen Frauenorganisationen arbeiten nicht nur mit und für Christinnen, sondern ihre Projekte richten sich an alle Frauen der jeweiligen Gemeinwesen. Die grundsätzliche ökumenische Ausweitung in der Struktur öffnet die Beteiligten auch für die gemeinsame Arbeit mit Frauen anderer Religionen, wenn es um gesellschaftlich relevante Interessen und Rechte von Frauen geht. Dies zeigen viele Berichte aus der Arbeit. Interreligiöse Aktivitäten von Frauen ergänzen das Engagement. In Deutschland gibt es die Sarah-Hagar-Initiative32, die in verschiedenen Zweigen vielfältig aktiv ist. Viele lokale Initiativen gehören dazu, z. B. in Bamberg die Interreligiöse Fraueninitiative, für die Schweiz ist der Interreligiöse Think-Tank33 zu nennen, und so gehen viele Frauengruppen vor Ort die gesellschaftlich alle betreffenden Probleme auch mit anderen zusammen an. Frauenarmut betrifft Frauen aller Religionen, sie muss strukturell auf gesellschaftlicher Ebene bekämpft werden. Dass Frauen unterschiedlicher religiöser oder nicht-religiöser Herkunft dieses Engagement aus unterschiedlicher Motivation angehen, 31 32 33

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Vgl. http://www.worldywca.org/ Vgl. für das Ruhrgebiet http://www.gender-kirche-gelsenkirchen.de/de/ interreligioeser-dialog/sarah-hagar-initiative/ Vgl. http://interrelthinktank.ch/news_list.php?mastertable=category_news_page

schadet dem Engagement nicht. Die Fokussierung auf ein Thema schafft Gemeinsamkeit im Handeln und überbrückt differente Herkunft, Tradition oder Religion. Wenn hier interreligiöse Initiativen genannt sind, dann beinhaltet dies selbstverständlich christlich-muslimische oder andere, bilateral arbeitende Fraueninitiativen mit, die sich gleicherweise engagieren. Dies hängt im Einzelnen von den Konstellationen vor Ort ab, etwa wenn durch die Situation von Flüchtlingen, durch Armutshintergrund oder durch spezifische Situationen christliche oder muslimische Frauen besonders betroffen sind. Wo Armut zum Engagement herausfordert, tragen vor allem die gemeinsamen Ziele (etwa in der Flüchtlingsarbeit), und die unterschiedlichen spirituellen und theologischen Motivierungen treten bei der konkreten Arbeit am gemeinsamen Projekt in den Hintergrund. Insofern ist der Kampf gegen Frauenarmut kein speziell christlich-muslimisches Anliegen, als gemeinsames gesellschaftspolitisches Engagement kann es aber in christlich-muslimischen Dialogkontexten entdeckt und umgesetzt werden. Religiöse Vergewisserungen für ein solches Anliegen in den eigenen Traditionen können das Engagement vertiefen und den Austausch bereichern. Ein anderes Kennenlernen auf praktischer Ebene erweitert womöglich die Facetten möglicher Gemeinsamkeiten und Differenzen, die nicht unbedingt im religiösen, sondern im sozialen und politischen Ansatz liegen können. Wichtig ist, in dem Engagement zusammenzubleiben, wegen der Gemeinsamkeiten und trotz der Unterschiede. Solange die Option für die Frauen im Blick bleibt, gilt, wie es schon biblisch heißt: »Denn wer nicht gegen euch ist, ist für euch« (Lk 9,50).34

34

Vgl. Joachim Kügler/Ulrike Bechmann, Proexistenz in Theologie und Glaube. Ein exegetischer Versuch zur Bestimmung des Verhältnisses von Pluralitätsfähigkeit und christlicher Identität, in: Theologische Quartalschrift 182 (2002), 72–100.

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Eine islamische Perspektive zur Frauenarmut – Theologische Impulse zur Bekämpfung von Frauenarmut Elif Medeni

1. Einführendes zur Frauenarmut Das Thema Armut stellt für viele gesellschaftliche Bereiche eine Herausforderung dar. Mit der zunehmenden Urbanisierung und Globalisierung in den letzten Jahrzehnten sind neue Armutsformen und -konstellationen, insbesondere in Großstädten, entstanden, die es oft erschweren, von Armut betroffene Personen zu eruieren und ihnen adäquate Unterstützung zukommen zu lassen. Handelt es sich bei dem Armutsbegriff um einen relativen Begriff, der in der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen und dem Versuch einer objektiven bzw. disziplingebundenen Bestimmung sehr unterschiedlich ausfällt, sind die vielfältigen Definitionsversuche und -arten in der Fachliteratur nicht überraschend. Das Nicht-Verfügen über oder der verwehrte Zugang zu bestimmten Ressourcen kann zu Armutserfahrungen führen, die es unterbinden, diverse Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, welche in späterer Folge zu Armutsbetroffenheit führen können.1 Die verwehrten Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen werden in den Armutsstatistiken daher oft nicht zur Genüge berücksichtigt. Im urbanisierten und globalen Zeitalter sind für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung neue Strategien und Lösungen notwendig, denn fraglos ist das Leben heute in anderen Formen von Armut betroffen, als es einmal der Fall gewesen ist. In den vergangenen Jahrzehnten erfolgte eine zunehmende Identifizierung von Armut mit Frauen, wobei in den Armutsdiskussionen der Gegenstandsbereich Frauenarmut, meist in Zusammenhang mit Kinder1

160

Vgl. Erhard Berner, Un-fassbare Armut, in: Manuela Boatca/Karin Fischer /Gerhard Hauck (Hg.), Handbuch Entwicklungsforschung, Wiesbaden 2015, 48–58.

armut, verstärkt in den Fokus des Armutsdiskurses gerückt ist. Dies belegen u. a. die vielfältigen, internationalen Konferenzen sowie die verabschiedeten Beschlüsse und Dekrete zum Thema Frauenarmut.2 Der Terminus ›Feminization of Poverty‹ wurde erstmals 1978 von Diane Pearce benutzt.3 Die Frage, wer unter Frauenarmut fällt, ist keineswegs leicht zu beantworten. Nach Kim und Choi ist, trotz der vielen aktuellen Forschungen zum Thema Frauenarmut, nicht deutlich festgelegt, welche Frauen genau unter Frauenarmut fallen.4 Gemäß eines Beschlusses in Beijing erfasst und evaluiert das United Nations Department for Economic and Social Affairs (UN DESA) in fünfjährigen Intervallen die Ausprägungen und Auswirkungen von Frauenarmut und erstellt hierzu nationale und internationale Statistiken.5 Frauen sind aufgrund ihrer Mehrrollen und -belastungen, die sie häufiger im Familien- und Arbeitsleben einnehmen (müssen), öfters von Armut betroffen als Männer. Hierzu hält das UN DESA in der Zusammenfassung des Berichts 2010 fest: »In some parts of the world, women and girls are often more burdened by the poverty of their household and their environment than men and boys. […] At the individual level, women’s lack of access to and control over resources limits their economic autonomy and increases their vulnerability to economic or environmental shocks.«6

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Eine bedeutende Zäsur in Frauenrechten stellt die Verabschiedung der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women (CEDAW) 1979 dar (Text abrufbar unter: http://www.un.org/ womenwatch/daw/cedaw/cedaw.htm). Die Beijing Declaration and Platform for Action 1995 ist ein weiterer Meilenstein und kann als Weiterführung von CEDAW bzgl. Frauenrechte verstanden werden (Text abrufbar unter: http://beijing20.unwomen.org/~/media/headquarters/attachments/sections/cs w/pfa_e_final_web.pdf). Vgl. Diana M. Pearce, The Feminization of Poverty: Women, Work and Welfare, in: Urban and Social Change Review 11 (1978), 28–36. Für eine kritische Stimme zu diesem Ansatz siehe Cecil Jackson, Rescuing Women From the Poverty Trap, in: World Development 24/3 (1996), 489–504. Siehe Jin Wook Kim/Young Jun Choi, Feminization of Poverty in 12 Welfare States: Consolidating Cross-Regime Variations?, in: International Journal of Social Welfare 22/4 (2012), 347–359. Vgl. The World’s Women 2010: Trends and Statistics (abrufbar unter: http://unstats.un.org/unsd/demographic/products/Worldswomen/WW2010p ub.htm). Srdjan Mrkić/Tina Johnson/Michael Rose, The World’s Women 2010. Trends and Statistics, New York 2010, xi–xii. Abrufbar unter: http://unstats. un.org/unsd/demographic/products/Worldswomen/WW2010pub.htm

161

1.1

Armut als Gegenstand der Theologie

Auch für die Theologie wurde das Thema Armut und in der Folge speziell Frauenarmut zunehmend zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen.7 So waren beispielsweise die vielfältigen Diskriminierungs-, Ausgrenzungs- und Armutserfahrungen von Menschen in Lateinamerika wesentlich in der Konstitution der Befreiungstheologie.8 Im Gegensatz zur christlichen Theologie beschäftigt sich die islamische Theologie erst seit den vergangenen Jahrzehnten mit den neuen Manifestationsformen von Armut. Subaşı bemerkt hierzu, dass die bislang existierenden religiösen Ansätze noch nicht über die notwendigen Energien verfügen, um die modernen Erscheinungsformen von Armut gezielt zu bekämpfen.9 Auffällig im islamischen Diskurs zu Armut ist weiterhin, dass dieser stark im Lichte von Islamic Finance and Economics geführt wird. Omar Farooq hält kritisch hierzu fest: »Islamic works in general and Islamic economics-oriented literature in particular have not taken up poverty as a challenge that requires a systematic and direct attention.«10 Somit stellt das Thema Frauenarmut derzeit ein Forschungsdesiderat im islamisch-theologischen Diskurs dar. Das Thema Frauenarmut kann nicht allgemein über alle Kontinente, Kulturen und Religionen hinweg verallgemeinernd diskutiert werden, sondern bedarf einer genaueren 7

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Islamische Gelehrte haben sich bereits sehr früh in der Geschichte der islamischen Jurisprudenz eingehend mit den Fragen beschäftigt, wer als arm definiert werden kann, wem wie viel zakāt, also Pflichtabgaben, zusteht, wie Buße bei diversen Verstößen festzulegen und zu entrichten ist u. v. m. Vgl. Ingrid Mattson, Status-Based Definitions of Need in Early Islamic Zakat and Maintenance Laws, in: Michael Bonner/Mine Ener/Amy Singer (Hg.), Poverty and Charity in Middle Eastern Contexts, New York 2003, 31–51. Für muslimische Stimmen zu befreiungstheologischen Ansätzen siehe Farid Esack, Qurʾan, Liberation and Pluralism: An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity Against Oppression, Oxford 1997. Für eine koranische Reflexion befreiungstheologischer Ansätze siehe weiterhin Mahmut Aydın, Kur’an Eksenli Mücadele/Yoksulluk Teolojisinin Yansımaları (Koranzentrierte Kontextualisierung der Befreiungs- und Armutstheologie), in: Ahmet Emre Bilgili/İbrahim Altan (Hg.), Yoksulluk Sempozyumu (Armutssymposium), İstanbul 2003, 238–251. Vgl. Necdet Subaşı, Yoksulluğun Muğlak Dinselliği (Die vage Religiosität von Armut), in: Ahmet Emre Bilgili/İbrahim Altan (Hg.), Yoksulluk Sempozyumu (Armutssymposium), İstanbul 2003, 262–279. Mohammad Omar Farooq, The Challenge of Poverty and the Poverty of Islamic Economics, in: Journal of Economics, Banking and Finance 4/2 (2008), 35–58, 45. Abrufbar unter: https://www.bibd.com.bn/pdf/articles/ SSRN-id1403989.pdf

Betrachtung der regionalen Ausgangsbedingungen und der Analyse von vielschichtigen Wirkungsmechanismen, unter welchen Tradition und Religion wichtige Faktoren darstellen. Simplifizierende und reduktionistische Aussagen verharmlosen den Ursachen-Wirkungs-Mechanismus von Frauenarmut.11 Wichtige Impulse zur Frauenarmut kommen bisher aus der islamisch-feministischen Theologie, wo das Thema vorwiegend im Kontext von Aktivismus beforscht wird.12 Zwar gibt es bereits empirische Studien zur Frauenarmut in Ländern mit großer muslimischer Bevölkerung, jedoch steht eine (praktisch-)theologische Reflexion des Themas weitestgehend aus.13 In theologischen Reflexionen und Diskussionen müsste zunächst erörtert werden, ob und welche Rolle Religion in der Wahrnehmung, Konstitution und Legitimation von Frauenarmut spielt und welche Dogmen, Auslegungen oder religiöse Traditionen Frauenarmut begünstigen oder erst recht herbeiführen. Im Anschluss an diese Diskussionen wäre zu erörtern, welche Beiträge Religionen zur Bekämpfung von Frauenarmut leisten können. Dies könnte durchaus in einer interreligiösen Ausrichtung erfolgen, da Frauenarmut keine Religion kennt.

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Wie unterschiedlich islamrechtliche Entwicklungen und Reformen bzgl. Frauenrechte in diversen islamischen Ländern sein können, verdeutlicht die Publikation von Chitra Raghavan/James P. Levine, Self-Determination and Women’s Rights in Muslim Societies, Waltham, Mass. 2012. Die unterschiedliche (islam-)rechtliche Ausgangsbasis macht regionale Strategien zur Bekämpfung von Frauenarmut erforderlich, welche die lokalen (islam-) rechtlichen Ausgangslagen berücksichtigen und entsprechend strategisch nutzen. Die verschiedenen islamrechtlichen Entwicklungen in islamischen Ländern zeigen weiterhin auf, welche Spielräume bzgl. der rechtlichen Aufwertung und Gleichstellung von Frauen möglich sind. Hierzu siehe bspw. Sherine Hafez, Women Developing Women: Islamic Approaches for Poverty Alleviation in Rural Egypt, in: Feminist Review 97 (2011), 56–73. Oft sind es sozialwissenschaftliche Studien, die sich dem Thema Frauenarmut widmen, wie z. B. Çağla Ünlütürk Ulutaş, Yoksulluğun Kadınlaşması ve Görünmeyen Emek (Die Feminisierung der Arbeit und die unsichtbare Bemühung), in: Çalışma ve Toplum 2 (2009), 25–40; Filiz Kardam/Ilknur Yüksel, Kadınların Yoksulluğu Yaşama Biçimleri: Yapabilirlik ve Yapabilirlikten Yoksunluk (Formen, wie Frauen Armut leben: Fähigkeiten und Unfähigkeiten), in: Turkish Journal of Population Studies 26 (2004), 45–72.

163

1.2

Neue Ansätze in der Armutsforschung

Weitestgehend unerforscht ist das Thema Frauenarmut aus einer intersektionalen Perspektive. In der Geschlechterforschung sowie im feministischen Diskurs stellt Intersektionalität einen neuen Forschungsansatz dar. Das interdependente Zusammenwirken verschiedener Differenzkategorien wird hierbei in den Fokus der Betrachtungen genommen. Mit Hilfe der intersektionalen Analyse können Aussagen über Wirkungsweisen von Herrschafts-, Macht- und Normierungsverhältnissen getroffen werden. Neben den klassischen Differenzkategorien wie Herkunft, Ethnie oder Geschlecht wäre es sicher lohnenswert, die Kategorie Religion bzw. Religiosität, Kultur oder Status bei der Analyse von Frauenarmut hinzuzuziehen, um mögliche kumulative bzw. mildernde Effekte genauer zu eruieren.14 Es wäre aussichtsreich zu untersuchen, wie diese Kategorien zusammenhängen, einander beeinflussen und unterschiedliche Ausprägungen sozialer Ungleichheit herbeiführen und welchen Effekt hierbei Religion per se bzw. die individuelle Religiosität einnimmt.15 Weitere Ansätze in der Armutsforschung sind z. B. die Vulnerability- und Resilienzansätze, auf die im Rahmen dieses Artikels nicht weiter eingegangen werden kann.

2. Die viele Facetten von Frauenarmut Unabhängig von Religion und Kultur haben von Armut betroffene Frauen vieles gemeinsam. Die Ursachen von Armut sind, wie auch die 14

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164

Zum Thema Intersektionalität mehr bei Katharina Walgenbach, Postscriptum: Intersektionalität – Offenheit, interne Kontroversen und Komplexität als Ressourcen eines gemeinsamen Orientierungsrahmens, in: Helma Lutz/ Vivar Maria Teresa Herrera/Linda Supik (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010, 245–256. In diesem Kontext stellt sich die Frage, inwiefern muslimische Frauen, die in vielen Ländern von einem Kopftuch- und Berufsverbot betroffen waren und teils noch immer sind, in Armutszustände abgedriftet sind und Erfahrungen von Verwundbarkeit gemacht haben. Juristische Analysen existieren zur Genüge, jedoch sind wenige empirische Arbeiten zu den Erfahrungen von ausgeschlossenen Frauen und ihrem Umgang mit einem Berufsverbot vorhanden. Für eine juristische Auseinandersetzung vgl. Akif Hilâl Öztürk, Das Kopftuch. Rechtliche Hindernisse in der Berufswahl und -ausübung und ihre Rechtfertigung anhand eines Vergleiches des deutschen, türkischen und europäischen Rechts, Frankfurt am Main 2006.

Auswirkungen, mannigfaltig. Armut ist ein Phänomen, das oftmals ververerbt wird, so dass viele Menschen von Geburt an von Armut betroffen sind und es nur wenige schaffen, aus dieser Misere herauszukommen.16 Von in erheblichem Maße oder sogar gänzlich fehlender Bildung sind Mädchen17 viel öfter betroffen als Jungen, was von Grund auf ihre EntEntfaltungsmöglichkeiten und Verwirklichungschancen dramatisch eineinschränkt und weitere soziale sowie ökonomische Nachteile mit sich bringt.18 Auf dem Arbeitsmarkt sind Frauen viel häufiger in TeilzeittätigTeilzeittätigkeiten eingestellt und arbeiten oft im informellen Sektor, was sie zu billigen Arbeitskräften degradiert. Eine alarmierende Asymmetrie besteht auch in der Besoldungsdifferenz zwischen Frauen und Männern trotz gleicher Qualifikation und Einstellungsposition, auch in Industrieländern.19 Hinzu kommt, dass Frauen in Institutionen viel öfter als Männer von Sexismus betroffen sind oder Opfer sexueller Belästigungen werden. Durch die starke Involvierung im Familienleben sind Frauen oft an bestimmte Arbeitszeiten gebunden, so dass sie z. B. Nachtarbeit bevorzugen, um tagsüber ihre Kinder verpflegen zu können, wobei Vernachlässigungen der Kinder aufgrund der harten Arbeitszeiten und -bedingungen nicht auszuschließen sind. Des Weiteren veranlasst Armut Frauen, niederen Tätigkeiten nachzugehen oder aber, aus ihrer Verzweiflung heraus, ihre Kinder arbeiten zu schicken, was wiederum 16 17

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Vgl. Andreas Klocke, Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Generationenfolge, in: Peter A. Berger/Michael Vester (Hg.), Alte Ungleichheiten – Neue Spaltungen, Opladen, 211–251. Akram Nadwi verweist darauf, dass das vorislamische Ritual des lebendigen Begrabens von Mädchen unter den Arabern vergleichbar mit dem heutigen Verwehren von Bildungsmöglichkeiten für Mädchen ist. Denn in beiden Fällen wird den Mädchen jegliche Existenzgrundlage entzogen und sie werden somit dem physiologischen bzw. sozialen Tod ausgesetzt. Vgl. hierzu Mohammed Akram Nadwi, Muslim Women, »Honour Killing« and Islam, abrufbar unter: http://www.cambridgeislamicsciences.com/muslim-womenhonour-killing-and-islam/ Die Terrororganisation Boko Haram, übersetzbar mit ›(westliche) Bildung ist verboten‹, verkündete ein Bildungsverbot für Mädchen und Frauen. Sie haben mit der Entführung von Mädchen aus Schulen einerseits gezeigt, welche Ängste mit Bildungsinstitutionen verbunden sind, und andererseits, dass Mädchen und Frauen in solchen Kontexten das verwundbare Geschlecht sind, auf dessen Rücken diverse Machtspiele ausgetragen werden. Siehe hierzu bspw. den Genderreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Abrufbar unter: http://www.bmfsfj.de/doku/ Publikationen/genderreport/3-erwerbseinkommen-von-frauen-undmaennern.html

165

die illegale Kinderarbeit nährt. Oftmals ist eine finanzielle Benachteiligung im Rentenalter vorprogrammiert, weshalb Rentnerinnen auch häufiger von Armut betroffen sind als Rentner. Dazu kommt, dass in diversen Ländern eine rechtliche Benachteiligung besteht durch ein Verbot für Frauen, sich Land bzw. Eigentum anzueignen. Das UN DESA hält im Endbericht von 2010 hierzu fest: »Existing statutory and customary laws still restrict women’s access to land and other types of property in most countries in Africa and about half the countries in Asia.«20 Dass in Scheidungsfällen Frauen oft in finanzielle Notlagen abdrifabdriften, dass sie bei plötzlicher Arbeitsunfähigkeit des Gatten die Versorgerrolle übernehmen (müssen), dass sie bei Unruhen und in Krisen- und Kriegssituationen21 mehrfach Benachteiligungen und Gefahren, wie z. B. Vergewaltigung oder Prostitution22, ausgesetzt sind, lässt Frauen und Mädchen oftmals in ein tiefes Armutsvakuum fallen. Weitere psycho-soziale Folgen sind etwa Demütigungen, der Ausschluss aus Gemeinschaft und Gesellschaft, geringe bzw. keine politische oder gesellschaftliche Partizipation, das Verlieren von Zukunftsperspektiven sowie die totale Identifizierung mit der erfahrenen Armut. Abschließend sei bemerkt, dass physiologische und psychologische Gewalt an Frauen sowohl Ursache als auch Auswirkung von Frauenarmut sein kann. Die Gewalterfahrungen von Frauen beginnen oftmals in der Familie und setzen sich meist lebenslang fort.23

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166

Mrkić u. a., Trends (s. Anm. 6), xi. Hierzu Jeanne Vickers, Women and War, London 1993, 18–37. Die verheerenden Auswirkungen während und nach den Balkan-, Irak- und Afghanistankriegen haben gezeigt, welchen Gefahren und Benachteiligungen bzw. welcher Not Frauen ausgesetzt waren. Während bzw. nach den Kriegen wurden bspw. einschränkende Kleidungsvorschriften eingeführt, und Frauen und Mädchen wurde der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten verwehrt. In der Diskussion zum Schlagen von Frauen wird oft überlesen, dass in der Sunna des Propheten, der als bestes Vorbild für die Gläubigen gilt, sowie in den Hadithen, kein Hinweis – geschweige denn eine Überlieferung – darüber existiert, dass der Prophet eine Frau geschlagen hätte. Für eine Diskussion der Sure 4,34 zum Schlagen von Frauen siehe Rabha Al-Zeera, Violence Against Women in Qur’an 4:34: A Sacred Ordinance?, in: Ednan Aslan/Marcia Hermansen/Elif Medeni (Hg.), Muslima Theology: The Voices of Muslim Women Theologians, Frankfurt am Main/Wien 2013, 217–230.

3. Patriarchat, Tradition und Religion als Nährboden für Frauenarmut Viele Motive aus der (religiösen) Tradition und Kultur prägen heute noch die Rolle und Wahrnehmung der muslimischen Frau in der Gesellschaft. Patriarchale Strukturen, geschlechterstereotype Zuschreibungen und Rollenbildfixierungen sind in vielen muslimischen Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß präsent und überlagern weiterhin das religiöse und gesellschaftliche Leben. Trotz koranischer Deklarierung der Gleichwertigkeit der Geschlechter (Sure 16,97; 2,30; 4,124) werden bspw. Söhne oftmals in vielen Belangen bevorzugt und Mädchen hingegen bevormundet. Dass der Prophet selbst nur Töchter hatte, dass er in diversen Aussprüchen die Bedeutung der Töchter explizit hervorhob, um der männlich dominierten Gesellschaftsordnung entgegenzuwirken, wird oftmals überlesen.24 Nachfolgende Riten und Praktiken sind weniger religiös als vielmehr kulturell und patriarchalisch zu kontextualisieren und bilden mehrfach einen Nährboden für Frauenarmut: Frauenbeschneidung, arrangierte Ehen, Zwangsehen, Ehrenmorde, patriarchale Vorstellung von Ehre und Jungfräulichkeit zu Lasten der Frauen, frauenfeindliche Narrative, patriarchale Interpretationen von Quellen sowie die männliche Dominanz und Hierarchie in Moscheen. Im Folgenden sollen diese Themen angerissen werden. Female Genital Mutilation (FGM) wird in breiten Teilen Afrikas, mittlerweile auch illegal in Europa, praktiziert. Renommierte islamische Gelehrte haben diese fatale Tradition inzwischen als unislamisch und nicht vertretbar deklariert.25 Jedoch kommen diese Urteile der Gelehrten gegen die tief verankerten kulturellen Riten nicht wirklich an, so dass viele Frauen erschreckenderweise ihre Töchter selbst dieser brutalen Praxis aussetzen.26 Diverse Kampagnen gehen aktiv gegen Frauenbeschneidung vor und leisten Aufklärungsarbeit und weitere Formen der

24 25 26

Für die Gabe von Töchtern und Söhnen als Gottes Segen siehe Sure 42,49– 50; für die Wertschätzung von Töchtern siehe Bukhārī, Zakāt 10, Adāb 18. Für die Fatāwā (Rechtsgutachten) diverser islamischer Gelehrter siehe http://www.target-human-rights.de/HP-08_fatwa/index.php Für eine detaillierte Diskussion siehe Noor Kassamali, Genital Cutting, in: Suad Joseph (Hg.), Encyclopedia of Women and Islamic Cultures, Volume III, Leiden 2005, 129–132.

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ärztlichen und finanziellen Unterstützung.27 Von FGM betroffene Frauen leiden an den physiologischen und psychologischen Folgen meist jahrelang, wenn nicht lebenslang, und sind in ihrer Lebensbestreitung extrem eingeschränkt – verbunden mit einem entsprechenden Armutsrisiko.28 Arrangierte Ehen und Ehrenmorde sind weitere aus diversen Kulturräumen entsprungene Traditionen, die Frauen in tiefe Armutslöcher stürzen lassen können. In arrangierten Ehen herrscht oft ein starkes Gefälle zwischen Frau und Mann bezüglich Alter, Status und Lebensentwürfen. Oft werden diese Ehen dazu genutzt, anderweitige ›Geschäfte‹, wie z. B. Blutgeld, Schulden o. ä. zu begleichen oder um Sippenbeziehungen zu stärken.29 Die sunnitischen Rechtsschulen haben hierzu unterschiedliche Regelungen. Laut der hanafitischen Rechtsschule darf eine Frau nicht wider ihren Willen verheiratet werden bzw. sie darf ihre Heirat allein einleiten und vollziehen, ohne einen Vormund zu involvieren.30 Ehrenmorde wiederum haben keine religiöse Legitimation (Sure 17,33; 5,32), sondern berufen sich mit ihrer Praxis auf althergebrachte, patriarchalische Vorstellungen von Ehre und Stolz. Das Gebot der Jungfräulichkeit und die Wahrung der Keuschheit wird koranisch für beide Geschlechter eingefordert und bei Verstoß gleichermaßen bestraft (Sure 17,32; 33,35). Zu eruieren wäre, inwiefern die Zeitehe (nikāḥ al-mutʿa), die bspw. im Iran verbreitet ist, von Frauen als Ausweg aus der erfahrenen Armut in Erwägung gezogen wird bzw. ob diese Form der Ehe Frauen im Anschluss unabsehbaren Armutsrisiken aussetzt. In diversen Regionen verfügen Frauen über keine eigene Verwaltung ihres Einkommens, was aber keineswegs nur Muslime betrifft.31 27 28 29 30 31

168

Wie z. B. http://retteeinekleinewuestenblume.de/; http://www.mama-afrika.org/ de/genitalverstuemmelung/kultureller-hintergrund; http://www.target-humanrights.de/HP-03_projekte/u1-3_aetiopien/index.php Mittlerweile existieren zahlreiche biographische Berichte von Opfern einer Beschneidung, wie z. B. der bekannte autobiographische Roman von Waris Dirie, Wüstenblume, München 1998 (u. ö.). Vgl. Werner Baumeister, Ehrenmorde. Blutrache und ähnliche Delinquenz in der Praxis bundesdeutscher Strafjustiz, Münster 2007, 17–42. Vgl. Liyakat Takım, Law: The Four Sunnī Schools of Family Law, in: Suad Joseph (Hg.), Encyclopedia of Women and Islamic Cultures, Volume II, Leiden 2005, 440–445, 442. Hierzu hält der »World’s Women 2010«-Bericht fest: »Moreover, significant proportions of married women from the less developed regions have no control over household spending, including spending their own cash earnings, particularly in countries from sub-Saharan Africa and Southern Asia.« Mrkić u. a., Trends (s. Anm. 6), xi–xii.

Den klassischen Richtlinien der Scharia widerspricht solch eine Einschränkung.32 Vielmehr ist der Mann zu Unterhalt verpflichtet und darf weder über das Einkommen der Ehefrau verfügen noch darüber bestimmen.33 Diese Regelung kann separat im Ehevertrag nochmals festgehalten werden.

4. Armut als Gegenstand der islamischen Theologie Mit der Annahme des Islams durch arme und bedürftige MekkanerInnen begann sich der Islam langsam auszubreiten. Die neu im Entstehen begriffene Religion war von Anfang an mit dem Phänomen Armut konfrontiert. Auch in den Zeiten des mekkanischen Boykotts waren die Muslime vielfachen Armutsformen ausgesetzt. Im Gegensatz zur frühmekkanischen Zeit wird von der nachprophetischen Ära berichtet, dass es aufaufgrund der durch die Expansionen eingetriebenen Reichtümer bald nicht mehr möglich war, Arme und Bedürftige zu lokalisieren und Almosen zu distribuieren. Somit kennt der Islam aus seiner eigenen Etablierungs- und Verbreitungsphase beide Extreme, Armut und Reichtum. Im Kontext von islamischer Geschichtsschreibung spricht Farooq von einer »romanticized reading of our history«.34 Er kritisiert, dass in den gegenwärtigen muslimischen Ansätzen zur Bekämpfung von Armut die romantische Vorstellung herrsche, Armut nicht wirklich als eine Herausforderung in muslimischen Gesellschaften anzuerkennen. Andererseits, so Farooq, denke man, mit einem absoluten Zinsverbot und einem islamischen Markt- und Finanzsystem jegliche Form von Armut bekämpfen zu können. Er kritisiert weiterhin, dass zwar ein islamisches Finanzwesen im Wachsen ist, ohne jedoch signifikant positive Auswirkungen auf die sozio-ökonomische Lage der in Armut lebenden Muslime zu haben. 32

33 34

Annelies Moors zeigt in ihrer ethnographischen Studie, wie unterschiedlich die Regelungen des Aneignens und Verwaltens von Eigentum in Palästina sind. Je nach lokalen Traditionen, internationalen Richtlinien und Arbeitsmigration verfolgen muslimische Frauen unterschiedliche Strategien in der Einforderung von Vermögen (z. B. Brautgabe) oder der Verwaltung ihres Einkommens und Vermögens. Vgl. Annelies Moors, Women, property and Islam. Palestinian Experiences 1920–1990, Cambridge 1995. Vgl. Anis Ahmad, Women and Social Justice. Some Legal and Social Issues in Contemporary Muslim Society, Islamabad 1991, 80–81. Farooq, Challenge (s. Anm. 10), 43.

169

4.1

Koranische Aussagen zum Thema Armut

Koranisch betrachtet sind Armut und Reichtum soziale Tatsachen. Der Koran erwähnt immer wieder die Bedeutung des Schutzes von Witwen und Waisen. Der Prophet selbst wird im Koran angesprochen und daran erinnert, dass auch er als Waise aufgefunden und von Gott aufgenommen wurde (Sure 93,6). Somit verkörpert der Prophet selbst die Waisen, dedenen zu helfen mehrfach eingefordert wird (Sure 17,34; 2,220; 4,2; 4,9). Ein bedeutsames Ereignis stellt die Begegnung des Propheten mit einem blinden Mann in Mekka dar, woraufhin eine koranische Offenbarung an den Propheten herabgesandt wurde (Sure 80,1–12), die den Propheten ermahnt, sich nicht von dem blinden Mann ab- und einflussreichen Mekkanern zuzuwenden. Weiterhin betont der Koran bspw. in der zweiten Sure mehrfach die Bedeutung des Spendens und die Art der Spende.35 Auch fordert Gott ein, von dem zu spenden, woran das Herz besonders hängt (Sure 3,92). Nach koranischer Auffassung verringert das Spenden nicht das Vermögen, sondern vermehrt dieses – denn Gott kommt (als einer seiner »schönsten Namen«, asmāʾ al-ḥusnā) die Eigenschaft zu, Versorger (ar-Razzāq) schlechthin zu sein. Der Koran spricht von Armen (faqīr, miskīn) auch in dem Sinne, dass die Menschen insgesamt »arm« seien, insofern sie ganz auf Gott angewiesen sind und ihre Bedürftigkeit auf die Barmherzigkeit Gottes verweist (Sure 35,15; 47,38). Der Koran sieht mehrere Wege der Armenhilfe vor, wie z. B. in Form der Almosen, Tieropfer oder der Sühne bei diversen Verstößen (z. B. Schwurbruch: Sure 66,2; Pilgerrituale: 2,196; Scheidung: 58,3; fahrlässige Tötung: 4,92). Eine weitere, freiwillige Form der Spende für Bedürftige ist die Ṣadaqa (Sure 2,226; 9,98; 57,10). Wer nicht über materielle Güter verfügt, um zu spenden, soll den Armen gute Worte zukommen lassen (Sure 4,6).

4.2

Zakāt als Aufforderung zur Armutsbekämpfung

Der Institution der zakāt kann an dieser Stelle keine ausführliche islamrechtliche Abhandlung zukommen36 – zumindest aber einige 35 36

170

Vgl. Sure 2,262.274. Für eine detaillierte Abhandlung bzgl. zakāt siehe Timur Kuran, Islamic Redistribution through Zakat. Historical Record and Modern Realities, in: Michael Bonner u. a. (Hg.), Poverty and Charity (s. Anm. 7), 275–293. Vgl. in diesem Band auch die Behandlung in den Beiträgen von Khalfaoui, Sacarcelik und Sejdini.

Bemerkungen: Der Terminus selbst wird 32-mal im Koran erwähnt.37 Er bezeichnet eine Pflichtabgabe, die zu den fünf Säulen des Islams gehört, somit Pflicht für jeden Gläubigen ist. Diese jährliche Abgabe wird als religiöse Handlung und Pflicht gesehen, daher jedem Gläubigen selbst überlassen und unterliegt keiner Kontrolle durch Dritte. Der Koran ererwähnt die bestehende Praxis der Almosengabe in den Buchreligionen und lehnt sich somit an diese Tradition an.38 Die Almosen stellen eine Art jährliche Umverteilung der Güter und des Reichtums an die Bedürftigen dar. Durch diese jährliche Abgabe tragen die Gläubigen zur Bekämpfung von Armut aktiv bei. Hierzu müssen Muslime zunächst Bedürftige und Arme, denen die Pflichtabgabe zukommen soll, lokalisieren und dann die Abgabe entrichten. Im Koran werden die Personenkreise der Abgabenempfänger aufgelistet (Sure 9,60). Das Lokalisieren der Bedürftigen wie auch das Abgeben der zakāt kann als eine gesellschaftliche Sensibilisierung und zakāt konkret auch als allgemeinere Aufforderung zur Armutsbekämpfung interpretiert werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie einfach bzw. schwer es heutzutage ist, etwa bedürftige Frauen zu eruieren. Neben den ausgewählten koranischen Versen existieren vielfältige Hadithe zur Theorie und Praxis der zakāt, der Armenhilfe, der Abgabe von Almosen und der Unterstützung von Waisen, Witwen und Bedürftigen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann.39 Es sei noch abschließend auf eine Sunna des Propheten hingewiesen, die u. a. als eine Maßnahme zur Vorbeugung gegen Armut interpretiert werden kann, nämlich die Verbrüderung der ausgewanderten und eher armen MekkanerInnen mit den einheimischen und eher reichen MedinenserInnen. Der Prophet erklärte nach der Hidschra nach Medina die MekkanerInnen und MedinenserInnen in besonderer Weise als Geschwister und verbrüderte die beiden Gemeinschaften, die in der Religion nun vereint waren. Die reichen MedinenserInnen teilten teilweise ihr ganzes Hab und Gut mit den ausgewanderten MekkanerInnen. Auf diese Verbrüderung wird heute noch in vielen Kontexten Bezug genommen und solche Formen der Verbrüderung in Form von Patenschaften weiter gepflegt. 37 38 39

Vgl. Sure 73,20; 19,31; 30,38; 2,43; 57,10; 47,36; 9,60.103; 7,156; 41,6 f.; 21,72. Vgl. Sure 19,31. Die wichtigen Hadithkompendien enthalten alle einen Zakāt-Abschnitt, worunter viele Hadithe fallen, die im weitesten Sinne Armut und Abgaben thematisieren.

171

4.3

Armut – ein erstrebenswerter Zustand?

Im Sufismus (taṣawwuf) gab es Vertreter, die (materielle) Armut als einen erstrebenswerten Zustand angesehen haben und diesen Zustand als Anzeichen der Frömmigkeit klassifizierten. Rābiʿa al-ʿAdawiyya beispielsweise war eine in Basra lebende Asketin und Mystikerin. In den vielfältigen Erzählungen zu ihr wird immer wieder überliefert, dass sie Armut und Askese als einen erstrebenswerten Zustand angesehen und dies in ihrem Leben selbst umgesetzt hat.40 Ǧalāl ad-Dīn Muḥammad Rūmī wiederum hat sich in seinen Schriften von jeglichen Fatalismen distanziert. Das Arbeiten und Streben nach Reichtum ist, solange es die Menschen nicht von ihrer Dienerschaft und Ergebenheit zu Gott ablenkt, erstrebenswert.41 Bedeutsame Gelehrte haben sich in der Vergangenheit damit auseinandergesetzt, ob Armut ein religiös anzustrebendes Ideal für die Gläubigen darstellt oder nicht.42 Eine mögliche Ursache für den Fortbestand von Armut kann die Annahme sein, dass diese gottgewollt ist. Dahinter können viele mögliche Erklärungsmuster stehen, z. B. die Vorstellung einer göttlichen Bestrafung oder Prüfung, die wiederum mit Geduld oder Askese und ggf. einer Belohnung im Jenseits verbunden werden kann. In der theologischen Reflexion des Themas Armut stellt sich auch die Theodizee-Frage, auf die im Rahmen dieses Beitrages leider nicht näher eingegangen werden kann.43

40 41

42

43

172

Vgl. Margaret Smith, Muslim Women Mystics: The Life and Work of Rabi’a and Other Women Mystics in Islam, Oxford 2000. Vgl. Ejder Okumuş, Bir Sosyal Eşitsizlik Örneği Olarak Yoksulluğun Dini Meşrulaştırımı (Religiöse Begründungen der Armut als Beispiel für soziale Ungleichheit), in: e-Şarkiyat İlmi Araştırmalar Dergisi (e-Şarkiyat Wissenschaftliches Forschungsjournal) 5 (2011), 10–11. Sabra stellt die Meinungen der Gelehrten al-Sarrāǧ, al-Ġazzālī, al-Kalābāḏī, al-Makkī, al-Qušairī, al-Ǧauzī sowie Ibn Taimīya zu Armut allgemein und zu Armut als einem erstrebenswerten Idealzustand ausführlich dar. Vgl. Adam Sabra, Poverty and Charity in Medieval Islam. Mamluk Egypt, 1250–1517, Cambridge 2000, 8–31. Vgl. in diesem Band auch den Beitrag von Hajatpour. Für eine Diskussion der Theodizee Frage aus islamischer Sicht siehe Navid Kermani, Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2005; Eric Ormsby, Theodicy in Islamic Thought. The Dispute over Al-Ghazali’s »Best of All Possible Worlds«, Princeton 1984; Mustafa Macit, Yoksulluk, Insan Onuru ve Din (Armut, Menschenwürde und Religion), in: Atatürk Üniversitesi Ilahiyat Falültesi Dergisi (Zeitschrift der theologischen Fakultät der Atatürk-Universität) 41 (2014), 101–116.

4.4

Der Beitrag einer islamisch-feministischen Theologie zum Armutsdiskurs

Das Thema Frauenarmut stellt, wie bereits zu Anfang erwähnt, ein Forschungsdesiderat für die islamisch-theologische Forschungslandschaft dar. Den islamisch-feministischen TheologInnen sowie den AktivistInnen kommen unterschiedliche Aufgaben in der Armutsbekämpfung zu. Während TheologInnen den Herausforderungen und Erfahrungen der Armut erleidenden Frauen eine Stimme verleihen, indem sie auf der theologischen Ebene Grundsatzdiskussionen führen, Frauenarmut zum Thema der islamischen Theologie erheben, frauenbenachteiligende Lesarten und Praktiken hinterfragen und sich für neue, gerechte Lesarten im Sinne des Gemeinwohls einsetzen, packen AktivistInnen dort an, wo die akute Not herrscht, indem sie verschiedene materielle und immaterielle Kräfte mobilisieren und durch die Planung und Durchführung diverser Projekte betroffenen Frauen einen Lichtblick im Dunkeln verschaffen. TheologInnen kommt weiterhin die Aufgabe zu, unter Rückbezug auf die Quellen bspw. die Rolle der Frauen in (muslimischen) Gesellschaften neu zu definieren. Hierzu müssen alte Texte neu gedeutet werden und nach Ansätzen zur Absicherung, Stärkung und Aufwertung von Frauen gesucht werden, die sich in der islamischen Tradition nicht durchsetzen konnten, so bspw. die Schriften von Ibn Rušd oder Ibn Taimīya.44

5. Beiträge von islamischen Gemeinden und Verbänden zur Armutsbekämpfung Welchen Beitrag können islamische Gemeinden und Moscheen konkret in der Bekämpfung von Frauenarmut heute leisten? Zunächst müssten Exegesen, Katecheseliteratur und anderweitige Narrative auf mögliche frauenfeindliche Tendenzen und Haltungen hin durchsucht und diese ggf. eliminiert werden. Zudem sollten vermehrt frauenfreundliche Predigten konzipiert sowie explizite Frauenthemen und Frauenrechte in den Predigten angesprochen und die Gefahren der latenten Frauenarmut thematisiert 44

Zu Ibn Rušd siehe Catarina Belo, Some Considerations on Averroes’ Views Regarding Women and Their Role in Society, in: Journal of Islamic Studies 20/1 (2009), 1–20; zu Ibn Taimīya siehe Carolyn Baugh, Ibn Taymiyya’s Feminism?, in: Ednan Aslan u. a. (Hg.), Muslima Theology (s. Anm. 23), 181–196.

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werden.45 Weiterhin ist es dringend erforderlich, dass sich Moscheen für Frauen sichtbar in organisatorischer und thematischer Hinsicht öffnen. Moscheen sollten gezielt Frauenbereiche einrichten, die die Bedürfnisse der Frauen und Kinder berücksichtigen.46 Aktuelle Diskussionen über die Errichtung von Frauenmoscheen in Deutschland verdeutlichen, dass Moscheen offensichtlich derzeit noch nicht die Bedürfnisse und Belange aller muslimischen Frauen decken.47 Auch in thematischer Hinsicht sollte Frauen eine Plattform bereitgestellt werden, um ihre Belange und Fragen ohne Scheu diskutieren und an die Imame und die Gemeinde weitervermitteln zu können. Ferner wären festgelegte Angebote in den Moscheen und Vereinen wie z. B. Seelsorge, Sozialberatung oder psychologische Beratung und Betreuung bedeutsame Beiträge zur Prävention von Armut. Von Armut und anderen Begleitsymptomen, wie z. B. Gewalt, betroffene Frauen hätten die Möglichkeit, eine kultur- und religionssensible Hilfe und Unterstützung in den Gemeinden und Moscheen in Anspruch zu nehmen. Oftmals meiden muslimische Frauen staatliche und öffentliche Anlaufstellen, da sie sich dort unzureichend verstanden fühlen oder Sprachprobleme ihnen im Wege stehen. Auch sollten Frauen in Vereinsund Gemeindestrukturen besser vertreten sein. Die Wahl der neuen Generalsekretärin des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nurhan Soykan, ist ein Beispiel hierfür. Schließlich müssten Moscheegemeinden und Verbände neue Konzepte bspw. zur Distribution der zakāt entwickeln, um effektiver als bislang gegen Frauenarmut anzugehen und die Belange heutiger Frauen besser zu berücksichtigen. Denkbar wäre etwa ein Frauen- bzw. Armenfond.48 Die Etablierung und Funktionsweisen des

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Frauenfreundliche Beispiele aus der islamischen Geschichtsschreibung können in Predigten eingeflochten werden, so bspw. die Überlieferung über die alte Witwe, die sich beim Kalifen Omar über ihre Armut beklagt und ihn dafür verantwortlich macht, da er als Kalif über die in Armut Lebenden informiert sein müsste und vor Gott verantwortlich hierfür ist. Vgl. http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/36050625/Muslimische_ Frauen.pdf Vgl. aus der Berichterstattung hierzu: http://dtj-online.de/frauenmoscheemoscheen-frauen-gebet-55209; http://www.nafisa.de/frau-und-islam/gegendie-wand/. In China haben Frauenmoscheen eine lange Tradition. Siehe hierzu Maria Jaschok/Shui Jingjun (Hg), The History of Women’s Mosques in Chinese Islam, London 2000. Im Osmanischen Reich hatte man Almosensteine (sadaka taşı) für Bedürftige errichtet, in denen Reiche und Wohlhabende Spenden hinterlassen konnten. Anonym, ohne bloßgestellt oder in der Würde verletzt zu werden, nah-

Waqf-Systems, welches in islamischen Kulturkreisen weit verbreitet gewesen ist, können den Gemeinden und Moscheen Ideen für neue Maßnahmen geben.49 Wenn man bedenkt, dass sich viele Gemeinden und Moscheeverbände aus Spenden ihrer Mitglieder erhalten, scheitern leider viele der oben erwähnten Vorschläge aus Mangel an finanziellen Ressourcen.

6. Frauenvereine und Projekte gegen Frauenarmut Viele islamische NGOs und Frauenrechtsorganisationen wie etwa FOMWAN, WRAPA, WACOL, WLUML oder WEMC setzen sich weltweit gegen Frauenarmut ein. Die existierenden Maßnahmen sind jedoch nicht ausreichend, um die bestehenden Armutskatastrophen zu stoppen bzw. den Frauen Auswege aus der Armut aufzuzeigen. Auch führen islamische Banken und Konzerne Armutsbekämpfung auf ihrer Agenda, so z. B. die Islamic Development Bank.50 Kritisch zu islamischen Banken und den Diskussionen um islamische Wirtschaftsformen bemerkt Omar Farooq: »Unfortunately, in regard to the challenges of poverty, Islamic economics itself suffers from conceptual poverty.«51 Ein wichtiger Ansatz besteht mit dem Projekt zur Vergabe von Mikrokrediten an arme Frauen in Bangladesch.52 Für dessen Gründung wurde Muhammad Yunus 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, nachdem sich durch die Vergabe von Kredite die Situation der Frauen und ihrer Familien deutlich verbesserte. Das Konzept einer Starthilfe durch Mikrokredite wurde in vielen Ländern adaptiert und bildet heute eine wichtige Strategie in der Armutsbekämpfung.53

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men sich Bedürftige das heraus, was sie brauchten. Solche Maßnahmen können als Inspiration für neue Aktionen fungieren. Für eine detailliertere Abhandlung des Waqf-Systems siehe Timur Kuran, The Provision of Public Goods under Islamic Law: Origins, Impact, and Limitations of the Waqf System, in: Law & Society Review, Vol. 35/4 (2001), 841–898. Vgl. http://www.isdb.org/irj/portal/anonymous?NavigationTarget=navurl:// aa8254c9e0a4110c9f80374f20cb5c6b Farooq, Challenge (s. Anm. 10), 55. Vgl. Muhammad Yunus, Creating a World Without Poverty – Social Business and the Future of Capitalism, New York 2007. Für Witwenprogramme und Mikrokredite siehe z. B. Help the poor and the needy e.V.: http://help-the-poor-needy.blogspot.com.tr/2015/06/fatou-tourayaus-unserem-witwenprogramm.html

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Auch ein Projekt aus Wien, von einer deutschen Konvertitin initiiert, bietet wichtige Unterstützung für muslimische Frauen in Not: Das 2014 gegründete Frauenhaus Hatice bietet einen Zufluchts- und Unterstützungsort für muslimische Frauen, welche durch familiäre, finanzielle oder psychische Notlagen das Frauenhaus aufsuchen. Die mediale Berichterstattung in Österreich stand der Gründung dieses ersten Frauenhauses für Musliminnen jedoch reserviert gegenüber und äußerte Bedenken, dass damit muslimische Frauen noch stärker separiert statt integriert würden.54 Der Verein SOMM (Selbstorganisation von und für Migrantinnen und Musliminnen) in Graz bietet vielfältige Angebote für Musliminnen an, darunter Bildung (Sprachkurse, PC-Kurse), Gesundheit (z. B. seelische Gesundheitsförderung), Arbeitswelt (z. B. Mobbing, Nostrifizierung, Weiterbildung) sowie anderweitige Kurse zu Empowerment, politische Bildung oder interreligiöse und interkulturelle Begegnungen mit Frauen.55 Mit seinen Projekten SAKINA (Seelische Gesundheitsförderung für Migrantinnen) und RAHMA (Muttersprachliche Sozial- und Gesundheitsassistenz) wurde der Verein bereits ausgezeichnet.56 Auf eine schriftliche Anfrage, was der Verein gegen Frauenarmut unternehme, antworteten Vereinsvertreter: »Da unsere Zielgruppen Frauen und Mädchen aus allen Bildungs- und Sozialschichten sind und diese am meisten armutsgefährdet sind, zielen die meisten, wenn nicht alle unserer Projekte indirekt auf die Bekämpfung der Frauenarmut ab.«

7. Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurde versucht, eine islamische Perspektive zum Thema Frauenarmut zu skizzieren und einige wenige theologische Impulse zur Bekämpfung von Frauenarmut zu geben. Hierbei wurde deutlich, dass eine umfassendere theologische Auseinandersetzung zur Aufdeckung von patriarchalen Lesarten religiöser Quellen und Narrative notwendig ist. Ferner ist es dringend erforderlich, islamrechtliche Auslegungen und Rechtsgutachten daraufhin zu prüfen, ob diese die Bedürf54 55 56

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Vgl. aus der Berichterstattung http://diepresse.com/home/panorama/wien/ 4706231/Ein-Frauenhaus-fur-Muslimas, oder http://www.haberjournal.at/de/ osterreich/das-erste-muslimische-frauenhaus-in-osterreich-h2107.html Siehe hierzu die Homepage: http://www.somm.at/ Vgl. http://www.somm.at/index.php?option=com_content&view=article& id=11&Itemid=6&lang=de

nisse und Belange heutiger muslimischer Frauen absichern oder aber rechtliche Diskriminierungen von Frauen begünstigen und Frauenarmut verstärken. Ferner wurde in diesem Beitrag aufgezeigt, welche bedeutsame Funktion Gemeinden und Moscheen zukommt und welche Projekte zur aktiven Bekämpfung von Frauenarmut heute bereits durchgeführt werden. Wie an manchen Stellen angemerkt, konnte eine breitere Verortung des Themas Frauenarmut für den islamisch theologischen Diskurs nur angedeutet werden. Dies hebt noch einmal die Notwendigkeit der weiterführenden Auseinandersetzungen mit dem Forschungsgegenstand Frauenarmut im islamisch-theologischen Diskurs hervor.

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Beobachterbericht zum Forum: Frauenarmut bekämpfen – eine christliche und muslimische Aufgabe Fahimah Ulfat

Das Thema dieses Forums bezieht sich speziell auf »Frauenarmut« und beleuchtet das Thema »Armut und Gerechtigkeit« aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz. Sie hat im allgemeinen Armutsproblem eine eigene Prägung. Diese Themenstellung stellt sowohl aus christlicher als auch aus islamischer Perspektive eine große gesellschaftliche Herausforderung dar, denn Frauenarmut ist auch in Wohlstandsgesellschaften sichtbar. Armutsbekämpfung und insbesondere Frauenarmutsbekämpfung wird als Aufgabe unter anderem auch für die Religionsgemeinschaften wahrgenommen. Dieser Bezug hängt auch damit zusammen, dass Gründe für Frauenarmut unter anderem in religiösen Traditionen lokalisiert werden, die wiederum auf patriarchale Strukturen in Familien zurückgeführt werden. Die wichtigsten Ergebnisse der Diskussion lassen sich in den Fragehorizont des gesamten Themas der Tagung einordnen. So tangiert das Thema »Frauenarmut« aus theologischer Perspektive gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und religiöse Faktoren. Es wird deutlich, dass nicht klar auszudifferenzieren ist, welche Faktoren primär Auslöser für Frauenarmut sind. Daher wird hier der Fokus auf die kritische Reflexion der Tradition und zugleich ihre Fruchtbarmachung gelegt. Im Folgenden soll die Beobachtung der Beiträge und der Diskussion des Forums unter drei Gesichtspunkten systematisiert werden: – –

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Welche theologischen Argumente werden benutzt oder ausgenutzt, um Frauenarmut zu fördern? Welche Handlungsstrategien können aus der religiösen Tradition genutzt oder entwickelt werden, um Frauenarmut zu bekämpfen?



Welche Felder bieten sich für die Zusammenarbeit beider Religionen im Engagement gegen Armut an?

Zunächst zur christlichen Perspektive: Im Alten Testament werden Witwen und Waisen immer wieder in den Rechtstexten genannt. Sie stellen hier eine besondere, schutzbedürftige Gruppe dar, da sie keine Rechtsvertretung haben und nicht rechtsmündig sind. Frauen werden also als Subjekte mit vorenthaltenen Rechten wahrgenommen. Erzählungen des AT stellen sie als Arme und als Opfer von Gewalt vor. Im NT werden arme Frauen als spezifische Subjekte sehr viel weniger thematisiert.1 In der Untersuchung von Maria Häusl und Hildegard König konnte rekonstruiert werden, dass die Frauenarmut im NT in die Unsichtbarkeit verschwindet.2 Frauen werden, so die Theologinnen, auch aus der kirchlichen Gestaltungsmacht gedrängt. Die Reflexion von Armut ist im NT in geringerem Maße gruppenspezifisch. In den ntl. Seligpreisungen3 etwa geht es um den Zuspruch des Erbes der Königsherrschaft und somit der Zukunft an die Armen. Frauenarmut wurde in den vormodernen gesellschaftlichen Strukturen der christlich geprägten Länder durch patriarchale Machtstrukturen gefördert, in denen Frauen durch männliche Kleriker dominiert wurden. Die Diskriminierungserfahrungen gegenüber Frauen in den Kirchen, die beispielsweise in der Sprache sichtbar werden und im Frauenbild (Frau als Hausfrau und Mutter), werden in Verbindung gebracht mit sozialen Strukturen, welche die Frauen unweigerlich in die Armut bringen. Zudem sind Frauen und Frauenerfahrungen kirchlich gesehen kein Ort der Theorie- und Theologiebildung. Diese wird von den Frauen selbst betrieben. Durch die »Feminisierung der Religion« im kirchlichen Bereich (19. Jahrhundert) wurden Frauen öffentlichkeitswirksam aktiv. Durch Säkularisierung und Industrialisierung, die zu einer radikalen Verarmung geführt haben, haben christliche Frauen Verbände gegründet und wurden diakonal und karitativ tätig. Auch im Bildungsbereich zeigten sie ihr 1

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Vgl. jedoch Nora Molnár-Hídvégi, Witwe und Waise (erstellt April 2010), in: Michaela Bauks/Klaus Koenen/Stefan Alkier (Hg.), WiBiLex (Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet), http://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/34925/, v. a. Abschnitt 5. Vgl. dazu den Tagungsbericht Ulrike Kohn/Bettina Schötz, Armut. GenderPerspektiven ihrer Bewältigung in Geschichte und Gegenwart, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5282&view=pdf Vgl. Mt 5,3–12 und Lk 6,20–21.

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Engagement. Gleichfalls bildeten sich in den USA und England Initiativen von Frauen, die sich spezifisch an Frauen wendeten. Es haben also Frauen auf die Situation von armen Frauen und Kindern reagiert. Die Bewegungen wurden immer emanzipatorischer. Aus der islamischen Perspektive zeigt sich, dass zahlreiche Erzählungen aus der islamischen Geschichte Rollenzuschreibungen aufbrechen. Das Rollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter findet sich nicht in den frühislamischen Quellen. Am Beispiel des Propheten Muhammad und seiner Frau Ḫadīǧa zeigt sich die Umkehrung eines klassischen Rollenverständnisses (Muhammad als Angestellter bei Ḫadīǧa und Ḫadīǧa als aktive Frau, die wirtschaftlich und sozial die Gesellschaft mitgestaltet). Auch bei seinem Offenbarungserlebnis wird Muhammad als sehr verletzlich beschrieben und von seiner Frau ermutigt – was sonst eher Frauen zugeschrieben wird. Muhammad wird beschrieben als jemand, der kocht und näht, der Kinder auf seinem Rücken trägt, der sich von Frauen an die Hand nehmen lässt. In der koranischen Tradition gibt es also Texte, die entgegen einer spezifischen Rollenzuschreibung stehen. Diese werden oftmals nicht bewusst wahrgenommen. Kecia Ali hat beispielsweise herausgefunden, dass es eine bestimmte Hermeneutik gibt, welche Überlieferungen des Propheten Muhammad als normativ gelten und welche nicht.4 Gerade weil Männer die Regeln aufgestellt haben, welches Verhalten als normativ gilt und welches nicht, wird bereits relativ früh eine Benachteiligung der Frauen deutlich. Der zweite Kalif Omar, der als jemand beschrieben wird, der Frauen benachteiligt haben soll, hat zu seiner Amtszeit eine Frau als Marktinspektorin eingesetzt5, die also die Lebensader Medinas beaufsichtigen konnte und somit eine wirtschaftlich wichtige und öffentliche Funktion eingenommen hat. Es gibt noch weitere Begebenheiten in der islamischen Geschichte, die eine traditionelle Rollenzuschreibung unterwandern und konterkarieren. Es zeigen sich in den Quellen viele Argumente, die Frauen nicht auf eine passive Rolle zurückschreiben, auch was ihre charakterlichen Merkmale betrifft. Heutzutage tragen institutionelle, patriarchale und geschlechterstereotype Faktoren jedoch zur Benachteiligung und zur Frauenarmut bei. Eine der Ursachen für Frauenarmut wurde von Kecia Ali beleuchtet. Sie hat Eheverträge und Ehescheidungen als Grundlage für Ungerechtig4 5

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Kecia Ali, Sexual Ethics And Islam: Feminist Reflections on Qurʾan, Hadith, and Jurisprudence, Oxford 2006. Vgl. Yassine Essid, A Critique of the Origins of Islamic Economic Thought, Leiden 1995, 116f.

keiten und Armut identifiziert. Klassisch gibt es im islamischen Recht verschiedene Möglichkeiten der Ehescheidung, wobei eine besonders nachteilig für Frauen ist, nämlich wenn sie aus Eigeninitiative die Ehe scheiden lässt. In diesem Falle hat sie keinen Anspruch mehr auf ihre Morgengabe. In Ländern, in denen islamisches Personenrecht gilt, führten eine Scheidung und ein Alleinerziehenden-Status zur Verarmung von Frauen, vor allem, wenn es keine Versorgung durch eine Großfamilie im Hintergrund gibt. Das ist einer der Hauptgründe, warum Frauen verarmen. Es mag sein, dass im 7. Jh. die Institution der Brautgabe progressiven Charakter hatte; nachdem jedoch die damaligen Strukturen nicht mehr bestehen, kann eine Morgengabe für eine alleinerziehende Mutter keinen Lebensunterhalt mehr gewährleisteen. Daher wird dafür plädiert, grundsätzlich hier staatliche bzw. islamrechtliche Reformen und strukturelle Veränderungen anzustreben, um Benachteiligung zu verringern. Zudem spielen natürlich auch die spezifische Lebenssituation jedes Einzelnen, der Bildungsgrad sowie diverse politische wie gesellschaftliche Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Problematik der Frauenarmut. Für von einer Hermeneutik religiöser Traditionen gespeiste Strategien zur Überwindung von Frauenarmut bietet von philosophischer Seite Charles Taylor6 Anregungen. Er plädiert für eine Ausbildung narrativer Identität durch Rekonstruktion von Traditionen im Blick auf die Faktoren, welche die Wirksamkeit von Texten verhindern bzw. zu einer neuen Entfaltung ihrer Wirkung beitragen können. Identitätsbildende Narrationen können theologisch eingesetzt werden, um Rollenbilder aufzubrechen und Frauen zu stärken. Aus den diskutierten Gesichtspunkten deuten sich Felder für die Zusammenarbeit beider Religionen im Engagement gegen Armut an: Aus dem christlichen Bereich werden zwei Bewegungen genannt, die sich spezifisch mit Problemen von Frauen weltweit beschäftigen: einerseits der »Weltgebetstag der Frauen«, der ökumenisch die Grenzen überwindet, andererseits die »World Young Women Christian Association«, die interreligiös vor Ort mit anderen Frauen zusammenarbeitet. Dabei werden viele Projekte mit jungen Frauen in Empowerment-Programmen unternommen. Aus dem islamischen Bereich werden Projekte genannt wie die Arganölproduktion in Marokko, die ausschließlich in Frauenhand liegt 6

Joachim Schulte/Charles Taylor, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1996.

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und Frauen wirtschaftlich fördert. In Pakistan werden Kleinkredite vor allem an Frauen vergeben, da diese damit sehr konstruktiv umgehen. In Malaysia gibt es die »Sisters of Islam«, die sich unter anderem zur Aufgabe gemacht haben, Rechtsanwälte auszubilden, die insbesondere Frauen im Bereich des Eherechts unterstützen. Es zeigt sich allerdings, dass die muslimischen Verbände in Deutschland keine ausgearbeiteten Konzepte und Strategien zur Überwindung der Frauenarmut besitzen. Für die Zusammenarbeit im Engagement gegen Armut werden Initiativen genannt, die auf struktureller Ebene ihre Wirkung entfalten, wie Bildungsinitiativen, Gesundheitsberatung, Gewaltprävention usw. mit solidarischer Ausrichtung. Auf christlicher Seite gibt es bereits solche interreligiösen Initiativen. Es wäre wünschenswert, dass auch auf islamischer Seite solche interreligiös ausgerichteten Initiativen entstehen. Das angestrebte Ziel ist dabei Empowerment auf politischer, gesellschaftlicher und religiöser Ebene mit und für Frauen. Empfehlenswert wäre für muslimische Verbände, mit Hilfe der christlichen Vorbilder ebenfalls Konzepte und Strategien zur Überwindung der Frauenarmut zu erarbeiten und Frauenverbände zu gründen mit solidarischer und interreligiöser Ausrichtung.

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IV. Weltweite Armut – globale Gerechtigkeit Sozialethische Perspektiven auf »Entwicklung« und Armutsbekämpfung

Weltweite Armut – globale Gerechtigkeit Sozialethische Perspektiven auf »Entwicklung« und Armutsbekämpfung aus evangelischer Sicht Dietrich Werner1

Das »Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung« (EWDE), das seit 2012 in Berlin seinen neuen gemeinsamen Dienstsitz hat, ist Ausdruck und Resultat einer langen, über 150-jährigen Geschichte der Professionalisierung, Ausdifferenzierung und institutionellen Ausgestaltung des sozialen und international-ökumenischen Dienstes durch die evangelischen Kirchen in Deutschland. Der Zusammenschluss mehrerer Vorgängerwerke markiert einen deutlichen Zug zur Professionalisierung und Integration der Gesamtarbeit der evangelischen Kirchen im Bereich Armut und Gerechtigkeit. Zugleich zeigt er einen deutlichen Willen zur kritischen Begleitung und Mitgestaltung staatlicher Sozial- und Entwicklungspolitik im Rahmen der für die deutsche Situation charakteristischen rechtlichen Regelungen für das Verhältnis von Staat und Kirche, das im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips Möglichkeiten zu einer Mitwirkung kirchlicher (und anderer) Wohlfahrtsorganisationen im Gemeinwesen schafft. Zwei große Stränge der langen Geschichte des sozialen Protestantismus sind in diesem großen Werk (ca. 700 Mitarbeitende) miteinander verbunden:

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Der Aufsatz wurde vorgetragen als christlicher Beitrag zu einer christlichmuslimischen Verständigung über theologische Ansätze eines Dienstes für Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung in globaler Perspektive. Der Verfasser ist evangelischer Pfarrer und Theologe, seine Perspektiven verdanken sich einem jahrzehntelangen Engagement in der internationalen ökumenischen Bewegung, wie sie in der Gestalt des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf ihren Ausdruck gefunden hat, und der Mitarbeit als theologischer Grundsatzreferent in der Abteilung für Grundsatzfragen, Dialog und Theologie von Brot für Welt/Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirchen in Berlin.

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die Tradition der Fürsorge für Arme, Benachteiligte und Kranke, wie sie in regionalen diakonischen Diensten und Werken (Krankenhäusern, Schulen, diakonischen Diensten etc.) ihren Ausdruck gefunden hat, d. h. Auseinandersetzung mit Armut und Gerechtigkeit im nationalen Kontext (Diakonie Deutschland); die Tradition der Beziehungen zu Kirchen und Organisationen im weltweiten Kontext über Mission und Entwicklung, die im Bereich Bildung, Armutsbekämpfung und Gerechtigkeit engagiert sind, d. h. die Auseinandersetzung mit Armut und Gerechtigkeit im internationalen Kontext (Brot für die Welt/Kirchlicher Entwicklungsdienst).

Dabei ist für die Gesamtkonzeption dieses größten gemeinsamen Werkes der Gliedkirchen der EKD und der Freikirchen wichtig, dass der karitative Ansatz diakonischen Handelns immer zugleich verbunden ist mit einem politisch-strukturellen Ansatz. Die vielzitierte Verschiebung bzw. komplementäre Ergänzung eines Ansatzes von »caring for the poor« zu einem »speaking truth to power«-Ansatz hat die Entstehung und Arbeit dieses Werkes und seiner Vorgängerorganisationen schon seit Jahrzehnten begleitet. Deshalb wird ein großer Wert auf die Verschränkung von Projektarbeit mit politisch-struktureller Lobby- und Advocacy-Arbeit gelegt. Alles dies wäre nicht denkbar ohne die lange Vorgeschichte der Entwicklung des »sozialen Protestantismus«, wie er im deutschen Kontext seit fast 200 Jahren sich entfaltet und Gestalt angenommen hat.2 In fünf kurzen Abschnitten soll im Folgenden eher summarisch nachgezeichnet werden, welche theologischen Motive Entstehung und Praxis des Entwicklungsdienstes der evangelischen Kirche in Deutschland begleitet haben.3

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Vgl. Helga Grebing/Walter Euchner/Franz J. Stegmann (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland: Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Essen 22005; Sebastian Kranich, Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, Bd. 51/1 (2007), 65–69; Heinrich BedfordStrohm/Traugott Jähnichen/Hans-Richard Reuter u. a. (Hg.), Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Gütersloh 2007 ff. Zur vertiefenden Information vgl. Günter Linnenbrink, Der Entwicklungsdienst der Kirche: Ausgewählte Aufsätze, Hamburg 1999.

Die biblisch-prophetische Kritik an sozialer Ungerechtigkeit und die Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue in der alttestamentlichen Tradition In der zentralen Denkschrift von 1973, die in den evangelischen Kirchen Deutschlands die Begründung für den kirchlichen Entwicklungsdienst (KED) geliefert hat und bis heute maßgeblich ist, heißt es im theologischen Grundsatzteil programmatisch: »Die Christenheit ist beauftragt, das Kommen der Gottesherrschaft in der Welt zu verkündigen, zu helfen und zu heilen. Ihre Sendung gründet in dem Glauben, der die Welt als Gottes Schöpfung bezeugt, in der Liebe, die in dem entrechteten und armen Nächsten ihrem Herrn begegnet, und in der Hoffnung, die in der Gewissheit der kommenden, neuen Schöpfung handelt. Darum bilden die Verkündigung, die zum Glauben führt, und der Dienst, in dem die Liebe tätig wird, eine Einheit.«4 Hier werden bereits zentrale Elemente in der Begründung des kirchlichen Engagements für Entwicklung deutlich: – – – –

die Überzeugung, als Glaubensgemeinschaft in die Welt gesandt zu sein (d. h. nicht nur als partikulare National- oder Gruppenreligion zu existieren); die Überzeugung, dass die ganze Welt Gottes Schöpfung ist und dass sie veränderbar ist, weil sie unter der Verheißung des Kommenden steht; die Überzeugung, dass Gott eine Leidenschaft für die Armen und Entrechteten hat; und die Überzeugung, dass Christsein immer mit einer Einheit von Glaube und Tat zu tun hat.

Wenn man weiter fragt, woher sich solche Kernüberzeugungen speisen und theologisch begründen, führen Spuren tief in die biblische Tradition zurück. Eine wesentliche Wurzel dieser Überzeugungen, die in verschiedenen Stellungnahmen und konzeptionellen Grundsatzpapieren zum

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Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Der Entwicklungsdienst der Kirche – ein Beitrag für Gerechtigkeit und Frieden. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für kirchlichen Entwicklungsdienst, Gütersloh 1973, 9.

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Entwicklungsverständnis immer wieder erinnert wird, liegt in der Tradition früher Sozialkritik in der hebräischen Bibel: Prophetische Sozialkritik gehört zum Urgestein jüdisch-christlicher Glaubenstradition und reicht in die frühesten Schichten der biblischen Tradition zurück. Schon die ältesten der Schriftpropheten, Amos und Hosea aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., sind als scharfe Sozialkritiker bekannt: Amos spricht als Anwalt der Armen und Elenden (Am 2,6 f.; Am 4,1) und verteidigt Kleinbauern, die wegen drohender Überschuldung vor dem Verlust von Besitz und persönlicher Freiheit stehen. Gleichzeitig kritisiert er das Luxusleben der politisch und wirtschaftlich mächtigen Oberschicht von Samaria (Am 3,15; Am 4,1; Am 6,4–6). Hosea (etwa in Hos 7–8) entwickelt eine deutliche Kritik am sozialen Verhalten von Königen und Beamten. Die Konzentration des Grundbesitzes in den Händen Weniger steht auch im Mittelpunkt der Kritik von Jesaja und Micha in Judäa (Jes 5,8–10; Mi 2,1–3), hier begegnet erstmals die explizite Hinwendung zu den Witwen und Waisen, die als Opfer der sozialen Fehlentwicklung genannt werden (Jes 1,23; Jes 10,2). Das Ethos der frühen prophetischen Sozialkritik hat sein Echo in den späteren verschiedenen Kodizes der altisraelischen Sozialgesetze (Dtn 12–25 deuteronomistischer Gesetzeskorpus; Heiligkeitsgesetz Lev 17– 26; Ez 40–48 priesterliches Tempelgesetz), die die Pflicht zur Unterstützung von Witwen und Waisen (Ex 22,21 f.), die Achtung der Fremden (Lev 19,33 f.), die Nichtverkaufbarkeit des Landes (Lev 25,23–24) und die Notwendigkeit einer periodischen Korrektur von einseitigen Besitz-, Unrechts- und Schuldverhältnissen (Lev 25,1–17) implizieren. Die prophetische Sozialkritik ist also nicht bloß bei der Kritik stehengeblieben, sondern es gibt frühere Zeugnisse der Entwicklung von so etwas wie einer ersten Sozialgesetzgebung in der Tradition der hebräischen Bibel. Die prophetische Tradition der Sozialkritik wird dann in der hebräischen Bibel aufgenommen und verbunden mit einem Verständnis von Gerechtigkeit, das wesentlich als Gemeinschaftstreue bezeichnet werden kann: Von den Gläubigen wird erwartet, dass sie dem Bund entsprechen, den Gott in seiner Gemeinschaftstreue mit ihnen geschlossen hat. Gerechtigkeit bedeutet hier nicht einfach einen Standpunkt bloßer Neutralität, Unparteilichkeit und des Ausgleichs einzunehmen, sondern eine soziale Praxis der Solidarität zu leben, die sich – der Erfahrung eigener Befreiung aus Sklaverei entsprechend – den Schwachen und Benachteiligten zuwendet. Einer der immer wiederkehrenden zentralen Begründungssätze lautet:

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»denn der Herr schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt auch ihr die Fremdlinge lieben, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen im Ägyptenland« (Dtn 10,18 f.). Es ist die Befreiungserfahrung des Exodus, mit der an verschiedensten Stellen die gesamte Rechtstradition des Gottesvolkes begründet wird (Dtn 5,6 ff.).

Die jesuanische Reich-Gottes-Botschaft und die urchristliche Tradition diakonischer Armenfürsorge als Wesenselement und Gestaltungsfaktor der christlichen Frömmigkeitsgeschichte Die »bessere Gerechtigkeit«, von der in der Bergpredigt Jesu die Rede ist (Mt 5,20), nimmt diese alttestamentliche Tradition auf und sieht die Weisung (Thora) erfüllt im Gebot einer radikalisierten Nächsten-, ja Feindesliebe; sie zielt auf eine soziale Praxis zunehmender Inklusion und universeller Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen. Im berühmten Weltgerichtsgleichnis von Mt 25,31–46 wird die Nähe zu den Bedürftigen und Armen (Hungernde nähren, Dürstende tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen) zum eschatologischen Merkmal der Unterscheidung menschlichen Verhaltens beim Endgericht. Man kann Mt 25,31 ff. auch als Urform einer christlichen Strategie der Armutsbekämpfung ansehen: Die Merkmale der Inklusion, der Ermächtigung der Armen und das gelebte Zusprechen von Menschenwürde für Benachteiligte (Frauen, Kinder, Kranke, Sterbende, Gefangene) wurden zum frühen Markenzeichen missionarischer Bewegungen in verschiedenen Regionen der Erde (teilweise – vgl. mittelalterliche Armutsorden und monastische Bewegungen – auch im Konflikt und Widerspruch gegen einen macht- und herrschaftsorientierten Typ von Kirche, wie er im Modell einer Reichskirche oder der Kolonialmission Gestalt fand). Organisierte Armenfürsorge hat es seit den frühesten Zeiten der Kirche und schon in den urchristlichen Hausgemeinden gegeben, wie es z. B. das urchristliche Gemeinde-Summarium Apg 2,42–47 und der Bericht über die Wahl der sieben Diakone und Armenfürsorger in Apg 6,1–7 zeigen. Stephanus, den man sozusagen den Pionier einer me-

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thodischen Diakonie- und Entwicklungsarbeit der Kirche nennen könnte, wird zum ersten Märtyrer der frühen Christenheit (Apg 7,54–60).5 Die organisierte Armenfürsorge wirkt weiter in der Frömmigkeitsgeschichte der Kirche. Christliche Liebestätigkeit war ein prägendes Merkmal der christlichen Frömmigkeitsgeschichte durch die ganze Kirchengeschichte.6 In vielen reformatorischen Kirchen gab es seit dem Spätmittelalter Armenkastenordnungen (z. B. die sog. Leisniger Kastenordnung von 1523), in denen die Pflichten zum Almosen und die Unterstützung der eigenen (!) Armen durch jede Stadtgemeinde festgelegt wurden. Fragt man nach den Wurzeln des heutigen Entwicklungsdenkens in der biblischen Tradition, so muss man zunächst zugestehen, dass das Konzept der »Entwicklung« selbst keinen zentralen biblischen Begriff darstellt. Die Vorstellung eines kontinuierlichen und bruchlosen Übergangs von niedrigeren zu höheren Entwicklungs- und Fortschrittsstufen, die das westlich-säkulare Entwicklungsdenken im Kontext der Nachkriegszeit lange Jahre implizit begleitet hat, ist der biblischen Tradition völlig fremd. Es gibt keine biblische Metapher für »Entwicklung«, sondern nur für »Wachstum« (Mk 4,26–34) und für »Umkehr« (metanoia: Mk 1,15 f.). Was der biblischen Tradition nicht fremd ist, ist das leidenschaftliche Interesse Gottes an gerechten Lebensbeziehungen in seinem Volk und im Verhältnis zu denen, die bereits im alten Israel als »Fremde« wahrgenommen wurden. Die Erinnerung an die Befreiung aus Knechtschaft und Sklaverei markiert die bleibende Grundaufgabe, das Recht der Bedrängten, der Witwen, Waisen und Armen zu achten. Nicht eine idealisierte lineare Fortschritts- oder kontinuierliche Entwicklungsoder wirtschaftliche Wachstumsideologie also steht im Mittelpunkt der biblischen Tradition, sondern die ebenso entwicklungsbezogene wie spirituell-religiöse Frage, wie und wodurch radikaler Wandel geschieht und Umkehr ermöglicht wird. »Kehrt um und glaubt an das Reich Gottes« (Mk 1,15 f.). Biblisch gesehen geht es also um die durchaus moderne Kernfrage, wie Transformation und Befreiung zu Menschenwürde gelingen und beginnen können.

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Vgl. Ralf Koerrenz/Benjamin Bunk (Hg.), Armut und Armenfürsorge. Protestantische Perspektiven (Reihe Kultur und Bildung, Band 5), Paderborn 2014. Vgl. Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Darmstadt 1959 (Nachdruck der 2. Auflage von 1995).

Die frühe Jesusbewegung hat zur Ausbildung von neuen Lebensformen in gerechteren Beziehungsverhältnissen geführt, sobald die Botschaft von der unbedingten Würde jedes menschlichen Geschöpfes in Kreisen der Marginalisierten der antiken Gesellschaft und bald auch in wohlhabenderen Schichten Fuß fasste und die in der antiken Gesellschaft bestehenden sozialen Unterschiede relativiert wurden (Gal 3,28 f.). Die Verkündigung Jesu vom Reich Gottes rechnete mit der Veränderbarkeit von weltlichen Herrschafts- und Machtverhältnissen. Aber die Veränderbarkeit der Welt wurde eben nicht durch Zwang und Gewalt erwartet, sondern durch Dienst und Solidarität mit den Entrechteten und Armen. Die Botschaft vom Reich Gottes hatte politische Implikationen, in dem sie sich auf einen neuen Begriff von der »Gerechtigkeit Gottes« bezog. Die »basileia tou theou«, die Königsherrschaft Gottes (bzw. hebräisch »malkut jahwe«), war auf die Herstellung gerechter Verhältnisse für die Bedrängten und Schwachen bezogen. Aber das Reich Gottes war selbst kein machtpolitisches Programm und blieb deshalb in seiner Interpretation durch die Erfahrung des Kreuzes Jesu (Scheitern des Gesandten; Inkraftsetzung durch Gott allein) gekennzeichnet. Auch wenn in der Geschichte der Kirche vielfach gegen dieses Prinzip verstoßen wurde: Die Verheißung des Reiches Gottes begründete keinen Weg der Herrschaft und Zwangsdurchsetzung einer alternativen Gerechtigkeit von oben, sondern ermutigte zum Weg einer risikobereiten Nachfolge des Gekreuzigten und seiner Solidarität mit den Geringen, d. h. einer Strategie einer Veränderung von unten, der Entwicklung über Stärkung menschlicher Würde und Eigeninitiative von benachteiligten Gruppen.

Der Beginn des deutschen kirchlichen Entwicklungsdienstes in der Nachkriegszeit und der Kontext des ökumenischen Sozialdenkens Der Dienst evangelischer Kirchen für Gerechtigkeit nach innen, d. h. wesentlich im nationalen Kontext, verbindet sich im Blick auf seine institutionelle Ausgestaltung mit einem wichtigen Datum in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Anfänge der »Inneren Mission« sind wesentlich verbunden mit dem ersten Evangelischen Kirchentag in Wittenberg (1848), auf dem der Hamburger Pfarrer und Anstaltsleiter des »Rauhen Hauses« Johann Hinrich Wichern ein leidenschaftliches Plädoyer dafür formulierte, einen Zusammenschluss aller christlichen Initiativen und Vereine in der sozialen und karitativen Arbeit anzustreben: Dadurch 191

entstand 1849 der »Central-Ausschuss der Inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche«, die Vorgängerinstitution des heutigen Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland.7 Der Dienst der evangelischen Kirchen für Gerechtigkeit nach außen, d. h. in weltweiter Dimension, verband sich mit einem wichtigen Datum in der Nachkriegszeit Ende der 50er Jahre. Es hatte zwar schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Aufbrüche zu einem internationalen Diskurs über Sozial- und Wirtschaftsethik gegeben: Bereits die Weltmissionskonferenz in Jerusalem 1928 artikulierte sich im Blick auf Fragen der Situation der Länder des Südens und der beginnenden Industrialisierung, auch die COPEC-Conferencen in Birmingham (Conference on Christian Politics, Economics and Citizenship) im Jahre 1924 waren ein wesentlicher früher Meilenstein einer Vorform des Entwicklungsdenkens. Doch es brauchte die verstärkte Auseinandersetzung mit den Folgen der Entkolonialisierung Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre (WCC-Studie über »Rapid Social Change«; Weltkonferenz über Kirche und Gesellschaft Genf 1966), um vor allem über die ökumenische Bewegung entscheidende Impulse für ein frühes Nachdenken über Konzepte weltweiter Entwicklung freizusetzen. Die Wurzeln des organisierten kirchlichen Entwicklungsdienstes der evangelischen Kirchen in Deutschland führen in die Zeit des Wiederaufbaus Ende der 1950er Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Vier Motive wirken bei der Gründung von Brot für die Welt 1959 zusammen: – – –



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Brot für die Welt war eine systemübergreifende Initiative, die sich der Binnenlogik des Ost-West-Gegensatzes entzog; Brot für die Welt war Ausdruck der Dankbarkeit über die erfahrene Hilfe westlicher Kirchen in den Jahren des Wiederaufbaus in Deutschland; Brot für die Welt war Folge der Erkenntnisse des Kirchenkampfes in Deutschland und der neu empfundenen Verpflichtung, dem Zeugnisund Dienstauftrag der Kirche auch glaubwürdige Taten folgen zu lassen; Brot für die Welt war eine kirchliche Antwort aus Deutschland auf die neue Tradition des internationalen ökumenischen Sozialdenkens im Welthorizont und die Entdeckung der Entwicklungsverantwortung in den 60er Jahren, wie sie im ÖRK vorgetragen wurde.

http://www.diakonie.de/der-central-ausschuss-der-inneren-mission-9218.html

1.

2.

3.

Es geschah zum ersten Mal im Advent 1959, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die evangelischen Freikirchen die evangelischen Christen in beiden Teilen Deutschlands um ein Weihnachtsopfer bat für die Notleidenden in der Welt unter der Überschrift »Menschen hungern nach Brot«. Dies war in mehrfacher Weise bemerkenswert: Brot für die Welt war von Anfang an eine systemübergreifende Initiative, die sich dem wachsenden Ost-WestKonflikt entgegenstellte. Brot für die Welt verstand sich als ein kritischer Gegenakzent gegen die Selbstzentriertheit des westlichen Wohlstandsmodells. Es war am Ende jenes Jahrzehnts, in dem in Westdeutschland das »Wirtschaftswunder« gefeiert wurde, dass die evangelischen Kirchen den Finger auf die Wunde des bleibenden Hungers in der Welt der Anderen legten. Brot für die Welt wurde programmatisch als eine Aktion der Dankbarkeit für erfahrene Hilfe aus dem Ausland gestartet: Symbolträchtig wurde die Kollekte, die bei der Eröffnung für Brot für die Welt am 12. Dezember 1959 in der Berliner Deutschlandhalle gesammelt wurde, in Milchpulvertonnen gefüllt – in eben jene Tonnen, in denen Partnerkirchen aus dem Ausland einst Nahrungsmittelhilfe für die hungernden Berliner schickten. Die solidarische Hilfe, die Menschen in Deutschland genossen hatten, sollte nun nach den Jahren des Wirtschaftswunders den Bedürftigen in anderen Teilen der Welt zurückgegeben werden. In der Stuttgarter Schulderklärung von 1945, mit der die evangelische Christenheit wieder aufgenommen wurde in die internationale ökumenische Gemeinschaft der Kirchen, wurde bekannt: »Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben […]. Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.« Die Hinwendung zur grenzüberschreitenden materiellen Hilfe für Notleidende und Hungernde in der Welt wurde als tatkräftiger Ausdruck dieser Umkehrbewegung der Kirchen im Nachkriegsdeutschland und Konsequenz aus dem Versagen während der Zeit der NS-Diktatur empfunden. 193

4.

Wesentliche Kreise und Führungspersönlichkeiten der evangelischen Kirchen im Nachkriegsdeutschland waren auf das Engste mit der ökumenischen Bewegung verbunden (Bonhoeffer, Niemöller). Die Kernfrage des ökumenischen Sozialdenkens, wie sie Amsterdam 1948 unter der Überschrift »Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan« formuliert hatte, verband diese Kreise. Konnte man Grundkonturen einer »verantwortlichen Gesellschaft« (das sozialethische Leitparadigma von Amsterdam 1948 bis zur Weltversammlung Uppsala 1968) formulieren, die das Chaos und die Zerstörungen sowohl des Faschismus als auch des Kommunismus hinter sich ließ? Konnte man darüber hinaus Konturen einer internationalen »verantwortlichen Weltgesellschaft« formulieren (Genf 1966 und Evanston 1954), die nicht nur den sich ausweitenden Ost-WestGegensatz, sondern auch die wachsende Kluft zwischen den Ländern des Nordens und des Südens überbrücken helfen konnte? Durch die Weltversammlung in Uppsala 1968 machte der ÖRK die Entwicklungsfrage und die Thematik sozialer Gerechtigkeit erstmals zu einem prioritären weltweiten Thema. Die Entwicklungsdenkschrift der EKD von 1973 widmet ein ganzes eigenes Kapitel diesem Zusammenhang mit den Anregungen durch die frühe Debatte des ökumenischen Sozialdenkens im Welthorizont.8

Der Wandel des Entwicklungsleitbildes zwischen 1974 und 2005 und die Suche nach alternativen Maßstäben von Wohlstand und Entwicklung »Nur die Not ist unser Maßstab« – so hieß es in den Anfangsjahren des kirchlichen Entwicklungsdienstes, der sich an dieser Stelle bewusst von der beginnenden staatlichen Entwicklungshilfe abgrenzen wollte. War staatliche Entwicklungshilfe immer in der Gefahr, in das Schlepptau von außenpolitischen Interessen zu geraten, so lag kirchlicher Entwicklungshilfe immer an ihrer politischen Unabhängigkeit. Notwendende Hilfe sollte jedem Bedürftigen ohne Ansehen von Person, Religion, Nationalität und Rasse zugutekommen. »Der Hunger auf der Welt ist eine ganz große Anklage, von der sich jeder mit getroffen fühlen muss. Wir wollen helfen ohne Dank und ohne Lohn. Wir wollen helfen, wie der barmherzi8

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Vgl. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Entwicklungsdienst (s. Anm. 4), Abschnitt II: Ökumenische Anregungen, 11 f.

ge Samariter im Gleichnis half, der auch nicht danach fragte, zu welcher Rasse und Konfession und Klasse jemand gehört«9, so begründete Bischof Dibelius das Gründungsmotiv für die erste Spendenaktion von Brot für die Welt. Die 70er Jahre kennzeichnen einen wichtigen Umbruch im Selbstverständnis von Brot für die Welt. In den Anfangsjahren stand die Soforthilfe für Notleidende im Mittelpunkt, der Appell an die Barmherzigkeit und die Konfrontation mit dem Elend afrikanischer Kinder (vgl. Aktionsplakat »Hungerhand« von Rudi Wanger).10 Die Menschen im Süden wurden überwiegend als Hilfsbedürftige, weniger als Subjekte eigenen Handelns dargestellt. Das Plakat »Setzling in Händen« zur Aktion »Den Frieden entwickeln« von 1970/71 aber spricht bewusst schon eine andere Bildsprache und indiziert einen Paradigmenwechsel im Entwicklungsverständnis. Eine Pflanze gedeiht und wird bewusst gehegt und gepflegt von Händen, die fruchtbare Muttererde umschlossen halten – das positive Bild eines langsamen Wachsens und Förderns tritt in den Mittelpunkt, nicht die elenden Opfer von Hunger.11 Die gesellschaftspolitische Mobilisierung der Studentenrevolution und die Impulse aus der weltweiten Ökumene (Uppsala 1968) führten in dieser Phase zu einer stärker politischen Profilierung des Entwicklungsdienstes. Entwicklung konnte nicht mehr einfach nur als Prozess kontinuierlichen wirtschaftlichen Fortschritts und eines Technologietransfers vom Norden in den Süden wahrgenommen werden, sondern in erster Linie als Akt der Befreiung aus Unmündigkeit und Fremdbestimmung 9 10 11

Zitiert in: Klaus Seitz, 50 Jahre Brot für die Welt, http://www.landeskirchehannovers.de/evlka-de/wir-ueber-uns/landessynode/synoden-archiv/viertetagung-der-24-landessynode/berichte/50-jahre-brot-fuer-die-welt. Der Wechsel der Symbolsprache in den Plakataktionen ist verschiedentlich untersucht worden, vgl. zu einzelnen Bildern und Plakatmotiven auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Brot_für_die_Welt Vgl. dazu: Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes der EKD für die Aktion »Brot für die Welt« (Hg.), Denkanstöße – 30 Jahre Brot für die Welt, Stuttgart 1989; siehe auch: Nachrichten über »Brot für die Welt«, in: epd Ausgabe für kirchliche Presse Nr. 42a vom 23.10.1970, 16: »Um die Vielfalt konstruktiver Hilfen deutlicher werden zu lassen, die ›Brot für die Welt‹ von Anfang an im Programm hatte, tritt 1970/71 neben das alte Zeichen ein neues: ›Erdige Hände umhegen schützend eine Pflanze unter dem Leitwort »Brot für die Welt« – den Frieden entwickeln.‹« (hier nach Konstanze E. Kemnitzer, Der ferne Nächste: zum Selbstverständnis der Aktion »Brot für die Welt«, Stuttgart 2008, 68)

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der Länder und Kirchen des Südens. So wurde Brot für die Welt zum Anwalt für Programme, die den Aspekt der Hilfe zur Selbsthilfe und die Befreiung aus politischer und ökonomischer Unmündigkeit betonten. Brot für die Welt wurde zur kritischen Herausforderung auch der Leitwerte und Entwicklungsorientierung westlicher Wohlstandsländer. Mitte der siebziger Jahre kamen die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit unseres Planeten in den Blick. Die Vollversammlung des Weltrats der Kirchen in Nairobi 1975 stellte die Zukunftsfähigkeit des westlichen Fortschrittsmodells radikal in Frage. An die wohlhabenden Staaten des Nordens richtete sich der Appell: »Die Reichen müssen einfacher leben, damit die anderen überhaupt überleben können.« In der konsequenten Umsetzung dieser Erkenntnisse hat Brot für die Welt 1977 die Lebensstilkampagne »Aktion e« und 1981 das Jahresthema »Hunger durch Überfluss?« aufgegriffen. Dabei wurde der Blick auf die Veränderungen gelenkt, die in den Industriestaaten selbst im Interesse einer gerechten Weltentwicklung stattfinden müssen. Diese Linie wird in der aktuellen Debatte über die Folgen der neuen Sustainable Development Goals (SDGs) für unsere eigene Gesellschaft fortgesetzt.

Partnerorientierung, Menschenrechtsorientierung, Geschlechtergerechtigkeit, Schöpfungsorientierung und Nichtdiskriminierungsverbot – die Grundwerte des kirchlichen Entwicklungsdienstes und Möglichkeiten für eine interreligiöse Kooperation in der Entwicklungszusammenarbeit In der Satzung des 2012 ins Leben gerufenen gemeinsamen Werkes für Diakonie und Entwicklung (EWDE) heißt es: »Diakonie und Entwicklungsdienst wurzeln in dem Glauben, der die Welt als Gottes Schöpfung bezeugt, in der Liebe, mit der Gott uns an jeden Menschen als Nächsten weist, und in der Hoffnung, die in der Gewissheit der kommenden Gottesherrschaft handelt. Sie sind getragen von der Überzeugung, dass nach dem biblischen Auftrag die Verkündigung des Evangeliums und der Dienst in der Gesellschaft, missionarisches Zeugnis und Wahrnehmung von Weltverantwortung im Handeln der Kirche zusammengehören. Der Dienst im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung ist den Zielen verpflichtet, 196

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unterschiedslos allen Menschen beizustehen, die in leiblicher Not, seelischer Bedrängnis, Armut und ungerechten Verhältnissen leben; die Ursachen dieser Nöte aufzudecken und zu benennen und zu ihrer Beseitigung beizutragen; den kirchlichen Beitrag zur Überwindung der Armut, des Hungers und der Not in der Welt und ihrer Ursachen in ökumenischer Partnerschaft zu gestalten; gemeinsam mit den ihn tragenden Kirchen und diakonischen Verbänden in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft für eine gerechte Gesellschaft und eine nachhaltige Entwicklung einzutreten; Zeugnis einer gelebten Hoffnung auf das Heil zu geben, das in Jesus Christus allen Menschen verheißen ist.«

Heute ist Brot für die Welt/Kirchlicher Entwicklungsdienst – seit 2012 in der Berliner Geschäftsstelle des EWDE organisatorisch vereinigt mit dem Gesamtverband Diakonie Deutschland – eine der größten Nichtregierungsorganisationen in Deutschland. Unter dem Markennamen Brot für die Welt ist der Kirchliche Entwicklungsdienst eine Einrichtung mit hohen professionellen Standards und vielfältigsten internationalen Tätigkeiten (ca. 1000 Projekte in fast 100 Ländern der Erde jährlich). Eine Fülle von Papieren gibt Auskunft über die konzeptionellen Orientierungen und Hauptthemen der kirchlichen Entwicklungsarbeit in EKD und Kirchlichem Entwicklungsdienst.12 Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung hat im Sommer 2015 eine neue Grundsatzstudie zum Entwicklungsverständnis vorgestellt, die unter dem Titel »Damit sie das 12

Vgl. Wolfgang Huber, Weltverantwortung der Kirchen – 40 Jahre Kirchlicher Entwicklungsdienst, Festvortrag in der Friedrichstadtkirche zu Berlin vom 16.10.2008, http://www.ekd.de/vortraege/huber/081016_huber_berlin.html; Kirchenamt der EKD (Hg.), Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die Millenniumsziele der Vereinten Nationen (EKD Texte 81), Hannover 2005, http://www.ekd.de/EKD-Texte/44611.html; Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2009, http://www.ekd.de/ download/klimawandel.pdf; Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben. Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance (EKD-Text 117), Hannover 2014, https://www.ekd.de/EKD-Texte/ekdtext_117.html; Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist. Biopatente und Ernährungssicherung aus christlicher Perspektive. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung (EKD-Text 115), Hannover 2012, https://www.ekd.de/ EKD-Texte/ekdtext_115.html

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Leben und volle Genüge haben. Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung« erscheint.13 Ebenso ist – nahezu zeitgleich – eine interessante Studie der EKD unter dem Titel »Kirche sein in einer globalisierten Welt. Zur Weggemeinschaft in Mission und Entwicklung« erschienen, die das besondere Verhältnis und die differenzierte wechselseitige Bezogenheit zwischen den Missionswerken der Landeskirchen und dem Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirchen gemeinsam darstellt.14 Zusammengefasst lassen sich folgende Grundmerkmale für das Selbstverständnis des kirchlichen Entwicklungsdienstes benennen: 1.

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Brot für die Welt wird – anders als andere Organisationen im Bereich Entwicklungszusammenarbeit – nicht selber operativ in Ländern des Südens, sondern arbeitet mit kirchlichen wie nichtkirchlichen einheimischen Organisationen vor Ort zusammen, deren Projekte durch Brot für die Welt finanziell, konzeptionell und evaluierungsmäßig begleitet werden (Partnerorientierung). Brot für die Welt geht von einem erweiterten Verständnis von Entwicklung aus, das über die rein materielle Versorgung mit »Brot«, der Ernährung, wesentlich hinausgeht. Leitend ist nach wie vor ein erweitertes Verständnis von »Brot«, das auf Martin Luthers Erläuterung der Vaterunser-Bitte um das »tägliche Brot« zurückgeht. Dieses umgreift Menschenrechte, Bildung, Gesundheit und gute Regierungsführung ebenso wie ökologische Faktoren.15 Die Befriedigung aller Grundbedürfnisse gehört zu einem menschlichen Leben in Würde. Deshalb umfasst eine integrierte und umfassende kirchliche Entwicklungszusammenarbeit weit mehr als nur genug Brot im physischen Sinne des Wortes. Brot für die Welt kümmert sich darum Vgl. http://www.ekd.de/ekd_kirchen/gremien/nachhaltige_entwicklung.html Vgl.: „Kirche sein in einer globalisierten Welt. Zur Weggemeinschaft in Mission und Entwicklung“ (EKD-Texte 125), Hannover 2015 . Luther hatte das »tägliche Brot« als Hinweis auf Befriedigung aller grundlegenden Lebensbedürfnisse verstanden, als »Alles, was Not tut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherrn, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen« (Martin Luther, Der Kleine Katechismus, 1529, Das dritte Hauptstück, die vierte Bitte; Weimarer Ausgabe Bd. 30/I, 243–425, hier 304; neuhochdeutsche Übertragung wie in dem Auszug bei: Dietrich Korsch, Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000, 277–288, hier 283 f.).

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nicht nur um Ernährungssicherheit, sondern um eine ganzheitliche Entwicklung des ländlichen Raumes und der städtischen Armutsgürtel und um eine ganzheitliche Befähigung und Stärkung der Armen, ihr Leben in Würde selbst zu gestalten (Menschenrechtsorientierung). Die internationale projektbezogene Arbeit von Brot für die Welt beschränkt sich nicht allein auf Mitteltransfer und Projektberatung. Entwicklungszusammenarbeit hat ein menschliches Gesicht: Sie wird ergänzt durch die Entsendung von Fachkräften und Freiwilligen zu Partnerorganisationen sowie durch professionelle Lobby-, Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit in Deutschland und Europa, um sowohl im deutschen Parlament wie auch in der EU politische Entscheidungen im Sinne der Armen zu beeinflussen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise zu schaffen (Orientierung an Personalaustausch und Lobbyarbeit). Brot für die Welt hat eine starke Bindung und Mitträgerschaft in lokalen Gemeinden verschiedenster Kirchen; die Organisation ist deshalb nicht nur ein zentrales Werk der Kirche auf nationaler Ebene, sondern zugleich eine Bewegung vielfältiger lokaler Akteure, die das Werk finanziell und ideell unterstützen. Ungefähr die Hälfte der Finanzmittel des Werkes kommen aus kirchlichen Quellen (24,9 % KED-Mittel; 21,2, % Spenden und Kollekten; Beiträge aus Bundesmitteln: 46,6 % im Jahre 2013; insgesamt 263,4 Millionen) (Gemeindeorientierung). Brot für die Welt setzt sich vor allem für benachteiligte Frauen und Kinder ein (Bildung und empowerment von Frauen als Schlüssel für Entwicklung); eigene Grundsatzrichtlinie von Brot für die Welt zur Gender-Gerechtigkeit (Gender-Orientierung). Brot für die Welt beinhaltet als eine Teilorganisation auch die Diakonie Katastrophenhilfe, die auf Hilfe in Katastrophengebieten und Kriegssituationen spezialisiert ist. Sie folgt dem internationalen Standard humanitärer Hilfe, insbesondere dem Gebot der Neutralität und der Nichtdiskriminierung, so dass lebensnotwendige Hilfe jedem Menschen unabhängig von seiner/ihrer kulturellen, religiösen und nationalen Zugehörigkeit zukommen muss (Orientierung am Nichtdiskriminierungsgebot). Brot für die Welt hat Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit an die erste Stelle der eigenen Prioritäten gesetzt. Die ökologisch-soziale Transformation unseres Wirtschafts- und Konsummodelles steht 199

8.

sowohl in nationaler wie in internationaler Hinsicht an erster Stelle der Prioritäten, im Jahr 2015 vor allem zusätzlich motiviert durch den sich abzeichnenden neuen weltweiten Entwicklungsvertrag der SDG-Agenda (Sustainable Development Agenda) der Vereinten Nationen (Schöpfungsorientierung). Brot für die Welt arbeitet in vielen Länderbereichen mit an interreligiös zusammengesetzten Projekten und Dialogforen, so im Bereich des Global Interreligious Youth Forum16, im Bereich der ChristlichMuslimischen Dialogarbeit in Afrika über PROCMURA17 oder im Bereich der Unterstützung weltweiter konfessioneller kirchlicher Zusammenschlüsse, die ihrerseits strukturierte Formen der christlich-muslimischen Kooperationen haben (vgl. MOU between Islamic Relief Worldwide and Lutheran World Federation, August 2014)18 (Orientierung an Möglichkeiten zu interreligiöser Kooperation).

Eine detailliertere Vorstellung von einzelnen Projektbeispielen im Bereich interreligiöser Kooperation im Bereich Entwicklungszusammenarbeit wäre ein eigenes Aufsatzthema, das den Rahmen dieses dezidiert grundsatzorientierten theologischen Beitrages übersteigt. Ein gezielterer Workshop zur gegenseitigen Vorstellung exemplarischer Entwicklungsprojekte in interreligiöser Kooperation z. B. zwischen Islamic Relief Deutschland und Brot für die Welt wäre eine spannende Fortsetzungsperspektive dieser Tagung in Stuttgart. Im Rahmen des Sektorvorhabens Religion und Entwicklung des Bundesministeriums für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit19, an dem Brot für die Welt auch im Rahmen des Nationalen Thementeams Religion und Entwicklung20 intensiv mitarbeitet, wurde eine Zusammenstellung exemplarischer Vorzeigeprojekte erarbeitet. Wichtige Initiativen und Modelle für eine interreligiöse Kooperation im Bereich entwicklungsbezogener Zusammenarbeit und humanitärere Hilfe wurden jüngst auch auf einer vom BMZ maßgeblich unterstützten internationalen Konferenz der Weltbank in 16 17 18 19

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Siehe: http://www.iyf2015.de/home https://www.procmura-prica.org/en/ http://www.lutheranworld.org/news/lutheran-world-federation-and-islamicrelief-worldwide-start-joint-project Vgl. https://www.bmz.de/de/was_wir_machen/themen/religion-und-entwick lung/dokumente/index.html; BMZ-Factsheet Religion, Werte und Entwicklung, Bonn 2015: https://www.giz.de/fachexpertise/downloads/Final_ Factsheet_SV_Werte_Religion_Entwicklung.pdf Vgl. dazu auch: https://www.giz.de/fachexpertise/downloads/Booklet_Die_ Rolle_von_Religion_in_der_deutschen_Entwicklungspolitik.pdf

Washington über Religion, Werte und Entwicklung vorgestellt, an der Brot für die Welt wesentlich beteiligt war.21 Beispiele interreligiöser Kooperation im Bereich der Projekte von Brot für die Welt gibt es – – – – –

im Bereich der humanitären Nothilfe und Krisenintervention (z. B. in der Kooperation mit muslimischen Organisationen in der Unterstützung syrischer Flüchtlinge), im Bereich Friedensförderung und Ausbildung von Multiplikatoren in Ländern mit muslimischer Mehrheits- und christlicher Minderheits-Gesellschaft (z. B. Ägypten), im Bereich Menschenrechts- und Gesundheitsarbeit mit Imamen in afrikanischen Ländern (z. B. Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung), im Bereich Aufklärungs- und Gesundheitsarbeit in der Ebola-Krise im Bereich Friedens- und Konfliktschlichtung und Kapazitätsförderung für christlich-muslimische Dialogarbeit z. B. in Nigeria oder im Süd-Sudan.

Es ist zu hoffen, dass die Impulse der Tagung von Stuttgart langfristig mehr direkte Austausch- und Lernmöglichkeiten befördern zwischen engagierten muslimischen Gläubigen und Organisationen und dem kirchlichen Entwicklungsdienst in Deutschland (inklusive Praktikumsmöglichkeiten bei Brot für die Welt für Engagierte aus muslimischen Organisationen), um gemeinsam zu prüfen, was möglich und verbesserungsfähig ist zur Unterstützung von Initiativen, die der weltweiten Gerechtigkeit, dem Kampf um Menschenwürde und der Armutsbekämpfung dienen und die die Kooperation von Menschen guten Willens aus allen Religionsgemeinschaften befördern.

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Vgl. http://jliflc.com/conferences/religion-sustainable-development-buildingpartnerships-to-end-extreme-poverty/

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Islamische Wohltätigkeit und Entwicklungsorganisationen Grundlagen des Engagements und exemplarische Einblicke in die Praxis Sebastian Müller1

1. Einleitung Bis in die 1990er Jahre galten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als entwicklungspolitische Hoffnungsträger und »magic bullet« im Kampf gegen Armut und im Aufbau partizipativer Regierungsstrukturen.2 Auch wenn sich die in sie gesetzten Hoffnungen nicht bestätigten, hat sich die NGO als ein globalisiertes Organisationsmodell etabliert.3 Wenig Be-

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Der Artikel entstand als Nachreichung für diesen Tagungsband, um die programmatischen und institutionellen Grundlagen islamischer Organisationen in der Armutsbekämpfung und Entwicklungszusammenarbeit mit zu beleuchten. Der Verfasser ist Doktorand der Bayreuth Graduate School of African Studies (BIGSAS) an der Universität Bayreuth mit einem interdisziplinären Promotionsvorhaben (Entwicklungssoziologie und Islamwissenschaften) unter dem Arbeitstitel »Islamische Wohltätigkeit und islamische glaubensbasierte Organisationen (FBOs) – Motive und Aushandlungsprozesse muslimischer Akteure in Ost-Afrika«. Zur kritischen Auseinandersetzung siehe Manfred Glagow, Die NichtRegierungs-Organisationen als die neuen Hoffnungsträger in der internationalen Entwicklungspolitik?, Bielefeld 1992, sowie mit Bezug auf Afrika Dieter Neubert, Entwicklungspolitische Hoffnungen und gesellschaftliche Wirklichkeit. Eine vergleichende Länderfallstudie von Nicht-Regierungsorganisationen in Kenia und Ruanda, Frankfurt/Main/New York 1997. Vgl. Dieter Neubert, Die Globalisierung eines Organisationsmodells. NichtRegierungsorganisationen in Afrika, in: Ulrich Walter Bauer (Hg.), Interkulturelle Beziehungen und Kulturwandel in Afrika, Frankfurt am Main u. a. 2001, 51–69; zur Veränderung von Organisationen Barbara Czarniawska-Joerges/Guje Sevón (Hg.), Translating organizational change, Ber-

rücksichtigung in den bisherigen Debatten fanden dabei islamische NGOs. Der vorliegende Artikel will einen Beitrag zum Schließen dieser Lücke leisten, indem er in Erweiterung der Perspektive das breite Feld islamischer Entwicklungsorganisationen in den Fokus rückt. Als islamische Entwicklungsorganisationen lassen sich all jene Organisationen definieren, deren Ziele und Maßnahmen auf eine spirituelle und/oder eine materielle Verbesserung der bestehenden Verhältnisse in Bezugnahme auf den Islam ausgerichtet sind. In einer Vielzahl von Fällen werden diese Entwicklungsanstrengungen im Rahmen von formalisierten Organisationen (NGOs, Assoziationen, Stiftungen u. a.), aber auch durch nicht-formalisierte Organisationsformen (bspw. Aktionsgruppen) erbracht. Als originär islamisch können sie insofern verstanden werden, als dass der Islam als Grundlage des Engagements (in der internen Organisation sowie in der Außendarstellung) eine zentrale Rolle einnimmt. Dies geschieht nicht zuletzt durch Einbindung islamischer Institutionen von Wohltätigkeit wie ṣadaqa, zakāt und waqf. Ein Teil der Leistungen wird im Rahmen von internationalen Kooperationen zwischen Muslimen aus Geberländern und Muslimen aus hilfeempfangenden Ländern oder in Zusammenarbeit lokaler und internationaler islamischer Träger erbracht. Diese wird hier als islamische Entwicklungszusammenarbeit (islamische EZ) bezeichnet. Einleitend werden die programmatischen Grundlagen des Engagements erläutert. Darauf aufbauend folgen Einblicke in die Praxis islamischer Wohltätigkeit und Entwicklungszusammenarbeit mit einem Schwerpunkt auf Sub-Sahara-Afrika. Neben der Skizzierung nichtstaatlicher Akteure werden deren Ziele, Aktionsfelder und Maßnahmenkataloge umrissen, um abschließend auf die Begriffe der Armut, Entwicklung und Gerechtigkeit einzugehen.

2. Programmatische Grundlagen des Engagements Islamische Wohltätigkeits- und Entwicklungsorganisationen formulieren den Islam als handlungsanleitende Quelle ihres Engagements. Der Koran gilt als die Manifestation des Willens Allahs. Nach dem Koran gelten die überlieferten Worte und Taten des Propheten, in Form der Traditionen – Sunna beziehungsweise Erzählungen – ḥadīṯ, als Anleitung zur volllin/New York 1996; darin zu Afrika Richard Rottenburg, When organization travels. On intercultural translation, 191–240.

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kommenen, gottgewollten Lebensgestaltung. Die Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen bildet einen zusätzlichen Referenzrahmen »sunnitischer« Organisationen, wie für Schiiten und die Ahmadiyya spirituelle Führungspersönlichkeiten Vorbildfunktion übernehmen und Handlungsoptionen entwickeln. Insofern kann und wird der Islam verstanden als »[…] a complete way of life, catering for all fields of human existence«4. Einen besonderen Stellenwert nimmt neben dem Prinzip der Gerechtigkeit bzw. Rechtmäßigkeit die Wohltätigkeit ein. So verweist der Koran in einer Vielzahl an Versen auf ihre Bedeutung und Ausübung.5 Der Islam kennt nicht nur die religiöse Verpflichtung zur Wohltätigkeit, sondern auch einen Anspruch auf Hilfe bei Bedürftigkeit.6 Eine hilfsbedürftige Person ist somit im engeren Sinne zunächst keine bittstellende Person, sondern vorrangig ein ihr Recht in Anspruch nehmendes Individuum, auch wenn die soziale Praxis diesem Ideal nicht immer entspricht. Erst im Laufe der Jahrhunderte kam es zur Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von Wohltätigkeit und der Ausarbeitung einer entsprechenden Terminologie. In diesem Sinne können ṣadaqa, zakāt und waqf als Basisinstitutionen traditioneller islamischer Wohltätigkeit und Wohlfahrt verstanden werden und sind in unterschiedlichem Umfang in die Strukturen von islamischen Wohlfahrts- und Entwicklungsorganisationen integriert.

Ṣadaqa Ṣadaqa hat sich zum Überbegriff aller Arten von Spenden im Namen des Glaubens entwickelt. Bei engerer Auslegung charakterisiert ṣadaqa spontane, ganzheitlich freiwillige und in Höhe und Art vollkommen vom

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Patrick Bannerman, Islam in perspective, London u. a. 1988, 9 f. Wenn diese auch nicht kontextunabhängig und als ausschließliche Grundlage zu deuten sind, sei als Verse bzw. Suren des Korans, die mit Wohltätigkeit und Wohlfahrt in Verbindung gesetzt werden, verwiesen auf 2,43.83. 110.219.267; 3,180; 5,55; 6,141; 7,156; 8,(2–)3(–4); 9,5.11.18.34f.58– 60.103; 18,81; 19,13.31.55; 21,73; 22,78; 23,(1–)4; 24,56; 30,39; 41,(6–)7; 51,(15–)19; 58,13; 63,10; 70,(19–)24(–25); 73,20; 107,(1–) 7. Jonathan Benthall/Jérome Bellion-Jourdans, The charitable crescent. Politics of aid in the muslim world, London u. a. 2003; Millard Burr/Robert O. Collins, Alms for jihad. Charity and terrorism in the Islamic world, Cambridge u. a. 2006.

eigenen Ermessen abhängige Wohltätigkeit. Darin unterscheidet sich ṣadaqa wesentlich von zakāt.7

Zakāt Der sunnitischen Lehre folgend, bezeichnet zakāt eine jährlich zu entrichtende Almosensteuer und bildet die dritte der »Fünf Säulen« des Islams. Weder macht der Koran Angaben über die Art der Eintreibung von zakāt, noch sind Maßnahmen vorgesehen, die den Fall einer Zahlungsenthaltung regeln. Die Leistung von zakāt gilt jedoch als religiöse Pflicht und folglich als Wohltätigkeit im Allgemeinen. Zugleich ist Wohltätigkeit Ausdruck der Gläubigkeit. Zakāt ist anteilig vom Vermögen zu entrichten, solange die Besitztümer eine festgelegte Untergrenze, die sog. niṣāb, nicht unterschreiten. Als Anspruchsberechtigte gelten Bedürftige bzw. Arme, Behinderte, Arbeitslose und Erwerbslose, Waisenkinder, diejenigen, deren Auskommen von Gefangenen abhängt, Reisende und Schuldner, deren Schulden von legitimen Aktivitäten herrühren. Des Weiteren kann zakāt zur Auslösung von Gefangenen sowie Sklaven, der Administration von zakāt sowie zur Propagierung des Islams – daʿwa – genutzt werden.8 Wohltätige Handlungen sind nicht als ausschließlich altruistische Akte zu verstehen. Insbesondere zakāt bildet eine religiöse Verpflichtung, aus der die Reinigung des Spenders und seines Wohlstands hervorgeht, wie Spender und Organisationen betonen. Eine Spende im Diesseits würde zudem eine Belohnung im Jenseits in Aussicht stellen und läge im Interesse des Spenders, da sie zu sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Frieden beitrüge.9 Darüber hinaus bestehen noch verpflichtende Spenden zum Fastenbrechen am Ende des Ramaḍān, das sog. zakāt al-fiṭr, und Lebensmittelausgaben zum Opferfest (Qurbān). Die Spendensammlung und Ausgabe von Lebensmitteln zu besagten Festtagen nimmt im Rahmen der Aktivitäten vieler Organisationen einen bedeutenden Platz ein. 7 8 9

Jonathan Benthall, Organized charity in the Arab-Islamic world. A view from the NGO’s, in: Donnan Hastings (Hg.), Interpreting Islam, London u. a. 2002, 150–166, 152. Timur Kuran, The economic system in contemporary Islamic thought. Interpretation and assessment, in: International Journal of Middle East Studies 18/2 (1986), 135–164, 144. Benthall, Organized charity (s. Anm. 7), 25.

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Waqf Waqf (Plural awqāf) umfasst die Gründung einer frommen bzw. gemeinnützigen Stiftung sowie die Stiftung selbst.10 Dem Spender bzw. der Spenderin verspricht die Übertragung des Besitzes in ein waqf, Begünstigte(r) göttlicher Gnade zu werden, den eigenen Namen zu verewigen und an Prestige zu gewinnen. Der frommen Stiftung inhärent ist die Übertragung der Verwaltung an einen Dritten (mutawallī oder nāẓir), eine Stellung, die auch der Spender bzw. wāqif selbst übernehmen kann. Ihm obliegt zumeist die effiziente Verwaltung. Ein waqf bezweckt, das Wohl einer vorausbestimmten Gruppe und in letzter Konsequenz die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit zu fördern. Bei einem waqf kann es sich um Grundstücke, Einrichtungen oder bewegliche Gegenstände wie Bücher, Vermögen oder geistiges Eigentum handeln. Essentiell ist der Wunsch (nīya, qurba) des spendenden Individuums, eine fromme Tat zu begehen, indem er oder sie das spezifische Eigentum für fortan als unveräußerlich erklärt und Personen oder eine öffentliche, gemeinnützige Einrichtung als dessen Nutznießer nominiert. In diesem Sinne wird waqf als prinzipiell ewigwährende Wohltätigkeit zu Ehren Gottes begriffen. Der wohltätige Zweck eines waqf kann im Konkreten diverse Formen annehmen. Zu den häufigsten Infrastrukturmaßnahmen zählen Moscheen, Schulen und Bibliotheken, Waisenhäuser, Krankenhäuser, Einrichtungen zur Wasserversorgung, Friedhöfe, Gärten, Windmühlen und öffentlicher Transport. Des Weiteren können die aus einem waqf erwirtschafteten Mittel verwendet werden, um Kosten für Dienste zu decken, die religiöse und kulturelle Funktionen erfüllen. In engem Zusammenhang damit steht die Nutzung zur Generierung der Gehälter derer, die mit dem Erhalt der bereits erwähnten Strukturen beauftragt sind.11

10

11

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Rudolph Peters, WAḲF – In Classical Islamic law/In the Arab lands, in: Peri J. Bearman/Thierry Bianquis/Clifford Edmund Bosworth/Emeri J. van Donzel/Wolfhart P. Heinrichs (Hg.), Encyclopaedia of Islam, XI, Leiden 2002, 59; Franz Kogelmann, Sidi Fredj. A Case Study of a Religious Endowment in Morocco under the French Protectorate, in: Holger Weiss (Hg.), Social welfare in Muslim societies in Africa, Uppsala 2002, 66–77; sowie Murat Çizakça, Incorporated cash waqfs and mudaraba, Islamic non-bank financial instruments from the past to the future. Munich Personal RePEc Archive (MPRA Papers, 25336), 2010. Benthall/Bellion-Jourdans, The charitable crescent (s. Anm. 6), 32.

3. Panorama der Organisationen und ihrer Maßnahmen – Bandbreite der islamischen Entwicklungsorganisationen Die diversen Akteure, die sich unter die Begriffe »islamische Wohltätigkeits- und Entwicklungsorganisationen« subsumieren lassen, sind der breiten Öffentlichkeit in der Regel kaum bekannt. Auf der anderen Seite ist eine Vielzahl an Organisationen12 über nationale und internationale entwicklungspolitische Foren und Vereinigungen professionell vernetzt.13 Als potentielle Partner in der EZ gelangen sie außerdem zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit großer westlicher Geberinstitutionen und deren Mittler.14 Die Vielzahl an nicht-staatlichen Organisationsformen ergibt sich nicht zuletzt aus den jeweiligen nationalen Gesetzgebungen, die das Engagement regulieren. Abgesehen von der Organisation von Wohltätigkeits- und Entwicklungsmaßnahmen auf Basis von Gemeindestrukturen, insbesondere über Moscheen, zählen – abhängig von nationalen Gesetzgebungen – Nicht-profitorientierte bzw. Nicht-Regierungsorganisationen, Assoziationen bzw. Vereine sowie Stiftungen bzw. »trusts« oder auch »foundations« zu den Hauptakteuren.15 Die Organisationen unterscheiden sich in diesem Sinnen u. a. im admi12

13

14 15

Exemplarisch für den europäischen Kontext sei hier für Deutschland verwiesen auf Islamic Relief – Germany (http://www.islamicrelief.de/startseite) sowie in Großbritannien auf Islamic Relief – UK (http://www.islamic-relief.org) und Islamic Help – UK (https://www.islamichelp.org.uk). So ist Islamic Relief – UK Unterzeichner des Code of Conduct for the International Red Cross and Red Cresent Movements and NGOs in Disaster Relief (vgl. http://www.ifrc.org/cgi/pdf_disasters.pl?codeconduct_signatories.pdf). Darüber hinaus ist Islamic Relief Mitglied im Netzwerk British Overseas NGOs for Development (BOND) sowie im Internationalen Komitee für Entwicklungshilfe unter der Schirmherrschaft der Al-Azhar-Universität (vgl. http://www.islamicrelief.de/index.php?id=8). Des Weiteren bestehen für Nothilfe Partnerschaften mit dem UK Department for International Development (DFID) und der Europäischen Kommission für Humanitäre Hilfe (ECHO) (http://www.islamicrelief.de/startseite/, 15.09.2015) sowie mit dem UN Welternährungsprogramm (WEP). Seit 1993 hat Islamic Relief zudem Spezial-Konsultativstatus im Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UN (vgl. http://www.un.org/esa/coordination/ngo/). Siehe diesbezüglich den Themenschwerpunkt der Zeitschrift Entwicklungspolitik 7/8 (2005), Islam und Entwicklung – Islamische Entwicklungshilfe, 22–54. Muslim Relief Association of Ghana, Tanzania Muslim Haji Trust sowie Education Trust Fund – Ghana, Islamic Foundation – Tansania sowie Umma Foundation – Kenia, Muslim Aid – UK und Africa Muslim Agency – Kuwait.

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nistrativen Aufbau, in Befugnissen und auferlegten Restriktionen sowie den sich daraus ergebenden Wirkungsmöglichkeiten.16 Neben den formalisierten Gruppen verfolgen darüber hinaus auch nicht-formalisierte Gruppen wie Aktionsgruppen und Sparkreise, die islamischen Prinzipien des Wirtschaftens folgen, wohltätige und entwicklungsorientierte Ziele. Darüber hinaus lässt sich die Einbindung des wohltätigen und entwicklungsorientieren Engagements in ein globales Institutionennetzwerk von Gemeinden beobachten. Dies gilt insbesondere für schiitische Gemeinden (z. B. das Aga Khan Development Network der Ismailiten sowie die Bilal Muslim Mission als Teil der Ithna-Asheri) sowie für die Gemeinde der Ahmadiyya. Als Gemeinsamkeit all dieser Organisationen und Dachverbände lässt sich ihr Bezug auf den Islam bzw. eine glaubensbasierte oder auch glaubensinspirierte Grundlage als handlungsanleitende Quelle ihres Engagements identifizieren. Die jeweilige Ausgestaltung wiederum ist u. a. aufgrund unterschiedlicher Programmatik sowie historischer und lokaler Kontexte mannigfaltig.

Vielfalt der Entwicklungsmaßnahmen und Aktivitäten Zum Maßnahmenkatalog islamischer Wohltätigkeit und Entwicklungsorganisationen zählrn nicht zuletzt der Bau und teilweise Unterhalt von Moscheen, Infrastrukturprojekten zur Wasserversorgung (insbesondere der Brunnenbau) sowie der Bau und teilweise Unterhalt von primären bis tertiären Bildungseinrichtungen. Des Weiteren erbringen die Organisationen Leistungen im Gesundheitsbereich, insbesondere im Bau und Unterhalt von Krankenstationen und Krankenhäusern. Weiterhin umfasst der Maßnahmenkatalog mobile medizinische Versorgungs- und Vorsorgeprogramme wie z. B. HIV-/Aids-Aufklärung sowie mobile Impfprogramme und Augenkliniken. Darüber hinaus engagieren sich Organisationen im Feld beruflicher Aus- und Weiterbildung, der Betreuung von 16

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Welche Konsequenzen sich daraus für die Zusammensetzung des Sektors der Wohltätigkeits- und Entwicklungsorganisationen ergeben können, verdeutlicht Clark am Beispiel Ägyptens. Die Autorin skizziert, wie aufgrund der restriktiven Gesetzgebung des ägyptischen Staates gegenüber Nicht-Regierungsorganisationen andere Organisationsformen für die Erbringung nicht-staatlicher Wohlfahrtsleistungen gewählt werden, um eben diese Regularien zu umgehen. Vgl. Janine A. Clark, Islam, charity, and activism. Middle-class networks and social welfare in Egypt, Jordan, and Yemen, Bloomington u. a. 2004.

Waisen durch den Unterhalt von Waisenhäusern sowie finanzieller Förderprogramme von Waisen und Schulkindern. Außerdem bieten einige Organisationen Zuschüsse zu Eheschließungen sowie Eheberatung an.17 Ebenso sind Organisationen in Projektländern Anlaufstelle für Streitschlichtungen und weitere individuelle, familiäre Probleme, auch wenn dies nicht zum offiziellen Aufgabenkatalog der Organisationen zählt. Ein ebenfalls bedeutender Bereich sind Speisungen zu religiösen Feiertagen. Die Konzentration vieler Organisationen auf die vorgestellten Aufgabenfelder mag u. a. daran liegen, dass die Begünstigten dieser Projekte zugleich eine hohe Schnittmenge mit den Personengruppen aufweisen, die im Islam als anspruchsberechtige Bedürftige kategorisiert werden. In Bezug auf den Moscheebau wird das Engagement u. a. mit den großzügig fließenden Mitteln von privaten Spendern für diese Zwecke sowie die Aussicht auf Belohnung im Jenseits als ausschlaggebend angeführt. Eine Anzahl an Organisationen engagiert sich neben dem Feld langfristiger Entwicklungsmaßnahmen auch im Feld humanitärer Not- und Katastrophenhilfe bzw. ist als Initiative aus diesem hervorgegangen. Neben dem genannten Maßnahmenkatalog verfügen insbesondere die außereuropäischen Organisationen über ein eigens daʿwa-Programm zur Einladung, Propagierung sowie Unterweisung im Glauben. Dies geschieht über die Übersetzung und Verbreitung von themenrelevanter Literatur, über themenbezogene Veranstaltungen sowie die Entsendung von Freiwilligen in die Gemeinden. Die daʿwa-Programme sind dabei nicht zuletzt inwärts auf die muslimischen Gemeinden im jeweiligen Projektland gerichtet, deren religiöse Praxis sich in einigen Fällen von denen der ausländischen Organisation unterscheidet. In Form solcher daʿwa-Abteilungen oder durch eine alternative Autorität verfügt ein Teil der islamischen Organisationen über eine organisationsinterne Anlaufstelle, um die Konformität der eigenen Aktivitäten mit den islamischen Prinzipien zu prüfen und den Einklang des Vorgehens mit den Glaubensgrundsätzen sicherzustellen.

Mittel und Weg der Durchführung Insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren prägten diejenigen islamischen Wohltätigkeits- und Entwicklungsanstrengungen das Bild, die sich auf die Rettung von notleidenden Muslimen in Reaktion auf die damali17

Vgl. Hidaya Foundation – Pakistan/USA, »Marriage Support«, online unter: http://www.hidaya.org/social-welfare/marriage-support/

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gen Konflikte und Krisenherde konzentrierten. Als ebenso werbewirksam wie exemplarisch kann dafür der auf Yūsuf al-Qaraḍāwī (Mitbegründer der kuwaitischen International Islamic Charitable Organisation, IICO) zurückgeführte Slogan »Pay a dollar and save a Muslim«18 angeführt werden, der die bedeutende Rolle von Wohlfahrt zur Revitalisierung des Islams hervorhebt. Wenn auch weiterhin Muslime im Vordergrund der Hilfsmaßnahmen stehen, insbesondere in Publikationen zur Spendenakquise (Rundbriefe, Faltblätter, Projektbeschreibungen auf Websites etc.), prägt einen wesentlichen Teil der Organisationen eine uneingeschränkte Zielgruppendefinition. Grundsätzlich werden als Leistungsempfänger alle Bedürftigen angesprochen, unabhängig von ihren religiösen Überzeugungen.19 Islamic Relief – UK begründet dies sowie die allgemeinere humanitäre Ausrichtung der Organisation mit Verweisen auf Koran und Sunna (»The Prophet (pbuh) said: ›He is not a believer who sleeps whilst his neighbour goes hungry.‹«) sowie die frühe muslimische Gesellschaft (»The second Muslim Caliph […] put two laws into place. The first was to scrap taxes for all elderly non-Muslims, and the second was that the Muslim state should give all elderly people shelter, daily food and clothing.«).20 Dabei wird auf nīya bezüglich der freiwilligen, guten Tat ebenso verwiesen wie auf die religiöse Verpflichtung, die für jeden Muslim bestehe, anderen zu helfen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Während der Islam der Hilfe für Bedürftige in unmittelbarer Umgebung – dem Nachbarn – Priorität einräumt, lässt sich im Rahmen internationaler und global agierender islamischer EZ festhalten, dass Bedürftigen nicht »nur« vor Ort, sondern in allen medial nahen und doch in der persönlichen Interaktion und tatsächlichen Verortung weiterhin entfernten Regionen geholfen wird. Zwar liegen keine genaueren Daten über den Umfang der Mittelflüsse vor. Dennoch lässt sich erkennen, dass aus den wohlhabenden Staaten der Golfregion, Nord-Amerikas und WestEuropas Mittel nach Asien und Afrika fließen und Mittel zwischen die18 19 20

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Benthall/Bellion-Jourdans, The charitable crescent (s. Anm. 6), 41. Letzteres gilt mit Einschränkungen u. a. in Bezug auf den Bau von Moscheen und Programme zur Propagierung des Islams bzw. daʿwa. Hossam Said, Faith-based Organisations as Political, Humanitarian or Religious Actors. An Islamic Perspective, in: Shambhu Ram Simkhada/Daniel Harry Warner (Hg.), Religion, politics, conflict and humanitarian action. Proceedings of the workshop, Faith-based organisations as political, humanitarian or religious actors: May 18–19, 2005, Geneva, Switzerland, Geneva 2006, 39–45, 42.

sen Regionen zirkulieren, wobei in den beiden Letztgenannten die Mehrheit der weltweiten Muslime lebt. Einige Autoren führen die Hilfe über die unmittelbare Gemeinde auf ein wachsendes Bewusstsein von Muslimen zurück, Teil einer globalen Gemeinde der Gläubigen – einer globalen umma zu sein.21 Es fehlen jedoch weithin wissenschaftliche Aufarbeitungen dieser Verknüpfung zwischen internationalem Engagement für Bedürftige und religiösem Glauben. Die Notwendigkeit der Arbeit von nicht-staatlichen Organisationen in der Versorgung und Sicherung sozialer Dienste wird u. a. mit dem gegenwärtigen Vertrauensmangel in die politischen Führungen vieler betroffener Einsatzländer begründet. Zwar habe der Islam die Grundlage eines staatlichen Systems der Wohlfahrt geschaffen, jedoch trauten die meisten Muslime in der heutigen Zeit ihren Regierungen nicht. Damit bestünde die Notwendigkeit, die entstehende Lücke durch NGOs zu füllen.22 Auch Weiss sieht islamische NGOs als alternative Dienstleister gegenüber dem Staat, nicht jedoch als Folge eines mangelnden Vertrauens in den Staat, sondern aufgrund des schlichten Mangels an Dienstleistungen durch den Staat. In der Konsequenz, so Weiss, »Muslim NGOs […] become or are about to become a substitute for public social welfare, in some cases replacing the state as the provider of collective social welfare«23.

Waqf, zakāt und ṣadaqa in der Praxis Waqf spielt im west-afrikanischen Ghana für Entwicklungsorganisationen bisher über die theoretische Auslotung seiner Potentiale keine Rolle. Ebenso wenig sind awqāf außerhalb islamischer EZ in der sozialen Praxis etabliert. In Ost-Afrika hingegen hat das awqāf-Wesen eine lange 21

22 23

Hamadou Adama, Islamic Associations in Cameroon. Between the Umma and the State, in: Benjamin F. Soares/Rene Otayek (Hg.), Islam and Muslim politics in Africa, New York 2008, 227–241; Marie Juul Petersen, For humanity or for the umma? Ideologies of aid in four transnational Muslim NGOs, Diss. University of Copenhagen 2011; sowie Mayke Kaag, Aid, Umma, and Politics. Transnational Islamic NGOs in Chad, in: Benjamin F. Soares/Rene Otayek (Hg.), Islam and Muslim politics in Africa, New York 2008, 85–102. Said, Faith-based Organisations (s. Anm. 20), 41f f. Holger Weiss, Zakat and the Question of Social Welfare. An Introductiory Essay on Islamic Economies and Its Implications for Social Welfare, in: ders. (Hg.): Social welfare in Muslim societies in Africa, Uppsala 2002, 3– 38, 28.

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Tradition. Auch im Rahmen der Arbeit von islamischen Entwicklungsorganisationen nimmt es zur Finanzierung der Organisation bzw. der von ihnen initiierten und/oder geförderten Projekte konkrete Formen an. Zunehmend engagieren sich NGOs in der Einrichtung und dem Unterhalt von awqāf oder aber der Beratung und Vermittlung von Spendern, mutawallī, und Bedürftigen bzw. potentiellen Projekten. Zum einen werden Moscheen, madrasen, bzw. Koranschulen, Kliniken und Brunnen direkt auf einem waqf errichtet. Alternativ oder aber in Ergänzung werden Geschäftsräume geschaffen und vermietet sowie landwirtschaftliche Nutzflächen zur Einkommensgenerierung entwickelt. Die Einnahmen fließen direkt in die Projektarbeit und dienen so zur Finanzierung der NGO-Aktivitäten, um auf diesem Weg zur Nachhaltigkeit der Projekte beizutragen.24 Eine ähnliche Integration von waqf zeichnen Benthall/Bellion-Jourdan in Bezug auf angelsächsische islamische NGOs und deren Einbindung von waqf in die Spendengenerierung nach.25 Wie Salih beobachtet, sind seit Beginn der 1980er Jahre islamische NGOs zunehmend auch in die Sammlung und Distribution von zakāt involviert.26 Eigene Forschungen in Afrika deuten darauf hin, dass die Einbindung von zakāt zwischen den Nationen und Gemeinden erheblich variiert. Nach Angaben sunnitischer Organisationen in Ghana sind die Einnahme und Verteilung von zakāt aus lokalen Sammlungen weder ein 24

25

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Vgl. exemplarisch das Waqf Endowment Fund Project der kenianischen NGO Young Muslims Association [YMA], Young Muslim Association/ Garissa Muslim children’s home, 2015, online unter http://www.yma.org/ waqfendowment.html So vermerken die Autoren: »[…] the integration of waqf into Western-style fund-raising was pioneered on a large scale in the United States […] It was developed in the United Kingdom in 1990s by Muslim Aid and Islamic Relief. (In neither country does it have any special recognition from the law.) Islamic Relief now offers a waqf Bond offering donors the choice of special waqf funds devoted to Relief and Emergency, Orphans, Educational Projects, Water Projects, qurbani […] and Health Projects. Each bond costs £ 700, from which £ 70 is deducted at once for administrative costs. The remaining £ 630 is invested in accordance with shari`a, in real estate and monetary instruments, separately from the rest of Islamic Relief’s accounts. About 80 per cent of the profits are spent on the beneficiaries – for instance, providing health care in Sudan, or flood relief in Bangladesh, 10 % is reinvested to preserve the fund’s value against inflation; and 10 per cent is applied towards administrative costs. An annual report is sent to each donor.« Benthall/Bellion-Jourdans, The charitable crescent (s. Anm. 6), 36. Mohamed Abdel Rahim M. Salih, Islamic NGOs in Africa. The promise and peril of islamic voluntarism, Copenhagen 2001, 4.

Aufgabenfeld noch eine Finanzierungsgrundlage der Aktivitäten sunnitischer Entwicklungsorganisationen vor Ort. Soweit ṣadaqa und zakāt für islamische NGOs eine Rolle spielen, stammen diese von internationalen Geberorganisationen und i. d. R. von ausländischen Individualspendern. Wenn auch quantitative Daten über Umfang der Zuwendungen nicht vorliegen, verdichten sich doch die Hinweise darauf, dass in Tansania zakāt und ṣadaqa durch lokale Unterstützer einen zentralen Mechanismus der Finanzierung etablierter islamischer NGOs und ihrer Aktivitäten bilden. Ein hoher Stellenwert wird ebenfalls freiwilligem Engagement als eine mögliche Art von ṣadaqa beigemessen. Durch den persönlichen Einsatz von Geld, Zeit und Arbeitskraft für die gute Sache drückt sich nicht nur die Hingabe zu Gott, sondern auch Solidarität für die Gemeinschaft aus. Zugleich gilt es als wesentliches Zeichen des Glaubens. Zudem charakterisiert islamische NGOs die teilweise innovative Nutzung traditioneller Institutionen islamischer Wohlfahrt. Auf ihren Websites laden NGOs zur Spende u. a. von zakāt ein und bieten entsprechende online-zakāt Rechner an. Interessierte können auf Grundlage der Angaben des eigenen Vermögens ihre Abgabe berechnen und eine entsprechende Spende an die Organisation anweisen lassen. Ebenso sind Spenden über Mobilfunkdienste möglich. Zudem werden spirituelle Mobildienste (Klingeltöne, »Alarm« zu Gebetszeiten und spirituelle Zitate) durch NGOs angeboten. Als Alternative zu religiösen Spenden bietet Islamic Relief zusätzlich die Spendenoption des »gift-aid« an. Damit bezeichnet Islamic Relief Spenden, welche nicht einem religiös festgesetzten Turnus folgend geleistet werden. Da diese grundsätzlich als zweckungebunden definiert werden, fließen die Einnahmen in den allgemeinen Fund und werden von Islamic Relief nach eigenem Ermessen eingesetzt.27 Eine Verbindung zu ṣadaqa wird nicht hergestellt.

4. Perspektiven auf Armut, Entwicklung und Gerechtigkeit In Betrachtung des weiten Felds islamischer Wohltätigkeit und Entwicklungsanstrengungen lässt sich beobachten, dass diejenigen Organisationen, die dem nicht-europäischen, angelsächsischen Kontext entspringen, weniger stark durch westliche Entwicklungsdiskurse und das entspre27

Vgl. http://www.islamic-relief.com/Uk/GiftAid.asp

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chende Vokabular geprägt sind. Begriffe der Armut, Entwicklung, Gerechtigkeit, die ebenfalls zentrale Begriffe darstellen, sowie weitere entscheidende Konzepte (beispielsweise Prinzipien des Wirtschaftens, der Sorge und Fürsorge) sind dabei mitunter Träger abweichender Konzepte, oder es wird in anderen Begrifflichkeiten formuliert. Für einen überwiegenden Teil der in Sub-Sahara-Afrika untersuchten Organisationen ist der Gerechtigkeitsbegriff stark verknüpft mit dem Anliegen wachsender gesellschaftlicher Teilhabe der bisher als benachteiligt wahrgenommenen Muslime. In diesem Zusammenhang wird eine aufholende Entwicklung der Muslime insbesondere im Vergleich zu christlichen Bevölkerungsteilen und/oder anderen muslimischen Gemeinden angestrebt. Als zentrales Schlüsselelement gilt dabei (religiöse sowie nicht-religiöse) Bildung. Diese befähige die Menschen, der Armut aus eigener Anstrengung heraus zu entkommen und den ökonomischen sowie letztendlich gesellschaftlichen Aufstieg von Muslimen zu ermöglichen und damit zu gesamtgesellschaftlicher Entwicklung beizutragen. In Ostafrika wird dies in der Einbindung von zakāt in die Durchführung von Entwicklungsmaßnahmen konkret. Spenden in Form von zakāt sollen demnach prinzipiell ausschließlich in Projektarten investiert werden, die die Möglichkeit der Selbstbefähigung eröffnen. Zakāt soll Muslime somit in die Lage versetzen, ihre Lebensgrundlage selbst zu erwirtschaften. Mit dem Überschreiten der niṣāb werden sie in die Lage versetzt, ihre Verpflichtung zu erfüllen, selbst zakāt zu leisten, womit sie wiederum andere Menschen dazu befähigen, der Armut zu entkommen. Parallelen zu westlichen Konzepten unter der Verschlagwortung von »Hilfe zur Selbsthilfe« oder »Capacity Building« sind hierbei naheliegend. Zakāt soll aber darüber hinaus zum Seelenheil des Spenders beitragen. Über die Selbstbefähigung hinaus besitzt die Minderung gesellschaftlicher Ungleichheit und die Förderung sozialen Ausgleichs einen zentralen Stellenwert. Damit einher geht der Respekt gegenüber dem Gegenüber als menschlichem Wesen, unabhängig jeglicher Unterschiede. In Verbindung dieser und weiterer Grundsätze, wie ein spezifisch islamisches Finanzwesen, als Teil einer Praxis einer gottgefälligen Lebensweise, bieten islamische Entwicklungsorganisationen »[i]m monotonen Konzert globaler wirtschaftlicher und politischer Interessen«28 eine zunehmend sichtbare Alternative zum dominanten westlichen Entwicklungsmodell. 28

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Vgl. den Beobachterinnen-Bericht von S. Rettenbacher in diesem Band.

In Betrachtung alternativer Entwicklungsmodelle bleibt abschließend zu bemerken, dass sich eine wachsende »islamische Ökologie-« bzw. »Eco-Islam-Bewegung« abzuzeichnen scheint. Sie bemüht sich darum, für den Naturschutz und die Wahrung der Schöpfung als ein zentrales Anliegen des Islams zu sensibilisieren und Muslime zu einem entsprechenden islamischen Lebensstil zu bewegen. Neben Armut und Entwicklung gewinnen Konzepte von islamisch motivierter Nachhaltigkeit und eines gottgerechten, verantwortungsvollen Umgangs mit der den Menschen anvertrauten Umwelt an Bedeutung. 29

29

Vgl. Islamic Foundation For Ecology and Environmental Sciences, http://www.ifees.org.uk/ (2015) sowie Qantara.de, The Environmental Crisis is also a Spiritual Crisis, https://en.qantara.de/content/islam-environment-andsustainability-the-environmental-crisis-is-also-a-spiritual-crisis (2015).

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Beobachterinnenbericht zum Forum: Weltweite Armut – globale Gerechtigkeit Sozialethische Perspektiven auf »Entwicklung« und Armutsbekämpfung Sigrid Rettenbacher

Spricht man heute über das Thema weltweite Armut und globale Gerechtigkeit, so kommt man nicht umhin, auf die zahlreichen Konflikt- und Krisenherde sowie die himmelschreiende Not von Millionen von Menschen in der Zwei-Drittel-Welt zu blicken. Diese Zeichen der Zeit, die scheinbar weit entfernt stattfinden, zeigen ihre tödlichen Konsequenzen auch vor den Toren Europas: Tausende von Menschen – ChristInnen wie MuslimInnen – verlieren ihr Leben im Mittelmeer bei dem Versuch, einer perspektivlosen Zukunft in ihren Heimatländern zu entgehen und nur ein kleines Stück am Wohlstand Europas teilzuhaben. In einer Zeit, in der Länder, Wirtschaft und Entscheidungen global vernetzt sind, sind die Ursachen für die gegenwärtigen Missstände nicht nur jenseits der Festung Europa zu suchen. Sie konfrontieren auch die wohlhabenden Länder Mittel-, Nord- und Westeuropas mit eigenen Anteilen an den Krisen der weltweiten Gemeinschaft. Ein Europa, das zudem kulturell und religiös plural und heterogen ist, kann die gegenwärtigen Herausforderungen nur in Kooperation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen angehen. Eine gemeinsame Suche von Christentum und Islam nach Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten in Hinblick auf die weltweite Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung ist daher mehr als dringlich – nicht zuletzt deshalb, da die beiden Religionsgemeinschaften zu den global players gehören und ihre Stimme im manchmal monotonen Konzert globaler wirtschaftlicher und politischer Interessen einbringen müssen.

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Theologische Voraussetzungen Sowohl in Christentum wie Islam finden sich theologische Voraussetzungen, die ein Engagement in der Bekämpfung von Armut sowie einen Einsatz für globale Gerechtigkeit rechtfertigen, ja sogar fordern. Gott ist ein parteiischer Gott – er wendet sich präferentiell den von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten und Ausgeschlossenen zu. Auch wenn die Geschichte in einer Pervertierung dieser Perspektive faktisch leider oft anders verlaufen ist, so rechtfertigt das Gottesbild in Christentum und Islam doch keinen Schulterschluss mit den Mächtigen und Reichen dieser Erde – auf Kosten anderer. Vielmehr geht es um einen solidarischen Einsatz für Unterdrückte und von Vulnerabilität Gefährdete. So findet sich in Christentum und Islam ein prophetisches Element, das die Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen beinhaltet, sofern sie Menschen an Lebensmöglichkeiten hindert – sei es materiell oder symbolisch. Dahinter steht nicht zuletzt auch eine schöpfungstheologische Einsicht: Als Schöpfer aller Dinge steht Gott für die Teilhabe aller Menschen an seiner Schöpfung und der von ihr bereitgestellten Ressourcen ein. Sowohl Menschenbild und Gottesbild in Christentum und Islam sprechen also für eine gerechte Verteilung der Ressourcen dieser Erde. Warum trotzdem vieles schief läuft, ist eine Frage, der man sich nicht entziehen kann und die aus genuin theologischen Gründen nach einer Auseinandersetzung damit ruft. Auch wenn die biblische Tradition die Einrichtung eines Zehnten kennt, der die Funktion einer Religions- und Sozialabgabe hat, so geht die heutige Argumentation für den Einsatz gegen Armut und für Gerechtigkeit von der Sendung und dem Dienst des Christen/der Christin in die bzw. an der Welt aus – in Nachfolge der Sendung Christi. So kann das Gebot der Nächstenliebe auch in der Hinwendung zu den Armen – in Form von Almosengeben – realisiert werden. Im Islam hingegen ist eine verpflichtende Sozialabgabe für Bedürftige (zakāt) Teil der fünf Säulen des Islams. Konkrete materielle Abgaben gehören also zur Pflicht der Gläubigen. Neben der verpflichtenden Abgabe kennt der Islam auch eine freiwillige Abgabe an Bedürftige (ṣadaqa). Sure 107 verweist auf den Zusammenhang von Glaube und gesellschaftlicher Solidarität, indem sie einen Glauben in Frage stellt, der sich nicht im Tun an den Mitmenschen äußert. Dass konkrete Handlungen und materielle Zuwendungen religiös begründet werden, hat mit einem Strukturmoment des Glaubens zu tun: Orthodoxie und Orthopraxie gehen Hand in Hand. Die rechte Einstellung im Glauben muss sich auch im konkreten Handeln der Gläubigen zeigen. Das gilt 217

nicht nur im eigenen Binnenbereich, sondern auch auf der Ebene des interreligiösen Dialogs. Nicht umsonst betonen ReligionstheologInnen aus dem asiatischen Bereich – also einem Kontext, in dem sowohl das Zusammenleben verschiedener religiöser Traditionen sowie Armut und eine Kluft zwischen Arm und Reich zu alltäglichen Herausforderungen gehören –, dass Religionstheologie und Befreiungstheologie Hand in Hand gehen müssen.1 Das gemeinsame Engagement für die Benachteiligten und Unterdrückten muss Religionsgemeinschaften über inhaltliche Differenzen hinweg verbinden, um glaubwürdig Zeugnis einer transzendenten und heilshaften Wirklichkeit geben zu können. Dabei dürfen auch selbstkritische Fragen nach einer Verstrickung religiöser Traditionen in Strukturen, die die Befreiung aller ausschließen bzw. die ungerechte Verhältnisse fortschreiben, nicht ausgespart werden.

Strukturelle Voraussetzungen Warum bleibt der Einsatz gegen weltweite Armut und für gerechte Strukturen trotz bester Bemühungen dennoch schwierig? Das hat mit einer globalen Dynamik zu tun, in der die Auswirkungen von Entscheidungen und Handlungen weltweit vernetzt sind – wobei es ein Ungleichgewicht gibt zwischen denen, die an den globalen Entscheidungsprozessen beteiligt sind, und jenen, die in ihrem Alltagsleben von den Konsequenzen betroffen sind, ohne selbst Einfluss auf die globalen Dynamiken und Machtverhältnisse nehmen zu können. Der bzw. die Nächste ist längst nicht mehr der oder die Arme vor Ort, dessen bzw. deren Gesicht man kennt. Der bzw. die Nächste sind in einer global vernetzten Welt Menschen, deren Elend wir nicht kennen würden, wenn es nicht medial in unserer westlichen und privilegierten Welt vermittelt wäre, wenn also nicht andere für diese Armen die Stimme erheben würden. Dass man vor der weltweiten Armut auch leicht die Augen verschließen kann und sich im eigenen Komfort, der weltweit Benachteiligte produziert, einrichten kann, liegt auf der Hand. Dadurch, dass die globalen Dimensionen des eigenen Handelns schwer durchschaubar sind, macht sich von Zeit zu 1

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Jacques Dupuis, Unterwegs zu einer christlichen Theologie des religiösen Pluralismus (Salzburger Theologische Studien interkulturell 5), Innsbruck/Wien 2010, 25, 51 f., 284 f. Aloysius Pieris, Theologie der Befreiung in Asien. Christentum im Kontext der Armut und der Religionen (Theologie der Dritten Welt 9), Freiburg 1986.

Zeit auch eine Resignation breit, die konkrete Handlungsschritte für eine gerechtere Welt, die bereits im Kleinen und Alltäglichen beginnt, ausbleiben lässt. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach sieht ein gegenwärtiges Zeichen der Zeit in der Ambivalenz von verweigertem Teilen und der Wiederentdeckung des Teilens – wobei gerade im Stichwort Teilen Peripherie und Zentrum einander unausweichlich zugeordnet sind.2 Verweigertes Teilen bedeutet Gewalt, Entbehrung und Tod – nicht nur an der Peripherie, sondern immer mehr auch an den Grenzen und Toren des Zentrums. Dagegen stehen immer mehr Menschen, die ein Umdenken bezeugen: Wachstum kann nicht mehr das alles beherrschende Leitbild sein, außerdem wachsen Zweifel, dass die anonymen Kräfte des Marktes und der Wirtschaft – gerade auch global gesehen – eine gerechte Verteilung der Güter garantieren. Auch Papst Franziskus greift in Evangelii gaudium, einer programmatischen Schrift zu Beginn seiner Amtszeit, die gegenwärtige Macht der Wirtschaft und Finanzmärkte auf und bringt die sich daraus ergebende Herausforderung pointiert auf den Punkt: »Diese Wirtschaft tötet.«3 Er wendet sich damit gegen eine Ökonomie, die materielle oder symbolische Ausschließungen produziert. Während in den wohlhabenden Ländern Europas der Armut sozial- und wohlfahrtsstaatlich vorzubeugen versucht wird, gibt es auf globaler Ebene keine vergleichbare Instanz. Wer hat welche Notlagen abzufangen? Angesichts der anonymen und schwer greifbaren Mechanismen, die die globale Verflechtung heute prägen, ist es schwer, eindeutige Zuständigkeiten zu klären. Eines scheint dagegen klar: Es ist ein Strukturmoment von Systemen, dass sie Ausgeschlossene produzieren. Die Aufgabe einer kritischen Perspektive, die sich gegen Armut und Ungerechtigkeit wendet, muss es also sein, stets neu zu fragen, wo die Grenzen von Inklusion und Exklusion verlaufen – wie es auch der muslimische Theologe Farid Esack im Eröffnungsvortrag des Theologischen Forums Christentum – Islam 2015 exemplarisch vorgeführt hat. Auch wenn eine prophetische Stimme per definitionem nie mehrheitsfähig sein wird, muss sie immer wieder neu eine Sensibilität für Armut wecken. Stets neu ist auf den Ruf und die Empörung der Armen und Ausgeschlossenen zu hören und das Thema einer ungerechten Teilhabe an den Gütern der Erde in den politischen Diskurs einzubringen. 2 3

Friedhelm Hengsbach, Teilen, nicht töten, Frankfurt 22015, 7 f. Papst Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 53 (Rom 2013, http://w2.vatican.va/ content/dam/francesco/pdf/apost_exhortations/documents/papa-francesco_ esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium_ge.pdf, 52).

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Perspektiven Angesichts der sich heute stellenden Herausforderungen in Hinblick auf weltweite Armut und globale Gerechtigkeit ist es von absoluter Dringlichkeit, dass sich auch Religionsgemeinschaften in ihrem solidarischen Einsatz für die Benachteiligten dieser Erde zusammentun und ihre Kräfte bündeln. Religionsgemeinschaften haben das Potential, ihre Stimme in der zunehmenden weltweiten Vernetzung als global player einzubringen. Das fordert einerseits das gemeinsame Vorgehen innerhalb einer Glaubensgemeinschaft – auch über kulturelle Differenzen hinweg –, aber auch einen Schulterschluss über die Grenzen der eigenen Glaubensgemeinschaft hinweg. In Hinblick auf das Zusammenarbeiten von Christentum und Islam gibt es gegenwärtig konkrete Hindernisse, die eine engere Kooperation trotz einer von beiden Seiten signalisierten Bereitschaft verhindern – wie in der Diskussionsrunde deutlich wurde: Solange muslimische Verbände in vielen Ländern Europas Probleme haben, sich zu einer Körperschaft öffentlichen Rechts zusammenzuschließen, sind sie in einem juristischen Sinn nicht rechtsfähig und damit keine formalen, rechtsfähigen Ansprechpartner für christliche Organisationen. Das gemeinsame Vorgehen von Religionsgemeinschaften gegen globale Unrechtsstrukturen und Armut hat sich immer neu und kritisch nach den von den Systemen produzierten Ausschließungsmechanismen zu orientieren. Da die Grenzen der Exklusion fließend sind und sich stets ändern, gilt es, immer wieder neu einen kritischen Blick auf die Grenzen von Inklusion und Exklusion zu richten. Dabei dürfen auch eigene Anteile an ungerechten Strukturen nicht ausgeblendet werden, und es ist selbstkritisch zu fragen, wo religiöse Gemeinschaften vielleicht selbst von ungerechten Systemen profitieren und auf Kosten anderer leben. In einem prophetischen Bewusstsein ist immer wieder neu die Stimme für Arme und Ausgegrenzte zu erheben und die Forderung nach deren Partizipation in den politischen und wirtschaftlichen Diskursen der Mächtigen einzubringen. Denn nicht nur der Akt der Fürsorge ist eine religiöse Pflicht, auch Widerstand zu leisten gegen ungerechte Ausschließungsmechanismen aller Art gehört zu einem reifen und verantwortlichen Glaubensverständnis. Folgende Orientierungen können dabei helfen, die Grenzen der Exklusion immer wieder neu zu vermessen und kritisch zu hinterfragen bzw. dann auch konkret tätig zu werden: Wie steht es um die Wahrung der Menschenrechte? Gibt es eine Sensibilität für Genderfragen und andere Formen der Diskriminierung? Wie wird mit dem Gut der Schöpfung umgegangen? Wie kann eine konkrete Arbeit vor Ort aussehen, die 220

lokale Partner einbindet und an der Gemeinschaft orientiert ist? Wie kann es gelingen, interreligiös tätig zu werden? Dabei geht es nicht nur um die Linderung der Not und Armut von Einzelnen oder Bevölkerungsschichten. Immer ist auch der Widerstand gegen ungerechte Strukturen gefordert – was für religiöse Gemeinschaften auch bedeutet, gegebenenfalls die eigene Stimme in Politik und globaler Wirtschaft, die sich der Politik oft entzieht, zu erheben. Als besondere Herausforderung zeigt sich hier gegenwärtig, dass es noch zu wenig Sensibilität innerhalb der Führungseliten und vielleicht auch weiter Teile der Bevölkerung für alternative Wirtschaftsformen und ein alternatives Entwicklungsverständnis sowie für neue Formen einer global governance gibt. In diese Richtung ist weiter zu überlegen, um neue Perspektiven für eine gerechte Verteilung der Ressourcen einzubringen. Um sich den gegenwärtigen Herausforderungen mutig und hoffentlich auch produktiv zu stellen, braucht es ein Zusammenwirken mehrerer Ebenen: Das Engagement des Einzelnen als Individuum ist ebenso gefragt wie das Engagement religiöser Gemeinschaften. Zudem braucht es ein dialogisches Zusammenwirken über die Religionsgrenzen hinweg, um auch global die Stimme mit Nachdruck erheben zu können.

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V. Gerechter Reichtum? Eigentum und Verantwortung

Vom sakralisierten archaischen Eigentumsbegriff zur vorrangigen Option für die Armen: die Eigentumsethik der katholischen Soziallehre Wolfgang Palaver

Eine Darstellung der Eigentumsethik der katholischen Sozialethik mit dem besonderen Blick auf den Dialog mit dem Islam muss eine größere religionsgeschichtliche Perspektive in den Blick nehmen. Aus diesem Grund soll diese Darstellung in einem ersten Schritt vor dem Hintergrund des archaischen Eigentumsverständnisses erfolgen und dabei besonders dessen Verwicklung mit dem Verhältnis von Gewalt und Religion beachten. Ein zweiter Schritt ist direkt der Eigentumsethik der katholischen Sozialethik gewidmet, wobei es auch um die damit verbundene Ablösung vom archaischen Eigentumsverständnis geht. Ein dritter Schritt betont die religiösen Voraussetzungen eines menschengerechten Eigentumsverständnisses. Dabei wird neben der katholischen Sozialethik ausdrücklich auch die Eigentumsethik von Mahatma Gandhi genannt, weil sich gerade in seinen Überlegungen jene religiösen Voraussetzungen zeigen, die sich sowohl für Christentum als auch Islam als bedeutsam erweisen.

1. Das archaische Eigentumsrecht wurzelt im sakralen Blutopfer Besonders beachtenswert sind zuerst die urtümlichen Wurzeln des Eigentumsbegriffs, die im Spannungsfeld von Gewalt und Religion zu finden sind. Über die engen Zusammenhänge zwischen Gewalt und Eigentum besteht kein Zweifel. Wir finden deutliche Hinweise dafür beispielsweise schon in der mittelalterlichen Armutsbewegung des Franz von Assisi, der nur in der Absage an Eigentum und Besitz eine Chance sah, sich von allen Versuchungen zur Gewalt zu lösen. So erklärte er einst seinem 225

Bischof, dass die Rivalität um irdische Güter uns Menschen trennt und in Rivalitäten, Gewalt und Krieg hineintreiben kann: »Herr, wollten wir etwas besitzen, so müßten wir auch Waffen zu unserer Verteidigung haben. Daher kommen ja die Streitereien und Kämpfe, die so mannigfach die Liebe Gottes und der Mitmenschen hindern. Darum wollen wir nichts Zeitliches in der Welt besitzen.«1 Einsichten in den Zusammenhang von Eigentum und Gewalt finden sich auch später bei so unterschiedlichen Denkern wie Jean-Jacques Rousseau, Henri Bergson oder Carl Schmitt. Berühmt wurde die Kritik, die Rousseau in seinem Diskurs über die Ungleichheit an der Entstehung des Eigentums übt: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‹«2 Am Beginn des 20. Jahrhunderts betont der französische Philosoph Henri Bergson den Zusammenhang von Krieg und Eigentum. Der »Ursprung des Krieges ist das Eigentum, das individuelle oder das kollektive, und da die Menschheit ihrer Struktur nach für das Eigentum bestimmt ist, ist der Krieg natürlich. Der kriegerische Instinkt ist so stark, daß er als erster zutage tritt, wenn man die Zivilisation abkratzt, um die Natur wiederzufinden.«3 Ähnlich hat der deutsche Staatsrechtsgelehrte Carl Schmitt auf die Verbindung von Gewalt und Religion bei der Entstehung von Eigentum hingewiesen. Er verweist dabei vor allem auf die urtümlichen Riten der Landnahme und verbindet die archaischen Vorstellungen sittlichgesellschaftlicher Normen, wie sie beispielsweise für den griechischen Begriff nomos typisch sind, mit dem Nehmen, das zu einer ersten Form von Raumordnung führte. Nach Schmitt hängt der Begriff nomos mit der griechische Wurzel nemein zusammen und bedeutet neben dem Teilen 1 2 3

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Otto Karrer (Hg.), Franz von Assisi: Legenden und Laude, Zürich 61975, 58 f. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes, Paderborn 31993, 165. Henri Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Frankfurt/M. 1992, 221.

und Weiden auch ausdrücklich das Nehmen. Auch Schmitts Deutung des von Herodot und Platon überlieferten Pindar-Fragmentes vom nomos basileus, vom Recht, das wie ein König herrschen soll, verweist auf einen gewalttätigen Ursprung: »Pindar spricht vom Raub der Rinder des Geryon, einem Ereignis aus der Nomaden-Welt. Geryon war ein Riese mit drei Leibern; Herakles ist der mythische Ordnungsstifter. Indem er die Rinder des dreileibigen Riesen ›nimmt‹, schafft er Recht; die Nahme (der Nomos) verwandelt Gewalt in Recht.«4 Erste Formen des Eigentumsrechts sind mit jenen Formen des Sakralen verbunden, wie sie nach Ansicht des französisch-amerikanischen Kulturanthropologen René Girard aus dem Gründungsmord hervorgegangen sind.5 Das urtümliche Eigentumsrecht ist aufs Engste mit dem sakralen Opfer verbunden. Der französische Soziologe Emile Durkheim hat diese Zusammenhänge ausführlich dargestellt. So betont er beispielsweise die Analogien zwischen sakralen Objekten und dem Eigentum. Sakralisierung bedeutet nach ihm Aneignung: »So stoßen wir allenthalben auf frappierende Analogien zwischen dem Begriff der heiligen Sache und dem des Eigentums. Beide besitzen dieselben Merkmale. Wie wir außerdem gesehen haben, führt es vielfach zu einer Aneignung, wenn einer Sache der Charakter des Heiligen zugesprochen wird. Die Heiligung ist eine Form der Aneignung. Denn was heißt eine Sache zu heiligen anderes, als sie in das Eigentum eines Gottes oder einer heiligen Person zu überführen, sie zu der ihrigen zu machen?«6 Besonders deutlich lässt sich nach Durkheim der sakrale Charakter des Eigentums beim Grundeigentum und dessen Unveräußerlichkeit zeigen: »Ein definiertes Eigentum entsteht erst im Schoße des Klans; begrenzte familiale Gruppen lassen sich fest auf bestimmten Teilen des Bodens nieder, markieren ihren Bereich und bleiben dort auf Dauer. Es liegt auf der Hand, daß diese alte Form familialen Grundbesitzes noch durch und durch religiös geprägt war und daß die Rechte und 4

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Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916– 1969, Berlin 1995, 578; vgl. Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Münster 32008, 226–233. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987. Emile Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt/M. 1999, 210.

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Privilegien, die darauf ruhten, religiöser Natur waren. Schon die Tatsache, daß er unveräußerlich war, ist ein Beleg dafür. Denn die Unveräußerlichkeit hat den spezifischen Charakter der res sacrae und der res religiosae. Was ist denn Unveräußerlichkeit anderes als eine Abtrennung, die vollständiger und radikaler ist als die mit dem exklusiven Nutzungsrecht gegebene? Eine unveräußerliche Sache ist eine Sache, die für immer derselben Familie gehören soll; sie ist also nicht nur jetzt, sondern in alle Zukunft dem gemeinschaftlichen Gebrauch entzogen.«7 Vor allem die Einfriedung der Felder wurde mittels sakraler Riten vollzogen. Die Verletzung der sakralen Umfriedung kommt einem Sakrileg gleich, und die Einfriedung erfolgte durch blutige Opferriten: »Wir wissen im übrigen, durch welche religiösen Praktiken der religiöse Charakter dieses Raumes in regelmäßigen Abständen bestätigt wurde. ›An bestimmten durch Monat und Jahr markierten Tagen schritt der pater familias auf dieser Linie um sein Feld herum; er trieb Opfertiere vor sich her, sang Hymnen und brachte Opfer dar.‹ (Fustel de Coulanges) Der von den Opfertieren genommene und mit ihrem Blut besprengte Weg bildete die unverletzliche Grenze des Grundbesitzes. Die Opferung wurde auf großen Steinen oder Baumstümpfen vorgenommen, die man in gewissen Abständen aufstellte und als termini bezeichnete.«8 Durkheims Verweis auf die berühmte Legende von Romulus und Remus, nach der Romulus seinen Bruder aufgrund einer Grenzüberschreitung rechtmäßig tötete, unterstreicht zusätzlich den sakralen, d. h. religiösgewalttätigen Charakter des Eigentumsrechts.

2. Die Eigentumsethik der katholischen Soziallehre Am Beginn der katholischen Soziallehre lassen sich in der von Papst Leo XIII. im Jahre 1891 veröffentlichten ersten Sozialenzyklika Rerum novarum noch Spuren jenes sakralisierten archaischen Eigentumsbegriffs erkennen, der aus dem archaischen Opfer hervorgegangen ist.9 Ein sol7 8 9

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Ebd. 210–211. Ebd. 212. Michael Walsh, The Myth of Rerum Novarum, in: New Blackfriars 93/1044 (2012), 155–162, 161, betont beispielsweise die problematische Eigen-

ches heiliges, d. h. unantastbares (Privat-)Eigentum lebt von seinem religiösen Schutz, und in diese Richtung deutet auch der Begriff »Sanktion«, der in Rerum novarum Nr. 35 mit dem Eigentumsrecht verbunden wird.10 Die katholische Soziallehre ist also zu Beginn ihrer Tradition den archaischen Ursprüngen des Eigentums gefährlich nahegekommen.11 In strenger Abwehr der marxistischen Kritik des Privateigentums trat Leo XIII. für die Unantastbarkeit des Privateigentums ein. Manche Übersetzungen bringen dies – nach Nell-Breuning aber fälschlich – mit Ausdrücken wie der »Heiligkeit« des Rechts auf Privateigentum zum Ausdruck.12 Erst ein genauerer Blick auf Rerum novarum zeigt eine doch deutlichere Distanz zu archaischen Eigentumsvorstellungen. Nicht von einem heiligen Eigentum als solchem wird gesprochen, sondern von einem »Recht auf persönlichen Besitz«, das »unbedingt hochgehalten werden muß«.13 Noch wichtiger ist dabei der Hinweis auf die von der katholischen Tradition immer betonte universale Bestimmung der Güter, die in der göttlichen Schöpfung der Welt ihre eigentliche Wurzel besitzt. »Gott der Herr hat die Erde dem ganzen Menschengeschlecht zum Gebrauch und zur Nutznießung übergeben.«14 Ausdrücklich wird auch auf die Eigentumslehre des Thomas von Aquin zurückverwiesen, der eher

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tumslehre in Rerum novarum: »Whatever the reason, private property became the golden calf of Catholic social doctrine for almost three-quarters of a century.« Leo XIII., Rerum novarum (1891), in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (Hg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, Bornheim 81992, 1–38, 28 [Nr. 35]: »Das Recht auf persönlichen Besitz muß unbedingt hochgehalten werden.« Aus dem lateinischen Original der Enzyklika (»ius privatorum bonorum sanctum esse oportere«) wird aber an dieser Stelle deutlich, dass es hier um die durch Sanktion geschützte Unantastbarkeit des Eigentums geht. Siehe: http://w2.vatican.va/content/leo-xiii/la/ encyclicals/documents/hf_l-xiii_enc_15051891_rerum-novarum.html Oswald von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente, Wien 21978, 42. Oswald von Nell-Breuning, Texte, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (Hg.), Texte (s. Anm. 10), 39–40. Dabei wird vor allem auf Rerum novarum Nr. 12 und Nr. 35 verwiesen. Im Blick auf Nr. 35 spricht z. B. Nikolaus Monzel davon, dass hier das Privateigentum als »heilig« bezeichnet werde. Siehe: Nikolaus Monzel, Katholische Soziallehre. Zweiter Band: Familie, Staat, Wirtschaft, Kultur. Aus dem Nachlaß hg. von T. Herweg unter Mitarbeit von K. H. Grenner, Köln 1967, 377. Leo XIII., Rerum novarum 28 [Nr. 35]. Ebd.,5 [Nr. 7].

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bloß pragmatisch – letztlich nicht wirklich naturrechtlich – von einem Recht auf Eigentum spricht, dafür aber beim Gebrauch von Eigentum dessen soziale Bedeutung besonders hervorhebt.15 Rerum novarum geht zwar über Thomas hinaus, indem die Enzyklika das Recht auf Eigentum als Naturrecht versteht, aber bezüglich des Gebrauchs bleibt sie der Position des Thomas verpflichtet. Im Gebrauch ist das Eigentum wie ein gemeinsames Gut zu betrachten und im Blick auf den Nächsten – vor allem die Notleidenden – fruchtbar zu machen. Besonders gilt das für jeglichen Überfluss.16 Die Unklarheiten von Rerum novarum werden in der Enzyklika Quadragesimo anno von Papst Pius XI. (1931) bereinigt, in der ein »heidnisches« Missverständnis eindeutig zurückgewiesen wird: »Zwei gefährliche Einseitigkeiten sind […] zu meiden. Auf der einen Seite führt die Leugnung oder Abschwächung der Sozialfunktion des Eigentumsrechts zum Individualismus oder mindestens in seine Nähe; auf der andern Seite treibt die Verkennung oder Aushöhlung seiner Individualfunktion zum Kollektivismus oder läßt wenigstens dessen Standpunkt bedenklich streifen. Bleibt dies außer acht, so geht es auf abschüssiger Bahn reißend jenem moralischen, juristischen und sozialen Modernismus zu, auf den Wir schon […] warnend hingewiesen haben. Das sollen vor allem jene umstürzlerischen Geister sich merken, die ohne Scham der Kirche Schimpf antun durch die verleumderische Anklage, sie habe in die Lehre ihrer 15

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Thomas von Aquin, Summa Theologica, qu. 66, art. 2. Vgl. Walter Kerber, Sozialethik, Stuttgart 1998, 124; Christian Spieß, Sozialethik des Eigentums. Philosophische Grundlagen – kirchliche Sozialverkündigung – systematische Differenzierung, Münster 2004, 29 f. Leo XIII., Rerum novarum 13–15 [Nr. 19]. Auch in aktuellen Dokumenten der katholischen Soziallehre wird ausdrücklich betont, dass es nicht erlaubt sei, das Eigentum unproduktiv ruhen zu lassen. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2006, 141 f. [Nr. 178]: »Die allgemeine Bestimmung der Güter bringt im Hinblick auf ihren Gebrauch durch die rechtmäßigen Eigentümer Einschränkungen mit sich. Die einzelne Person darf nicht handeln, ohne die Folgen des Gebrauchs ihrer eigenen Ressourcen zu bedenken, sondern muss über den persönlichen und familiären Nutzen hinaus auch das Gemeinwohl im Auge haben. Daraus ergibt sich die Pflicht von Seiten der Eigentümer, die Güter, die sie besitzen, nicht ungenutzt ruhen zu lassen, sondern sie für die produktive Tätigkeit zu bestimmen und sie auch denjenigen anzuvertrauen, die den Wunsch und die Fähigkeit haben, sie dem Produktionsprozess zuzuführen.«

Theologen einen angeblich heidnischen Eigentumsbegriff sich einschleichen lassen, der durch einen anderen zu ersetzen sei, dem sie in bemerkenswerter Unwissenheit die Bezeichnung ›christlich‹ beilegen.«17 Die grundsätzliche Position von Quadragesimo anno geht etwas über Thomas von Aquin hinaus, indem es von zwei – naturrechtlich gegebenen – Seiten des Privateigentums spricht. Oberste Norm ist die universale Widmung der Erdengüter. Systematisch lassen sich dabei im Blick auf die Eigentumsethik zwei Ebenen unterscheiden.18 Auf der Zielebene ist das allgemeine Nutzungsrecht oberstes Prinzip. Damit ist die Gemeinbestimmung der Güter betont, die die für den Gebrauch zentrale Norm bleibt. Auf der Ebene der Mittel wird die Eigentumsordnung geregelt, bei der auch konkrete Erfahrungen mit den Prinzipien in Verbindung gebracht werden. Wie immer diese Eigentumsordnung geregelt ist, muss sie aber der Einhaltung der Gemeinbestimmung der Güter dienen. Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird diese mit Quadragesimo anno begonnene Position besonders deutlich ausgefaltet. Auch hier steht vor allem die universale Bestimmung der Erdengüter als Ziel der Eigentumsethik im Zentrum: »Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen; dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe. Wie immer das Eigentum und seine nähere Ausgestaltung entsprechend den verschiedenartigen und wandelbaren Umständen in die rechtlichen Institutionen der Völker eingebaut sein mag, immer gilt es, achtzuhaben auf diese allgemeine Bestimmung der Güter.«19 Das Eigentum ist aus dieser Sicht letztlich nur ein Mittel, das der universalen Bestimmung der Erdengüter dienen muss. Kritisch haben manche katholischen Denker dieser Position den Vorwurf gemacht, sie würde 17 18 19

Pius XI., Quadragesimo anno (1931), in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (Hg.), Texte (s. Anm. 10), 61–122, 77 [Nr. 46]. Vgl. Bernhard Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn 21992, 224. Zweites Vatikanisches Konzil, Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et spes«, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vaticanums, Freiburg 141980, 449–552, 524 [Nr. 69].

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damit einen »Primärkommunismus« vertreten.20 Doch gerade der kommunismuskritische Papst Johannes Paul II. hat an dieser Position des Konzils festgehalten und sie außerdem mit der aus der Befreiungstheologie kommenden Forderung nach einer vorrangigen Option für die Armen verbunden. »Die Option und vorrangige Liebe für die Armen […] ist eine bevorzugte Art und Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt. Sie bezieht sich auf das Leben eines jeden Christen, insofern er dem Leben Christi nachfolgt; sie gilt aber gleichermaßen für unsere sozialen Verpflichtungen und daher auch für unseren Lebensstil sowie für die entsprechenden Entscheidungen hinsichtlich des Eigentums und des Gebrauchs der Güter.«21 Es ist diese Option, die auch der gegenwärtige Papst Franziskus betont, wenn er sich in seinem apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) eine »arme Kirche für die Armen« wünscht und ausdrücklich vor der »Vergötterung des Geldes« warnt.22 Es ist nämlich gerade die »Fetischisierung des Geldes«, die jene »Globalisierung der Gleichgültigkeit« herbeiführt, die die Schwächsten der Gesellschaft zum bloßen »Müll« oder »Abfall« werden lässt.23 Ausdrücklich betont Papst Franziskus auch, dass es gerade hinsichtlich der Option für die Armen eine Brücke zum Islam gibt, denn so wie Christen verstehen auch Muslime ihr Leben als ein Geschenk Gottes und verstehen daher die »Notwendigkeit, ihm mit ethischem Einsatz und mit Barmherzigkeit gegenüber den Ärmsten zu antworten«.24

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Hans Barion, Kirche und Kirchenrecht. Gesammelte Aufsätze, Paderborn 1984, 576. Johannes Paul II., Sollicitudo rei socialis (1987), in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (Hg.), Texte (s. Anm. 10), 619–687, 670 [Nr. 42]. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, Bonn 2013, 142 [Nr. 198], 46–47 [Nr. 55–56]. Ebd. 45–47 [Nr. 53–55]. Ebd. 171 [Nr. 252].

3. Ein menschengerechter Umgang mit Eigentum und Reichtum setzt die Ausrichtung unseres Begehrens auf Gott, dem summum bonum, voraus Papst Franziskus zeigt, dass es der götzendienerische Umgang mit Reichtum, Geld und Besitz ist, der die Schwächsten in kalter Gleichgültigkeit als Abfall liegen lässt. Diese theologische Argumentation (»Nein zur neuen Vergötterung des Geldes«25) erscheint mir wichtig und könnte auch eine wichtige Brücke zwischen den abrahamitischen Religionen und sogar über diese hinaus bilden: »Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1–35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanzwesen und die Wirtschaft erfasst, macht ihre Unausgeglichenheiten und vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nur eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Konsum.«26 Aus der Sicht der hebräischen Bibel könnten wir hier auf das erste Gebot des Dekalogs (»Du sollst neben mir keine Götter haben«; Ex 20,3) verweisen, das die religiöse Voraussetzung eines menschengerechten Umgangs mit Besitz benennt. Nur wenn wir zuerst all unser Begehren auf Gott hin ausrichten, können wir den irdischen Gütern jene Haltung gegenüber einnehmen, die uns nicht an diese so bindet, dass wir unweigerlich um sie rivalisieren müssen und alle jene Menschen ihrem Schicksal überlassen, die im harten Konkurrenzkampf um die irdischen Güter auf der Strecke bleiben. Erst die Beachtung des ersten Gebots befähigt uns, auf die so verlockenden Güter der anderen zu verzichten, vor denen ausdrücklich im zehnten Gebot gewarnt wird. Genau aus diesem Grund hat die katholische Soziallehre durchgehend die Ausrichtung auf Gott als dem höchsten Gut – summum bonum – als religiöse Voraussetzung ihrer Sozialethik betont.27 25 26 27

Ebd. 46–47 [Nr. 55–56]. Ebd. 46–47 [Nr. 55]. Vgl. Wolfgang Palaver, Die katholische Soziallehre angesichts eines religiösen Kapitalismus, in: Peter Kampits/Johannes Michael Schnarrer (Hg.),

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Bei dieser Betonung einer religiösen Ausrichtung auf Gott haben wir es allerdings nicht mehr mit dem urtümlichen Sakralen zu tun, das mit den blutigen Opfern archaischer Religionen verbunden war, sondern mit dem Heiligen, das im transzendenten Schöpfergott seinen Ursprung und sein Ziel hat.28 Diese Unterscheidung umfasst meiner Meinung nach über die jüdisch-christliche Offenbarung hinaus auch ausdrücklich den Islam.29 Um diesen Gedanken allgemein und über die abrahamitischen Religionen hinaus plausibel zu machen, verweise ich gerne auf ein Mantra Mahatma Gandhis, das eine ähnliche Einsicht ausdrückt und für mich eine interessante Brücke zum Islam bildet. Dieses Mantra entnahm Gandhi den Anfangsversen der Isha-Upanishad: »Was immer in der Welt sich regt, das übergib dem Herren. Freue dich dieser Entsagung und begehre nicht jemandes Besitz.«30 Immer wieder hat Gandhi in seinen Vorträgen und Gebetsmeditationen genau auf diese Verse hingewiesen.31 Aus biblischer Sicht kann man darin unschwer das erste und letzte Gebot des Dekalogs erkennen. Gandhi hat auch ausdrücklich auf den Islam hingewiesen, den er ebenso in diesen Versen wiederfindet. Im Blick auf wirtschaftsethische Überlegungen führen seine Meditationen über diese Verse und ähnliche heilige Schriften zu seiner Theorie der Treuhänder-

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Spannungsfelder praktischer Philosophie. Expertenreferate und Statements zur Ethik und ihrer Begründung. Symposienreihe zum Projekt ›Naturrecht und angewandte Ethik 2001–2003‹, St. Pölten 2004, 197–211; Wolfgang Palaver, Envy or Emulation: A Christian Understanding of Economic Passions, in: Wolfgang Palaver/Petra Steinmair-Pösel (Hg.), Passions in Economy, Politics, and the Media: In Discussion with Christian Theology, Münster 2005, 139–162. Zur systematischen Unterscheidung zwischen dem mit den archaischen Religionen verbundenen Sakralen und dem im Zentrum der biblischen Religionen stehenden Heiligen vgl. Emmanuel Levinas, Vom Sakralen zum Heiligen: Fünf neue Talmud-Lesungen, Frankfurt/M. 1998; René Girard, Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken: Gespräche mit Benoît Chantre, Berlin 2014. Vgl. Wolfgang Palaver, Abrahamitische Revolution, politische Gewalt und positive Mimesis. Der Islam aus der Sicht der mimetischen Theorie, in: Wilhelm Guggenberger/Wolfgang Palaver (Hg.), Im Wettstreit um das Gute. Annäherungen an den Islam aus der Sicht der mimetischen Theorie (Beiträge zur mimetischen Theorie, 25), Münster u. a. 2009, 29–73. Helmuth von Glasenapp (Hg.), Upanishaden: Die Geheimlehre der Inder, München 2003, 168. Mohandas Karamchand Gandhi, Was ist Hinduismus?, Frankfurt/M. 2006, 49–59.

schaft.32 Nach dieser Theorie ist alles, was ich besitze, nicht mein Eigentum, sondern gehört Gott und ist mir nur treuhänderisch anvertraut, sodass ich nur das verwende, was ich zur Befriedigung meiner Bedürfnisse brauche. Je mehr sich der Gedanke der Treuhänderschaft verbreitet, desto mehr könnte es gelingen, gewaltfrei die wirtschaftliche Ungleichheit zu überwinden. Ähnlich wie in der katholischen Soziallehre ist auch hier aller Privatbesitz durch eine in Gott verankerte Allgemeinbestimmung der Güter relativiert. In einem Vortrag im Jahre 1916 zum Thema »Wirtschaftliche Entwicklung und moralischer Fortschritt« hat Gandhi die religiöse Voraussetzung einer menschengerechten Wirtschaft ausdrücklich unterstrichen: »Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen, das ist eine ökonomische Wahrheit von größtem Wert. Wir müssen unsere Wahl treffen.«33 Auch mit dieser Wahl berührt sich Gandhi mit der für die abrahamitischen Religionen typischen Absage an jene Formen von Götzendienst, die ein Verständnis von Eigentum nach sich ziehen, das die anderen Menschen systematisch von den Gütern dieser Erde ausschließt.

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Mohandas Karamchand Gandhi, Die Stimme der Wahrheit, Göttingen 2011, 423–425. Vgl. Dieter Conrad, Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt, München 2006, 204–234. Zit. nach: Herwig Büchele, Spiritualität und politischer Kampf aus dem Geist der Bergpredigt. Mahatma Gandhi und Martin Luther King, Innsbruck 2013, 58 f.

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Geschütztes Rechtsgut und sozialpflichtiges Treugut: zum ambivalenten Verständnis von Eigentum und Vermögen im Islam Osman Sacarcelik

1. Geld und Glaube als ambivalente Begriffe im islamischen Wirtschaftsdenken? Die Treuhänderschaft des Menschen über die göttliche Schöpfung ist ein wichtiger Ausgangspunkt im islamischen Eigentums- und Wohlfahrtsdiskurs. Untermauert wird die Treuhändereigenschaft des Menschen durch das Motiv der Vergänglichkeit irdischen Daseins, das eines der zentralen Narrative des Korans bildet. Materieller Reichtum gilt nicht a priori als verwerflich. Umgekehrt wird Armut nicht zu einem gottgefälligen Seinszustand erhoben. Angeprangert wird vielmehr die übertriebene Verhaftung im Irdischen.1 Eigentums- und Vermögensmehrung unterliegen also grundsätzlich keiner Einschränkung, soweit sie mit legitimen Mitteln erreicht werden. Privateigentum gilt als Schutzgut, das rechtlichen Schutz vor unrechtmäßigen Eingriffen genießt. Im Kern lässt sich im islamischen Wirtschaftsdenken in gewisser Weise sogar eine Haltung erkennen, die im weitesten Sinne als »marktliberal« bezeichnet werden kann und Eigentumsschutz und Wettbewerb akzeptiert und voraussetzt. Die Erwerbs- und Eigentumsfreiheit ist jedoch nicht grenzenlos. Vielmehr muss sie im Einklang mit der sozialen Verantwortung des Vermögenden für Arme und Bedürftige stehen. Die Sozialpflichtigkeit ist nicht nur eine Rechtspflicht, die 1

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Vgl. Laurence Rosen, The Justice of Islam, New York 2000, bes. 87 ff.; David L. Johnston, Earth, Empire, and Sacred Text: Muslims and Christians as Trustees of Creation, London 2009; Mohammad Hashim Kamali, The Right to Life, Security, Privacy and Ownership in Islam, Cambridge 2008, 244 ff.; vgl. auch Hajatpour in diesem Band.

ihren Ausdruck beispielsweise in der Abgabenpflicht zakāt findet. Sie hat auch eine moralisch-ethische Dimension. Mildtätigkeit, Barmherzigkeit und Genügsamkeit – häufig eingekleidet in erzählerische Metaphern – sind wichtige Postulate der koranischen Lehre und der überlieferten Prophetentradition. In gegenwärtigen innerislamischen Debatten über Globalisierung, Verteilungsgerechtigkeit und Armutsbekämpfung erscheinen traditionelle Fragen des islamischen Eigentumsdiskurses und der Morallehre in neuem Gewand. Das Phänomen des Islamic Finance, das sich als zinsfreie Alternative zum konventionellen Finanzwesen versteht und seit den 1960er Jahren erheblichen Zuwachs erfahren hat, greift tradierte Grundsätze auf, die im klassischen islamischen Wirtschaftsrecht entwickelt wurden. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, einen weiten Bogen um die vorstehend skizzierten Themenbereiche zu spannen. Hierzu werden die Leitlinien des islamischen Wirtschaftsdenkens schlaglichtartig dargestellt. Das zuweilen ambivalent anmutende Verhältnis zwischen Geld und Glauben im Islam wird beleuchtet. Dabei wird die These aufgestellt, dass Reichtum zunächst keiner besonderen religiösen Wertung unterliegt, vielmehr die Sozialpflichtigkeit von Eigentum und Vermögen herausgestellt wird. Abschließend wird am Beispiel des Islamic Banking gezeigt, unter welchen Voraussetzungen der Gewinn aus einem Kapitaleinsatz islamrechtlich als legitim gilt. Hierzu wird ein Überblick über die Funktionsweise ausgewählter Finanzgeschäfte gegeben, die die Grundlage der heutigen islamischen Finanzpraxis bilden.

2. Zum Verhältnis von Geld und Glaube in der theologischen Tradition Das Verhältnis zwischen Geld und Glaube, Religion und Reichtum in der islamischen Lehre wird im Folgenden mittels einer historischen Betrachtung einerseits und einer hermeneutischen Annäherung andererseits dargestellt. Die überlieferte frühe Geschichte des Islams ist eng verknüpft mit dem Handel. Es ist bekannt, das die Geburtsstätte des Islams, die Stadt Mekka, bereits in vor-islamischer Zeit nicht nur ein wichtiger Pilgerort, sondern ein wichtiges Handelszentrum an der Kreuzung wichtiger Fernhandelsrouten war.2 In der einschlägigen Sīra-Literatur ist zur Prophetenbiografie zu lesen, dass Muhammad bereits als Jugendlicher Ka2

Bernard Lewis, Die Araber, München 22003, 43.

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rawanen auf der Arabischen Halbinsel begleitet haben soll. Bekannt ist auch, dass Muhammad im Handelsgeschäft von Ḫadīǧa, seiner späteren Ehefrau, tätig gewesen sein soll.3 Von wichtigen Prophetengefährten (aṣhāb) wird ebenfalls berichtet, dass sie wohlhabende Kaufleute waren. So ist der islamischen Historiografie zu entnehmen, dass beispielsweise ʿUṯmān ibn ʿAffān als Tuchhändler beträchtlichen Reichtum erwarb. Zahlreiche Aussagen und Metaphern im Koran nehmen ebenfalls Bezug zum Wirtschaftshandel.4 Dies wird etwa am Terminus tiǧāra (Handel) erkennbar, so wie er an zahlreichen Stellen im Koran geführt wird. An dieser engen Verknüpfung wird deutlich, dass Reichtum und Armut im Islam keine peripheren Themen sind. Materieller Wohlstand wird nach islamischem Verständnis nicht nur als Ergebnis menschlicher Eigenleistung verstanden,5 sondern vielmehr als Gabe und Gnade Gottes, des »Versorgers« (razzāq).6 Die Dankbarkeit für das erfahrene Gute und die sich daraus ergebende Verpflichtung dem Nächsten gegenüber zählen zu den zentralen Themen des Korans.7 Dieser Logik entspricht es, wenn der Vermögende, dem die göttliche Schenkung (faḍl) zufällt, auch rechtlich verpflichtet wird, sich um das Wohlergehen seiner Mitmenschen zu sorgen. Der Arme wird zur Geduld angehalten. Gleichzeitig kann aus den islamischen Primärquellen auch eine Art Gebot zur Erwerbspflicht abgeleitet werden. Barmherzigkeit, Mildtätigkeit und die Pflichtabgabe (zakāt) werden damit nicht nur als freiwillige Handlungen, sondern als Verantwortung vor Gott und den Menschen verstanden.8 Ähnlich verhält es sich mit dem (Not-)Kredit (qarḍ ḥasan), dem Schuldenerlass oder der im Koran empfohlenen Gewährung eines Zahlungsaufschubs für Kreditnehmer, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Am Beispiel des Schuldenerlasses oder der freiwilligen Stundung wird deutlich, dass der Verzicht auf eine an sich rechtlich durchsetzbare Forderung in besonderen Einzelfällen religiös-moralisch geboten sein kann. Die Schlussfolgerung, dass sozialen Zielbestimmungen des islamischen Glaubens »verteilungsethische« Elemente innewohnen, erscheint insofern vertretbar. Dies gilt etwa auch für das Verbot des 3 4 5 6 7 8

238

Vgl. auch den koranischen Bezug in Sure 93,8: »Hat er (dein Herr) dich nicht bedürftig gefunden und reich gemacht?« Siehe etwa die nachfolgenden Fußnotenverweise. Vgl. Sure 59,39. Suren 11,6; 13,26; 29,60. Sure 2,152. Vgl. etwa Sure 9,34–35.

Hortens und der Verschwendung9 (natürlicher Ressourcen) (isrāf). Schließlich soll ein »soziales Gleichgewicht« auch durch die Geld- und Warenzirkulation erreicht werden.10 Der Koranexegese ist zu entnehmen, dass »gemäßigter Erwerbswille« unproblematisch sei, solange sich das Streben nach Gewinn nicht zur Gier oder zur »Sucht, mehr zu haben als andere«11, entwickelt. Ferner hat das Gedenken Gottes (ḏikr) Vorrang vor dem Irdischen.12 Diejenigen, »die sich weder durch Ware oder Handel noch durch ein Kaufgeschäft davon ablenken lassen, Gottes zu gedenken, das Gebet zu verrichten und die Almosensteuer (zakāt) zu geben […]«, werden gewürdigt.13 In zahlreichen Ausprägungen ist schließlich auch das Motiv des memento mori zu finden und wird in Bezug zu einem Gebot gerechten Wirtschaftshandelns gesetzt.14

3. Vom ribā-Verbot zum Islamic Finance Einige Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler erkennen in den mittelalterlichen Marktstrukturen des islamischen Orients15 rudimentäre Ansätze einer vorkapitalistisch marktwirtschaftlichen Ordnung.16 Bereits im 12. Jahrhundert lassen sich rational begründete Betrachtungen wirtschaftlicher Zusammenhänge finden, die vermutlich auch von der zunehmenden Marktverflechtung jener Zeit angeregt wurden. Mit der Frage nach dem gerechten Preis setzte sich beispielsweise der in Damaskus und Kairo wirkende Ibn Taymīya auseinander (gest. 1328). Für Ibn Taymīya ist ein Preis dann gerecht, »wenn er dem entspricht, was üblicherweise an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit tatsächlich für das entsprechende Gut bezahlt und für angemessen gehalten wird«.17 Dabei wird 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Siehe Sure 7,31. Vgl. Michael David Bonner, Poverty and Economics in the Qurʾan, in: Journal of Interdisciplinary History 35 (2005), 391–406, 397 f. Sure 102,1. Vgl. etwa Suren 33,23; 9,24; 62,9–10. Sure 24,37–38. Eingekleidet werden diese Botschaften oft auch in Parabeln und Gleichnisse, vgl. etwa Sure 28,76–83. Vgl. zur mittelalterlichen Wirtschaftsstruktur der islamischen Welt: Maxime Rodinson, Islam and Capitalism, Austin/London 1979, passim. Vgl. Ebd. Peter Schmiedel, Wirtschaftsethik als Brücke zwischen westlicher Vernunftethik und islamischem Denken, Bamberg 2009, 319.

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ein freies Spiel von Angebot und Nachfrage vorausgesetzt. Das ist im Kern eine marktliberale Haltung, die denknotwendig auch Eigentumsschutz und Wettbewerb akzeptiert und voraussetzt. Dort, wo der Marktmechanismus funktioniere, sei es nicht statthaft, Preise staatlich festzusetzen. In seinem bedeutenden Werk »Al-Muqaddima« beschäftigte sich der nordafrikanische Historiker und Gesellschaftswissenschaftler Ibn Ḫaldūn (gest. 1406)18 auch mit Wirtschaftskreisläufen und Wirtschaftsethik und formulierte hierzu bis heute im muslimischen Fachdiskurs nachwirkende Grundsätze.19 Ibn Ḫaldūn untersuchte insbesondere das Phänomen der Arbeitsteilung und seine Bedeutung für die Organisation der Gesellschaft. Er analysierte die Gesetzesmäßigkeit von Angebot und Nachfrage, Handelszyklen und das Verhältnis von Wirtschaft und Bevölkerungswachstum.20 Die im Gelehrtentum entwickelten Ansätze wurden von muslimischen Ökonomen in der Moderne als heuristische Anleitungen zum Auffinden von gerechten Gestaltungsmöglichkeiten der Wirtschaft verstanden. In der postkolonialen Zeit wurde sehr intensiv über eine islamische Wirtschaftsordnung reflektiert. Die Entstehung des Islamic Finance in den 1960er Jahren ist in diesen Kontext einzuordnen. Anknüpfungspunkt für dieses alternative Finanzwesen waren das Zinsverbot und tradierte Vertrags- und Gesellschaftsformen des klassischen islamischen Rechts.

18

19

20

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Guter Überblick zu Werk und Wirken von Ibn Ḫaldūn bei Stephen Frederic Dale, Ibn Khaldun: The last Greek and the first Annaliste Historian, in: International Journal of Middle East Studies 38 (2006), 431–451; Dieter Weiss, Ibn Khaldun on Economic Transformation, in: International Journal of Middle East Studies 27 (1995), 29–37. Vgl. hierzu auch Bertram Schefold, Aufstieg und Niedergang in der Wirtschaftsentwicklung. Ibn Khalduns sozioökonomische Synthese, in: ders. (Hg.), Vademecum zu dem Klassiker des arabischen Wirtschaftsdenkens. Kommentarband zum auszugsweisen Faksimile-Nachdruck der 1401/02 entstandenen Handschrift von Ibn Khaldun, Muqaddima, Düsseldorf 2000, 5–20; Rainer Herrmann, Auf ähnlicher Grundlage: Soziale Marktwirtschaft und islamische Wirtschaft haben vieles gemeinsam, in: FAZ vom 05.11.2010, 10 (http://www.faz.net/aktuell/politik/soziale-marktwirtschaftund-islam-auf-aehnlicher-grundlage-11070562.html). Schmiedel, Wirtschaftsethik (vgl. Anm. 17), 330.

3.1

Das ribā-Verbot

Wurde das Zinsverbot in der jüdisch-christlichen Tradition sukzessive aufgehoben und in westlichen Volkswirtschaften weitgehend überwunden, so erfuhr es in der Gestalt des sogenannten ribā-Verbots in der islamischen Welt eine Renaissance. Für Islamic Finance ist wesensbestimmend, dass die Finanzgeschäfte und -produkte auf der Grundlage von und in Übereinstimmung mit dem islamischen Recht (Scharia) stehen müssen. Das ribā-Verbot wird heute weitgehend mit einem umfassenden Zinsverbot gleichgesetzt. Gleichzeitig sind das ribā-Verbot und seine normative Reichweite im Koran nicht detailliert geregelt. Trotz der Präzisierung und Ausdifferenzierung in der prophetischen Überlieferung blieben die Konturen des ribā-Verbots weiterhin unscharf und führten zu einer kaum mehr überschaubaren Kasuistik in den unterschiedlichen Rechtsschulen. Einzelne Juristen haben das ribā-Verbot indes auch auf der Grundlage rationaler Wertungskriterien untersucht, um das Telos der koranischen Verbotsnormen herauszuarbeiten.21 Der berühmte Philosoph und malikitische Rechtsgelehrte Ibn Rušd (Averroës) (gest. 1198) zählte zu den wenigen Rechtsgelehrten, die sich von der streng formalistischen Normbetrachtung lösten und sich mit dem Sinn und Zweck des ribāVerbots auseinandersetzten. Für ihn lag dem ribā-Verbot das Äquivalenzprinzip zugrunde.22 Er postulierte im Einklang mit der aristotelischen »Unfruchtbarkeitslehre«, dass dem Geld kein intrinsischer Wert innewohne. Vielmehr komme dem Geld nur dienende Funktion bei der Bestimmung der Gleichheit der Güter (Wertmesser) sowie der praktischen Erzielung von Gleichheit im Austausch (Tauschmittel) zu.23 Andere Gelehrte bemühten sich um sozialethische Erklärungsversuche, die im modernen islamischen Diskurs aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Das ribā-Verbot ziele insbesondere auf den Schutz des Schwäche21 22

23

Vgl. nur Norbert Oberauer, Gottes Recht und menschliche Sinnvermutung: istiṣlāḥ, munāsaba und maqāṣid aš-šarʿ im rechtstheoretischen Denken Ġazzālīs (gest. 1111), in: Asiatische Studien 64/3 (2010), 649–679. Vgl. Ibn Rušd, Bidāyat al-muğtahid wa-nihāyat al-muqtaṣid (sinngemäß: Einführung [in das islamische Recht]), Kairo 1969, Bd. 2, 132; englische Übersetzung von Imran Ahsan Khan Nyazee, Ibn Rushd: The Distinguished Jurist’s Primer, Reading 1996/2000, Bd. 2, 162; vgl. auch Frank E. Vogel/Samuel L. Hayes, Islamic Law and Finance, Leiden 2006, 78 f. Weitere Nachweise bei Fabian Wittreck, Geld als Instrument der Gerechtigkeit. Die Geldrechtslehre des Hl. Thomas von Aquin in ihrem interkulturellen Kontext, Paderborn u. a. 2003, 615 ff. So auch Wittreck (s. Anm. 22), 624 ff. (mit weiteren Nachweisen).

241

ren vor Ausbeutung durch den wirtschaftlich Stärkeren, der nicht selten die Bedingungen einseitig und zum Nachteil der unterlegenen Partei diktieren könne.24

3.2

Das Verbot des Glücksspiels und der Spekulation

Das ribā-Verbot wird durch das koranische Verbot des Glücksspiels und der Wette (maysir oder qimār) flankiert. Auf der Grundlage des Glücksspielverbots haben Juristen ein allgemeines Verbot aleatorischer Verträge (ġarar) entwickelt.25 Demnach sind Unsicherheiten, die sich auf die essentialia eines Vertrages, den Preis oder den Erfüllungszeitpunkt beziehen, unzulässig. Dem Verbot des Glücksspiels liegt das Prinzip zugrunde, dass der Ertrag nicht vom Zufall abhängen darf. Es wird argumentiert, dass eine angemessene, möglichst »paritätische« Risikoübernahme den Profit rechtfertigt. Verlangt wird außerdem, dass der Profit Ausfluss einer echten wirtschaftlichen Betätigung sein muss.

3.3

Rechtsgeschäfte mit kreditorischer Wirkung

Da die Wirtschaft auch in der Vergangenheit auf das Kreditgeschäft angewiesen war,26 stellte das ribā-Verbot ein nicht unerhebliches ökonomisches Hindernis dar. Daher wurden bereits in der frühen Wirtschaftsgeschichte des Islams neben dem Terminkauf und anderen Ver24

25

26

242

Dieser Gedanke ist bereits im Koran (3,130) zu finden. Dort wird die vorislamische Praxis der Erhöhung (meist Verdoppelung) der Darlehensschuld bei Gewährung eines Zahlungsaufschubs gerügt (sog. ribā al-ğāhiliyya). Vgl. dazu At-Tabarī (839–932) in seiner Koranexegese Ğāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl ʾāy al-qurʾān, Damaskus 1997, Bd. 6, 386. Zu den sozialethischen Argumenten vgl. Vogel/Hayes (s. Anm. 22), 82 f. (mit weiteren Nachweisen). Ausführlich zum Verbot des ġarar vgl. Johannes Christian Wichard, Zwischen Markt und Moschee: Wirtschaftliche Bedürfnisse und religiöse Anforderungen im frühen islamischen Vertragsrecht, Paderborn u. a. 1995, 148–179; Hashim Kamali, Islamic Commercial Law: An Analysis of Futures and Options, London 2000, 84 ff.; Vogel/Hayes (s. Anm. 22), 87 ff.; Abdurl-Rahim Al-Saati, The Permissible Gharar (risk) in Classical Islamic Jurisprudence, in: Journal of King Abdul Aziz University 16/2 (2003), 3–19. Auf die Bedeutung des Kredits für den Handel hatte bereits der Jurist Muḥammad ibn Aḥmad al-Saraḫsī (gest. 1090) in seinem Rechtskompendium Kitāb al-mabsūṭ hingewiesen, Nachweis bei Abraham L. Udovitch, Credit as a Means of Investment in Medieval Islamic Trade, in: Journal of the American Oriental Society 87/3 (1967), 260–264, 261.

tragsgestaltungen wie der murābaḥa auch Gesellschaftsformen wie die muḍāraba entwickelt, die als Kreditsurrogate bezeichnet werden können.

3.3.1 Murābaḥa Bei der murābaḥa handelt es sich vereinfacht ausgedrückt um eine Form des Weiterverkaufs mit Gewinn. Da verzinste Kredite islamrechtlich unzulässig sind, wird die Fremdfinanzierung durch einen Doppelkauf realisiert. Bei einer murābaḥa übernimmt die Bank die Rolle des Finanzierers. Sie erwirbt zunächst im Auftrag des Kunden das zu finanzierende Gut von einem Dritten zum Barzahlungskaufpreis. Dazu muss der Kunde in der Regel ein bindendes Kaufversprechen gegenüber der Bank abgeben. Darin sichert er der Bank den Abkauf des finanzierten Guts zu. Regelmäßig wird der Kunde von der finanzierenden Bank beauftragt, für sie als Vertreter tätig zu werden und den gewünschten Gegenstand beim Verkäufer in ihrem Namen zu erwerben. Die Bank verkauft anschließend die angekaufte Kaufsache an den Kunden zum Kaufpreis zuzüglich eines vorher mit ihm vereinbarten Gewinnaufschlags weiter. Letzterer orientiert sich häufig an Referenzzinssätzen wie dem LIBOR. Der Kaufgegenstand wird regelmäßig vom Lieferanten direkt an den Kunden ausgeliefert. Der Kunde verpflichtet sich, den gestundeten Kaufpreis in Raten an die Bank zu zahlen. Der Veräußerungsgewinn aus dem Weiterverkauf an den Kunden beinhaltet die Finanzierungskosten und kommt – wirtschaftlich betrachtet – dem Zins gleich. Diese Finanzierungstechnik findet bei islamischen Banken häufig Anwendung. Immobilienfinanzierungen und Konsumentenkredite beruhen meistens auf dieser Vertragskonstruktion. Es wird argumentiert, dass der Gewinn der finanzierenden Bank deshalb gerechtfertigt sei, weil die Bank nicht nur das Insolvenzrisiko des Kunden trage, sondern auch die Sachrisiken übernehme, d. h. das Risiko der Verschlechterung oder des Untergangs der Kaufsache. Außerdem darf die finanzierte Kaufsache (z. B. Immobilie) nicht für islamrechtlich verbotene Zwecke genutzt werden. So kann die Immobilie beispielsweise nicht an einen Spielhallenbetreiber vermietet werden. Während der Kunde bei der klassischen murābaḥa am tatsächlichen Erwerb der zu finanzierenden Sache interessiert ist, gibt es Modelle, bei denen hauptsächlich das Finanzierungsinteresse im Vordergrund steht. Im Rahmen einer sogenannten CommodityMurābaḥa-Struktur kauft die Bank im Auftrag des Kunden, jedoch auf eigene Rechnung, Rohstoffe oder Edelmetalle über eine Börse, die sie mit Gewinnaufschlag an den Kunden unter Stundung des Kaufpreises 243

weiterverkauft. Der Kunde wiederum verkauft die Rohstoffe oder Edelmetalle sofort an einen Dritten zum Kassapreis weiter, um den Kaufpreiserlös (wie eine Darlehensvaluta) für eigene Zwecke zu verwenden. Besonders diese Form des »synthetisierten Kredits« gilt islamrechtlich als nicht unumstritten.

3.3.2 Muḍāraba Die muḍāraba stellt eine eigenkapitalbasierte Finanzierungsform dar, die funktionell am ehesten mit der stillen Gesellschaft oder der Kommanditgesellschaft im deutschen Recht vergleichbar ist. Im Rahmen einer muḍāraba bringt der Geldgeber (sog. rabb al-māl) als »Einlage« Geld in eine gemeinsame Unternehmung ein. Der Unternehmer (sog. muḍarrib) stellt dagegen seine Arbeitskraft und sein unternehmerisches Know-how, einer »Einlage« vergleichbar, zur Verfügung und investiert das ihm anvertraute Kapital gemäß der muḍāraba-Vereinbarung in islamkonforme Geschäfte. Am Ende des gemeinsamen Projekts erhält der Unternehmer sein Kapital zurück. Gewinne werden nach einem vorab festgelegten Verteilungsschlüssel zwischen den Parteien aufgeteilt, wobei sich die Höhe des dem Kapitalgeber zustehenden Gewinns proportional auf den Gesamtgewinn beziehen muss und nicht nach der Höhe des Kapitalanteils kalkuliert werden darf. Denn die Ausbedingung eines betragsmäßig festen Gewinns zugunsten einer Partei ist unzulässig, käme sie doch einem Zins nahe. Werden dagegen Verluste eingefahren, werden sie allein vom Kapitalgeber getragen. Etwas anderes gilt, wenn der Unternehmer das Kapital grob fehlerhaft oder in Abweichung von der muḍāraba-Vereinbarung einsetzt. Auf der Grundlage des muḍāraba-Konzepts werden Einlagenkonten bei islamischen Banken geführt. Der Kunde legt sein Geld auf diesen sog. Partizipations- bzw. Beteiligungskonten an. Die eingezahlten Einlagebeträge werden von der Bank bei ihren islamkonformen Geschäften eingesetzt. Regelmäßig werden die Kundeneinlagen als islamkonforme Kredite (z. B. auf murābaḥa-Basis) an Bankkunden ausgereicht. Damit können sich Kunden, die wie Sparer Einlagen an die Bank leisten, also mittelbar an dem Aktivgeschäft und den daraus resultierenden Erträgen der Bank beteiligen.

244

4. Fazit Der natürliche und gemäßigte Erwerbswille ist nach islamischer Auffassung unproblematisch. Reichtum unterliegt per se keiner Kritik in der koranischen Lehre, soweit der Erwerb des Vermögens mit legitimen Mitteln erzielt wurde. Den normativen Postulaten der islamischen Werteund Wirtschaftsordnung sind verteilungsethische Elemente immanent. Im Kern lässt sich im islamischen Wirtschaftsdenken eine marktliberale Haltung erkennen, die denknotwendig Eigentumsschutz und Wettbewerb akzeptiert und voraussetzt. Allerdings bildet dabei die Sozialpflichtigkeit von Eigentum und Vermögen ein zentrales Leitbild und Korrektiv.

245

Beobachterbericht zum Forum: Gerechter Reichtum? Eigentum und Verantwortung Serdar Kurnaz

1. Einleitung In religiösen Traditionen wird oftmals eine negative Haltung gegenüber Reichtum artikuliert. Große Gruppen, ja sogar Bewegungen entsagen nicht nur dem Reichtum, sondern auch alltäglichen materiellen Gütern, um gottgefällig leben zu können und »rein« zu bleiben von negativen Aspekten bzw. Effekten des Reichtums. Den religiösen Quellen, wie etwa dem Koran, kann aber auch – neben negativen Aussagen über Hab und Gut – entnommen werden, dass Reichtum kein Zustand ist, der stets zu vermeiden wäre. So betet der Prophet Salomo um Macht und Reichtum: »Mein Herr, vergib mir! Schenk mir eine Herrschaft, wie sie keinem nach mir zukommt! Siehe, du bist der freigebig Schenkende!« (Sure 38,35). Eben diese Spannung der ambivalenten Wertung des Reichtums diskutieren auch Sacarcelik und Palaver und versuchen, mögliche Lösungsansätze zu formulieren bzw. der Frage nachzugehen, ob ein gerechter Reichtum möglich ist.

2. Durch Verantwortung zum gerechten Reichtum Sacarcelik verfolgt die Frage, welche Verantwortung und welche Verpflichtungen mit dem Reichtum entstehen, und gibt Hinweise darauf, wie „gerechter“ Reichtum im Rahmen des islamischen Rechts möglich ist. Er geht aus vom Gedanken der »Treuhänderschaft« des Menschen über die göttliche Schöpfung. Dahinter steckt das für die islamische Theologie zentrale Konzept des ḫalīfa, wie es z. B. in Sure 2,30 heißt: »Ich bestelle auf der Erde einen Statthalter.« Damit wird dem Menschen Verantwortung aufgetragen. Was dieser Begriff alles beinhaltet, wird von Sacarce246

lik nicht im Einzelnen entwickelt, aber als zentral festgehalten: Reichtum ist nicht per se verwerflich und Armut ein gottgefälliger Zustand; verwerflich ist vielmehr eine übertriebene Verhaftung im Irdischen. Diese moderate Bewertung des Reichtums ergibt sich durch ein islamisches Wirtschaftsdenken, das Sacarcelik als »marktliberal« erklärt: Eigentum werde geschützt und Wettbewerb zugelassen, flankiert aber von einem Prinzip sozialer Verantwortung, »die sowohl eine rechtlich verbindliche als auch eine moralische Dimension hat«. Wettbewerb ermögliche Reichtum, der aber verpflichte zur Armenhilfe, etwa in Form der Almosensteuer. Nachdrücklich empfohlen wird Reichen zudem, weitere Unterstützung von Armen mit Almosen u. a. in Form der sogenannten ṣadaqa oder infāq zu leisten. Die positive Haltung des Islams zum Reichtum sieht Sacarcelik u. a. historisch begründet: Schon in der Entstehungsphase war die islamische Gemeinschaft mit dem Handel stark verflochten.1 Der Prophet selbst betrieb Handel und unter seinen Gefährten waren reiche Kaufmänner. Sacarcelik verweist zwar darauf, dass der Koran mit Metaphern aus der Wirtschaft gegen Widersacher argumentiert bzw. Metaphern verwendet, die stark an einer ökonomischen Semantik orientiert sind, diskutiert aber keine Beispiele, so dass unkonkret bleibt, inwieweit entsprechende Textstellen überhaupt als positive Haltung zum Handel gedeutet werden können.

3. Durch das ribā-Verbot zum gerechten Reichtum Die Konzepte sozialer Verantwortung und, dadurch mitbegründet, eines »gerechten Reichtums« haben, wie Sacarcelik nachvollzieht, konkrete Auswirkung insb. auf das ribā-Verbot2 und das dadurch notwendig werdende alternative Finanzwesen: Reichtum ist legitim nur, wenn auf islamisch-rechtlich legitimem Wege erlangt. So dürfen etwa für Investitionen keine Kredite aufgenommen werden, die unter das ribā-Verbot 1 2

Vgl. besonders zur Situation im frühen Mekka immer noch Patricia Crone, Meccan Trade and the Rise of Islam, Oxford 1987; Róbert Simon, Meccan Trade and Islam: Problems of origin and structure, Budapest 1989. Für einen Überblick zu Geschichte und Gebrauch des Terminus vgl. die Beiträge in Abdulkar Thomas (Hg.), Interest in Islamic Economics. Understanding riba, London/New York 2006; zum Unterschied zwischen ribā und Zinsverbot z. B. Mahmoud A. El-Gamal, Islamic Finance: Law, Economics, and Practice, Cambridge 2006, 51 ff.

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fallen. Die spärlichen Konkretionen in Koran und Sunna3 führen dazu, so Sacarcelik, dass das ribā-Verbot meist im weitesten Sinne als Zinsverbot verstanden wird. Schlussendlich zielt das ribā-Verbot nach Sacarcelik »insbesondere auf den Schutz des Schwächeren vor Ausbeutung durch den wirtschaftlich Stärkeren, der nicht selten die Bedingungen einseitig und zum Nachteil der unterlegenen Partei diktieren könne«. Es lässt sich hier aber die Frage stellen, wie dann das ribā-Verbot einem Zinsverbot gleichgesetzt werden kann, wenn gewisse Zinsformen nicht das von Sacarcelik angeführte Ziel haben und den wirklich Schwachen zu einem gewissen Wohlstand bzw. Reichtum führen. Dies offen lassend, erörtert Sacarcelik zulässige, zinsfreie Handelsformen, welche die muslimischen Gelehrten entwickelten, weitere verbotene Vertragsschlüsse oder Gewinnformen (Wette, Spekulation) und alternative Formen von Rechtsgeschäften mit kreditorischer Wirkung wie murābaḥa und muḍāraba, beide exemplarisch für die Entsprechung mit dem angeführten Ziel. Sacarcelik weist aber darauf hin, dass die murābaḥa oft dem Zins gleichkommt, hinterfragt aber nicht, inwieweit dies überhaupt islamisch-rechtlich zulässig ist und ob die vorgeschlagenen Rechtsgeschäfte mit kreditorischer Wirkung überhaupt wirkliche Alternativen sind. Eine – von Sacarcelik nicht gebotene – Analyse der einschlägigen Koranverse zum ribā-Verbot könnte Hinweise dazu liefern, wie gerechter Reichtum islamisch legitim ist. Dazu müsste die Thematik insgesamt in den Rahmen der Ziele der Gesetzgebung (maqāṣid aš-šarīʿa) gesetzt und ermittelt werden, was genau ribā ist. Indem Sacarcelik dagegen seine Diskussion um das ribā-Verbot eher implizit mit dem Thema gerechten Reichtums verbindet, kommt auch der Faktor Armut nicht zur Sprache. Das Verhältnis zwischen Glaube und Geld/Reichtum wird daher eher einseitig dargestellt mit dem Ergebnis, dass das islamische Recht neutral gegenüber dem Reichtum stehe und nur Gier und eigennützigen Profit verbiete. Dem ist aus islamisch-rechtlicher Sicht grundsätzlich zuzustimmen, aber es ist auf der anderen Seite auch daran zu erinnern, dass große Bewegungen, vor allem unter den Sufis, die Entsagung vorzogen und Reichtum als etwas zu Vermeidendes betrachteten. Diese Entsagung hat sich sogar als Terminus festgesetzt: az-zuhd. Es wird in den Hadithen u. a. betont, dass der Prophet es stets vorgezogen hat, ein 3

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Wir sehen bei Ibn Rušd, dass dieses Thema nur in einigen Koranversen und Hadithen angesprochen wird, s. Ibn Rušd, Bidāyat al-muǧtahid wa-nihāyat al-muqtaṣid (Einführung in das juristische Handwerk des Mudschtahid), Hg. ʿAbdallāh al-ʿAbbādī, Kairo: Dār as-Salām, 1995, Bd. 3, 1563 ff.

schlichtes Leben zu führen und dem Reichtum zu entsagen.4 Dennoch wird Reichtum im Koran auch als etwas Erstrebenswertes genannt: Der Prophet war arm und wurde durch Gottes Hilfe reich (vgl. Sure 93,8)5 und Salomo betete darum (Sure 38,35, s. o.). Es besteht daher eine starke Spannung zwischen Gerechtigkeit, Armut und Reichtum. Diese Ambivalenz kommt am besten in Sure 7,31 zur Geltung:6 Dort wird der Prophet gewarnt, dass übertriebene Enthaltung während der Pilgerfahrt eine zu unterlassende Handlung ist und dass man wie gewöhnlich essen und trinken soll.7 Weder zu große Enthaltsamkeit noch auf Kosten anderer erlangter Reichtum wird durch den Koran gebilligt. Ein mit Verantwortung verbundener Reichtum – wie durch zakāt – ist vom islamischen Recht erwünscht und insofern »gerecht«, wobei zu klären wäre, was dies genau bedeutet. Reichtum wird sogar in Bezug auf zakāt definiert: Wer die Grenze des niṣāb (umgerechnet ca. 85 Gramm Gold) erreicht, muss Almosensteuer zahlen und gilt insofern als »reich«. Die ethische Verantwortung ist im Koran sehr zentral und bereits in frühmekkanischen Versen erwähnt. So in Sure 90,11–16: »Doch ›den steilen Weg‹ schlug er nicht ein. Und was lässt dich wissen, was ›der steile Weg‹ ist? Freilassung eines Sklaven oder dass man Speise gibt an einem Hungertag an eine nahverwandte Waise oder an einen Armen in Bedürftigkeit.« Die polytheistischen Araber stören sich insbesondere an dieser Bürde, die mit ihrem Reichtum einhergeht (vgl. Sure 11,87). Auch die islamische Tradition kennt den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum, auf den Sacarcelik nicht eingeht, der aber Anknüp-

4 5

6

7

Vgl. Semih Ceyhan, Zühd. In: Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi. Istanbul 2013, Bd. 44, 530 ff. Nach den Angaben in mafātīḥ al-ġayb sei diese Auslegung unter den vorhandenen die bekannteste. Der Prophet war sowohl aus finanzieller Hinsicht arm als auch, was die Freunde- und Familienbande anbelangt. Auf beiden Ebenen wurde er »bereichert«, s. ar-Rāzī, Mafātīḥ al-ġayb (Korankommentar: Die Schlüssel zum Verborgenen), Beirut 1981, Bd. 31, 218. Besonders Sure 2,198 wird von vielen Koranexegeten herangezogen und so gedeutet, dass Handel selbst während der Pilgerfahrt erlaubt sei, was einen prinzipiell positiven Charakter des Handels implizieren müsse; vgl. dazu Uri Rubin, Meccan Trade and Qurʾānic Exegesis (Qurʾān 2:198), in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies, 53/3 (1990), 421–428 (zu Gegenbeispielen insb. unter Sufis s. z. B. 423). S. Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʾ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān (Korankommentar: Die umfassende Auslegung der Verse des Koran). ʿAbdallāh ʿAbd al-Muḥsin at-Turkī, Kairo 2001, Bd. 10, 149.

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fungspunkte zu christlichen Herangehensweisen und damit zum Beitrag von Palaver bietet.

4. Reichtum als Gewalt und Ausschlussfaktor Viele Koranverse illustrieren, dass Reichtum oft zum Ausschluss der Armen führte und die Gerechtigkeit gefährdete, sogar Mittel der Unterdrückung wurde. Zu Sure 18,46, wo es heißt »Das Vermögen und die Söhne sind die Pracht des diesseitigen Lebens. Was aber bleibt, die guten Werke, ist bei deinem Herrn am besten […]«, fügt ar-Rāzī an, dass hier die Haltung der polytheistischen Araber thematisiert werde, welche die mehrheitlich armen Muslime verspottet und mit ihrem Hab und Gut geprahlt hätten.8 Reichtum hat die Armen nicht nur isoliert, sondern kann auch eine Form der Gewalt darstellen, worauf Palaver explizit eingeht. Palaver setzt mit einem Sprung in die Vergangenheit zunächst beim archaischen Verständnis von Reichtum an. Auf dessen Verbindung mit Gewalt geht er näher ein und diskutiert dann das prägnante Beispiel des Franz von Assisi: Er löst sich von Gewalt nur, indem er Eigentum und Besitz entsagt; auch weitere Klassiker (Rousseau u. a.) unterstützen dieses Bild. Von hier leitet er über auf das katholische Verständnis, vielleicht um zu zeigen, dass ein religiöses Verständnis nicht unbedingt zu Gewalt führen muss. Im Katholizismus habe zwar ein archaisches Verständnis zunächst überlebt, dann aber sich gewandelt zur Perspektive auf Eigentum als »ein gemeinsames Gut«, das »im Blick auf den Nächsten – vor allem die Notleidenden – fruchtbar zu machen« ist, was v. a. »für jeglichen Überfluss« gelte. Dabei besteht eine Entsprechung zum islamischen Konzept des istiḫlāf, der Treuhänderschaft: »Gott der Herr hat die Erde dem ganzen Menschengeschlecht zum Gebrauch und zur Nutznießung übergeben.« Später formuliert Palaver explizit noch den Gedanken, dass der Mensch letztlich nicht Eigentümer ist, sondern Hab und Gut nur vorübergehend besitzt. Diesen Gedanken weitet er auf weitere religiöse Persönlichkeiten wie Ghandi aus.

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250

Vgl. ar-Rāzī, Mafātīḥ (s. Anm. 5), Bd. 21, 132.

5. Reichtum vs. Vergötterung des Geldes Schließlich führt Palaver, mit Bezug auf Papst Franziskus, eine Warnung vor der Vergötterung des Geldes an und verweist auf Ex 20,3 (»Du sollst keine Götter neben mir haben«). Wie Palaver treffend erfasst, ist diese Warnung auch auf die islamische Theologie übertragbar: Gott andere Götter bei zugesellen, heißt nicht nur, dass Wesen angebetet werden, denen Göttlichkeit zugesprochen wird. Auch wenn das Leben nicht nach den maßgeblichen Zielen und Richtlinien des Islams geformt wird, sondern auf Geldmaximierung hin, wird das Geld vergöttert.

6. Schlussbemerkungen Auch bei Palaver kommt die Ambivalenz zwischen Armut und Reichtum im Spannungsfeld der Gerechtigkeit kaum zur Geltung. Er konzentriert sich wie Sacarcelik eher auf die Frage, wie Reichtum bewertet wird und dass Reichtum nur dann als positiv zu betrachten ist, wenn damit Verantwortung einhergeht. Eine negative Haltung zu Reichtum kommt nur bei Franz von Assisi zur Sprache. Wie genau die Verantwortung als Aspekt der Gerechtigkeit fungiert, wird weder bei Palaver noch bei Sacarcelik angesprochen. Dass sie ein Aspekt der Gerechtigkeit ist, wird zwar ebenfalls nicht gesagt, lässt sich aber als implizite Aussage zwischen den Zeilen herauslesen. Vergleicht man aber beide Positionen, so ist zu sehen, dass beide einen gerechten Reichtum als möglich erachten, wenn zwei theologisch begründete Bedingungen erfüllt werden: 1. 2.

Verantwortung und ethische Verpflichtungen, die durch Reichtum begründet sind, was insbesondere die Unterstützung von Armen einschließt; das Bewusstsein, dass im Endeffekt Gott der Eigentümer allen Reichtums ist.

Diese beiden Bedingungen scheinen für beide Traditionen zumindest orientierende Kriterien zu bieten im Spannungsfeld zwischen der Eigenverantwortung des Reichen und dem Recht des Armen gegenüber dem Reichen. Beide Autoren gehen aber nicht auf die allgemeine Frage ein, ob das Bestehen von Reichtum und Armut an sich ungerecht ist, obwohl beide die Möglichkeit gerechten Reichtums einräumen.

251

VI. Beiträge der Religionen zur Armutsbewältigung im Rahmen des Wohlfahrtsstaates in Deutschland

Vom Charisma zum Stigma Armutsbewältigung und Diakonie aus christlicher Sicht Gerhard Wegner

Seit 2000 Jahren gehört die Auseinandersetzung mit der Armut zur Geschichte und zum Selbstverständnis des Christentums in all seinen vielen Ausprägungen und Facetten elementar dazu1. Es gibt keine christliche Konfession, die nicht ihre eigenen Wege zur Anerkennung der Armen, zur Armutsbewältigung oder gar zur Ausgestaltung von Wohlfahrtskulturen entwickelt hätte. Allerdings: Die Armut auszurotten, ist dem Christentum in seinen 2000 Jahren nicht gelungen, und man muss zugestehen, dass dieses Ziel auch nur sehr begrenzt in einigen Teilbereichen des Christentums wirklich ernsthaft angestrebt worden ist. Man hat zu solchen radikalen Lösungen kaum eine Möglichkeit gesehen und sich deswegen in der einen oder anderen Weise auf ein Leben mit Armut und mit den Armen eingestellt. Die Wege des Umgangs mit Armut sind ausgesprochen verschieden; sie können sogar gegenläufig sein. So findet sich z. B. auf der einen Seite eine ganze Reihe von symbolischen Anerkennungsformen der Armen im christlichen Kosmos – auf der anderen Seite finden sich aber ebenso viele reale Handlungsformen der Bekämpfung von Armut und der Hilfe für Arme in ihren schwierigen Lebenssituationen.2

1 2

Vgl. insgesamt bahnbrechend zum Komplex Religionen und Wohlfahrt: Elmar Rieger/Stephan Leibfried, Kultur versus Globalisierung. Sozialpolitische Theologie in Konfuzianismus und Christentum, Frankfurt a. M. 2004. Vgl. zu den »großen« Perspektiven neuerdings: Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter/Andreas Kurschat/Stefan Leibold (Hg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte, Tübingen 2013; Gerhard Wegner (Hg.), Die Legitimität des Sozialstaates. Religion – Gender – Neoliberalismus, Leipzig 2015; Franz -Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur, Wiesbaden 2015.

255

Dabei hat es eine entscheidende historische Entwicklungsrichtung gegeben: nämlich die von einer betonten charismatischen Anerkennung der Armut und der Armen, wie sie im Mittelalter und insbesondere durch die großen Heiligen, allen voran Franz von Assisi, gepflegt worden ist – hin zur negativen Stigmatisierung von Armut als etwas, was die Gesellschaft konkret belastet und was es eigentlich deswegen nicht geben sollte. Zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen, ja bisweilen gegenteiligen Optionen bewegen sich eigentlich alle christlichen Armutsoptionen. Im Folgenden werden zwei Wege bestritten, um das Spektrum der christlichen Option in Richtung Armut zu entfalten: – –

Einmal werden einige historische Akzente gesetzt. Dann werden systematisch die verschiedenen Wohlfahrtskulturen und Wohlfahrtsregime im christlichen Bereich dargestellt.

Der historische Zugang3 Ein erster Höhepunkt der Auseinandersetzung mit der damals ständig wachsenden Zahl von Armen und der Armut allgemein findet sich im Christentum in den Zeiten des Hochmittelalters mit dem Auftritt des Franziskus von Assisi, der sich als Armer inszenierte und die Solidarität mit den Armen lebte. In ihm verdichtet sich exemplarisch die Gestalt der charismatischen Identifikation mit den Armen. Ihnen wird im mittelalterlichen Christentum ein positives Stigma zugerechnet; sie sind die von Gott eigentlich geliebten Menschen, und die Kirche ist eigentlich nichts weiter als der Schatz dieser Armen. Auf der symbolischen Ebene wird somit eine enorme Identifikation der herrschenden Institution der Kirche mit den Armen vollzogen. Entsprechend wird ihnen vielfach Respekt entgegengebracht und es wird vor allen Dingen eine umfangreiche und durchorganisierte Praxis der Almosen entwickelt, die mit Stiftungen, der Gründungen von Hospizen und vielem anderen in Befolgung der großen Barmherzigkeitsermahnungen der Bibel einhergeht. In der Ikonografie des Mittelalters spielt das Gleichnis vom großen Weltgericht, Matthäus 25, mit den Werken der Barmherzigkeit eine ganz entscheidende Rolle. Nur wer sich der Armen annimmt und ihnen Almosen zukommen lässt, hat deswegen ein Anrecht auf (himmlische) Aner3

256

Vgl. klassisch: Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 2 Bände, Tübingen 1912.

kennung und sollte daher auch unter den Menschen Anerkennung finden. Reichtum erscheint in der neutestamentlichen Tradition eher als problematisch. Die Reichen können ihre Seele nur durch Almosen für die Armen retten, die dann wiederum dazu angehalten werden, für die Seele der Armen zu beten. Symbolisch und im Blick auf die Almosen wird also die gesellschaftliche Hierarchie christlich-religiös auf den Kopf gestellt. Arme haben in dieser Hinsicht einen Platz, aber es gibt keinerlei Idee und auch kein aktives Bestreben, Armut insgesamt zu beseitigen. Ja, man kann sogar davon sprechen, dass die religiöse Gesellschaft des Mittelalters die Armen braucht, weil sie sozusagen die Basis der gesamten Barmherzigkeits- und Heilsordnung des Christentums darstellen. Überträgt man diese Situation etwas flapsig auf moderne Diskussionen, so ließe sich fast davon sprechen, dass in dieser mittelalterlich christlichen Tradition so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Armen verwirklicht worden ist: Sie erhalten Almosen, ohne dafür etwas als Gegenleistung erbringen zu müssen. Tatsächlich bedeutet dies natürlich nicht, dass sich die gesamte Gesellschaft nun auf das Almosengeben für die Armen ausgerichtet hätte. Vielmehr entwickeln sich im Mittelalter auch große Unternehmen und es kommt zum Aufkommen von Frühkapitalismus, dessen Akquisitionspraxis deutlich mit einer umfassenden Identifikation mit den Armen kollidiert. Entsprechende Konflikte lassen sich auch in der Geschichte des Franziskus von Assisi selbst nachvollziehen. Und die Kirche findet natürlich ihren Weg, auch die Reichen zu segnen. Insgesamt aber bilden die symbolische Anerkennung der Armen und die reale Praxis des Almosengebens ein insgesamt jahrhundertelang relativ stabiles Gefüge der Gesellschaft, bei einem ständig wachsenden Anteil der Armen. Die Almosenpraxis ist insgesamt ausgesprochen eindrucksvoll und wird in der großen Studie von Michel Mollat über Armut im Mittelalter breit dargestellt.4 Zum Einschnitt kommt es nach herkömmlicher Historiografie mit der Reformation: Denn nun kommt es in den protestantisch geprägten Ländern zu einer neuen Haltung gegenüber der Armut, die nicht mehr positiv stigmatisiert oder gar charismatisch eingerahmt wird, sondern im Prinzip nur noch negativ adressiert ist. Das Stigma kehrt sich um. Luther und Calvin und die anderen Reformatoren argumentieren deutlich antifranziskanisch, bis dahin, dass Luther selbst die sich für die Armen engagierenden Bruderschaften in Wittenberg auflöst. 4

Vgl. Michael Mollat, Die Armen im Mittelalter, München 1984.

257

Allerdings ist der Einschnitt in dieser Hinsicht nicht einfach nur Anfang des 16. Jahrhunderts mit den reformatorischen Aktionen zu machen. Schon viel früher und umfangreicher kommt es zu Entwicklungen negativer Sichtweisen auf die Armen, vor allem in den großen florierenden Städten mit ihren unternehmerischen Aufbrüchen. Die humanistischen Bestrebungen im Vorfeld und Umfeld der Reformation artikulieren vielfach die Pflicht, zu arbeiten und sich selbst der gesellschaftlichen Kooperation nicht zu entziehen. In der Reformation artikuliert man diese Vorstellung dann in der lutherischen Umformung der Berufung, die ursprünglich nur den gesellschaftlichen Hierarchien bzw. den Geistlichen galt, auf grundsätzlich alle Tätigkeiten in der Gesellschaft. Die Menschen sollen ihre Berufung, d. h. ihre Einführung in einen gesellschaftlichen Stand, erkennen und sich entsprechend ihrer Arbeit in Kooperation mit anderen betätigen. Als Beruf ist Arbeit die Betätigung für andere, und aus diesen Gedanken erwächst ein Gesellschaftsmodell, was prinzipiell ohne Arme auskommen kann, denn jeder ist verpflichtet, sich mit seinen Fähigkeiten für andere einzusetzen. Ein Entzug aus dieser Kooperationsgemeinschaft gilt als Sünde und soll eigentlich nicht sein. Dementsprechend erfolgt nun ein sehr viel dringlicher Zugriff auf die Armen, es entstehen Arbeitshäuser. Entsprechend eingeschränkt wird nun das Almosengeben betrachtet, da es nicht mehr als ein gutes Werk den eigenen Platz im Himmel sichert, sondern nur noch als eine Folge der eigenen Rechtfertigung und dementsprechend als völlig freiwillige Gabe betrachtet werden kann. Armutsbekämpfung und Armutsversorgung wird so immer deutlicher eine Sache der Kommunen und des Staates bzw. der Staatskirche, die sich auf vielen Ebenen der Armen annimmt. Ob es den Armen nach der Reformation tatsächlich besser gegangen ist als vorher, lässt sich jedoch füglich bezweifeln. In dieser Hinsicht hat schon der große Chronograf der christlichen Diakonie Gerhard Uhlhorn Ende des 19. Jahrhunderts seine Skepsis angemeldet.5 Armut wird besser erfasst und besser verwaltet, aber das Niveau der Armutsversorgung wird nicht unbedingt angehoben. Gleichwohl verbindet sich mit der Reformation trotz dieser belegbaren Brüche bis heute die Vorstellung einer veränderten Haltung der Menschen zur Arbeit und zum Beruf. Besonders prägnant ist dies von Hegel in seiner »Geschichte der Philosophie« mit folgenden Worten zusam5

258

Vgl. Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit, 3 Bände, Stuttgart 1882–1890, Nachdruck Darmstadt 1959.

mengefasst worden: »Die Arbeitslosigkeit hat nun auch nicht mehr als ein Heiliges gegolten, sondern, es wurde als das Höhere angesehen, dass der Mensch in der Abhängigkeit durch Tätigkeit und Verstand und Fleiß sich selber unabhängig macht. Es ist rechtschaffener, dass, wer Geld hat, kauft, wenn auch für überflüssige Bedürfnisse, statt es an Faulenzer und Bettler zu verschenken; denn er gibt es an eine gleiche Anzahl von Menschen, und die Bedingung ist wenigstens, dass sie tätig gearbeitet haben. Die Industrie, die Gewerbe sind nunmehr sittlich geworden, und die Hindernisse sind verschwunden, die ihnen von Seiten der Kirche entgegengesetzt wurden.«6 Geht man in der Geschichte des Christentums weiter, so wird dann im Rückblick aus dem 20. oder auch dem späten 19. Jahrhundert deutlich, dass diese reformatorischen Entwicklungen der Beginn auf dem Weg zum modernen Sozialstaat gewesen sind, in dem die Verwaltung und Aktivierung der Armen immer deutlicher zur Sache des Staates erklärt wird. Und in genau dieser Hinsicht ist die Entwicklung in Deutschland schon ausgehend von den staatspolitischen Lehren in der lutherischen Tradition, bis hin dann zur Begründung des bismarckschen Sozialstaates Ende des 19. Jahrhunderts, eine exemplarische Entwicklungsgeschichte. Insbesondere durch den aufstrebenden Kapitalismus im 19. Jahrhundert und das mit ihm verbundene Elend der Proletarier lassen sich nun mehrere Wege der Konfessionen im Blick auf die Armut aufzeigen: –

Es entwickeln sich in Deutschland und dann später relativ schnell auch in Skandinavien, also in Ländern, die über eine staatskirchliche Tradition lutherischer Manier verfügen – später ähnlich auch in Großbritannien –, Ansätze zu einer umfassenden sozialstaatlichen Verantwortung. Die Motivationen und sozialen Ideen hierfür werden in Deutschland durch Lorenz von Stein, den Erfinder der Sozialpolitik, gelegt und in Bismarcks Staatssozialismus aufgenommen.7 Das protestantische Potenzial besteht hier darin, dem »Sozialpapst« in Rom den »Sozialkaiser« in Deutschland entgegenzusetzen. Protestanten verbünden sich in dieser Hinsicht mit dem immer weiter sozi-

6

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Kapitel 49, in: Werke [in 20 Bänden], auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ed. Ausgabe (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 612), Bd. 12, Frankfurt/M. 21989, 503. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitisches Denken. Die deutsche Tradition, Frankfurt a. M. 2003.

7

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ale Aufgaben übernehmenden Staatsapparat und treiben die Entwicklung relativ erfolgreich bis zum Ersten Weltkrieg voran. Ebensolche Entwicklungen finden sich bei den Katholiken. Zugleich engagieren sich die Protestanten – parallel zu den Katholiken in Deutschland – in eigenen, wenn man so will, zivilgesellschaftlichen Assoziationen, den aufkommenden diakonischen Aktivitäten und der inneren Mission, deren Organisationen bis heute als Wohlfahrtsverbände in Deutschland eine enorme und weltweit einmalige Bedeutung haben. Der Sozialstaat, begründet als ein obrigkeitlich konservatives Projekt zur Eindämmung der revolutionären Energien der Arbeiterklasse, entwickelt sich über die Jahre immer mehr zu einer breit anerkannten Basis gesellschaftlicher und individueller Emanzipation und des Schutzes vor den Unsicherheiten des Lebens und der Natur, aber insbesondere dann auch gegenüber den Unsicherheiten des Kapitalismus. –

Ganz anders verlaufen in dieser Hinsicht die Entwicklungen in der reformierten Tradition, in Großbritannien und besonders in der USA.8 Hier kommt es nicht zur Entwicklung eines ausgebauten Sozialstaates. Dem bismarckschen Konzept ähnliche Initiativen entstehen in den USA erst in der Zeit des New Deals in den 1930er Jahren und dann noch später nach dem Zweiten Weltkrieg, erreichen aber nie das Ausmaß sozialstaatlicher Sicherung wie in Mitteleuropa. Soziale Sicherung erfolgt hier sehr viel stärker über zivilgesellschaftliche Aktivitäten, wie sie ganz stark durch religiöse Assoziationen wie den Kirchengemeinden eingebracht werden. Zudem bleibt soziale Sicherung sehr viel stärker an die Unternehmen und damit an die Ökonomie angekoppelt. Ein großer Teil, vor allem die Gesundheitsund Alterssicherung, erfolgt über diese Formen eines »sozialen Kapitalismus« in den USA. Vergleicht man allerdings die nüchternen Zahlen, so ist das Gesamtsozialbudget in den USA nicht kleiner als das in Mittel- und Nordeuropa – aber eben durch seine Entkoppelung vom Staatsapparat und deswegen in den Anreizwirkungen anders aufgestellt.

8

Siehe zum Vergleich: Steffen Mau, The Moral Economy of Welfare States. Britain and Germany compared, Routledge 2003. Sowie klassisch: FranzXaver Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M. 2003.

260

Da der primäre Anreiz darin besteht, zu arbeiten und sich selbst mit Arbeit zu erhalten, gelingt es immer wieder, die Arbeitslosigkeitsraten zu reduzieren und die Armutsquoten nach der primären Verteilung auf den Arbeitsmärkten insgesamt gesehen geringer zu halten als in Europa. Dass sie letztendlich in Europa dann doch geringer sind als in den USA, hängt mit der sekundären Umverteilung durch sozialstaatliche Maßnahmen zusammen, die es in dieser massiven Form in den USA nicht gibt. Das reformatorische Gebot zu arbeiten setzt sich folglich in dieser amerikanischen Tradition als der Leitwert auch sozialpolitischer Sicherung und Armutsbekämpfung immer wieder durch. –

Die katholischen sozialethischen Traditionen entwickeln in Deutschland einen großen Einfluss, der sich schon in der Unterstützung der Katholiken für die bismarckschen Sozialreformen zeigt, aber dann insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg durch die aktive Beteiligung katholischer Politiker und der katholischen Kirche an der Entwicklung des Sozialstaates von sehr großer Bedeutung ist. Dieser Einfluss setzt sich dann auch nach dem Zweiten. Weltkrieg fort. Prägend ist hier vor allem die immer wieder erfolgende Betonung des Subsidiaritätsprinzips, die in Deutschland zur Legitimierung der starken Rolle der Wohlfahrtsverbände beiträgt und auf dieser Weise einen weltweit gesehen einmaligen »Sozialstaatsmix« zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Form der Wohlfahrtsverbände generiert.

Abgesehen von Deutschland – und zwar insbesondere in den Ländern des Südens – kommt es allerdings aufgrund spezifischer politischer Bedingungen nicht zu ähnlichen Sozialstaatsentwicklungen wie in Mittelund Nordeuropa. Hier bleibt die soziale Sicherung vor allem an familiäre Solidaritätsformen gekoppelt, die zum Teil mit Formen des Klientelismus einhergehen. Entsprechendes ist auch in den orthodoxen Traditionen Griechenlands oder den Ländern des Balkans zu beobachten. Hier steht mithin sehr viel weniger das Individuum oder gar der Beruf Einzelner im Vordergrund der sozialstaatlichen Sicherung und Förderung, sondern es sind vielmehr die Familienverbände, die die Subjekte sozialer Sicherung darstellen, mit allen Inklusions- und Exklusionseffekten, die dazugehören.

261

Wohlfahrtskulturen und Wohlfahrtsregime Blickt man nun systematisch auf die verschiedenen konfessionell bedingten oder mit Konfession gekoppelten Wohlfahrtskulturen und Wohlfahrtsregime in der Entwicklung des Christentums, so werden die bereits historisch deutlich gewordenen Differenzen noch deutlicher.

Wohlfahrtskulturen So lässt sich zunächst allgemein zur christlichen Wohlfahrtskultur sagen, dass die Postulate christlicher Nächstenliebe in moderner Zeit oft anhand des Narrativs vom barmherzigen Samariter, in früheren Zeiten allerdings wie erwähnt anhand des Gleichnisses vom großen Weltgericht begründet, überall durchhalten. Dabei artikuliert sich christliche Nächstenliebe je nachdem, in welche spezifischen kulturellen Entwicklungen sie eingebunden ist, durchaus unterschiedlich. Über die Familie artikulierte Nächstenliebe weist andere Formen auf als solche, die sich zivilgesellschaftlich assoziativ oder gar staatlich organisiert äußert. In dieser Hinsicht gibt es z. B. einen markanten Unterschied zwischen Europa (inkl. Deutschland) und den USA, was das individuelle Spendenverhalten anbetrifft. So ist das Spendenverhalten in Europa aufgrund sozialstaatlicher oder familiärer Bezogenheit deutlich restriktiver als in den USA: 2014 betrug das Gesamtspendenvolumen in Deutschland 4,5 Milliarden Euro, in den USA aber 316 Milliarden Euro, was zu gewaltigen Differenzen im Blick auf das Spendenverhalten der einzelnen Menschen führt.9 Der puritanische arbeitsbezogene Aktivismus fördert und fordert aus sich heraus die Bezogenheit auf eigene zivilgesellschaftliche Aktivität, während in Deutschland das staatsbezogene Verhalten über das Zahlen von Steuern und Sozialbeträgen zu einem spezifischen Anspruchsverhalten führt. Auch zeigen viele Statistiken, dass die Erfahrung der Hilfe von Mensch zu Mensch, also der direkten Hilfe, in den USA weit stärker ausgeprägt ist als in den europäischen Kulturen. Herkömmlich sind wir gewohnt, die Dinge anders zu akzentuieren, da die USA traditionell sehr viel höhere Armutsquoten aufweisen und auch zum Teil aufgrund von Slumentwicklung, Gewalttätigkeit usw. als eine sehr viel weniger sozialstaatlich regulierte Gesellschaft erscheinen. Betrachtet man jedoch Umfragen, was das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger anbetrifft, so unter9

262

Vgl. zum Gesamtkomplex Britta Grell/Christian Lammert, Sozialpolitik in den USA. Eine Einführung, Wiesbaden 2013.

scheidet sich dieses in den USA kaum von dem in Deutschland – was nur durch das Verhaftetsein in zwar unterschiedlichen, in beiden Fällen aber christlich geprägten Kulturen zu erklären ist.10 Von ganz großer Bedeutung ist zudem in allen christlichen Wohlfahrtskulturen die Ökonomie. Schon im historischen Durchgang ist deutlich geworden, wie wichtig die Inklusion der Armen in Arbeit als einer Maßnahme gegen Armut ist. In den lutherischen und reformierten Traditionen kann sie geradezu empathisch gefeiert werden: Martin Chemnitz, einer der Begleiter von Martin Luther, konnte so von der Ökonomie als einer »Werkstatt der Liebe« sprechen, was sich mit Luthers deutlicher Distanz, ja Kritik gegenüber dem aufkommenden frühen Kapitalismus verbindet. Nicht nur dass es im lutherischen Ethos um die Inklusion der Armen in irgendeine Arbeit ginge, sondern es geht auch um die Gestaltung einer Wirtschaft mit allen, in der sich tatsächlich ein Arbeitsethos als Arbeit für andere, d. h. eines Ethos der Arbeit als gelebter Liebe entfalten kann. Anders verläuft dies in den reformierten Traditionen, in deren Kernländern England, Schottland, USA sich im 18. und 19. Jahrhundert mit großer Massivität der ökonomische Liberalismus entwickelt und sich mit protestantischen Überzeugungen verbindet. Max Weber hat bekanntlich den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und dem christlichen Glauben aufgezeigt. Dabei kann man aus seiner Darstellung lernen, wie in der reformierten Tradition die Prädestinationsvorstellung verbunden mit asketischer Arbeitsethik zur Verfleißigung der Bevölkerung geführt hat, aber nicht im Sinne eines Arbeitsethos als Dienst für andere, sondern eben eines asketischen Ethos der Arbeit, die ich als Selbstzweck oder für mich selbst erbringe. Als Kollateralfolge aus diesen Entwicklungen entsteht letztendlich der Kapitalismus, d. h. die Verselbstständigung des Profit- und Erwerbsinteresses als solchem. Auch mit diesen Traditionen geht allerdings immer das Ziel der Abschaffung der Armut einher. Der aufstrebende Kapitalismus legitimiert sich bei Adam Smith und anderen dadurch, dass er letztendlich am effektivsten die Armut bekämpfen kann, 10

Ein umfassender Vergleich mit islamischen oder anders religiös geprägten Kulturen ist immer noch mangels relevanten Datenmaterials kaum möglich. Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass sich bei näherer Betrachtung die Verhältnisse relativieren und die meisten Wohlfahrtskulturen in ihrer effektiven Leistungsfähigkeit ähneln. Vgl. dazu z. B. Amy Singer, Charity in Islamic Societies, Cambridge 2008, 223 etc. und auch Alan Walker/Chack-kie Wong (Hg.),: East Asian Welfare Regimes in Transition, Bristol 2005.

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was das mittelalterliche Christentum eben nicht konnte. Erstmals zeigt sich hier eine Perspektive, die Armut generell zu überwinden. Demgegenüber bleiben lutherische Theologen und lutherische Politiker skeptisch und lehnen Formen des Radikalkapitalismus (im 19. Jahrhundert »Manchester Kapitalismus«, heute »Neoliberalismus«) deutlich ab. Ja, einzelne entwickeln im 19. Jahrhundert Vorstellungen eines spezifischen christlichen konservativen Staatssozialismus, der deutlich in eine andere Richtung weist und sich faktisch in sozialpolitischen Maßnahmen niederschlägt. Wenn man so will, entsteht aus der reformierten Fokussierung auf das sich verselbstständigende Arbeitsethos der Kapitalismus und aus der lutherischen Fokussierung auf den Beruf aus Arbeit für andere letztendlich der Sozialismus, wenn auch zunächst als konservativer Staatssozialismus, dann später aber auch in anderen Formen.11 Diese Traditionen schlagen sich dann zunächst protestantisch, aber insgesamt konfessionsübergreifend, nach dem Zweiten Weltkrieg in der Entwicklung der deutschen sozialen Marktwirtschaft nieder. Die entsprechenden Freiburger Traditionen12 erwachsen auf der Basis des Christentums und versuchen, in einer sinnvollen Form die Potenziale des sich autonom entfaltenden Konkurrenzkapitalismus mit den Anforderungen des sozialen Ausgleichs zu verbinden. In gewisser Hinsicht stellt so die deutsche soziale Marktwirtschaft ein durchaus christlich inspiriertes Gesellschaftsmodell dar, das sich mal mehr, mal weniger an amerikanische Traditionen, aber dann eben auch an klassisch sozialistische Traditionen anlehnen kann. Einen wichtigen Baustein in dieser ökonomischen Bekämpfungslinie der Armut stellen übrigens in Deutschland die Genossenschaften dar. Die Genossenschaftsbewegung in Deutschland ist vor allem in einer Linie von Friedrich-Wilhelm Raiffeisen aus christlichem Geist erwachsen. Raiffeisen entwickelte die ersten Genossenschaftsideen in der armutsgeprägten Gegend des Westerwalds als altruistische Genossenschaften, in denen die Reichen mit ihrem Reichtum christlich in die Pflicht genommen wurden, um Kapital einzuzahlen, das dann in Form von Minikrediten an die Armen weitergegeben werden sollte. Rein altruistisch haben 11 12

264

So die These bei Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus, Göttingen 1971, S. 342 ff. Vgl. zum Hintergrund die Dokumente bei Nils Goldschmidt/Michael Wohlgemuth (Hg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen 2008. Zur aktuellen Debatte um die konfessionellen Bezüge der Sozialen Marktwirtschaft: Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Band 4: Zauberformel Soziale Marktwirtschaft?, Gütersloh 2010.

sich diese Genossenschaften nicht halten können, sondern entwickelten sich erst wirklich, als sie Genossenschaften auf Gegenseitigkeit wurden. Was aber die weltweite Bedeutung anbetrifft, so sind die Raiffeisengenossenschaften bis heute eine ganz wesentliche Form der Kooperation gegen Armut. Und schließlich der Neoliberalismus unserer Zeit! Auch er beruht im Hintergrund durchaus auf protestantischen reformierten christlichen Traditionen. Viele der Politiker, die ihm zum Durchbruch verhalfen, wie Margaret Thatcher oder Bush und Reagan, haben sich als fromme reformierte Christen dargestellt und ihr politisches Handeln von ihrem Glauben her begründet. Auch hier wird das Freisetzen der Markt- und Konkurrenzkräfte im Blick auf eine Abschaffung von Armut legitimiert. Man kann große Zweifel haben, besonders aus europäischer Tradition, ob sich diese Verheißung jemals realisieren wird und nicht vielmehr das Gegenteil eintritt. Man kommt aber an dieser Stelle nicht drum herum, auch den Neoliberalismus als Teil der christlichen Wirkungsgeschichte zu verstehen.

Wohlfahrtsregime Von ganz entscheidender Bedeutung sind sodann Wohlfahrtsregime, die einen Sozialstaat beinhalten bzw. auf Wohlfahrtsstaatlichkeit setzen. Diese weltweit einmaligen, gegen soziale Unsicherheit sichernden Gesellschaftsformen entstehen vor allem in Mittel- und Nordeuropa. Sie schließen an politischen Diskussionstraditionen der großen Philosophen wie Christian Wolff oder Pufendorf an, die schon im 17. und 18. Jahrhundert das Erreichen sozialer Zwecke, ja das Erreichen der Glückseligkeit der Menschen, als Staatszweck propagierten und von dem Satz, dass der »homo homini lupus« sei, nicht viel hielten. Hier entstehen deutliche Gegenentwürfe gegenüber Hobbes und anderen. Letztendlich im 19. Jahrhundert entstehen dann – beruhend auf nationalen Gemeinschaften – einmalige soziale Sicherungssysteme gegen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit, Alter usw. Die Entwicklung setzt Ende des 19. Jahrhunderts ein und ist bis heute noch nicht an ihr Ende gekommen. Entscheidende Triebkraft für den Ausbau dieser Staaten ist die Erkenntnis, dass sich staatsbürgerschaftliche Rechte nicht wirklich realisieren lassen, wenn sie nicht mit sozialen Rechten gekoppelt sind und auf ihnen basieren. Einen besonderen Schub gewinnt diese Sozialstaatsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. In vielen Ländern der Welt haben die Gemeinschaftserfahrungen des Zweiten Weltkrieges 265

eine enorme Triebkraft für den sozialen Zusammenhalt nach dem Zweiten Weltkrieg abgegeben, so insbesondere gerade auch in Großbritannien, das sich in den 1950er und 1960er Jahren mit sozialstaatlichen Innnovationen besonders hervortut. Aber ähnlich auch die Entwicklung in Deutschland mit der Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung und vieler sozialer Reformen bis heute. Schaut man auf Indikatoren, so schneiden heute regelmäßig die skandinavischen Länder am besten ab. Deutschland rangiert dann im oberen Mittelfeld und Länder wie Großbritannien oder Frankreich ganz ähnlich. Allerdings sehen sich diese Wohlfahrtsstaaten seit einigen Jahren immer wieder Bedrohungen im Blick auf die Leistungsfähigkeit der sie finanzierenden Wirtschaft, angesichts demografischer Krisen und vor allem von individualisierten Bedürfnisstrukturen der Menschen gegenüber. Wie sie sich in Zukunft genau entwickeln werden, ist durchaus offen. Länder wie Großbritannien haben den Sozialstaat deutlich zurückgefahren, aber auch in Schweden ist dies der Fall. In Deutschland lässt sich von einem Rückbau des Sozialstaates insgesamt nichts feststellen, interne Veränderungen jedoch im Sinne der Einführung von sehr viel stärkeren ökonomistischen Anreizen, der Vermarktlichung der sozialen Dienste und der Entwicklung von Konkurrenzbeziehungen sind deutlich. Auch die Behandlung der Armen ist in Deutschland durch die Änderungen des SGB II (sprich Hartz IV) deutlich anders geworden. Das Spektrum einer Tolerierung der Armen, das es, wenn man so will, in der früheren Sozialhilfe oder der Arbeitslosenhilfe noch gab, ist deutlich geringer geworden. Der deutsche Sozialstaat ist zudem durch die Wohlfahrtsverbände geprägt. Über sie nimmt die Zivilgesellschaft bzw. nehmen insbesondere auch gerade die großen Kirchen Einfluss auf die Sozialstaatsentwicklung, ein entsprechendes Modell findet sich in anderen Ländern nicht. Neben sozialstaatlichen Formen als den fortgeschrittensten Wohlfahrtsregimen finden sich in vielen Ländern der Welt Wohlfahrtsstrukturen, die auf zivilgesellschaftliche Aktivierung und auf entsprechenden Assoziationen basieren. Dies gilt auch in einem starken Maß für Deutschland und hat hier eine grundlegende Bedeutung. Die deutschen Wohlfahrtsverbände sind zum größten Teil im 19. Jahrhundert entstanden und durch die staatliche Gesetzgebung der Weimarer Republik und dann auch der Bonner Republik deutlich privilegiert worden und decken nach wie vor im ganz großen Ausmaß die sozialen Dienste in Deutschland ab. Zurzeit beschäftigen die Wohlfahrtsverbände 1,6 Mio. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, gut 2/3 davon arbeiten entweder bei der Caritas 266

oder bei der Diakonie. Im Bereich der wichtigen Sozialdienste wie Kinder- und Jugendhilfe, Kindertagesstätten, Behinderte und etwas geringer in der Altenhilfe und bei Krankenhäusern decken die konfessionellen Verbände erhebliche Leistungsspektren ab; sie wachsen zurzeit um 2 bis 3 % im Jahr.13 Bei ihnen handelt es sich um einen rechtlich besonders gestalteten Bereich, in dem keine private Anrechnung von Gewinnen erfolgen darf. Sie sind prinzipiell mit den Kirchen und damit auch mit Gemeinden vor Ort gekoppelt. In dieser Hinsicht gehört zu ihnen auch ein großer Anteil von ehrenamtlich Tätigen, die sich in besonders prekären Feldern wie der Armutsbekämpfung, über Tafeln oder des Einsatzes für Flüchtlinge engagieren. Das Land der zivilgesellschaftlichen sozialen Sicherung sind jedoch die USA. In ihr werden über »faith based« soziale Dienste in den Kirchengemeinden eine ungeheure Zahl von Sozialleistungen erbracht. Nach Aussagen vieler ersetzen diese sozialen Dienste den Sozialstaat. Seit der neoliberalen Wende gibt es hier auch eine vorher nicht gekannte Form der staatlichen Finanzierung über das »Office of faith based initiatives« im Weißen Haus. Zu diesen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten kann man dann auch das zählen, was als »hidden welfare« bezeichnet wird: eine informelle Wohlfahrtsform z. B. durch die Erbringung mittelbarer Sozialleistungen, die durch Steuerabzüge gefördert werden kann (z. B. bei Altersrenten, im Fall von Eigenheimhypotheken, Einstellungen von Arbeitern u. a. m.). Ein drittes Wohlfahrtsregime funktioniert über die Absicherung sozialer Sicherung durch die Familienverbände. Dies ist sicherlich das weltweit wichtigste Wohlfahrtsregime. Es findet sich in den asiatischen Kulturen, aber insbesondere dann auch in den christlichen Kulturen Südeuropas. Insbesondere die Risiken von Behinderung, Armut, Alter und Krankheit werden über Familien abgedeckt. Die Familie ist zudem der Transmissionsriemen der Religion. Als ein besonderes Feld der Bekämpfung von Armut sei zudem noch das Feld von Menschen mit Behinderungen erwähnt. An dieser Stelle sei auf das deutsche Modell SGB XII hingewiesen, weil Behinderte normalerweise schnell unter Armutsgefährdung leiden können. In Deutschland 13

Vgl. zu diesem Komplex insgesamt sehr gut die Übersichten bei: Holger Backhaus-Maul/Karsten Speck/Miriam Hörnlein/Maud Krohn, Engagement in der freien Wohlfahrtspflege. Empirische Befunde aus der Terra incognita eines Spitzenverbandes, Wiesbaden 2014.

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ist dem jedoch durch ein relativ großzügiges Förderungsmodell für Behinderte ein Riegel vorgeschoben. Die entsprechende Förderung schließt an die Aktivitäten für Behinderte an, die in den Wohlfahrtsverbänden seit dem 19. Jahrhundert und auch schon vorher erbracht worden sind, dann aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich gesteigert wurden.

Ausblick Es lassen sich vielfältige Wege der Realisierung der Option für die Armen innerhalb des Christentums aufzeigen. Allerdings wird nicht immer explizit Bezug auf diese Option für die Armen genommen. Oftmals ist es de facto auch so, dass sich die Einsatzmöglichkeiten für die Armen und gegen die Armut aufgrund sozialpolitischer Innovationen ergeben, die seitens der Arbeiterbewegung durchgesetzt worden sind. So macht dieser Durchgang deutlich, dass es im Christentum selten nur um irgendwelche isolierten Optionen ging, sondern dort, wo wirklich erfolgreich etwas gegen Armut unternommen worden ist, handelt es sich um ganze Gesellschaftsmodelle, in denen der konsequente Kampf gegen Armut auf verschiedenen Ebenen – der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft, der Familie usw. – einsetzt. Fragt man nach der Zukunft des Verhältnisses von Armut und Christentum, so zeigen sich insbesondere in Ländern mit entwickelten Sozialstaaten und einer sehr guten Sicherung vor sozialen Risiken durchaus paradoxe Effekte auf religiöse Vitalität und kirchliches Leben. Hier sieht es so aus, dass die entsprechende Entwicklung durchaus umgekehrt proportional ist: je mehr Sozialstaat, desto weniger Religion.14 Was aber auch in diesen Fällen bleibt, ist der Einsatz der Christen für Marginalisierte, die bisher in das Konzept universalisierter sozialer Rechte noch nicht einbezogen sind, wie die neuen Armen, aber auch wie Flüchtlinge. Letztendlich aber scheint es so zu sein, dass die konfessionellen Gegensätze innerhalb des Christentums, nach wie vor untergründig, durchaus konfliktreich die weitere Entwicklung Europas bestimmen. Als ein sicherlich überraschendes Beispiel sei an dieser Stelle der griechische Großunternehmer Mytilineos zitiert, der auf die Frage, wie Europa sein Land behandelt hätte, richtig wütend wird und alles für falsch hält. Und 14

268

Diese These vertreten z. B. Pippa Norris/Ronald Inglehart, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge ²2011, 281.

dann weiter gefragt, warum dies so sei, antwortet er: »Religiöser Fanatismus« und wird fast schneidend im Ton: »Das hat viel mit dem deutschen Protestantismus zu tun.«15 Der Mann, der gewiss kein Linker ist, wirft der deutschen Regierung vor, sie wolle die Südländer nach ihrer Art selig werden lassen. An dieser Stelle des Gegensatzes zwischen der griechisch-orthodoxen Kultur und dem preußisch-puritanischen Organisationswahn entzünden sich zurzeit anscheinend untergründige konfessionelle Gegensätze. Zum Glück werden sie nicht zwischen den Kirchen selbst ausgetragen. Aber deutlich ist: Ohne eine gemeinsame europäische Sozialpolitik, entsprechende Sozialversicherungen etc., wird es auf die Dauer nicht gehen. Dies wiederum kann nur auf der Basis einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik funktionieren. Initiativen in diese Richtung wären sicherlich der heute entscheidende Beitrag des Christentums zur Armutsproblematik.

15

Süddeutsche Zeitung vom 31. Jan. 2015, S. 3.

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Soziale Dienste und ihre theologischen Grundlagen Islamische Beiträge zum Wohlfahrtsstaat Mouez Khalfaoui

Weltweit gilt etwa ein Drittel der Muslime als »arm«. In zahlreichen muslimischen Staaten gibt es außerdem ein sehr hohes Maß an Korruption. Zudem herrscht in diesen Ländern eine große Kluft zwischen Armen und Reichen.1 Vergegenwärtigt man sich diese Ungleichheit, Korruption 1

270

So sprechen die aktuellen Daten für die 56 Mitgliedstaaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit von 35 % »Armen« im Sinne einer mehrdimensionalen Armutsdefinition (insg. 465 Millionen im Jahr 2014, d. i. 29 % der insg. 1,6 Milliarden »Armen« in diesem Sinne); »arm« unterhalb der internationalen Armutsgrenze von 1,25 $ pro Tag werden für 2011 inzwischen nur noch 22,3 % genannt (im Gegensatz zu 41,1 % für 1990), vgl. Measurement of Poverty in OIC Member Countries 2015 vom 04.06.2015, 6, http://www.sesrtcic.org/publications-detail.php?id=336. Auch Monir Hossain Moni, Islam and Poverty, in: Mehmet Odekon (Hg.), Encyclopedia of World Poverty, London 2006, 580–585, 583, spricht davon, dass weltweit 1/5 der Muslime weniger als 1 $ pro Tag zur Verfügung hat. Im historischen Vergleich siehe die umfassende Auswertung von Muhammad A. Mannan, Economic Development and Social Peace in Islam: An Analytical Study of the Process of Economic Development in the Muslim Community of Today, London 1990, worauf auch Bezug nimmt: Mustafa Köylü, Islam and its Quest for Peace: Jihad, Justice and Education, Washington DC 2003, 17; zu Verhältnissen in und seit den 1990er Jahren, weiteren Kontextfaktoren und insb. dem Einfluss von Bildungsaufwendungen, vgl. William Wager Cooper/Piyu Yue, Challenges of the Muslim World: Present, Future and Past, Amsterdam/Oxford 2008, 180 ff.; weitere jüngere Daten sind entnehmbar u. a. den UNDP Human Development Reports, dem Bericht der Islamic Development Bank oder dem Human Development Index; vgl. z. B. auch Aimatul Yumina, A sustainable Islamic microfinance model in poverty alleviation, in: Matthew Clarke (Hg.), Handbook of Research on Development and Religion, Cheltenham 2013, 286–304; Charles F. Bingman, Governments in the Muslim World: The Search for Peace, Justice, and Fifty

und Armut, dann stellt sich die Frage, welche Rolle die Normen des islamischen Glaubens, wie Gleichheit, gegenseitige Hilfe, Barmherzigkeit und Unterstützung der Bedürftigen, in diesen Ländern spielen. Wie kann die Kluft bzw. der Widerspruch zwischen den ideellen religiösen Normen und der Wirklichkeit so groß sein? Liegt es an der falschen Umsetzung der religiösen Normen oder an den Normen selbst, wie einige Ökonomen behaupten?2 Und welche Lösungen bietet die islamische Theologie für diese Probleme? In diesem Beitrag stelle ich einige Grundzüge des muslimischen Wirtschaftsdenkens im Hinblick auf das Verhältnis und die Bedeutung von Armut und Reichtum vor. Dabei wird die muslimische Konzeption von »Wohltätigkeit« und »Sozialstaat« im Vordergrund stehen. Danach werden gegenwärtige Debatten der muslimischen Wirtschaftsethik einbezogen, insbesondere zur Frage, wie das Problem der Armut aus muslimischer Sicht gelöst werden könnte.

1. Die islamische Wirtschaftsethik und die Frage der Armut Zweifellos stammen die meisten Aussagen über Armut und Reichtum im Islam aus dem Koran und der Tradition des Propheten Muhammad. Der Koran stellt sich entschieden auf die Seite der Armen. Den Reichen, die Geld und Gold horten, anstatt den Armen zu geben, prophezeit er ein Leben in der Hölle: »(…) Denjenigen nun, die Gold und Silber horten und es nicht um Gottes willen spenden, verkünde (dass sie dereinst) eine schmerzhafte Strafe (zu erwarten haben), am Tag (des Gerichts), da es im Feuer der Hölle erhitzt wird und ihnen Stirn, Seite und Rücken damit gebrandmarkt werden (während zu ihnen gesagt wird): Das ist das, was ihr für euch gehortet habt. Nun bekommt ihr es (leibhaftig) zu fühlen.«3 Um einen Ausgleich zwischen den Armen und den Reichen zu erzielen, ruft der Koran Muslime dazu auf, Zakāt (Eigentumssteuer) und Ṣadaqa

2 3

Million New Jobs, Bloomington, IN 2013, bes. Kap. 7: Social Services, 271 ff. Abdul Ghanie Ghaussy, Das Wirtschaftsdenken im Islam: Von der orthodoxen Lehre bis zu den heutigen Ordnungsvorstellungen, Bern 1986. Sure 9,34–35; wie alle folgenden Koranstellen in der Übersetzung Rudi Parets.

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(freiwillige Almosen) als freiwillige Hilfe für bedürftige Menschen zu leisten.4 Im Gegensatz zu den vorislamischen Bräuchen – in denen Reiche durch solche Hilfemaßnahmen die Armen erniedrigten und von sich abhängig machten, beispielsweise durch Gefangenschaft und Sklaverei5 – betrachtet der Koran die Hilfe der Reichen an Bedürftige als Reinheitsgebot: »Nimm aus ihrem Vermögen eine Almosengabe (ṣadaqa), um sie damit rein zu machen und zu läutern (tuṭahhiruhum wa-tuzakkīhim bihā), und sprich den Segen über sie (ṣalli ʿalaihim)! Dein Segen (ṣalāt) ist eine Beruhigung für sie. Gott hört und weiß (alles).«6 Des Weiteren gelten Almosen im Koran nicht nur als freiwillige Abgaben, sondern als ein natürliches Recht der Armen, was sich unter anderem darin zeigt, dass in muslimischen Gesellschaften Almosen von jedem Bürger in Form von Steuern bezahlt werden müssen. Die Reichen werden daher gebeten, die Armensteuer umgehend zu zahlen: »(…) [und] die, in deren Besitztum ein bestimmter Anteil ist, dem Bittenden und Unbemittelten zu überlassen (…)«.7 Michael Bonner merkt an, dass der erste Krieg nach Muhammads Tod nicht zum Zweck der Verbreitung des Islams geführt wurde, sondern um das Recht der Armen zu verteidigen. Denn nach dem Tod Muhammads weigerten sich zahlreiche Stämme Arabiens, die Steuer zu zahlen, die den Armen zu Gute kommen sollte. Sie begründeten dies damit, dass sie diese Steuer Muhammad gezahlt hatten, Muhammad jedoch nicht mehr lebe und es deshalb keinen Anlass mehr gebe, ihren Steuerpflichten weiterhin nachzukommen. Abū Bakr (gest. 634), der erste muslimische Kalif und Befehlshaber der damaligen muslimischen Armee, rechtfertigte den Krieg gegen abtrünnige arabische Stämme mit der Aussage, dass selbst eine Ziege, die als »Steuerabgabe« verweigert wird, Grund zum Kampf

4 5 6 7

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Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen ist immer noch unklar; sie werden oft verwechselt. Es fehlt an klaren Abgrenzungen und gründlicher Forschung dazu. Michael Bonner, Poverty and Charity in the Rise of Islam, in: Amy Singer (Hg.), Poverty and Charity in Middle Eastern Contexts, Albany (NY) 2003, 13–30. Sure 9,103. Sure 70,24–25.

sei.8 Die ersten muslimischen Staaten sahen es als Pflicht an, Steuernund Almosen von den Reichen zu sammeln und unter den Bedürftigen zu verteilen. Viele arme Bürger fühlten sich dadurch vom Staat geschützt. Sie empfanden ihre Armut auch nicht als Nachteil. Zu diesem Zeitpunkt war Frömmigkeit, als ein fester Bestandteil des Glaubens, tief in der Gesellschaft verankert. Teilweise wurde das kontinuierliche Beten dem säkularen Alltagsleben sogar vorgezogen und gepriesen. Mit anderen Worten: Für viele fromme Muslime der islamischen Frühzeit bedeutete Armut ein kontemplatives Leben zu führen und dafür Armut stolz »in Kauf« zu nehmen. Armut gleicht damit einer religiös wertvollen Auszeichnung. Diese Haltung ließ im Laufe der Zeit allmählich nach.9 Sobald sich der Islam zu Beginn des 9. Jahrhunderts weiträumig ausgedehnt hatte sowie neue Märkte erschlossen und globale Handelsbeziehungen geknüpft wurden, wandelte sich die Wirtschaft in ein ökonomisches Mikro-Konzept um. Zuvor bestand die wirtschaftliche Konzeption des muslimischen Staates, etwa in Medina unter den ersten Kalifen, aus einer Makro-Ökonomie im Sinne eines »Sozialstaates«, der Almosen und Steuern von den Reichen sammelte und an Arme und Bedürftige verteilte. Durch den Ideologiewandel wurden Menschen zur Erwerbsarbeit motiviert und der Staat entzog sich allmählich seiner Verantwortung, für das Aufkommen der Armen und Bedürftigen zu sorgen. Diese Entwicklungen wurden im Zuge des Übergangs von den Umayyaden zu den Abbasiden, Mitte des achten Jahrhunderts, zunehmend sichtbar.10 Kurz und mit den wirtschaftlichen Maßstäben unserer Zeitepoche gesprochen, scheint in den ersten zwei Jahrhunderten der muslimischen Kultur Armut ein Merkmal der muslimischen Gemeinde gewesen zu sein. Dies hing mit der wirtschaftlichen Situation Arabiens zusammen. Im Gegensatz dazu wurde Reichtum in der zweiten Epoche zunehmend als Merkmal erfolgreicher Gesellschaften gewürdigt.11 8 9 10

11

Vgl. Bonner, Poverty (s. Anm. 5); siehe auch Bukhārī, Kitāb-uz-Zakāt (Das Kapitel über die Zakāt) (Nr. 1455 / 2.535–536). Ebd. M. Bonner, The Kitāb al-kasb Attributed to al-Shaybānī: Poverty, Surplus, and the Circulation of Wealth, in: Journal of the American Oriental Society 121 (2001), 410–427. Siehe bzgl. des Umgangs mit Armut in den ersten muslimischen Gemeinden sowie unter den Umayyaden: Bonner, Poverty, Anm. 5. Eine ausführliche Darstellung dieser wirtschaftlichen Transition von den Umayyaden zu den Abasiden ist bei El-Ashker und Wilson zu finden, vgl. Ahmed El-Ashker/Rodney Wilson, Islamic Economics: A short History, Brill, Leiden 2006, 155 ff.

273

Wie bereits erwähnt, finden sich die meisten theoretischen Anweisungen über Armut und Reichtum im Koran. Verkörpert werden sie insbesondere in der Person des Propheten Muhammad. Seine Rolle bestand nicht nur darin, den Menschen die Botschaft Gottes zu vermitteln, sondern auch, altarabische Einstellungen und Handlungsanweisungen zu reformieren. Daher berichteten die Gefährten des Propheten Muhammad, dass er sie (die Gefährten) von überkommenen Konzepten und Handlungsbräuchen befreit und mit neuen Werten erfüllt habe.12 Interessanterweise zählt hierzu zuvorderst eine Neudefinition von Reichtum und Armut.

1.1 Was ist Armut? Was ist Reichtum? In einer lehrreichen Lektion richtete der Prophet Muhammad folgende Frage an seine Gefährten: »Was bedeutet es, arm zu sein?« Sie antworteten, dass der Arme weder Geld noch Vermögen habe. Der Prophet erwiderte jedoch, dass der Arme derjenige sei, der über keinen starken Glauben verfüge.13 Bei einer anderen Gelegenheit fragte der Prophet seine Gefährten nach der Bedeutung des Reich-Seins. Sie antworteten, dass der Reiche derjenige sei, der über Geld und Macht verfüge. Muhammad sagte daraufhin, dass der Reiche nicht derjenige sei, der viel Geld habe, sondern derjenige, dessen Herz voll Glauben (Imān) sei. Diese Antwort stellt bereits in Ansätzen dar, wie das Problem der Armut aus muslimischer Sicht gelöst werden könnte: durch eine Abkehr von materialistischen Wertungen, hin zu einer moralischeren Perspektive auf Menschen und Güter. Arm und reich sind nach Muhammads Neudefinition zwei moralische Werte, mit denen er nicht nur auf eine Rektifikation der herrschenden Wirtschaftsethik abzielte, sondern auch auf eine Überwindung von vorislamischen Konzepten und Bräuchen. Demnach war die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur eine Kluft zwischen denjenigen, die viel, und jenen, die wenig Geld besaßen, sondern auch eine Beziehungskonstellation, in der die Armen erniedrigt und von den Reichen als Ob12

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Diese Erzählung wird dem Prophetengefährten Ibn Masud zugeschrieben, oft in der Literatur der Sira (Prophetenbiografie) erwähnt und in späterer Literatur rezipiert. Vgl. u. a. http://www.oman-e-library.com/uploads/default/ books/asira_anabawiya.pdf, 185. Vgl. den Hadith Nr. 6081 bei al-Bukhari und die Kommentierung durch alAsqalani: Ibn-Ḥaǧar al-ʿAsqalānī, Fatḥu ʾl-bārī bi-šarḥ Ṣaḥīḥi ʾl-Buḫārī (Kommentar zur Hadith-Sammlung des al-Bukhari), Kitāb ar-Riqāq, Dar arRayyan Litturath, Kairo 1988, Hadith Nr. 6081.

jekte bzw. als Besitz betrachtet wurden.14 Durch die Neudefinition von Armut und Reichtum findet eine Kehrtwende statt: Der (materiell) Arme wird als (in moralischer/religiöser Sicht) reich bezeichnet und der Reiche als arm. Nichtsdestotrotz beabsichtigte Muhammad durch seine Anweisungen an die Muslime nicht die Entmachtung der Reichen oder etwa die Errichtung eines Königreichs der Armen. Sein Ziel war es vielmehr, einen sozialen Ausgleich zwischen Reichen und Armen zu schaffen. Verwirklicht wird dieser Ausgleich in dem muslimischen Konzept des Mittelstandes (al-Wasaṭiyya), dessen Leitbild der folgende Koranvers ist: »Mach nicht, dass deine Hand (gleichsam) an deinen Hals gefesselt ist! Aber streck sie (auch) nicht vollständig aus (indem du hemmungslos Geschenke austeilst), damit du (schließlich) nicht getadelt und (aller Mittel) entblößt dasitzt!«15 In der historischen Entwicklung von Armut und Reichtum in der muslimischen Kultur ist insbesondere die Zeit zwischen dem achten und dem zehnten Jahrhundert von großer Relevanz. In dieser Zeitepoche ist die literarische Gattung der Abhandlungen über den Erwerb (kasb) entstanden.16 Sie berichtet von den Auseinandersetzungen zwischen zwei theologischen Hauptströmungen: Auf der einen Seite standen Asketen, Sufis und eine große Anzahl von Muslimen, die die Hauptaufgabe des Menschen ausschließlich im Gottesdienst sahen.17 Sie bevorzugten Armut und begründeten dies mit dem Koranvers: »Und ich habe die Dschinn und Menschen nur dazu geschaffen, dass sie mir dienen. Ich will von ihnen keinen Unterhalt haben, und ich will nicht, dass sie mir zu essen geben. Gott ist es, der (allen) Unterhalt beschert (ar-razzāqu) und Macht und Festigkeit zu eigen hat (ḏu l-qūwati l-matīn).«18

14 15 16

17 18

Bonner, Poverty, (s. Anm. 5), 393 f. Sure 17,29. Vgl. dazu Necmettin Kizilkaya, Die rechtliche und mystische Debatte über Erwerb (kasb) und die Entstehung der kasb-Literatur, in: Mouez Khalfaoui/Matthias Möhring-Hesse (Hg.), Eine Arbeitsgesellschaft – auch für Muslime: Interdisziplinäre und interreligiöse Beiträge zur Erwerbsarbeit, Münster 2015, 225–232. Johannes Christian Wichard, Zwischen Markt und Moschee, wirtschaftliche Bedürfnisse und religiöse Anforderungen im frühen islamischen Vertragsrecht, Paderborn 1995, 37–44. Sure 51,56–58.

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Die andere Strömung wurde von jenen Rechtsgelehrten vertreten, die sich auf die These beriefen, dass Menschen für ihren Lebensunterhalt selber sorgen müssten und sich erst danach dem Beten widmen dürften. Sie verwiesen darauf, dass auch die Propheten verschiedenen beruflichen Tätigkeiten nachgingen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.19 Das Buch »Al-Kasb« (das Buch über den Erwerb) des berühmten hanafitischen Gelehrten Muḥammad aš-Šaybānī (gest. 805) zählt zu den wichtigsten Büchern, das sich dem Thema der Armut und des Reichtums widmet.20 Dieses Buch wurde angeblich geschrieben, um die neue Verteilungs-, Steuer- und Wohlfahrtspolitik der Dynastie der Abbasiden in der Mitte des achten Jahrhunderts zu rechtfertigen. Die Abbasiden schafften die Strukturen der Almosen und Steuern des nomadischen (Sozial-)Staates ab und errichteten stattdessen eine Politik der selektiven Interessenvertretung, die vor allem auf den ökonomischen Reichtum des Staates ausgerichtet war. Der Hauptakzent des Buches von aš-Šaybānī sowie zahlreicher nachfolgender Literatur zu diesem Thema lag auf der Motivation der Menschen zur Erwerbsarbeit. Christian Wichard betrachtet daher aš-Šaybānīs Buch als einen Versuch, einen Ausgleich zwischen Religiosität bzw. Frömmigkeit und Arbeit und im weiteren Sinne zwischen Armut und Reichtum zu erzielen.21 Zusammenfassend kann man sagen, dass in der ersten Epoche der muslimischen Geschichte (7.–8. Jh.) Armut im Wertesystem der Menschen dem Reichtum vorgezogen wurde. In den darauffolgenden Epochen fand diesbezüglich eine Veränderung statt. Während aš-Šaybānī auf einen Ausgleich zwischen Armut und Reichtum abzielte, bestand das Ziel seiner Nachfolger in der Rechtfertigung von Reichtum. So versuchte Ǧaʿfar ad-Dimašqī (gest. nach 1175) in seinem Buch »Die Vorteile des Handels« (Al-Išāra ilā/fī maḥāsin at-tiǧāra), die Beziehung zwischen Armut und Reichtum nicht nur aus religiöser Sicht zu verstehen.22 Dabei 19 20 21 22

276

Vgl. Muhammad Šaybānī, Kitāb al-iktisāb fī-r-rizq al-mustaṭab (Über den rechtmäßigen Erwerb), hg. Mahmud ʿArnus, Dar al-Kutub al-ʿIlmiyya, Beirut 1986, 20 ff. Zur historischen Einordnung und weiteren frühen islamischen Werken zur Mikro- und Makro-Ökonomie vgl. Ahmed El-Ashker/Rodney Wilson, Islamic Economics: A Short History, Leiden 2006, 169–204. Wichard, Zwischen Markt und Moschee (s. Anm. 17), 37 ff. Das Werk wurde hg. von Al-Bushra al-Shurbaji, Kairo 1977 und ins Englische übersetzt von Adi Setia, The Indicator to the Virtues of Commerce, Kuala Lumpur 2011; eine ausführliche Charakteristik des Werks bietet bereits Hellmut Ritter, Ein arabisches Handbuch der Handelswissenschaft, in: Der Islam 7 (1916), 1–91.

betont er fast ausschließlich die Vorteile des Reich-Seins. Dies wird als Zeichen der guten Führung und Verantwortung für andere Menschen gedeutet. Dabei muss hervorgehoben werden, dass er den Begriff der Reichtum nicht als Gegensatz zu Armut verwendet, sondern als Gegenteil zur Verschwendung. Diese Verschiebung des Fokus von Armut vs. Reichtum zu Reichtum vs. Verschwendung ist auch ein Zeichen der gesellschaftlichen Wandlung in der damaligen muslimischen Gesellschaft. Nicht zuletzt in der vorislamischen Kultur war Verschwendung sehr positiv gekennzeichnet, sie war mit Gastfreundschaft, Mut und Virilität assoziiert und nicht als Gegenteil von Reichtum, sondern als Gegenteil von Unmut und Zurückhaltung.23 Eine weitere Auseinandersetzung mit Armut und Reichtum ist bei Abū Bakr al-Ḫallāl (gest. 311/923) in seinem Buch »Die Ermunterung zum Handel und Arbeiten« (al-Ḥaṯṯ ‘alā attiǧārah wa-l-amal) zu finden. Al-Ḫallāl behauptet, dass arme Menschen selbst für ihre Armut verantwortlich seien, wenn sie ihre Zeit nur mit Beten verbringen würden, insbesondere wenn sie sich dem irdischen Handeln entziehen und ein passives Leben führen.24 Diese Aussagen erinnern an aš-Šaybānīs Argumentation zu Gunsten des Reichtums. Dabei geht aš-Šaybānī davon aus, dass der Reiche zwar für seinen Lebensunterhalt arbeite, jedoch sein Geld, manchmal unabsichtlich, aus unreinen Quellen schöpfe und anfällig für jede Verführung sei. Er schlussfolgerte, dass die Armen auf die Almosen der Reichen angewiesen seien und die Reichen dadurch ihr Eigentum »reinigen« könnten. Des Weiteren argumentierte er, dass Reich-Sein, obwohl es eine heikle Situation darstelle, besser für die muslimische Gemeinde sei, als arm zu sein. Im Gegensatz zu den Armen übernähmen Reiche Verantwortung für ihre Mitmenschen. Zudem würden sie freiwillige Abgaben und Steuern zahlen, von denen der Staat und die Muslime profitierten. In anderen Worten: Reichtum wurde als ein Beitrag zum Wohlstand der gesamten Bevölkerung angesehen, Armut als eine Last.25 An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass klassische muslimische Rechtsgelehrte zahlreiche Ansätze entwickelt haben, um die übermäßig hohe Bereicherung einiger Weniger zu vermeiden und die Schere zwischen Reichen und Armen nicht zu weit auseinanderklaffen zu 23 24 25

Jaafar ad-Dimashqi, Al-Ishara fi Mahasin at-Tijara (Über das rechte (ökonomische) Handeln), Hg. von der Universität Riyad, Saudi Arabien, o. D., 8 f. Muhammad Al-Ḫallal, al-Ḥaṯṯ ‘alā at-tiǧārah wa-l-amal (Das Streben nach Handel und Erwerb), Dar al-Asima, Riyad 2009, 35 ff. Šaybānī, Al-Iktisab fi-r-Rizq al-Mustatab (s. Anm. 19), 30 f.

277

lassen.26 Dabei wurde der Begriff des »Eigentums« neu definiert: Nach der islamischen Lehre gehört alles, was auf Erden und im Himmel ist, zu Allah. Menschen sind lediglich beauftragt, dieses Eigentum zu bewahren und zu nutzen.

1.2 Wie wird man reich? Zweifelsohne war die Frage der Mittel zum Vermögenswachstum ein wichtiges Thema für antike bzw. vorislamische Kulturen.27 Die muslimische Kultur stellt dabei keine Ausnahme dar. So wird die Frage der legitimen Wege zum Vermögenswachstum seitens der Rechtsgelehrten intensiv diskutiert. Dies fand u. a. im Zuge der Debatte über Erwerbsarbeit statt.28 Dabei bietet die klassische muslimische Rechtstheorie auf die Frage, wie man reich wird, zwei Antworten: erstens durch Geld und zweitens durch Arbeit. Ihr zufolge ist die Bereicherung durch Geld (Zinsen) allerdings strikt verboten. Die Rechtsgelehrten stimmen darin überein, dass man nur durch Arbeit reich werden sollte. Arbeit wurde daher als Weg zum Wohlstand betrachtet.29

1.3 Armut und Reichtum in modernen muslimischen Staaten Mit der Entstehung der muslimischen Nationalstaaten im 20. Jahrhundert kamen auch unterschiedliche ökonomische Ansätze auf, die sich auf bereits existierende, insbesondere liberale und sozialistische, Wirtschaftstheorien beriefen. Die drei folgenden Ansätze haben für die Thematik von Armut und Reichtum im Islam eine besonders große Relevanz: der liberal-islamische Ansatz, der islamische Sozialismus und der Fundamentalismus. Sie werden von Ghaussy folgendermaßen zusammengefasst:30

26 27 28 29 30

278

Wichard sieht das Buch von Šaybānī als Versuch, diesen Ausgleich zwischen den beiden Tendenzen Armut und Reichtum zu erzielen, vgl. Wichard, Markt und Moschee (s. Anm. 17). Vgl. Tomas Sedlacek, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2013, 272 ff. Beispiel dafür ist das oben zitierte »Kitāb al-Kasb« von Šaybānī. Vgl. Ghanie A. Ghaussy, Mensch und Arbeit im Islam, in: Ekkehardt Wesner u. a. (Hg.), Der Mensch im Unternehmen, Verlag Paul Haupt, Stuttgart 1988, 514–515. Ghaussy, Wirtschaftsdenken im Islam (s. Anm. 2), 272–278.

A. Liberal-islamischer Ansatz: In den meisten muslimischen Ländern herrschen heutzutage säkulare liberal-islamische Einstellungen. Der liberal-islamische Ansatz, der direkt nach der Unabhängigkeit muslimischer Länder entstand, beschreibt eine Anpassung muslimischer Konzepte und Denkweisen an die modernen Wirtschaftskonzeptionen. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die liberale Marktwirtschaft; Arbeit wird als Pflicht und Mittel zur Selbstversorgung angesehen; zugleich werden aber unbegrenzte Eigentumsrechte verteidigt. Armut soll dabei durch Abgaben der Reichen gemindert werden.31 B. Islamischer Sozialismus: Die sozialistischen bzw. sozialreformerischen Ansätze streben eine Transformation der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur islamischer Staaten an. Sie betonen das Prinzip der Gerechtigkeit im Islam. Islamischer Sozialismus bejaht das Recht auf Privateigentum und ist gegen eine Vergesellschaftung von Vermögenswerten. Ein Klassenkampf wird abgelehnt. Arbeit wird nicht als Zwang, sondern als ethische Pflicht betrachtet.32 Die Hauptmerkmale dieses Modells, das in den 1950er Jahren im Zuge des Erstarkens des Sozialismus in Europa bzw. Osteuropa entstand, sind das Privat-Eigentum der Bürger (im Gegensatz zum Marxismus), die Forderung nach eigener Initiative und die starke Führungsrolle des Staates im sozialen Ausgleich zwischen den Klassen. Dieser islamisch-sozialistische Ansatz, der seine Blüte in zahlreichen muslimischen Ländern in den 1970er Jahren erlebt hat, kann als Mittelweg zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus angesehen werden. Seine Anhänger führen die Wurzel dieser Theorie auf Auffassungen der Gefährten Muhammads zurück.33 C. Fundamentalistischer Ansatz: Die islamistischen bzw. konservativfundamentalistischen Bewegungen vertreten eine sehr idealistische Wirtschaftsdoktrin, die von einer »göttlichen Ordnung« ausgeht und an strenge normative Prinzipien gebunden ist. Gegenwärtig haben diese Gedanken auf immer mehr Muslime eine starke Anziehungskraft. Grundwerte dieses Ansatzes sind unter anderem Gemeinnützigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität. Entsprechend wird dieser An31 32 33

Ebd. 271 ff. Ebd. Hier wird oft über den Prophetengefährten Abū Ḏarr al-Ġifārī berichtet, der zahlreiche Auseinandersetzungen mit damaligen Kalifen hatte und sich stark für Gerechtigkeit und Gleichheit zwischen allen Muslimen einsetzte. Vgl. seinen Lebenslauf in Siyyar an-Nubala´ unter: http://library.islamweb.net/ newlibrary/display_book.php?ID=130&bk_no=60&flag=1

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satz oft als menschennah propagiert bzw. empfunden und als orientiert an den elementaren Bedürfnissen der Menschen statt an komplexen Theoriemodellen. Wenn es jedoch um praktische Umsetzungsmöglichkeiten geht, scheitert dieses Modell sehr rasch. Islamistische Bewegungen finden nicht nur in den muslimischen Ländern einen starken Zulauf, sondern auch im Westen. Beispielsweise wird auf die (ökonomischen und bisweilen sozialen) Schwachstellen der europäischen Gesellschaften verwiesen, und Muslime versuchen oftmals bzw. werben dafür, diese mit islamisch-inspirierten Lösungsansätzen zu verbessern. Eine konkrete Umsetzung der genannten Ansätze in den modernen muslimischen Staaten ist bisher fehlgeschlagen bzw. hat zu keinem ökonomischen oder wirtschaftlichen Erfolg geführt, weshalb sie starker Kritik ausgesetzt sind. Außerdem sind einige Ökonomen wie u. a. Ghanie Ghaussy der Überzeugung, dass muslimische Wirtschaftsnormen auf ideell-moralischen Werten begründet seien. Es bedarf also einer Stärkung dieser moralischen Werte, damit auch die muslimischen Wirtschaftsnormen Gültigkeit erfahren. Da dies laut Ghaussy jedoch schwer umsetzbar ist, empfiehlt er, das ideelle muslimische Wirtschaftsmodell aufzugeben und durch ein westliches Modell zu ersetzen.34

2. Islamische soziale Dienste Hilfe und Wohlfahrt spielen für die sozialen Dienste in gegenwärtigen Gesellschaften eine unabdingbare Rolle. Neben der Hilfestellung für Arme, Kranke und Bedürftige werden den Trägern sozialer Dienste noch weitere Aufgaben zugeschrieben wie Bildung oder Mediation. Diese Annahme wird durch die Studie »Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa« bestätigt.35 Auf der Basis einer Untersuchung von christlichen und muslimischen Staaten (die Türkei repräsentierte hier muslimische Staaten) wurde festgestellt, dass Wohlfahrtsorganisationen in säkularen Gesellschaften Europas eine noch größere und wichtigere Rolle spielen, als bisher angenommen. Die Beiträge dieser Studie zeigen, dass es einen starken Unterschied zwischen der Rolle von religiösen Wohlfahrtsorga34 35

280

Ghaussy, Wirtschaftsdenken im Islam (s. Anm. 2). Vgl. Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter/Andreas Kurschat/Stefan Leibold (Hg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa: Konstellationen – Kulturen – Konflikte, Tübingen 2013.

nisationen in demokratischen christlichen und jenen in muslimischen Staaten gibt: In Letzteren sind diese aufgrund der oftmals schlechten Beziehung des Staates zu religiösen Organisationen schwächer ausgebaut als in den christlich-demokratischen Gesellschaften.36

2.1 Grundlage sozialer Dienste in der muslimischen Theologie Ausgangspunkt für Wohlfahrt nach muslimischer Auffassung ist ein Menschenbild, das besagt, dass Menschen als vollkommene Geschöpfe geschaffen wurden und als Vertreter Gottes auf Erden leben. Sollte dieses Menschenbild in irgendeiner Weise beeinträchtigt werden, dann bedarf es menschlicher Hilfe bzw. Wohlfahrt, um einen solchen (idealen) Zustand wieder herzustellen. Die Beeinträchtigung des Menschen kann auf zwei Arten geschehen: Erstens durch einen (materiellen) Mangel an Essen und Trinken, Geld und Kleidung oder physische Krankheit; zweitens durch einen moralisch-psychischen Mangel. Demnach wird Wohlfahrt in der klassischen Islamischen Sozialtheorie unter zwei Aspekten behandelt: 1. Die Hilfe Gottes für die Menschen: Diese wird durch das Konzept von Barmherzigkeit (Raḥmat) ausgedrückt. 2. Die gegenseitige Hilfe der Menschen (Ṣadaqa, Zakāt, Birr etc.): Die Begriffe freiwillige Hilfe (Ṣadaqa), Almosensteuer (Zakāt), Wohltätigkeit (Birr), Barmherzigkeit (Raḥmat) etc. werden oftmals synonym benutzt. Um dem modernen Lebenskontext der Muslime gerecht zu werden, brauchen diese Begriffe eine Neudefinition.37 In der gegenwärtigen Forschung wird Wohlfahrt in Form einer Trias thematisiert. Grundlegend dabei ist das Konzept des Gebens und Nehmens, also die Beziehung zwischen Geber, Empfänger und Gabe. Eine herausragende Bedeutung in dieser Trias erhält der Empfänger. Obwohl muslimische religiöse Texte die Empfänger, entsprechend der koranischen Lehre, in der Reihenfolge vom jeweils Näheren zum weiter Entfernten ordnen (Familie – Nachbarn, Muslime – Nichtmuslime etc.), kann man davon ausgehen, dass diese Skala nicht verbindlich ist; sie hängt von der Lebenssituation der Menschen ab. Die genauen Eigenschaften des Gebers, der häufig als eine lediglich wohlhabende Person 36 37

Ebd. Vgl. Bärbel Beinhauer-Köhler, Formen islamischer Wohlfahrt in Deutschland, in: dies./Matthias Benad/Edmund Weber (Hg.), Diakonie der Religionen 2 (Schwerpunkt Islam), Frankfurt 2005, 98 f.

281

verstanden wird, bleiben oft ausgeklammert. Dabei beschreiben religiöse Texte ausführlich das Thema des Gebens, welches mit den Konzepten der »Reinheit« und der »Absicht« (niyya) verbunden wird. Die Selbstreinigung des Gebers wird nur gültig, wenn »reines« Geld mit »reiner« Absicht (die ersehnte Belohnung Gottes) gespendet wird.38 Unter den Gebern gibt es generell zwei verschiedene Akteure. Zum einen ist das der muslimische Staat. Dieser fühlte sich lange Zeit verantwortlich für die Erbringung von sozialen Diensten und verstand darin die Legitimation seiner Existenz. Seine Aufgabe bestand darin, Steuern (Zakāt) von den Reichen einzufordern und an die Armen zu verteilen.39 In späteren Epochen wurden Krankenhäuser, Waisenhäuser, Hospize staatlich gefördert.40 Der zweite Akteur ist das Individuum, das die private Wohlfahrt verkörpert. Wohlfahrtsleistung kann in Form von Geld und Gütern erbracht werden, aber auch durch psychische Hilfe und moralische Unterstützung an Notleidende. Zu der ausgeführten Trias kann man eine weitere Komponente hinzufügen, die in der gegenwärtigen Forschung oft vernachlässigt wird, nämlich die Art und Weise des Gebens. Muslimische Rechtsgelehrte betonen hierbei, dass das Geben anonym bleiben muss: Der Empfänger soll nicht erfahren, von wem er die Spenden erhalten hat. Dafür liefert die Hadith-Literatur zahlreiche Prophetentraditionen.41 Der Koran versteht soziale Dienste als Staatspflicht. In zahlreichen Suren wird über den Wert der Armut und die Gefahr des Reichtums geschrieben. Bemerkenswert ist hierbei, dass der muslimische Staat soziale Dienste als Teil seiner Verantwortung verstand. Sowohl unter den Umayyaden als auch unter den Abbasiden, Moghulen, Safawiden und Osmanen wurden Krankenhäuser sowie Armen-, Frauen- und Waisenhäuser gebaut und aus staatlichen Kassen finanziert.42 Nichtsdestotrotz wurden diese Dienste nicht nur als religiöse Pflicht verstanden, sondern oftmals auch als politisches Mittel der Machtausübung. Im Namen der Kalifen wurden beispielsweise Güter an Arme und Bedürftige verteilt und Knaben aus ar38 39 40 41 42

282

Dieses Thema wird in der Rechtsliteratur in einem eigenständigen Kapitel behandelt. Vgl. u. a. Mālik ibn Anas, Kitāb al-Muwatta´ (Die al-Muwatta´), Kairo, 2005, 656 f. Bonner, Poverty (s. Anm. 5), 405. Ebd. Siehe Mālik ibn Anas, al-Muwatta´ (s. Anm. 38), 656 f. Miriam Frenkel/Yaacov Lev, Charity and Giving in monotheistic Religion, Berlin 2005, 235 f.; Beinhauer-Köhler, Formen islamischer Wohlfahrt (s. Anm. 37), 94 f.

men Familien kostenlos kollektiv beschnitten. Individuelle Wohlfahrt und soziale Dienste wurden oft durch spezielle Stiftungen (Waqf) getragen.43 Diese Institution war sehr weit entwickelt und spielte eine starke Rolle im Gesundheits- und Erziehungswesen. Später haben die Kolonialherren Waqf-Einrichtungen verboten, weil sie oft Hilfe und Unterstützung für Befreiungskämpfer leisteten. Nach der Entstehung der muslimischen Nationalstaaten wurde die Institution des Waqf wieder erlaubt, jedoch marginalisiert, da der Staat Waqf-Einrichtungen als Konkurrenz zur eigenen Macht sah.44

2.2

Muslimische Wohlfahrt in Deutschland

Historisch gesehen geht die Entstehung der ersten muslimischen Wohlfahrts-Institutionen in Deutschland auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Der erste muslimische Wohlfahrtsverein wurde zwar bereits 1922 in Berlin gegründet, jedoch kam es zu keiner nennenswerten Ausbreitung.45 Gegenwärtig wird verstärkt versucht, einen solchen Strukturaufbau nachzuholen. Als Hauptziel dieser Bemühungen gilt die Einrichtung einer landesweiten muslimischen Wohlfahrtsinstitution. Als Modell dafür werden die beiden christlichen Wohlfahrtsinstitutionen der Diakonie und Caritas hervorgehoben.46 Bärbel Beinhauer-Köhler verweist in ihrer Untersuchung von Formen gegenwärtiger muslimischer Wohlfahrt auf die hohe Anzahl von Akteuren mit differenzierten ethnischen und divergierenden religiösen Auffassungen in Deutschland.47 Diese Vielfalt führte zu einer Verzögerung und Schwächung im Prozess der Entstehung und Entwicklung eigenständiger muslimischer Wohlfahrtsinstitutionen. Beinhauer-Köhler unterstreicht die positiven Aspekte der muslimischen Wohlfahrtstätigkeiten, die großes Entwicklungspotential versprechen. Ihr zufolge besteht eine finanzielle Großzügigkeit und eine starke Hilfsbereitschaft unter den in Deutschland lebenden Muslimen. Hinzu kommt das große freiwillige Engagement unter ihnen.48 Sie begründet diese Haltung mit den koranischen Vorschriften, wonach Wohlfahrtstätigkeiten freiwillig und ohne die Forderung eines Entgeldes übernommen werden sollten. Zu bedenken, so merkt Beinhauer-Köhler 43 44 45 46 47 48

Frenkel/Lev, Charity (s. Anm. 42), 235 f. Ebd. Beinhauer-Köhler, Formen islamischer Wohlfahrt (s. Anm. 37). Ebd. Ebd. Ebd.

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an, sei der Umstand, dass der größere Anteil des von Muslimen gespendeten Geldes jedoch in die jeweiligen Herkunftsländer oder an internationale Hilfsorganisationen, wie z. B. The Muslim Relief, gehe. Davon profitierten Bedürftige in Deutschland nicht. In Bezug auf die Zukunft muslimischer Wohlfahrt in Deutschland ist anzumerken, dass der Ausbau der muslimischen Wohltätigkeit vor einigen Herausforderungen steht. Nennenswert sind dabei sowohl infrastrukturelle als auch einstellungsbedingte Hürden. So bleibt die Behauptung vieler Muslime, dass die Pflege der erkrankten Eltern eine private Angelegenheit darstelle, die nur durch die Familie erledigt werden sollte, fragwürdig. Diese Haltung steht nicht nur dem Ausbau von muslimischen Wohlfahrtsinstitutionen im Wege, sondern verkennt auch die veränderten gesellschaftlichen Realitäten, ganz gleich, wie diese zu bewerten sind. Bärbel Beinhauer-Köhler betont, dass die private Pflege von Kranken und Alten zu starker Belastung führen könne, auf die wiederum eine Vernachlässigung anderer Pflichten, wie beispielsweise der Berufstätigkeit, folgen könne. Einen bedeutenden Akzent in diesem Bereich hat die Deutsche Islamkonferenz (DIK) in den letzten Jahren gesetzt. Bei der Berufung der zweiten DIK im Jahr 2014 haben staatliche Institutionen und muslimische Dachverbände sowie Mitglieder anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Wissenschaftler die Stärkung der muslimischen Wohlfahrts- und Pflegearbeit zu einem Hauptziel der DIK erklärt. Kurz danach fand die Konferenz »Wohlfahrtspflege als Thema der Deutschen Islam Konferenz« statt. Daran nahmen Vertreter des Bundesministeriums des Innern sowie Repräsentanten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teil. Auch Vertreter von muslimischen und nichtmuslimischen bzw. christlichen Verbänden und Organisationen sowie Fachwissenschaftler im Bereich der Pflege und Wohltätigkeit waren anwesend. Mit der Absicht, dem bisher verzeichneten Mangel an Wohlfahrtsorganisationen für muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger zu begegnen, wurde die Förderung neuer muslimischer Wohlfahrtsorganisationen debattiert. Als Modell bzw. Vorbild dafür wurden christliche Konzepte und Institutionen wie die Caritas und Diakonie hervorgehoben. Auch die Professionalisierung und Institutionalisierung der islamischen Seelsorge wurden debattiert. Die Wichtigkeit der DIKTagung liegt jedoch über die inhaltlichen Themen, die zur Diskussion standen, hinaus vor allem in der Zielstrebigkeit und dem Engagement, mit dem die Errichtung muslimischer Wohlfahrtsorganisationen angegangen wurde – sowohl von staatlicher als auch von nicht-staatlicher Seite. Dies legte die Weichen für zukünftige Projekte in diesem Gebiet. 284

Zweifellos haben Veranstaltungen wie die DIK einen großen Einfluss sowohl auf die Wissenschaft als auch auf die Gründung und Gestaltung sozialer und gesellschaftlicher Organisationen. Die muslimischen wissenschaftlichen Institutionen, insbesondere die seit 2011 gegründeten Zentren für Islamische Theologie in Deutschland, haben die o. g. Diskussion aufgegriffen und haben ein starkes Interesse, wissenschaftliche Grundlagen für die Förderung muslimischer Wohlfahrtsprojekte zu liefern. Gegenwärtig sind sogar fachspezifische Studiengänge im Bereich der islamischen Seelsorge geplant. Betrachtet man die gesamte Situation der muslimischen Wohlfahrt in Deutschland, so kann man sagen, dass die aufgezeigte, religiös verwurzelte Haltung bezüglich Pflege, Spenden und Hilfe an das moderne Leben bzw. an den modernen Lebenskontext der Muslime angepasst werden kann und sollte, ohne an Bedeutung und Substanz zu verlieren. Um nur ein Beispiel nochmals aufzugreifen, ist eine adäquate medizinische Versorgung und Pflege alter Menschen ein elementares menschliches Recht und sollte daher nicht nur Privatsache sein. Vielmehr kann die Würde des Lebens und ein Einsatz für entsprechende Qualität der sozialen Fürsorge auf der Grundlage des muslimischen Menschenbildes begründet werden und als Maßstab auch für die nichtmuslimische Wohlfahrtspolitik gelten. In den muslimischen religiösen Quellen finden sich zahlreiche Ansätze, die bei den gegenwärtigen Bestrebungen eines muslimischen Wohlfahrtsausbaus helfen und zahlreiche Arbeitsplätze schaffen können. Die Arbeit der DIK, der Institutionen der Islamischen Theologie und der islamischen Dachverbände könnte die gesamtgesellschaftliche Situation in den nächsten Jahren voranbringen und zu positiven Ergebnissen führen. Dies hängt jedoch von der Bereitschaft ab, Unterschiede und Differenzen unter Muslimen in Deutschland zu Gunsten eines großen gemeinsamen Projekts zurückzustellen.

3. Fazit Abschließend bleibt aus der bisherigen Analyse über Armut und Reichtum festzuhalten, dass klassische muslimische Ansätze nach wie vor ihre Gültigkeit haben können. Sie sollten jedoch, um auch in der Gegenwart anwendbar zu sein, an die modernen Lebensverhältnisse von Muslimen angepasst werden. Insbesondere in westlichen Staaten wie Deutschland, wo Muslime den Schutz religiöser Freiheit genießen und von Minderhei285

tenrechten Gebrauch machen können, besteht die Notwendigkeit, klassische Ansätze zu reformieren sowie auch neue Ansätze in diesen Bereichen zu entwickeln. Hauptziel sollte dabei immer die Harmonie zwischen dem modernen Alltag und den Glaubensüberzeugungen von Muslimen sein. Die gegenwärtige Debatte zum Thema der muslimischen Wohlfahrt deutet auf wichtige Veränderungen in diesem Bereich hin, wobei die neu etablierte Lehre und Forschung der islamischen Theologie eine wichtige Rolle spielen wird. Diese liegt nicht nur in einer neuen Konzeptualisierung der Grundlagen von Wohlfahrt und Seelsorge, sondern auch in der Erarbeitung neuer Methoden und theoretischer Rahmenmodelle für die Etablierung von zeitgemäßen und kontextsensiblen muslimischen Wohlfahrtsorganisationen.

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Muslime und Christen in der Gesellschaft – individuelles und strukturelles Veränderungspotential Constantin Wagner/Johannes Frühbauer/Zekirija Sejdini/ Simone Sinn

»Armut und Gerechtigkeit« als Thema von MuslimInnen und ChristInnen – sozialwissenschaftliche Reflexionen (Constantin Wagner) Mit »Armut und Gerechtigkeit« als Thema für ein »Theologisches Forum Christentum – Islam« wurde der Bereich, der öffentlich gemeinhin der Religion zugestanden wird, in gewisser Weise verlassen: Das Thema führt aus einem »innertheologischen« Dialog zu einer Beteiligung an gesellschaftlichen und politischen Debatten – zumindest potenziell. Dies kann als Öffnung zur Gesellschaft beziehungsweise in Richtung von gesellschaftlichen Milieus verstanden werden, die nicht am christlich-islamischen Dialog auf akademischer Ebene oder an theologischen Fragen im engeren Sinn interessiert sind. Gleichzeitig mag die Themenwahl Akteure provozieren, die die Meinung vertreten, religiöse Argumente hätten in gesellschaftspolitischen Debatten abseits von im engeren Sinne »ethischen« Fragestellungen keine Berechtigung.1 Ob die christlich-islamische Beschäftigung mit genuin gesellschaftlichen Themen und Fragestellungen zur öffentlichen Provokation wird, liegt dann aber vor allem an der Art und Weise, wie sie geführt wird – und das heißt vor allem, zu welchen Ergebnissen sie kommt. Immer wieder haben es Gläubige sowohl in der christlichen als auch in der mus1

Die Frage, inwiefern religiöse Argumente in gesellschaftspolitischen Debatten in eine allgemein akzeptierte Sprache »übersetzt« werden müssen, kann und soll hier nicht weiter erörtert werden. Siehe zu dieser Frage insbesondere Charles Taylor, A Secular Age, Harvard 2007, und Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion – Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2005, v. a. 119 ff.

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limischen Geschichte als ihre Aufgabe verstanden, gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren – und die Gesellschaft in diesem Sinne bewusst zu provozieren. Die unterschiedlichen Vorträge im Rahmen des Forums machten den Beitrag, den Religionen in Geschichte und Gegenwart zu unserer Gesellschaft leisten, sichtbar. Im deutschen Kontext findet dies auf christlicher Seite stärker institutionalisiert, auf muslimischer Seite (noch) weniger formalisiert, dadurch aber nicht weniger engagiert, statt. Betont wird heute dabei häufig die Komplementarität religiöser und staatlicher Aufgaben. Damit verdeutlichte die Tagung in gewisser Hinsicht aber auch, dass religiöse Kritik in der Bundesrepublik in der Regel keine Herausforderung für Staat und Gesellschaft ist: Letztere wird nicht (radikal) in Frage gestellt. Mit anderen Worten: Religiöse Akteure sind auf vielfältige Art und Weise darin involviert, unterprivilegierte Personen zu unterstützen. Aber reicht das? Gemäß der nicht unplausibel erscheinenden Analyse von Farid Esack vermeiden religiöse Akteure es häufig, nach den strukturellen (d. h. gesellschaftlichen) Ursachen von Ungerechtigkeit und Leid zu suchen, obwohl nur so Gerechtigkeit – nicht nur für Esack ein aus religiösen Gründen erstrebenswerter Zustand – herzustellen sei. Wie aber lassen sich solche strukturellen Ursachen ausfindig machen und bekämpfen? Die ebenfalls im Tagungsverlauf zu beobachtende interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, welche Werkzeuge zur Analyse gesellschaftlicher (Ungleichheits-)Dynamik entwickelt haben, mag hier wegweisend sein: Während TheologInnen für die Analyse von Armut und (Un-)Gerechtigkeit auf diese in anderen Disziplinen entwickelten Werkzeuge zurückgreifen müssen, haben sie diesen gegenüber gleichzeitig einen nicht zu überschätzenden Vorteil – nämlich eine klare normative Basis in der Bewertung sozialer Ungerechtigkeit. Denkt man etwa an die Debatten im Rahmen der Kritischen Theorie, was die normative Basis sein könne, von der aus man gesellschaftliche Prozesse beurteilen kann, wird dieser Vorteil besonders deutlich.2

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Wie klar diese »klare normative Basis« in der Praxis ist, ist eine offene Frage, denkt man etwa an die Diskussion über das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft, unterschiedliche hermeneutische Ansätze und vieles mehr. Nichtsdestotrotz hat die Theologie eine normative Basis, von der aus geurteilt werden kann, eine Kategorie für Verantwortung für etwas jenseits des eigenen Selbst. Es ist kein Zufall, dass etwa die als philosophische Begründung dieser Kategorie bekanntgewordene Ausführung von Hans Jonas von einem religiösen – in diesem Fall jüdischen – Philosophen stammt (vgl.

Dennoch ist es für ChristInnen schwer, sich auf diese normative Basis öffentlich zu beziehen und die Gesellschaft von dieser aus herauszufordern, weil religiöse Positionierungen zu diesen Fragen häufig als illegitim erscheinen. Für MuslimInnen ist es im deutschen Kontext in der gegenwärtigen Situation noch schwieriger, eine fundamentale Kritik zu artikulieren: Dies liegt an ihrer Diskursposition; sie haben scheinbar noch weniger Berechtigung dazu, das bestehende System zu kritisieren, und stehen schnell im Generalverdacht, nach einer Theokratie zu streben. Es scheint so, als wollten viele religiöse Akteure aber auch überhaupt keine fundamentale Kritik äußern – als hätten sie sich in der Gesellschaft relativ bequem eingerichtet (im Falle der ChristInnen) beziehungsweise als seien sie auf dem Weg in diese Bequemlichkeit (im Falle der MuslimInnen): Sie üben die ihnen zugetragene Rolle der Kritik in moderater Art und Weise aus, indem sie die Gier einzelner Unternehmen kritisieren und moralisches Verhalten fordern und beschränken das Verständnis ihrer Religiosität ansonsten auf »das Private«. Wieso aber ist dies so? Warum äußern so wenige religiöse Stimmen eine Fundamentalkritik? Im westeuropäischen, hier dem deutschen Kontext mag es noch einen anderen Grund geben als die Schwierigkeit, öffentlich Gehör zu finden: Man profitiert selbst von den strukturellen globalen Ungerechtigkeiten. Der Soziologe Stephan Lessenich hat unsere Gesellschaft unlängst als »Externalisierungsgesellschaft« bezeichnet: In dieser leben die Leute über die Verhältnisse anderer. Die Gesellschaft funktioniert im Modus der Ausbeutung: Mittels Zerstörung fremder Lebenswelten werden die eigenen Lebenschancen gesichert.3 Was die Theologie von der Sozialwissenschaft lernen kann, ist ein konsequent relationales Denken bzw. Gesellschaftsverständnis: Die Armut der einen bedeutet den Reichtum der anderen, die Arbeitsbedingungen der Menschen im globalen Süden zu kritisieren bedeutet in diesem Fall, die eigenen dadurch resultierenden Privilegien zu hinterfragen. Armut schlecht zu finden, ist nicht originell, den eigenen Reichtum damit in Verbindung zu setzen, allerdings nicht gang und gäbe.

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Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1979). Vgl. Stephan Lessenich, Die Externalisierungsgesellschaft, in: Soziologie 44/1 (2015), 22–32.

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Ein wenig mehr Reflexion würde vielen gesellschaftlichen – auch den religiös gefärbten – Debatten also guttun.4 Damit religiöse Positionierungen nicht im Appellativen verbleiben, muss über konkreten Reichtum und über die Mechanismen, die diesen produzieren, gesprochen werden: Wo kommt Armut her und wer profitiert von ihr? Der Feststellung, dass Frauen gesellschaftlich diskriminiert werden, muss ein Sprechen über das »Mannsein« und die damit korrespondierenden Privilegien folgen, der Erkenntnis der Existenz von Rassismus ein Sprechen über Weißsein und den daraus resultierenden Profit.5 Für die Rechte anderer einzutreten heißt unter Umständen, eigene Privilegien zu hinterfragen – und diese möglicherweise abgeben zu müssen. Die eigene Position in der Gesellschaft zu reflektieren, mag unkomfortabel sein, wenn dadurch die eigene Involviertheit – schlimmer – das eigene Profitieren von Armut und Ungerechtigkeit erkennbar wird. Noch unkomfortabler wird es, wenn daraus eine Kritik am (eigenen) religiösen Diskurs entsteht – so zum Beispiel denkbar, wenn Analysen zeigen, dass gutgemeinte »Hilfe« Machtstrukturen reproduziert, statt sie aufzulösen.6 Wenn Machtmechanismen analysiert und offengelegt werden, wird es unter Umständen nötig, eigene religiöse Traditionen anzugreifen, etwa auf Ebene der Symbolpolitik hinsichtlich des Ausschlusses von Frauen aus religiösen Ämtern. Doch ist die Forderung nach mehr Gleichheit mit den christlichen und muslimischen Quellen vereinbar? Hier steht, wie in so vielen Fragen, wohl »Text gegen Text« – sowohl in der Kirchengeschichte als auch in 4

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So ließe sich argumentieren, dass die Frage »Wie kann die Stimme der Armen besser wahrgenommen werden?« falsch gestellt ist, denn »the subaltern cannot speak«, um einen berühmten Aufsatz von Gayatri Spivak zu paraphrasieren (vgl. Gayatri Spivak, Can the Subaltern Speak, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Houndmills u. a. 1988, 271–313; deutsche Übertragung: Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2007). Aus ihrer Perspektive geht es darum, den strukturellen Ausschluss der Subalternen zu bekämpfen, deren Stimme wir in den derzeitigen Verhältnissen nicht hören können. Vgl. hierzu Peggy McIntosh, White Privilege: Unpacking the invisible Knapsack, in: Independent School 49/2 (1990), 31–36, online abrufbar unter: http://wh.agh.edu.pl/other/materialy/663_2014_03_04_15_03_55_WhitePri vilegeUnpackingtheInvisibleKnapsack.pdf Vgl. hierzu beispielsweise den kritischen Film von Carolin Philipp/Timo Kiesel: »White Charity. Schwarzsein und Weißsein auf Spendenplakaten«, 2011, http://www.whitecharity.de/index_files/Page917.htm

der islamischen Tradition finden sich denn auch Beispiele sowohl für geringere als auch für stärker ausgeprägte soziale Gleichheit. Auch wenn es denjenigen, die für ein Mehr an Gerechtigkeit sowie auf den Verzicht von Macht und Reichtum plädieren, leichter fallen wird, religiöse Argumente zu finden: Ein Mehr an Gerechtigkeit gibt es nicht ohne Konflikt. Religiöse Akteure können in die (symbolischen) Kämpfe einer Gesellschaft eingreifen, indem sie andere Werte und ein alternatives Verhalten valorisieren: Der gesellschaftspolitischen Relevanz des Themas »Armut und Gerechtigkeit« muss ein Wissens-, besser: Überzeugungstransfer in die Gesellschaft – und eine veränderte Praxis – folgen.

Die sozialethische Gerechtigkeitsdimension der Armutsproblematik (Johannes J. Frühbauer) Armut als eine der zentralen Herausforderungen der Gegenwart bringt nicht nur sozialpolitische Akteure und Maßnahmen ins Spiel, sondern provoziert auch die (sozial-)ethische Anfrage, wie Religionen mit dieser umgehen: Wie wird Armut religiös gedeutet? Welche religiös-ethischen Konzeptionen zur Thematisierung und Überwindung von Armut lassen sich in den unterschiedlichen religiösen Traditionen ausmachen? Wo ist der Einzelne zum Handeln und Helfen herausgefordert? Und wo sind gesellschaftliche Institutionen oder Arrangements im Blick und gefordert? Wo finden sich Gemeinsamkeiten in religiös-ethischen Deutungsmustern und Überwindungskonzeptionen, wo lassen sich Unterschiede feststellen? Bereits im fokussierten Kontext des christlich-islamischen Dialoges wird deutlich, dass die Armutsfrage eine Thematik aufruft, die nicht nur unsere theologische Erkenntnis, sondern auch unsere ethische Verantwortung und unsere politische Leidenschaft ganz fordert und herausfordert. Dies wurde immer wieder in den einzelnen Beiträgen des Theologischen Forum deutlich. In dessen Verlauf wurde jedoch auch erkennbar, dass die Behandlung der Armutsproblematik gegenüber der Thematisierung von theologisch-ethischen und sozialethischen Gerechtigkeitskonzeptionen dominierte. Dabei führt zur Lösung von Armutsproblemen kein Weg an der Gerechtigkeitsfrage vorbei. Überdies ist der Gerechtigkeitsbegriff als Zentralbegriff gegenwärtiger politischer Ethik zu sehen

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und wird von einer Vielzahl von Denkerinnen und Denkern verhandelt.7 In der systematisch umsichtigen und differenzierten Weiterführung der Fragestellung von Armut und Gerechtigkeit ist daher zu klären, wie sich Gerechtigkeit – jeweils aus christlicher und islamischer Perspektive – im religiösen Kontext und in theologisch-ethischer Hinsicht verstehen lässt und wo es insbesondere Berührungspunkte zu einer philosophischethisch konzipierten Gerechtigkeit gibt. Im gedanklichen Austausch mit diesen Ansätzen gilt es ferner zu fragen, was Gerechtigkeit konkret zur Überwindung oder auch bereits zur Vermeidung von Armut fordert und welche Ansätze aufgezeigt werden, um zu begründen, was sie fordert. Wird der Gerechtigkeitsbegriff jedoch ausgeblendet, geht die Reflexion auf die strukturell-institutionellen Ursachen von Ungleichheit, insbesondere von Armut und der damit verbundenen Marginalisierung und Exklusion verloren. Im Sinne einer medizinischen Analogie läuft man durch die ausschließliche Fokussierung auf die Armutsthematik Gefahr, nur Symptome zu benennen und zu behandeln, nicht aber die Ursachen aufzudecken und bei diesen mit der Behandlung anzusetzen. Mit der Armutsfrage wird eine zentrale gesellschaftliche Problematik in den Mittelpunkt gestellt, mit der Gerechtigkeitsfrage wird gleichsam der Horizont durch die fundamentale Anfrage geweitet: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Und welchen – gerade auch strukturengestaltenden – Beitrag können Christen und Muslime (und Angehörige anderer Religionen) leisten, um eine gerechtere Gesellschaft zu entwickeln und anzustreben? Wie könnte ein interreligiöses »commitment for justice« praktisch und institutionell aussehen – auch im Sinne des von Farid Esack in seinem Eröffnungsvortrag geforderten »stand up«? Im Verhältnis von Religion und Armut lässt sich zumindest am Rande die provokante Frage aufwerfen, inwiefern bestimmte Religionen Armut »brauchen«, um zumindest einen Teil ihrer ethischen Botschaft adressieren zu können. Oder anders formuliert: Dort, wo keine Armut besteht, entfällt auch die Notwendigkeit, sich moralisch als Helfender zu bewähren. Religion braucht Subjekte, denen sich ihre Anhänger aufgrund ihrer prekären Situation wohlwollend, helfend, Nächstenliebe praktizie7

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Siehe hierzu exemplarisch und instruktiv: Markus Witte, Gerechtigkeit, Stuttgart 2012; Felix Heidenreich (Hg.), Theorien der Gerechtigkeit. Eine Einführung, Stuttgart 2011; Christoph Broszies/Henning Hahn (Hg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Berlin 2010.

rend zuwenden können. Zugespitzt und reduktionistisch: Verlieren ohne das Phänomen der Armut bestimmte Religionen ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung bzw. ihren sozialen Rechtfertigungsgrund? Zum Zusammenhang von Religion und Armut ließ sich vermutlich eine ganze Reihe an Aspekten zusammentragen. Zwei davon scheinen mir jedoch zentral zu sein: Erstens wäre es fatal, das Wesen und die Bedeutung von Religion bzw. Religionen auf eine Armutsbewältigungspraxis zu reduzieren. Das reichhaltige Wesens- und Bedeutungsprofil von Religion lässt sich problemlos mit substanziellen und funktionalen Merkmalen aufzeigen – wie dies zu heutigen fundamentaltheologischen oder religionswissenschaftlichen Standards gehört. Zweitens scheint Armut in der Tat ein gesellschaftliches Grundphänomen zu sein, mit dem Menschen zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten konfrontiert waren und sind. Insofern Religionen weltzugewandt und gesellschaftsorientiert sind und das irdisch-leibliche Wohlergehen des Menschen auch aus theologischen Gründen eine Rolle spielt und reflektiert wird, können diese gar nicht anders, als sich dem herausfordernden Phänomen der Armut zuzuwenden und nach ihrer Überwindung zu trachten; Armut soll nicht sein – dies darzulegen und zu begründen, zeigt sich in Geschichte und Gegenwart als anspruchsvolle theologische Aufgabe. Vor diesem Hintergrund bleibt zu konstatieren, dass ein individuelles Engagement zur Armutsüberwindung aus religiös-moralischer Verpflichtung grundlegend und unverzichtbar ist – das legen zentrale Motive im christlichen wie islamischen Ethos nahe. In dieser individualethischen Hinsicht ließen sich Begriffe wie Nächstenliebe, compassion oder Mitleid, Barmherzigkeit gerade zur individuumszentrierten Handlungsmotivation noch deutlicher akzentuieren. Zur weitreichenden, effektiven und nachhaltigen Überwindung von Armut braucht es jedoch mehr als den bloß individuellen Einsatz, das heißt konkret: gesellschaftsstrukturelle Veränderung. Diese wiederum findet über Institutionen statt; womit der Gerechtigkeitsbegriff, und mit diesem auch das Recht auf soziale Freiheit, entscheidend ins Spiel kommt. Soziale Freiheit konkretisiert sich in gesellschaftlicher Teilhabe, die ihrerseits konstitutiv für Vermeidung bzw. Überwindung von Armut ist. Schlussendlich ist aus einer religiösethischen Klärung der Frage nach Armut und Gerechtigkeit ein doppelter Blick gefragt: Der eine gilt dem Engagement des Einzelnen, der andere den sozialen Strukturen und Institutionen und ihrer ethischen Rechtfertigung bzw. Kritik.

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Im Kontext der Frage nach Armut und Gerechtigkeit können der Theologie – zumal in sozialethischer Perspektive – nun folgende Aufgaben zukommen: –









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eine hermeneutisch-dekontextualisierende Aufgabe: das Aufdecken und die Interpretation der Bedeutung von Armut und Gerechtigkeit im Glaubenskontext und das Herauslösen aus dem ursprünglichen Überlieferungshintergrund zur gelingenden Bewältigung heutiger gesellschaftlicher Herausforderungen; eine erklärende Übersetzungsaufgabe: Insofern religiöse Identität auch zur religiösen Argumentation im Forum öffentlichen Vernunftgebrauchs (Rawls/Habermas) berechtigt, sollte gerade auch in pluralistischen Gesellschaften im säkularen Staat seitens der Religionsgemeinschaften deutlich gemacht werden, dass sie aufgrund ihrer jeweiligen Tradition und normativen Orientierungen etwas zu den Herausforderungen der Gegenwart zu sagen haben. Auch besitzen sie religiös-ethische Konzeptionen und Kompetenzen, die sie einbringen können und die es gegebenenfalls in eine säkulare Sprache zu übersetzen gilt; eine diskursiv-reflexive Aufgabe: Es geht darum, sich mit gerechtigkeitsethischen Ansätzen in der politischen Philosophie der Gegenwart zum Erkenntniszugewinn und zur argumentativen Ergänzung und Stärkung zu befassen, auseinanderzusetzen und – wo erforderlich – auch abzugrenzen; eine motivationale Aufgabe: Insbesondere religiösen Überzeugungen gelingt das Bereitstellen von »Beweggründen«8 – dies gilt für Christen, Muslime und auch Angehörige anderer Religionen. Religionen kennzeichnet die Eigenschaft, in einer besonderen Weise moralische Motivationsressourcen bereitzustellen; eine prophetisch-advokatorische Aufgabe: die Formulierung von Sozialkritik gegenüber Ungerechtigkeit und armutsbedingter Leider-

So im Anschluss an Alfons Auer z. B. Dietmar Mieth, Das Reich Gottes bei Johann Sebastian Drey und die Begründung einer Katholischen Soziallehre, in: Michael Kessler/Ottmar Fuchs (Hg.), Theologie als Instanz der Moderne: Beiträge und Studien zu Johann Sebastian Drey und zur Katholischen Tübinger Schule, Tübingen 2005, 315–331, 318; siehe hierzu auch: Dietmar Mieth, Die Gerechtigkeit des Reiches Gottes als sozialtheologisches Motiv, in: ders. (Hg.), Solidarität und Gerechtigkeit. Die Gesellschaft von morgen gestalten, Stuttgart 2009, 19–34, 33.





fahrung im Rekurs auf die eigene Tradition und mit pro-solidarischer Intention; eine prospektive-realutopische Aufgabe: das Einbringen der theologischen Kategorie der Hoffnung, Aufzeigen von Hoffnungsgründen – Hoffnung auf Überwindung von Armut und Etablierung von Gerechtigkeit – im Bewusstsein, im irdischen Kontext immer nur eine unvollkommene, weil lediglich menschliche Gerechtigkeit erreichen zu können; eine entgrenzend-solidarisierende Aufgabe: Kon-Solidarität oder strategische Allianz mit anderen Religionen durch Erkennen und Anerkennen gemeinsamer Motive und Anliegen im Einsatz für Gerechtigkeit und zur Armutsüberwindung im nationalen und globalen Kontext.

Gerade an den letzten Punkt lässt sich die Überlegung anschließen, ob es nicht an der Zeit wäre, eine Weltkonferenz der Religionen einzuberufen, um sich mit einer interreligiösen Perspektive der weltweiten Armut anzunehmen und gemeinsame Konzepte zu entwickeln und Maßnahmen zu vereinbaren, um koordiniert und effektiv praktische Lösungen herbeizuführen auf dem Weg in eine gerechtere und damit auch friedvollere Welt.

Armutsbekämpfung und Gerechtigkeit aus islamischer Perspektive (Zekirija Sejdini) In einer Zeit, in der uns täglich schreckliche Nachrichten aus aller Welt erreichen, die oft als Beispiele einer untrennbaren Allianz zwischen Gewalt und Religion dargestellt werden und damit nicht nur das Friedenspotenzial der Religionen ausblenden, sondern diese als Gefahr darstellen, war diese Tagung eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Reflexion des gemeinsamen Potenzials der Religionen im Hinblick auf mehr Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung in einer Welt, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird.9 Nachfolgend soll der mögliche Beitrag des Islams – freilich im Sinne eines Ausschnitts aus mehreren möglichen Perspektiven und teilweise in Ergänzung zu bisherigen Ausführungen im Rahmen dieser Tagung – zur Armutsbekämpfung beleuchtet und dargestellt werden. 9

Vgl. den Oxfam-Armutsbericht 2015: Deborah Hardoon, Wealth: Having it all and wanting more, Oxfam Issue Briefing January 2015, https://www.oxfam.org/ en/research/wealth-having-it-all-and-wanting-more

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Der islamische Zugang zum Thema Besitz Wie in vielen anderen Religionen steht auch im Islam die Gerechtigkeit und die Bekämpfung der Armut im Mittelpunkt. Der Kampf für die gerechte Gesellschaft kann, ohne zu übertreiben, als die oberste Priorität der islamischen Offenbarung bzw. des Korans betrachtet werden.10 Ausgehend von der Bedeutung sowohl des Individuums als Träger gottgegebener Würde11 als auch der Gesellschaft als unabdingbarem Lebensraum des Menschen, behandelt der Koran die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und die daraus resultierende Armut auf individueller und sozialer Ebene sehr ausführlich und gibt detaillierte Anweisungen zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Armut, wie sie, dem Koran zufolge, speziell die mekkanische Gesellschaft in vorislamischer Zeit prägten.12 Im Bewusstsein dieser festen Verankerung sozialer Ungerechtigkeit und ihrer zur Selbstverständlichkeit gewordenen Praxis im Mekka des siebten Jahrhunderts definiert die Göttliche Offenbarung, bezogen auf die damaligen Umstände, zunächst die Ursachen von Ungerechtigkeit und Armut und stellt auch dementsprechend Richtlinien zu deren Beseitigung auf.13 Dabei fokussiert sich der Koran zunächst auf eine nachhaltige Änderung der gesellschaftlichen Auffassung von Besitz, die sich von der

10 11 12 13

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Vgl. Sure 17,81; 16,90; 4,135. Vgl. Sure 17,70. Nach dem Koran haben die mekkanischen Götzendiener aus Furcht vor Armut ihre eigenen Kinder lebendig begraben – eine Praxis, die der Koran verbietet. Vgl. Sure 17,31. Die Betonung der damaligen Umstände ist in diesem Kontext deshalb sehr wichtig, weil nur unter Berücksichtigung des Kontextes der revolutionäre Beitrag der koranischen Botschaft zur Bekämpfung der Ungerechtigkeit erkennbar wird. Ansonsten droht Gefahr, dass einige im Koran behandelte Themen, wie etwa die Sklaverei, missverstanden werden. Denn der Koran verbietet die Sklaverei nicht, sondern motiviert die Menschen, Sklaven zu befreien, was aus heutiger Betrachtung zu der falschen Annahme führen könnte, der Koran befürworte die Sklaverei. Doch der Koran befürwortet die Sklaverei trotz des Fehlens eines expliziten Verbotes nicht, sondern versucht, unter Berücksichtigung der sozialen Realität der Entstehungszeit, die Menschen zur Abschaffung der Sklaverei zu bewegen, was dann zu einer kompletten Abschaffung führen sollte. Nach Muhammad Asad wäre die plötzliche Abschaffung der Sklaverei »wirtschaftlich unmöglich« gewesen. Vgl. Muhammad Asad, Die Botschaft des Korans, Ostfildern 22011, 68.

materialistisch geprägten Auffassung der mekkanischen Götzendiener grundsätzlich unterscheidet.14 In einem ersten Schritt betont der Islam – entgegen der mekkanischen Götzendiener – die Wiederauferstehung als einen zentralen Punkt des islamischen Glaubens, womit sich auch eine Verantwortung vor Gott nach dem Tod verbindet15 für alle im Diesseits vollzogenen Taten oder Unterlassungen. Die jenseitige Dimension spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung einer neuen Wahrnehmung. Des Weiteren unternimmt der Koran eine Neubestimmung des Verständnisses von Besitz. Dabei geht es primär darum, den Begriff des absoluten Besitzes, der im Mekka des siebten Jahrhunderts verankert war, zu verändern und deutlich zu machen, dass absoluter Besitz nur Gott zukommen kann.16 Was den Menschen zur Verfügung gestellt worden ist, sind dagegen diesseitige und vergängliche Güter, die im Jenseits keine Bedeutung haben werden.17 Dies wird unter anderem in folgendem koranischen Vers zum Ausdruck gebracht: »Dem Tag, an dem weder Reichtum noch Kinder von irgendwelchem Nutzen sein werden, (und da) nur der (glückselig sein wird), der vor Gott mit einem Herzen frei von Übel kommt!«18 Der Gedanke des absoluten Besitzes unter Menschen und damit verbunden auch das Recht auf willkürlichen Umgang mit dem Vermögen widerspricht diametral den Vorstellungen des Islams. Diese Haltung war auch ein wichtiger Grund für die anfängliche Ablehnung des Propheten und der neuen Religion durch die mekkanische Elite. Sie konnte unter anderem nicht akzeptieren, dass sie durch die koranisch verankerte gottgegebene Menschenwürde und das Gottesbewusstsein mit anderen, speziell mit den sozial Schwächeren, gleichgesetzt werden könnte. Anstelle des Begriffs absoluten Besitzes installierte der Islam den Gedanken des Anvertrauens (Amāna).19 Denn nach islamischer Vorstellung ist das Vermögen kein Besitz, sondern ein Anvertrauen Gottes an bestimmte Menschen, welches an sich keinen Wert darstellt. Ob sein 14 15 16 17 18 19

Vgl. Mustafa, Öztürk, Kuran`da ve Islam öncesi arap düşüncesinde »Derhr« kavramı, in: Ondukuz Mayıs Ünivesitesi Ilahiyat Fakultesi dergisi, Nr. 16, Samsun 2003, 257. Vgl. Sure 18,46; 45,24; 6,29; 23,37. Vgl. Sure 44,34–36; 16,38. Vgl. Sure 42,4; 42,49. Vgl. Sure 3,10. Sure 26,88–89. Vgl. Sure 33,72.

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Vermögen dem Menschen Positives bringt, hängt nicht mit dem bloßen Besitz zusammen, sondern mit dem jeweiligen Gebrauch. Daher betont der Koran unzählige Male, dass das Vermögen an sich als eine Prüfung20 betrachtet werden soll und diese, wie bei jeder Prüfung, bei falschem Umgang damit dem Besitzer zum Verhängnis werden kann.21 Die Bedeutungsverschiebung vom absoluten Besitz zum Anvertrauten soll den Menschen nicht nur an die Vergänglichkeit des Besitzes erinnern und damit einen verantwortungsvollen Umgang mit seinem Vermögen sichern, sondern ihm auch die Teilung seines Vermögens mit anderen Menschen erleichtern. Genauso wie Gott das Vermögen bestimmten Menschen anvertraut hat, obliegt es diesen Menschen, das Anvertraute mit anderen zu teilen, um auch Gottes Anvertrauen gerecht zu werden. Denn was der Mensch – in Umkehrung der allgemeinen und u. a. mekkanischen Vorstellung von Besitz – wirklich besitzt, ist das, was er spendet, weil das Spenden die Unabhängigkeit vom Materiellen sichert, zur spirituellen Weiterentwicklung führt, wie auch im Jenseits eine Belohnung in Aussicht stellt.22 Da der Islam sich als eine realitätsnahe Religion versteht, verlangt er von den Gläubigen eine aktive Beteiligung an der Sicherung der sozialen Gerechtigkeit und der Armutsbekämpfung. Zunächst werden die Gläubigen aufgefordert, sich von vorhandenen Praktiken, wie z. B. Wucher23, fernzuhalten, die zur Unterdrückung und Unterwerfung von Menschen führen und damit die soziale Gerechtigkeit gefährden. Doch das aktive Handeln umfasst mehr als nur die Beseitigung von gesellschaftlichen Störfaktoren. Daher fordert der Islam als Nächstes die Teilung des eigenen Vermögens mit Armen und Bedürftigen nach bestimmten Vorschriften. Zwei der wichtigen gottesdienlichen Handlungen, die der Islam diesbezüglich kennt, sind die Pflichtabgabe (Zakāt) und die freiwillige Spende (Ṣadaqa), die kurz erläutert werden sollen.

Die Pflichtabgabe (Zakāt) und die freiwillige Spende (̯Ṣadaqa) Die Pflichtabgabe ist eine der Grundsäulen des Islams und daher auch mit den anderen Säulen des Islams gleichgesetzt, dem fünfmaligen Ge20 21 22 23

298

Vgl. Sure 3,186. Vgl. Sure 28,76–78. Vgl. Sure 2,274. Vgl. Sure 3,130. Koranübersetzungen nach Muhammad Asad, Die Botschaft des Korans, Ostfildern 22011.

bet, dem Fasten im Monat Ramadan und der Pilgerfahrt. In diesem Zusammenhang ist jeder Muslim, der ein bestimmtes Vermögen besitzt, verpflichtet, von seinen jährlichen Ersparnissen, nach Abzug seiner Grundbedürfnisse, 2,5 % an die Armen und Bedürftigen zu spenden. Zakāt ist kein Almosen, sondern die Abgabe des den Armen und Bedürftigen gehörenden Anteils am eigenen Vermögen. Damit einher geht die Vorstellung, durch die Abgabe dieses Teils die Bereinigung des eigenen Vermögens zu erwirken, indem es (erst) dann als unter Gottes Segen stehend vorgestellt wird.24 Die Pflichtabgabe bereinigt dementsprechend nicht nur das eigene Vermögen, sondern vermehrt dieses auch. Der Koran stellt dies folgendermaßen dar: »Und (gedenkt:) Was immer ihr an Wucher verteilt, auf daß es durch die Besitztümer (anderer) sich vermehren möge, wird (euch) keine Vermehrung in der Sicht Gottes bringen – während alles, was ihr aus Mildtätigkeit abgebt, Gottes Antlitz suchend (von Ihm gesegnet werden wird), denn es sind sie, sie (die also Sein Antlitz suchen), welche ihre Belohnungen vervierfacht haben werden.«25 Trotz der Bedeutung und des normativen Charakters der Pflichtabgabe ist sie als eine Mindestforderung und nicht als Idealwert des zu leistenden Beitrages zur Armutsbekämpfung zu verstehen. Daher wird neben der Pflichtabgabe auch die freiwillige Spende (Ṣadaqa) als ein weiteres wichtiges Instrument zur Armutsbekämpfung empfohlen.26 Der Koran nennt auch die Kategorien von Menschen, die diese Spenden erhalten dürfen. Der entsprechende Koranvers lautet: »Die Gaben um Gottes willen sind (gedacht) nur für die Armen und die Bedürftigen und jene, die damit betraut sind, und (für jede Anstrengung) für Gottes Sache und (für) den Reisenden: (dies ist) eine Verordnung von Gott – und Gott ist allwissend, weise.«27

Schlusswort Sowohl die Korrektur des vormaligen Verständnisses als auch die Installierung von Maßnahmen gegen Armut, wie die Pflichtabgabe (Zakāt), 24 25 26 27

Vgl. Tilman Nagel, Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 51–55. Sure 30,39. Vgl. Sure 2,271. Sure 9,60.

299

Almosen (Ṣadaqa), die Spende im Monat Ramadan (Ṣadaqatul Fiṭr), die Verteilung des Opferfleisches an Arme und Bedürftige, zeigen, dass die Sicherung der sozialen Gerechtigkeit zu den neuralgischen Punkten des Islams gehört. Ähnliches gilt sicherlich auch für andere Religionen. Nichtsdestotrotz ist bei wohl nahezu keinem anderen Thema der Widerspruch zwischen einer religiösen Idealvorstellung und der Realität so groß wie beim Thema Armut und Gerechtigkeit. Daher bleibt es eine offene Frage, wie es denn sein kann, dass trotz eines weitgehenden Konsenses über die Notwendigkeit der Armutsbekämpfung und der Sicherung der sozialen Gerechtigkeit die Realität so anders aussehen kann, wie sie heutzutage ist. Eine mögliche Erklärung für die Divergenz zwischen dem religiösen Ideal und der Realität wäre aus islamischer Perspektive, dass die Menschen im Zuge der Auseinandersetzung mit den globalen Dimensionen der Armut oft den eigenen persönlichen Beitrag zur Entstehung der Armut und Ungerechtigkeit aus den Augen verlieren. Denn die Einstellungen der Einzelnen bedingen auch die globalen Entwicklungen, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht wahrgenommen wird. Es darf nicht vergessen werden, dass es sich bei der erwähnten Verständniskorrektur und den dazugehörigen Maßnahmen um keinen abgeschlossenen Prozess handelt, der nur für die Entstehungszeit des Korans gilt. Vielmehr besteht die Aufgabe, die Quintessenz ständig neu zu reflektieren und dem Kontext anzupassen, um diese mit Leben zu füllen und in der Realität etwas zu bewirken. Daher besteht eine Notwendigkeit zur Reflexion des eigenen Beitrags zur Armutsbekämpfung und zur Sicherung der sozialen Gerechtigkeit durch die Hinterfragung der eigenen Praxis. Denn weder die besten Verse aus den Heiligen Texten noch Maßnahmenvorschläge für andere nützen etwas, wenn die eigene Praxis nicht armutslindernd und gerechtigkeitsfördernd gestaltet wird. Auch der Koran ermahnt in diese Richtung, indem er auffordert, zunächst die eigene Praxis zu hinterfragen, bevor man anderen etwas vorschreibt. Der Koran drückt dies folgendermaßen aus: »Wollt ihr andere ermahnen, das Rechte zu tun, und euer Selbst vergessen, obwohl ihr das Buch leset? Wollt ihr denn nicht verstehen?«28

28

300

Sure 2,44.

Handlungsfähigkeit stärken, Rechte schützen, Solidarität leben (Simone Sinn) 1.

Theologische Perspektiven in gesellschaftliche Debatten einbringen

Gerechtigkeit ist für Christen wie für Muslime ein Beziehungsbegriff. Der Begriff beschreibt nicht nur ein Konzept gerechter Verhältnisse, sondern er handelt auch und vor allem von richtigen, d. h. bestimmungsgemäßen Beziehungen. Aus Sicht des Glaubens sind menschliche Beziehungen in der Gottesbeziehung begründet und werden von ihr getragen. Christen und Muslime reflektieren auf Fragen von Armut und Gerechtigkeit in der Perspektive einer theologischen Ethik, in der sich das jeweilige Verständnis vom Menschen artikuliert. In pluralen Gesellschaften ist es wichtig, dass Religionsgemeinschaften ihre Grundüberzeugungen verständlich und wirksam in die gesellschaftlichen Debatten einbringen. Dabei geht es nicht darum, für die eigene Sicht der Dinge die meiste Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern sich gemeinsam darüber zu verständigen, was denen, die unter Not und Ungerechtigkeit leiden, zu Gerechtigkeit verhilft.29 In den gegenwärtigen Debatten um Armut und Gerechtigkeit sind verschiedene Motive theologischer Ethik von Bedeutung, drei sollen hier genannt werden: Erstens ist die Würde des Menschen zu einem ethischen Kernbegriff avanciert, der die Unverfügbarkeit der menschlichen Person zum Ausdruck bringt. Der Begriff hat in den Auseinandersetzungen mit den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts klare Konturen gewonnen. Auch im 21. Jahrhundert ist er eine entscheidende Grundlage für das Menschenrechtsethos und in den schwierigen ethischen Fragen am Anfang und Ende des Lebens ein wichtiges Kriterium. 29

Exemplarisch sei das Memorandum of Understanding (MoU) zwischen Lutherischem Weltbund und Islamic Relief Worldwide genannt, das im August 2014 unterschrieben wurde. Darin heißt es in Artikel 1 zum Zweck des MoU: »It is the intention of the Parties to strengthen strategic partnership between faith-based humanitarian organizations. Through joint collaboration and partnership focused on vulnerable and crisis-affected populations and communities affected by disaster and poverty, the Parties: Commit to achieve justice, peace and sustainable lives, and thereby Aim to increase mutual understanding of how interfaith humanitarian action can work in practice and contribute to peaceful and stable interreligious relations.«

301

Zweitens ist in der theologischen Ethik das Konzept von Freiheit als geschaffener Freiheit von großer Bedeutung.30 Gegen Vorstellungen menschlicher Autonomie, die den Grund der Freiheit im Menschen selbst verorten, vertreten theologische Positionen, dass der Grund menschlicher Freiheit in Gott liegt. Im Geschaffen-Sein findet der Mensch sowohl den Ermöglichungsgrund als auch das Kriterium und die Grenze seiner Freiheit. Freiheit zeigt sich im Modus der Handlungsfähigkeit: Freiheit bedeutet, handeln und gestalten zu können. Freiheit ist jedoch nicht einfach vorhanden, vielmehr ist die Schöpfung durch Beziehungen der Unfreiheit korrumpiert. Insofern bleibt der Mensch konstitutiv auf die Befreiung durch Gott angewiesen. Drittens ist die Verantwortung für das Wohlergehen der Mitmenschen bzw. der gesamten Kreatur wesentlicher Bestandteil theologischer Ethik. Insofern allen Menschen Würde und geschaffene Freiheit zukommt, gilt es dafür zu sorgen, dass auch alle dies realisieren können. Wo immer dies anderen Menschen aufgrund von politischen, ökonomischen, ideologischen oder sonstigen Gründen verwehrt wird, ist es meine unmittelbare Pflicht als glaubender Mensch, alles in meiner Macht Stehende zu tun, dies zu verändern. Das Doppelgebot der Liebe gegenüber Gott und den Mitmenschen fasst das biblische Ethos prägnant zusammen (Mt 22,37–40). Dass es mehr als genug zu tun gibt, ist offensichtlich: Sowohl absolute Armut als auch relative Armut fordern aus der Sicht des Glaubens zur Veränderung auf. Wirtschaftliche Strukturen, die die Differenz zwischen Armut und Reichtum ins schier Unermessliche steigen lassen, sind kritisch zu analysieren. Das Eintreten für die Rechte der Armen ist ein biblisches Mandat: »Schafft Recht den Schutzlosen und Waisen; sorgt dafür, dass den Unterdrückten und Armen Gerechtigkeit zuteil wird!« (Ps 82,3). Dies ist nicht nur ethischer Imperativ, sondern gerade in diesem Psalm ein Kriterium für das Handeln Gottes selbst.

2.

Die Fragen der Armen in theologische Debatten einbringen

In jüdischen sowie in christlichen und islamischen heiligen Schriften lassen sich unmissverständliche Texte finden, die zur aktiven Solidarität mit den Armen und zur Überwindung ungerechter Verhältnisse und Be30

302

Vgl. Simone Sinn/Martin Sinaga (Hg.), Freedom and Responsibility. Christian and Muslim Explorations, Genf 2010.

ziehungen aufrufen. Im 20. Jahrhundert waren es vor allem die kontextuellen politischen Theologien aus dem globalen Süden, die die Implikationen dieser Texte erneut ins Bewusstsein gebracht haben. Als klassische Beispiele seien die Befreiungstheologie in Lateinamerika31 und die Minjung-Theologie in Südkorea genannt, auf muslimischer Seite die Befreiungstheologie von Farid Esack in Südafrika. Für diese Ansätze ist charakteristisch, dass sie nicht nur die Imperative der heiligen Schriften hervorheben, sondern die Armen selbst zu zentralen theologischen Subjekten machen. Es sind die Erfahrungen und Fragen der Armen, die in den Mittelpunkt des theologischen Unternehmens gestellt werden. Das impliziert die Anfrage, wo der eigentliche Ort des Theologie-Treibens sei: in der Kirche/der Moschee, in der akademischen Welt oder an den Hecken und Zäunen? Es geht darum, nicht nur für die Armen zu sprechen, sondern ihnen selbst zuzuhören und von ihrer Rede her Theologie umzugestalten. Die herrschaftskritischen Impulse der Befreiungstheologie stießen zwar auf deutlichen Widerstand, haben aber dennoch Spuren in verschiedenen theologischen Disziplinen und Fachgesprächen hinterlassen. Explizit thematisiert werden die Impulse weiterhin in öffentlichen, interkulturellen, ökumenischen, feministischen und postkolonialen theologischen Ansätzen.32 Für die gemeinsame Reflexion von Christen und Muslimen zum Thema Armut und Gerechtigkeit ist das Hören auf diejenigen, die unter Armut und Ungerechtigkeit leiden, ein wesentlicher Teil des theologischen Prozesses.

3.

Teilhaberechte und Ethos der Solidarität

Ungerechte Beziehungen werden nicht nur durch Egoismus und Maßlosigkeit individueller Akteure hervorgerufen, sondern sind auch unübersehbare Folgewirkungen politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen 31 32

Vgl. aus lutherischer Sicht: Walter Altmann, Luther and Liberation. A Latin American Perspective, Minneapolis 1992. Vgl. Christine Lienemann-Perrin, Neue sozialethische Konzeptionen öffentlicher Theologie in Transformationsprozessen in Asien, Afrika und Lateinamerika, in: dies./Wolfgang Lienemann (Hg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart 2006, 433–470; Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013; Ulrich Duchrow/Carsten Jochum-Bortfeld (Hg.), Befreiung zur Gerechtigkeit/Liberation towards Justice, Münster 2015.

303

in komplexen Systemen. Dabei sind nicht nur Fehlentwicklungen innerhalb des ökonomischen Bereichs, v. a. der Finanzmärkte, ein Problem, sondern die Dominanz der Ökonomie über andere Gesellschaftsbereiche. Die ökonomische Logik durchdringt und steuert scheinbar alle Bereiche, auch den der Kultur und der Bildung, der Politik und des Rechts, der Gesundheitsfürsorge und der Wohlfahrtspflege usw. Demgegenüber ist Gerechtigkeit ein im eigentlichen Sinne politischer Begriff und erschöpft sich nicht in ökonomischen Parametern. In gegenwärtigen Gerechtigkeitsdebatten wird dies unter dem Stichwort »gerechte Teilhabe« diskutiert. In der Denkschrift »Gerechte Teilhabe« der Evangelischen Kirche in Deutschland wird dabei vor allem auf die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik fokussiert, durch die eine gerechte Teilhabe ermöglicht werden soll.33 Hans-Richard Reuter zeigt in einer kritischen Analyse auf, dass der Gehalt dessen, was unter Teilhabe zu verstehen ist, in der Denkschrift nicht deutlich herausgearbeitet wird.34 Reuter selbst unterscheidet zwei verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs »Teilhabegerechtigkeit«. Im Modell des aktivierenden Sozialstaates wird der Begriff kompensativ gefüllt, wobei es darum gehe, die durch die Marktökonomie abgehängten Menschen durch das Prinzip »Fördern und Fordern« wieder in die gesellschaftlichen Systeme einzugliedern. Reuter zufolge steht dem das Modell des demokratischen Sozialstaates gegenüber, in dem es um Beteiligung am demokratischen Prozess gehe: »Denn nur, wenn Bürgerinnen und Bürger ohne Scham und sprachfähig den öffentlichen Raum betreten können, ist ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs über die verbindlichen Normen einer gerechten Ordnung und über die anerkennungswürdigen Ziele eines guten Zusammenlebens möglich.«35 Damit ist deutlich, dass die politisch-bürgerlichen Menschenrechte und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte aufs Engste zusammengehören. 33

34

35

304

Kirchenamt der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Armut in Deutschland, Gütersloh 2006, http://www.ekd.de/download/gerechte_teilhabe_2006.pdf Hans-Richard Reuter, Eigenverantwortung und Solidarität – Befähigung und Teilhabe. Zur neuen Gerechtigkeitssemantik in der evangelischen Sozialethik, in: Hermann-Josef Große Kracht/Christian Spieß (Hg.), Christentum und Solidarität. Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, Paderborn 2008, 501–522, hier 517. Ebd.

Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass Fragen der Nachhaltigkeit aufs Engste mit Fragen der Gerechtigkeit verknüpft sind. Vor Ort und global braucht es die Stärkung eines Ethos der Solidarität. Kirchen engagieren sich mit ihren Partnern »aktiv für die Entwicklung nachhaltiger Gemeinwesen, die sich ihrerseits für ökologische Nachhaltigkeit einsetzen«36. Damit sollen die Handlungsfähigkeit von Menschen gestärkt und tragfähige Systeme entwickelt werden, »um diejenigen Kräfte und Faktoren zu überwinden, die sie unterdrücken, ihre Würde verletzen, sie ausschließen und ausgrenzen«37 .

36 37

Mark Hanson, Ansprache des LWB-Präsidenten, in: Lutherischer Weltbund (Hg.), Unser tägliches Brot gib uns heute. Offizieller Bericht, Elfte LWBVollversammlung, Genf 2010, 17. Ebd.

305

Armut und Gerechtigkeit: Theologische Zentralthemen mit gesellschaftlichem Auftrag Zusammenfassende Perspektiven Amir Dziri/Anja Middelbeck-Varwick

Zunächst ist ein unmittelbares Ergebnis der vorliegenden Beiträge festzuhalten: Es ist die keinesfalls selbstverständliche Einsicht in die Notwendigkeit einer gemeinsamen Anstrengung von Christen und Muslimen zur gesellschaftlichen Armutsbewältigung und Gerechtigkeitssorge. Nahezu einhellig wurde erkannt: Nur gemeinsam wird es letztendlich gelingen können, Strukturen der Benachteiligung und Exklusion wirksam zu bekämpfen. Schon eine erste grobe Sichtung von zentralen theologischen Texten und Traditionslinien ergibt diese breite Übereinstimmung. Sowohl das Christentum als auch der Islam betrachten Armut als einen zu bekämpfenden Missstand und verstehen sich selbst im Einsatz für mehr Gerechtigkeit. Man könnte also meinen, hier bestünde kein weiterer Forschungs- und Differenzierungsbedarf. Wie falsch diese Annahme ist, zeigen die Beiträge dieses Bandes.

1. Armut und Gerechtigkeit – theologische Zentralthemen Die theologischen Bezugnahmen, die aus dem Christentum und Islam heraus eine besondere Inblicknahme der von Armut und Unrecht Betroffenen fordern, sind vielfältig. Grundsätzlich zählen sie zu den ausgemachten Stärken beider Religionen (Wagner). Das christliche Evangelium besteht wesentlich darin, den Armen die Frohe Botschaft zu bringen, also in einer besonderen Parteilichkeit für die Armen. Bereits in den Schriften des Alten Testaments wird Armut in der Geschichte Israels vielfach als Zustand der Not aufgenommen und

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bewertet.1 Das Neue Testament thematisiert die »Bettelarmen«, denen Kleidung mangelt und die Hunger oder chronische Krankheit leiden: Gerade diesen Notleidenden gilt die Verkündigung Jesu, an ihnen wirkt er Wunder.2 Jesus, ein jüdischer Wanderprediger einfacher Herkunft, gehört selbst zu den Armen.3 Wie Renz nachvollziehbar darlegt, war Jesus von Nazareth aufs Engste verbunden mit asketisch geprägten Frömmigkeitsbewegungen.4 »Jesus war arm, weil er frei sein wollte für die Gottesherrschaft, solidarisch mit den Armen, offen für die Not dieser Welt, die er geteilt hat, um sie zu beheben.«5 Sodann kommt der Identifikation der Leidenden mit Christus in der Geschichte des Christentums zentrale Bedeutung zu. Durch den Willen Gottes, sich in Jesus Christus zu offenbaren und damit seine Bedingungen der Existenz anzunehmen, geht Gott selbst in ein von Armut geprägtes Leben ein.6 Christus durchlebt Armut und Leid und wird Anwalt all jener, denen Leidvolles widerfährt. Kreutzer formuliert: »Das Zentrum der christlichen Religion, die Christusgestalt, wird hier von der Idee der Armut und der Solidarität mit den Armen her erschlossen. Arme und Christus werden geradezu spirituell identifiziert: Wer den Armen dient, dient damit in eins Christus.«7 (Vgl. ferner Werner.) Menschwerdung und Kreuz könnte man zunächst einfachhin darauf beziehen, dass sich Christen den Armen zuwenden sollen, weil Jesus dies sehr entschieden getan hat. Darüber hinaus aber bedeutet die Inkarnation Gottes in Jesus Christus auch eine Zusage an 1

2 3 4

5

6 7

Vgl. Jürgen Ebach, Armut II. Altes Testament, in: RGG41, Spalte 779–780. Arm sind Menschen in Bezug auf die Mächtigen und Starken; Armut kann als Folge illegitimer Gewalt bedeuten, »gebeugt« und gedemütigt zu sein. Positiv werden die Armen als »Fromme« z. B. in den Psalmen verstanden. Beispiele: Am 4,1–2; Dt 15,1–11; Spr 31,9 u. v. m. Vgl. Wolfgang Stegemann, Armut III. Neues Testament, in RGG41, Spalte 780. Vgl. Mt 11,5; Lk 6,20–21; Apk 3,17; Mk 10,46–52. Vgl. Lk 1,46.55; Lk 2,6–7; Mk 11,12; Mk 2,23–28. Vgl. auch Rudolf Hoppe, »Nur sollten wir an die Armen denken …« (Gal 2,10). Arm und Reich als ekklesiale Herausforderungen, in: Theologische Quartalschrift 193 (2013/3), 197–208; Wolfgang Stegemann, Das Evangelium und die Armen. Über den Ursprung der Theologie der Armen im Neuen Testament, München 1981, 7–48. Thomas Söding, Auf leisen Sohlen, auf Engelsflügeln. Die Friedensmission der Armen in der Nachfolge Jesu, in: Thomas Möllenbeck/Ludger Schulte (Hg.), Armut. Zur Geschichte und Aktualität eines christlichen Ideals, Münster 2015, 45–68. Vgl. 2 Kor 8,9: Er, der reich ist, ist um unseretwillen arm geworden, damit wir durch seine Armut reich werden. Vgl. den Beitrag von Kreutzer in diesem Band, S. 77.

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alle Menschen in ihrer Bedürftigkeit. Der Kreuzestod wird aufgrund der Auferstehung zum Zeichen der Hoffnung, dass die vermeintlich Mächtigen der Welt nicht das letzte Wort haben werden. Allein Gott vermag es, den Bann des Todes, der Unterdrückung und Erniedrigung zu brechen. In Jesu Leben wird die liebevolle Zuwendung Gottes erfahrbar, indem er sich den Menschen am Rand, den Armen und Ausgegrenzten in besonderer Weise zuwendet. Das Evangelium der Armen meint insofern vor allem, dass Evangelisierung von der Armut her geschieht. Im Anteilnehmen an den vielen Formen menschlicher Armut wird diese in den Reichtum der Nähe Gottes verwandelt. Vielfach wurde in den Beiträgen auch unterstrichen, dass Armut nicht allein materielle Armut bedeute, sondern mehrdimensional zu verstehen sei. So wie die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen heute zwar die materielle Armut zum zentralen Referenzpunkt einer Definition machen, so verweisen auch sie zugleich darauf, dass sich Armut nicht in dieser erschöpft, sondern Dimensionen wie Gesundheit, Bildung und gesellschaftliche Partizipation einschließt.8 In diesem Zusammenhang spricht Kreutzer von »sozialer Armut« und untersucht, wie Papst Franziskus Armut thematisiert, nämlich zu großen Teilen auf einer Symbolebene. Dies kann den sozialen Stigmata in von Ungerechtigkeit durchdrungenen Gesellschaften entgegenwirken. Auch bestand die Mehrdimensionalität der Armutsproblematik bereits zu biblischen Zeiten, weshalb zu unterstreichen ist: »Der vorrangigen Option für die Armen werden Christen nicht allein durch monetäre Zuwendungen gerecht, vielmehr fordert sie den Einsatz für all jene Menschen, die keinen Platz in der Gesellschaft haben […].«9 Eine entsprechende Parteilichkeit und soziale Verantwortung, die Teilhabe einfordert und verwirklicht, ist von Beginn an Kennzeichen christlicher Identität: Ein Glaube ohne Werke ist tot.10 Obwohl es auch im Islam eine lange Tradition theologischer Begründungsweisen gibt, die eine positive Anerkennung der Armen fordern und diese theologisch legitimiert11, werden gegenüber christlichen Ak8

9 10 11

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Vgl. weiterführend Markus Patenge, Arme Menschen, arme Kirche, armer Christus? Theologische Überlegungen zum Armutsparadigma christlicher Caritas, in: Jorge Gallegos Sánchez/Markus Luber (Hg.), Eine arme Kirche für die Armen. Theologische Bedeutung und praktische Konsequenzen, Regensburg 2015, 201–219, 205. Ebd. 210. Gal 2,10; Jak 2,14–17. Vgl. u. a. Sure 9,6–11; 17,31; 17,70.

zentuierungen auch andere Schwerpunktsetzungen hervorgehoben. Eine Selbstentäußerung Gottes (oder mit Rettenbacher: »der parteiische Gott«), die für das Christentum so elementar ist, ist dem islamischen Gottesbild nicht in dieser Weise zu eigen. Während Hajatpour vertritt, dass der Islam keine »Theologie der Armut« kenne, verdeutlicht Esacks Lesart des Korans, dass die geoffenbarte Rechtleitung Gottes wesentlich auch darin besteht, Gerechtigkeit herzustellen und Missstände wie Armut zu bekämpfen (vgl. dazu die entsprechende Akzentuierung bei Tatari). Im Anschluss an eine solche »Aussage Gottes« wäre weiter zu diskutieren, warum dann nicht auch im Islam von einer »Theologie der Armut« zu sprechen wäre. Der Aussagemodus ist gewiss zu unterscheiden: Grob gesprochen findet sich hier stärker die Gerichtsrede, im Christentum stärker der Zuspruch. Doch Esack geht es ja gerade darum, den koranischen Anspruch, soziales Unrecht zu bekämpfen bzw. auch individuell für ethische Rechtschaffenheit verantwortlich zu sein, nicht allein als ethische Pflicht darzulegen. Sondern: Tief wurzelnd in der grundsätzlichen Verwiesenheit des Menschen auf Gott, in der faktischen Bedürftigkeit aller, sind die Gläubigen zu guten Taten aufgerufen (ebenso Medeni). Weil der Mensch sich Gott, dem Barmherzigen und Allerbarmer, verdankt und aller Reichtum nicht nur vergänglich ist, sondern auch verderblich wirken kann, soll der Mensch barmherzig handeln. In der erforderlichen Anerkenntnis der eigenen Geschöpflichkeit zeigt sich eine höchst relevante gemeinsame theologisch-anthropologische Basisannahme von Christen und Muslimen: Denn auch in christlicher Perspektive bleibt der Mensch, wie z. B. Sinn betont, »konstitutiv auf Befreiung durch Gott angewiesen«. Für die islamische Theologie kann festgehalten werden: Wenngleich das Thema Armut nicht in derselben Weise theologisches Zentralthema des Korans ist, so besteht hinsichtlich des ethischen Auftrags keine Differenz. Gewiss ist zu sehen, dass die islamische Forschung die Armutsthematik explizit bisher nur wenig systematisch reflektiert hat (Medeni), doch die Gerechtigkeitsthematik, die die andere Seite der Medaille darstellt, dafür umso entschiedener (Tatari). Der aus den Schriften beider Religionsgemeinschaften hergeleitete Auftrag bleibt identisch: Solidarität mit den Armen und Fürsorge für die Armen, aber auch das Motiv selbstgewählter Armut bilden einschlägige Traditionen sowohl im Christentum als auch im Islam heraus. Seinen Widerhall finden diese theologischen Motive beispielsweise in den seit Jahrhunderten existierenden asketischen Frömmigkeitsbewegungen des Islams und des Christentums. Die christlich-asketischen und muslimischsufischen Ausgestaltungen jener theologisch legitimierten Bedeutung 309

von Armut zeigen sich in ihren Ideen und Übungen erstaunlich verwandt (vgl. Gruber, Hajatpour). In beiden asketischen Traditionen herrscht die Annahme vor, der Mensch sei seiner Schöpfung nach wesenhaft bedürftig und erreiche seine Vervollkommnung durch das Streben nach dem von unendlicher Reichhaltigkeit zeugenden Wesen Gottes. So musste die biblische Entschiedenheit im Laufe der Geschichte oftmals in Erinnerung gerufen werden. Die Bettelorden des christlichen Mittelalters stehen in besonderer Weise für eine solche religiöse Reform: Sie verstanden es, auch die spirituelle Dimension der Armut im Sinne einer »Selbstentleerung«, eines Freiwerdens für Gott und die Nächsten – bisweilen sehr radikal – zu leben. Dies geschah nicht zuletzt als Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Franz von Assisi (1182–1226) begründete in diesem Sinne eine auf breite Resonanz stoßende Bewegung, die seit dem Mittelalter dieses Momentum der christlichen Lehre in besonderer Deutlichkeit im Ordensleben bewahrte und lebendig hielt (Gruber). Franz verschrieb sich der Armut ganz: Nicht nur im Dasein für die Armen, sondern durch eigene Besitzlosigkeit und eine größtmögliche Ungesichertheit der eigenen Existenz waren die Minderbrüder völlig angewiesen auf die Güte Gottes und der Menschen.12 In zahlreichen Traditionen der muslimischen Askese steht der Mensch als Teil des von Gott geschaffenen Kosmos ist einer existenziellen Abhängigkeit zu Gott. Darin versteht auch Hajatpour die ursprüngliche Bedeutung der sufischen Vokabel faqr (Armut, materiell wie immateriell), die insbesondere in der muslimisch-sufischen Tradition dann nicht nur materielle Abhängigkeiten und Besitzverhältnisse meint. Die sufische Bedürftigkeit ist zuvorderst eine ontologische Abhängigkeit, die nur dadurch überwunden werden kann, dass der Mensch die Bedingung seiner Existenz anerkennt und seinen Anspruch auf autonomes Sein aufgibt. Erst dann tritt der nach Vervollkommnung strebende Mensch in den Zustand der Unabhängigkeit und der wirklichen Existenz. Vielleicht liegt in diesem Punkt noch eine weitere aspektuelle Verschiebung zwischen dem Armutsideal im Christentum und dem Islam: Das Entbehren und das Streben nach Besitzlosigkeit ist auf der konkreten Ebene für die muslimische Sufik eine Übung, die eine Bewusstseinsänderung im Hinblick auf die ontologische Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf intendiert. In seiner zugespitzten Formulierung hieße das, dass der Wohlhabende 12

310

Vgl. Anne-Lene Fenger, Artikel »Armut. Biblisch-historische Theologie«, in: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, Bd. 1 (Neuausgabe 2005), 81–91.

möglicherweise ein größeres Verständnis von seiner eigenen Bedürftigkeit besitzt als der Arme – und der Arme umgekehrt trotz seiner Besitzlosigkeit ein stärkeres Gebundensein an Materialität empfindet (vgl. Tataris Ausführungen zum Prophetenwort »Armut führt zu Unglaube«). Asketisches Üben in Besitzlosigkeit dient zwar als Mittel auf dem Weg materieller Entsagung, sie bedeutet aber gleichzeitig keine Garantie dafür, dass der angestrebte Zustand der Vervollkommnung erreicht wird. So ist vermutlich auch die relative und neutrale Betrachtung des Mediums Geld/Vermögen bei Sacarcelik aufzufassen, wohingegen Kurnaz eher von einer dem Geld/Vermögen immanenten Disposition zur Verführung ausgeht, welcher der Mensch in seinem Bestreben nach Versorgung ausgeliefert ist. Möglicherweise korrespondiert die in der Ordensregel des Franziskus weitgefasste Ächtung jeder Art von Besitz (Gruber) mit jener letzten Auffassung innerhalb des Islams. Auch Palavers Thematisierung eines archaischen Eigentumsverständnisses und dessen Wirkung auf das Verhältnis von Geld und Besitz ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Er verweist auf einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen Gewalt und Eigentum, demgemäß das Streben nach Vermögen und Eigentum unmittelbar Wehr- und schließlich Gewalthandlungen bedinge.

2. Armutsethik: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Münden die religiösen Maximen nicht in eine konkrete Bekämpfung der Armut, sondern beschränken sich auf Wertschätzung, Mitgefühl und Verständnis gegenüber Armen, so entstehen diverse Problemlagen, von denen einige wenige genannt seien. Erstens: Gefährlich falsch verstanden wäre die »Seligpreisung« der Armut als eine spirituelle Idealisierung der Armen, die konkrete Not ignoriert und damit fixiert. Beschränkt sich die Glaubensgemeinschaft darauf, Armut als eine Prüfung Gottes, die duldsam zu ertragen sei, zu deuten oder allein predigend auf die Erlösungstat Gottes zu verweisen, so unterläuft sie auch hierin ihre eigenen Sollensansprüche. Mehr noch: Mitunter können insbesondere theologisch legitimierte Deutungen der Armut deren Entstehen und Stabilisierung selbst befördern und sogar zur Legitimierung ungerechter gesellschaftlicher Strukturen beitragen. Ob Armut als eine selbstgewählte religiöse Lebenseinstellung theologisch begründet wird oder ob Armut eine durch soziale und ökonomische Bedingungen aufgezwungene Lebensrealität darstellt, ist deutlich zu unter311

scheiden. Es ist nicht Aufgabe von Religion, im Nachhinein soziale und ökonomische Lebensrealitäten dadurch erträglicher machen zu wollen, dass man theologische Deutungen derselben anbietet! Gerade in Situationen ökonomischer Ungleichverteilung sind die Religionen im Geist ihrer eigenen Schriften und mit all ihren Möglichkeiten gefordert, die gerechte Verteilung von Ressourcen anzumahnen und ethisch vertretbare Zustände zu verlangen. Zweitens: Individualethisch gesprochen unterwandert eine Spendenbereitschaft, die keinen inneren Haltungswandel zur Voraussetzung hat, ja bestenfalls der Gewissensberuhigung dient, auf Gewohnheit beruht oder der Selbstdarstellung dient, die Ansprüche christlichen und muslimischen Glaubens. Ähnlich verhält es sich mit einer Askese, die nur der eigenen spirituellen Suche dient und sich so in eine falsche Frömmigkeit verliert. Drittens: Die generell geforderte Selbstkritik ist besonders frappant im Hinblick auf geschlechterspezifische Ausprägungen von Armut und Gerechtigkeit. Dass Frauen weltweit und auch in Deutschland in spezifischen Weisen und anteilig in größerem Ausmaß von Armut betroffen sind, kann inzwischen als Allgemeinplatz gelten. Doch nur wenn differenziert bewusst gemacht wird, wodurch die Armut von Frauen bedingt ist, kann es hier zu Veränderungsprozessen kommen. »Armut schließt von gesellschaftlichen Prozessen aus, vom Zugang zu Bildung, und wertet Fähigkeiten und Leistungen von Frauen anders als von Männern. Armut ist ein Mangel an Lebensmöglichkeiten und ein Mangel an Verwirklichungschancen.« (Bechmann) In Bezug auf die Bekämpfung von Frauenarmut und Frauendiskriminierung befinden sich Christentum und Islam in einer zutiefst ambivalenten Haltung: Denn hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse und Partizipation werden auf der einen Seite noch immer Frauen- und Männerbilder religiös legitimiert, die die Strukturen systematischer Benachteiligung von Frauen unterstützen und männlich geprägte Macht- und Gewaltstrukturen fortschreiben. (Medeni: »Patriarchat, Tradition und Religion als Nährboden für Frauenarmut«.) Dies gilt im deutschen Kontext z. B. vor allem hinsichtlich der Erwerbstätigkeit von Frauen, so dass hier bis heute überkommene religiöse Frauenbilder zur Stabilisierung von Frauenarmut beitragen. Auf der anderen Seite gewinnen aber auch innerhalb der religiösen Diskurse Stimmen an Gewicht, die z. B. für ein emanzipiertes Verständnis der Partnerschaft, explizit im sozial-ökonomischen Sinne verstanden, eintreten oder sich dezidiert gegen Frauenarmut weltweit engagieren. Dass ein besonderes

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Engagement erforderlich bleibt, zeigt nicht zuletzt die Vielzahl christlicher und muslimischer Frauenverbände an. Viertens: An mehreren Stellen werden seitens der Autoren Bezüge zu Jesus und Muhammad hergestellt und der sozialrevolutionäre Charakter ihres Handelns herausgehoben (Werner, Renz). Konstitutive Elemente der Überlieferungen beider Religionen sind Fragen ökonomischer Verteilung und sozialer Integrität. Beide Religionsgemeinschaften sind daher angehalten, in ihren eigenen Organisationsformen den jeweiligen sozialökonomischen Spannungen der Gesellschaften, in denen sie jeweils agieren, standzuhalten. Explizit fragt Wagner, wie Christen und Muslime den inneren Spagat zwischen Ideal und Wirklichkeit überwinden wollen und wie religiöse Gemeinschaften glaubhaft machen können, dass das Ideal der Armutsbekämpfung in Christentum und Islam nicht bloß situative Textdeutung ist (»Text gegen Text«), sondern immanenter Kern des religiösen Selbstverständnisses. Doch sollte die Theologie hierbei nicht erst von der Soziologie lernen müssen, wie Wagner vorschlägt, sondern besitzt zunächst eigene Maßstäbe und Potentiale der Selbstkritik. Für die biblischen Schriften steht die Parteinahme außer Frage – die Positionierung zugunsten der Benachteiligten ist, wie mehrfach aufgezeigt wurde, eindeutig. Auch haben christliche Theologie und Kirchen die Relationalität von Macht- und Sündenstrukturen vielfach reflektiert (soziale Sünde, Institutionskritik). Das allein schließt allerdings nicht aus, dass sie nicht in eben diese verwickelt sind. Beide Religionsgemeinschaften sind immer wieder selbst von Strukturen der sozialen und ökonomischen Ungleichheit eingeholt worden und haben deren Wirksamkeit dann entgegen ihrer religiösen Intention – teils mit fragwürdigen Argumenten und sehr bewusst, teils schleichend und unbeabsichtigt – verstärkt. Immer wieder tendierten die Gläubigen als Einzelne oder als Gemeinschaften zu einem nur äußerlich bleibenden Verständnis für ein von Armut betroffenes Leben. Armut wurde dann z. B. reduziert auf ein Ideal religiösen Lebensvollzugs. Das läuft Gefahr, der eigenen Maxime, Armut als Missstand zu bekämpfen, nicht mehr gerecht zu werden. Diesbezüglich ist die Rede von einem Widerspruch zwischen der »charismatischen Anerkennung der Armut« einerseits und der gleichzeitig geforderten »Bekämpfung der Armut« andererseits (Wegner). Dieser Umstand wird verstärkt, wenn Religion im Zuge ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung selbst zu einem sozial und ökonomisch relevanten Gesellschaftsakteur wird. Sie gerät dann unter die zwängenden Mechanismen finanzieller Wirtschaftlichkeit. Die Religionsgemeinschaften werden »involviert« in ein gesellschaftliches Gefüge, das zu Teilen Armut fördert (Wagner), 313

oder profitieren gar selbst von Strukturen der Armut und Ungerechtigkeit (Esack, Wagner). Was bleibt also übrig von den vollmundigen theologischen Appellen und Traktaten und vom biblischen wie koranischen Anspruch? Wie kann die Forderung umgesetzt werden, beherzt alle Formen von Armut zu bekämpfen und entschieden solidarisch zu sein mit den von Armut Betroffenen – wenn diese Forderungen auf gesellschaftliche Wirklichkeiten stoßen, gemäß derer Leistungswille und Konkurrenzfähigkeit wenigstens gleichrangige Werte ausmachen? Fünftens: Papst Franziskus gelingt derzeit eine religionsübergreifend anerkannte Thematisierung des weltweiten Armutsproblems.13 Dabei bleibt er eben nicht verhaftet in einer Semantik nur sich wiederholender theologischer Forderungen nach Armutsbeseitigung, sondern hinterfragt die eigene Kirche als Organisationsform im Hinblick auf ihre sozialen und ökonomischen Strukturen (Kreutzer). Franziskus belässt es demnach nicht nur bei einer von außen an die von Armut Betroffenen herangetragene Anwaltschaft im Sinne der »Option für die Armen«, sondern geht einen Schritt weiter und fordert eine »arme Kirche für die Armen«, also eine innerlich gewandelte Kirche, die selbst in ihren jeweiligen ortskirchlichen Vollzügen tatsächlich von den Lebensbedingungen armer Menschen ausgeht: Eine »arme Kirche für die Armen« bedeutet dann, dass die Kirche, d. h. jeder Getaufte, sich von den Armen evangelisieren lässt.14 Für die deutsche Kirche wäre demgemäß zu konkretisieren, wer 13

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Weiterführend zum theologischen Profil des Papstes, seiner lateinamerikanischen Prägung und seiner »Kapitalismus-Kritik« lohnt das Themenheft »Phänomen Franziskus«, Theologisch-praktische Quartalschrift (ThPQ) 163/1 (2015). Dies formuliert Franziskus in Evangelii gaudium (Nr. 198): »Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage. Gott gewährt ihnen ›seine erste Barmherzigkeit‹. Diese göttliche Vorliebe hat Konsequenzen im Glaubensleben aller Christen, die ja dazu berufen sind, so gesinnt zu sein wie Jesus (vgl. Phil 2,5). Von ihr inspiriert, hat die Kirche eine Option für die Armen gefällt, die zu verstehen ist als ›besonderer Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt‹. Diese Option, lehrte Benedikt XVI., ist ›im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen‹. Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen. Die neue Evangelisierung ist eine Einladung, die

denn die »Armen der Kirche« sind und in welcher Hinsicht sie sich folglich »Kirche der Armen« nennen kann.15 In dieser Perspektive wäre z. B. das ökumenische Sozialwort der Kirchen »Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« aus dem Jahr 1997 fortzuschreiben. Wird davon ausgegangen, dass die meisten Kirchenmitglieder nicht von Armut betroffen sind, sondern die »Armen« zumeist außerhalb der Kirche stehen, so erfordert dies eine Veränderung der eingenommenen Position: »Sie [= die Pragmatik der biblischen Gottesrede, Anm. d. Verf.] richtet sich entweder an die Armen und spricht ihnen Gottes parteiliche Solidarität zu – oder an die Nicht-Armen, die für die Armut der Armen ursächlich gesehen werden und in die Verantwortung gerufen werden, den Armen das zukommen zu lassen, was ihnen zusteht, aber vorenthalten wird. Hingegen ist […] die Position eines unbeteiligten Dritten nicht vorgesehen, der sich der Armen barmherzig annimmt, mit deren Armut aber selbst nichts zu tun hat. Genau diese Position sucht die Kirche jedoch einzunehmen.«16 Es gilt also zu sondieren, für welchen Anteil der Armut die Kirche als gesellschaftliche Akteurin bzw. in ihren Einrichtungen Verantwortung trägt (als Arbeitgeberin, Auftraggeberin, Ausschließende). Um Kirche »für die Armen« zu sein, was jedoch allzu schnell zu einer paternalistischen Engführung gerät, oder gar »Kirche der Armen« zu werden, bedarf es somit einer deutlichen Horizontverschiebung. Denn: »[…] dass die Armen ›die ersten Subjekte der Kirche‹ sind, ist theologisch ehrenvoll, für die deutsche Ortskirche jedoch Ausdruck schlechter, weil idealistischer und praktisch nicht belastbarer Theologie.«17 Wie eine stimmige Programmatik einer »Kirche der Armen«

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heilbringende Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen. Wir sind aufgerufen, Christus in ihnen zu entdecken, uns zu Wortführern ihrer Interessen zu machen, aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören, sie zu verstehen und die geheimnisvolle Weisheit anzunehmen, die Gott uns durch sie mitteilen will.« Vgl. Apostolisches Schreiben EVANGELII GAUDIUM des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Bonn 22013 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 194). Vgl. hierzu Matthias Möhring-Hesse, Die Armen der Kirche und die »Kirche der Armen«. Sozialethische Erkundigungen zu einem Programm für die deutsche Ortskirche, in: Theologische Quartalschrift, Jg. 193 (2013), Nr. 3, 262–272, vgl. hier 263. Ebd. 267. Ebd. 269.

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entworfen werden kann, die die Parteilichkeit des Anspruches auch im eigenen Kontext umzusetzen vermag, wird zu erörtern sein.18 Entsprechend wurde darauf verwiesen, dass bei der Thematisierung von Armut in religiösen Kontexten streng darauf zu achten sei, den ursprünglichen theologischen Gehalt des Begriffs zu erfassen und ihn in gegenwärtige Situationen zu transferieren, d. h. wieder diskutierbar werden zu lassen (Gruber: »Erneuerung des Charismas der Armut«).

3. Armutsbekämpfung in der Praxis Die Diskussionen über das Verhältnis von Armut, Reichtum und Gerechtigkeit in der christlichen sowie islamischen Theologie haben deutlich die Spannungen aufgezeigt, in denen sich die Religionsgemeinschaften in ihren moralischen Deutungsansprüchen bewegen müssen. Die theologisch-theoretische Diskussion musste immer wieder den de facto erlebten Realitäten nachlaufen und diese in schlüssiger Weise kommunikativ einholen, um ethische Positionen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.

a) im Finanzwesen Während weithin die Anwendungsbereiche christlicher und islamischer Verteilungsethik parallel thematisiert werden konnten, ergibt sich für den Bereich der Finanzethik eine gewisse Disproportionalität. Sehr viel stärker als im christlichen Diskurs gerechter Verteilung besitzt für den entsprechenden muslimischen Diskurs die Einbeziehung des Finanzsektors eine enorme Relevanz.19 Möglicherweise liegt das daran, dass das islami18

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Möhring-Hesse äußert dazu: »Erst wenn die von Armut Betroffenen kirchliche Akteure und Einrichtungen entsprechend mandatieren, machen sie deren Kirche auch zu ihrer Kirche, ohne deshalb dieser Kirche ›beitreten‹ zu müssen. Sie erkennen an, dass das Engagement der Kirche in ihrem Interesse und in ihrem Auftrag ist und dass es deshalb ihre Kirche ist, die sich da für sie und – im besten Fall – auch mit ihnen engagiert: eine ›Kirche der Armen‹.« Ebd. 271. Diese Disproportionalität sollte nicht schlicht als Nichtvorhandensein einer christlichen Finanzethik missverstanden werden. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass es aufgrund der geschichtlichen Tradition des Christentums in Europa zu einem starken Diffundieren christlicher Sozial- und Finanzethik in die betreffenden Geschäftsbereiche gekommen ist. Man denke hier bspw. an den im Deutschen Grundgesetz (Art. 14 Abs. 2, vgl. Weimarer

sche Zinsverbot die öffentliche Wahrnehmung übermäßig prägt und es dadurch stärker in den Fokus gerückt und rezipiert wird. Auf der anderen Seite bilden die Kriterien als legitim erachteter Geldgeschäfte im Islam ein traditionelles Thema der religiös konnotierten Rechtsliteratur. Die grundsätzliche Wertung von Eigentum, Kapital und letztlich Reichtum unter muslimischen Theologen geht derweil auseinander. Aus asketischer Sichtweise werden ein Verzicht auf Reichtum und ein Vorzug der Enthaltsamkeit artikuliert (Hajatpour). Andere Theologen vertreten eine neutralere Position: Solange der Besitz einhergeht mit der Orientierung auf soziale Nachhaltigkeit, sei es jedem gestattet, Reichtum anzustreben (Sacarcelik). Dem Erwerbsverzicht einiger Sufis wird hier die Erwerbspflicht aus makroökonomischer Sicht entgegengehalten. Die soziale Nachhaltigkeit soll zum einen durch die Durchsetzung einer Abgabenpflicht gewährleistet werden (zakāt), die als eine Art Reichtumssteuer jedem Muslim obliegt, dessen Vermögen einen gewissen Betrag übersteigt. Zum anderen soll die gerechte Verteilung durch super-erogative Handlungen forciert werden, den sog. Almosen (ṣadaqa) (vgl. auch Müller). Der Wert der Pflichtabgabe wird nicht nur in der Verfügung über einen bestimmten Betrag zur Armutsbekämpfung betrachtet; die Pflichtabgabe hat nach Dafürhalten zahlreicher muslimischer Theologen die Funktion, dem ehemaligen Besitzer ins Bewusstsein zu rufen, dass sein Vermögen selbst, aber auch sein Talent, Vermögen erzielen zu können, nicht autonome Hervorbringungen seiner selbst sind, sondern sich letztlich Gott verdanken. Hier greift das Prinzip der Treuhänderschaft (amāna), das eng gekoppelt ist an die Vorstellung der Statthalterschaft des Menschen auf Erden und seine Verantwortlichkeit für menschlichen Besitz und dessen Verteilung (vgl. Hajatpour, Sejdini). Eigentum bedeutet demnach einen vorübergehenden Zustand. Soziale Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit werden in muslimischen Gesellschaften also stark aus diesem Grundverständnis her bewertet. Zu diesem Grundverständnis gehört ebenso die Position, dass Geld keinen Eigenwert besitzt, sondern immer symbolisches Zeichen eines irgendwie vorhandenen Gegenwertes darstellt (Sacarcelik). Das Verbot Verfassung von 1919, § 153 Abs. 3) verankerten Grundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, der sich vermutlich zu einem maßgeblichen Teil auch aus der christlichen Sozialethik speist (vgl. nur Enzyklika Rerum novarum 19; Quadragesimo anno, 44f ff.). Die unterschiedlich intensiven Thematisierungen insbesondere der Finanzethik in Christentum und Islam sind zum einen zwar charakteristisch, sie sind auf der anderen Seite sicherlich aber auch aktuellen Aufmerksamkeiten geschuldet.

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der Zinsnahme beruht eben darauf, dass hier ein Geldwert ohne entsprechende Gegenleistung generiert, also leistungslos erzielt wird. Neben dieser grundlegenden Begründung des islamischen Zinsverbotes lassen sich jedoch auch stärker sozial-ethische Begründungen finden. Demnach verursachen zinsbasierte Schulden einen höheren Begleichungsdruck beim Schuldner. Inwiefern gegenwärtige Modelle des Islamic Finance in der Lage sind, die religiös formulierten Diskrepanzen zinsbasierter Geschäfte zu kompensieren, wird ein in der Zukunft weiter spannend zu beobachtender Prozess sein. Auch hier wird deutlich, dass die Frage um die Legitimität der Finanzierungsmodelle gegenwärtiger Islamic Finance letztlich einen gesellschaftlichen Wertediskurs repräsentiert. Ihm fällt die Aufgabe zu auszuhandeln, inwiefern die angedachten Finanzierungsmodelle eine angemessene Lösung der Verteilungsgerechtigkeit darstellen oder auch nicht.

b) durch religiös motivierte Wohlfahrt Darüber hinaus etablieren die christlichen wie auch die muslimischen Religionsgemeinschaften über die Jahrhunderte hinweg konkrete Organisationsformen, die sich der praktischen Armutsbewältigung widmen. Der moderne Wohlfahrtsstaat gründet – historisch gesehen – mehrheitlich auf christlichen Verbänden und ihren sozialpolitischen Vorstellungen, die sich zum Zwecke der konkreten Armutsbekämpfung und Solidaritätsäußerung zusammenschlossen und über die Jahrhunderte zu einem unabdingbaren Teil des modernen Gesellschaftsgefüges wurden (Werner, Vogel, Wagner). In den muslimischen Gesellschaften entwickelte sich die besondere Organisationsform der Stiftungen (waqf, pl. awqāf). Sie nehmen funktional dieselbe Rolle ein wie der kirchlich organisierte Wohlfahrtssektor in großen Teilen Europas bzw. auch anderer Gesellschaften mit erheblichen Teilen christlicher Bevölkerung. Stiftungen in muslimischen Ländern wenden sich insofern oftmals karitativen, sozialen (dazu gehört oftmals auch der medizinische Versorgungsbereich) und kulturpflegerischen Aufgaben. Muslimische Stiftungsgesellschaften gründeten zumeist große Stiftungskomplexe, denen verschiedene Einrichtungen (Moscheen, Schulen, Krankenhäuser, Bäder, Gärten, Grabanlagen, aber auch Büro- und Kaufhäuser) angegliedert waren. Sie wurden vom Staat zumeist von steuerlichen Abgaben befreit, im Gegenzug verpflichteten sich die jeweiligen Stiftungsgesellschaften, gemeinnützige Ziele zu verfolgen (vgl. Müller). Interessant ist, dass sich die muslimischen Stiftungskomplexe nicht ausschließlich als explizite Orte der Für318

sorge und Mildtätigkeit definierten, sondern dass der Stiftungskomplex durch seine Multifunktionalität die Integration verschiedener sozialer und monetärer Schichten förderte. Eine symbolhafte, beispielsweise räumliche Stigmatisierung von Armut wird durch dieses integrative Muster eher gebremst (Khalfaoui, vgl. ferner die Forderung nach Überwindung einer »Almosen-Theologie« bei Gruber). Gleichwohl können die vorgegebene Form und Struktur den individuellen und kollektiven Gerechtigkeitsdiskurs nicht ersetzen und den jeweiligen Protagonisten das Ringen um ethische und moralische Würde für sich und im Sinne einer vom Impetus der Geschwisterlichkeit getragenen Menschheit nicht abnehmen. Denn in diversen muslimischen historischen Quellen werden oftmals Vorwürfe gegen die Eigentümer von Stiftungsgesellschaften geäußert, wonach sie den Zweck der Gemeinnützigkeit nicht erfüllen und sich stattdessen selbst unangemessen bereichern würden. Die Herausforderung an religiös motivierte Menschen bleibt also die ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortlichkeit gegenüber Werten wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fürsorglichkeit und deren besonderen Gewichtungen in religiösen Traditionen und Überzeugungssystemen. Es ist vielleicht dieser Impuls der Wachsamkeit, der immer wieder dazu anregt, aufmerksam zu bleiben dafür, wo sich neue Zeichen der Unterdrückung und Exklusion ankündigen. In diesem Sinne kann Kreutzers Forderung verortet werden, auch die Exklusion von Armen noch weiter zu denken als eine Exklusion des Anderen. Die Rede über Armut und Gerechtigkeit ist von sich aus, wie durch Vogel bereits dargelegt, eine wertende Rede, die sich auf noch eingelöste moralische Forderungen bezieht. Insofern also noch Armut besteht, bleibt ein unermüdlicher Einsatz für eine größere Solidarität und Gerechtigkeit notwendig, der zugleich stets unabgeschlossen bleiben wird. Hinsichtlich der Strukturen und Handlungsfelder der Wohlfahrt bestehen in diesem Sinne gegenwärtig große Herausforderungen. In Deutschland wird momentan intensiv an Möglichkeiten gearbeitet, eine muslimisch ausgewiesene Wohlfahrtsstruktur in Entsprechung zu christlichen Wohlfahrtsorganisationen aufzubauen. Der karitative Sektor könnte dann mit stärkerer organisatorischer Einbettung und Professionalisierung auch von Muslimen betrieben und genutzt werden, wovon Zugewinne für das öffentliche Allgemeinwohl zu erwarten wären. Muslime würden durch diese Eigenbeteiligung besser in das etablierte deutsche Sozialgefüge integriert. In diese Richtung debattieren politische Vertreter sowohl der staatlichen Seite wie Mitglieder diverser muslimischer Verbände und Gemeinschaften insbesondere im Rahmen der Deut319

schen Islam Konferenz (DIK).20 Nach welchem Modell allerdings ein solcher Aufbau einer muslimischen Wohlfahrtsstruktur ausfallen soll, ist weiter in der Diskussion (Khalfaoui). Theologisch wäre es muslimischerseits zugleich notwendig, eine stichhaltige Konzeption, Kriteriologie und damit Fundierung entsprechender Umsetzungen zu erarbeiten. Hier bestehen Fragen hinsichtlich der (inter-)religiösen Offenheit ebenso wie hinsichtlich der Implikationen eines genauer grundzulegenden Menschen- und Gottesbildes. Diese und weitere Fragen berühren auch gegenwärtige Diskussionsprozesse innerhalb der etablierten christlichen Wohlfahrtsorganisationen (Werner). Der demografische Wandel führt zu einem höheren Druck auf die Wirtschaftlichkeit der Angebote. Gleichzeitig nimmt die religiöse, konfessionelle und weltanschauliche Diversität immer stärker zu. Die kirchlichen Träger sind bereits heute konkret mit der Frage konfrontiert, ob sie beispielsweise muslimische Seelsorger/innen, Pflegekräfte und Sozialarbeiter/innen beschäftigen können bzw. wollen, um vor Ort ein flächendeckendes Angebot weiter realisieren zu können. Diese aktuelle Situation erfordert womöglich eine theologische Verlagerung der Schwerpunktsetzung: Not und Leid existieren jenseits von Grenzen der Person, Religion, Nationalität und Ethnie (Werner). Es bedarf hierzu christlicherseits einer Theologie, die die ursprüngliche Botschaft der Fürsorge und Mildtätigkeit Jesu als eine gelebte karitative Praxis aufzeigt, die alle Menschen einschließt. Muslime müssen ebenso an diesem Punkt der Universalität ihres religiös-sozialen Engagements ansetzen. Sie dürfen in der jetzigen Situation anfänglicher Konstituierung eines muslimischen Wohlfahrtswesens keinen Partikularismus pflegen. Auch sie müssen darlegen, inwiefern das islamische Primat von Solidarität, von sozialer Integration und gerechter Verteilung gerade auch für jene gilt, die sich nicht zum islamischen Glauben bekennen.

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Vgl. zu den diskutierten Handlungsfeldern: http://www.deutsche-islamkonferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/Lenkungsausschuss Plenum/20150113_wohlfahrtspflege_thema_dik-handlungsfelder_dikla.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt eingesehen am 10.11.2015).

4. Einsatz für Gerechtigkeit und Bekämpfung der Armut: interreligiöse Herausforderung und Prüfstein wahren Glaubens Dass eine gemeinsame Suche nach Möglichkeiten, zur Armutsbekämpfung und größerer Gerechtigkeit beizutragen, für Christen und Muslime angezeigt ist, steht mit dem Gesagten außer Frage, »nicht zuletzt deshalb, da die beiden Religionsgemeinschaften zu den global players gehören und ihre Stimme im manchmal monotonen Konzert globaler wirtschaftlicher und politischer Interessen einbringen müssen« (Rettenbacher). Die Reflexion hat gezeigt, dass sowohl mit Blick auf die islamische als auch mit Blick auf die christliche Tradition wahrhaftiger Glaube gebunden ist an aufrechtes Tun des Guten (Esack). So wird auch der Glaube an einen Gott, der Gerechtigkeit verheißt, gerechtes Handeln zur Konsequenz haben müssen: Die Bekämpfung von Armut und das Einstehen für Gerechtigkeit wird somit zum Prüfstein für den Glauben – sowohl individuell als auch hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Gemeinschaft. Mit Blick auf die islamische Praxis von zakāt und ṣadaqa sollten sich Christen fragen lassen, wie ernst sie als Getaufte, d. h. individuell, es mit der caritas als kirchlichem Grundvollzug meinen. Umgekehrt könnten Muslime bedenken, inwiefern die Säule der verpflichtenden Sozialabgabe für sie in ihrem persönlichen Gläubigsein auch wirklich ein Ausdruck tätiger Nächstenliebe ist. Dass es für Gläubige wie Nichtgläubige im wirtschaftlich reichen Norden hohe Zeit ist, das Teilen neu zu lernen, ist fraglos eine Signatur unserer Tage. Für Prozesse der gesellschaftlichen Solidarität einzutreten, ist ganz entschieden auch interreligiöse Aufgabe: Auf Deutschland bezogen heißt das zum Beispiel: Einsatz für gleiche Verwirklichungschancen in Bildung und Beruf oder Einsatz für die Integration von Flüchtlingen oder Wohnungslosen oder auch Kritik an arbeitsmarktpolitischen Mechanismen der Exklusion usw. Wichtig ist, dass Gerechtigkeit vor allem ein »Beziehungsbegriff« ist (Sinn); die Würde oder Freiheit von Menschen ist nicht isoliert oder abstrakt zu wahren, sondern ist immer in (mehr oder weniger gerechten) Beziehungen situiert. Diese grundlegende Einsicht gilt es auch für die Reflexion über Armut anzuwenden: Nur wenn das Konzept der Armutsbekämpfung zugleich bemüht ist, gerechtere Beziehungen zu erwirken, erschöpft sich der Einsatz gegen Not nicht in paternalistischer Attitüde. Die beiden Religionsgemeinschaften und auch ihre Theologien müssen hierbei prüfen, inwiefern sie innerhalb ihrer Strukturen und Leitlinien 321

selbst tatsächlich offen für die Ränder sind, ebenfalls von bestimmten Weisen der Exklusion profitieren, zu Stigmatisierungen beitragen oder auch explizit nicht dialogisch zusammenwirken. Das Sprechen darüber, was Armut und was Reichtum bedeutet, inwiefern Gerechtigkeit sich auf Ebene des Besitzstandes bewahrheitet bzw. abhanden gerät, ist letztlich eine wertende Rede (Vogel). Daher gilt es, auch die eigene religiöse Sprechweise und Geschichte kritisch im Blick zu halten: Im Laufe der Jahrhunderte waren Institutionen und Repräsentanten von Christentum wie Islam faktisch selten uneingeschränkt auf Seiten der Mittellosen. Bereits im Mittelalter wurden Unterscheidungen zwischen »unverschuldeten« und »selbstverschuldeten« Armen getroffen (Wegner). Der Leistungsgedanke bleibt demnach selbst im eigentümlichen Bereich der Armenhilfe präsent. Und selbst wenn heutzutage in der Solidargesellschaft die Frage selbstverschuldeter Armut nicht mehr ausschlaggebend für die Gewähr von Hilfe und Unterstützung ist, so steht sowohl die Annahme von Zuwendungen als auch ihre Gewährung noch immer unter einem extremen Rechenschaftsdruck. Die christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften sind also permanent dazu angehalten, ihre Verstehensweisen und Umsetzungen von religiös motivierten Werten der Solidarität und Fürsorge selbstkritisch zu prüfen und in einem gesellschaftlichen Diskurs stark zu machen.

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Autorinnen und Autoren

Ulrike Bechmann, Dr. theol., Professorin für Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz Amir Dziri M. A., Dr. phil., Wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster Farid Esack, Ph. D., Professor für Islamische Theologie an der Universität Johannesburg Johannes Frühbauer, Dr. theol., Bereichsleiter Weltethos und Gesellschaft der Stiftung Weltethos, Tübingen Sr. Margareta Gruber OSF, Dr. theol., Professorin für Exegese des Neuen Testaments und Biblische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar Reza Hajatpour, Dr. phil., Professor am Lehrstuhl für IslamischReligiöse Studien mit systematischem Schwerpunkt an der Universität Erlangen-Nürnberg Mouez Khalfaoui, Dr. phil., Professor für Islamisches Recht am Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Tübingen Ansgar Kreutzer, Dr. theol., Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz Serdar Kurnaz M. A., Dr. phil., Co-Leiter des Schweizer Zentrums für Islam und Gesellschaft an der Universität Fribourg Elif Medeni M. A., Wiss. Mitarbeiterin an der Universität Wien Anja Middelbeck-Varwick, Dr. phil., Juniorprofessorin für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Theologie des interreligiösen Dialogs/christlich-muslimische Beziehungen am Seminar für Katholische Theologie der FU Berlin

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Sebastian Müller, Doktorand der Bayreuth Graduate School of African Studies (BIGSAS) an der Universität Bayreuth und Lehrkraft mit besonderen Aufgaben im Fachbereich Entwicklungssoziologie der Universität Bayreuth Wolfgang Palaver, Dr. theol., Professor für Christliche Gesellschaftslehre und Dekan an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck Andreas Renz, Dr. theol., Fachreferent für interreligiösen Dialog im Erzbistum München und Freising und Lehrbeauftragter an der LMU München Sigrid Rettenbacher, Dr. theol., Ausbildungsleiterin für Theologiestudierende am TheologInnen-Zentrum Salzburg Osman Sacarcelik, Dr. jur., Rechtsanwalt im Frankfurter Büro von Norton Rose Fulbright LLP und Gastdozent am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg Zekirija Sejdini, Dr. phil., Professor für islamische Religionspädagogik am Institut für Fachdidaktik der School of Education an der Universität Innsbruck Simone Sinn, Dr. theol., Studienleiterin für Öffentliche Theologie und interreligiöse Beziehungen beim Lutherischen Weltbund in Genf Christian Ströbele M. A., Dr. theol., Leiter des Referats Interreligiöser Dialog an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der Universität Tübingen Muna Tatari, Dr. phil., Juniorprofessorin für Systematische Islamische Theologie am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn Fahimah Ulfat, Wiss. Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre (IZIR) der Universität Erlangen-Nürnberg und Kollegiatin des Mercator Graduiertenkollegs Islamische Theologie Berthold Vogel, Dr. disc. pol., Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Universität Göttingen und Professor für Soziologie an der Universität Kassel

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Constantin Wagner M. A., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Universität Frankfurt a. M. Gerhard Wegner, Dr. theol., Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD und apl. Professor für praktische Theologie an der Universität Marburg Dietrich Werner, Pastor Dr. theol. Dr. h. c., Theologischer Grundsatzreferent von Brot für die Welt/Kirchlicher Entwicklungsdienst Berlin

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Zur Reihe Die Reihe ›Theologisches Forum Christentum – Islam‹ bietet eine neuartige Diskussionsplattform mit dem Ziel einer theologischen Verhältnisbestimmung von Christentum und Islam. Zum Buch Armut ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Sie ist oft Folge wie Ursache sozialer Ausgrenzung und Marginalisierung und hat weitreichende Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf das Selbstwertgefühl von Menschen. Damit sind Grundfragen von Menschenbild und Gesellschaft verbunden, welche die christliche und islamische Theologie zu allen Zeiten herausgefordert haben. In beiden Religionen finden sich unterschiedliche theologische Deutungen und teilweise auch Idealisierungen von Armut sowie Motive und Kriterien für eine gerechtere Gesellschaft. Christliche und islamische Wissenschaftler entwickeln in einem interreligiösen und interdisziplinären Rahmen Analysen aktueller gesellschaftlicher Problemlagen, formulieren theologische und ethische Deutungen und bringen kritische und konstruktive Impulse in den Kontext säkularer Gesellschaften ein. Die Herausgeber Christian Ströbele, Dr. theol., ist Referent für interreligiösen Dialog an der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Anja Middelbeck-Varwick, Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Systematische Theologie/Theologie der Religionen an der Freien Universität Berlin. Amir Dziri, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster. Muna Tatari, Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Islamische Systematische Theologie am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

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