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German Pages 376 Year 2018
Ina Schildbach Armut als Unrecht
Edition Politik | Band 63
Ina Schildbach (Dr. phil.), geb. 1987, lehrt Politikwissenschaft an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg und an der Technischen Hochschule Georg Simon Ohm Nürnberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Armuts-, Migrations- und Rassismusforschung sowie Politische Ökonomie.
Ina Schildbach
Armut als Unrecht Zur Aktualität von Hegels Perspektive auf Selbstverwirklichung, Armut und Sozialstaat
Unter dem Titel »Selbstverwirklichung, Armut und Sozialstaat. Eine politikphilosophische Analyse auf Basis von Hegels Begriff des ›allgemeinen Ich‹« als Dissertationsschrift an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingereicht. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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Inhalt
Hinführung | 9 1.1 Hegels politikphilosophische Perspektive auf Armut(-sforschung) heute | 9 1.2 Methodische und logische Vorbemerkungen | 15 1.3 Selbsterkenntnis und Armut bei Hegel – Skizzierung einiger Linien der Hegel-Forschung | 30 1
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Der „Trieb der Perfektibilität“, oder: die Grundlegung des sittlichen und politischen Bildungsauftrags des allgemeinen Ich | 77
2.1 Denken und Wille als an-sich-seiende Elementarbestimmung des Menschen | 81 2.2 Politische Anthropologie, oder: Denken und (freier) Wille als politische Bestimmung | 100 2.3 Resultate und Übergang: die Realisierung des Triebs der Perfektibilität als politisch-philosophische Aufgabe | 107 3
Das allgemeine Ich auf der Ebene des objektiven Geistes: die Emergenz der Armut als ökonomisch-politisches Problem | 113
3.1 Das allgemeine Ich in der Sphäre der Ökonomie | 117 3.2 Das allgemeine Ich im Staat, der Sphäre der „gewussten“ und „substantielle[n]“ Allgemeinheit, oder: die vermittelte Einheit von Bürger und Staat in der politischen Lebensform als Überwindung der äußeren Allgemeinheit | 179 3.3 Zwischenfazit und Überleitung | 261 4
Der absolute Geist: Aufhebung der geistig-sittlichen Entzweiung durch die Rückführung der Armen in das Allgemeine? | 281
4.1 Die Kunst als „Lehrerin der Völker“: Vermittlerin der Sittlichkeit in Form des Sinnlichen und damit zentrales Bildungselement für bildungsferne Schichten | 286 4.2 Das „Absolut-Allgemeine“ der Philosophie: der Bildungsprozess zum Philosophen als höchste Form der Selbstverwirklichung | 307
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Synthese der empirischen und politikphilosophischen Betrachtungsweise: die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung – Angst vor Hegels Pöbel und Populisten heute | 331
5.1 Die identische Perspektive: Armut als Problem für eine politikphilosophisch bzw. demokratisch verstandene Selbstverwirklichung und als soziale Frage | 334 5.2 Grenzen und Mängel des 5. ARBs sowie von Hegels Analyse | 345 5.3 Resümierende Schlussfolgerungen für die Möglichkeit der Selbstverwirklichung und die Armutsforschung | 356 6
Zusammenfassende Thesen der Dissertation | 359
Literaturverzeichnis | 365
„Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“ (GPR, § 244, Zus.)
„Die Frage wie der Armuth zu helfen ist, ist sehr schwer zu beantworten.“ (GSGPR, § 245, S. 611)
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Hinführung
1.1 HEGELS POLITIKPHILOSOPHISCHE PERSPEKTIVE AUF ARMUT(-SFORSCHUNG) HEUTE Armut stellt in unserer Gesellschaft weder in der Öffentlichkeit im Allgemeinen noch in der Wissenschaft ein marginalisiertes, gar verschwiegenes Thema dar. Neben einer inzwischen institutionalisierten Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung, die sich zur Vorlage eines Berichtes in jeder Legislaturperiode verpflichtet hat, gibt es „Schattenberichte“ wie den des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zusammen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, wodurch auch von nicht-offizieller Seite ein breites Bild von dem Phänomen gegeben wird. Auch in der Forschung wird Armut unter anderem durch zahlreiche Studien ausgiebig ergründet.1 So haben vor allem Korrelationen zwischen sozialer Herkunft und Bildungsarmut sowie daraus folgenden schlechteren Aufstiegschancen, zwischen Armut und einer geringeren Lebenserwartung und viele weitere Zusammenhänge Eingang in ein allgemeines öffentliches Bewusstsein gefunden, sodass deren Bestätigung durch neue Studien kaum mehr für Aufregung sorgt. Auch für Risikofaktoren wie Scheidung, Migration, Alter, Alleinerziehung und einiges mehr existiert eine ausgeprägte Sensibilisierung, zu der neben wissenschaftlichen Publikationen vor allem auch der periodisch erscheinende „Armuts- und Reichtumsbericht“ und das darauf stets folgende mediale Echo beitragen. Dieses breite Bewusstsein von Armut2 ist keineswegs selbstverständlich. Schließlich ist ihre Existenz kaum neutral zu konstatieren, sondern trägt unmittelbar
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Verweise auf Publikationen, die für die hier darzulegende Sichtweise auf Armut von Relevanz sind, werden im 5. Teil dieser Arbeit ausführlich gegeben. Einen Überblick über die Behandlung des Gegenstandes in der aktuellen Armutsforschung bieten bspw. Groenemeyer und Ratzka (dies., in: Albrecht/Groenemyer 2012, S. 367-432).
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Natürlich gibt es innerhalb der Wissenschaft sowie der Medien eine breite Debatte darüber, was unter Armut zu verstehen ist, ob es überhaupt Armut in Deutschland gibt oder
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die Forderung ihrer Bekämpfung in sich: „Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird“ (GPR, § 244, Zus.). Konstatieren zu müssen, dass es von Armut Betroffene gibt, ist Hegel zufolge gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass – durch wen oder was und weswegen, ist an dieser Stelle noch offen – ihnen ein Unrecht zugefügt wird, woraus sich nahtlos die Forderung der Beseitigung desselben ergibt: „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende“ (GPR, § 244, Zus.). Daran hat sich auch heute – insoweit herrscht Konsens in Politik, Öffentlichkeit und Forschung – nichts geändert: Armut stellt einen quälenden Missstand dar3 – der Dissens macht sich vielmehr fest an der Frage, wann von Armut gesprochen werden muss. So sehr einerseits bekannt ist, dass es sozial benachteiligte Menschen in unserer Gesellschaft gibt und bei dieser Gruppe die benannten Zusammenhänge greifen, ist doch strittig, inwiefern die Betroffenen in Deutschland überhaupt als „arm“ bezeichnet werden können. Ein relativer Armutsbegriff „führt leider schnell in die Irre“ (SZ vom 27.03.2015), so nicht nur die ehemalige Bundessozialministerin Andrea Nahles. Dass beispielsweise die Armutsquote identisch bliebe, wenn das Volkseinkommen steigt (vgl. bspw. Willke 2011, S. 32), ist ein auch in Öffentlichkeit und Forschung häufig genannter Einwand, der letztlich auf eine vermeintliche Verwechslung der Begriffe „Armut“ und „Ungleichheit“ (vgl. bspw. SZ vom
ob dieser Begriff nicht vielmehr mit dem der „Ungleichheit“ verwechselt wird. Was Hegel unter Armut versteht, wird im Laufe der Arbeit dargelegt. Vorab sei zu diesem Einwand nur zweierlei festgehalten: Selbst wenn man den Kritikern zugestehen würde, dass „Ungleichheit“ die adäquatere Kennzeichnung wäre, nimmt dies die benannten Erkenntnisse über einen Zusammenhang von materieller Schlechterstellung und geringeren Bildungschancen und einer geringeren Lebenserwartung nicht zurück. Letztlich löst sich die Kontroverse dann in einen Streit um das richtige Wort für dieses Phänomen auf. Die Verschiebung zur Frage, wann überhaupt von „Armut“ gesprochen werden kann, ist meines Erachtens – dieser Hinweis soll hier in der gebotenen Kürze gegeben werden – eine logische Folgerung aus der bereits von Hegel benannten Tatsache, dass die Konstatierung von Armut gleichbedeutend mit der eines Unrechts ist (vgl. ff. Ausführungen). Ich habe die Verwandlungen in einigen Facetten der Besprechung von Armut und deren Gründe in dem Aufsatz „Was ist der ‚angemessene‘ Armutsbegriff?“ (Schildbach 2017) darzulegen versucht. 3
Dieser Befund drückt Jacobs in der Feststellung aus, dass über Armut „nicht wertneutral“ (Jacobs 1995, S. 405) gesprochen werden könne, sondern darin ein „Mißstand“ zu sehen ist. Butterwegge zufolge ist Armut an sich „ein politisch-normativer Begriff“ (Butterwegge 2009, S. 13).
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03.03.2017) zielt. Meines Erachtens liegt in dem von Hegel angesprochenen Unrecht, als das Armut in Gesellschaft klassifiziert werden muss, der neuralgische Punkt, weswegen sich ein großer Strang der Armutsdebatte um die Frage der richtigen Erfassung bzw. Messung des Phänomens dreht: Wie gewinnt die Forschung einen möglichst präzise zu operationalisierenden Begriff von Armut (vgl. bspw. Groh-Samberg 2009, S. 24 ff.)? Sind 50 oder nicht vielmehr 60 Prozent des mittleren Äquivalenzeinkommens angemessen (vgl. bspw. BMAS 2013, S. 330)? Das Bedürfnis einiger Diskursteilnehmer, Armut durch exakte Messmethoden und empirisch handhabbare Begriffe zweifelsfrei „dingfest“ zu machen, verdankt sich dem Bewusstsein des Einspruchs gegen eine Gesellschaft, die Armut unter ihren Mitgliedern zulässt.4 Wenn die überwiegend empirisch ausgerichtete Forschung also zweifellos ihre Verdienste hat, indem sie die Lage von sozial Benachteiligten durch lebensweltliche Zusammenhänge veranschaulicht, stößt dieses Vorgehen auch an Grenzen, wenn es sich primär auf eine adäquate Messung des Phänomens kapriziert. Auch das Aufzeigen von Korrelationen zum Beispiel zwischen materieller Deprivation und Bildungsbenachteiligung, die sich in unterdurchschnittlich wenigen „Arbeiterkindern“ an den Universitäten ausdrückt, ist hilfreich, um ein Problembewusstsein in der breiten Öffentlichkeit zu schaffen und der Politik Handlungsnotwendigkeiten aufzuzeigen. Dennoch sollte sich der gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurs nicht allein auf empirische Fragestellungen verkürzen. In diesem Sinne geht die vorliegende Arbeit von der Prämisse aus, dass sowohl die fachliche als auch breite öffentliche Diskussion über Armut durch eine politikphilosophische Perspektive bereichert werden kann. Eine Analyse des Phänomens, die sich auf den Philosophen G. W. F. Hegel stützt, mag zunächst altertümlich und befremdlich erscheinen. Der Anspruch des Projekts zumindest besteht jedoch darin, im Laufe der Argumentation zu zeigen, inwiefern diesem Vorgehen zwar einerseits eine Distanz zur im engen Sinne empirischen Forschung zukommt, indem andere Fragen in den Mittelpunkt der Untersuchung rücken. Andererseits kann diese Herangehensweise durchaus für die aktuelle Armutsforschung fruchtbar gemacht werden, da unter anderem deren Prämissen und implizit eingenommene Perspektiven bewusst gemacht werden. Mit und gegen Hegel sollen Unterstellungen der Debatte, Verwandlungen im Blick auf Armut und scheinbare Selbstverständlichkeiten reflektiert werden, die die unausgesprochene Basis des heutigen Diskurses bilden. Um den a priori postulierten Erkenntnisgewinn durch die politikphilosophische Betrach-
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Die Rückführung auf diesen Grund ist natürlich umstritten. Serge Paugam zum Beispiel hält diese Verschiebung für eine selbstverständliche Herangehensweise: Wenn von Armut die Rede ist, „fängt man spontan erst einmal an, die Armen zu definieren, um sie zählen zu können, zu untersuchen, wie sie leben, und den Entwicklungsverlauf ihrer Situation zu analysieren“ (Paugam 2008, S. 7).
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tung einzulösen, soll nach dem Nachvollzug der Hegelschen Gedanken im letzten Teil eine Verknüpfung zwischen den mit Hegel gewonnenen Einsichten und der heutigen Forschung geleistet werden. Exemplarisch am 2017 erschienenen Bericht über die „Lebenslagen in Deutschland“ (BMAS 2017) wird gezeigt, inwiefern Hegels Armutsbegriff, seine Ursachenanalyse und die von ihm eingenommene Perspektive auf Armut Beiträge zu einem Verständnis des Gegenstandes heute sowie auch der Armutsforschung selbst darstellen. Umgekehrt wird auch gezeigt, inwiefern die rein politikphilosophische Betrachtungsweise vom empirisch-quantitativen Vorgehen profitieren kann, indem anhand des Berichts Mängel von Hegels Analyse herausgearbeitet werden. Neben der „Armut“ hat diese Arbeit noch einen weiteren Schlüsselbegriff, den es vorab – vor allem auch das Verhältnis der beiden – darzulegen gilt: Selbstverwirklichung als zweite zentrale Kategorie dieser Arbeit zu wählen, liegt zunächst in Hegels Philosophie selbst begründet. Selbsterkenntnis stellt für ihn ein „absolutes Gebot“ (Enz. III, § 377) dar,5 das jedem Individuum durch sein Mensch-Sein zukommt: Weil er Teilhaber an der allgemeinen Vernunft ist, hat er die Verpflichtung, sein Wesen und die Welt als vernünftig zu begreifen.6 Die geforderte Selbsterkenntnis stellt also keine reine Introspektion dar; der Mensch soll sich vielmehr als Teil der Vernunft verstehen, die sich in der Welt realisiert und in einem zweiten Schritt zur weiteren Verwirklichung dieser beitragen. Nur dadurch kann er sich selbst verwirklichen. Worin diese Tätigkeit konkret besteht, ist Hegel zufolge nicht beliebig: Er argumentiert dafür (vgl. Kapitel 2), dass der Mensch als mit Willen und Denken begabtes Wesen zur Freiheit und damit auch zur politischen Freiheit bestimmt ist. In diesem Sinne ist seine Kennzeichnung als „allgemeine[s] Ich“ (Enz. III, § 433, Zus.) zu verstehen. Der Mensch ist an sich auf die Allgemeinheit bezogen, sodass zum Begriff der Selbstverwirklichung also ein Verständnis dessen und eine Praxis in diesem Sinne gehört: „[D]ie Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen“ (GPR, § 258, Anm.). Die politische Dimension stellt hierbei nur eine Erscheinungsweise des Allgemeinen dar; weitere wie die „formelle Allgemeinheit“ (Enz. III, § 517) der bürgerlichen Gesellschaft oder das „AbsolutAllgemeine“ (Enz. III, § 577) der Philosophie, in der das Individuum Sphären seiner Selbstverwirklichung findet, werden im Laufe der Argumentation entwickelt. Eine Vorannahme dieser Arbeit besteht in der Annahme, dass hinsichtlich dieses Schlüsselbegriffs zwar Differenzen, zugleich jedoch ein wesentlicher Bezugs-
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Inwiefern Selbstverwirklichung und Selbsterkenntnis in seiner Philosophie synonym zu verstehen sind, wird in Kapitel 2 dargelegt.
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Was darunter genau zu verstehen ist und inwiefern ich die Deutung nicht teile, dass Hegel damit alle Erscheinungen der Realität legitimieren möchte, wird im Laufe der Argumentation deutlich werden.
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punkt zum Hegelschen System besteht: Liegt der Behandlung und Problematisierung von Armut heute nicht auch die Auffassung zugrunde, dass jeder im demokratischen Staat die Möglichkeit zur Verwirklichung seiner Potenzen haben sollte? Meines Erachtens besteht der geteilte Grundgedanke darin, dass jedem das Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit zusteht. Ausgehend von diesem gemeinsamen Fundament ergeben sich offenbar einige Unterschiede. Unter anderem wird dieses Recht heutzutage kaum mehr anthropologisch begründet und auch das Telos der Selbstverwirklichung wird zumeist als offen bzw. als eine rein individuelle Frage verstanden: Dass der Mensch aufgrund seines Wesens zur Selbstverwirklichung bestimmt und damit auch der Weg dieses Prozesses vorgezeichnet ist, erscheint den meisten angesichts der Pluralität von Lebensformen vermutlich antiquiert. Die Differenzen sollen hier nicht negiert werden, aber dennoch wird sich im Laufe der Argumentation zeigen, dass einige Stufen der Selbstverwirklichung auch heute gelten. Dieser Begriff zielt bei Hegel gerade nicht auf das rein Partikulare eines Individuums, sondern darauf, was an ihm allgemein ist. Dass der Wille beispielsweise des Materials bedarf, um seine Intentionen in der Welt umsetzen zu können und die Selbstverwirklichung damit materielle Bedingungen hat, gilt unverändert. 7 Als „zoon politikon“ wird der Mensch heutzutage kaum noch verstanden, zumindest nicht im Sinne einer verbindlichen Vorgabe für gelungene Selbstverwirklichung – dass die Entfaltung des Einzelnen jedoch auch die Möglichkeit der Partizipation am Gemeinwesen einschließt, ist wiederum selbstverständlich. So scheint es mir gerechtfertigt, nach der Untersuchung der beiden Schlüsselbegriffe Selbstverwirklichung und Armut die mit Hegel gewonnenen Erkenntnisse auf die moderne Armutsforschung anzuwenden: Trotz aller Unterschiede stellt die Möglichkeit der Selbstverwirklichung nach wie vor den Hintergrund dar, vor dem Armut zu einer „quälenden Frage“ wird. Gang der Untersuchung Der Aufbau dieser Arbeit folgt den Erscheinungsformen des Allgemeinen bzw. den Stufen der Selbstverwirklichung, die Hegel in seinen Werken vorzeichnet, um von diesem immanenten Entwicklungsgang auf das Phänomen der Armut zu stoßen. Ich möchte also zeigen, inwiefern ein Nachvollzug der Hegelschen Theorie menschli-
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Die Möglichkeit der Selbstverwirklichung unterstellt materielle Bedingungen – eine Aussage, die mehr als banal zu nennen ist. Nun liegt Hegels Verdienst jedoch gerade darin, das „Drama der Armut“ (Losurdo 1988, S. 173) auf seine Ursachen zurückgeführt, Gegenmaßnahmen diskutiert und dessen politische und sittliche Konsequenzen erkannt zu haben. Bei einem Nachvollzug dessen verliert der Zusammenhang seine scheinbare Banalität.
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cher Subjektivität zur Behandlung dieses zweiten Begriffs führen muss: Die von Hegel dargelegte Notwendigkeit der materiellen Deprivation impliziert auf mehreren Ebenen ein Problem für das von ihm postulierte anthropologische Gebot, weswegen die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten der von Armut Betroffenen zu einem in allen Sphären zu berücksichtigenden Gegenstand werden. Nach einer Auseinandersetzung mit Hegels sowie meiner eigenen Methode und logischen Begriffsklärungen, die aufgrund der zentralen Kategorie „allgemeines Ich“ sinnvoll erscheinen, wird dargelegt, inwiefern der zu entwickelnde Konnex zwischen Selbstverwirklichung und Armut in der Hegelforschung bislang vernachlässigt wurde. Außerdem werden exemplarisch Mängel von Analysen angedeutet, die sich intensiv mit dem Phänomen der Armut bei Hegel beschäftigen. Ihren inhaltlichen Ausgangspunkt nimmt die Arbeit in der Sphäre des subjektiven Geistes: Es wird dargelegt, dass dem Menschen aufgrund seines Willens und der Fähigkeit, denken zu können, ein Bildungsauftrag zukommt, der aus zu erläuternden Gründen Hegel zufolge als politisch-philosophische Aufgabe zu verstehen ist. Diese Bestimmungen stellen die erste Fassung dessen, was unter dem allgemeinen Ich zu verstehen ist, dar. Auf Basis dieser allen zukommenden Bestimmung werden die verschiedenen Stufen menschlicher Subjektivitätsentfaltung analysiert: Die Untersuchung des objektiven Geistes richtet sich zunächst auf die Ökonomie, da das Individuum der Mittel bedarf, um seine Zwecke in der Welt umsetzen zu können. Für Hegel ist dieser Anspruch untrennbar mit dem Eigentumsrecht verbunden, das das abstrakte Prinzip der sich daraus konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Es wird zu zeigen sein, inwiefern sich hier ein Freiheitsmoment ergibt, das dem Wesen des Menschen einzig angemessen ist. Zugleich jedoch liegt darin das Phänomen der Armut begründet, das durch die Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft als Konkurrenzzusammenhang perpetuiert und sogar verstärkt wird. Da sich hieraus schwerwiegende Konsequenzen für die Realisierungsmöglichkeit des Individuums und aus darzulegenden Gründen eine Gefahr für seinen anspruchsvollen Staatsbegriff ergeben, widmet sich Hegel ausführlich der Möglichkeit der Linderung der Armut. Es wird erläutert, welche Lösungsvorschläge weswegen verworfen werden und inwiefern der Sozialstaat dem Philosophen als einzig adäquate Antwort erscheint. Hegel sieht in der Kompensation der Armut die weitgehende Behebung des aus der Ökonomie herrührenden Problems, das nur noch hinsichtlich eines kleineren Teils der Armen, des sogenannten Pöbels, besteht. Deswegen wird es von ihm explizit erst wieder in geistig-sittlicher Hinsicht und nicht in Bezug auf das Politische im engen Sinne, also auf die Institutionen des Staates, aufgegriffen. Es wird zu zeigen sein, dass an dieser Stelle eine Distanzierung von seinem Denken notwendig ist: Tatsächlich wird das ökonomische zu einem politischen Problem, dem nicht allein durch die Einrichtung eines Sozialstaates Rechnung getragen werden kann. Deswegen werden die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des allgemeinen Ich in der Sphäre des Politischen nicht nur im All-
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gemeinen, sondern auch mit besonderem Blick auf die von Armut Betroffenen analysiert. Im letzten Teil der Auseinandersetzung mit Hegel steht die Frage nach der Aufhebung der geistig-sittlichen Entzweiung durch den absoluten Geist. Hegel zufolge findet das allgemeine Ich in der Philosophie die höchste Form der Selbstverwirklichung. Das Volk im Allgemeinen und hier vor allem die bildungsfernen Schichten, die häufig mit den materiell Ausgeschlossenen identisch sind, bedürfen der Kunst und der Religion als Vermittler der Sittlichkeit. Die nicht im Medium des Begriffs, sondern der Anschauung und Vorstellung befindlichen Formen können die Armen in die Allgemeinheit zurückführen, ihnen somit eine graduell abgestufte Weise der Selbstverwirklichung ermöglichen und den Staat vor seiner Auflösung als substantielle Allgemeinheit bewahren. Im letzten Teil soll die angesprochene Vermittlung zwischen der Hegelschen Analyse und der modernen Armutsforschung geleistet werden. Es wird gezeigt, inwiefern die mit Hegel entwickelten analytischen Kategorien einen Erkenntnisgewinn für das Phänomen Armut sowie die Forschung hierzu erbringen können. Der Anspruch dieser Arbeit besteht also darin, neben einer Hegel-Exegese auch Erkenntnisse über Selbstverwirklichung und Armut heute zu gewinnen. Im Idealfall soll zugleich ein kleiner Beitrag gegen das berechtigte Urteil, „Hegel wohnt hier nicht mehr“ (Frank in FAZ online vom 24.09.2015), geleistet werden.
1.2 METHODISCHE UND LOGISCHE VORBEMERKUNGEN 1.2.1 Die „magische Methode“, oder: Hegels Dialektik und eigenes methodisches Verständnis Hegel gilt als „Systemdenker“, der beansprucht, nicht nur die Notwendigkeit der Existenz des Staates, sondern auch die Anzahl der Planeten zu beweisen. Sein Selbstverständnis, sämtliche Erscheinungen der Welt ableiten zu können, verdankt sich seiner Auffassung, dass der Mensch die Vernunft in den Gegenständen selbst erkennen kann. Diese beruht auf seinen beiden Prämissen, dass der Mensch Teilhaber an der Vernunft ist und letztere als Subjekt die Gegenstände selbst regiert. Insofern erkennt sich die Vernunft also in den Phänomenen selbst.8 Als Bewegungsgesetz der Welt ausgedrückt, trägt dieses vielumstrittene, zentrale Prinzip der Hegelschen Philosophie den Namen „Dialektik“, die einige als „jene magische Methode“ (Popper 2003, S. 36) spöttisch verwerfen und andere wiederum als eines der wich-
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Ein weiteres Moment der Dialektik, das begründet, weswegen diese für Hegel nicht nur eine Methode, sondern das Bewegungsprinzip der Welt ist, wird nochmals bei der Analyse der Lebensform des Philosophen erläutert (vgl. Kapitel 4).
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tigsten Erkenntnisse Hegels begreifen und wie Adorno zu einer „Negativen Dialektik“, so der Titel eines seiner Hauptwerke, fortentwickeln. Eine Arbeit über Hegel muss sich also zur Dialektik positionieren und dies auch deswegen, da sich die Frage stellt, inwiefern man die Hegelschen Vorannahmen teilt und letztlich seinen ganzen Systementwurf billigt. 9 Handelt es sich bei der Dialektik also um Zauberei, wie Popper meint, oder ist sie nützlich für wissenschaftliche Erkenntnis? Es soll also dargelegt werden, welches methodische Selbstverständnis dieser Arbeit im Allgemeinen und vor allem im Verhältnis zu Hegels Auffassung zu Grunde liegt. Zu diesem Zweck wird kurz skizziert, was Hegel unter dem Begriff Dialektik versteht und inwieweit sich diese Arbeit die dialektische Methode zu eigen macht bzw. sich von ihr abgrenzt. Zwar dispensiert dies nicht davon, Prämissen Hegels auch als eigene Vorannahmen gelten zu lassen; diese und dabei insbesondere die methodischen Vorentscheidungen zu reflektieren, bedeutet immerhin, „soweit er [der Autor, I. S.] es vermag, die Karten auf den Tisch“ (Adorno 2003b, S. 9) zu legen. Unter einem dialektischen Vorgehen wird heutzutage meist ein formeller Dreischritt von These – Antithese – Synthese verstanden. Adorno weist zurecht darauf hin, dass bereits Hegel „gegen das klappernde Schema der Triplizität“ (Adorno 2003a, S. 314) Einwände äußert:10 Der Philosoph selbst versteht Dialektik weder als eine bloße Methode, noch – sofern man sie als Vorgehen betrachtet – als „Weltanschauung, in deren Schema man die Realität zu pressen hätte“ (ebd., S. 258). Als diese Formel genommen, scheint sie auch kaum plausibel zu sein: Soll der Wissenschaftler zunächst eine Behauptung aufstellen, unmittelbar folgend diese im postulierten Gegenteil negieren, um auf unklarem Wege daraus eine Einheit der beiden zu gewinnen? Hegel erläutert, wie stattdessen die geforderte Negation bzw. die Antithese und die daraus resultierende Synthese als Weg der Erkenntnis zu verstehen ist:
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Wie Avineri zutreffend ausführt, stellt sich unabhängig von der Frage der Billigung immer auch die Schwierigkeit, letztlich Hegels System in Gänze behandeln zu müssen, selbst wenn man eigentlich nur einen Aspekt daraus einer näheren Untersuchung unterziehen möchte (vgl. Avineri 1976, S. 9). So hat auch das Phänomen der Armut Konsequenzen für den Begriff der Selbstverwirklichung in allen Sphären des Geistes, sodass es beispielsweise erforderlich erscheint, die Sphäre des absoluten Geistes zu behandeln. Die Arbeit wäre mangelhaft, würde sie dieses Moment des Hegelschen Systems ausblenden, selbst wenn es an sich zunächst nicht Gegenstand der Betrachtung sein sollte.
10 „Die Dialektik ist eine derjenigen alten Wissenschaften, welche in der Metaphysik der Modernen und dann überhaupt durch die Popularphilosophie sowie der Alten als der Neueren am meisten verkannt worden“ (WdL II, S. 557).
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„Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – und dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist –, ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmen Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert, – was eigentlich eine Tautologie ist, denn sonst wäre es ein Unmittelbares, nicht ein Resultat. Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten.“ (WdL I, S. 49)11
Die Negation einer Sache, so Hegels Behauptung, bedeutet nicht, dass diese aufgehoben wird im Sinne eines Nicht-Bestehens (vgl. WdL II, S. 558), sondern der Widerspruch zu ihr ist ein bestimmter, sodass aus dem Inhalt dessen also der Fortgang zur weiteren Erkenntnis zu gewinnen ist: Wenn die Analyse eines Gegenstandes Mängel offenlegt, so ist damit nicht die Sache einfach verworfen, sondern aus den Unzulänglichkeiten der Untersuchung selbst erschließt sich, wie diese überwunden werden können. Insofern ist eine Negation „nicht alle Negation“, sondern richtet sich auf ein konkretes Moment, in dem „das Erkennen mangelhaft sei“ (ebd.),12 wodurch sich zugleich die Weise der Überwindung des Mangels ergibt. Die theoretisch höhere Stufe bewahrt das Vorhergehende sowie die Aufhebung ihrer Mängel in sich und stellt dadurch die Synthese der beiden Momente dar. Die Erkenntnis, die der Wissenschaftler dadurch gewinnt, ist dabei natürlich Erkenntnis über die Sache selbst, sprich kein von außen herangetragenes Deutungsmuster oder ein Maßstab, dem er den Gegenstand subsumiert: Die Notwendigkeit der Negation, die die Analyse aufzeigt, ergibt sich aus dem Gegenstand.
11 Die Kursivsetzungen in den Zitaten Hegels sind jeweils dem Original entnommen; eigene Hervorhebungen werden durch Unterstreichungen kenntlich gemacht. Die Orthographie Hegels wurde im Original beibehalten und aus Gründen der besseren Lesbarkeit nicht mit „[sic!]“ versehen. Bei Zitaten aus der Sekundärliteratur wird jeweils angegeben, ob es sich um die Hervorhebung des Autors oder um eigene Betonungen handelt. 12 Diese Aussage lässt zwei Lesarten zu, was Hegel bewusst war: Ein Zweig der Philosophie betreibt Dialektik als Skeptizismus, der sich gegen die Möglichkeit des Erkennens an sich richtet (vgl. WdL II, S. 559), während ihm zufolge die Einsicht in einen Mangel des Erkennens als ein bestimmter zu verstehen ist. Der Theoretiker erkennt also, dass seine Analyse unzureichend ist und überwindet den konkreten Mangel.
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Hegel demonstriert dies anschaulich bei der Untersuchung des Satzes der Identität an einem fiktiven Gespräch: Wenn auf die Frage, was eine Pflanze sei, geantwortet wird: „Eine Pflanze ist – eine Pflanze“, so kann die Richtigkeit des Satzes kaum bestritten werden, aber zugleich ist auch jedem deutlich, dass damit keine Aussage getroffen wird (vgl. WdL II, S. 43 f.). Daraus lässt sich schließen, dass A bzw. „die Pflanze ist“ zu sagen, selbst fordert, „eine weitere Bestimmung vorzubringen. [...] Solches identische Reden widerspricht sich also selbst“ (ebd., S. 44). Dem Satz der Identität A = A ist also immanent, dass das zweite A eine Differenz zum ersten beinhalten muss: „Die Form des Satzes kann als die verborgene Notwendigkeit angesehen werden, noch das Mehr jener Bewegung zu der abstrakten Identität hinzuzufügen“ (ebd.). Das erste A enthält die Differenz also in sich und das zweite A stellt, wenn es das Postulat erfüllt, nicht einfach die Negation des ersten dar, sondern die Verschiedenheit beinhaltet zugleich die bestimmtere Fassung des ersten. Die Bestimmungen des dialektischen Denkens lassen sich nicht nur bei der Analyse der reinen Denkformen untersuchen. Auch beim Nachdenken über einen bestimmten Gegenstand kann vom Inhalt abstrahiert und der Gang der Untersuchung auf einer Metaebene dargestellt werden. Hegel selbst verweist darauf, dass diese Methode beispielsweise in seiner Phänomenologie des Geistes studiert werden kann (vgl. WdL I, S. 49), in der er eine notwendige Abfolge der Bewusstseinsformen entwickelt: Seinem Anspruch nach zeigt er, inwiefern ein bestimmtes Bewusstsein fehlerhaft oder unvollständig ist und aus der inhaltlichen Bestimmung dieses Mangels die höhere Stufe begrifflich folgt. Damit ist die Vorstufe nicht aufgehoben in dem Sinne, dass auf die vorher bestimmte Weise nicht mehr gedacht oder gefühlt wird, aber der Leser, der den Gang der Argumentation nachvollzogen hat, weiß, inwiefern die neue Bewusstseinsform eine Fortentwicklung gegenüber der anderen darstellt. Es ergibt sich so eine geistige Ordnung der Bewusstseinsgestalten, die nicht eine von außen an diese herangetragene, sondern – insofern die Analyse stimmt –, „ein immanentes Fortschreiten“ (GPR, § 31) darstellt. Die bis zu diesem Punkt analysierten Bestimmungen der dialektischen Methode werde auch ich in meiner Arbeit anwenden. Um ein Beispiel zu geben: Es wird sich zeigen, dass die bürgerliche Gesellschaft auf Prinzipien beruht, die ihre eigene Existenz untergraben. Der Staat ist Hegel zufolge die Antwort auf die Mängel des ökonomischen Zusammenhangs, insofern er als sogenannter Not- und Verstandesstaat die Konkurrenzteilnehmer durch das Recht in Schranken weist und auf einer weiteren Stufe von diesen als substantielles Allgemeines anerkannt wird. Diese Einsicht auf der höheren Ebene hat wiederum Rückwirkungen auf den Menschen als Wirtschaftssubjekt. Die Analyse offenbart also Widersprüche, aus denen sich der Fortgang der Argumentation ergibt. Im Staat ist die bürgerliche Gesellschaft nicht in dem Sinne negiert, als ihre Existenz beendet ist, sondern die Negation durch den höheren Begriff ist als Leistung des Theoretikers zu verstehen: Der Wissenschaftler hat nachvollzogen, inwiefern das politische Gemeinwesen die Mängel
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der ökonomischen Sphäre überwindet und insofern auch gezeigt, inwiefern sein Bestehen den Bestimmungen der vorherigen Stufe adäquat ist. „[D]er seichte Unfug und das Kahle des modernen philosophischen sogenannten Konstruierens, das in nichts besteht, als jenes formelle Schema ohne Begriff und immanente Bestimmung überall anzuhängen und zu einem äußerlichen Ordnen zu gebrauchen“ (WdL II, S. 565), liegt bei diesem Vorgehen nicht vor, sondern die Analyse des Gegenstands selbst ergibt Widersprüche der Sache, die der Denker nachvollzieht. Dies ist jedoch zu unterscheiden davon, dass Dialektik für den Philosophen nicht nur eine Methode, sondern das Bewegungsprinzip der Welt ist (vgl. Adorno 2003b, S. 148): Hegel begreift die Ableitung des Staates aus der bürgerlichen Gesellschaft nicht als ein Verhältnis der Entsprechung, in dem angegeben werden kann, inwiefern die höhere Stufe die Mängel der vorherigen aufhebt. Er beansprucht damit vielmehr, die Notwendigkeit der Existenz des Staates abgeleitet zu haben. Dass es ihn in der Welt gibt und der Wissenschaftler seine Bestimmungen erkennen kann, ist für ihn gleichbedeutend damit, dass er existieren muss. Die Möglichkeit, unterschiedlichste Gegenstände durch die individuelle Vernunft zu erkennen, stellt für Hegel den Beweis dafür dar, dass sie selbst von der Vernunft als selbstständigem Subjekt regiert werden (s. dazu Kapitel 4). Am dialektischen Prozess ausgedrückt bedeutet dies, dass die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft praktisch eine Aufhebung im Staat fordern, die Vernunft also tatsächlich – und nicht nur als theoretische Leistung der Wissenschaft – die Welt bestimmt: „Etwas vernünftig betrachten heißt, nicht an den Gegenstand von außen her eine Vernunft hinzubringen und ihn dadurch bearbeiten, sondern der Gegenstand ist für sich selbst vernünftig; hier ist es der Geist in seiner Freiheit, die höchste Spitze der selbstbewußten Vernunft, die sich Wirklichkeit gibt und als existierende Welt erzeugt; die Wissenschaft hat nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewußtsein zu bringen.“ (GPR, § 31, Anm.)
Dass der Wissenschaftler theoretische Mängel seiner Analyse erkennt und deswegen zu einer Aufhebung dieser fortschreitet, stellt für Hegel also nur die eine Seite der Dialektik dar: Wenn der Einzelne die Gegenstände begreift, indem er seine Vernunft betätigt, vollzieht er dabei nur individuell nach, was die Vernunft als regierendes Prinzip der Welt erzeugt hat. In diesem Sinne ist Dialektik sowohl das Vorgehen des individuellen Denkens als auch die Weise, in der sich die Welt entwickelt. Die Vernunft verleiht sich in den Gegenständen Wirklichkeit und das Individuum erkennt sie in ihnen: „Sie [die Methode, I. S.] ist darum die höchste Kraft oder vielmehr die einzige und absolute Kraft der Vernunft nicht nur, sondern auch ihr höchster und einziger Trieb, durch sich selbst in allem sich selbst zu finden und zu erkennen“ (WdL II, S. 552). Hieraus erklärt sich auch das „Systemische“ bzw. Hegels Bedürfnis, sämtliche existierende Gegenstände „abzuleiten“: In der Er-
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kenntnis dieser hat er seinem Selbstverständnis zufolge deren Existenz als notwendig und sie damit als vernünftig bewiesen. Was begriffen werden kann, zeigt dadurch, dass es von der Vernunft regiert wird. Von dieser Intention möchte sich diese Arbeit abgrenzen. Insofern stellt die Dialektik meines Erachtens zwar eine hilfreiche Methode für den Gang der Analyse dar, jedoch wird sie zu zum weltanschaulichen Dogma, wenn sie zugleich als Bewegungsprinzip der Welt verstanden wird.13 Durch diese Verortung sind bereits weitere Charakteristika meines Vorgehens benannt: Wie Hegel selbst dialektisches Vorgehen begreift, so versteht sich auch diese Arbeit als empirisch bzw. phänomenologisch in dem Sinne, dass sie selbstredend in den Gegebenheiten ihren Ausgangspunkt nimmt und diese zu erklären versucht. „Überhaupt erkennt die Philosophie den Begriff im Realen, Sinnlichen.“ (Enz. II, § 353, Zus.), was den Auftrag an den Wissenschaftler formuliert, sich den Phänomenen zuzuwenden und deren Erklärung zu unternehmen. Für das hier behandelte Thema bedeutet dies zweierlei: Zum einen stellen Hegels Schriften selbst den theoretischen Ausgangspunkt der Arbeit dar. Es gilt also, sich seinen Werken zuzuwenden und dabei allein den Gedankengang des Philosophen nachzuvollziehen, um den Untersuchungsgegenstand der Arbeit einzuholen. Die Analyse seiner Texte soll hierbei dialektisch insofern vorgehen, als sie nicht nur seine Erläuterungen nachzuvollziehen versucht, sondern diese selbstredend auch prüft. Insofern sollen also mögliche Mängel und Widersprüche der Hegelschen Argumentation herausgearbeitet werden, was eine kritische Auseinandersetzung erfordert. Da die Arbeit dabei intensiv Hegel selbst zu Wort kommen lässt, 14 kann dieses Vorgehen auch als hermeneutisch bezeichnet werden – jedoch verbindet sich damit keinesfalls der Anspruch, wie dies in der „klassischen“ Hermeneutik der Fall ist, dass der Autor durch die Analyse rückblickend besser verstanden wird als er seine eigenen Werke begreift (vgl. bspw. Gadamer 1975, S. 250 ff.). Zum anderen bedeutet Hegels Forderung an den Philosophen, im Realen den Begriff zu erkennen, für mich auch, dass diese Arbeit nicht nur Hegels Schriften in Hinblick auf die Forschungsfrage zu erklären versucht. Der weitergehende Anspruch besteht darin, zu zeigen, dass er uns durch seine Einsichten nach wie vor etwas über das ausgewählte Phänomen der Armut lehrt. Die entstehende bürgerliche Gesellschaft vor Augen, analysiert er deren Bewegungsgesetze und kommt zu dem Schluss, dass sie aus bestimmten Gründen notwendigerweise Armut hervorbringt. Hegel begreift die schwerwiegende Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt
13 Damit wird also auch sein Bedürfnis der Systemphilosophie nicht geteilt. 14 Dennoch soll vermieden werden, was bereits Adorno beklagt: „Der häufigste Mangel der Hegelinterpretation ist, daß die Analyse nicht inhaltlich mitvollzogen wird, sondern bloß den Wortlaut paraphrasiert“ (Adorno 2003a, S. 147).
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sowie für den Staat und widmet sich deswegen den Möglichkeiten, dem materiellen Elend beizukommen. Aus in Kapitel 3.1.3 herauszuarbeitenden Gründen findet er vor allem im Sozialstaat die adäquate Antwort, womit er dessen philosophische Grundlegung leistet. Diese seine Theorie wird entwickelt und dabei soll zugleich gezeigt werden, dass sich darin Erkenntnisse über das Phänomen der Armut heute gewinnen lassen. Verbunden mit dem genannten Anspruch, sich prüfend zu seiner Argumentation zu stellen, ergeben sich daraus mit Hegel Erkenntnisse und es werden zugleich Schwierigkeiten und Grenzen seiner Untersuchungen herausgearbeitet, die deutlich machen, an welchen Punkten sich die Analyse der Armut von seiner Perspektive lösen muss. Meines Erachtens lassen sich daraus auch Rückschlüsse auf die „moderne“ Armutsforschung ziehen: So werden deren Unterstellungen und Vorentscheidungen offengelegt, die dieser selbst möglicherweise nicht bewusst sind, und dadurch theoretische Aufgaben aufgezeigt. 1.2.2 Einzelnes, Besonderes und (abstrakt) Allgemeines als logische Kategorien „Das Allgemeine in seiner wahren und umfassenden Bedeutung ist übrigens ein Gedanke, von welchem gesagt werden muß, daß es Jahrtausende gekostet hat, bevor derselbe in das Bewußtsein der Menschen getreten [...] ist.“ (Enz. I, § 163)
Die Logik – dieses „Nervenzentrum[] der Hegelschen Philosophie“ (Vieweg 2012, S. 33) – muss in einer Arbeit, die den Begriff des Allgemeinen und des Einzelnen in der sogenannten „Realphilosophie“ sowie deren Verhältnis, zusammengefasst im Ausdruck des allgemeinen Ich zum Gegenstand hat, selbstredend Berücksichtigung finden. Zum einen ist es notwendig, zunächst zu untersuchen, was diese Begriffe in der Logik, sprich als reine „Denkformen“ (WdL I, S. 25) bezeichnen und in welcher Beziehung diese auf der Ebene der Abstraktion von allen konkreten Gegenständen zueinander stehen. In einem zweiten Schritt soll schließlich kurz dargelegt werden, welche Prämisse dieser Arbeit hinsichtlich des Verhältnisses von Logik und Realphilosophie zugrunde liegt: Sind die einzelnen Formen des Allgemeinen, die im Laufe der Arbeit entwickelt werden, ohne Bezug zum Allgemeinen der Logik oder sind sie gar Ausfluss aus einem (vermeintlichen) logischen Schema? Zunächst also zu den Begriffen selbst, die aufgrund ihrer genuinen Beziehung nicht strikt getrennt voneinander erläutert werden können. „Die Einzelheit ist aber nicht in dem Sinne nur unmittelbare Einzelheit zu nehmen, nach der wir von einzelnen Dingen, Menschen sprechen“ (Enz. I, § 163, Anm.), so Hegel in der Enzyklo-
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pädie. Die Abgrenzung zur unmittelbaren Einzelheit ist so zu verstehen, dass nicht eine Sache, wie sie uns erscheint, als Einzelnes zu bezeichnen ist, denn „[d]as Einzelne ist dasselbe, was das Wirkliche ist, nur daß jenes aus dem Begriffe hervorgegangen, somit als Allgemeines, als die negative Identität mit sich gesetzt ist“ (Enz. I, § 163, Anm.). Einzelheit ist es also nicht an sich, sondern wird es allein durch seinen Bezug auf das Allgemeine; insofern sind diese Begriffe „keine starren Gegenstandskategorien, sondern relational“ (Heuer 2008, S. 144). Nur, wenn man eine Sache oder Ähnliches also bereits als Einzelnes von etwas Allgemeineren identifiziert hat, kann man es auch mit diesem Begriff belegen; andernfalls wäre es einfach ein Ding, von dem man gerade nicht weiß, dass es ein Fall bzw. eine Erscheinungsform von etwas Allgemeinem ist. Dass diese Kennzeichnung aus dem Begriff hervorgegangen ist, kann man sich an einem Beispiel verdeutlichen: Bezeichnet man eine Person als menschliches Individuum, dann unterstellt diese Zuordnung ein Verständnis dessen, was unter „menschliches Individuum“ allgemein bezeichnet wird bzw. kann die Zuordnung geschehen nur auf Basis der Kenntnis des Begriffs der Sache, der das/der Einzelne zugeordnet wird. Hat man umgekehrt ein Einzelnes vor sich, ohne sein Allgemeines zu kennen, kann es auch nicht kategorisiert werden. Insofern, so lässt sich das erste Zitat nun einholen, ist das Einzelne nicht das Ding, das man unmittelbar wahrnimmt, sondern es ist bereits ein solches, von dem man die Bestimmung treffen kann, dass es ein Einzelnes von etwas ist. „[D]ie Einzelheit, das Subjekt, ist der als Totalität gesetzte Begriff“ (Enz. I, § 163, Anm.), da man in der Sache ein Exemplar des Begriffes erkennt; insofern ist sie umgekehrt die Verwirklichung des Begriffs, womit auch die oben verwendete Formulierung, dass das Einzelne als Allgemeines gesetzt ist, erklärt ist: „Ebenso hat das Einzelne die Bedeutung, daß es Subjekt, Grundlage sei, welche die Gattung und Art in sich enthalte und selbst substantiell sei“ (Enz. I, § 164, Anm.). Indem das Einzelne Verkörperung des Begriffs ist, wird es selbst Teil der Substanz – eben insoweit, als es nicht das empirisch aufgegriffene, einzelne Ding darstellt, sondern in seiner Einzelausprägung identisch mit dem Allgemeinen ist (vgl. auch Eley 1976, S. 154). Dasselbe von Seiten des Allgemeinen – dies „Reichste in sich selbst“ (WdL II, S. 275) – ausgedrückt, bedeutet dies, dass es „die Seele des Konkreten, dem es inwohnt, ungehindert und sich selbst gleich in dessen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit“ (WdL II, S. 267) ist. Als solche Seele, so kann man mit Peter Heuer ausführen, ist die Allgemeinheit Norm des Einzelnen: Sie ist der Maßstab, anhand dessen man beurteilen kann, „inwieweit es ihnen [den Lebewesen, I. S.] ‚gelungen‘ ist, dem Wesen ihrer Art zu entsprechen“ (Heuer 2008, S. 147).15 Entspricht das Einzelne dem Allgemeinen? Nur dann lässt es sich letzterem tatsächlich zuordnen. 15 Weil Heuer sich in seinem Buch mit biologischen Grundbegriffen beschäftigt, bezieht er diese Kennzeichnung auf einzelne Lebewesen, denen auch in unserem Kontext am meisten Relevanz zukommt; diese Verhältnisbestimmung gilt jedoch durchaus allgemein.
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Um eine genauere Vorstellung dessen zu bekommen, was dieses Allgemeine bezeichnet, soll die von Hegel vorgenommene Abgrenzung zur Allheit, der bloßen Gemeinschaftlichkeit bzw. der Menge vorgenommen werden (vgl. Enz. I, § 163 Zus.; WdL II, S. 381). Die Allgemeinheit zu bestimmen, ist anspruchsvoller, als nur beliebige, identische Eigenschaften eines „Haufens“ von Dingen ausfindig zu machen, durch die sie sich von anderen unterscheiden. Hegel führt hierzu das berühmte Beispiel von den Ohrläppchen an: Tatsächlich haben nur Menschen im Gegensatz zu den Tieren Ohrläppchen; aber mit dieser Bestimmung trifft man die Substanz der Sache nicht. Durch solche Kennzeichnungen, die allein eine zufällige Identität der Einzelnen benennen, wird eine bloße „oberflächliche[], nur sogenannte[] Allgemeinheit“ (Enz. I, § 175, Zus.) konstituiert. Insofern muss also „das Allgemeine im Sinne des Wesens [...] von der Allgemeinheit im Sinne einer gleichen Eigenschaft unterschieden werden, da diese bloß akzidentiell sein kann“ (Heuer 2008, S. 145). Es gilt, die Besonderheit als dritte logische Kategorie, der in diesem Kontext Relevanz zukommt, zu bestimmen, um nicht allein zufällige Eigenschaften zu identifizieren, was Dinge zu einer Menge oder einer bloß vermeintlichen Allgemeinheit zusammenfasst. Eine tatsächliche Allgemeinheit „ist das mit sich Identische ausdrücklich in der Bedeutung, daß in ihm zugleich das Besondere und Einzelne enthalten sei“ (Enz. I, § 164, Anm.). Das Besondere wird von Hegel folgendermaßen definiert: „Das Besondere enthält die Allgemeinheit, welche dessen Substanz ausmacht; die Gattung ist unverändert in ihren Arten; die Arten sind nicht von dem Allgemeinen, sondern nur gegeneinander verschieden. Das Besondere hat mit den anderen Besonderen, zu denen es sich verhält, eine und dieselbe Allgemeinheit. Zugleich ist die Verschiedenheit derselben um ihrer Identität mit dem Allgemeinen willen als solche allgemein; sie ist Totalität. – Das Besondere enthält also nicht nur das Allgemeine, sondern stellt dasselbe auch durch seine Bestimmtheit dar; dieses macht insofern eine Sphäre aus, welche das Besondere erschöpfen muß.“ (WdL II, S. 280)
Die Besonderheit ist Teil der Allgemeinheit und zwar in dem Sinne, dass sie sogar das Wesen derselben ausmacht – bestimmt man sie, so lassen sich die Einzeldinge also zu einer ihrem Begriff gerecht werdenden Allgemeinheit zusammenfassen. Hegel führt nun am Beispiel der Arten aus, dass sich verschiedene Unterkategorien bilden lassen, die alle das identische Allgemeine besitzen, aber andere Besonderheiten; in diesen sind sie jedoch nicht völlig unverbunden, sondern vielmehr als allgemeine derselben Gattung bestimmt. Insofern hat jedes Besondere das Allgemeine in sich, ist zugleich „dessen Unterschied oder Beziehung auf ein Anderes, sein Schei-
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nen nach außen“ (WdL II, S. 281), bleibt in dieser Ausdifferenzierung aber dennoch Erscheinungsweise des Allgemeinen. An dieser Stelle sei zur Verdeutlichung ein Vorgriff auf die inhaltlichen Ausführungen dieser Arbeit erlaubt: Wie zu zeigen sein wird, stellt die bürgerliche Gesellschaft eine formelle Allgemeinheit dar (vgl. Kapitel 3.1); das einzelne Individuum ist also in dieser Sphäre auf das Allgemeine in einer Weise bezogen, die diese als formelle erscheinen lässt. Weswegen die Allgemeinheit in dieser Lebenswelt so zu charakterisieren ist, muss an entsprechender Stelle ausgeführt werden und zwar in dem Sinne, dass deutlich gemacht wird, inwiefern es sich bei dieser Besonderheit um eine Verwirklichung des Allgemeinen handelt und inwieweit dieser das Charakteristikum des Formellen zukommt. Auf der Ebene des Geschlechtsaktes bringt es der Mensch zunächst zu einer natürlichen Allgemeinheit (vgl. Kapitel 2.1.4). Nun hat man hier also – analog zur Gattung im Zitat – zwei Ausprägungen derselben Sache, nämlich der Allgemeinheit, die jeweils durch attributive Konstruktionen näher bestimmt wird bzw. – auf der Ebene der Logik – durch Besonderheiten gekennzeichnet werden, die selbst das Allgemeine bleiben, zugleich jedoch nicht einfach mit diesem identisch sind, sondern dessen spezielle, voneinander unterschiedene Ausprägungen benennen. „Totalität“ ist dies, insofern diese unterschiedlichen Sphären des Allgemeinen nicht unverbunden einander gegenüberstehen, sondern als voneinander differenzierte Teile desselben als Einheit begriffen werden müssen – im Falle der für diese Arbeit relevanten Allgemeinheit deswegen, da nur durch ein Begreifen der diversen Ausdifferenzierungen des Allgemeinen ein angemessener Begriff von menschlicher Individualität gewonnen werden kann; das Einzelsubjekt ist eben ein solches relational zum Allgemeinen, deren Besonderheiten es verstehen können muss. In diesem Kontext ist auf eine weitere Eigenschaft des Allgemeinen einzugehen, die sich auch in der Realphilosophie als Wechselverhältnis zwischen Einzelnem und Allgemeinen bezeichnen lässt. Hegel führt aus, dass das Allgemeine „nicht mit in das Werden gerissen [wird, I. S.], sondern [es, I. S.] kontinuiert sich ungetrübt durch dasselbe und hat die Kraft unveränderlicher, unsterblicher Selbsterhaltung“ (WdL II, S. 267). Trotz aller (dialektischen) Bewegung ist diese Kategorie also nicht so aufzufassen, dass ihr an sich keinerlei Substanz zukommt und sie einer ständigen Modifikation ihres Wesens unterworfen ist; die Allgemeinheit ist vielmehr unveränderlich, sich also in ihrer Substanz gleichbleibend.16 Gleichzeitig je-
16 Ohne im Folgenden weiter darauf einzugehen, lässt sich meines Erachtens mit diesen Gedanken ein zentraler Punkt von Slavoj Žižeks Hegel-Verständnis widerlegen, den er unter dem Stichwort „Substanz als Subjekt“ (vgl. bspw. 2010, S. 104; ders. 2014, S. 301; sowie vgl. ders. 2008, S. 311 ff.) zusammenfasst: Žižek zufolge gibt es kein einmal feststehendes Allgemeines (vgl. auch ders. 2014, S. 497), zu dem sich der Einzelne durch geistige Arbeit emporarbeiten könnte; vielmehr wird dieses immer wieder neu „ausgehandelt“.
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doch, so Hegels dialektische Ausführung, ist es nicht einfach starr, sondern verleiht sich allein durch den Prozess des Werdens selbst Kontinuität; insofern wird das Allgemeine hier durchaus als veränderbar gekennzeichnet: Allein durch die Bewegung im Werden existiert es als das, was es an sich immer schon ist. Dieses Charakteristikum des Allgemeinen wird in allen Lebenswelten des Individuums insofern relevant, als zu zeigen sein wird, dass es zwar einerseits auf ein ihm vorgegebenes Allgemeines bezogen ist, dieses dem Einzelnen andererseits jedoch nicht unveränderlich als autonomes Subjekt gegenübersteht, sondern zugleich durch den Bezug des Individuums erst wird, was es an sich bereits ist. Durch die bisherigen Ausführungen wurde bereits deutlich, wie das Verhältnis der Logik zur Realphilosophie in dieser Arbeit aufgefasst wird. Die Logik beschäftigt sich zunächst rein mit den Denkformen in Abstraktion von jeglichem Inhalt. Zugleich wendet sich Hegel jedoch an zahlreichen Stellen energisch gegen die formale Logik (vgl. u. a. WdL I, S. 36 sowie Eley 1976, S. 19), da die Logik dem Philosophen zufolge zugleich „die immanente Seele des Inhalts selbst“ (WdL I, S. 17) ist. Insofern sind die Kategorien des Denkens also nicht ohne Bezug zur Wirklichkeit, auch wenn sie sich zunächst abstrakt hinsichtlich ihrer Eigenschaften und ihrer Struktur bestimmen lassen, wie hier beispielsweise in Bezug auf die Kategorien des Einzelnen, Allgemeinen und Besonderen. In einem zweiten Schritt lassen sich diese (Verhältnis-)Bestimmungen in der Wirklichkeit wiederfinden (vgl. auch Heuer 2008, S. 244 f.): Die abstrakten Merkmale dieser Kategorie können beispielsweise in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft oder der Gattungsallgemeinheit – nun in Konkretion – identifiziert werden. Dieses Wiederfinden ist dabei jedoch nicht so zu verstehen, dass „das Besondere hier [...] gänzlich in einem abstrakten Muster sich auflöst, daß hier nicht von einer äußerlichen Anwendung, einem Überstülpen der Methode über den Inhalt die Rede ist, sondern in der „Methode“ lediglich die
Substanz als Subjekt bedeutet also eine Unverfügbarkeit der Substanz, die selbst einem kontinuierlichen Wandel unterliegt bzw. deren Inhalt im Belieben der Einzelsubjekte steht. Diese rächt sich an den Einzelnen, die ihren Eigendünkel zum Allgemeinen machen wollen und dabei scheitern müssen. Letzteres habe Hegel mit der „Negation der Negation“ ausdrücken wollen: „[D]ie hegelianische ,Negation der Negation‘ [ist, I. S.] nicht die wundersame Rückkehr zur Identität, die auf die schmerzvolle Erfahrung der Spaltung und Entfremdung folgt, sondern die Rache des dezentrierten Anderen für die Anmaßung des Subjekts“ (2010, S. 104). Anmaßend ist das Subjekt, das den Versuch unternimmt, seine Partikularität der allgemeinen Substanz aufzuzwingen (vgl. ebd.). Weder also kann der Einzelne seine Besonderheit zum Allgemeinen machen, noch existiert dieses Allgemeine an sich, sodass es dem Einzelnen einen Orientierungspunkt bei seiner Entwicklung geben kann. Letztlich gibt es auch diese Entwicklung nicht bzw. lediglich als permanentes Scheitern.
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allgemeine Form des Weges [...] angezeigt ist, den der Inhalt in seiner besonderen Form aus sich hervorbringt“ (Stederoth 2001, S. 53, Hervorh. i. O.).17 Die abstrakten Bestimmungen der Logik stellen die „Grundform“ dar, aber „der realphilosophische Inhalt [ist, I. S.] nicht nur Adept einer logischen Kategorie, sondern trägt, insofern er eine spezifische Form einer realphilosophischen Grundform darstellt, gewissermaßen selbst kategorialen Gehalt mit sich, den aufzuweisen Aufgabe der ,besonderen Wissenschaften der Philosophie‘“ (ebd., S. 61 f.) ist bzw. in diesem Fall die Aufgabe dieser Arbeit sein wird. Die elementarste Ausprägung des Allgemeinen in Konkretion ist jedoch diejenige, auf die all die anderen Sphären, die im Folgenden herausgearbeitet werden, beruhen: „Das Allgemeine in seiner wahren und umfassenden Bedeutung ist übrigens ein Gedanke, von welchem gesagt werden muß, daß es Jahrtausende gekostet hat, bevor derselbe in das Bewußtsein der Menschen getreten [...] ist“ (Enz. I, § 163, Zus.), nämlich das Wissen um Gott und den Menschen in seiner Allgemeinheit. Hegel führt hier das Beispiel der Sklaven zur Veranschaulichung seines Gedankens an (vgl. ebd.): Diesen wurde versagt, sich als Einzelne derselben menschlichen Allgemeinheit zu sehen. Es ist ebendies, was Losurdo unter dem Gesichtspunkt des unendlich negativen Urteils ausführt, das sich auf diese und so zahlreiche andere Ausgestoßene erstreckt(e). „[D]as Prinzip der Persönlichkeit aber ist die Allgemeinheit“ (ebd.), so Hegel und ebendiese Anerkennung der Persönlichkeit ist nach einigen Jahrtausenden in Existenz getreten; an diesem langem Durchsetzungsprozess im Denken zeigt sich auch, dass die Realität nicht einfach Abbild der logischen Kategorien ist – vor der Erfassung des (allgemeinen) Begriffs des Menschen hatte die Allgemeinheit, so lässt sich umgekehrt aus dem langen Durchsetzungsprozess schließen, keine Wirklichkeit. Nun jedoch hat die logische Kategorie der (abstrakten) Allgemeinheit ihre erste Erscheinungsform im Begriff des Menschen, durch dessen Ausarbeitung auch alle Individuen sich als Einzelne desselben Allgemeinen zuordnen lassen. Insofern stellt dieses „wahrhaft Allgemeine“ (ebd.) die Basis aller anderen Ausprägungen dar. Ein weiteres zentrales Beispiel für das Verhältnis von Logik und Realphilosophie stellt das in der Abstraktion der logischen Formen ausgedrückte Wechselverhältnis zwischen Einzelnem und Allgemeinen dar: Dieses ist zugleich ein wesentliches Moment zur Bestimmung des allgemeinen Ich und damit auch des Status der menschlichen Subjektivität in Hegels System. Während der Gegenstand der Logik „das Allgemeine als solches“ (WdL I, S. 25) bzw. „Allgemeinheit als das abstrakt Allgemeine ist“ (Schick 1994, S. 50), beschäftigen sich die anderen Wissenschaften
17 Bei Stederoth findet sich eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Möglichkeiten, das Verhältnis der Logik zur Realphilosophie bei Hegel zu deuten (vgl. Stederoth 2001, S. 49 ff.).
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mit dem „bestimmten Allgemeinen“ (ebd.). Ebendiese Formen des Allgemeinen, sozusagen die Ausprägungen des konkreten Allgemeinen, gilt es, in dieser Arbeit zu analysieren (vgl. auch Schick 2006, in: Cobben u. a., S. 122). Allgemein, so lässt sich abschließend aufgrund dieser Verhältnisbestimmung festhalten, gilt für die Subjektivität des Begriffs – also wissenschaftstheoretisch gedacht – ebenso wie für die menschliche Subjektivität, dass Hegel sie „generell [versteht, I. S.], als Individualisierung und Verwirklichung eines Allgemeinen in einem Einzelnen“ (Quante 2011, S. 164). Eben diese Verwirklichung durch die unterschiedlichen Sphären des Besonderen hindurch gilt es zu erfassen. 1.2.3 An-sich, Für-sich und An-und-für-sich Die aus der Logik stammenden Begriffe des An-sich und Für-Sich werden im Folgenden wichtig für den Nachvollzug der Hegelschen Gedanken sein, sodass ihr Gehalt hier kurz erläutert werden soll. Das Fürsichsein wird in der Logik im Anschluss an die Erläuterung des Seins und des Daseins abgehandelt, da es diese „als seine ideellen Momente in sich“ (Enz. I, § 96, Zus.) enthält – und zwar in der Form, dass das Andere „als Beziehung auf sich selbst“ (ebd., § 96) angeeignet wurde: „Das Andere ist in ihm nur als ein Aufgehobenes, als sein Moment; das Fürsichsein besteht darin, über die Schranke, über sein Anderssein so hinausgegangen zu sein, daß es als diese Negation die unendliche Rückkehr in sich ist“ (WdL I, S. 175). Hegel beschreibt hier den Prozess der geistigen Aneignung in seiner abstraktesten Form, sprich im Offenlassen dessen, welches andere hier als geistig einverleibtes Moment des Subjekts erscheint. Gerade in dieser ist das Fürsichsein zunächst nachzuvollziehen, um die Hegelsche Gedankenfigur in concreto bei den unterschiedlichen Stufen der Subjektivität erfassen zu können. Im Kern geht es darum, dass eine äußerliche Erscheinung – sei es ein wahrgenommener Gegenstand (vgl. WdL I, S. 175), ein physischer Prozess (VÄ I, S. 112) oder die Manifestation des Geistes selbst (VPG, S. 78) – für sich gewonnen wird, indem man es sich als „ideelles Moment“ in seinem Geiste aneignet. Als solche ist das Andere für das Subjekt „negiert“, weil es sich das zuvor ihm Gegenüberstehende geistig einverleibt hat und damit die Entäußerung in die Innerlichkeit „zurückgekehrt“ ist. Anders gefasst kann das Fürsichsein auch als „Idealität“ und das Dasein als „Realität“ bezeichnet werden, die in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen (vgl. auch VGP, S. 39): Hegel zufolge werden sie fälschlicherweise „häufig als ein Paar mit gleicher Selbstständigkeit einander gegenüberstehender Bestimmungen betrachtet“ (Enz. I, § 96, Zus.), wohingegen sie tatsächlich nicht unvermittelt gegeneinander zu begreifen seien; vielmehr besteht „der Begriff der Idealität [...] ausdrücklich darin, die Wahrheit der Realität zu sein, d.h. die Realität als das gesetzt, was sie an sich ist, erweist sich selbst als Idealität“ (ebd.). Diese Offenbarung als
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Idealität kann als andere Ausdrucksweise der oben erläuterten Rückkehr verstanden werden: Die Realität wird als Idealität begriffen und ist als solche Für-sichGewonnene zugleich zurückgekehrt bzw. der Gegensatz des Inneren und Äußeren im Hegelschen Sinne aufgehoben. Die dabei angeeignete Realität wird von Hegel näher charakterisiert als diejenige, die sie „an sich“ ist, womit der Fokus nun auf die zweite Kategorie dieses Begriffspaares gelegt werden soll: Was vom Subjekt auf einer höheren Stufe zurückgewonnen wird, ist seinem Inhalt nach nicht beliebig; „dieses Etwas aber ist dann nicht bloß ein unbestimmtes Dieses oder Jenes, sondern das als Realität bestimmte Dasein“ (ebd.), sprich die Erfassung dessen, was etwas seinem Begriff nach ist. Was eine Sache an sich ist, kann auch bezeichnet werden als das, was ihre Bestimmung ausmacht, wobei Hegel dies nicht als bloße Realität eines Dings versteht, sondern als ihre eigentliche Wirklichkeit. So kann sie in ihrem Dasein durchaus ihren Begriff verfehlen, wenn sie Hegels Verständnis zufolge nicht oder noch nicht das verwirklicht, was sie ihrer Potenz nach ist.18 Am Beispiel der Entwicklung der Subjektivität lässt sich diese Gedankenfigur sowohl bei der Phylogenese als auch der Ontogenese wiederfinden: Hegel zufolge stellt sich die Weltgeschichte dar als der „Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit“ ist, wobei die erste Stufe, auf der sich auch unsere Analyse noch befindet, als „Versenktsein[s] des Geistes in die Natürlichkeit“ (VPG, S. 77) charakterisiert wird. Auf dieser elementaren Stufe nun, wie sich dies in dem kurzen Zitat ausdrückt, muss die Verwirklichung des Geistes als noch mangelhafte bezeichnet werden – jedoch darf über die Erfassung dieser Unvollkommenheit nicht negiert werden, dass es sich dabei eben umgekehrt um eine noch mangelhafte Realisation des Geistes handelt, also nicht des ganz Anderen, sondern um eine Vorstufe desselben. Als eine solche enthält er – noch allein als Potenz bzw. als an sich, ohne dies für sich zu sein –, was der Geist seinem Begriffe nach auf der höchsten Stufe dann anund-für-sich sein wird: „Hier ist nur anzudeuten, daß der Geist von seiner unendlichen Möglichkeit, aber nur Möglichkeit anfängt, die seinen absoluten Gehalt als Ansich enthält, als den Zweck und das Ziel, das er nur erst in seinem Resultate erreicht, welches dann erst seine Wirklichkeit ist. So erscheint in der Existenz der Fortgang als ein Fortschreiten von dem Unvollkommenen zum
18 In diesem Zusammenhang lässt sich auch Hegels „berühmt-berüchtigte“ Auffassung, derzufolge alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sei, einordnen: „Wirklichkeit“ bezeichnet nicht jegliches Existierende bzw. das bloße empirische Dasein, sondern ist selbst bereits eine Auszeichnung, nämlich in dem Sinne, dass die besprochene Sache in actu realisiert, was sie an sich oder ihrem Wesen nach immer schon ist (vgl. auch Bloch 1972, S. 253).
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Vollkommneren, wobei jenes nicht in der Abstraktion nur als das Unvollkommene zu fassen ist, sondern als ein solches, das zugleich das Gegenteil seiner selbst, das sogenannte Vollkommene, als Keim, als Trieb in sich hat. Ebenso weist wenigstens reflektierterweise die Möglichkeit auf ein solches hin, das wirklich werden soll, und näher ist die Aristotelische dynamis auch potentia, Kraft und Macht. Das unvollkommene so als das Gegenteil seiner in ihm selbst ist der Widerspruch, der wohl existiert, aber ebensosehr aufgehoben und gelöst wird, der Trieb, der Impuls des geistigen Lebens in sich selbst, die Rinde der Natürlichkeit, Sinnlichkeit und Fremdheit seiner selbst zu durchbrechen und zum Lichte des Bewußtseins, d.i. zu sich selbst zu kommen.“ (VPG, S. 78)
Eben dieses Durchbrechen und Zu-sich-selbst-kommen ist die objektive Bestimmung des Geistes, die sich auf den Vorstufen als Mangel äußert. Die Pflanze als elementare Stufe des Lebens enthält in ihren Bestimmungen zugleich die Notwendigkeit der Überwindung ihrer Beschränkungen, und zwar relativ zur Verwirklichung dessen, was der Geist an sich ist. Die Notwendigkeit des teleologischen Denkens wäre falsch verstanden, wenn man sie fassen würde als Zwangsläufigkeit einer Entwicklung, die keine Kontingenz kennt; dies wird begreiflich, wenn man sich das teleologische Denken an der Ontogenese verdeutlicht: „Das Kind ist an sich Mensch, hat erst an sich Vernunft, ist erst Möglichkeit der Vernunft und der Freiheit und ist nur so dem Begriff nach frei. Was nun so erst an sich ist, ist nicht in seiner Wirklichkeit. Der Mensch, der an sich vernünftig ist, muß sich durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten durch das Hinausgehen aus sich, aber ebenso durch das Hineinbilden in sich, daß er es auch für sich werde.“ (GPR, § 10, Zus.; vgl auch VGP, S. 39 f.)
An sich hat das Kind bereits Vernunft, insofern es als Mensch die Potenz dieser in sich trägt; zugleich ist es dieses vernünftige Wesen jedoch auch nur der Möglichkeit nach: Es muss sich erst zu dem bilden, was es an sich bereits ist, um so seinen Begriff zu verwirklichen bzw. für sich zu werden, was es als „Keim“ in sich trägt. Für die Notwendigkeit dieser Entwicklung bedeutet dies, dass der Einzelne sich „durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten“ muss, um seine Bestimmung nicht zu verfehlen; jedoch schließt dieses Bemühen um die Verwirklichung des eigenen Begriffes gerade die Möglichkeit ein, dass sie scheitert – Teleologie meint eben keine Zwangsläufigkeit bzw. eine Negation der Freiheit, sondern eine objektive Bestimmung des Ziels einer Sache oder eines Menschen, die bzw. der sich verfehlt, wenn sie/er die ihr/ihm eigene Potenz nicht zu realisieren vermag. So lässt sich verstehen, dass gerade mit dem teleologischen Denken „das Moment der Freiheit in Erscheinung“ tritt: „Zweckmäßigkeit, wie Hegel sie verstand, schließt Freiheit der Subjekte – auch wenn sie einem Prozeß des Ganzen ausgesetzt sind –, von ihrem Begriff her, ein“ (Rohloff 2012, S. 139 f.).
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1.3 SELBSTERKENNTNIS UND ARMUT BEI HEGEL – SKIZZIERUNG EINIGER LINIEN DER HEGEL-FORSCHUNG „Der heutige Interpret sollte es vermeiden, die Haltung des Propheten einzunehmen, so als wäre die Wahrheit, die echte Bedeutung der Hegelschen Philosophie eineinhalb Jahrhunderte lang allen verborgen und unzugänglich geblieben, um sich plötzlich und blitzartig einem genialen Forscher zu offenbaren, der natürlich jeweils der letzte sein wird.“ (Losurdo 2000, S. 43) Domenico Losurdos Warnung vor einer solchen Art der Hegel-Interpretation soll hier Rechnung getragen werden, indem der Versuch unternommen wird, einen Überblick über die bisherigen Deutungsrichtungen der von mir zu behandelnden Thematik zu geben. Freilich steht dieser vor einigen Schwierigkeiten, unter anderem vor einer Masse an Forschungsliteratur zum Thema Individualismus, die selektiert werden muss. Die Auswahl erfolgt dabei anhand des formellen Kriteriums, dass die unterschiedlichen bis konträren Deutungen möglichst zahlreich repräsentiert sein und dabei Denker aufgegriffen werden sollen, deren Interpretation zumeist eine allgemeine Traditionslinie und nicht lediglich einen Sonderfall darstellt.19 Inhaltlich wird eine Dreiteilung vorgenommen: Zunächst soll die dominanteste Forschungstradition analysiert werden, nämlich diejenige, die sich mit Subjektivität bei Hegel primär als politischem Problem ausei-
19 Natürlich ist sowohl die Entscheidung für die Darstellung bestimmter Denker bzw. die Ausblendung anderer als auch die vorgenommene Einordnung angreifbar. Ausgeblendet wird beispielsweise die aktuell wohl prominenteste Auseinandersetzung von Axel Honneth. Wie Vieweg ausführt, wird Hegels Text von diesem häufig „zum Museumsstück und zu einem Ideensammelsurium herabgesetzt“ (Vieweg 2012, S. 32). Hier sollen jedoch – so sehr sie auch ihr eigenes „Projekt“ haben mögen, wie das beispielsweise bei Charles Taylor der Fall ist –, nur Denker ausführlicher behandelt werden, die Hegel nicht lediglich als Instrument für die eigene Intention benutzen. Honneth selbst würde diese Einordnung vermutlich sogar teilen; auch er weist schließlich darauf hin, dass seine Methode des Bezugs auf Hegel die Gefahr birgt, „die eigentliche Substanz des Werkes aus den Augen zu verlieren“ (Honneth 2001, S. 14) und bezeichnet sein eigenes Vorhaben als „Reaktualisierung“ (ebd., Untertitel sowie bspw. S. 13), worin zum Ausdruck gebracht wird, dass nicht Hegels Denken selbst der eigentliche Gegenstand ist. Davon abgesehen teile ich Martin Stickers Ausführungen über die von Hegel so verstandene Notwendigkeit der Aufhebung der Anerkennung aufgrund der Mangelhaftigkeit dieses Prinzips, das deswegen nicht zum „Konstitutionsmoment der sozialen Welt“ (Sticker, in: Quante/Sandkaulen 2015, S. 90) sowie einer der Theorie über diese gemacht werden sollte.
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nandersetzt.20 Für diese gilt in der Gesamtschau noch immer, was Henning Ottmann 1977 konstatiert: „Hegels Philosophie ist ein Spielball der politischen und weltanschaulichen Strömungen bis auf unsere Zeit geblieben“ (Ottmann 1977, S. 5): Es konkurriert „der antiindividualistische Systemdenker und preußische Reaktionär mit dem Liberalen, der Liberale mit dem Machtideologen, Nationalisten und Faschisten" (ebd.).21 Meiner Auseinandersetzung mit diesem Strang liegt die Annahme zugrunde, die Rosenkranz bereits 1840 zum Ausdruck brachte: „Nur alle Schüler zusammen sind Hegel gleich; jeder für sich ist eine seiner Einseitigkeiten“ (Rosenkranz 1840, S. XXXV). So sehr die einzelnen Traditionslinien ein Extrem darstellen, das als solches einseitig zu nennen ist, können doch in jedem berechtigte Momente identifiziert werden, die wiederum vor der Verkürzung der jeweils anderen Deutung bewahren.22 Deswegen ist es auch wenig sinnvoll, Zitat gegen Zitat auszuspielen (vgl. Losurdo 2000, S. 98), sondern es soll sich auf einige wenige Gegenstände innerhalb des Themenkomplexes beschränkt und dabei möglichst die Substanz der jeweiligen Deutung dargelegt werden. Dies gilt auch für die zweite hier vorgestellte Interpretationslinie: Ernst Bloch und Charles Taylor teilen die Ansicht, dass man bei einer Auseinandersetzung mit Subjektivität zu dem Urteil gelangen muss, dass es sich um eine Theorie der Selbstverwirklichung handelt; hier liegt also eine wesentliche Identität zu meiner Interpretation vor. Deren Begründung und ihre jeweilige Schwerpunktsetzung soll erläutert werden und im Gang meiner Analyse eine Positionierung hierzu entwickelt und dem Leser nachvollziehbar gemacht werden. Zugleich gibt es eine entscheidende Differenz, die eine weitere Untergliederung dieser Forschungsrichtung begründet: Alle drei stimmen in diesem zentralen Punkt zwar mit der These der Arbeit überein, kommen jedoch von dieser aus nicht zu derselben Schwerpunktsetzung bzw. blenden meinen Ergebnissen zufolge ein wesentliches Problem aus: Wie zu zeigen sein wird, führt die These, Hegel als Theoretiker
20 Natürlich ist die Scheidung nie trennscharf zu ziehen; Joachim Ritter und Theodor W. Adorno beispielsweise beschäftigen sich auch mit der philosophischen Seite; der zentrale Fokus liegt meines Erachtens jedoch auch bei ihnen auf dem Politischen. 21 Dieselbe Frage nach der Stellung des Subjekts spiegelt sich auch im „HolismusTotalitarismus-Vorwurf" und in gewisser Weise in der Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus wider (vgl. Quante 2011, S. 253 ff.). 22 Lavranus (2012, S. 88) Deutung geht beispielsweise davon aus, dass das Verständnis Hegels als Machtideologen durch Ritters Auseinandersetzung (vgl. 1.3.1) widerlegt sei (Lavranu 2012, S. 88), anerkennt jedoch zugleich, dass dieses nicht ganz zu verwerfen ist, sondern darin „das Zerrbild eines wirklichen und zu recht thematisierten Problems“ zum Ausdruck kommt, nämlich in diesem Fall das „ausgesprochen ambivalente Verhältnis [...] Hegels [...] zum Prinzip der Individualität“ (ebd.).
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der Selbsterkenntnis und -verwirklichung zu begreifen, dazu, das Thema der Armut in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, weil diese sein „absolute[s] Gebot“ (Enz. III, § 377) zu untergraben droht. Die zwei erwähnten Theoretiker abstrahieren in ihrer Deutung weitestgehend von der materiellen Seite der Selbstverwirklichung, sodass es sinnvoll scheint, den Konnex von Subjektivität und Armut, wie er in der Forschungsliteratur bislang behandelt wurde, separat zu fassen. Da dieses Verhältnis bislang weitestgehend ausgeblendet wurde, wird sich der Abschnitt auf die beiden Interpreten Frank Ruda und Domenico Losurdo begrenzen. Differenz und Identität der hier vorgelegten Interpretation zu ihren Deutungen sollen dabei nur angedeutet und im Laufe der Arbeit entwickelt werden; vor allem geht es an dieser Stelle darum, deren Perspektive zu charakterisieren, von der aus sie auf das Armutsproblem blicken. Wie zu zeigen sein wird, reduzieren beide ihre Auseinandersetzung auf eine Form der Armut – im Falle Losurdos auf den Hungernden und bei Ruda auf den Pöbel –, die sich in modernen Begrifflichkeiten gefasst als absolute bezeichnen lässt. Ich möchte darlegen, dass diese Fokussierung zwar ihre Berechtigung in Hegels Philosophie hat, jedoch aus Sicht der Wissenschaft eine größere Distanz gegenüber Hegels Maßstäben nötig wäre. In Bezug auf alle Traditionslinien geht es jedenfalls nicht darum, eine detaillierte Auseinandersetzung vorwegzunehmen, sondern die eigene Arbeit in den Rahmen einzubetten, den die existierende Hegel-Forschung vorgibt. Wie meine Positionierung im Einzelnen ausfällt, wird im Laufe der Arbeit teilweise explizit sowie implizit über einen Vergleich deutlich werden.23 Unabhängig von der Zustimmung oder Ablehnung zu den vorzustellenden Interpretationen in Einzelfragen möchte ich durch meine Analyse die Behauptung nachvollziehbar machen, dass den ersten beiden Traditionslinien die Ausblendung und der dritten die Verengung auf einen spezifischen Aspekt des Phänomens gemeinsam ist, die eine systematische Forschungslücke begründet. Wie zu zeigen sein wird, verweist das Thema der Subjektivität bzw. der Selbstverwirklichung auf Armut als zentrales Problem, da es den Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft – auch und insbesondere der Hegelschen Untersuchung zufolge – zu eigen ist, notwendigerweise materiellen Ausschluss zu produzieren. Da Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung jedoch ein anthropologisches Gebot im Hegelschen System darstellen, stellt sich die Frage, inwieweit die von Armut Betroffenen dieses erfüllen können bzw. Armut auch eine
23 Die Rolle der Sekundärliteratur besteht hierbei in einer fruchtbaren Begleitung des Analyseprozesses durch argumentative Unterstützung, jedoch und gerade auch durch das Reiben an der Gegenposition, durch die die eigene Deutung an Kontur gewinnt. So sollen unter anderem die „negativen Vorurteile“, die Hegels Philosophie „überlager[n] und gleichsam zudeck[en]“ (Ritter 1961b, S. 12), überwunden werden. In erster Linie werden jedenfalls die Schriften Hegels im Mittelpunkt stehen.
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geistige und politische Deprivation impliziert. Ein zunächst rein in der Ökonomie zu verortendes Problem wird dann also zu einem genuin politischen, das angesichts der Hegelschen Bestimmung des Menschen als zoon politikon an zusätzlicher Brisanz gewinnt. Weder wurde dieser systematische Konnex in der mir bekannten Forschungsliteratur je dargestellt, noch wurde versucht, Hegels Analyse der Armut für die heutige Situation fruchtbar zu machen. Wie bereits in der Einleitung deutlich wurde, so sind seine begrifflichen Unterscheidungen, die Ursachenergründung, die Untersuchung der Konsequenzen sowie vor allem seine Perspektive und demzufolge die von ihm angelegten Maßstäbe auch im Jahre 2018 von höchster Relevanz. Zum einen scheint es mir so, dass heutzutage einige seiner Prämissen und Resultate unhinterfragt in unsere zentralen Deutungsmuster von Armut eingegangen sind, ohne dass man sich der Verwandlungen und Folgen dessen bewusst ist. Zum anderen kontrastiert dies mit dem Verlust des Wissens um zentrale Kategorisierungen und der Ursachenverortung; eine theoretische Behebung dieser Mängel könnte mehr Klarheit in aktuelle Armutsdebatten bringen. Der Anspruch dieser Arbeit besteht also darin, mit Hegel auch über Hegel hinaus etwas über die Lage der Armen in der modernen Gesellschaft zu lernen und ihn selbst dabei als Wissenschaftler ernst zu nehmen, seine Argumentation also theoretisch nachzuvollziehen, sich geistig jedoch auch von ihr zu lösen und seine Perspektive und Maßstäbe zu hinterfragen. 1.3.1 Formen der Abstraktion vom Phänomen der Armut Die Forschungsliteratur, die sich mit Hegels Philosophie unter dem Fokus der Stellung der Subjektivität auseinandersetzt, nimmt dabei vor allem auf dessen Staatstheorie Bezug: Ist das Individuum bei Hegel reine Akzidenz des Staates? Oder ist seine Philosophie umgekehrt Philosophie der Freiheit, sodass von Subordination keine Rede sein kann? Beiden ist gemeinsam, dass sie die Frage nach der Stellung des Subjekts nicht unter der Perspektive der Selbsterkenntnis oder Selbstverwirklichung deuten und die Frage der Armut keine oder lediglich eine marginale Stellung in ihrer Auslegung einnimmt. Diese Interpretationsrichtung, die den Blick auch für andere Aspekte denn das Verhältnis von Staat und Subjekt öffnet, ist in der Forschung seltener anzutreffen; mit Ernst Bloch und Charles Taylor werden zwei dieser Auslegungen nachvollzogen. Es soll dafür argumentiert werden, dass allen eine Abstraktion vom Phänomen der Armut gemeinsam ist, auf deren Bedeutung im Hegelschen System sie jedoch an unterschiedlichen Punkten stoßen müssten. Subjektivität als primär politisches Problem Joachim Ritter, Karl Popper, Theodor W. Adorno und andere haben ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge vermutlich kaum Berührungspunkte. Sie hier dennoch
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unter einen Punkt zu subsumieren, rechtfertigt sich meines Erachtens dadurch, dass ihre Identität darin besteht, Subjektivität als primär politisches Problem zu betrachten. Um den Subjektivitätsbegriff bei Hegel zu begreifen, konzentrieren sich diese Interpreten vor allem auf Hegels Staatsverständnis. Dabei kommen sie zu höchst kontroversen bis kontradiktorischen Ergebnissen, was jedoch nichts an der geteilten Perspektive zurücknimmt; aus dieser ergeben sich auch die sehr ähnlichen Themenfelder, die in den Fokus der Betrachtung kommen. Im Folgenden sollen einige von ihnen skizziert werden. Hegel als Denker des Totalitären: das Subjekt als Akzidenz „Dieser Ignorant [Wilhelm Liebknecht, I. S.] hat die Unverschämtheit, einen Kerl wie Hegel mit dem Wort: ,Preuß‘ abfertigen zu wollen.“ (Friedrich Engels, MEW 32, S. 501)
Die wohl prominenteste – und gleichzeitig am meisten Widerspruch hervorrufende24 – Deutung der Hegelschen Philosophie sieht sein Oeuvre als Begründung oder als Kontinuum eines totalitären Denkens, das schließlich – so die Fortsetzung oder zumindest Andeutung bei den meisten dieser Theoretikern – in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mündete. Selbstredend existieren zwischen diesen Interpreten Differenzen, die partiell im Detail liegen, teilweise jedoch auch substantieller Natur sind. So ist beispielsweise Karl Popper einer radikalen Anti-Hegel-Auslegung zuzuordnen, was bereits seiner Terminologie entnommen werden kann. Nach eigenem Bekunden führt er einen Kampf gegen Hegel, was Popper auch in keinem seiner Werke (vgl. bspw. Popper 2012, S. 325, 2006; S. 21, 2005; S. XXXII, 2003, S. XV) unerwähnt lässt. Ihm scheint „alles abwegig zu sein, was auf Fichte, Schelling und Hegel zurückgeht“ (Popper 2005, S. XXXII) und so praktiziert der Wissenschaftstheoretiker gegenüber der „Hegelianischen Form“ der Metaphysik und seinem Denken im Allgemeinen eine „Feindschaft“ (Popper 2012, S. 325). Eine solch offen kämpferische,25 einseitige und nicht nur im Duktus26 auch abschnittsweise unwis-
24 Tatsächlich sehen sich die meisten, die sich mit Hegel beschäftigen, dazu herausgefordert, sich zu dieser Interpretation ins Verhältnis zu setzen, wie beispielsweise Joachim Ritter, Domenico Losurdo oder Klaus Vieweg, der von der „völlig haltlose[n] These von Hegel als Vordenker des Totalitarismus“ spricht (Vieweg 2012, S. 31). 25 In dieses Bild des Kampfes gegen Hegel fügt sich auch, dass sein Schüler Hubert Kiesewetter, der unter anderem Poppers Werk „Das Elend des Historizismus“ (Popper 2003) herausgibt, diese Traditionslinie in seinem Werk „Von Hegel zu Hitler“ offensiv fortsetzt (vgl. Kiesewetter 1995).
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senschaftlich zu nennende Weise der Auseinandersetzung kontrastiert evident mit derjenigen anderer Denker, die sich intensiv mit Hegel beschäftigen und um eine angemessene Interpretation ringen. An dieser Stelle ist beispielsweise die Interpretation Hans-Ernst Schillers zu nennen (vgl. Schiller 2006, u. a. S. 90 sowie S. 125) und zuvörderst Theodor W. Adornos, dessen komplexe Auseinandersetzung mit Hegel sich nicht nur durch sein ganzes Werk zieht, sondern der selbst auch zweifelsohne vieles von Hegel kritisch weiterentwickelnd übernommen und seinem eigenen Selbstverständnis nach Hegel viel zu verdanken hat (vgl. bspw. Adorno 2003a, S. 251).27 Jedoch erwähnt auch Adorno bei der Erörterung des Hegelschen Subjektbegriffs und dessen Implikationen Hitler (vgl. Adorno 2003b, S. 336) und bringt das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem explizit mit dem „totalen faschistischen Staat“ (Adorno 2003b, S. 339) in Verbindung. Insofern kann hier also trotz aller Differenzen von einer Identität dieser unterschiedlichen Denker gesprochen werden, die es rechtfertigt, sie zu einer Traditionslinie zusammenzufassen.28
26 Neben der Wortwahl ist es vor allem ein Aspekt seiner Methode, der meines Erachtens das Urteil der Unwissenschaftlichkeit verdient: In seinem zentralen Werk der Auseinandersetzung mit Hegel „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (2003), das ebenfalls von Hubert Kiesewetter herausgegeben wurde, schiebt Popper Hegel an zahlreichen Stellen eine mindestens zugespitzt zu nennende These unter, indem er Aspekte seines Denkens schlicht gleichsetzt mit dem anderer Autoren, die ihm zufolge das von Hegel Behauptete nur klarer ausgedrückt hätten. Popper zitiert reihenweise Intellektuelle, die bspw. offen faschistisch argumentieren, um diese Ansicht dann Hegel unterschieben, ohne sich auf Stellen bei diesem selbst berufen zu können (vgl. z. B. 2003, S. 79 ff. sowie S. 86 f.). An einer Stelle heißt es bspw.: „Die Verwandlung des Hegelianismus in die Rassenlehre oder die Verwandlung des Geistes in das Blut ändert nicht viel an der Haupttendenz des Hegelianismus“ (2003, S. 74), sodass man Popper zufolge Hegels Theorie ohnehin schlicht mit totalitärem, rassistischem Denken gleichsetzen kann. 27 Insofern fällt Adorno also letztlich aus diesem Schema heraus, da er weder eindeutig der Parteinahme für noch der Kritik an Hegel zugeordnet werden kann. Ähnliches gilt für Max Horkheimer, der von der „Größe von Hegels Leistung“ (1971, S. 90) und gleichzeitig davon spricht, dass „das Gebäude der Hegelschen Philosophie“ (ebd.) nichtsdestotrotz zusammengebrochen ist. 28 Eine zentrale Differenz besteht hinsichtlich der Einordnung Hegels als Wegbereiter des totalitären Denkens darin, ob ihm dies als Intention zugesprochen wird oder als eine Art Versehen oder immerhin unbeabsichtigte Konsequenz seines Denkens. Bei aller Schärfe der Ablehnung Hegels durch Ernst Topitsch beispielsweise gesteht dieser Hegel durchaus zu, dass er „die totalitären Systeme unseres Jahrhunderts weder vorhergesehen noch gewollt“ (Topitsch 1981, S. 116) habe.
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Dabei ergeben sich jedoch – im Wesentlichen – zwei weitere Probleme: Die Forschungsliteratur über Hegel im Allgemeinen sowie auch diejenige, die eine Verbindung Hegels zum Totalitarismus ziehen möchte, hat einen solchen Umfang erreicht, dass ich mich auf ein Bruchteil der existierenden Interpreten beschränken musste. Da die meisten ihren Schwerpunkt aber klar auf die Erörterung des Verhältnisses von Individuum und Staat legen (vgl. bspw. Ernst Cassirer 2002, Hubert Kiesewetter 1995 sowie Ernst Topitsch 1981), erscheint es gerechtfertigt, hier eine – im besten Fall – das Allgemeine dieser Richtung erschließende Auswahl zu treffen und andere auszublenden, deren Nuancen oder partiell größere Unterschiede unberücksichtigt bleiben müssen. Zum anderen besteht die Herausforderung dieses Abschnitts darin, sich nicht nur in der Auswahl der Denker, sondern auch in der Abhandlung von deren Interpretationen selbst auf einige Punkte zu begrenzen. Dargelegt wird unter anderem das Staatsverständnis, die Rolle der Moral und der Sittlichkeit, die Meinungsfreiheit, die Bedeutung „großer Männer“ sowie die Rolle des Subjekts in den Wissenschaften, da diese auch meiner Deutung zufolge eine wichtige Rolle einnehmen. Ein weiteres Themenfeld, das hier nicht weiter berücksichtigt werden kann, aber zentrale Motive einiger Interpretationen darstellt, ist beispielsweise das Verhältnis Hegels zur Natur. Beim Lesen des folgenden Abschnitts sollte das Augenmerk nicht nur darauf gelegt werden, wie die einzelnen Denker das Hegelsche Oeuvre hinsichtlich der entsprechenden Punkte deuten, sondern auch bedacht werden, was durch die jeweilige Schwerpunktsetzung bereits impliziert ist bzw. welche Felder und Fragen umgekehrt gänzlich ausgeblendet werden. Es überrascht kaum, dass in dieser Traditionslinie eine Fokussierung des Verhältnisses von Staat und Individuum vorherrschend ist. Dabei ist es bezeichnend, dass Vertreter dieser Deutung den Begriff des Allgemeinen – so er bei ihnen Erwähnung findet – durchwegs mit dem Staat gleichsetzen: So folgt beispielsweise auch Schiller meiner Deutung, dass „[d]as Verhältnis von Individuum und Allgemeinem [...] im Zentrum der Hegelschen Sozialphilosophie“ steht (Schiller 2006, S. 90), jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass er das Allgemeine einfach mit dem Staat in eins setzt.29 Bei Adorno wird das Allgemeine primär als Volks- und Weltgeist verstanden, wobei die Intention hierbei dieselbe ist wie bei einer direkten Gleichsetzung mit dem Staat; so wird das Individuum als „Agent des Allgemeinen“ (Adorno 2003b, S. 336) bzw. werden die Subjekte als „bloße[...] Ausführungsorgane[...] des Allgemeinen“ (ebd.) bezeichnet. Nun ist es zwar zutreffend, dass auch
29 Diese Identifizierung wird in seiner Interpretation insgesamt deutlich und von ihm expliziert (vgl. Schiller 2006, S. 95). Zugleich könnte jedoch auffallen, dass das Allgemeine einer Differenzierung bedarf, da auch er den Begriff der „inneren Allgemeinheit“ aufgreift (vgl. Schiller 2006, S. 97) ohne jedoch von diesem aus auf die Notwendigkeit eines Nachvollzug all der Aspekte dieses Begriffes zu stoßen.
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der Staat eine Form der Realisierung des Allgemeinen ist; jedoch geht dieses nicht in der Staatsform auf. Allein die zahlreichen attributiven Konstruktionen, die Hegel für das Allgemeine auf den jeweiligen Ebenen verwendet, müssten eigentlich Zweifel an dieser schlichten Gleichsetzung wecken. Und zugleich geben diese einen Hinweis auf die Zentralität des Begriffs, den die Denker mit dem Aufgreifen und Einordnen dieses Themas selbst erkennen und zugleich zu vereinfachend in das Dogma der Staatsapologie und der Geringschätzung der Individualität als dessen Pendant einordnen. Dieses Urteil über Hegel wird in den unterschiedlichsten Fassungen, die letztlich in ihrer Substanz trotz der Facetten im Einzelnen dasselbe bezeichnen, zum Ausdruck gebracht: So ist es nach Popper „[i]hre [Platons, Friedrich Wilhelm III. sowie Hegels, I. S.] Lehre [...], daß der Staat alles ist und das Individuum nichts“ (Popper 2003, S. 40). Hubert Kiesewetter fasst denselben Inhalt in der These zusammen, „daß wir es hier mit einer antiindividualistischen Staatslehre zu tun haben“ (Kiesewetter 1995, S. 84); ihm zufolge ist Hegel „ein Machtstaatstheoretiker und Antidemokrat par excellence“ (Kiesewetter 1995, S. 104, Hervorh. i. O.). Adorno nennt das Begriffspaar Allgemeines und Einzelnes auch das Verhältnis von Subjekt und Objekt, die bei Hegel mit einer „falsche[n] Identität“ belegt werden würden (Adorno 2003b, S. 342); dabei gibt der Philosoph Adorno zufolge das „Gebot“ aus, dass sich „die Individuen [...] dem ,substantiellen Sein‘ ihres Volkes ,anzubilden‘ ihm gemäß zu machen‘“ hätten, was er als „despotisch“ bezeichnet (Adorno 2003b, S. 334). Dabei würde diese Subsumption auf eine besonders perfide Weise erfolgen, nämlich so, dass sich das Subjekt selbst nicht (mehr) als untergeordnetes, sondern vielmehr als freies versteht; denn das Allgemeine ist „derart auf sie zugeschnitten, appelliert so wenig mehr an das, was ihm in ihnen nicht gleiche, daß sie sich frei und leicht und freudig binden“ (Adorno 2003b, S. 342). Auch in aktuelleren Publikationen wie beispielsweise von Zima herrscht diese Deutung vor: Ihm zufolge besteht Hegels Lehre in einer „bedingungslose[n] Unterwerfung des individuellen Subjekts unter die Staatsgewalt“ und zwar in der „trickreichen“ Form, dass dem unterworfenen Subjekt eingeredet wird, „daß seine Einsicht in die staatlich sanktionierte politische Notwendigkeit seine eigentliche Freiheit ist“ (Zima 2007, S. 107).30 In einer neueren Publikation spricht er lapidar davon, dass „bekanntlich“ Hegels Argumentation „auf eine Rechtfertigung der existierenden Verhältnisse“ (Zima 2014, S. 68) hinauslaufen würde. Schiller hingegen vertritt insgesamt eine ausgewogenere Deutung: Er anerkennt im Titel eines Kapitels immerhin, dass das Subjekt bei Hegel das „Prinzip der modernen Welt“, aber zugleich „der
30 Die objektive Notwendigkeit, in die das Individuum Einsicht haben soll, ist Zima zufolge später bei den Marxisten-Leninisten – auch hier wird diese Linie also explizit postuliert – „die von der Partei definierte“ (vgl. Zima 2007, S. 117).
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substantiellen Sitte untergeordnet“ (Schiller 2006, S. 90) ist; auch seiner Interpretation zufolge werden die Individuen trotz einiger Differenzierungen letztlich als „bloße Akzidenzien“ (Schiller 2006, S. 100) von Hegel eingeordnet, da „die Befriedigung der Subjektivität“ allein eine funktionale Rolle spielt in dem Sinne, dass sie „Mittel zur Erhaltung des Staates“ ist (Schiller 2006, S. 94). Zu diesen generalisierenden Urteilen soll vorneweg bemerkt werden, dass, um diese fällen zu können, von zahlreichen Ausführungen Hegels abstrahiert werden muss; andernfalls ließe sich die schlichte Dichotomie von Individuum und Staat sowie die einseitige Subsumtion des Subjekts unter die Herrschaft nicht aufrechterhalten. Wie zum Beispiel lässt sich diesen Denkern zufolge die Ausführung verstehen, dass das „Prinzip der modernen Staaten [...] diese ungeheure Stärke und Tiefe [hat, I. S.], das Prinzip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten“ (GPR, § 260)? Hegel bringt hier zum Ausdruck, dass der moderne Staat deswegen anzuerkennen ist, weil er die Freiheit der Individuen gewährt und – wie in Kapitel 3.2 ausführlich erläutert wird – gerade durch die freie Entfaltung selbst zu einer höheren Stufe gelangt. Die Berechtigung der Kritik an Hegels vermeintlicher Staatsverherrlichung soll hier nicht bestritten, jedoch aufgezeigt werden, dass es sich diese Interpretation zu einfach macht, wenn sie darüber hinweggeht, dass Hegel „das Prinzip der Subjektivität“ durchaus anerkennt – und dies nicht „zähneknirschend“, sondern es umgekehrt sogar als besonderen Ausweis des modernen Staates ansieht, das sozusagen die „Staatsapologie“ begründet. Freilich, auch das soll an dieser Stelle deutlich gemacht werden, lässt sich die Skepsis dieser Traditionslinie nicht schlicht negieren. Wenn Hegel schreibt, dass „das Wohlergehen der Individuen“ (GPR, § 260, Zus.) Teil des Wesens des neuen Staates darstellt oder „Zweck des Staates [...] das Glück der Bürger“ (GPR, § 265 Zus.) sei, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zahlreiche andere Stellen auch zur Unterstützung einer konträren Lesart heranziehen lassen. Wie das Verhältnis ohne Vereinseitigung gefasst werden könnte, soll in Kapitel 3.2 Gegenstand der Untersuchung sein.31 Zunächst wird dargelegt, welche Einzelaspekte Hegels Kritiker hinsichtlich dieses Themenkomplexes hervorheben. Dabei – und dies ist eine weitere Wesensbestimmung all dieser Deutungen – erscheint das konkrete Sein des Staates zumeist als völlig gleichgültig: Subjekte haben sich diesem unterzuordnen, ohne, dass an seine Legitimität Bedingungen geknüpft werden, die ihn von einer übergeordneten zu einer legalen und legitimen
31 Das Bemühen, diese Werte als eine Art von „Gerede“ abzutun, wie das Kiesewetter durch den Ausdruck, dass Vernunft und Freiheit bei Hegel „dafür herhalten“ (Kiesewetter 1995, S. 133) müssten, um die furchtbarsten Dinge zu rechtfertigen, kann dabei nicht als Beitrag eines Ringens um eine angemessene Deutung gesehen werden.
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Gewalt werden lassen: „Nach herrschendem Consensus soll das Allgemeine seiner bloßen Form als Allgemeinheit wegen Recht haben“ (Adorno 2003b, S. 337). Während Schiller davon spricht, dass Hegel zwar kein Demokrat sei und „die Volkssouveränität im üblichen Sinn zugunsten der Monarchie“ (Schiller 2006, S. 90) ablehnt, gesteht er jedoch zu, dass die Herrschaft des Fürsten „nicht unbeschränkt“ ist, sondern vielmehr die „Herrschaft des Gesetzes [...] und elementare Menschenrechte der ersten Ebene, d. h. persönliche Freiheitsrechte wie Religions- und Berufsfreiheit“ (ebd.; vgl. auch MEW 1, S. 299) in Hegels Staat garantiert sein sollen. Kiesewetter widerspricht dem: Ihm zufolge könne es in Hegels Staat „Grundfreiheiten im Sinne von Menschenrechten oder etwa politische Freiheiten gegenüber dem Staat“ (Kiesewetter 1995, S. 113) nicht geben; jeder Staat hat absolutes Recht gegenüber den Subjekten, denen wiederum ihrerseits nur Freiheit 32 verstanden als Unterordnung zukommen kann. Dabei zitiert Kiesewetter selbst eine Stelle bei Hegel, in der dieser explizit von „guten Gesetzen“ spricht (vgl. Kiesewetter 1995, S. 84, Hervorh. I. S.). Auch Popper postuliert, dass Hegel einen „ethische[n] und juridische[n] Positivismus“ (Popper 2003, S. 50) vertritt, wodurch er zum Ausdruck bringen möchte, dass es letztlich keine Norm gibt, an der ein Staat gemessen werden kann. Er ist selbst das Absolute, nicht Relative bzw. an etwas über ihm Stehendem Gemessene. Nach Popper hat bei Hegel also schlicht jedes Gebilde, dem man – nach welchem Kriterium lässt er offen – Staatlichkeit zusprechen kann, das Recht auf seiner Seite. Hegel ist demzufolge offensiv gegen Demokratie und Volkssouveränität (ebd., S. 68; vgl. auch Topitsch 1981, S. 46) und letztlich bleibt am Ende nur noch die
32 Kiesewetters Deutung des Hegelschen Freiheitsbegriffes ist meines Erachtens nicht zu halten. In Abgrenzung zu Rousseau führt er aus, dass in Hegels Denken nicht gelten würde, dass die Menschen frei geboren werden, also Freiheit eine Folge der Natur des Menschen ist (vgl. Kiesewetter 1995, S. 112). Dies möchte er in dem Sinne verstehen, dass die Menschen bei Hegel radikal unfrei bzw. eben nur frei durch Subsumption unter eine Herrschaft sind. Im besten Fall stellt dies ein Missverständnis, im schlechtesten eine Verdrehung dar. Um Hegels Begriff der menschlichen Freiheit nachvollziehen zu können, muss zwischen der Freiheit an sich und der an-und-für-sich unterschieden werden. Im Laufe der Arbeit wird deutlich werden, dass die Menschen Hegel zufolge durchaus als Freie geboren werden (vgl. auch Ritter 1956, S. 197 sowie Ritter 1961a, S. 270 f.); allerdings sind sie frei nur an sich. Um tatsächlich frei zu werden, müssen sie sich zu einem vernünftigen Subjekt bilden und sie bedürfen auch der äußeren Rahmenbedingungen, in denen sie durch die Anerkennung von Seiten des Staates sowie der anderen frei werden können. Insofern ist Hegels Verständnis von Freiheit ein sehr komplexes, das diese gerade nicht negiert, sondern sie als politischen, sich-bildenden sowie intersubjektiven Auftrag begreift. In diesem Kontext ist auch Hegels Lob der Revolution der Sklaven zu sehen (vgl. Losurdo 2000, S. 132).
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Gleichung von Erfolg und Recht: Der Staat ist „jeder sittlichen Verpflichtung ledig; die Geschichte, das heißt der geschichtliche Erfolg, ist der einzige Richter, der Kollektivnutzen das einzige Prinzip des persönlichen Verhaltens“ (Popper 2003, S. 75; vgl. auch ebd., S. 69 sowie S. 78 f.). Da an dieser Stelle lediglich ein Überblick über existierende Hegel-Deutungen gegeben werden soll, ist hier nicht die Stelle für eine Prüfung dieser Auslegung; wie bereits erwähnt, wird sich diese im Laufe der Arbeit vollziehen. Hier sei nur darauf verwiesen, dass Hegel durchaus Momente benennt, die Staaten seiner Vorstellung nach als legitime auszeichnen (vgl. GPR, u. a. § 265, § 269, § 273). Auch hier gilt die Hegelsche Gedankenfigur, die uns später noch häufig begegnen wird: Nicht jedes Existierende, sei es eine Sache oder ein Lebewesen, ist auch immer schon die Realisierung seines Begriffs bzw. für sich, was sein Wesen an sich auszeichnet; vielmehr kann es sich – und so eben auch ein Staat – verfehlen. Insofern stellt nicht jede Herrschaft „die Inkarnation des Geistes“ (Popper 2003, S. 75) dar. Und noch ein weiterer Punkt lässt sich ohne intensivere Auseinandersetzung einwenden, der jedoch auch erst an späterer Stelle näher erläutert werden kann: Es ist nicht zutreffend, dass die Richtschnur des individuellen Verhaltens in der Sphäre des Staates der Kollektivnutzen ist, wie das Popper ausführt. Alle Fragen des Materiellen werden von Hegel der bürgerlichen Gesellschaft zugeordnet und sind gerade nicht das Begründende des Staates; dieser zeichnet sich vielmehr dadurch aus, über Fragen des Eigen- und Fremdnutzens hinaus zu sein.33 Hieran schließt unmittelbar das Thema der Moral und Sittlichkeit im Hegelschen System an. Das Pendant zu Hegels vermeintlichem Bestehen „auf der absoluten moralischen Autorität des Staates“ ist schließlich, dass „alle persönliche Moral und das Gewissen völlig zur Seite“ (Popper 2003, S. 40) geschoben wird.34 Popper gibt Hegel dabei so wieder, als würde dieser wahre Grundsätze der Moral aufstellen, die er von der „falsche[n] Moralität“ abgrenzt, wobei letztere als „platonischtotalitäre Moral“ mit der „des persönlichen Gewissens“ gleichzusetzen sei. „[D]ie Weltgeschichte bewegt sich auf einem höheren Boden, als der ist, auf dem die Mo-
33 Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die von Popper gegebene Charakterisierung, wenn schon nicht für den Staat, so doch für die bürgerliche Gesellschaft zutreffend ist. Zwar gibt es in dieser einerseits einen allgemeinen Zweck; andererseits betätigen sich die Bürger in dieser Sphäre bei der Verfolgung ihres eigenen Nutzens gerade in Konkurrenz zueinander (zu den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft und dem sich daraus ergebenden Übergang in den Staat vgl. Schiller 2006, S. 91 ff.). 34 Poppers Schüler Kiesewetter übernimmt an dieser Stelle nicht nur inhaltlich die Deutung seines Lehrers, sondern teilt auch dessen abwertenden Duktus. So spricht er davon, dass „es nicht nötig [ist, I. S.], daß wir uns mit Hegels dialektischen Auslassungen über Moralität allzu lange befassen“ (Kiesewetter 1995, S. 82).
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ralität ihre eigentliche Stätte hat“ (Popper 2003, S. 80). Diesen Gedanken bringt auch Zima zum Ausdruck: „Der Einzelne, der als moralische Instanz nur das abstrakt Gute will (im Sinne eines partikularen Meinens und Wollens), muß der Aufhebung dieser Partikularität im konkreten Guten der staatlichen Sittlichkeit zustimmen“ (Zima 2007, S. 113; vgl. auch Eichenseer 1997, S. 165). Im Gegensatz zu Popper jedoch erwähnt er hier die auch für Hegel zentrale Unterscheidung, nämlich die zwischen Moral und Sittlichkeit. Gedeutet wird das Verhältnis so, dass der Einzelne seine innere Freiheit darin erkennen soll, dass er sich der Sitte unterordnet. Darin aber, so der Einwand, würde die Autonomie des Subjekts verlorengehen: „Keine Interpretationskunst könnte wegdisputieren, daß das Wort Unterwerfung das Gegenteil von Freiheit meint. Ihre angebliche Synthesis mit der Notwendigkeit beugt sich der letzteren und widerlegt sich selbst“ (Adorno 2003b, S. 344). Dabei ist durchaus zutreffend, dass die Sittlichkeit bei Hegel in gewissem Sinne als über der Moral stehend eingeordnet wird: Dem Philosophen zufolge zeichnet sich die Moral dadurch aus, das Gute auf der Ebene des Individuums darzustellen, während die Sittlichkeit „das lebendige Gute“ (GPR, § 142) ist. Jedoch muss hierbei beachtet werden, dass die Differenz an dieser Stelle rein darin besteht, dass die Moral auch ein bloßes Sollen sein kann, während die Sittlichkeit das realisierte Gute ist. Insofern wird hier von einer Identität ausgegangen, nämlich dass es in beiden Arten um das Gute geht. Dies bedeutet für die vermeintliche Unterordnung der (individuellen) Moral bzw. des Gewissens unter die allgemeine Sitte zunächst, dass sich die gegebene Definition aufgrund der Identität im Zweck der Realisierung des Guten indifferent verhält. Um angeben zu können, ob das Gewissen tatsächlich der Sittlichkeit subsumiert ist, müssten Textpassagen geprüft werden, in denen Hegel von einem Auseinanderfallen des Inhalts der Moral und Sittlichkeit ausgeht. Ebendiesen möglichen Konflikt repräsentiert Sokrates, auf den in Kapitel 3.2 eingegangen wird; auch der Begriff des Bösen wird dort in diesem Kontext eine Rolle spielen, da sich an ihm die von den zitierten Interpreten aufgegriffene Problematik, dass Moralität bei Hegel immer mit Partikularität verbunden ist, manifestiert. An dieser Stelle sei also nur vor einer vorschnellen Verhältnisbestimmung gewarnt: Solange sich das Gewissen im Einklang mit der Sittlichkeit weiß, kann keine nähere Bestimmung des Verhältnisses aus Hegels Aussagen gewonnen werden. Im Zusammenhang mit Hegels Skepsis gegenüber einem Ausdruck von Subjektivität, die er auch als (reine) Partikularität bezeichnet, steht das Sujet der Meinungsfreiheit, die die Erlaubnis zur Äußerung der eigenen Gedanken zum Inhalt hat. Nach Schiller ist dies eines der zentralen Themen, bei denen der Zynismus des Hegelschen „funktionale[n] Blick[s] von oben herab“ (Schiller 2006, S. 94) deutlich wird: Die Gewährung der Meinungsäußerung sei letztlich „ein Klugheitsgebot für die Regierenden“ (ebd.), da sie die Bürger durch bloßes Sagen ihrer Ansichten zugleich ohne weitere Konsequenzen befriedigen könnten. Max Stirner bringt diese
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Ansicht pointiert zum Ausdruck: „Hegel verurteilt das Eigene, das Meinige, die – „Meinung“. Das ,absolute Denken‘ ist dasjenige Denken, welches vergißt, daß es mein Denken ist, daß Ich denke und daß es nur durch Mich ist. Als Ich aber verschlinge Ich das Meinige wieder, bin Herr desselben, es ist nur meine Meinung, die Ich in jedem Augenblicke ändern, d. h. vernichten, in Mich zurücknehmen und aufzehren kann“ (Stirner 1981, S. 381 f., Hervorh. i. O.). Zunächst muss festgehalten werden, dass es – wie bereits beim Thema Moral – durchaus nötig ist, diesen Punkt der Hegelschen Skepsis gegenüber einer bestimmten Weise der Geltendmachung der Subjektivität aufzugreifen: Seine Kritiker greifen mit diesem Thema eine wesentliche Schwierigkeit bei der Bestimmung der Rolle des Subjektiven in Hegels Philosophie auf. Zu Stirners Polemik ist an dieser Stelle jedoch zweierlei festzuhalten: Zum einen bestärkt Stirner hier, ohne sich dessen bewusst zu sein, Hegels Gedanken, indem er auf den Konnex von individuellem und absolutem Denken hinweist. Dass das absolute Denken gerade kein selbstständiges Subjekt gegenüber dem Einzelnen ist, sondern nur zur Existenz gelangt dadurch, dass es von den Individuen gedacht wird, kann als einer der zentralen Gedanken der Hegelschen Philosophie bezeichnet werden; im Laufe der Arbeit wird dieser Gedanke unter dem Begriff der Wechselwirkung von Allgemeinem und Einzelnem behandeln werden. Gerade die von Stirner angegriffene Dichotomie wird also von Hegel selbst aufgehoben. Zum anderen liegt meines Erachtens gerade in der von ihm hochgehaltenen Möglichkeit, seine Meinung jederzeit ändern zu können, ein Moment, das Hegels Angriff auf das rein Partikulare Recht gibt: Eine Meinung zu haben und diese äußern zu dürfen, wird zu einem bloßen Formalismus, den man an sich schlicht aufgrund der Tatsache wertschätzt, dass man selbst diese pflegt, ohne jedoch den Inhalt dieser hervorzuheben. In gewisser Weise dreht Stirner hier Hegels Skepsis gegenüber dem Partikularen einfach um, indem er gerade das rein Individuelle und dies unter völliger Abstraktion des Gedankeninhalts feiert. Sollte es jedoch nicht vielmehr darauf ankommen, was jemand denkt und nicht, wer einen Gedanken äußert? Stirner führt diesen Gedanken konsequent für die Wissenschaft fort: „Wäre ich nicht dieser, z. B. Hegel, so schaute Ich die Welt nicht so an, wie Ich sie anschaue, Ich fände aus ihr nicht dasjenige philosophische System heraus, welches gerade Ich als Hegel finde usw.“ (Stirner 1981, S. 382). Letztlich fällt es also in die Beliebigkeit des Subjekts, was dieses als richtig oder falsch ansieht; die Wahrheit wird so aufgelöst in reine Willkür. Bei aller Berechtigung der Kritik, auf die unter 3.2 aufgegriffen wird, mag die Darlegung dieses anderen Extrems der Verdeutlichung dessen dienen, wovor Hegel mit dem rein Partikularen bzw. dem „Eigendünkel“ (GPR, § 270) warnen wollte. Was nun die Staatskonstitution anbelangt, so legen viele der Hegelschen Kritiker nahe, dass Hegel ein Führerprinzip vertritt. Die Rolle der Regierenden in Hegels Staat wird dabei als Auseinandersetzung mit den „großen Männer[n]“ (Adorno 2003b, S. 335; vgl. zu diesem Thema auch Schiller 2006, S. 96) behandelt, wobei
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dieser Gegenstand eine andere Konnotation erhält, wenn man den Begriff des Führers verwendet (vgl. Popper, S. 86). Adorno spricht davon, dass die menschliche Individualität bei Hegel „komplementär, zu hoch angesetzt [ist, I. S.] und zu niedrig in einem. Zu hoch als Ideologie der großen Männer [...]. Je undurchsichtiger und entfremdeter die Gewalt des sich durchsetzenden Allgemeinen, desto ungestümer das Bedürfnis des Bewußtseins, sie kommensurabel zu machen. Dafür müssen die Genies herhalten, die militärischen und politischen zumal. [...] Zu solchem ideologischen Zuviel kontrastiert bei Hegel ein Zuwenig im Ideal; seine Philosophie hat kein Interesse daran, daß eigentlich Individualität sei“ (Adorno 2003b, S. 335 f.), weil, wie bereits eingangs erwähnt, die Subjekte bloße Agenten des Allgemeinen seien (vgl. Adorno 2003b, S. 336). Während Adornos Hegel also das „gewöhnliche“ Individuum gering schätzt, werden politische und militärische Führer als Genies mit einer welthistorischen Rolle verehrt. Adorno nennt in seiner Auseinandersetzung ausdrücklich Adolf Hitler, ohne den von ihm suggerierten Konnex näher auszuführen (vgl. Adorno 2003b, S. 336). Verkannt wird dabei nicht nur, dass Hegel das „absolute Gebot“ der Selbsterkenntnis im Sinne eines Emporarbeitens zur Vernunft als ein allgemeines formuliert, das den Imperativ eines jeden seinem Begriff als Menschen gerecht werdenden Wesens ausdrückt; auch der Stellenwert der „großen Männer“ ist nicht zutreffend mit einer Überhöhung des einzelnen Subjekts charakterisiert. Hegel spricht vielmehr davon, dass „die geschichtlichen Menschen, die welthistorischen Individuen diejenigen [sind, I. S.], in deren Zwecken ein Allgemeines liegt“ (VPG, Einleitung, S. 45). Auch hier kommt man also nicht umhin, die Individualität in ein Verhältnis zur Allgemeinheit zu setzen, das durch die Verabsolutierung einer der beiden Seiten die von Hegel anvisierte Dialektik verpasst. Geht man wie diese Interpreten von einer Gleichsetzung von Allgemeinem und Staat aus, so muss man mit gewisser Notwendigkeit auf Adornos Schluss kommen: Die großen Männer sind dann Agenten des Staates und werden als solche, die die Sache der Herrschaft voranbringen, verehrt. Bedenkt man aber die zahlreichen Ebenen des Allgemeinen, zu der unter anderem auch das „Absolut-Allgemeine“ (Enz. III, § 577) der Philosophie gehört und ruft sich in Erinnerung, dass Hegel beispielsweise auch Sokrates zu den großen Männern zählt, wird deutlich, dass Hegels Ausführungen keineswegs mit einer Art Führerkult gleichgesetzt werden können. Überlegungen hierzu werden eingehender unter 3.2angestellt werden. Diese nun dargelegten Gegenstände haben den Denkern dieser Richtung zufolge eine Art einendes Dach, unter dem die Einzelaspekte eingebettet sind: Die Hegelsche Geschichtsphilosophie ist für sie alle unter den unterschiedlichsten Schlagwörtern – Teleologie, Historismus, Weltgeist etc. – Gegenstand der Auseinandersetzung (vgl. u. a. Zima 2007, S. 108, S. 111; Schiller 2006, S. 124 f.; Horkheimer
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1971, S. 84 ff.).35 Das über allen Einzelaspekten Stehende ist dieses Thema insofern, als die Hegelsche Geschichtsphilosophie verstanden wird als ein Prozess, dem das Individuum letztlich völlig subsumiert ist: Er steht „unter dem Bann des Weltgeistes“ (Adorno 2003b, S. 337). Der Einzelne wird wie ein Mosaiksteinchen in eine welthistorische Entwicklung eingebaut, die ihm jegliche Autonomie raubt. Der „Weltprozeß [ist, I. S.] in seiner Gesamtheit ein allumfassendes Heilsgeschehen [...] in welchem der geistige Weltgrund auf dem Wege über seine Diremtion in die Vielfalt der Einzelwesen die Verwirklichung der in ihm potentiell angelegten gestalthaften Vollkommenheit erreicht und im einzelnen Ich – das eben dadurch die Schranken seiner Vereinzelung und Endlichkeit überwindet und kraft dieser seiner Wiedervereinigung mit dem Weltgrund frei wird – zum Bewußtsein seiner Vollkommenheit gelangt.“ (Topitsch 1981, S. 116)
In Topitschs Auslegung kommt es auf das Individuum nur insofern an, als dieses den Weltgeist erkennt und sich zu einem Instrument dessen macht, der auf diesem Wege vervollkommnet wird. Das einzelne Subjekt wird also „mit dem Absoluten identisch gedacht“ (Horkheimer 1971, S. 85) und im Umkehrschluss verfehlt es sich und das Objekt, wenn es seine Freiheit nicht im Weltgeist erkennt. Dabei ist der Abstraktionsgrad dieser Bestimmung – ein welthistorisches Prinzip, das sich den Einzelnen subsumiert – von diesen Theoretikern durchaus intendiert: Adorno zufolge wird der „Rede vom Fortschritt“ bei Hegel jeglicher Inhalt geraubt: „Trotz der allbekannten Definition der Geschichte hat denn auch Hegel keine Theorie des Fortschritts ausgeführt. Die Hegelsche Wanderung des Weltgeistes von einem Volksgeist zum anderen ist die zur Metaphysik aufgeplusterte Völkerwanderung“ (Adorno 2003b, S. 335). Die allbekannte Definition, auf die er hier anspielt, ist freilich die vom „Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist“ (VPG, S. 77), das für Hegel das bestimmende Prinzip der Weltgeschichte darstellt. Hegel selbst hat also keineswegs das Selbstverständnis, einer bloßen Abstraktion das Wort zu reden, sondern er verknüpft die Zielgerichtetheit seines teleologischen Denkens durchaus mit einem inhaltlichen Prinzip: Die Freiheit bzw. Vernunft würde sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem an-und-für-sich Seienden verwandeln. Inwiefern diese bei Hegel mit Gehalt gefüllt
35 Eng verknüpft damit ist die Auseinandersetzung mit der Dialektik, weil sie zumeist als Weise der Durchsetzung des welthistorischen Prinzips begriffen wird. In der Beurteilung des dialektischen Denkens sind diese Denker jedoch äußerst heterogen: Während sie Popper (2003 S. 57 ff.) und Topitsch beispielsweise (Topitsch 1981, S. 72) scharf als eine Art „Zauberei“ ablehnen, findet bei Adorno (2003b, S. 148 f.) eine komplexe Auseinandersetzung statt, die sich durch sein ganzes (Haupt-)Werk zieht und durch die zahlreichen Elemente der Hegelschen Denkweise fruchtbar im Hegelschen Sinne aufgehoben werden.
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werden, kann erst im Laufe der Arbeit beantwortet werden; dass jedoch die Einbettung in einen welthistorischen Prozess, wie man diesen immer auch näher bezeichnen mag, an sich zunächst die Frage nach dem Verhältnis zur Autonomie des Einzelnen aufwirft, wurde von diesen Denkern sicherlich richtig erkannt. Im Kontext von Hegels Geschichtsphilosophie steht ein weiterer Aspekt, der als Verlängerung der Problematisierung der Meinungsfreiheit bereits gestreift wurde: Hegels Wissenschaftsverständnis. Untrennbar verbunden mit der Durchsetzung der welthistorischen Prinzipien ist für Hegel, dass diese auch von den Subjekten erkannt werden; ohne das Wissen um die Verwirklichung von Freiheit und Vernunft können sich diese nicht realisieren, sie werden vielmehr von den Individuen zur anund-für-sich-seienden Existenz gebracht. Dabei besteht die Rolle des Einzelnen diesen Interpreten zufolge allein darin, die Durchsetzung dieser Prinzipien als Geschichte des sich fortentwickelnden Menschheitsbewusstseins nachzuvollziehen: „Hier [Topitsch nimmt Bezug auf das Vorhaben der Phänomenologie, I. S.] wird gewissermaßen die gesamte menschliche Kulturgeschichte als Heilsweg aufgefaßt, der aus dem bloß natürlichen, sinnlichen Bewußtsein über eine Stufenfolge von Gestalten oder Bildungsformen des Geistes zum absoluten Wissen emporführt, und indem das Einzel-Ich diesen Bildungsweg rückschauend und verstehend nachvollzieht, wird es ebenfalls dieses Wissens teilhaftig.“ (Topitsch 1981, S. 24)
Einerseits wird das Subjekt also Teilhaber des Wissens, andererseits ist seine Rolle in der Wissenschaft marginal, weil ihm das zu Erkennende objektiv vorgegeben ist. Diese Vorstellung hat die Prämissen zur Unterstellung, dass es Objektivität gibt und dass das Individuum dazu fähig ist, diese zu erkennen. Damit kürzen sich aber die Besonderheiten des Subjekts völlig aus der Wissenschaft heraus (vgl. PdG, Einl., S. 66 f.). Es ist dieses Festhalten am Begriff der Wahrheit, die Hegel zufolge dem Einzelsubjekt auch zugänglich ist, das ihn dem Verdacht des Antipluralismus aussetzt (vgl. auch Zima 2007, S. 109; Popper 2003, S. 51 ff.)36 – ein Vorwurf, der meiner Ansicht nach durchaus zutreffend ist: Hegels Verständnis von Wissenschaft ist antipluralistisch und damit auch antidemokratisch (vgl. Kapitel 4.2). Während einerseits der Wissenschaft diesen Denkern zufolge in Hegels Philosophie eine wichtige Rolle zukommt, da das Individuum durch die Bewusstwerdung des welthistorischen Prinzips am absoluten Wissen teilhat, konstatieren sie alle einen gewissen Irrationalismus oder sogar eine Geistesfeindschaft in Hegels
36 Es erstaunt, dass Popper trotz des Vorwurfs einer Abbildtheorie von Wahrheit in einem anderem Kontext in einem Interview in Klammern sagt: „Das ist übrigens der Grund, warum ich Fichte oder Hegel nicht für große Philosophen halte: ich mißtraue ihrer Wahrheitsliebe“ (Popper 2006, S. 21).
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Denken. Popper wirft Hegel gar „Gedankenflucht“ (Popper 2003, S. 54), eine „Apotheose [...] der Leidenschaft“ (ebd., S. 88) und ein bloßes „Lippenbekenntnis“ (ebd.) für den Rationalismus vor, wo er tatsächlich im Irrationalismus enden würde (vgl. ebd.). Bei Adorno stellt sich der Vorwurf differenzierter dar, hat jedoch letztlich denselben Gehalt. Die „Hegelsche Geistesmetaphysik“ ist dem Philosophen zufolge „auf all ihren Stufen so nah an der Geistfeindschaft“ (Adorno 2003b, S. 341): „Wie in der bewußtlosen Gesellschaft die mythische Gewalt des Natürlichen sich erweitert reproduziert, so sind auch die Bewußtseinskategorien, welche sie produziert, bis zu den aufgeklärtesten, im Bann und werden zur Verblendung. Gesellschaft und Individuum harmonisieren darin wie nirgends sonst“ (ebd.). Letztlich ist es ihm zufolge gerade Hegels Verherrlichung der Vernunft, die durch ihre Mystifizierung umschlägt in eine totale Verblendung und durch die sich – so ein weiterer Schritt – der Einzelne bewusst der Gesellschaft anpasst und unterwirft. Dem Vorwurf der Geistesfeindschaft soll die entgegengesetzte These gegenübergestellt werden, die im Laufe der Arbeit entwickelt wird: Hegels Ziel ist der Mensch, der sich zu einem an-und-für-sich-seienden Vernünftigen emporarbeitet. Sein ganzes Denken ist also durchdrungen vom Glauben an die menschliche Vernunft, die Geistesfeindschaft hat hier keinen Raum. Letztlich ist bei Hegel, so lässt sich diese Richtung der Interpretation zusammenfassen, die Versöhnung (Schiller 2006, S. 98) des Subjekts mit der Welt das zentrale Motiv: Es gibt keine Differenz oder gar einen Gegensatz zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, wenn denn ersterer tatsächlich vernünftig ist. Vernunft geht also auf in einer Anpassung an das Gegebene, dem sich Individuen bis in ihr Innerstes völlig akkommodieren. So sehr, wie auch partiell angedeutet wurde, dieser Sicht eine Vereinseitigung und eine Übertreibung zugrunde liegt, so stellt sie doch die Vereinseitigung und Übertreibung eines Aspekts dar, der durchaus der Hegelschen Philosophie immanent ist. Ritters Hegel-Deutung als „Höhepunkt der deutschen Hegel-Apologetik“ Auch Joachim Ritter legt den Fokus seiner Auseinandersetzung mit Hegel auf das Verhältnis von Individuum und Staat, unterscheidet sich jedoch grundlegend in dessen Beurteilung von den Hegel-Kritikern. Ein weiteres Moment der Differenz liegt darin, dass Ritter in seiner Deutung durchaus auf das Phänomen der Armut zu sprechen kommt – allerdings hält der Philosoph dieses offenbar nicht für ein zentrales Thema der Hegelschen Theorie und teilt diese Selbstverortung des Philosophen, was Ritter dadurch deutlich macht, dass auch er selbst Armut in seiner Interpretation Hegels lediglich als Nebenaspekt behandelt. Das Konstitutive des modernen
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Staates besteht für Ritters Hegel in der Verwirklichung der Freiheit,37 womit er sich – auch explizit (vgl. Ritter 1961b, S. 12) – gegen eine Deutung im Geiste Poppers und Ähnliche wendet. Allerdings bleibt seine „Auseinandersetzung“ mit der zu ihm kontradiktorischen Deutung, so oft diese auch angesprochen wird, auf der Ebene der Zurückweisung, ohne sich tatsächlich inhaltlich mit dieser zu beschäftigen. 38 Ihm scheint diese Interpretation offenkundig so absurd zu sein, dass es seines Erachtens ausreicht, auf einen Aufsatz eines anderen Wissenschaftlers zu verweisen, in dem „in mustergültiger Weise“ alles gesagt sei, was zu Popper gesagt werden muss (vgl. Ritter 1956, S. 241), um dann zu seiner eigenen Deutung überzugehen. Freiheit als zentrales Anliegen des Philosophen stellt Ritter vor allem durch seine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Hegels Deutung der Französischen Revolution heraus (vgl. Ritter 1956, S. 183 ff. sowie 1961b, S. 14 ff.), die er als Grundmotiv begreift, von der aus das Hegelsche Denken zu verstehen sei; es gäbe keine Philosophie, die „so sehr und bis in ihre innersten Abtriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels“ (Ritter 1956, S. 192 sowie S. 209). Durch 1789 sei „der Mensch als Mensch zum Subjekt und so die Freiheit zur Substanz und zum Grund des Rechts wie des Staates erhoben" worden (Ritter 1956, S. 196 f., S. 201 sowie S. 287; Ritter 1961b, S. 15;). Mit der Verankerung der Menschenrechte hat das Recht „die Allgemeinheit der Gattung erreicht“ (Ritter 1956, S. 201). Damit ist bereits deutlich, dass die von Hegels Kritikern behauptete Maßstabslosigkeit der Beurteilung des Staates bzw. der vermeintliche Positivismus von Ritter aufs Schärfste bestritten wird: Ihm zufolge ist Hegel deswegen ein Befürworter des Staates, weil dieser die Freiheit als weltgeschichtliches Prinzip realisiert. So ist also gerade nicht jede Herrschaft gerechtfertigt, sondern sie ist es dann, wenn und soweit sie die Freiheit des Einzelnen zum Daseinsgrund hat: „Recht, Staat und alle öffentlichen Institutionen können jetzt und fortan nur dann noch als Recht gelten, wenn der einzelne in ihnen [...] als er selbst zu bestehen und bei sich selbst zu sein vermag“ (Ritter 1961b, S. 31). Dabei wird Freiheit nicht auf eine Dimension beschränkt, sondern verstanden als Möglichkeit, das zu sein, was der Mensch seinem Wesen nach ist (vgl. Ritter 1956, S. 197). Mit dieser Schwerpunktsetzung rückt ein weiteres Thema in den Mittelpunkt: Hegels Denken bezeichnet er an anderer Stelle auch als die „Philosophie der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft" (Ritter 1961b, S. 18), weil in dieser die
37 Ein weiterer Philosoph, der dieses Motiv – meines Erachtens folgerichtig zusammen mit dem Begriff der Bildung – in den Mittelpunkt seiner Hegel-Deutung stellt, ist John Rawls (Rawls 2002, S. 425-478); seine äußerst gewinnbringende Hegel-Deutung, die er in einigen wenigen Vorlesungen entwickelt hat, wird an den entsprechenden Stellen herangezogen werden. 38 Eine Ausnahme bildet seine Auseinandersetzung mit Rudolf Haym (2003, S. 183 ff.).
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Freiheit als weltgeschichtliches Prinzip bzw. als Recht eines jeden Individuums zum ersten Mal Wirklichkeit erlangen würde. Dies ist ihm zufolge aufgrund der bisher einzigartigen Charakteristika der bürgerlichen Gesellschaft der Fall, die sich „dadurch von allen sonst in der Geschichte bekannten Reichen, Staaten, Gemeinschaften [unterscheidet, I. S.], daß sie sich allein auf das Naturverhältnis des Menschen beschränkt, das sie zugleich zur Form der rationellen Arbeit in der industriellen Nutzung der Natur entwickelt“ (Ritter 1961b, S. 25 f.). Hierbei sind vor allem zwei Punkte hervorzuheben. Diese Funktionalisierung der Natur durch den Menschen beruht darauf, dass er sie sich unterworfen hat, also Freiheit auch durch die Möglichkeit der Nutzbarmachung der Natur für die Bedürfnisse des Menschen zum ersten Mal in Existenz tritt. Gleichzeitig, so Ritters Deutung, verbindet sich damit eine Auswirkung, die nicht vorschnell als rein negativ gedeutet werden dürfe (vgl. u. a. Ritter 1956, S. 214): Die im Zitat angesprochene Beschränkung auf einen Aspekt des menschlichen Lebens bringt eine Spaltung mit sich – nämlich zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und allen anderen „nicht durch das Naturverhältnis gesetzten sittlichen, religiösen, geistigen Ordnungen und Institutionen“ (Ritter 1961, S. 26), die ihren Platz nun außerhalb der Gesellschaft haben. Mit der Möglichkeit der Naturbeherrschung ist also auch eine Entzweiung entstanden, in der alle Fragen außerhalb der Bedürfnisbefriedigung zunächst zu einem „bloß Subjektiven“ (ebd., S. 27) gemacht wurden: „Die versachlichte und verdinglichte Welt, die alles ,Göttliche‘ und ,Schöne‘ außer sich hat, wird zu der Wirklichkeit, in welcher der Mensch sein gesellschaftliches Sein erhält“ (ebd., Hervorh. i. O.). Diese Entzweiung, die für Ritters Hegel „die Konstitutionsform der modernen Gesellschaft“ (ebd. S. 28) darstellt, darf deswegen nicht rein ablehnend beurteilt werden, weil sie durch die erläuterte Herauslösung der Ordnungen aus der bürgerlichen Gesellschaft den Menschen zugleich „in seiner Subjektivität frei[setzt, I. S.]“ (ebd., S. 29). Kritisch hinterfragt werden muss – auch angesichts Hegels eigener Ausführungen (vgl. u. a. GPR, § 243 sowie § 244) und der Reflexionen Ritters selbst (vgl. u. a. Ritter 1956, S. 222, S. 232 und Ritter 1961a, S. 274 ff.) – die im Gesamturteil eindeutig vorherrschende Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft. Vermag diese wirklich das Prinzip der Freiheit zu realisieren, wenn sie doch – wie Ritter ausführt – zu einer Teilung in Arm und Reich, ja sogar zu einer „Klassengesellschaft“ führt (vgl. Ritter 1956, S. 222)? Es drängt sich die Frage auf, ob Freiheit für die Arbeiter, die Ritter zufolge abhängig sind und in Not leben müssen sowie Freiheit für den entstehenden Pöbel (ebd.) nicht einen reinen Formalismus im Sinne einer bloßen Rechtsfreiheit als anerkannte Person bedeutet. Trotz des Hinweises auf das Elend, das die bürgerliche Gesellschaft für einige ihrer Mitglieder bedeutet, scheint sich für Ritter daraus keine Infragestellung seiner Interpretation der Freiheitsrealisation zu ergeben, sodass er diesem Thema keine weitere Aufmerksamkeit widmet. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit steht für Ritter auch die Thematik der Moral und der Sittlichkeit, an der sich die Chance, aber auch die Gefahr
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der geschilderten Entzweiung manifestiert. Er möchte zeigen, dass die Menschenrechte bei Hegel auf die christliche Freiheit bezogen werden und der Philosoph damit geltend macht, „daß mit ihnen die Freiheit als Freiheit des einzelnen in seiner Subjektivität, religiös in seinem Verhältnis zu Gott, ethisch in seinem Gewissen, allgemein in seinem in der Innerlichkeit des Selbst gegründeten Sein zum Prinzip des Rechts und des Staates wird“ (Ritter 1961b, S. 21). Während die Denker der Machtapologie-These also der Moral bei Hegel eine negative Rolle zusprechen, die von ihm mit Skepsis belegt und völlig abgelehnt oder zumindest der Sittlichkeit subsumiert wird, ist diese nach Ritter ein zentrales Prinzip sowohl des Einzelnen als auch des Staates. Um die Freiheit zu realisieren, bedarf es nicht nur der Implementierung einer äußeren Freiheitssphäre durch das Recht, sondern sie hat ihre Voraussetzungen im Innern der Subjekte selbst. Die selbstständige Ausbildung dieser ist in der Moderne erst möglich geworden: „Die Subjektivität hat es übernommen, religiös das Wissen um Gott, ästhetisch das Schöne, als Moralität das Sittliche zu bewahren und gegenwärtig zu halten, das auf dem Boden der Gesellschaft in der Versachlichung der Welt zu einem bloß Subjektiven wird“ (ebd., S. 33). Darin sieht er jedoch zugleich die Gefahr dieser durch die Spaltung entstandenen Freiheit, weil in ihr die Möglichkeit liegt, dass die Gesellschaft von den Subjekten nicht mehr „als ihre Wirklichkeit erkannt und anerkannt“ (ebd.) wird und umgekehrt Moral zu einer bloß Partikularen wird. Ohne, dass Ritter hier konkret darauf Bezug nimmt, setzt er sich also mit dem auseinander, was Hegel als „Eigendünkel“ bezeichnet bzw. seine Kritiker als Subsumption des Subjekts unter das Recht des Staates brandmarken. Auf diese Position nimmt Ritter Bezug, wenn er davon spricht, dass das Missverständnis hinsichtlich der Rolle der Moral häufig darin begründet liege, dass das Hegelsche Wort des „Aufhebens“ oft allein „als Negation und Verschwinden des Anfangs“, nicht jedoch auch als „Aufbewahren“ begriffen wird, wie es jedoch von dem Philosophen gemeint sei (vgl. Ritter 1966, S. 284); so wird Ritters Hegel zufolge die Moral nicht im Staat oder der Sittlichkeit aufgehoben im einseitigen Sinne, sondern sie bleibt als wesentlicher Bestandteil; zu ihr tritt die Sittlichkeit hinzu.39 Ritter verweist in diesem Kontext auch auf Hegels Kritik der Romantiker und
39 An diese Stelle ordnet sich auch Ritters Deutung der Hegelschen Kant-Kritik ein: Einerseits schätzt Ritters Hegel den Königsberger Philosophen, da er vor allem in Kants Denken die geistige Revolution verortet, die darin besteht, den „Begriff der Subjektivität“ auszubilden (ebd., S. 23). Zugleich wendet er sich jedoch an zahlreichen Stellen gegen die „Reflexionsphilosophie“ und die Kantsche „Moralität“, was aber keineswegs mit einer Ablehnung der subjektiven Autonomie gleichgesetzt werden kann; vielmehr „schlägt [Kants, I. S.] Größe in Ohnmacht um“, weil er „die Sittlichkeit [...] ins Innere verschließt und sie nur als die ‚Moralität‘ nimmt, die in der objektiven Wirklichkeit nicht erkennbar und realisierbar sein soll“ (ebd., S. 33 f.). Bleibt die Autonomie des Individuums eine rein
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fordert in Anlehnung an seine Ablehnung eines bloßen moralischen Sollens dazu auf, nicht „eine wahre und eigentliche Existenz zu erdenken und zu erdichten, sondern zur Vernunft [zu, I. S.] kommen, um so den Geist da zu vernehmen, wo er nicht in bloßen Vorstellungen, sondern in der Wirklichkeit und als diese vorhanden und gegenwärtig ist“ (Ritter 1961b, S. 35). Gerade durch das letzte Zitat wird deutlich, weswegen Ottmann in seinem Kapitel über Ritter von einem „Höhepunkt der deutschen Hegel-Apologetik" (Ottmann 1977, S. IX) spricht.40 Während der ersten Auslegungslinie zufolge eine Emanzipation des Subjekts aus dem Gegebenen weder möglich noch überhaupt nur wünschenswert erscheint, geht Ritter davon aus, dass dem Subjekt bei Hegel – verbürgt durch den Staat und die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft – Freiheit gegenüber der Natur, zur Bedürfnisbefriedigung und zur inneren Entfaltung durch die Herauslösung aus den alten Ordnungen zukommt. Die Problematik des Rechts der Individualität gegenüber dem Staat, das von den Deutern der Machtapologie einseitig aufgelöst wird, stellt sich für Ritter nicht: Er geht davon aus, dass Freiheit das Konstitutionsprinzip des Hegelschen sowie des heutigen Staates ist, sodass die Schwierigkeit der möglichen Bejahung einer illegitimen Herrschaft irrelevant zu sein scheint. Abgesehen davon, dass diese vermeintlich distanzlose Affirmation des Status Quo befremdlich erscheinen mag, ist die Ausklammerung dieser Fragestellung auch im Falle einer begründeten Parteilichkeit zu kritisieren; schließlich kann sich die Möglichkeit staatlichen Unrechts durchaus erneut ergeben – und sie ist zweifelsohne in einigen Ländern auch heute Realität. Insofern dispensiert ein Einverständnis mit dem bundesrepublikanischen Staat nicht von einer Reflexion dessen, welches Recht dem Subjekt gegen einen Staat zukommt, der nicht die Freiheit zu seiner Substanz hat. Was also, wenn das Subjekt die Gesellschaft nicht als seine Wirklichkeit erkennt und anerkennt, weil sie es nicht ist? Diese Frage stellt Ritter nicht.41
innerliche, die keine Realität in der vernünftigen Wirklichkeit findet, fehlt eine notwendige Bedingung der Selbstverwirklichung, die Entzweiung wird so zu einem „Dualismus der Trennung“ (Ritter 1966, S. 289). 40 Eine Distanz gegenüber Hegel tritt tatsächlich nicht zu Tage. So unterbleibt auch eine Auseinandersetzung mit Hegels umstrittenen Äußerungen zur Meinungsfreiheit, zur Rolle des Subjekts in den Wissenschaften und zu der der großen Männer vor allem in der politischen und militärischen Geschichte. 41 Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich immanent bei einem positiven Aufgreifen seiner Deutung: Obwohl Freiheit das Konstitutionsprinzip der Hegelschen Philosophie ist, unterlässt es Ritter erstaunlicherweise, den Weg nachzuvollziehen, durch den sich das Subjekt auf seinem individuellen Bildungswege zur Freiheit emporarbeitet – schließlich ist die rechtliche Garantie der Freiheit aller bzw. des Person-Seins nur eine, wenn auch ent-
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Hegel als Theoretiker der geistig-politischen Selbstverwirklichung: Ernst Bloch und Charles Taylor Eine kleine Minderheit teilt unsere Schwerpunktsetzung: Denker wie Ernst Bloch und Charles Taylor gehen davon aus, dass Hegels Denken vor allem als Theorie der Selbstverwirklichung zu fassen ist.42 Dass man – diesen Ausgangspunkt ernst genommen – in einem zweiten Schritt jedoch auf die Armut als zentrales Problem für das absolute Gebot der Selbstverwirklichung stoßen muss, teilt, so legt es deren Ausblendung dieser Thematik nahe, keiner der zwei Interpreten. 43 Ernst Bloch: die Grundfarbe „begriffener Selbsterkenntnis, begriffener Subjekt-Objektivierung“ Ernst Bloch würde von den meisten wohl intuitiv der ersten hier vorgestellten Auslegungstradition zugeordnet werden – und dies hat auch sein Recht, allerdings mit so großen Einschränkungen, die letztlich gegen diese Einordnung sprechen. Freilich begreift Bloch Hegel von Karl Marx her,44 aber dies spielt in seiner Auslegung über weite Teile meines Erachtens keine (große) Rolle; dass er über Hegel hinaus möchte, ist sicherlich zutreffend, aber das dispensiert Bloch seinem eigenen Verständnis
scheidende, äußere Basis, die nicht von der Notwendigkeit der inneren Entwicklung dispensiert. Obwohl Ritter die „inneren“ Voraussetzungen des Subjektes hinsichtlich seiner moralischen, religiösen und geistigen Bildung anspricht, die notwendig sei, damit die Institutionen nicht „zu tote[n] Gehäusen“ (Ritter 1966, S. 304) werden, bleibt die Frage nach dem Wie der Selbst- und Weltaneignung völlig offen. 42 Auch Klaus Vieweg vertritt als einer der wenigen die Ansicht, dass Hegels Denken „eine moderne philosophische Theorie der Selbstbestimmung und Gerechtigkeit“ (Vieweg, S. 34, Hervorh. i. O.) darstellt. Auf seine Interpretation wird im Laufe dieser Arbeit häufig zurückgegriffen. 43 Michael Theunissens Aufsatz „Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins“ von 1982 sollte zunächst ausführlich behandelt werden. Da er jedoch Hegel lediglich für seine eigene Intention verwenden möchte, um sich zunehmend von ihm zu distanzieren (vgl. Theunissen 1982, S. 14) und er weder die Sphären der Selbstverwirklichung bzw. den Allgemeinheits-Begriff in seinen unterschiedlichen Formen noch Armut zum Gegenstand der Betrachtung macht, soll seine Deutung lediglich an einigen Stellen der Arbeit aufgegriffen werden. 44 Er möchte, wie Habermas richtig feststellt, auch keineswegs „von Marx zu Hegel“ zurück (vgl. Habermas 2006, S. 13).
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nach nicht von einer gründlichen Auseinandersetzung. 45 Es ist vermutlich Blochs an zahlreichen Stellen Ausdruck verliehene Verehrung Hegels – des „ungeheuren Meister[s], ohne den es kein Philosophieren gibt“ (Bloch 1972, S. 489; vgl. auch u. a. ebd. S. 55, S. 179 f., S. 484) –, die ihn letztlich trotz seines marxistischen Hintergrundes zu einer ausgesprochen ausgewogenen, detailreichen und fruchtbaren Interpretation kommen lässt. Auch inhaltlich weicht sie von der einfachen Deutung Hegels als Staatsapologet ab, was man seinem Hauptwerk über den Philosophen „Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel“ unmittelbar entnehmen kann: Es kreist nicht allein um das Verhältnis von Individuum und Staat, sondern greift sämtliche Aspekte der Hegelschen Philosophie – von der Kunst, seinem Empirismus, der Logik, Religion etc. – auf und ringt um eine ihm angemessene Deutung. Unter der Überschrift „Der Kerngedanke Hegels“ bringt er zunächst seine Hochachtung gegenüber dem Philosophen zum Ausdruck, hier, weil sein Denken sich nicht in langem „Geschwätz“, im „tüchtig ausgefülltem Mittelmaß“ (Bloch 1972, S. 32) verliert, sondern Hegels großer Gedanke zur Kürze fähig ist (vgl. ebd.): „Während bereits der einzige Satz: Erkenne dich selbst, ein wichtiges Stück Hegel kenntlich macht“ (ebd., vgl. auch ebd., S. 12). Ihm zufolge trifft diese Aussage, obwohl sie ursprünglich von Sokrates stammt, bei Hegel „den Nerv der Sache“ (ebd., S. 34) und es ist Hegel, der ihr Bloch zufolge als erster aller Philosophen tatsächlich eine „Durchführung einheitlicher Art gegeben“ (ebd.) hat. An anderer Stelle charakterisiert er dieses Wesen der Hegelschen Philosophie als die Grundfarbe „begriffener Selbsterkenntnis, begriffener Subjekt-Objektivierung, geschichtlich hindurch verfolgter Subjekt-ObjektBeziehung, die Hegels ganzes Werk dialektisch erfüllt und immer wieder, höchst vieltönig, höchst einheitlich, durchschlägt“ (ebd., S. 35). Weil dies der Leitgedanke Hegels ist, kann Bloch sein Oeuvre auch als „ein einziges, konkret ausgereiftes Buch“ (ebd., S. 37) bezeichnen und er begreift von diesem her beispielsweise auch die Phänomenologie des Geistes, in der das „Erkenne dich selbst“ auf immer höheren Stufen behandelt wird (vgl. ebd. S. 37 sowie S. 103 und für eine detaillierte Auseinandersetzung S. 59 ff.). Die Realisierung des Prinzips hat selbstredend eine wichtige Voraussetzung, nämlich das „Selbstdenken“ (ebd., S. 18), das Blochs Hegel vehement vertritt. Hier wird bereits deutlich, wie weit dieser Denker von den Machtideologie-Theoretikern entfernt ist: War das Individuum bei diesen reine Akzidenz des Staates, das sich der Herrschaft bis ins Innerste hinein gemäß gemacht hat, wird die Fähigkeit, selbst zu
45 Hierfür spricht auch, dass sich Bloch nicht nur intensiv mit dem Spätwerk, sondern auch mit den frühen Schriften des Philosophen auseinandergesetzt hat (vgl. Bloch 1972, S. 44 ff.). Ihm zufolge muss man sogar Hegel studieren, um Marx begreifen zu können (vgl. Bloch 1972, S. 12; vgl. auch ebd., S. 411).
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denken und nicht nur nachzuschwätzen (vgl. ebd., S. 18), zu einem zentralen Postulat. Bloch spricht hier von „unausgetretenen Wegen“ und dem Einschlafen, das droht, wenn man immer nur mit dem Kopf nickt (vgl. ebd.), sodass offensichtlich nicht allein der Formalismus des Selbstdenkens gemeint ist; vielmehr soll das Subjekt im eigentlichen Sinne des Wortes selbstständig alles durchdenken, was nicht allein das Nicken, sondern auch das Kopfschütteln bzw. das Hinterfragen und die Möglichkeit der Distanzierung einschließt. Gerade angesichts dieser mit Hegel aufgestellten Forderung an das Subjekt erstaunt Blochs Behauptung, dass die Selbsterkenntnis nicht das Selbst im Sinne des einzelnen Ichs (vgl. ebd., S. 38) meint, denn selbst denken kann schließlich nur das einzelne Individuum. Beim Prinzip der Selbsterkenntnis kann dies durchaus auch im Sinne der Geschichte der Vernunft oder einer Phylogenese ein anderes Subjekt als den Einzelnen einschließen, aber weswegen dieser explizit ausgenommen werden soll, ist nicht plausibel – vor allem auch deswegen, weil, wie zu zeigen sein wird, der Geist als menschheitsgeschichtlicher sich nicht autonom, sondern allein durch das (bewusste) Denken und Handeln der Individuen, also durch gelungene Ontogenese, entwickeln kann. Verstanden als Negation dessen, dass hier das Ich angesprochen ist, würde Bloch sich auch selbst widersprechen, da seine Ausführungen an zahlreichen Stellen durchaus den Einzelnen zum Gegenstand haben: „Der Einzelne muß auch dem Inhalt nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen“ (ebd., S. 84; vgl. u. a. auch S. 256 ff.), so heißt es in einer Passage ganz deutlich. Wie also lässt sich Blochs Einschränkung verstehen? Er führt aus, dass das von Hegel behandelte Ich zwar „menschlich“ ist, aber „das Äußere und Zufällige an Ichen, jenes mehr oder minder eitel erscheinende Sosein, das nicht mit Selbersein verwechselt sein soll“ (ebd., S. 38) von Hegel skeptisch beäugt und nicht zum eigentlichen Gegenstand seiner Philosophie gemacht wird. Blochs Hegel lehnt keineswegs den „lebendige[n] Menschen“ (ebd., S. 38) ab, sondern möchte lediglich die substanzlosen Besonderheiten des Einzelnen ausblenden: „Was Hegels gelehrte Breite offenbaren möchte, ist fehlerfreie Einsamkeit des Fürsichseins – in der Welt. Hegel will also, daß das unmittelbare Subjekt verlassen werde, damit es sich als das, was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, vermittelt aussage und objektiviere.“ (Ebd., S. 38)
Der Philosoph hat also Bloch zufolge durchaus das einzelne Subjekt und seinen Entwicklungsprozess zum Gegenstand, aber nicht alle Facetten der Individualität sind von Interesse, sondern nur diejenigen, in denen am Einzelnen etwas über ihn Hinausweisendes erscheint. Dies wäre auch missverstanden, würde es als Ausschluss des „Innenlebens“ aus dem Gegenstandsbereich der Philosophie verstanden werden; schließlich wird die „Einsamkeit des Fürsichseins“ durchaus behandelt. Aber diese wird – und das kann sich durchaus auch als Einschränkung bemerkbar
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machen – zugleich und ausschließlich in Beziehung zur Welt gedacht. Bloch deutet es mit dem Attribut „fehlerfrei“ bereits an und im Kapitel zur Moral und Sittlichkeit wird dies explizit werden: Dass damit der Philosophie durchaus etwas verlustig geht, wird bei allem Verständnis keineswegs bestritten (vgl. v. a. S. 256 f.). Deutlich wird dies auch durch die Vergegenwärtigung einer von Blochs Hegel getroffenen Unterscheidung, die in Kapitel 1.2.3 unter den Begriffen des „an sich“ und „für sich“ aufgegriffen wurde: Wenn der Philosoph vom „Wirklichem“ oder „An-sich-Seiendem“ spricht, dann ist das zu unterscheiden von der bloßen Existenz bzw. dem empirischen Auftreten einer Sache. Wirklichkeit ist bei Hegel vielmehr „eine Auszeichnung“, da sie „nur die mit Vernunft identische Existenz darstellt“, die zu trennen ist vom „bloß empirische[n] Dasein“, das nicht nur das Vernünftige implizieren kann, sondern auch das „Schlechte[] und Nichtseinsollende[]“ (ebd., S. 253).46 Bloch selbst stellt den Zusammenhang zu seinen Ausführungen zum bloß „einzelnen Ich“ nicht explizit her, aber offenkundig hilft diese Differenzierung zum Verständnis seines Gedankens: Hegel interessiert sich nicht für die empirischen Zufälligkeiten, die das Individuum für sich ausmachen; sein Fokus liegt vielmehr darauf, was der Mensch an sich ist und wie er zu einem an-und-für-sich Seienden werden bzw. sich zu seiner eigentlichen Wirklichkeit emporarbeiten kann. Gleichzeitig ist diese Grenze nicht so absolut zu ziehen, da das Nachzeichnen des Weges den Ausgangspunkt des unbedarften Menschen erläutern muss. Hegel selbst legt durchaus dar, wie dieser als natürliches Wesen sich zunächst durch Empfindung auszeichnet und die noch mit dem animalischen Organismus geteilte Stufe hinter sich lassen muss. Dass bei der Untersuchung dieses individuellen Aufstiegs jedoch nicht alle „Falten des menschlichen Herzens“ (Enz. III, § 377), die der Einzelne haben mag, in den Blick geraten, mag Bloch mit seiner Abgrenzung des einzelnen Ich vom „eigentlichen“ Selbst zum Ausdruck bringen wollen. Mit der Selbsterkenntnis als „begriffener Subjekt-Objektivierung, geschichtlich hindurch verfolgter Subjekt-Objekt-Beziehung“ (ebd., S. 35) ist auch ausgedrückt, dass der Wissenschaft bzw. der Philosophie47 ein zentraler Platz in Blochs HegelVerständnis zukommt. Auch hier unterscheidet er sich insofern von den Denkern der ersten Traditionslinie, als bei diesen Hegels Bestimmungen zur Wissenschaft
46 Durch diese Unterscheidung klärt sich auch Hegels wohl berühmtester Ausspruch, dass das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig sei. Keineswegs ist dadurch alles Bestehende legitimiert, wie dies Hegels Kritiker meinen – im Gegenteil: Durch die Differenzierung zwischen Wirklichem und bloß Empirischen kann vielmehr auch Widerspruch gegen Letzteres zum Ausdruck gebracht werden. Wie Bloch an anderer Stelle ausführt, enthält Hegels Satz „gegen dasjenige im Wirklichen, das nicht vernünftig ist, vielmehr ein forttreibendes Sollen“ (ebd., S. 442; vgl. auch Losurdo 2000, S. 49 ff.). 47 Beide Begriffe werden von Hegel weitestgehend synonym verwendet.
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primär unter dem Gesichtspunkt interessierten, dass die Herauskürzung des Trägers für die Beurteilung des Inhalts eines Gedankens kritisiert wird. Nach Blochs Hegel kann Philosophie als emanzipatorische Kraft verstanden werden, da sie nicht zu denken ist „ohne Losreißen vom Herkommen und seiner Gebundenheit“ (ebd., S. 40). Sie wird bestimmt als die Weise, wie sich das Subjekt geistig die Welt aneignen kann, indem diese zu einer vom Individuum erkannten wird: „Durchgehend bleiben bei Hegel Wissensdurst, Hunger nach Erkenntnis die Mittel, sich der Welt teilhaftig zu machen, sich über sie in all ihrem objektiven Reichtum hineinzuziehen“ (ebd., S. 41; vgl. auch ebd., S. 189). Dem zum Selbstdenken aufgeforderten Subjekt wird dies nicht als äußeres Postulat herangetragen, sondern das Individuum selbst strebt nach Wissen, um die ihn umgebende Welt begreifen zu können. Nun scheint Bloch Hegel aber so zu verstehen, dass diese Aneignung im Geiste zugleich auch dazu führt, dass der Mensch die Welt auch praktisch beherrscht bzw. der einzelne sie sich jederzeit gemäß machen kann, wenn Bloch Hegel in diesem Kontext als „optimistische[n], aber auch apologetische[n] Denker“ (ebd., S. 42) bezeichnet.48 Diese Gleichsetzung hat jedoch meines Erachtens keinen Anhaltspunkt im Originaltext bzw. wird dieser sogar widersprochen, wo Hegel eine Unterscheidung zwischen dem Verschlingen und dem Bestehen-Lassen einer Sache als Schritt von der Begierde zur Anerkennung einführt; dass die theoretische Aneignung den Gegenstand praktisch unberührt lässt, soll in Kapitel 2.1.3 erläutert werden. Bloch setzt sich auch mit Hegels Staatsverständnis auseinander – ein Abschnitt, der sicherlich am ehesten Distanz gegenüber Hegels Denken zum Ausdruck bringt. Die Rechtsphilosophie ist ihm zufolge „seine reaktionärste Schrift“ (ebd., S. 245), in Bezug auf linkshegelianische Kritiker nimmt Bloch den Philosophen jedoch zugleich in Schutz: „Teils treffende, teils unzutreffende Einwände sind gegen dies vergoldete Staatsbild erhoben worden“ (ebd., S. 245). Hegel ist für ihn nur „der sogenannte königlich preußische Staatsphilosoph“ (ebd., S. 241, Hervorh. I. S.), denn schließlich hat „nun [...] jede Sache zwei Seiten, bei keinem sicherer als bei Hegel selbst“ (ebd., S. 248). In diesem Sinne darf die zweite Seite nicht ausgeblendet werden, nämlich dass es auch einen freisinnigen Hegel (ebd., S. 248) gibt. Bloch
48 Deswegen sieht er hier auch einen Ansatzpunkt für den Marxismus: Man müsse Hegel – im Marxschen Sinne – vom Kopf auf die Füße stellen und dann bedeute die Aneignung der Welt, dass das Selbst als „der arbeitende Mensch [...] seine Produktion endlich begreift und sie aus der Selbstentfremdung herausführt“ (Bloch 1972, S. 42). Weil Bloch diese Welt ablehnt, ist die Forderung nach Erkenntnis dieser, die er mit Hegel teilt, für ihn – und selbstredend im Gegensatz zu Hegel – gleichbedeutend mit ihrer geistigen und praktischen Überwindung. Da Bloch aber selbst davon spricht, Hegel hier auf die Füße zu stellen, ist diese Passage kein Bestandteil seiner Hegel-Deutung; er ist sich der Differenz bewusst und möchte seinen Gedanken Hegel nicht „unterschieben“.
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verweist hier einerseits auf die Frühschriften, die „noch rein von Menschenliebe und Freiheitsdurst erfüllt“ (ebd., S. 248) sind, stellt dann aber auch fest, dass es ausreichen würde, sich hier an den „spätere[n] Hegel“ (ebd., S. 249) zu halten. Dieser war Bloch zufolge keineswegs ein Apologet des Preußens seiner Zeit, was man bereits dem entnehmen kann, dass es in diesem zahlreiche, von Hegel verehrte Staatsmomente nicht gab: „keine öffentlich-mündliche Rechtspflege, keine Pressefreiheit, keine Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, keinen Anteil des Volkes an der Gesetzgebung, an der Steuerbewilligung, – und all das lehrte Hegel.“ (Ebd., S. 249). Bloch zählt noch weitere progressive Elemente des Hegelschen Staates auf und verweist darauf, dass seine angebliche Verehrung des Monarchen nicht zu halten ist, weil dieser von Hegel in der berühmten Textstelle schließlich als äußerst unbedeutend definiert wird: „Es ist bei einer vollendeten Organisation nur um die Spitze formellen Entscheidens zu tun, und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menschen, der ja sagt und den Punkt auf das I setzt“ (ebd., S. 249). Dass Hegel „wenig totale Obrigkeit gelehrt“ (ebd., S. 249) hat, sieht Bloch auch dadurch bewiesen, dass sich Vertreter dieses Denkens wie Friedrich Julius Stahl vehement gegen Hegels Philosophie gewandt haben (vgl. ebd., S. 249 f.). Gegen Staatsvergötterung spricht auch, was von Hegels Kritikern nicht beachtet wurde: Der Staat wird Bloch zufolge sowohl „nach unten“ als auch „nach oben“ relativiert: Zum einen gilt Hegel die bürgerliche Gesellschaft als Grundlage des Staates, auf der er also auch beruht; und zum anderen steht über dem Staat als objektiven Geist der absolute, nämlich Kunst, Religion und Philosophie (ebd., S. 255). So wird man bei der Beurteilung der Rolle des Staates in Hegels Denken also wieder auf den absoluten Geist und genauer – wie zu erläutern sein wird – auf die Philosophie verwiesen, die letztlich über allem anderen steht. Anders ausgedrückt: Hegel hat „dem Staat nie absolute, immer nur objektive Würde zugeschrieben [...]. Absolute Würde besitzen Kunst, Religion, Philosophie; der Staat Hegels bleibt auf den objektiven Geist reduziert und konzentriert, auf diesem Werktag trocken-sittlicher Sachlichkeit“ (ebd., S. 259; vgl. auch ebd., S. 273). Freilich sieht Bloch aber auch die andere Seite, hinsichtlich der Hegels Kritikern in einigen Punkten durchaus zuzustimmen ist: Preußen wird „hoch idealisiert[...], jedoch nicht absolut gemacht[...]“ (ebd., S. 255); er „gibt dem Krieg die Ehre“ (ebd., S. 246; vgl. auch ebd., S. 380), „verteidigt den Grund- und Majoratsadel“ (ebd., S. 246) und „verschönt“ (ebd., S. 520) die vorhandene Welt. Auch hinsichtlich des Verhältnisses von Moral und Sittlichkeit, das sich für die Machtideologie-Theoretiker eindeutig darstellt, urteilt Bloch wesentlich ausgewogener. So verweist er in einem Nebensatz auf Sokrates (ebd., S. 40), wodurch implizit ein mögliches Spannungsverhältnis zwischen Moral und Sittlichkeit angesprochen ist (vgl. Kapitel 3.2.2) und führt in seiner Besprechung der Phänomenologie eine Unterscheidung zwischen „moralisch“ und „privat-moralisch“ (ebd. S. 87) ein – ein weiterer Ausdruck dessen, was an anderer Stelle deutlich ausgesprochen
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wird: Der Vorwurf, Hegels System enthalte keine Ethik, „ist in diesem Umfang unrichtig“ (ebd., S. 256). So führt Bloch aus, dass sich Hegel durchaus zahlreichen moralischen und sittlichen Fragestellungen widmet und erstere nicht einfach völlig negiert bzw. letzterer untergeordnet wird. Dennoch – und hier wird deutlich, was sich in der oben ausgeführten Einschränkung des Hegelschen Gegenstandbereichs angedeutet hat – hegt auch Bloch eine gewisse Skepsis gegenüber dem Hegelschen Moralitätsbegriff. „[D]ie gesamte Innerlichkeit ist ihm fremd, sogar verdächtig“; Hegel entwickelt „kein eigentlich moralisches Organ“ und letztlich wird die Moral doch „weit überboten von der ,Sittlichkeit‘“ (ebd., S. 256; vgl. auch ebd., S. 263). Bloch betont an zahlreichen Stellen, dass Hegel die Moral keineswegs ablehnt, wie das eine vereinfachende Auslegung behauptet, aber in der von ihm vorgenommenen Unterordnung unter die Sittlichkeit kommt letztlich auch ein Bloch fremdes Desinteresse gegenüber den im Seelenleben eines Individuums vorgehenden Prozessen zum Ausdruck. Der Vorwurf besteht also weniger darin, dass sich das Subjekt der Sittlichkeit bzw. damit auch den staatlich vorgegebenen Normen und Traditionen unterzuordnen hat, weil Bloch durchaus anerkennt, dass das Individuum dadurch nicht von Moralität dispensiert wird oder diese gar abgelehnt wird; aber, so ließe sich Blochs Kritik wohl zusammenfassen, wird der Fokus bei Hegel sehr einseitig auf die „Äußerlichkeit“ gelegt. Er selbst bringt dies so auf den Begriff: „So überwiegend er vom Menschen spricht, so sehr er dessen Angelegenheiten alles andere nachordnet, er spricht von ihm am liebsten als einem geäußerten, als einem vor die Tür gegangenen. Es ist die Agora, der Markt, es ist Res publica, die öffentliche Sache, an denen Hegels – nicht fehlende, doch sozusagen einfache – Ethik erst lebhaft wird.“ (Ebd., S. 257)
Festzuhalten ist von Blochs Ausführungen jedoch auch „die andere Seite“, nämlich dass er bei aller Problematisierung der Hegelschen Ethik zugleich davon spricht, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und bei aller Skepsis dennoch Moralität in seiner Philosophie ihren Platz hat. Insgesamt ist Blochs Hegel-Deutung hinsichtlich dieser Thematik also äußerst differenziert; er selbst kommt zu dem Resultat, dass Hegels Staatslehre „seltsam gemischt“ (ebd., S. 250) ist. Als Substanz seiner gesamten Hegel-Deutung bleibt für Bloch – trotz weiterer Momente der Distanz wie beispielsweise gegenüber dem Philosophiebegriff (vgl. ebd., u. a. S. 246) –, dass der Philosoph „die Selbstentfremdung kritisiert, das Zusichkommen des Humanen befördert [hat, I. S.] – in der ganzen Breite und Tiefe der Wirklichkeit“ (ebd., S. 55). Auch für mein Hegel-Verständnis ist zu konstatieren, dass Blochs Auseinandersetzung mit dem Philosophen fruchtbar gemacht werden kann, was durch das Aufgreifen der Blochschen Überlegungen an den entsprechenden Stellen der Arbeit deutlich werden wird.
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Charles Taylor: das Subjekt als „Vehikel“ bzw. „Vermittler“ des Geistes Auch Charles Taylor begreift Hegels Philosophie als „Theorie der Selbstverwirklichung“ (Taylor 1983, S. 119), die er in seinem Werk über Hegel zu entfalten sucht. Dabei erbringt Taylor nicht nur eine detaillierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Elementen des Hegelschen Oeuvres, sondern auch die Intention von Taylors eigenem Schaffen scheint mit derjenigen Hegels, zumindest seinem Verständnis nach, zusammenzufallen.49 Die Moderne bewegt sich in zahlreichen Widersprüchen und Konflikten, die insbesondere für das Selbstverständnis des Individuums bedeutend sind. Taylor unternimmt zu Beginn seines Werkes einen Parforceritt durch die Geschichte der diversen Auffassungen von Identität bis zu unserer Zeit. Die zentrale These hierbei lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Das moderne Subjekt ist selbstbestimmt, während nach früheren Ansichten das Subjekt in Beziehung zu einer kosmischen Ordnung bestimmt wird“ (Taylor 1983, S. 16 f.; vgl. auch ebd., S. 33). Diese Herauslösung impliziert einerseits einen Zuwachs an Autonomie, geht andererseits aber auch mit einem Sinnverlust in der nunmehr „entzauberte[n] Welt“ (ebd., S. 21) einher – das neue, korrelativ zum Subjektbegriff sich verhaltende Verständnis von Objektivität (vgl. ebd., S. 22). Der Mensch fand sich nach dieser Revolution im Denken nunmehr als vielfach gespaltenes Wesen, getrennt in Körper und Seele, gespalten in Gefühl- und Verstandeswesen, herausgelöst aus der Natur – „ein Bewußtsein, in dem Einheit und Gemeinschaft abgelöst werden von Herrschaft und Knechtschaft zwischen Mensch und Natur, Natur und Geist und schließlich, konsequenterweise, auch zwischen Mensch und Mensch“ (ebd., S. 91). In der Philosophie – und hier greift Taylor einige Kritiken Hegels an Denkformen seiner Zeit zustimmend auf – zeigt sich diese neue Situation dadurch, dass sich bestimmte Richtungen einseitig auf einen Aspekt der jeweiligen Entzweiung fokussieren, wie beispielsweise die Romantiker auf das Gefühl oder auf ein Postulat der Rückkehr zum empathischen Naturverständnis (vgl. ebd., S. 76 ff., S. 484, S. 553).50 Nach Taylor ist es allein Hegel, der „Riese“ (ebd., S. 604), der sich an eine „erste große Synthese“ (ebd., S. 79) wagt, die die geistigen Entzweiungen der Zeit zu überwinden sucht und diese dabei als notwendig anerkennt: Nach Taylors Hegel muss man durch den Dualismus, um diesen in einer höheren Einheit
49 So deuten dies auch Taylors Interpreten (vgl. bspw. Braune S. 40, in: Bohmann 2014 sowie Breuer 2000, S. 39). 50 Der Gedanke des Rückzugs des Subjekts auf seine Innerlichkeit wird in zahlreichen seiner Werke scharf kritisiert als „dunkle Seite des Individualismus“ (Taylor 1995, S. 16.), die als eine Art Zeitdiagnose zu verstehen sind und sich explizit nur an wenigen Stellen auf Hegel beziehen (vgl. bspw. ebd., S. 38); dem Inhalt der Gedanken nach sind diese Auseinandersetzungen freilich durchgehend von Hegel geprägt.
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aufzuheben.51 Auch wenn die Synthese Taylor zufolge gescheitert ist (vgl. ebd., S. 706), bleibt sie dennoch „unübertroffen“ (ebd., S. 80) und beinhaltet durchaus noch aktuelle Elemente, die es – vor allem im Hinblick auf ein falsch verstandenes Konzept des Individualismus heute52 – zu verteidigen gilt (vgl. bspw. ebd., S. 477, S. 503, S. 706 ff., v. a. S. 710 sowie v. a. S. 716 ff.). Wie sieht nun also nach Taylor die Hegelsche Antwort auf die gegebene Zeitdiagnose aus? Wo ist das Individuum innerhalb der Dualismen zu verorten und was bedeutet schließlich die entwickelte Synthese zwischen Freiheit und Eingebundenheit in eine kosmische Ordnung für den Status des Subjekts? Der Springpunkt des Verständnisses ist Taylors Interpretation des GeistBegriffes: Nicht einfach ein vom Menschen unabhängiger Gott ist damit gemeint, sondern die zugrundeliegende Vorstellung ist die eines Gottes, dessen Verkörperung das Universum darstellt (vgl. ebd., S. 127) und der als in solch körperlicher Form Erscheinender „als Geist nur durch die Menschen lebt. Sie sind Vehikel und zwar als Bewußtsein, Rationalität und Wille die unverzichtbaren Vehikel der geistigen Existenz Gottes“ (ebd., S. 72). Der Begriff der menschlichen Selbstverwirklichung besteht demzufolge darin, „sich als Vehikel eines umfassenden Geistes [zu, I. S.] begreifen“ (ebd., S. 72), was jedoch laut Taylor nicht mit „rationale[r] Autonomie“ (ebd.) unvereinbar sein darf. Nun ist evident, dass sich hier ein Spannungsverhältnis ergibt, wenn der Mensch als „Vehikel“ oder – wie er das an anderer Stelle nennt – „Vermittler“ (ebd., u. a. S. 131) definiert wird, der etwas ihm Vorausgesetztes zur Existenz bringen soll, aber zugleich dies nicht als einer Art bewusstloses, bloß ausführendes Organ betreibt, sondern selbstbewusster, autonomer Agent dieses zu Realisierenden sein soll. Es gilt nach Taylors Hegel, hierbei immer beide Seiten ohne einseitige Auflösung im Sinne eines reinen Vehikel-Seins oder einer völlig losgelösten Autonomie festzuhalten. Insofern gibt es also ein Wechselverhältnis zwischen kosmischem und einzelnem Subjekt, weswegen Taylor das Individuum auch nicht einem metaphysischen Prozess subsumiert sieht (vgl. ebd., S. 146), wie dies in der ersten Interpretationslinie aufgefasst wurde. Vom Gedanken der Notwendigkeit, sich als Individuum zum Vermittler des Geistes emporzuarbeiten, erklärt sich auch, dass Taylor der Philosophie in Hegels Systemdenken „den ersten Platz“ einräumt, „denn nur sie ist der einzige vollkommen angemessene Ausdruck für die höchste Einheit, das Medium, in dem der Geist
51 Deswegen, so seine Deutung, sei es auch nicht zutreffend, Hegel den Wunsch der Rückkehr zur griechischen Polis zu unterstellen (vgl. ebd., S. 100 f.). 52 So beklagt Taylor beispielsweise den „Atomismus der selbstbezogenen Individuen“ (Taylor 1995, S. 16): Nur wenige hätten den Wunsch, „sich aktiv an der Selbstregierung zu beteiligen“ und möchten stattdessen „lieber zu Hause bleiben und die Genugtuungen des Privatlebens genießen“ (ebd., S. 16; vgl auch Taylor 1983, S. 734 ff.).
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ganz zu sich selbst kommt“ (ebd., S. 105). Wie bereits Bloch, so weist auch Taylor darauf hin, dass die Formen des absoluten Geistes und unter diesen eben die Philosophie an erster Stelle über dem objektiven Geist stehen und damit höher eingestuft werden als der „Bereich der Politik“ (ebd., S. 478; vgl. auch ebd., S. 607). Allein durch das Philosophieren gelingt „die Vervollkommnung der höchsten Synthese“ (ebd.), sodass das Subjekt als Vermittler notwendiger Bestandteil des Geistes ist, ohne das dieser zu keiner adäquaten Existenz gelangen kann: „Weil der Geist sein soll, muß es im Universum vernunftbegabte Lebewesen, nämlich uns, geben“ (ebd., S. 131). Das Pendant zur Abhängigkeit des kosmischen Subjekts von den einzelnen Individuen besteht in deren Notwendigkeit, sich zum Philosophen zu bilden, um ihrem Begriff gerecht zu werden: „Freiheit [...] ist ohne Selbsterkenntnis nicht möglich“ (ebd., S. 129). Gelingende Selbstverwirklichung ist also davon abhängig, dass sich der Einzelne als Vermittler erkennt – der Inhalt der Selbstverwirklichung ist dabei vorgegeben; das Subjekt muss seine „Berufung“ (ebd., S. 134) erfüllen. Da, wie erwähnt, der kosmische Geist als Subjekt verstanden wird, das sich im Universum seine Gestalt gibt, wird auch dem Rechnung getragen, dass die einzelnen Subjekte als Vehikel des Geistes körperliche Wesen sind, die sich in der „Äußerlichkeit“ (ebd., S. 131) bewegen und sich den Körper und das Sein in der Natur zunächst erst aneignen müssen (vgl. hierzu auch Kapitel 2.1.2). Dabei wird die Entzweiung nicht verneint, sondern der Mensch wird als dualistischer, der sich erst zur Versöhnung – einem „der Schlüsselbegriffe Hegels“ (ders. 1996, S. 748) emporarbeiten muss, verstanden. Begreift er sich schließlich als Vermittler, so gelingt die Überwindung der Entzweiung, da die Welt bzw. Objektivität als notwendiger Selbstausdruck des Geistes eingesehen wird (vgl. ders. 1983, S. 165). Mit der Vorgabe dieses Ziels muss zwar einerseits eine radikale Freiheit des Subjekts, wie sie etwa die Existentialisten verstehen würden (vgl. ebd., S. 134), verneint werden; zugleich besteht mit dem Telos, den kosmischen Geist zur Existenz zu bringen, das Ziel darin, dass vernünftige Subjektivität sein soll (vgl. ebd., S. 135; vgl. auch ebd., S. 478), wodurch die Freiheit nach Taylors Hegel zugleich nicht eingeschränkt ist, sondern der vorgezeichnete Weg vielmehr der einzig mögliche zu ihrer Realisierung darstellt. Teleologisches Denken wird also auch hier zwar in Spannung, letztlich aber nicht als Widerspruch zur Freiheit begriffen. Damit erlangen die Philosophie und das Bewusstsein der Menschen eine entscheidende Rolle. Entwicklungen nehmen von diesem ihren Ausgang und sind, in einem zweiten Schritt, mit Veränderungen der Wirklichkeit verbunden (vgl. ebd., S. 110).53 Dabei muss ein weiterer Aspekt seiner Interpretation berücksichtigt wer-
53 Es erstaunt angesichts der Taylorschen Deutung, die den „Höhepunkt menschlicher Verwirklichung“ (ebd., S. 112) im philosophischen Bewusstsein verortet, dass der Begriff der Bildung bzw. die Frage nach der Ontogenese nicht stärker in seinem Werk fokussiert
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den: Taylor zufolge ist das Philosophieren als Höhepunkt der Selbstrealisation nicht so aufzufassen, dass das Philosoph-Sein jedem Menschen zukommt; vielmehr ist in der Gemeinschaft eine Spezialisierung nötig, „eine Gesellschaft von ,Allround‘Menschen“ (ebd., S. 536) heranzubilden, lehnt Taylors Hegel ab. Zu philosophieren stellt „nicht die Tätigkeit einer ganzen Gesellschaft, sondern einzelner Individuen oder sehr kleiner Gemeinden“ (vgl. ebd., S. 674) dar; eine Verbreiterung des Wissens im anspruchsvollen Sinne ist nicht intendiert, denn „nicht jeder Mensch [kann, I. S.] die totale Synthese verwirklichen“ (ebd., S. 570). Für den kosmischen Geist bedeutet dies – Taylor legt hierauf merkwürdigerweise keinen Fokus –, dass er sich in nur wenigen, ausgewählten Individuen, die zum Philosophentum bestimmt sind, realisiert. Zweifelsohne ist dieser Ansatz elitär zu nennen,54 da mit ihm wie selbstevident unterstellt wird, dass den meisten Menschen Selbstverwirklichung versagt bleibt – schließlich impliziert sein Konzept, dass die Selbsterkenntnis als Vermittler des Geistes den einzig „richtigen“ Weg darstellt. 55 Gerade angesichts dessen, dass er immer wieder betont, dass das Absolute von den Menschen begriffen werden muss (vgl. ebd., u. a. S. 166), ist es unehrlich zu nennen, dass er seine Begrenzung auf einige wenige Philosophen nur en passant an einzelnen Stellen seines Werkes nennt – und auch an diesen nicht sehr deutlich und ohne Explizieren der Konsequenzen.56 An dieser Stelle muss offenbleiben, ob sich das Elitäre Hegels Philosophie selbst oder allein ihrer Interpretation durch Taylor verdankt; dass letzterer Hegels Auffassung jedoch ohne Diskussion von deren Konsequenzen und vor allem deren Legitimität nachvollzieht, ist an ihm als Wissenschaftler meines Erachtens durchaus zu kritisieren. Mit dem Gedanken der Vermittlung ist weitestgehend entschieden, wie Taylor die einzelnen Gegenstände wie den Staatsbegriff, die Moral und Sittlichkeit (vgl.
wird; schließlich stellt sich unmittelbar die Frage, wie diese, die Dualismen aufhebende Selbstverwirklichung gelingen kann. 54 In einer anderen Passage heißt es dementsprechend: „Einfach ausgedrückt, ist nach Hegel folgendes Problem jenes der modernen Demokratie: Die moderne Gleichheitsideologie und die Ideologie der totalen Teilnahme führen zu einer Homogenisierung der Gesellschaft.“ (Ebd., S. 542) 55 Abgestuft, so könnte man relativierend argumentieren, gelingt zumindest eine Annäherung an ein seinen eigenen Begriff realisierendes Leben bei Künstlern und Religiösen, die jedoch jeweils unvollkommene Stufen des Geistigen darstellen. 56 Dass seinen Ausführungen aber ebendiese These zugrunde liegt, bestätigt er ex negativo, wenn Taylor ausführt, dass zwar „der Philosoph eine Vollkommenheit erlangt, die anderen Menschen fehlt“ (ebd., S. 639), alle anderen aber durchaus „in bestimmter Weise in die Lebensform der freien Individualität einbezogen“ (ebd.; vgl. auch ebd., S. 674) seien; als Beispiel nennt er die Staatsbürger.
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ebd., S. 491 ff.), das Sujet der großen Männer (ebd., S. 513 f.) sowie des Krieges (ebd., S. 212) versteht. Laut Taylor bedarf der Mensch des Staates, der in „seiner vollkommenen Entfaltung“ die „Verkörperung der Vernunft“ (ebd., S. 169) darstellt, ohne den das Individuum sich nicht frei entfalten kann. Damit ist bereits ausgedrückt, dass nach Taylors Hegel keineswegs jedes staatliche Gebilde gerechtfertigt wird, sondern Abstufungen in der ihm zukommenden Legitimität existieren und damit auch Maßstäbe angelegt werden (vgl. auch ebd., S. 479); es bedarf einer „bestimmte[n] Gesellschaftsstruktur“ (ebd., S. 489), um die Vernunft zu verwirklichen.57 Inwiefern durch den Staat die Möglichkeit der Realisierung von Freiheit gegeben wird, bleibt bei Taylor merkwürdigerweise unklar; er verweist hier nicht etwa auf das Recht, das die Individuen als Freie anerkennt oder auf die Garantie des Eigentums als materielle Sphäre ihrer Freiheit, sondern darauf, dass Menschen nicht völlig selbstständig leben können und im Staat die von ihnen benötigte „kollektive Form des Lebens“ (ebd., S. 169) finden würden. Der Staat wird von ihm primär bestimmt als Gemeinschaft, die das Gegenbild zum Privaten darstellt bzw. das soziale Individuum dem rein auf Rückzug bedachten gegenübergestellt (vgl. auch ebd., S. 505). Nun scheint diese Bestimmung jedoch zu unspezifisch zu sein, um tatsächlich die Existenz des Staates zu begründen; kollektiv ist das Leben schließlich auch in der bürgerlichen Gesellschaft, wenn auch in einem völlig anderem Sinne als im Staate. Tatsächlich unterscheidet Taylor jedoch häufig nicht deutlich genug zwischen diesen beiden Sphären (vgl. bspw. ebd., S. 479, S. 489, S. 495, S. 505),58 wo es doch als zentrales Moment der Hegelschen Philosophie bezeichnet werden muss, diese Differenzierung zwischen Gesellschaft und Staat begründet zu haben. Für ihn ist allein entscheidend, dass der Mensch bei Hegel als politisches bzw. gesellschaftliches Subjekt – was zu unterscheiden durchaus wichtig wäre – bestimmt wird und der Philosoph damit „über die atomistischen Formen des Liberalismus hinaus“ (ebd., S. 489) ist. Später soll die Bedeutung dieser von Taylor verwischten Trennung näher erläutert werden (vgl. Kapitel 3); für die Frage der Selbstverwirklichung
57 Hegels Staatstheorie zu klassifizieren, indem nach konservativen und liberalen Elementen gesucht wird, kann dabei seiner Ansicht nach allein „zu lachhaften Fehlinterpretationen führen“ (ebd., S. 491); auch eine Einordnung als eine Art Vordenker des Faschismus lehnt er explizit ab (vgl. ebd., S. 494 sowie S. 714) ebenso wie die als „Apologet des bestehenden preußischen Staates“, die allein „Ergebnis bedauernswerter historischer Unkenntnis“ (ebd., S. 558 sowie S. 592 f.) sei (vgl. hierzu insgesamt auch ebd., S. 589). 58 Taylor spricht an einer Stelle sogar vom Staat als „höchste[r] Artikulation der Gesellschaft“ (ebd., S. 479), wenngleich er an anderen Stellen durchaus um die Differenz weiß, so beispielsweise, wenn der Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat erwähnt wird (vgl. ebd., S. 574).
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jedenfalls kann festgehalten werden, dass sie beim Einzelnen jeweils völlig unterschiedliche Dimensionen der Selbstverwirklichung ansprechen. Unter dem Hauptgedanken der Vermittlung des überindividuellen Subjekts durch die Einzelnen geraten die Besonderheiten der jeweiligen Sphäre, deren Implikationen für die Verwirklichung des Individuums und damit auch deren jeweilige Begründung ins Hintertreffen.59 Ein weiterer Kritikpunkt, der sich beim Topos des Krieges bereits andeutet (vgl. hierzu auch ebd., S. 587 f.), besteht darin, dass Taylor zwar in seinem Nachvollzug der Hegelschen Argumentation eine oft gewinnbringende Deutung liefert, er es jedoch zumeist unterlässt, mit Distanz auf Hegel zu blicken: Wie sind beispielsweise seine Ausführungen zum Krieg, der Ablehnung der Innerlichkeit und des „Primat[s] der Sittlichkeit“ (ebd., S. 505)60 zu beurteilen?61 Taylor vollzieht in all diesen Punkten nach, inwiefern sich Hegel gegen einen falsch verstandenen Individualismus richtet, was auch er für das Grundthema der Moderne hält, sodass er dabei letztlich die Überprüfung auf Plausibilität hin aus den Augen zu verlieren scheint. Einwände gegen Hegels Staatsverständnis – außer dem des Ontologismus (s. u.) – kann er sich nur so erklären, dass diese einem „übertriebene[n] Atomismus“ (ebd., S. 506) entspringen. Bei all der Vereinseitigung der Staatsapologie-Theoretiker schlägt die
59 Das wird auch deutlich am Begriff der Allgemeinheit, zu dem Taylor ausführt, dass er bei Hegel „in vielen Zusammenhängen“ stehen würde: „[W]ie viele Hegelsche Begriffe, steht er für ein Thema mit vielen Variationen“ (ebd., S. 160). Letztlich scheint er für Taylor mit dem Weltgeist identisch zu sein, was er jedoch an keiner Stelle expliziert. In anderen Kontexten wird er eindeutig synonym zum Staat verwendet: Bei seinen Ausführungen zum Hegelschen Kriegsverständnis, das er rein deskriptiv ohne Beurteilung darlegt, spricht er davon, dass der Krieg Hegel zufolge „von Zeit zu Zeit“ nötig ist, da er „die Menschen zur Allgemeinheit zurückbringen soll“ (ebd., S. 212); an anderer Stelle heißt es, dass der Staat zum Beginn der Geschichte noch „eine sehr unvollkommene Verkörperung des Allgemeinen“ (ebd., S. 479) gewesen sei. Die von Hegel sorgfältig ausgearbeiteten Attribuierungen des Allgemeinheits-Begriffes stoßen bei ihm also auf kein Interesse. Wo eine attributive Konstruktion erwähnt wird, ist sie sogar falsch, wenn beispielsweise (ausgerechnet) von der Gattung als „substantiell[] Allgemeine[s]“ (vgl. ebd., S. 434) gesprochen wird, wo diese tatsächlich doch die rudimentärste, also natürliche Form der Allgemeinheit darstellt. 60 In einem anderen Werk bringt er en passant zur Sprache, dass Hegels Moralkonzeption durchaus so zu verstehen sei, dass er dieser „zu Leibe rücken will“ (ders. 1996, S. 125). 61 An einer Stelle jedoch distanziert sich Taylor deutlich von Hegel: Seine Kritik des Wahlrechts (vgl. ebd., 583 f.) referiert er zunächst, um sie wenige Seiten später zusammen mit Hegels Verständnis des Rechts auf freie Meinung als „reaktionär“ (ebd., S. 585 sowie S. 586) zu kennzeichnen.
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Hegel-Interpretation hier ins Gegenteil um: Durch den Gedanken des Individuums als Vermittler des kosmischen Geistes scheint die Sensibilität für möglicherweise problematische Aspekte seines Subjektivitätskonzeptes ein Stück weit verloren gegangen zu sein.62 Dass Hegels Synthese gescheitert ist, begründet Taylor denn auch allein mit der für heute vermeintlich problematischen Ontologie (vgl. ebd., S. 506 sowie S. 706). Insofern besteht die Kritik letztlich darin, dass für uns „moderne“ Menschen metaphysische Annahmen unhaltbar sind, jedoch nicht im Bestreiten dessen, dass die Synthese zwischen kosmischer Einbettung und individueller Freiheit etwa zu Lasten der letzteren nicht gelungen sei. Zweifelsohne ist es Taylors großes Verdienst, Hegels Projekt als Theorie der Selbstverwirklichung identifiziert und zahlreiche fruchtbare Einzelinterpretationen63 entwickelt zu haben – jedoch bleibt auch der Eindruck, es manchmal an einem Heraustreten aus dem Hegelschen System vermissen zu lassen. 1.3.2 Existenzweisen des Verhältnisses von Armut und Subjektivität in der Forschung Nur wenige Hegel-Forscher beschäftigen sich mit dem Thema „Armut“ – sei es als Schwerpunktsetzung oder von einem anderen Fokus auf das Problem kommend. Erwähnung findet es naheliegenderweise in den meisten Werken, die sich mit dem objektiven Geist befassen oder eine allgemeine Einführung in Hegels Denken darstellen; als Springpunkt wird es hierbei nie verstanden. Anders stellt sich dies bei Domenico Losurdo und Frank Ruda dar, die Armut aus unterschiedlichen Perspektiven in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen.64
62 So wird bspw. apodiktisch festgehalten, dass durch einen in bestimmter Weise ausgestalteten Staat der „Gegensatz zwischen sozialer Notwendigkeit und individueller Freiheit verschwindet“ (S. 502) oder die „Erfüllung der Moralität [...] in der ,Sittlichkeit‘ statt[findet]“ (ebd., S. 493). Auch der Ausspruch von der Vernünftigkeit der Wirklichkeit wird wie selbstevident referiert (vgl. ebd., S. 553). 63 Dies gilt bspw. in dem hier interessierenden Kontext für die Kritik des Stoizismus (vgl. ebd. Taylor S. 216 ff.), des Utilitarismus (vgl. ebd., S. 526) sowie der Philosophie Fichtes (vgl. ebd., S. 700 f.). 64 Ein weiteres Werk, das zumindest auf den ersten Blick in diese Kategorie fallen könnte, ist Susan Buck-Morssʼ „Hegel und Haiti“, das hier jedoch nicht behandelt werden soll (Buck-Morss 2011). Sie möchte nachweisen, dass Hegels Herr-Knecht-Abhandlung vor dem Hintergrund eines Sklavenaufstandes in Haiti gedeutet werden muss, in dem ein Fortschritt in der Durchsetzung der Freiheit stattgefunden habe. Dabei richtet sich ihr Forschungsinteresse auf die formelle bzw. rechtliche Seite der Freiheit, nicht die materielle. Entscheidend ist für Buck-Morss, dass sich die Sklaven als Freie begriffen haben
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Domenico Losurdo: Armut aus der Perspektive des Hungernden und des „anthropologischen Realismus“ Domenico Losurdos Auseinandersetzung mit dem Werk Hegels stellt eine der wenigen mir bekannten Arbeiten dar, in der das Phänomen der Armut in den Fokus der Betrachtung genommen wird. Der kommunistische Philosoph aus Italien spricht sich explizit gegen eine autoritäre, eine liberale Deutung Hegels als auch gegen eine Vermittlung zwischen beiden Positionen aus, da „eine dergestaltete Lesart [...] nur die Ungereimtheiten der anderen beiden summieren“ (Losurdo 2000, S. 44) würde. Überhaupt an Hegels Philosophie immer „die Frage nach dem Liberalismus oder Illiberalismus“ (ebd., S. 48; vgl. auch ders. 1989, S. 99) bzw. das Dilemma „Konservativer oder Liberaler?“ (vgl. Losurdo 2000, S. 98) heranzutragen, hält er für verfehlt und wenig fruchtbar.65 Hier soll dafür argumentiert werden, dass er einen Antipoden zur ersten Interpretationsrichtung darstellt, was in der Auseinandersetzung mit seinen Texten auch rasch deutlich wird:66 Losurdo wendet sich in seinen zahlreichen Werken, in denen er sich mit Hegel auseinandersetzt, immer wieder explizit gegen Poppers Hegel-Verständnis (vgl. bspw. Losurdo 2015, S. 130 ff.; ders. 1989, S. 500 ff. sowie ders. 1988, S. 170, S. 183) und implizit gegen die Einordnung Hegels als totalitären Denker, wenn er die Deutung der hier nicht behandelten Hanna Arendt ablehnt (vgl. bspw. Losurdo 1998, S. 16). Auch Adornos Behauptung der Subsumption des Individuums unter das Allgemeine ist Losurdo zufolge unzutreffend (vgl. Losurdo 1989, S. 508 f. sowie ders. 1988, S. 181 f.). Man kann durchaus behaupten, dass er hier die nahezu genau entgegengesetzte Deutung vertritt: Nach Losurdos Hegel geht „der Vormarsch der Freiheit [...] Hand in Hand mit der fort-
und ihr Existenz im Sinne des Person-Seins verleihen wollten; von den materiellen Bedingungen dessen wird dabei völlig abstrahiert. Dabei gilt außerdem dasselbe wie für Axel Honneth (vgl. Fußnote 19): Buck-Morss geht es weniger um Hegels Gedanken selbst, sondern vielmehr um deren Einordnung in ihr Projekt, das sich mit dem „Fortschritt der Universalgeschichte“ (ebd., S. 129) im Sinne einer „Geschichte der universellen Verwirklichung der Freiheit“ (ebd., S. 89), die durch einen „neuen Humanismus“ (ebd., S. 109) realisiert werden soll, zusammenfassen lässt. 65 So weist er beispielsweise nach, dass Hegels Ablehnung des Kontraktualismus weder gleichzusetzen ist mit einer Befürwortung des Absolutismus noch einer Ablehnung des Liberalismus. Selbst wenn dieses Modell, das als Wesen des Liberalismus gilt, abgelehnt wird, müssen Losurdo zufolge beispielsweise individuelle Rechte nicht negiert werden – der Unterschied liegt dann allein in der Begründung dieser (vgl. Losurdo 2000, S. 77, sowie S. 75 ff. und S. 306). Gleiches gilt für die Naturrechtslehre (vgl. ebd., S. 79). 66 Dabei positioniert er sich auch klar gegen Joachim Ritter (vgl. u. a. Losurdo 2000, S. 166 f., S. 305).
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schreitenden Erringung und Ausarbeitung des allgemeinen Begriffs vom Menschen“ (Losurdo 1988, S. 171). So ist es Losurdo zufolge als Hegels Verdienst zu sehen – und nicht etwa als der von liberalen Theoretikern, sondern eher im Widerstand gegen sie –, ebendiese Ausarbeitung philosophisch geleistet zu haben (vgl. ebd., sowie S. 172 f. und S. 179). Es ist dieser „fortschreitende Aufbau des anthropologischen Realismus“ bzw. „des allgemeinen Begriffs vom Menschen“ (ebd., S. 174), der Hegels Denken auszeichnet und worin Losurdo zufolge auch Hegels Wertschätzung der Moderne zu sehen ist. Für die Thematik des Individualismus bzw. der Selbstverwirklichung bedeutet dies, dass zum ersten Mal in der Geschichte sämtliche ansonsten „aussätzige“ Personen nun unter „die allgemeine Kategorie Mensch subsumiert“ (ebd., S. 175) werden, was als grundlegende Bedingung für deren Entfaltung verstanden werden muss.67 Losurdo verdeutlicht dies unter anderem am Beispiel der Kinder, die nun nicht mehr – wie noch bei Kant – als Dinge des Haushalts, sondern als eigenständige Menschen betrachtet werden, was beispielsweise die Konsequenz hat, dass ihnen ein Recht auf Bildung zugesprochen wird (vgl. Losurdo 1988, S. 175). Auch die Frau (ebd., S. 174) sowie der Sklave (ebd., S. 172) fallen nun unter den Begriff des Mensch-Seins. Dabei ist besonders die „logische und epistemologische Grundlegung dieser energischen Verurteilung der Sklaverei zu betrachten“ (1988, S. 172): Personen als Sklaven zu kategorisieren, ist als „negativ unendliches Urteil“ zu verstehen, weil nicht ein Punkt ihrer Individualität negiert wird, sondern ihnen ganz grundsätzlich und allgemein abgesprochen wird, ein rechtsfähiges Subjekt und damit Mensch sein zu können (vgl. ebd.; bei Hegel selbst u. a. WdL II, S. 324 sowie GPR, § 95). Den Begriff des Menschen in seiner Allgemeinheit zu fassen, bedeutet hingegen auch, dass diese Bestimmungen im Sklaven gesehen werden – so wird er nicht länger unter die Kategorie des Arbeitsinstruments subsumiert, wie das zum Beispiel bei Burke und Locke der Fall war (vgl. ebd., S. 173).68
67 Insofern dreht Losurdo die Behauptung, Hegels Denken habe zu Hitler geführt, sogar um: „Die ideologische Geschichte der deutschen Katastrophe ist die fortschreitende nominalistische Auflösung des Begriffs Mensch, bis hin zum furchtbaren qualitativen Sprung, den das Dritte Reich darstellt“ (Losurdo 1988, S. 183) – nicht also Hegels Denken, sondern im Gegenteil die Verabschiedung davon führte zur Katastrophe. 68 Dabei hat Losurdo die Eigenheit, ständig darum bemüht zu sein, in Hegels Denken progressive Elemente entdecken zu wollen. Zahlreiche seiner Bücher leben überhaupt davon, ihn gegen die „traditionelle Ideengeschichte“ bzw. Denker der Bourgeoisie (vgl. Losurdo 1993, S. 93) oder des Feudalismus (vgl. ebd., S. 52) verteidigen zu wollen – und dies eben in der Form, dass er Hegels Fortschrittlichkeit, was bei ihm gleichbedeutend mit kommunistischem Denken ist, unter Beweis stellt. So spricht er denn auch davon, dass „man die Hegelsche Philosophie bezichtigen [kann, I. S.], sozialistisch zu sein, oder zu-
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In diesem Kontext ist auch Losurdos Behandlung des Themas der Armut zu verorten, wobei dieses von ihm unter einem sehr spezifischen Blickwinkel auftaucht, der meines Erachtens zu eingeschränkt ist, um dem Phänomen umfänglich gerecht zu werden; im Laufe meiner Auseinandersetzung im Ökonomie-Kapitel soll dies dargelegt werden. Das „Drama der Armut“ (Losurdo 1988, S. 173) wird von Losurdo als Auseinandersetzung mit der Figur des Hungernden behandelt. Wie zu zeigen sein wird, findet sich bei Hegel implizit bereits die Differenzierung der Armut in ihre relative und absolute Form; der Hungernde ist eindeutig der letzteren zuzuordnen. Wenn also nur dieser in den Blick kommt, wird materielle Deprivation nicht an sich als Problem betrachtet. Sie ist dann unbedingt zu bekämpfen, wenn sie die Existenz zu untergraben droht. Hier soll die Analyse nicht vorweggenommen werden; meines Erachtens liegt diese Problemverortung sowohl bei Hegel als auch bei Losurdo darin begründet, dass sie primär die Perspektive des Staates einnehmen und Sorgegenstand vor allem diese manifeste bzw. drohende Selbstwidersprüchlichkeit und Untergrabung durch den Pöbel darstellen. Losurdos Hegel zufolge hat der Hungernde jedenfalls das Recht, Brot zu klauen, weil auch in ihm wie bereits beim Sklaven das Allgemeine des Menschseins erkannt wird. Diese Argumentation verbindet Losurdo mit dem Begriff der Gattung: Das negativ unendliche Urteil über ein Individuum – sei er Sklave, Hungernder, Frau, Diener (vgl. Losurdo 1980, S. 178) oder Leibeigener (vgl. ebd., S. 176) – verneint das Allgemeine in seinem besonderen Sein und damit seine Zugehörigkeit zur Gattung Mensch (vgl. ebd., S. 177 sowie S. 180).69 Wie am Beispiel des Hungernden demonstriert, so hebt Lo-
mindest dem Sozialismus den Weg zu bereiten“ (Losurdo 1988, S. 171). Während die marxistisch gefärbten Denker der ersten Richtung darauf bestehen würden, dass Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt werden müsse, liest Losurdo Hegel zwar aus derselben Richtung, aber in direkter Kontinuität (vgl. auch ders. 1993, S. 325): Hegel steht für ihn schon (fast) auf den Füßen, und zwar im Wesentlichen aufgrund der Ausarbeitung des allgemeinen Begriffs des Menschen. 69 Obwohl Losurdo diesen Begriff bzw. den des Menschen als Allgemeinen in den Mittelpunkt seiner Hegel-Deutung stellt, geht er hier nicht näher auf die von Hegel geleistete und auch von ihm hervorgehobene „Ausarbeitung“ ein. Meines Erachtens fasst Losurdo Hegels Verständnis von der Allgemeinheit des Menschen zu unspezifisch, denn auch Tieren kommt nach Hegel eine Empfindung ihrer Gattung zu; der wesentliche Unterschied besteht darin, dass der Mensch sich als Gattung weiß. Losurdo bezieht sich aber ausschließlich auf den Gattungsbegriff, ohne, diesen im Zusammenhang mit einem epistemologischen Zustand – sprich dem Wissen um diese Zugehörigkeit – zu bringen. Dadurch verpasst er jedoch das spezifisch Menschliche, denn Gattung an sich zu sein, ist auch den animalischen Organismen zu eigen. Gerade diese Betonung wäre hier entscheidend, denn es drängt sich auch immanent in Losurdos Deutung die Frage auf, wie die benannte Aus-
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surdo hervor, dass für Hegel das Eigentum im Allgemeinen nicht „absolut“ gilt (Losurdo 2000, S. 203), sondern in einigen Situationen vielmehr ein Verstoß gegen dieses geboten ist. In seinem Bemühen, Hegels Eigentumstheorie kommunistische Elemente zuzuschreiben,70 geht er sogar so weit, die Kriegstheorie des Philosophen zum Beweis der relativen Bedeutung des Eigentums heranzuziehen (vgl. Losurdo 2000, S. 203 sowie 1993, S. 231). In der Tat sind nach Hegel Kriegszeiten solche, in denen das Eigentum und überhaupt alle Ausprägungen des bürgerlichen Leben dem höheren Zweck, nämlich dem Staat, geopfert werden müssen (GPR, § 324); die Hegelsche Kriegstheorie gerät ausschließlich als Beleg seiner These der Relativität des Eigentums in den Blick, wo dessen Legitimität bzw. auf den ersten Blick deren fragliche Brutalität durchaus zu diskutieren wäre (vgl. Kapitel 3.2.2). Bei seiner Auseinandersetzung mit der Armut kommt Losurdo auf einen weiteren Punkt zu sprechen, der wohl als zentrale Intention seines Denkens bezeichnet werden kann: Um sie einzudämmen, ist auch Losurdos Hegel zufolge nicht ein permanenter Verstoß gegen das Eigentumsrecht legitim, sondern es bedarf vielmehr des Staates, der in die Sphäre der Ökonomie eingreift und sich um die Individuen in Form von sozialpolitischen Tätigkeiten kümmert (vgl. u. a. 1993, S. 97, S. 114 sowie ders. 1988, S. 180). Dem Verstoß gegen bestehendes Recht, dem Ausgleich durch moralische Taten und dem Bewusstseinswandel werden eine marginale Rolle zugesprochen, der Staat und seine Institutionen stellen dagegen den Dreh- und Angelpunkt einer wirksamen Armutsbekämpfung dar (vgl. Losurdo 1988, S. 183). Auch diese vermeintliche „Lösung“ des Armutsproblems bestätigt, wie auszuführen sein wird, meine Bestimmung von Losurdos eigentlichen Sorgegenstand. In Hegels Theorie des Sozialstaats sieht Losurdo den eigentlichen Grund dafür, dass Hegel von zahlreichen Denkern ein übertriebener Etatismus bzw. die bedingungslose Subsumption des Individuums unter den Staat zugesprochen wird: In seinem Werk „Zwischen Hegel und Bismarck“ argumentiert er für die These, dass diese Deutung
arbeitung bzw. Differenzierung des Allgemeinen genauer zu fassen ist: Impliziert die Hegelsche Erkenntnis der Allgemeinheit des Menschenbegriffs zugleich, dass dies „Allgemeingut“ wird? Was bedeutet diese für die Individuen, denen das Menschsein nun zugesprochen wird? Die Konsequenzen für den Bewusstwerdungsprozess der Individuen, der Gesellschaft und schließlich des Staates wären hier die zentralen Fragen. Dass er aber gerade das Wissen um die Gattung bzw. den Bewusstwerdungsprozess nicht hervorhebt, liegt in seinem marxistischen Verständnis begründet (vgl. Fußnote 71). 70 Natürlich ist ihm klar, dass es durchaus eine wesentliche Differenz gibt, wenn Hegel beispielsweise die Steuererhebung als Instrument zur Umverteilung begreift: „Aufhebung meint natürlich nicht einfach Abschaffung“ (Losurdo 2000, S. 249). Nach wenigen Seiten scheint er diese Unterscheidung jedoch wieder – auch durch die direkt gezogene Parallele zu Friedrich Engels – zu relativieren (vgl. ebd., S. 254).
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letztlich auf politische Interessen ihrer Vertreter zurückzuführen ist und insofern keinerlei Berechtigung in Hegels Denken selbst hat (vgl. Losurdo 2000, S. 48 sowie ders. 1993, S. 52, S. 191); deswegen müsse man sich über deren „ideologische Voraussetzungen [...] Klarheit verschaffen“ (Losurdo 2000, S. 129). Dass Hegel die Vernachlässigung der Individualität vorgeworfen wird bzw. diese Denker umgekehrt zur Feier des Subjekts ansetzen, liegt nach Losurdo allein darin begründet, dass man letzterem die alleinige Verantwortung für sein Leben übertragen möchte bzw. der Staat aus dieser genommen wird. Dabei muss mit Losurdo bedacht werden, dass Liberale, wenn sie vom Individuum sprechen, allein an den „Eigentümer“ denken, „der gegen die Einmischung der Staatsgewalt in seine unverletzbare Privatsphäre protestiert, während in Hegels Vorlesung das Individuum der Plebejer oder der potentielle Plebejer ist, der das Eingreifen der Staatsgewalt in die ökonomische Sphäre fordert, damit sie ihm seinen Lebensunterhalt gewährleiste“ (Losurdo 2000, S. 112). Hegels Kritiker würden mit ihrer Forderung des Rückzugs des Staates das Phänomen Armut letztlich in – unterschiedlich begründetes – Selbstverschulden auflösen. Das Resultat all dieser unterschiedlichen Argumentationen, die beispielsweise die Faulheit (Locke) oder die „sexuelle Unvorsichtigkeit“ (Malthus) verantwortlich machen (vgl. Losurdo 1988, S. 186; vgl. auch Losurdo 2000, S. 177), ist immer identisch: „[E]ine soziale Frage existiert nicht“ (ebd.). Weil der Staat aber eigentlich die Aufgabe der Armutsbekämpfung hat, beginnt Losurdos Hegel sogar „die idealistische Anschauung vom Staat [in seiner damaligen Gestalt, I. S.] in Frage zu stellen“ (Losurdo 1988, S. 189; vgl. auch Losurdo 2000, S. 109).71 Hier offenbart sich eine Tendenz in Losurdos Denken, die für seine Bestimmung des Status‘ des Individuums insgesamt Auswirkungen hat: Im Bemühen, Hegel gegen entsprechende Kritik zu verteidigen, wird er – wenn auch beispielsweise mit völlig konträrer Stoßrichtung als Joachim Richter – zum Apologeten Hegels, der
71 Domenico Losurdos Gedankengang liegt eine der zentralen Thesen des marxistischen Denkens zugrunde, nämlich die Vorstellung, dass historische Begebenheiten und konkrete politische Interessen Auswirkungen auf das Bewusstsein haben bzw. dieses – in einer dogmatischen Fassung – sogar, gleich einem Stempel in Wachs, ohne Denkleistung des Subjekts automatisch formen. Nun sei es an dieser Stelle dahingestellt, ob man nicht tatsächlich einigen Theoretikern – auch und vielleicht gerade denjenigen, die sich mit Hegel beschäftigten – ein solches dahinterliegendes, wissenschaftsfremdes Interesse zusprechen kann. Allein dispensiert dieser Nachweis nicht davon, zu prüfen, inwiefern die von diesen Personen geäußerte Kritik an Hegel nicht doch aufgrund seiner Gedanken gerechtfertigt ist. Eine Polemik gegen Hegel mag noch so offensichtlich der Verteidigung von „feudalen Privilegien“ (1993, S. 52) entspringen – ob sie tatsächlich ganz aus der Luft gegriffen ist oder nicht einen Ansatzpunkt in seinem Denken hat, der einseitig verabsolutiert wird, muss dennoch am Inhalt ergründet werden.
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gänzlich über teils auch berechtigte Skepsis der Machtideologie-Theoretiker hinweggeht. Seine Erörterungen zur Moral sind hierfür ein zentrales Beispiel: Mit seinen Hegel zustimmenden Ausführungen dazu, dass private Mildtätigkeit nicht zur Abschaffung der Armut führt, gibt er dem Philosophen in seiner Skepsis gegenüber der Moral recht und wischt damit zugleich alle Bedenken hinweg, die ihre Unterordnung unter die Sittlichkeit beklagen. Moralisches Verhalten ist, so gibt er Hegel wider, „von einem performativen Widerspruch erfasst“, insofern sie „die Existenz und Permanenz jenes Bösen (des Egoismus, der Armut usw.)“ (Losurdo 2009, S. 341) und damit die Phänomene voraussetzt, die es zu bekämpfen vorgibt. Dieser Widerspruch fällt für Losurdo mit „Narzissmus“ zusammen, einem Menschentyp, der primär „am Genießen seiner Innerlichkeit interessiert ist“ (ebd.). Abgesehen davon, ob die Argumentation hier schlüssig ist, kommt an dieser Stelle die uneingeschränkte Parteinahme für den „Theoretiker des Primats der Politik und der Sittlichkeit“ (Losurdo 2000, S. 319) deutlich zum Ausdruck. Losurdo billigt die Konsequenz der Hegelschen Kritik an der moralischen Weltanschauung, „die Notwendigkeit einer konkreten sittlichen Ordnung zu behaupten, die in der Lage wäre, die moralischen Bedürfnisse des Subjekts in sich aufzunehmen“ (vgl. 2009, S. 342) und wittert letztlich bei Skepsis gegen diese Einordnung der Moral politische Interessen. Dass sich durch diese „Einschränkung der Rolle der Moralität“ (Losurdo 2000, S. 294; vgl. auch ders. 1993, S. 263) aber zumindest das Problem ergibt, wie sich das Verhältnis von Moral und Sittlichkeit darstellt und welches Recht die Innerlichkeit (vgl. bspw. Losurdo 1993, S. 122) als Sphäre der Unverfügbarkeit gegenüber dem Staat hat, sollte nicht abgetan werden – unabhängig davon, ob man diese Gefahr im Hegelschen Denken letztlich bestätigt sieht oder nicht. Ähnlich stellt sich Losurdos Argumentation hinsichtlich der Hegelschen Geschichtsphilosophie dar: Während seine Kritiker im teleologischen Denken die Gefahr eines Determinismus bzw. einer Marginalisierung des Individuums sehen oder, so eine andere Variante, die Opferung der Ethik „auf dem Altar der Geschichtsphilosophie“ (Losurdo 1998, S. 3), dreht auch hier Losurdo die Kritik in gewisser Weise um. Mit Verweis auf verrufene Intellektuelle wie Carl Schmitt, die die Geschichtsphilosophie kritisiert haben und zugleich Anhänger Hitlers waren, möchte er diese Deutung – zumindest an dieser Stelle ohne Argument72 – jegliche Plausibi-
72 Diese Methode, die nicht nur von Losurdo angewendet wird, sondern beispielsweise in ähnlicher Weise auch von Popper, ist meines Erachtens als unwissenschaftlich zu bezeichnen: Mit dem Verweis auf Intellektuelle, die aus biographischen Gründen als kompromittiert gelten, erspart man sich die Auseinandersetzung mit den Gedanken eines Menschen – als wäre durch eine persönliche Verfehlung oder wie im Falle Carl Schmitts mit dem Hinweis darauf, dass ein als Anhänger des Nationalsozialismus verrufener Denker ein Phänomen auch bereits befürwortet oder abgelehnt hat, irgendetwas über den In-
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lität nehmen. Wo Losurdo inhaltlich begründet, weswegen Geschichtsphilosophie nicht mit einer Auflösung von Ethik verbunden ist, kommt er abermals auf den Kerngedanken seiner Hegel-Deutung zurück: Die Idee einer Weltgeschichte bedeutet, dass man in der Historie den Prozess der Entfaltung eines Prinzips sieht und dieses besteht bei Losurdos Hegel (und Losurdos Marx) in der „Behauptung und [der] Konstruktion der Einheit der Gattung“ (Losurdo 1998, S. 11). Die Geschichtsphilosophie wird mit dem Beginn im Hegelschen Denken fortan „im Singular dekliniert, und zwar in dem Sinne, daß ihr Ziel und ihr wirkliches Subjekt die Menschheit ist“ (ebd.). Weil Losurdo zufolge also der allgemeine Begriff des Menschen zuerst in der Hegelschen Philosophie ausgearbeitet wurde, so stellt auch der Glaube an einen konstituierenden Zusammenhang der Geschichte keine Negation des Individuellen dar; vielmehr ist es gerade das als Teil der Gattung begriffene Subjekt im Singular, das sich als solches und damit ist es der Begriff des Menschen im Allgemeinen, der sich als historisches Prinzip durchsetzt. Allgemeiner formuliert könnte man gegen Hegels Kritiker einwenden, dass der Gedanke einer Zielbestimmung die individuelle Freiheit nicht negiert, sondern sich letztlich alles daran entscheidet, welches Prinzip als sich in einem historischen Prozess durchsetzend behauptet wird. Im Falle Hegels, bei dem sich der allgemeine Begriff des Menschen durchsetzt, negiert die Geschichtsphilosophie nicht die Moral, sondern ist Losurdo zufolge sogar umgekehrt dessen Voraussetzung, „zumindest, wenn man unter Moral ein System von Normen versteht, die sich an den Menschen schlechthin wenden und an ihn appellieren können“ (ebd., S. 12).73
halt seines Denkens gesagt – geschweige denn nachvollzogen und kritisiert. Die Methode lässt sich auch unter positivem Vorzeichen anwenden: In diesem Fall werden Hegels Gedanken in direkter Parallele zu denen solcher Theoretiker gesetzt, die der Autor schätzt, wie das beispielsweise bei Losurdo bzgl. Friedrich Engels (vgl. bspw. 1993, S. 87 oder die bereits erwähnte Textpassage in Losurdo 2000, S. 254) oder Saint-Simon (vgl. ders. 1993, S. 89) der Fall ist. 73 Hier ordnet sich auch die Frage nach der Stellung der „historisch außergewöhnlichen“ Individuen ein, die uns bei Hegels Kritikern unter dem Schlagwort der großen Männer begegnen. Zu dieser Thematik konstatiert er: „[E]s gibt keinen Platz mehr für Helden“ (Losurdo 2000, S. 293). Losurdo legt am Beispiel Alexanders dar, dass Hegel nicht einfach ein Fürsprecher dieser Figuren war: Er hat keinen Heldenkult betrieben, der seine adäquate Form im Führerkult unter Hitler oder Stalin gefunden hat (vgl. Losurdo 1998, S. 3). Vielmehr wird Alexander deswegen von Hegel geschätzt, weil er die Bildung des Westens in den Orient und umgekehrt diesen für Europa geöffnet habe (vgl. ebd., S. 5 f.). Unabhängig davon, ob man diese Sicht teilen möchte, verdeutlicht Losurdo plausibel, dass Hegel nicht abstrakt ein „Heldentum“ pflegt, sondern seine Hochachtung vor bestimmten Personen immer mit einem Maßstab verbunden ist. Nur, wenn diese im Geiste
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Auch Hegels Staatstheorie deutet Losurdo in diesem Geist: Das „Zentrum seiner politischen Philosophie“ bildet Losurdo zufolge der „Primat der Institutionen und der Politik gegenüber der angeblichen Vortrefflichkeit der Persönlichkeit des Monarchen“ (vgl. Losurdo 2000, S. 59; vgl. auch ebd., S. 172). Dass Hegel eine konstitutionelle Monarchie präferiert, in der der Monarch an der Gesetzgebung beteiligt ist, erklärt sich der italienische Philosoph aus den historischen Umständen, unter denen Hegel lebt (vgl. ebd., S. 61). Staatsämter werden zwar mit „besonderen Individuen“ besetzt, aber letztlich sind diese ihrer Funktion untergeordnet (vgl. ebd.). Durch die Institutionalisierung des Staatszwecks wird die Bedeutung der einzelnen Personen geringer, weil diese im Amt eben exekutieren, was ihnen ihre Rolle jeweils aufträgt. Dass die Organe des Staates Losurdos Hegel zufolge den Springpunkt der politischen Philosophie darstellen, wurde implizit bereits bei der Thematisierung der Moral und Sittlichkeit deutlich: In den Institutionen soll die Sittlichkeit verankert sein, sodass sie sich einerseits von den Individuen unabhängig macht, andererseits aber gerade durch deren Einsicht getragen und durch deren moralisches Verhalten ergänzt wird. Im Idealfall verwirklichen sie, was das Naturrecht vorgibt, nämlich die Freiheit der Person (vgl. Losurdo 2000, S. 79), sodass die Subjektivität also keineswegs negiert wird: „[D]er Prozess der Formierung des modernen Staates unterstellt zwar das Individuum einer objektiven Rechtsordnung, verteidigt und behauptet aber gleichzeitig seinen realen Wert“ (Losurdo 2000, S. 107). Auch hier wendet er eine Argumentation der ersten Deutungslinie in ihr Gegenteil: Ist Hegel für diese ein Rechtspositivist, der keinen höheren Maßstab für die Legitimität eines Staates kennt, existieren Losurdos Hegel zufolge unveräußerliche Naturrechte, die „keine positive Rechtsordnung [...] annullieren könnte“ (Losurdo 2000, S. 79). Insgesamt, so lässt sich hinsichtlich Losurdos Hegel-Deutung resümieren, führt er wie beispielsweise Karl Popper einen Kampf um das Hegelsche Erbe (vgl. bspw. Losurdo 2000, S. 268), jedoch unter entgegengesetzten Vorzeichen: Trotz aller Einschränkungen, die er selbstverständlich nennt, möchte der italienische Philosoph die progressiven Elemente Hegels hervorheben und interpretiert ihn in direkter Kontinuität zu Karl Marx. Bei aller Parteilichkeit, so muss jedoch einschränkend hinzugefügt werden, geht seine Auseinandersetzung mit den Kritikern Hegels keineswegs – wie dies bei Popper über weite Teile der Fall ist – in reiner Polemik auf. Vielmehr kann seine Deutung in mehrerlei Hinsicht fruchtbar für diese Arbeit gemacht werden: Zwar hat er den Allgemeinheitsbegriff in seinen unterschiedlichen Facetten weder erwähnt, geschweige denn diese herausgearbeitet – zu identisch scheint er ihm mit dem Begriff des sittlichen Staates bzw. der Gemeinschaft der Citoyens zu
von Prinzipien denken und/oder handeln – nicht vergessen werden darf bei all der Fokussierung auf Staatsmänner, dass hier durchaus auch Philosophen eingeschlossen sind –, die auch im Hegelschen Sinne sind, bringt er diesen gegenüber Hochachtung zum Ausdruck.
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sein. Aber die Zentralität dieser Kategorie (vgl. bspw. Losurdo 2000, S. 376) hat er durch seine Hervorhebung der Hegelschen Ausarbeitung des Begriffs des Menschen in seiner Allgemeinheit durchaus erkannt. Dieser von ihm sogenannte anthropologische Realismus wird auch in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen – mit der Differenz, dass herausgearbeitet werden soll, was dieser Begriff des Menschen in den jeweiligen Lebenswelten, in denen er sich bewegt, bedeutet. Losurdo konzentriert sich in seiner Auslegung vor allem auf die Sphäre des Rechts und der bürgerlichen Gesellschaft, in der das Problem der Armut bzw. die Bedeutung des Eigentums verortet ist. Wie auszuführen sein wird, greift seine Beschäftigung mit Armut unter der Perspektive des Hungernden zu kurz, weil diese Figur allein für die absolute Armut steht, in der die Existenz einer Person bedroht ist. Die Form der relativen Not ist damit aus dem Blickfeld des Wissenschaftlers, was meines Erachtens sowohl bei Hegel als auch bei Losurdo darin begründet liegt, dass sie primär einen staatlichen Blickwinkel einnehmen. Es ist jedoch sein Verdienst – von dem diese Arbeit an entsprechender Stelle profitieren kann –, die materielle Seite der Selbstverwirklichung hervorgehoben zu haben. Frank Ruda: Armut aus der Perspektive des Pöbels als Sprengsatz des Systems Frank Ruda beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit „Hegels Pöbel“, wobei es sich auch hier um eine spezifische Perspektive auf das Phänomen der Armut handelt, bei dem die Dissertation ihren Ausgangspunkt nimmt. 74 Ruda analysiert zunächst materielle Deprivation und unterstreicht dabei, dass es für Hegel zufällig ist, wen Armut trifft, sie jedoch mit Notwendigkeit durch die bürgerliche Gesellschaft verursacht wird (vgl. Ruda 2011, S. 33 sowie S. 35). Wie zu zeigen sein wird, scheint diese Verortung des Armutsgrundes, die Ruda mit den meisten HegelInterpreten teilt, nicht zuzutreffen. Der Zustand der Armut ist unter anderem dadurch charakterisiert, dass die davon Betroffenen keinem Stand angehören, was verheerende Konsequenzen hat: „Er [der Arme, I. S.] ist bloß sozioökonomisch präsent, d.h. er erscheint zwar im ,Raum des Sozialen‘ und in demjenigen der Ökonomie. Aber als vereinzelter Mensch ohne Stand steht er nicht in der vernünftig-politischen Ordnung des Staates“ (ebd., S. 35), womit die Armut zu einem „Un-Stand“ (ebd.) wird. Tatsächlich haben die Stände in Hegels Staat auch eine politische Funktion inne; allerding ist es meines Erachtens
74 Auch hier sollen mögliche Identitäten und Differenzen zwischen Rudas und meiner Deutung nicht vorweggenommen, sondern lediglich der Blickwinkel sowie die zentralen Thesen seiner Untersuchung dargelegt werden, um dem Leser einen Vergleich mit meiner Analyse zu ermöglichen.
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zu radikal, den Armen erstens per se als keinem Stand zugehörig und damit als gänzlich ohne politische Erscheinung im Staate zu bestimmen. Wie zu zeigen sein wird, liegt eine wesentliche Aufgabe der Korporationen darin, sich um die Subsistenz ihrer Mitglieder zu sorgen – selbst wenn der von materieller Deprivation Betroffene also beispielsweise ein verarmter Handwerker ist, muss dies nicht gleichbedeutend mit einer Vereinzelung sein.75 Zum anderen sieht Hegels Staat Betätigungsformen des politischen Allgemeinen durch die Bürger vor, die über eine bloße Repräsentation im Parlament, die durch die Korporationen bestimmt wird, hinausgehen – inwieweit diese dann eine adäquate Vertretung der von Armut Betroffenen leisten, muss hier dahingestellt bleiben, kann jedenfalls nicht vorab ohne Betrachtung der einzelnen Beteiligungsformen entschieden werden. Ruda diskutiert anschließend sieben Maßnahmen gegen Armut, die seines Erachtens alle scheitern, was auch Hegel selbst bewusst gewesen sei (vgl. ebd., S. 37 ff.). Aus diesem Umstand der Unlösbarkeit der Armutsfrage ergibt sich ihm zufolge das eigentliche und zwar „weitaus fundamentalere[] Problem [...]: Die Unbehebbarkeit der Armutsfrage führt zur permanenten und unabweisbaren Möglichkeit der Entstehung des Pöbels. Oder anders: Aus dem „Un-Stand“ der Armut führt ein Weg zur Emergenz des Pöbels“ (ebd., S. 62, vgl. auch S. 23). Damit ist die besondere Perspektive gekennzeichnet, unter der das Phänomen der Armut fortan behandelt wird, weil es vor allem als Möglichkeit der „Emergenz“ des Pöbels relevant erscheint. Als „Pöbel“ bezeichnet Hegel diejenigen der Armen, die nicht nur materiell in Not sind, sondern dabei eine Gesinnung entwickeln, die sich beispielsweise durch Arbeitsscheu und vor allem durch eine Skepsis bis Ablehnung gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Institutionen auszeichnet (vgl. ebd., S. 65). Auch in meiner Analyse wird der Pöbel einen Platz einnehmen, da die Möglichkeit seines Entstehens unter der von Armut Betroffenen tatsächlich einen von zwei zentralen Sorgegegenstände Hegels im Hinblick auf materielles Elend darzustellen scheint. Wie im Laufe der Arbeit ausgeführt wird, stellt es meines Erachtens jedoch einen Fehler dar, als Wissenschaftler diese Problemfokussierung kritiklos nachzuvollziehen; darin liegt schließlich der Hauptpunkt meiner Kritik an Rudas Analyse und damit auch die zentrale Differenz zu meiner Untersuchung. Wie von Slavoj Žižek in seinem Vorwort jedenfalls zusammenfassend zum Ausdruck gebracht, droht der Pöbel die bürgerliche Gesellschaft und das staatliche Gemeinwesen zumindest der Potenz nach zu untergraben: Der Pöbel beschreibt „einen notwendig produzierten ,irrationalen‘ Exzess des modernen rationalen Staates
75 Einschränkend muss jedoch eingeräumt werden, dass er den Korporationen auch das Recht zuspricht, keine Mitglieder mehr aufzunehmen; das ist jedoch nur im Falle von „Überbevölkerung“ relevant und ändert nichts an deren grundsätzlichen Aufgabe (vgl. Kapitel 3).
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[...], eine Gruppe von Menschen, für die es innerhalb der organisierten Totalität des modernen Staates keinen Platz gibt, obwohl sie formal zu ihm gehören“ (Žižek in Ruda 2011, S. 13). Damit wird jedoch von der Armut an sich und sogar bei der Besprechung des Pöbels von der Frage nach der Berechtigung von dessen Gesinnung abstrahiert76 und beides unter die Staatsperspektive subsumiert.77 Wie zu zeigen sein wird, ist meiner Deutung zufolge hier Hegels Staatsapologie zu verorten, die die Hegelschen Kritiker irrtümlicherweise in die Konstitution seines Staates an sich verlagern. Frank Ruda jedenfalls scheint Hegels Problemdefinition zu teilen und schildert im Folgenden zutreffend, dass am Pöbel ein Verstoß der bürgerlichen Gesellschaft gegen ihr eigenes Prinzip, nämlich ihren Mitgliedern die Subsistenz durch eigene Arbeit zu ermöglichen, sichtbar wird (ebd., S. 66) – ein Selbstwiderspruch der von Hegel so hochgeschätzten Institutionen, der freilich auch den Philosophen und damit auch die hier vorgelegte Analyse beschäftigt. Hinzu kommt, dass Rudas Hegel nicht nur einen armen, sondern auch einen reichen Pöbel kennt (vgl. S. 67 ff.) und das Gemeinwesen damit letztlich umfassend mit „Verpöbelungseffekte[n]“ (ebd., S. 69) konfrontiert wird: Da es notwendigerweise Armut gibt und dabei zufällig ist, welches Individuum es im Einzelnen trifft, ist „jeder Beliebige im Staat latent arm und damit latent Pöbel“ (ebd., S. 80), während der reiche Pöbel ein Pöbel der „Partikularität [...] darüber [ist, I. S.], dass er durch seinen Reichtum die bürgerliche Gesellschaft zu einem System nicht allseitiger, sondern einseitiger Abhängigkeit transformiert“ (ebd., S. 81) – aus dem Blickwinkel des Staates wird jedenfalls beides gleichermaßen zum Problem, während sich die soziale Lage für die beiden Formen des Pöbels gänzlich unterschiedlich darstellt. Dem armen Pöbel wird das Recht verweigert, durch eigene Arbeit die Subsistenz zu bestreiten und daraus zieht dieser den Schluss, dass er ein Recht auf Sicherung der eigenen Existenz ohne Arbeit habe; insofern setzt der arme Pöbel gegen das bestehende Rechtsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft ein „bloß besonderes, partikularisiertes Recht“ (ebd., S. 99), das insofern ein „Recht ohne Recht“ (ebd., S. 99, Hervorh. i. O.) darstellt, als es durch die Beschränkung auf eine bestimmte Gruppe per definitionem der Struktur eines Rechts widerspricht. Laut Ruda bleibt der arme Pöbel bei seiner Argumentation innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, da seine Forderung lediglich eine Reaktion auf das ihm erfahrene Unrecht ist. Der reiche Pöbel hingegen fordert die Sicherung seines Reichtums, beruft sich
76 Genauer ist zu formulieren, dass offenbar a priori postuliert wird, dass seine Ansicht nicht zutreffen kann; er befindet sich nämlich in der „Position der Meinung“ (ebd., S. 155). 77 In einem zweiten Schritt scheint sogar nicht mehr der arme Pöbel an sich das Problem darzustellen, sondern das Fehlen eines äußerlichen Merkmals, anhand dessen man einen Armen vom armen Pöbel unterscheiden kann (vgl. ebd., S. 93) – eine weitere Verschiebung, die die eigentliche Problemdiagnose bestätigt.
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insofern also auf das existierende Recht auf Eigentum und fordert eine Subsistenz ohne eigene Arbeit, was in seinem Fall jedoch ein „wirkliches Recht ohne Recht“ (ebd., S. 100, Hervorh. i. O.) darstellt; er kann es sich aufgrund seines Vermögens faktisch nehmen. Dies markiert für Ruda den Punkt von „Hegels Unmöglichkeit“ (ebd., S. 241): Das vom armen Pöbel ausgesprochene Recht ohne Recht stellt ein „Kategorisierungsproblem“ (ebd., S. 102) dar, das „einzigartig für die gesamte Hegel’sche Philosophie“ (ebd.) sei. Einerseits muss Hegel anerkennen, dass das System beständig Unrecht erzeugt, indem es eine Schicht von Armen hervorbringt; andererseits kann er dies nicht, was Ruda nicht in der prinzipiellen Parteilichkeit, sondern als Kategorisierungsproblem verortet. An entscheidender Stelle jedenfalls kommt auch Ruda auf das Phänomen der Armut im Allgemeinen zurück, das am Pöbel in der spezifischen Form des postulierten Rechts ohne Recht erscheint. Mir ist es nicht möglich, nachzuvollziehen, inwiefern entscheidend sein soll, dass an der Arbeitsscheu des Pöbels dieser Widerspruch des Systems manifest wird, der der Sache nach alle Armen betrifft. Letztere entwickeln nicht die subjektive Gesinnung, eigentlich das Recht auf Subsistenz ohne eigene Arbeit zu haben, sondern bemühen sich weiterhin um eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt; dass ihnen Unrecht angetan wird und insofern die bürgerliche Gesellschaft gegen ihre eigenen Prinzipien verstößt, ist auch hier der Fall. Dass der Pöbel dies als Recht ohne Recht geltend macht, was „Hegels begriffliche und philosophische Mittel der Kategorisierung“ (ebd.) übersteigt, scheint mir lediglich ein vom Grundwiderspruch abgeleitetes Problem zu sein. Hegel selbst weiß jedenfalls um den immanenten Verstoß und versucht deswegen, eine Lösung für das Problem der Armut zu finden. Dass er sich, wie zu zeigen sein wird, mit dem Sozialstaat als zwar nicht Abschaffung, jedoch Linderung der Not, zufrieden gibt, liegt in der Problemdefinition begründet, die eine unbedingte Bekämpfung der absoluten Armut fordert. Hegels armer Pöbel hat kein Recht ohne Recht, wenn die allgemeine Daseinsvorsorge dessen Existenzminimum sichert; diese Garantie sorgt für die Rechtsfähigkeit des Menschen, wodurch aus Staatsperspektive das Problem zumindest entschärft ist.
2
Der „Trieb der Perfektibilität“, oder: die Grundlegung des sittlichen und politischen Bildungsauftrags des allgemeinen Ich
„Erkenne dich selbst“ (Enz. III, § 377) stellt für Hegel ein „absolutes Gebot“ dar, ist also ein Postulat, das jeder Mensch qua seines Mensch-Seins zu erfüllen hat. Dieser anthropologische Auftrag scheint uns heutzutage sehr vertraut zu sein – nicht nur angesichts der zahlreichen Ratgeberliteratur über die „Wege zum Selbst“ und ähnlicher Abhandlungen. Der Gedanke, dass dem Menschen eine ihm eigene Identität zukommt, die er erkennen und nach der er leben sollte, um sein eigenes Glück erlangen zu können, ist allgemein, auch über philosophische Kreise hinausgehend, durchgesetzt. Umso bedeutsamer ist es für diese Arbeit, die sich dem Konnex von Selbstverwirklichung und Armut widmet, dass das Hegelsche Verständnis dieses Begriffes klar herausgearbeitet und damit von einer „modernen“ Auffassung abgegrenzt wird: Ich möchte eingangs zeigen, dass ein erstes intuitives Verständnis, das vermutlich die meisten von uns von „Selbstverwirklichung“ haben, nicht oder nur in einer Hinsicht mit dem Hegelschen korrespondiert. Dies ist insofern zentral, weil sich hieraus – so meine darzulegende These – der Aufbau dieser Arbeit mit einer gewissen Notwendigkeit ergibt. Deswegen sei also Hegels Begriffs-Zitat in Gänze wiedergegeben: „Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes. Ebensowenig hat die Philosophie des Geistes die Bedeutung der sogenannten Menschenkenntnis, welche von anderen Menschen gleichfalls die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, – eine Kenntnis, die teils nur unter Voraussetzung der Erkenntnis des Allgemeinen, des Men-
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schen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, teils sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substantiellen, dem Geiste selbst, nicht dringt.“ (Enz. III, § 377)
Selbsterkenntnis im philosophisch substantiellen Sinne bezeichnet nach Hegel nicht das Erforschen der individuellen Eigenheiten, das „selbstgefällige[...] Sichherumwenden des Individuums in seinen ihm teuren Absonderlichkeiten“ (ebd., Zus.), sondern sie bezieht sich auf die „Erkenntnis der allgemeinen intellektuellen und moralischen Natur des Menschen“ (ebd.). Sich selbst zu erkennen, stellt also als individueller Prozess keine Introspektion dar, bei der das Individuum ganz bei sich ist; vielmehr bedeutet dieses absolute Gebot, dass der Einzelne an sich die Allgemeinheit des Menschen erkenne. Gefordert ist eine Auseinandersetzung mit den Gattungseigenschaften, wobei auch hier – so Hegels zweite Abgrenzung – keine Besonderheiten in Betracht kommen, die zwar kennzeichnend für den Menschen, aber letztlich akzidentiell sind. Natürlich unterstellt eine Scheidung in Substanz und Akzidenz, dass der Begriff des Menschen erkannt wird und anhand dessen beurteilen werden kann, worin zu vernachlässigende und worin wesentliche Charakteristika liegen. Bereits in Bezug auf den Einzelnen hat Hegels Postulat der Selbsterkenntnis also wenig mit dem heutzutage durchgesetzten Verständnis dessen gemein; die Erkundung der rein individuellen Bestimmungen, die ihm qua Natur oder ausgebildeten Charakter zukommen, ist dem Philosophen zufolge aus einer substantiellen Befassung mit dem eigenen Ich auszuklammern. Der Einzelne erkennt sich scheinbar paradoxerweise gerade dadurch, dass er von den Besonderheiten abstrahiert und allein das Allgemeine an ihm zum Gegenstand der Betrachtung macht. Das Ziel, die Erkenntnis der eigenen Identität, ist also dasselbe, jedoch wird die Substanz dieser nicht im individuellen Charakter oder anderen Besonderheiten, sondern vielmehr im Allgemeinen des Menschen gesehen. Auch der Modus unterscheidet sich von den meisten Vorstellungen, insofern „Erkenntnis“ hier im wortwörtlichen Sinn verstanden werden muss: Aus dem inhaltlichen Unterschied ergibt sich, dass Verfahren wie Meditation nicht adäquat sind; gefordert ist vielmehr eine geistige Auseinandersetzung mit den Bestimmungen der Gattung, die im Falle eines gelungenen Prozesses die „Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen“, sprich also Wissen zum Resultat hat. Insofern impliziert dieser Auftrag auch, dass er einerseits zwar einen individuellen darstellt, da diese Erkenntnis nur jeder Einzelne im Sinne einer Ontogenese leisten kann. Zugleich ist der Reflexionsprozess jedoch immer auch ein allgemeiner, weil das Subjekt sich zu einem Verständnis des Wesens der Menschen emporarbeiten soll; im Ergebnis handelt es sich also um ein allgemeines, geteiltes Wissen. Eine weitere Bestimmung ist hierbei hervorzuheben: Zwar formuliert Hegel Selbsterkenntnis als ein „Gebot“, also als einen Auftrag, dem der Mensch als solcher nachzukommen hat. Dies hat jedoch „nicht den Sinn eines von einer fremden
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Macht äußerlich an den menschlichen Geist gerichteten Gebots; der zur Selbsterkenntnis treibende Gott ist vielmehr nichts anderes als das eigene absolute Gesetz des Geistes“ (Enz. III, § 377, Zus.). Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis ist keine externe, die an den Menschen herangetragen wird; vielmehr ist sie ihm an sich eigen, da er Teil des Geistes ist, der seiner Bestimmung nach ein Wissen seiner selbst verlangt. In diesem Kontext ist Hegels Erläuterung zu sehen, dass der Mensch in diesem Prozess nicht nur das Wesen des Menschen, sondern auch das „Wahrhafte an und für sich“ erkennt: Selbsterkenntnis ist nicht nur deswegen keine reine Introspektion, weil das Partikulare akzidentiell ist, sondern auch aufgrund des von Hegel geforderten Wissens der Wahrheit im Allgemeinen. Wie ist dies zu verstehen, dass sich Selbsterkenntnis nicht allein auf den Begriff des Menschen richten soll, sondern dabei eine darüberhinausgehende Befassung mit der Welt gefordert ist? Hegel zufolge soll sich der Geist in allem, was ist, selbst erkennen (vgl. ebd.). Der Mensch als subjektiver Geist, der Teilhaber der Vernunft ist,1 begreift bei gelungener Selbsterkenntnis also ebendies: dass ihm als Eigenschaft innewohnt, was zugleich auch Subjekt der Welt ist. Insofern erkennt der Mensch, wenn er sich erkennt, zugleich auch, dass seine Vernunftbegabung eine überindividuelle Eigenschaft ist, die den Gattungsmitgliedern sowie den gesellschaftlich-politischen Einrichtungen zukommt.2 So wird der Mensch heimisch in der Welt, da er in ihr seine eigene Bestimmung wiederfindet.3 Dies kennzeichnet Hegel mit dem Begriff des „allgemeine[n] Ich“ (Enz. III, § 433) bzw. dem „allgemeinen Individuum“ (PdG, S. 31): Jeder Einzelne ist dem Begriff seines Mensch-Seins nach ein vernünftiges Wesen und darin kommt ihm in potentia als Träger diese Eigenschaft diese allgemeine Bestimmung der Vernunft zu, die selbst wiederum als Subjekt zu verstehen ist. Sich selbst zu erkennen, bedeutet also, sich als Teilhaber an der Vernunft und als solcher als genuin auf die Allgemeinheit bezogenes Wesen zu erkennen.4 Um diese Auffassung nachzuvollziehen, ist es nützlich, sich die Hegelsche Einteilung von subjektivem, objektivem und absolutem Geist zu vergegenwärtigen: Der Mensch als subjektiver Geist befindet sich in einer selbstreflexiven Beziehung,
1
„Denn der Mensch als Mensch ist auch zur Religion z. B., zum Denken, zur Wissenschaft geboren, d. h. er hat als Mensch die Fähigkeit, ein Bewußtsein von Gott zu erhalten und zur denkenden Erkenntnis zu kommen. Es braucht dazu nichts als der Geburt überhaupt und der Erziehung, Bildung, des Fleißes.“ (VÄ I, S. 367)
2
Dass dies keinesfalls so zu verstehen ist, dass Hegel alles Existierende als per se vernünftig rechtfertigt, wird im Laufe der Arbeit deutlich werden.
3
„Ich ist in der Welt zu Hause, wenn es sie kennt, noch mehr, wenn es sie begriffen hat.“ (GPR, § 4, Zus.)
4
Was dies im Einzelnen bedeutet, welche Formen der Allgemeinheit darin eingeschlossen sind, wird in der Arbeit entwickelt.
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in der ihm „das, was sein Begriff ist, für ihn wird und ihm sein Sein dies ist, bei sich, d. i. frei zu sein“ (Enz. III, § 385). Was es bedeutet, einen Willen zu haben bzw. frei zu sein, soll im nächsten Abschnitt näher beleuchtet werden. Das Wesen des Geistes zu erkennen, bleibt hierbei jedoch nicht stehen, da er auch als objektiver existiert, also in der vom Menschen geschaffenen Welt Wirklichkeit hat und sich diese immer wieder gibt; in dieser weiß sich der Mensch nicht nur als freier, sondern hat nun „zugleich eine äußerliche Realität dieser Freiheit“ (Enz. III, § 385, Zus.) – „So ist der Geist aus der Form der bloßen Subjektivität herausgetreten“ (ebd.). Diese Welt ist eine „vom Geist Gesetzte“ (ebd.), die Hegel zufolge einer Aufhebung im absoluten Geiste bedarf, in dem die Objektivität des Geistes durch die Erkenntnis dessen in Form der Philosophie in begriffene Einheit zurückgeführt wird (vgl. ebd.). Sich selbst zu erkennen als Gebot des Geistes schließt also diese drei Ebenen ein, sodass mit dem Vorhaben, den Begriff der Selbsterkenntnis zu analysieren, ein Nachvollzug dieser Sphären unabdingbar ist. Die Frage nach dem Wesen des Menschen bezieht sich aufgrund des Begriffs des Geistes zugleich auf die objektive, vom Menschen geschaffene Welt sowie auf die höchste Form der Geistestätigkeit, in der die anthropologische Bestimmung und damit auch die gesetzte Welt begriffen wird. Hieraus ergibt sich meines Erachtens, dass Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung als identische Begriffe zu verstehen sind: Dass Menschen an sich frei sind, schließt für Hegel ein, dass er der Freiheit auch Realität verleihen muss; die Vernunft kann sich in der Wirklichkeit also wiedererkennen, weil mit Willen begabte Personen Freiheit in ihr zur Geltung gebracht haben. Damit wird ein genuiner Zusammenhang zwischen der Möglichkeit der Selbsterkenntnis und der Selbstverwirklichung als vernünftige Wesen postuliert, aus dem sich zahlreiche, im Laufe der Arbeit aufzugreifende Konsequenzen ergeben.5 Es ist jedenfalls folgerichtig, dass Hegels Ansicht nach Denken und Wille als die beiden Elementarbestimmungen des Menschen nur zwei Seiten derselben Sache darstellen (vgl. GPR, § 4, Zus.); wie zu erläutern sein wird, will sich das Denken in der Welt durch die Umsetzung seines zunächst noch ideellen Willens Geltung verschaffen. Sich selbst als vernünftig zu erkennen, impliziert also, dass man die Vernunft auch in der Welt verwirklichen möchte; die Selbstaneignung bedeutet zugleich Weltaneignung. Aus diesem Grund wird sich die Analyse dem von Hegel sogenannten objektiven Geist zuwenden: Inwieweit handelt es sich bei den gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen um Manifestationen der Freiheit, die dem Subjekt zum Material seiner Selbstverwirklichung dienen? Dies ist auch deswegen ent-
5
Die unmittelbarste besteht darin, dass sich daraus das Problem eines Zirkels ergibt: Selbsterkenntnis setzt Hegels Konzeption nach die Selbstverwirklichung der Vernunft voraus, wobei ebenso umgekehrt gilt, dass diese bereits gelungen sein muss, um sich in der Welt wiederzufinden.
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scheidend, da die Bejahung dessen letztlich eine Bedingung darstellt, damit Selbsterkenntnis gelingen kann: Nur, wenn die Vernunft die Realität gestaltet hat und weiterhin gestaltet, kann sie sich in ihr wiederfinden. Gefordert ist also, die Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, sodass sich die Analyse zunächst der anthropologischen Bestimmung und in einem zweiten Schritt der vom Menschen eingerichteten Welt mit ihren gesellschaftlichen und politischen Institutionen zuwenden muss. Folgende Thesen sollen in diesem Kapitel entfaltet werden: Denken und Wille stellen die Elementarbestimmungen des Menschen dar, aus denen sich ergibt, dass a) sich das menschliche Subjekt im Kontakt mit dem Äußeren nicht verliert, sondern in der Praxis des „absolute[n] Idealismus“ (Enz. II, § 337, Zus.) sich als Träger der Vernunft als überindividueller Eigenschaft erkennt. b) sich das Subjekt aufgrund dieses ihm zukommenden Bildungsauftrags in einem permanenten Prozess der Selbst- und Weltaneignung befindet, in dem es sich selbst und die Umwelt im weitesten Sinn durch „theoretische[s] und praktische[s] Verhalten“ (GPR, § 4, Zus.) aneignet. c) der Mensch zu der Erkenntnis gelangen muss, ein zoon politikon zu sein, das sich Freiheit selbst und damit auch deren Verwirklichung in der Welt zum Willensinhalt setzt. Gelungene Selbsterkenntnis bedeutet gelungene Selbstverwirklichung als zur Freiheit bestimmtes Wesen, das die Differenz zwischen Subjektivität und Objektivität geistig und praktisch aufhebt.
2.1 DENKEN UND WILLE ALS AN-SICH-SEIENDE ELEMENTARBESTIMMUNG DES MENSCHEN Wie erläutert, so geht Hegel davon aus, „daß die Vernunft [...] im Subjekte existiert, als seine Tätigkeit ist“ (Enz. III, § 464) und dieses Moment der Gattungseigenschaft, Teil jedes Einzelnen zu sein, bezeichnet Hegel als Denken (vgl. ebd.). Diese Bestimmung des subjektiven Geistes, denken zu können, stellt dem Philosophen zufolge die differentia specifica des Menschen dar: Während er beispielsweise die Empfindung mit dem Tier teilt, kommt ihm allein – wie er an zahllosen Stellen hervorhebt (vgl. Enz. III, § 400, Anm., VÄ I, S. 27, GPR, § 4, Zus.) – die Fähigkeit zu, sich selbst und seine Umgebung geistig durchdringen zu können. Diese Elementarbestimmung stellt jedoch nur ein Moment des eigentümlichen Unterschieds dar: „Der Geist ist das Denken überhaupt, und der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Denken. Aber man muß sich nicht vorstellen, daß der Mensch einerseits
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denkend, andererseits wollend sei und daß er in der einen Tasche das Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wäre eine leere Vorstellung“ (GPR, § 4, Zus.). Vielmehr stellt das Denken das theoretische und der Wille das praktische Verhalten dar, wobei letzteres als eine Form des Denkens zu begreifen ist (vgl. ebd.). Im Folgenden soll zunächst der Begriff des Denkens, des Willens sowie deren Verhältnis abstrakt skizziert werden. Das Denken kennzeichnet die Fähigkeit, sich einen Gegenstand geistig anzueignen.6 Das Subjekt steht der Welt nicht mehr gegenüber, sondern es überwindet die Differenz zwischen sich und den Objekten, indem es letztere geistig durchdringt; 7 das meint Hegel mit der Formulierung, dass das Begreifen das „Durchbohren des Gegenstandes, der nicht mehr mir gegenübersteht und dem ich das Eigene genommen habe, das er für sich gegen mich hatte“ (GPR, § 4, Zus.) leistet. Dies ist natürlich nicht so zu verstehen, dass dem Objekt damit die Selbständigkeit genommen ist; in praktischer Hinsicht hat sich durch den Denkprozess nichts verändert. Dem Menschen steht die Welt jedoch nicht mehr als fremde gegenüber, sodass der Geist sagt, „dies ist Geist von meinem Geist“ (ebd.) – die individuelle Vernunft hat sich in der Welt wiedererkannt. Diese Konfrontation mit Gegebenheiten, denen der Mensch durch das Denken das Äußerliche nehmen kann, stellt Hegel zufolge die wesentliche Bestimmung des Lebens dar: „Das Lebendige begibt sich immer in die Gefahr, hat immer ein anderes an ihm, verträgt aber diesen Widerspruch, was das Unorganische nicht kann. Das Leben ist aber zugleich das Auflösen dieses Widerspruchs, und darin besteht das Spekulative, während nur für den Verstand der Widerspruch unaufgelöst ist. Das Leben kann also nur spekulativ gefaßt werden, denn im Leben existiert eben das Spekulative. Das fortdauernde Tun des Lebens ist somit der absolute Idealismus; es wird zu einem Anderen, das aber immer aufgehoben wird. Wäre das Leben Realist, so hätte es Respekt vorm Äußeren; aber es hemmt immer die Realität des Anderen und verwandelt sie in sich selbst.“ (Enz. II, § 337, Zus.)8
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Hegels Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Formen des Denkens, die im „freien Denken“ des Philosophen münden, werden in Kapitel 4.2 skizziert; hier ist allein die allgemeine Bestimmung dieses Vermögens von Interesse.
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Das Vermögen des Denkens wird hier vom Resultat her besprochen, wobei der Prozess selbst, also auch Hegels epistemische Stufenleiter, weitestgehend ausgeblendet wird. Dies liegt darin begründet, dass sich das Erkenntnisinteresse auf die Bestimmung des Denkens als differentia specifica richtet und nicht auf die Bestimmung dessen als wissenschaftlichen Prozess, der eine konkrete Form des Allgemeinen darstellt.
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Es soll abgesehen werden von Hegels Nebenbemerkung, dass die Unauflösbarkeit eines Widerspruches nur für den Verstand besteht, weil dies die Erläuterung des Unterschieds
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Was Hegel im ersten Satz abstrakt ausdrückt, kennzeichnet unterschiedlichste Phänomene: Das andere, dem sich das Leben gegenübersieht, bezeichnet Tatsachen, Prozesse und Vorkommnisse, wie beispielsweise die Entäußerung des Menschen in der Körperlichkeit, den Kontakt mit anderen Lebensformen, das Auftreten eines Triebes, das Ins-Verhältnis-Setzen zur Natur etc. Was dem Einzelnen gegenübertritt, führt nicht zu einem Selbst-Verlust des Subjekts, sondern es vermag, einen Umgang mit dem jeweiligen Phänomen zu finden und es durch spekulative, also denkende Tätigkeit in seine Individualität zu integrieren. Dies lässt sich am Beispiel des Trinkens verdeutlichen: Dieser Vorgang hat eine praktische Seite, insofern das Trinken aus der willentlichen Entscheidung des Denkenden folgt. Darüber hinaus kann sich der Mensch diesen Vorgang auch getrennt von der Handlung zum Gegenstand des Nachdenkens machen und sich ihn insofern geistig aneignen; wenn er Durst empfindet, weiß der Mensch den Ursprung dessen und hat sich insofern geistig davon distanziert, einem unerkannten Gefühl ausgeliefert zu sein. So hat das andere also insofern keine Realität gegen ihn, als er sowohl praktisch als auch theoretisch Herr dieses Prozesses ist. Der Philosoph kennzeichnet diese Leistung im Zitat mit der Bezeichnung des Spekulativen bzw. des absoluten Idealismus: Der Mensch als geistiges Wesen vermag es, sich das andere durch das Denken geistig anzueignen und es so als Teil seines Selbst zu integrieren. Natürlich ist dies nicht so zu verstehen, dass das Äußere dadurch keinen Bestand mehr hat; das andere kann durchaus ein solches bestehen bleiben, aber durch das Denken ist es nicht mehr das unerkannte Andere; der Mensch weiß vielmehr, was dieses ist und hat es sich insofern geistig zu seinem gemacht. Bei Fragen des Wissens über Gegenstände bedeutet dies, dass er sich durch die Kenntnis über sie von ihrem unerkannten Einfluss emanzipiert hat. Insofern besteht das fortdauernde Tun des menschlichen Lebens darin, das ihm Äußerliche zu negieren – noch unabhängig von einer manchmal in einem zweiten Schritt folgenden Praxis, die sich aus der zweiten Elementarbestimmung des Menschen, der Freiheit bzw. dem Willen, ergibt. Die Tatsache, dass der Mensch einen Willen besitzt, ist für Hegel identisch damit, dass er frei ist: „Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort, so wie die Freiheit nur als Wille, als Subjekt wirklich ist.“ (GPR, § 4, Zus.). Einen Willen zu haben, den man als determiniert versteht, stellt für Hegel also ein nicht zu denkendes Paradoxon dar;9 und umgekehrt erscheint es ihm selbstverständlich, dass der Wille und damit die Freiheit nur durch einen Träger dessen Realität bekommt. Zunächst be-
zwischen Verstand und Vernunft unterstellen würde, was im Kontext hier jedoch nicht relevant ist. 9
Die Rolle, die er der Empfindung, Trieben und anderen natürlichen Eigenschaften mit Willenseinfluss zuschreibt, wird in den folgenden Punkten aufgegriffen.
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findet sich der Wille im „Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich“ (GPR, § 5), in dem er keinerlei Inhalt hat; Hegel verdeutlicht diese Form am Beispiel des Selbstmordes sowie der Meditation (vgl. ebd., Zus.). Diesen Status der völligen Leere muss das Individuum verlassen und sich einen Willensinhalt geben, wodurch das Subjekt überhaupt erst zu einem solchen wird: Sich eine Bestimmung zu setzen, stellt keine Beschränkung im eigentlichen Sinn dar, sondern dadurch kommt es überhaupt erst zur „Besonderung des Ich“ (GPR, § 6). Ein Wille ohne Inhalt befindet sich rein in der Introspektion und verliert durch diese Bestimmungslosigkeit seinen Charakter als Willen. 10 Sich also zu beschränken, indem man sich etwas zum Zweck setzt, stellt die Überwindung dieses Zustands dar, wodurch der Mensch, der an sich zur Freiheit bestimmt ist, diese auch verwirklicht.11 Damit ist deutlich, weswegen Denken und Wille in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen. Der Mensch hat nur „weil er denkend ist, Freiheit“ (VPG, S. 95, vgl. auch Enz. III, § 469), da die theoretische Aneignung eines Gegenstandes Voraussetzung dafür ist, dass das Leben in der Konfrontation mit anderem sich nicht verliert, sondern den Widerspruch auflösen kann – wie Hegel dies nennt –, indem es das Äußerliche begreift und so zum Seinigen macht. Dieses theoretische Verhalten ist Bedingung für eine Praxis, durch die sich das Subjekt selbst bestimmt; allein durch vorangegangene geistige Aneignung der Gegenstände kann es sich dazu bewusst ins Verhältnis setzen und seine zunächst noch ideellen Zwecke in der Welt realisieren. Diesen „Übersetzungsschritt“ fasst Hegel darin zusammen, dass es die „Tätigkeit des Willens [ist, I. S.], den Widerspruch der Subjektivität und Objek-
10 „Ein Wille, der nichts beschließt, ist kein wirklicher Wille; der Charakterlose kommt nie zum Beschließen.“ (GPR, § 13, Zus.) 11 Hegel verdeutlicht dies am Beispiel der Freundschaft und der Liebe: „Diese Freiheit haben wir aber schon in der Form der Empfindung, z. B. in der Freundschaft und der Liebe. Hier ist man nicht einseitig in sich, sondern man beschränkt sich gern in Beziehung auf ein Anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung als sich selbst. In der Bestimmtheit soll sich der Mensch nicht bestimmt fühlen, sondern indem man das Andere als Anderes betrachtet, hat man darin erst sein Selbstgefühl. Die Freiheit liegt also weder in der Unbestimmtheit noch in der Bestimmtheit, sondern sie ist beides.“ (GPR, § 7, Zus.) In einer Freundschaft oder Liebesbeziehung negiert der Mensch die unbestimmte Freiheit, die noch völlig leer ist, indem er sich einen Willensinhalt setzt. Hier beschränkt man sich auf einige wenige Menschen, zu denen man ein enges Verhältnis eingeht, ohne dadurch jedoch einen Verlust an Freiheit zu erleiden; vielmehr findet man sich im anderen und damit sein eigenes Selbstgefühl. Der andere ist dann „nichts Fremdes mehr, das uns äußerlich bestimmt, sondern [er] ist zu einem Moment unserer selbst geworden (Bockenheimer 2013, S. 25).
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tivität aufzuheben“ (GPR, § 28), indem das Subjekt seinen Gedanken Realität verschafft. Insofern ist der Wille eine Form des Denkens und die Umsetzung in die Wirklichkeit Teil von dessen Bestimmung: Das praktische Verhalten ist „das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“ (GPR, § 4, Zus.). Dass ein Vorhaben in die Tat umgesetzt wird, heißt für Hegel, dass die Außenwelt zur eigenen gemacht wird; die durch den Willen realisierten Zwecke „tragen die Spur meines Geistes“ (GPR, § 4, Zus.). So drückt sich also im Denken und Willen als Elementarbestimmung des Menschen nochmals aus, dass Selbstaneignung bei Hegel immer auch als Weltaneignung zu verstehen ist und dies nicht nur in dem Sinne, dass das spekulative Tun die Differenz zwischen Subjekt und Objekt geistig überwindet, sondern auch als Streben des Subjekts, die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Im Umgang des Menschen mit seinen Gefühlen, bei seinem Verhältnis zum Körper sowie zur natürlichen und menschlichen Umwelt zeigt sich, inwiefern sich das Individuum in dieser doppelten Bedeutung zum Subjekt macht. Um eine genauere Vorstellung vom absoluten Idealismus, der sich in der Praxis umsetzt, zu bekommen, werden in den Unterabschnitten diese Erscheinungsweisen des abstrakten Begriffes dargelegt. Inhaltlich handelt es sich hierbei zugleich um Momente, die später für einen Nachvollzug seiner politischen Philosophie relevant werden. 2.1.1 Aufhebung der Empfindung – Beispiel für den Menschen als „Amphibie“ Es könnte nach den bisherigen Ausführungen so scheinen, als würde Hegel den Menschen als reines Vernunftwesen begreifen, das sich denkend die Welt aneignet und rationell gefasste Zwecke in die Tat umsetzt. Wie jedoch implizit und im Exkurs anhand seiner Charakterisierung des Kindes (GPR, § 10, Zus.) bereits deutlich wurde, muss der Mensch als sich entwickelndes Wesen begriffen werden. Das Gebot der Selbsterkenntnis stellt einen Auftrag dar, den er in seinem Leben zu erfüllen hat; seine Bestimmung, an sich vernünftig und frei zu sein, bedeutet also nicht, dass er diese Potenz auch tatsächlich zur Aktualität bringt bzw. sich zu einem an-undfür-sich Vernünftigen bildet: „Der Geist ist zwar schon im Anfange der Geist, aber er weiß noch nicht, dass er dies ist. Nicht er selber hat zu Anfang schon seinen Begriff erfaßt, sondern nur wir, die wir ihn betrachten, sind es, die seinen Begriff erkennen. Daß der Geist dazu kommt, zu wissen, was er ist, dies macht seine Realisation aus. Der Geist ist wesentlich nur das, was er von sich selber weiß. Zunächst ist er nur an sich Geist; sein Fürsichwerden bildet seine Verwirklichung.“ (Enz. III, § 385, Zus.)
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Der Mensch ist seinem Begriff nach ein Vernunftwesen, aber denkend die Welt zu erfassen und sich frei in ihr zu betätigen, ist ihm allein als Fähigkeit, nicht als bereits realisierte Eigenschaft in die Wiege gelegt.12 Die in ihm angelegte Potenz zu entwickeln, ist „nicht das harm- und kampflose bloße Hervorgehen, wie die des organischen Lebens, sondern die harte unwillige Arbeit gegen sich selbst“ (VPG, S. 75 f.) – sprich ein Bildungsprozess, den jeder Einzelne erbringen muss. Der Mensch als Kind lebt zunächst gänzlich in seiner Natürlichkeit; sein Geist ist noch nicht entwickelt, selbst den eigenen Körper vermag er nicht zu beherrschen. Dem anthropologischen Gebot gemäß ist das „unmittelbare Leben [...] also das sich entfremdete Leben“ (Enz. II, § 337, Zus.), aus dem er sich befreien muss. Dabei wird der Mensch während und nach diesem Prozess nie rein als Vernunftwesen verstanden; er muss vielmehr als „Amphibie“ (VÄ I, S. 80) gekennzeichnet werden, die in der Natur verwurzelt ist und dies ein Stück weit selbst bei gelingender Ontogenese auch bleibt.13 Die zentrale „Schnittstelle“ dieses Doppelcharakters des Menschen stellt die Empfindung dar, die er Hegel zufolge mit dem Tier teilt (vgl. Enz. III, § 400, Anm.). Während das Gefühl jedoch die differentia specifica des animalischen Organismus darstellt, wird es beim Menschen in eine höhere Form aufgehoben. 14 Zunächst also wurzelt die Empfindung in der Natürlichkeit; dass sie sich unmittelbar
12 „Hier ist nur anzudeuten, daß der Geist von seiner unendlichen Möglichkeit, aber nur Möglichkeit anfängt, die seinen absoluten Gehalt als Ansich enthält, als den Zweck und das Ziel, das er nur erst in seinem Resultate erreicht, welches dann erst seine Wirklichkeit ist. So erscheint in der Existenz der Fortgang als ein Fortschreiten von dem Unvollkommenen zum Vollkommneren, wobei jenes nicht in der Abstraktion nur als das Unvollkommene zu fassen ist, sondern als ein solches, das zugleich das Gegenteil seiner selbst, das sogenannte Vollkommene, als Keim, als Trieb in sich hat. Ebenso weist wenigstens reflektierterweise die Möglichkeit auf ein solches hin, das wirklich werden soll, und näher ist die Aristotelische dynamis auch potentia, Kraft und Macht. Das unvollkommene so als das Gegenteil seiner in ihm selbst ist der Widerspruch, der wohl existiert, aber ebensosehr aufgehoben und gelöst wird, der Trieb, der Impuls des geistigen Lebens in sich selbst, die Rinde der Natürlichkeit, Sinnlichkeit und Fremdheit seiner selbst zu durchbrechen und zum Lichte des Bewußtseins, d. i. zu sich selbst zu kommen.“ (VPG, S. 77 f.) 13 Diese Ansicht teilen nicht alle Forscher; Schnädelbach bspw. wirft Hegel vor, den Menschen als Vernunftwesen zu überhöhen bzw. seine Natürlichkeit zu leugnen (Schnädelbach 1999, S. 116 f.). 14 Insofern wird auch deutlich werden, weswegen der Überlegung Hösles, dass diese Kategorie eigentlich der Naturphilosophie zuzuordnen sei (Hösle 1988, S. 355), nicht zugestimmt wird.
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einstellt, ist ihr zentrales Charakteristikum (vgl. bspw. Enz. III, § 399, Zus.; ebd., § 400; ebd., § 448, Zus.). Sie macht sich beim Menschen „rein passiv“ (Fetscher 1970, S. 50) bemerkbar, ohne, dass es hierfür einer bewussten Reflexion bedarf – gerade deswegen kann diese mentale Form auch einem Lebewesen zukommen, dem die Fähigkeit zum Denken fehlt. Sie hängt in ihrem Auftreten also nicht vom Willen des Individuums ab und wird auch nicht von diesem bestimmt. Ohne jegliche Distanz füllt sie das Subjekt – vorerst, nämlich solange keine Fortentwicklung zur nächsten, dann geistigen Stufe stattfindet – völlig aus. Dies zeichnet die Empfindung einerseits aus, stellt andererseits aber zugleich ihren Mangel dar: „Das Gefühl ist die unmittelbare, gleichsam präsenteste Form, in der sich das Subjekt zu einem gegebenen Inhalt verhält; es reagiert zuerst mit seinem besonderen Selbstgefühle dagegen, welches wohl gediegener und umfassender sein kann als ein einseitiger Verstandesgesichtspunkt, aber ebensosehr auch beschränkt und schlecht; auf allen Fall ist es die Form des Partikulären und Subjektiven. Wenn ein Mensch sich über etwas nicht auf die Natur und den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehenzulassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolierte Subjektivität, die Partikularität, einschließt.“ (Enz. III, § 447, Anm.)
Das völlige Ausgefüllt-Werden durch eine Empfindung kann Hegel zufolge umfassend und gediegen sein; die Unmittelbarkeit und die dadurch fehlende Distanz sind also nicht gleichbedeutend damit, dass diese Regung des Subjekts grundsätzlich abzulehnen ist. Der Philosoph plädiert nicht für einen gefühlsfeindlichen, rein rational orientierten Standpunkt, sondern macht deutlich, dass dieser Art des Gefühls durchaus ihr Recht zukommt. Ihm zufolge kann sogar der „gesamte Stoff des Geistes“ (Enz. III, § 447, Zus.), wie beispielsweise Rechtliches oder Sittliches, dem Individuum in dieser Form präsent sein; es legt in diesem Fall dann keinen „einseitigen Verstandesgesichtspunkt“ an, um das Recht zu bejahen, sondern affirmiert es in Gänze und hat dies unmittelbar in seinem Gefühl.15 Bei diesen Beispielen handelt es
15 Dass „auch der dem freien Geiste angehörige, eigentümliche menschliche Inhalt“ (Enz. III, § 400, Zus.) diese Form annehmen kann, zum einen als unmittelbarer, noch nicht gerechtfertigter, zum anderen auch als erkannter und als solcher rückerhaltener Inhalt, rechtfertigt, dass die Abhandlung der Empfindung ihren Platz in der Erklärung des subjektiven Geistes gefunden hat. Insofern ist es auch nicht zutreffend, wie dies beispielsweise Fetscher annimmt (vgl. Fetscher 1970, S. 65), dass es unstatthaft sei, Phänomene wie die Sprache hier, auf der Stufe des „rein-Seelenhaften“ zu erwähnen: Einerseits ist dies natürlich ein Vorgriff, weil die Sittlichkeit oder auch die Sprache erst später, als Ausdrucksweisen des Geistes, behandelt werden; andererseits widerspricht sich Hegel
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sich aber um einen Prozess, in dem die unmittelbare Empfindung überwunden wurde: Die Intelligenz hat die Einfachheit der Empfindung durch Erkenntnistätigkeit aufgehoben, um den zuvor nur unmittelbar gefühlten Inhalt geistig zu ergründen (vgl. Enz. III, § 448, Zus.). „Erst durch diese doppelte Tätigkeit des Aufhebens und des Wiederherstellens der Einheit zwischen mir und dem Anderen komme ich dahin, den Inhalt der Empfindung zu erfassen“ (ebd.), sodass als Resultat dieses Andere „aufhör[t], ein Anderes zu bleiben“ (Bloch 1972, S. 40). Diese nächsthöhere Stufe, die allein der Mensch erlangen kann, bezeichnet Hegel als Aufmerksamkeit. Durchläuft ein Gegenstand im menschlichen Geist also diesen Weg, so ist er von einem unmittelbar Empfundenen zu einem Erkannten geworden, der anschließend als Gewusstes in die Empfindung auf diese höhere Weise zurückkehrt. So kann das Individuum beispielsweise nun ohne jeglichen bewussten Gedanken im Gefühl haben, dass es das Recht affirmiert – dieses hat dann aber die Aufhebung der Einheit zwischen Gegenstand und Subjekt erfahren und wird nach einem bewussten Reflexionsprozess als Affirmiertes wieder zu dieser Einheit bzw. Teil der Empfindung.16 In diesem Sinne wurde der Gegenstand vom Subjekt „einverleibt“ oder „verzehrt“ (ebd., S. 41). Ohne diesen Prozess, der das Gefühl zunächst überwindet, bleibt die Empfindung, wie Hegel in dem zentralen Zitat aus Enz. III § 447 ausführt, rein subjektiv: Der Gegenstand wird unmittelbar empfunden und hat für das Individuum außerhalb dieses unreflektierten Bezugs keine eigenständige Existenzweise. „Die Form des Partikularen und Subjektiven“ ist sie also dadurch, dass die Art, wie der Mensch einen Gegenstand empfindet, ohne jegliche Objektivität ganz in seine Individualität fällt. Die Sache muss dabei freilich nicht so erfasst werden, wie sie an sich ist; ihre Bestimmungen ergeben sich allein aus dem unmittelbaren Bezug des Subjekts auf ihn. Das Tier bspw. „weiß“ von den Strahlen der Sonne nichts außer in Form der
durch deren Abhandlung auf dieser Stufe aufgrund der Rückkehr in die Empfindung nicht. Auch höhere Formen, die die Geistestätigkeit des Subjekts unterstellen, können nach der Arbeit des Geistes ins Gefühl des Individuums übergehen. Ohne näher darauf einzugehen, sei hier darauf verwiesen, dass Hegel damit der weit verbreiteten Vorstellung eines Auseinanderfallens von Gefühl und Denken widerspricht. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Brauer, die von einer Aufhebung des „Dualismus zwischen intellektuellen Fähigkeiten und rudimentären Empfindungen“ spricht (2007, S. 89). 16 Für die Frage nach einer vermeintlichen Apologetik der Hegelschen Philosophie ist der Nachvollzug dieses Prozesses insofern bedeutsam, als dieser das Individuum als selbstbewusstes unterstellt, das sich bewusst zu den äußeren Gegebenheiten – in diesem Falle das Recht – ins Verhältnis setzt und Dinge erst durch seine geistige Erfassung als affirmiert gewonnen werden können; insofern findet hier – im Hegelschen Idealfall – keine bewusstlose Unterordnung statt.
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Empfindung von deren Wirkung auf es: Das Erzeugen der Wärme wird so zum einzigen Merkmal des Objekts. Ob dieses zutrifft, ob es den Gegenstand tatsächlich wesentlich charakterisiert oder eine rein akzidentielle Eigenschaft darstellt, ist hier völlig offen – als Empfindender interessiert die Welt nur in dieser unmittelbar sich auf ihn einstellenden Wirkung. Weder die Empfindung selbst noch der Gegenstand als solcher werden als etwas vom Subjekt Unterschiedenes wahrgenommen; insofern existiert auf dieser Ebene des subjektiven Geistes noch keine Scheidung in Subjekt und Objekt (vgl. auch Fetscher 1970, S. 58). Deswegen nennt Hegel die Empfindung auch „die Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewußtund verstandeslosen Individualität, in der alle Bestimmtheit noch unmittelbar ist. [...] Der Inhalt des Empfindens ist eben damit beschränkt und vorübergehend, weil er dem natürlichen, unmittelbaren Sein, dem qualitativen also und endlichen angehört“ (Enz. III, § 400). Die Empfindung bezieht sich auf einen gegenwärtigen Gegenstand, wobei es keine Rolle spielt, ob dieser tatsächlich materiell vorhanden ist oder nur geistig imaginiert wird. Trotz der Mängel ist die Empfindung doch die erste Form des Bezugs des Menschen auf die Welt und als solche bei letzterem die Basis, von der aus es gilt, die Beziehung auf einen Gegenstand von dieser Unmittelbarkeit zu lösen und weiterzuentwickeln: „Alles ist in der Empfindung und, wenn man will, alles, was im geistigen Bewußtsein und in der Vernunft hervortritt, hat seine Quelle und Ursprung in derselben; denn Quelle und Ursprung heißt nichts anderes als die erste, unmittelbarste Weise, in der etwas erscheint.“ (Enz. III, § 400, Zus.)
Da die Empfindung die erste Art des Bezugs zur Welt darstellt, stellen sich alle Gegenstände – egal, ob natürliche, gesellschaftlich konstituierte oder andere Personen – dem Subjekt zunächst in dieser Form dar. Dass Hegel so drastisch wie oben zitiert behauptet, dass jemand, der sich allein auf sein Gefühl beruft, „stehengelassen“ werden sollte, liegt an der mangelhaften Weise, in der das andere, auf das sich das Subjekt bezieht, wahrgenommen wird. An anderer Stelle drückt er dies so aus, dass es „freilich richtig [sei, I. S.] zu sagen, daß vor allem das Herz gut sein müsse. Daß aber die Empfindung und das Herz nicht die Form sei, wodurch etwas als religiös, sittlich, wahr, gerecht usf. gerechtfertigt sei“ (Enz. III, § 400, Zus.), daran sollte ihm zufolge nicht erinnert werden müssen. Gerechtfertigt kann es eben nicht werden aufgrund der Einseitigkeit des Bezugs: Der Gegenstand an sich bleibt völlig unerkannt, sodass er weder als wahr noch als sittlich oder dergleichen qualifiziert werden kann. Das einzige Attribut, das ihm zugesprochen wird, ist die durch ihn ausgelöste angenehme oder ablehnende Empfindung des Subjekts. Die Bejahung
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einer Sache als gerecht oder sittlich erfordert also mehr als die Intuition des Subjekts.17 Zu entscheiden, ob bspw. ein Staat sittlich gerechtfertigt werden kann oder abzulehnen ist, erfordert einen geistigen Prozess, dessen erste Stufe nach der Empfindung bereits unter dem Stichwort der Aufmerksamkeit angedeutet wurde. Anders gesagt: Untertanen, die bei einem Staatsprogramm mitmachen, ohne darüber zu reflektieren, wobei sie mitmachen, sind nicht in Hegels Sinn.18 Dass dem Menschen diese Fähigkeit zukommt, das sich unmittelbar einstellende Gefühl auf eine höhere Stufe zu heben, liegt am Denken: Das menschliche Leben vermag es, sich von der sich unmittelbar einstellenden Empfindung zu lösen und sie zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Auch im Verhältnis des Subjekts zu sich selbst stellt die geistige Aneignung bzw. die Praxis des absoluten Idealismus also ein Freiheitsmoment dar. 2.1.2 Die Vergeistigung des Leibes Das grundlegende Verhältnis des Menschen zu seinem Körper ist Hegel zufolge in einer gelingenden Vermittlung zwischen Entäußerung im Sinne einer Verleiblichung und der Rückkehr zum Geist durch die Seele als regierendes Moment zu sehen: „Der Begriff des Lebens ist die Seele, und dieser Begriff hat den Leib zu seiner Realität. Die Seele ist gleichsam ergossen in ihre Leiblichkeit, und so ist dieselbe nur erst empfindend, aber noch nicht freies Fürsichsein“ (Enz. I, § 216, Zus.). Die Seele entäußert sich in der Leiblichkeit und bleibt dabei zugleich das den Körper bestimmende Prinzip, das sich selbst in diesem empfindet. Um ein qualitativ darüber hinausgehendes Verhältnis zu erlangen – eine geistige Beherrschung des Kör-
17 Die Intuition ist dem Menschen als zur Vernunft fähigen Wesen unangemessen (vgl. auch Taylor 1983, S. 112), was auch in seiner Kritik der Romantik zum Tragen kommt (vgl. ders., S. 68 ff.). 18 Dies ist insofern eine Teilantwort auf die Staatsapologie-These, als deutlich wird, dass das Individuum dem Staat Hegels Konzept zufolge nicht unbegriffen, ohne Einsicht durch Vernunft, untergeordnet werden soll. Ein Mitmachen aus Gewohnheit bzw. Patriotismus, der sich mit der Nation in eins setzt, ohne das Staatsprogramm verstanden zu haben, wird von Hegel abgelehnt; die wahre sittliche Einheit kann nur dann entstehen, wenn der Staat an sich erkannt und dadurch gerechtfertigt wurde. Dann kann das Begriffene umgekehrt auch wieder, auf dieser höheren Stufe, in die Empfindung zurückkehren. Dementsprechend definiert er den Patriotismus als eine „in Wahrheit stehende Gewißheit“ und ein „zur Gewohnheit gewordene[s] Wollen“ (GPR, § 268), wobei in der angesprochenen Wahrheit die Notwendigkeit des Erkennens des Staates und in der Gewohnheit die in die Empfindung zurückgekehrte „politische Gesinnung“ (ebd.), die keiner Reflexion mehr bedarf, zum Ausdruck kommt (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.2.1).
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pers – ist es nötig, das unmittelbare Dasein des Leibes, das dem Geiste nicht angemessen ist, durch In-Besitznahme aufzuheben (vgl. GPR, § 48), wodurch das „Ich als Freies im Körper lebendig“ ist (ebd., Zus.). Diese Aneignung kann nur durch Gewohnheit vonstatten gehen (vgl. Enz. III, § 409), was sich an einem Beispiel leicht nachvollziehen lässt: Während ein Kleinkind das Gehen noch mühsam lernen muss, also in der Ausführung dessen sich auf jeden Schritt konzentriert, entwickelt sich diese Fähigkeit zunehmend zu einem Automatismus, den der Körper ohne Fokussierung des Geistes darauf ausführen kann. Diese „Selbstkultivierung“ des Körpers stellt einen „Grundzug der menschlichen Natur“ (Siep, in: Höffe 1992a, S. 117) dar, die den Tieren aufgrund ihrer fehlenden geistigen Fähigkeiten vorenthalten ist. Der Geist hat dem Körper beigebracht, was dieser tun soll und beherrscht ihn insofern;19 der Leib wird so zur „erste[n] Verkörperung meiner Freiheit“ (Rawls 2002, S. 442).20 Trotz dieses Primats der Seele ist seine Konzeption keine körperfeindliche; er nennt es vielmehr „ideeloser, sophistischer Verstand“ (GPR, § 48, Anm.) zu meinen, dass sich die Seele vom Körper völlig unabhängig machen kann: Wird der Körper misshandelt oder gar der Gewalt einer anderen Person gänzlich unterworfen, so kann die Seele davon nicht unberührt bleiben (ebd.). Umgekehrt hat aber nicht nur die Behandlung des Körpers Auswirkungen auf den Geist, sondern auch der emotionale und geistige Zustand eines Menschen kann sich in den unterschiedlichsten Formen in der Physiognomie äußern: Lachen, Weinen, bei dem „von der Seele heraus die Träne [...] sich bildet[t]“ (Enz. III, § 401, Anm.) oder die Stimme „als höchste Weise für die Äußerung innerlicher Empfindungen“ (Drüe, in: ders. u. a. 2000, S. 226) sind nur ein kleiner Ausschnitt der Möglichkeiten, dem Seelischen des Menschen äußere Manifestation zu verleihen; Hegel nennt dies „ein System der Verleiblichung des Geistigen“ (ebd.).21 An diesen Beispielen zeigt sich abermals, dass sich Empfindungen wie Weinen und Lachen unmittelbar, also ohne Reflexion des Subjekts einstellen: Sie finden unwillkürlich statt. An der Betätigung der Stimme lässt sich die im vorigen Punkt erläuterte Offenheit der Empfindung gegenüber den unterschiedlichsten Inhalten verdeutlichen: Einerseits kann diese auch für die benannte Unmittelbarkeit stehen, wenn ein Subjekt unwillkürlich einen
19 Dieses Verhältnis manifestiert sich auch bei Individuen, bei denen die Entwicklung des Geistes vor der der Physis stattfindet, hier offenbart der Geist „seine Unabhängigkeit von seiner Leiblichkeit.“ (Enz. III, § 396, Zus.) 20 Hegel vertritt also keine dualistische Auffassung von Körper und Seele (vgl. auch Hösle 1988, S. 353), sondern geht von einer Einheit aus, in der die Seele als „das Freie“ (ebd.) den Körper regiert. 21 Mit Stederoth kann man darin erste Ansätze der Erkenntnisse der Psychosomatik sehen (vgl. Stederoth S. 193, in: Cobben u. a. 2006).
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Laut, bspw. ein Staunen, von sich gibt; andererseits kann sich das Innere hier auch elaboriert in Worte gekleidet ausdrücken, sodass also Formen aus den entwickelteren Stufen des subjektiven Geistes physische Manifestation erlangen (vgl. Enz. III, § 401, Zus.). Letztlich – und dies bestätigt die im vorhergehenden Abschnitt angesprochene Kontinuität von der Empfindung zum Denken – hat Hegel zufolge auch das Denken selbst, nicht als Weltgeist, sondern insofern es individueller Vorgang ist, eine „leibliche Erscheinung“, die „besonders im Kopfe, im Gehirn, überhaupt im System der Sensibilität, des einfachen allgemeinen Insichseins des empfindenden Subjekts“ (Enz. III, § 401, Zus.) gefühlt wird. Auch die Vergeistigung des Leibes stellt ein Beispiel für den absoluten Idealismus des Lebens dar: Durch das Lösen aus der Natürlichkeit, in die der Mensch zunächst gesetzt ist, und dem Aufstieg zum Denken ordnet er sich den Körper unter und löst sich dadurch ein Stück weit von seiner Verwurzelung in der Natur. Insofern ist die selbstbewusste Aneignung des eigenen Körpers ein „fundamentale[s] Element der Personalität“ (Vieweg 2012, S. 113; vgl. auch Siep, in: Höffe 1992a, S. 115). „Der Prozeß des Lebens besteht darin, die Unmittelbarkeit, in welcher dasselbe noch befangen ist, zu überwinden, und dieser Prozeß [...] hat zu seinem Resultat die Idee in der Form des Urteils, d. h. die Idee als Erkennen“ (Enz. I, § 216, Zus.). Das menschliche Leben zeichnet sich aus durch den Aufstieg aus der Unmittelbarkeit hin zum Erkennen, wodurch der Mensch frei wird. Diese graduelle Emanzipation22 zeigt sich auch in den oben beschriebenen Phänomenen, in denen sich seelische Zustände leiblich niederschlagen, da durch diese Entäußerung zugleich eine „Wegschaffung der innerlichen Empfindungen“ (Enz. III, § 401, Zus.) erfolgt.23
22 Die von Hegel angesprochene Unabhängigkeit kann jedoch nie als völlige Loslösung von der „natürlichen Basis“ verstanden werden. Deswegen ist es nicht zutreffend, den Körper als „gefügiges Werkzeug“ (Hösle 1988, S. 353) des Geistes zu bezeichnen, da er zwar von diesem beherrscht wird, aber nie zu einem bloßen Instrument herabgestuft werden kann, das als rein ausführendes Organ keine Auswirkungen auf die Seele hat. Wird die Physis bspw. misshandelt, dann macht sie sich autonom bemerkbar: Sie beeinflusst den Seelenzustand dieses Menschen und die körperliche Heilung muss in einem solchen Fall selbst zum Zweck gemacht werden, sodass der Körper also keineswegs immer bloßen Mittel-Charakter besitzt. 23 Fetscher verdeutlicht diese Überlegung unter anderem am Beispiel des Weinens: So weiß jeder aus eigener Erfahrung, dass es quälend ist, im Schmerz nicht weinen zu können bzw. das Weinen dem Subjekt ermöglicht, „sich von seinem Zustand zu unterscheiden und so zu befreien“ (Fetscher 1970, S. 62). Die erläuterte unmittelbare Erfüllung des Subjekts durch eine Empfindung, die zunächst aufgrund ihres Eintretens ohne Reflexion kei-
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2.1.3 Theoretische und praktische Aneignung der natürlichen Umwelt Auch im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt im Allgemeinen stellt der Grad der zu erlangenden Autonomie eine entscheidende Bestimmung dar. Hegel zufolge strebt der Mensch danach, „sich als frei von den Naturverhältnissen an[zu]sehen“ (Enz. III, § 392, Zus.; vgl. auch Hösle 1998, S. 353; s. auch Marmasse 2002, S. 153). Als Ziel, also einem noch nicht von vornherein erreichten, sondern zu erstrebenden Zustand, ist dies zu bezeichnen, weil auch an dieser Stelle die geistige Arbeit des Menschen erforderlich ist, um zu verwirklichen, was er an sich schon ist: „Als Geist ist der Mensch ein freies Wesen, das die Stellung hat, sich nicht durch Naturimpulse bestimmen zu lassen. Der Mensch, als im unmittelbaren und ungebildeten Zustande, ist daher in einer Lage, in der er nicht sein soll und von der er sich befreien muß.“ (GPR, § 18, Zus.)
So ist der Mensch in seinem noch ungebildeten Ausgangspunkt also, wie die Organismen der Vorstufe, der Natur ausgesetzt und diese würden ihn bestimmen, wenn er sich nicht willentlich davon befreit. Veranschaulichen lässt sich dieser Gedanke am Beispiel von unterschiedlichen Stimmungen, die sich für zahlreiche Menschen mit den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten verbinden: „[D]er bloße Naturgeist, die Seele, durchlebt die Stimmung der Jahres- sowie der Tageszeiten mit. Während aber die Pflanzen ganz an den Wechsel der Jahreszeiten gebunden sind und selbst die Tiere durch denselben bewußtlos beherrscht, durch ihn zur Begattung, einige zur Wanderung instinktmäßig getrieben werden, bringt jener Wechsel in der Seele des Menschen keine Erregungen hervor, denen er willenlos unterworfen wäre.“ (Enz. III, § 392, Zus.)
Während die Pflanze also völlig von diesem Naturphänomen determiniert wird und keine Möglichkeit hat, sich dazu als Subjekt zu verhalten, stellen sich beim Tier Veränderungen des Verhaltens ein, die jedoch nicht durch eine bewusste Entscheidung, sondern vielmehr instinktiv hervorgerufen werden. Mit einer bestimmten Jahreszeit verknüpft sich für das Tier ein spezifisches Verhalten, wie eben beispielsweise die Begattung oder die Wanderung. Beim Menschen hingegen existiert die Möglichkeit der Emanzipation von der Beeinflussung durch die Natur, womit umgekehrt aber auch deutlich wird, dass ihm diese Loslösung nicht schon immer zu-
nerlei Distanz zulässt, wird im Fall der Trauer zum Problem, mit dem das Individuum durch Distanzierung in Form einer physischen Manifestation umgehen kann.
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kommt, sondern er sie erst zu erbringen hat: Hegel spricht im Zitat davon, dass der Jahreszeitenwechsel keine Erregung hervorbringt, der er willenlos unterworfen wäre; dies heißt zunächst also, dass eine andere Jahreszeit durchaus eine Gemütsveränderung mit sich bringen kann. Allerdings hat der Mensch – und nur dieser – die Freiheit, diesen sich einstellenden Impuls durch einen willentlichen Akt zu steuern. Wie Marmasse ausführt, so gilt es hier, die „radikale Diskontinuität, aber auch die Verwandtschaft zwischen dem letzten Moment der Natur und dem ersten Moment des Geistes zu erfassen“ (Marmasse 2002, S. 152): Der Mensch wird und weiß sich einerseits von der Natur bestimmt; er ist selbst ein natürliches Wesen. Gleichzeitig kann er sich aufgrund dieses Wissens bewusst zur Natur und den damit verbundenen Wirkungen auf ihn verhalten; so ist es beispielsweise möglich, eine negative Gemütsstimmung aufgrund von dunklen Wintertagen durch eine Reflexion dieses Einflusses nicht zuzulassen. Zentral ist also auch hier die Fähigkeit des Menschen zu denken, sich dadurch von den auf ihn wirkenden Phänomenen zunächst zu unterscheiden und sich dann in ein bewusstes Verhältnis zu diesen zu setzen. Ein äußeres Ereignis wird geistig angeeignet, indem es Gegenstand der Reflexion wird: Sind die Phänomene begriffen, so weiß er, ob er ihnen ausgeliefert ist oder sich ihrer erwehren kann. Ist ersteres der Fall, findet die Freiheit keineswegs ihr Ende, sondern der Mensch kann beispielsweise bei eingesehener Notwendigkeit des Eintretens der kalten Jahreszeit einen Umgang damit finden. Dies gilt ebenfalls für den Trieb als Moment der natürlichen Bestimmung, der dem Menschen wie auch dem Tier zukommt. Auch hier gibt es eine Dialektik von natürlicher Bestimmtheit und Freiheit, die ihn vom animalischen Organismus unterscheidet: „Triebe, Begierden, Neigungen hat auch das Tier, aber das Tier hat keinen Willen und muß dem Triebe gehorchen, wenn nichts Äußeres es abhält. Der Mensch steht aber als das ganz Unbestimmte über den Trieben und kann sie als die seinigen bestimmen und setzen. Der Trieb ist in der Natur, aber daß ich ihn in dieses Ich setze, hängt von meinem Willen ab, der sich also darauf, dass er in der Natur liegt, nicht berufen kann.“ (GPR, § 11, Zus.)
Der beispielsweise durch eine Jahreszeit hervorgerufene Trieb steuert das Tier bzw. dessen Empfindung, sodass mit dem Auftreten des Triebes also sein Verhalten vorgezeichnet ist. Der Mensch hingegen steht über diesem, insofern er sich bewusst dazu stellen kann: Selbst wenn er einem Trieb folgt, bedeutet dies nicht, dass er instinktiv gesteuert wird; vielmehr hat sich der Mensch in diesem Fall dazu entschieden, ebendiesem Impuls zu folgen. Verdeutlichen lässt sich dies am Phänomen des Hungers: Dieser Primärtrieb kommt beiden Wesen zu; der Mensch jedoch hat die Freiheit, das Bedürfnis zur Aufnahme von Nahrung beispielsweise aufgrund eines spannenden Buches zurückzustellen und sich zunächst weiterhin den Gedanken des Werkes zu widmen. Gleichzeitig bleibt der Mensch selbstredend ein Naturwesen,
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sodass er dem Bedürfnis früher oder später nachkommen muss. Selbst dann, so kann Hegel verstanden werden, ist es jedoch er, der sich dazu entschließt, das Buch zur Seite zu legen und die Küche aufzusuchen. Dabei wird aber gerade nicht das Vorhandensein des Triebes an sich als problematisch eingeschätzt, etwa weil sich im Trieb etwas Ungeistiges, Natürliches im Menschen regen würde; entscheidend ist, welchen Umgang der Mensch mit seinem Auftreten findet: Wenn er sich ihn bewusst zum Willensinhalt setzt, muss damit nicht per se etwas Negatives verbunden sein. Insofern kann man mit Bockenheimer festhalten, dass es nach Hegel „nicht darauf an[kommt], frei zu sein von der Natur, trotz der Natur oder neben der Natur, sondern in der Natur.“ (Bockenheimer 2013, S. 24, Hervorh. i. O.) Die Freiheit des Geistes, der sich die Natur aneignet, hat neben der nun ausgeführten Dimension der gedanklichen Emanzipation auch die Bedeutung der Autonomie durch die nicht allein geistige, sondern auch praktische Umbildung eines Teils der Natur durch den Menschen. Der systematische Ort der Arbeit ist die bürgerliche Gesellschaft (vgl. v. a. GPR, § 188 bzw. „Das System der Bedürfnisse“ in § 189 ff. sowie in dieser Arbeit Kapitel 3.2.1); an dieser Stelle soll sie nur hinsichtlich des Aspekts der Veränderung der Natur, in der sich der absolute Idealismus ausdrückt, betrachtet werden. Im direkten Vergleich mit dem animalischen Organismus stellt Hegel die Leistung des Menschen bei der Bearbeitung der Natur heraus: „Das Tier arbeitet nicht, nur gezwungen, nicht von Natur; es ißt nicht sein Brot im Schweiß des Angesichts, bringt sein Brot sich nicht selbst hervor: von allen Bedürfnissen, die es hat, findet es unmittelbar in der Natur Befriedigung. Der Mensch findet auch das Material dazu, aber, kann man sagen, das Material, ist das wenigste für den Menschen, – die unendliche Vermittlung der Befriedigung seiner Bedürfnisse geschieht nur durch Arbeit. [...] Daß der Mensch sich zu dem machen muß, was er ist, daß er im Schweiße seines Angesichtes sein Brot ißt, hervorbringen muß, was er ist, das gehört zum Wesentlichen, zum Ausgezeichneten des Menschen [...].“ (VPhR, S. 259)
Die erwähnte geistige Arbeit soll noch ausgeklammert bleiben; dass der Wissenschaft im Sinne der Erkenntnis der Naturphänomene bei der Möglichkeit der Loslösung von der Naturbefangenheit eine zentrale Rolle zukommt, wurde weiter oben bereits erwähnt. Hier soll nur die praktische Seite des Sich-die-Welt-GemäßMachens im Fokus stehen: Der Mensch gestaltet sich die Welt nach seinen Bedürfnissen, was impliziert, dass das in der Natur Vorgefundene reines Material für eine Weiterverarbeitung ist; es trägt die Spur des menschlichen Geistes, wie Hegel dies weiter oben ausdrückt, in dem sich eine Intention in die Tat umsetzt. Der Mensch schafft sich Werkzeuge, um sich von dem unmittelbar Gegebenen zunehmend zu emanzipieren und es seinen Zwecken gemäß zu machen. Das Tier bleibt bei der Nahrungsaufnahme und zahlreichen anderen Vorgängen auf das Vorgefundene an-
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gewiesen, während der Mensch durch die allein ihm durch das Denken zukommende Fähigkeit einen größeren Grad an Autonomie erreichen kann.24 Das eingangs zitierte, von Hegel ausgegebene Ziel, sich als Mensch frei von Naturverhältnissen zu machen und zu begreifen, umfasst neben dem geistigen auch dieses praktische Verhalten bzw. die beiden Elementarbestimmungen des Menschen. 2.1.4 Menschliche Gattungs- als Ursprung der sittlichen Allgemeinheit Die allein dem Menschen zukommende Freiheit zeigt sich auch im Verhältnis zu seinesgleichen und näher in der Gestaltung seiner Liebesbeziehungen. Die Thematik ist in diesem Kapitel deswegen besonders einschlägig, da das Geschlechterverhältnis, in dem sich ein Individuum in dem anderen sucht und findet (vgl. Enz. III, § 397), an der Schnittstelle zwischen natürlicher Bestimmung des Menschen und geistiger Überwindung25 durch die allein ihm zukommenden Fähigkeiten steht. 26 Der Mensch wurzelt in der Natur, insofern er mit dem Tier den Geschlechtstrieb teilt. Wie jedoch bereits für die Empfindung herausgearbeitet, so ist es dem Menschen eigen, seinen natürlichen Ausgangspunkt verwandeln zu können, um den Gattungsprozess auf eine höhere, sittliche Stufe zu heben.27 Hegel leugnet „die natürliche Existenzweise des Menschen nicht, sondern nimmt sie in seine Sittlichkeitskonzeption mit auf“ (Brauer 2007, S. 239) – Wie gelingt also die Transzendierung des natürlichen Ursprungs? Neben der Freundschaft als wesentlichem intersubjektiven Verhältnis28 ist der Mensch auch fähig zur Liebe, die Hegel wie folgt charakterisiert:
24 Vgl. in diesem Kontext auch die Bedeutung der Arbeit für die Freiheit des Knechts, die bspw. von Fetscher (1970, S. 117 ff.) erläutert wird. 25 Dass sich die Analyse hier an dieser „Schnittstelle“ befindet, erklärt meines Erachtens, was unter anderem bei Hösle auf Unverständnis stößt (vgl. Hösle 1988, S. 354): dass Hegel auf dieses Verhältnis bereits in der Naturphilosophie (Enz. III, § 396, Zus.), also noch zahlreiche Abschnitte vor der Behandlung der Familie, die Teil des objektiven Geistes ist, zu sprechen kommt. 26 Ausführlicher habe ich mich mit dieser Thematik in dem Aufsatz „Das Allgemeine der Natur hat keine Geschichte“ auseinandergesetzt (vgl. Schildbach, in: Arndt u. a., im Erscheinen). 27 Bockenheimer fasst dies treffend in der Frage zusammen, „wie wir diesen natürlichen Trieb aneignen können, um in ihm frei zu sein“ (Bockenheimer 2013, S. 25). 28 Wie sich Freundschaft und Liebe zueinander verhalten bzw. ob die erstere der Liebe mit dieser Argumentation untergeordnet wird, wie Honneth dies versteht (vgl.: Honneth 2001, S. 108 f.) oder dies gerade nicht Hegels Intention war (vgl. Vieweg 2012, S. 256)
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„Die Liebe ist aber Empfindung, das heißt die Sittlichkeit in Form des Natürlichen; [...] Das erste Moment in der Liebe ist, daß ich keine selbstständige Person für mich sein will und daß, wenn ich dies wäre, ich mich mangelhaft und unvollständig fühle. Das zweite Moment ist, daß ich mich in einer anderen Person gewinne, daß ich in ihr gelte, was sie wiederum in mir erreicht. Die Liebe ist daher der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann, indem es nichts Härteres gibt als diese Punktualität des Selbstbewußtseins, die negiert wird und die ich doch als affirmativ haben soll. Die Liebe ist das Hervorbringen und die Auflösung des Widerspruchs zugleich: als die Auflösung ist sie die sittliche Einigkeit.“ (GPR, § 158, Zus.)
Auch in der Liebe geht Hegel also davon aus, dass das Wählen eines konkreten Willensinhalts keine Einschränkung darstellt, sondern sich der Einzelne im exklusiven Bezug auf einen anderen als Subjekt erst gewinnt (vgl. auch VPG, S. 60). Das Gefühl der Liebe ist dadurch gekennzeichnet, dass man sich unmittelbar zu einem anderen hingezogen fühlt und sich das dauerhafte Bedürfnis nach der Person als Wunsch nach Überwindung der eigenen Vereinzelung geltend macht. Eben dieses Verhältnis stellt für Hegel einen ungeheuren Widerspruch dar: Der Einzelne erfährt sich durch den ideellen Bezug auf den anderen plötzlich als unvollkommen und fühlt sich erst durch die tatsächliche Vereinigung als ganzer Mensch.29 Die Liebe in Form des Natürlichen bzw. der Empfindung bringt dieses paradoxe Verhältnis hervor und löst es Hegel zufolge zugleich auf, indem es im Falle der Erwiderung der Zuneigung von diesem ideellen Bezug in ein praktisches und näher sittliches verwandelt wird: In der Ehe ist die „äußerliche Einheit der natürlichen Geschlechter in eine geistige, in selbstbewußte Liebe, umgewandelt“ (Enz. III, § 161), der Geschlechtstrieb wird kultiviert. Diese „Freiheitsgenese“ (Brauer 2007, S. 240) durch die Überführung in ein institutionalisiertes Verhältnis – die Familie als „die allererste Sittlichkeit“ (VPG, S. 60)30 – hebt den natürlichen, geschlechtlichen Ausgangspunkt auf; durch die Ehe verschwindet „das Vergängliche, Launenhafte und bloß Subjektive“ (Enz. III, § 161, Zus.). Das Paar bildet eine Person mit gemeinsamen Eigentum und vollendet
soll an dieser Stelle offenbleiben, da dieser Disput letztlich nichts zum zentralen Thema beiträgt. 29 Hier wird unmittelbar deutlich, wie absurd, da ohne jeglichen Anhaltspunkt im Text, Poppers Behauptung ist, dass sich „alle persönlichen Beziehungen auf die Grundbeziehung Herr – Sklave, Beherrschung – Unterwerfung reduzieren lassen.“ (Popper 2003, S. 14) 30 Die sittliche Allgemeinheit geht nicht in der Familie auf; inwiefern der Staat deren zweites, wesentliches Moment darstellt (vgl. VPG, S. 60), wird unter 3.2 erläutert.
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sich schließlich in der Zeugung und Erziehung der Kinder (vgl. Enz. III, § 160).31 Der Übergang zum Geist bzw. der Sittlichkeit bezieht sich also nicht allein auf die Verwandlung des Geschlechtstriebes durch die Eheschließung, sondern auch durch die Verantwortungsübernahme für die Erziehung des Nachwuchses (vgl. auch Brauer 2007, S. 150). Durch diese werden die Grundlagen für die Realisation des bereits herausgearbeiteten Bildungsauftrages des Menschen gelegt, sodass den Eltern bzw. dieser sittlichen Einheit also eine zentrale Rolle bei der Möglichkeit der Verwirklichung des Einzelnen und damit auch der Formen der Allgemeinheit zukommt.32 Während einerseits also von der Fortentwicklung der Freiheit gesprochen werden kann, ergibt sich meines Erachtens zugleich eine Schwierigkeit hinsichtlich der Freiheitsgenese: Zweifelsohne hat die Empfindung der Subjekte bei Hegel ihr Recht, was sich auch daran manifestiert, dass Hegel Kants kontraktualistische Konzeption als „roh“ (Enz. III, § 161, Zus.) bezeichnet und darin seine klare Aversion gegenüber rein rationellen Ansätzen zum Ausdruck bringt. Auch stellt sein Verständnis kein „lustfeindliches“ dar, was seine Erläuterungen zur platonischen Liebe verdeutlichen: Es handle sich hierbei um eine falsche Trennung, die aus der „mönchischen Ansicht“ (Enz. III, § 163, Anm.), die Sexualität „als das schlechthin Negative [zu] bestimm[en]“ (ebd.), entspringt. Dennoch könnte die Genese der Freiheit auch in ihr Gegenteil umschlagen bzw. müssten zur Beurteilung dieses vermeintlichen Fortschritts die Subjekte unterschieden werden, die in der Verwirklichung der Freiheit fortschreiten: Wie bereits zitiert, hält es Hegel explizit als Verdienst der Ehe fest, dass sich das Verhältnis der beiden Individuen vom bloß Subjektiven löst; durch die Institutionalisierung wird es schließlich unabhängig gemacht von der Existenz des Ausgangspunktes bzw. des Gefühls der Liebe. Diese von ihm begrüßte Emanzipation bringt er an anderer Stelle durch eine ausdrückliche Hierarchisierung der in der Ehe vereinten Momente des Sinnlichen und Sittlichen zum Ausdruck, in der er begründet, weswegen die Ehe letztlich nahezu unauflöslich sein muss: „[D]enn der Zweck der Ehe ist der sittliche, der so hoch steht, daß alles andere dagegen gewaltlos und ihm unterworfen erscheint. Die Ehe soll nicht durch Leidenschaft gestört werden,
31 Viewegs Behauptung, dass Hegels Familienkonzeption offen sei für unterschiedliche Lebens- und Liebesformen (vgl. Vieweg 2012, S. 385), hat keinerlei Anhaltspunkte in der Quelle; auch er selbst verweist auf keine Textstelle. 32 Wie Losurdo richtig ausführt, ist es Hegels Verdienst, das Kind nicht mehr als Sache zu definieren, die Teil des Haushaltes ist, sondern als eigenständige Person. Diese Statusänderung hat die Konsequenz, dass beispielsweise dem Staat die Aufgabe zugesprochen wird, in die Erziehung einzugreifen, um unter anderem die Schulpflicht durchzusetzen (vgl. Losurdo 2000, S. 269 sowie S. 279).
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denn diese ist ihr untergeordnet. Aber sie ist nur an sich unauflöslich [...]. Weil die Ehe das Moment der Empfindung enthält, ist sie nicht absolut, sondern schwankend und hat die Möglichkeit der Auflösung in sich. Aber die Gesetzgebungen müssen diese Möglichkeit aufs höchste erschweren und das Recht der Sittlichkeit gegen das Belieben aufrechterhalten.“ (GPR, § 163, Zus.)
An sich bzw. ihrem Begriff nach ist die Ehe unauflöslich, weil sie das sittliche Verhältnis darstellt, in dem die Personen in Sittlichkeit leben und in dem die Grundlage für die Sittlichkeit der zukünftigen Staatsbürger gelegt wird. Dies zu erfüllen, ist nach Hegel auch der Zweck dieser Institution, dem alles andere untergeordnet werden muss. Die Notwendigkeit dieser Unterwerfung kündet bereits davon, dass es ein Moment der Entzweiung geben kann, gegen das der Gesetzgeber die Ehe diesem zum Trotz dauerhaft machen soll: Weil sie auf dem Gefühl der beiden Liebenden beruht und dieses erlöschen kann, ist die Beziehung in ihrem unmittelbaren, natürlichen Auftreten nicht zwangsläufig auf Dauer gestellt. Ohne die rechtliche Bindung würde es in der Tat in das Belieben der Subjekte fallen, ob sie ihr ganzes Leben teilen möchten. Gerade diese Freiheit soll durch entsprechende Gesetze einschränkt werden: Die Argumentationsrichtung steht, wie Brauer richtig konstatiert, „unter dem Motto, dass das Sinnliche dem Sittlichen zu folgen habe“ (Brauer 2007, S. 142).33 Meines Erachtens scheitert Hegel durch den postulierten Entzug der ehelichen Existenz von der Freiheit der Subjekte an dieser Stelle mit seinem Bemühen, der Doppelnatur des Menschen Rechnung zu tragen. Er möchte das Ausgangsmoment der Empfindung aufheben – entgegen seinem sonstigen Gebrauch dieses Wortes – allein im Sinne von deren Negation, damit durch die Ehe die sittliche Funktion der Erwerbsgemeinschaft in der bürgerlichen Gesellschaft sowie der Erziehung des staatlichen Nachwuchses sichergestellt ist. Dass er das Gefühl und die Liebe als Ursprung der Gemeinschaft anerkennt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Konzeption im weiteren Verlauf einen klaren Primat der familiären Aufgabenerfüllung für den Staat gegenüber dem Recht des Individuums impliziert. So könnte die in der Forschung postulierte Freiheitsgenese nur in dem Sinne aufrechterhalten werden, dass Hegels Familienverständnis im Zweifel der Freiheit des Staates dient. Die Subjekte haben, zumindest in diesem Punkt, ihre partnerschaftlichen Bedürfnisse aufgrund der Funktion der Institution Familie für das Gemeinwesen aufzugeben. Diese Argumentation ist nicht zu verwechseln mit einer Parteinahme für ein roman-
33 Ohne eine Begründung postuliert Vieweg hingegen, dass die Subjekte in Hegels Familienkonzeption keine Anhängsel, die in der Substanz versinken, sondern stets selbstbestimmte Akteure bleiben würden (Vieweg 2012, S. 260). Um dies behaupten zu können, müsste er sich jedoch mit den Stellen, an denen Hegel explizit einen Primat des Sittlichen vor der Empfindung ausspricht, auseinandersetzen.
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tisches Liebesideal, wie es Hegel beispielsweise in Gestalt der Schlegelschen Vorstellungen kritisiert (vgl. u. a. Enz. III, § 164, Zus.). Zum einen kann auch eine langjährige Liebe, die nicht mehr allein aus der anfänglichen Leidenschaft besteht, vergehen, sodass die Forderung, der Freiheit des Subjekts in dieser Sphäre Rechnung zu tragen, nicht gleichzusetzen ist mit dem Aufstellen eines romantischen Liebesideals. Zum anderen erscheint es außerdem fraglich – auch mit Blick auf die Empirie –, ob dieses Verhältnis, das nach Erlöschen des Gefühls zunehmend den Charakter eines Zwangs annimmt, die Sittlichkeit tatsächlich aufrechterhalten kann: Wird auch die Hegelsche Konzeption mit dem Ende des Gefühls nicht zu einer rein kontraktualistischen?34
2.2 POLITISCHE ANTHROPOLOGIE, ODER: DENKEN UND (FREIER) WILLE ALS POLITISCHE BESTIMMUNG Wie deutlich wurde, sind das theoretische und praktische Verhalten durch das Denken und den Willen Elementarbestimmungen des Menschen, durch die er sich selbst und die Welt ideell als auch praktisch aneignet. Vom Körper Besitz zu ergreifen durch dessen geistige Beherrschung, die Unterordnung der Natürlichkeit durch das bewusste Verhalten gegenüber Trieben, Empfindungen und anderen Regungen, die Umformung der Umwelt gemäß den eigenen Bedürfnissen durch Arbeit sowie die Selbstbildung durch das Verhältnis zu anderen Menschen stellen die ersten Formen der Selbst- und Weltaneignung dar, durch die die Freiheit Wirklichkeit wird. Dass es letztere nur geben kann durch ein mit Willen und Bewusstsein begabtes Subjekt, das sich seinen ideell gefassten Intentionen gemäß ins Verhältnis zur Welt setzt und dass dieses theoretische und praktische Verhalten als ein Entwicklungsprozess zu verstehen ist, hat sich in jeder der untersuchten Erscheinungsweisen bestätigt. Hegel verdeutlicht in seiner Analyse des Willens, dass diese Bestimmungen zwar gelten
34 Man könnte sogar soweit gehen, in der Verpflichtung der Individuen aufeinander den Keim der Gewalt im Privaten und damit endgültig nicht nur die Nicht-Verhinderung der Auflösung der Sittlichkeit, sondern ihre Destruktion zu sehen. Bemerkenswerterweise wird die Thematik der Familie bzw. seine Liebeskonzeption von den Vertretern der totalitären Hegel-Deutung kaum beachtet. Kiesewetter, der dieser zwar ein kurzes Kapitel widmet, erwähnt den unterschiedlichen sittlichen Wert, den Hegel den Geschlechtern zuspricht (vgl. Kiesewetter 1982, S. 85) sowie seine Ausführungen zur Erziehung, die er als eine „Anleitung zum Gehorsam“ (ebd., S. 86) bezeichnet. Dass jedoch die Freiheit des Subjekts eine erhebliche Einschränkung dadurch erfährt, dass das Bestehen der Ehe unabhängig von der Empfindung bzw. dem Willen zu ihr gemacht werden soll, scheint auch diesen polemischen Hegel-Kritiker nicht weiter zu stören.
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und auch als individueller Prozess von jedem erbracht werden müssen, die Freiheit jedoch ihrem Begriff nach und damit auch als individueller Prozess über die nun veranschaulichten elementaren Formen der Selbst- und Weltaneignung hinausgeht: Dass der Mensch einen Willen besitzt, mit ihm also Freiheit in der Welt ist, heißt für Hegel, dass der Mensch in seiner Entwicklung dahin gelangen muss, Freiheit selbst als Inhalt seines Willens zu setzen;35 aus der Form ergibt sich für Hegel also der Inhalt, zu dem ein mit Willen begabtes Subjekt letztlich kommen muss: „Die Entwicklung ist auf diese Weise nicht das harm- und kampflose bloße Hervorgehen, wie die des organischen Lebens, sondern die harte unwillige Arbeit gegen sich selbst; und ferner ist sie nicht bloß das Formelle des Sich-Entwickelns überhaupt, sondern das Hervorbringen eines Zwecks von bestimmtem Inhalte. Diesen Zweck haben wir von Anfang an festgestellt; es ist der Geist, und zwar nach seinem Wesen, dem Begriff der Freiheit. Dies ist der Grundgegenstand und darum auch das leitende Prinzip der Entwicklung, das, wodurch diese ihren Sinn und ihre Bedeutung erhält [...].“ (VPG, S. 76)
Der erste Satz des Zitates wurde bereits aufgegriffen und veranschaulicht: Der Mensch an sich ist zur Vernunft bestimmt, aber er muss diese Potenz erst zu einer für-sich-seienden bilden, was anhand der verschiedenen Weisen des Selbst- und Weltbezugs verdeutlicht wurde. Jedoch sind diese auch bei gelungener Entwicklung mangelhaft, weil der Mensch nicht nur zur Freiheit im Sinne der geistigen Distanzierung und darüber zur Aneignung der Welt bestimmt ist, sondern sich dieses Prinzip selbst zum Zweck setzen muss. Der Fortschritt ist darin zu sehen, wie der Nachvollzug der Hegelschen Analyse ergeben hat, dass der Wille nicht bei seiner leeren Unbestimmtheit stehenbleibt. Gerade durch die Beschränkung auf einen bestimmten Inhalt wird der Mensch zum Subjekt. Jedoch muss die Besonderung des Ich darüber hinausgehen; es handelt sich im Idealfall nicht um einen Entwicklungsprozess mit offenem Telos, sondern was sich der Mensch bei gelungener Selbstund Weltaneignung zum Inhalt setzt, ist vorgegeben. Die Festlegung auf etwas Beliebiges im Alltag stellt nämlich nicht nur eine Entwicklung dar, sondern bindet den Menschen zugleich an etwas ihm Äußeres; in diesem Sinne ist die Willensbestim-
35 Meines Erachtens ist Rawls’ Deutung an dieser Stelle nicht zutreffend. Er teilt die Interpretation, den Willen, der die Freiheit will, als zentrale politische Bestimmung zu verstehen (vgl. Rawls 2002, S. 434 ff.), negiert jedoch, dass die Hegelsche Analyse den individuellen Willen zum Gegenstand hat mit dem Hinweis darauf, dass es sich um den Begriff des freien Willens handeln würde, der sich über Generationen hinweg erst entwickelt (vgl. ebd., S. 436 f.). Diese Entgegensetzung ist meines Erachtens nicht schlüssig: Selbstverständlich ist alleine das einzelne Subjekt Träger des Willens, auch wenn sich das Bewusstsein der Freiheit im Laufe der Geschichte fortentwickelt.
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mung „zunächst unmittelbar“ (GPR, § 10) und der Wille selbst „nur an sich frei“ (ebd.).36 Er ist das also seiner anthropologischen Bestimmung nach, aber diese Potenz hat noch keine Realität erlangt. Verwirklicht wird sie, wenn sich der Mensch von der Zufälligkeit eines gewählten Inhalts löst und die Freiheit an sich will: Dann wird er für sich, was das Subjekt seiner Bestimmung nach ist, „indem der Wille sich selbst zum Gegenstand hat“ (ebd.). Wie ist dies zu verstehen, „ein freie[r] Wille, der den freien Willen will“ (GPR, § 27) bzw. dass das Telos der Entwicklung darin zu sehen ist, „daß also die Freiheit die Freiheit wolle“ (GPR, § 21, Zus.)? Meiner Deutung zufolge markiert dies den Punkt, an dem die Hegelsche Elementarbestimmung des Menschen als genuin politische zu deuten ist. Die Tatsache der Willensfreiheit stellt für Hegel eine politische Bestimmung dar, insofern in ihr begründet liegt, weswegen der Mensch in eine Rechtsordnung und genauer in einem Staat leben muss, um seinem Begriff gerecht zu werden bzw. sich verwirklichen zu können (vgl. auch Göran 1977, S. 106). Dass er diese politische Anthropologie vertritt, wird unmittelbar in seinen Ausführungen über das Recht deutlich, bei denen er auf den Willen als dessen Basis zu sprechen kommt: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“ (GPR, § 4)
Das Rechtssystem ist nichts, was dem Volk äußerlich als Zwang gegenübertritt,37 sondern es stellt die Ausbuchstabierung der Freiheit dar und ist damit dem mit Willen und Bewusstsein begabten Menschen adäquat.38 Dass es dieses Passungsver-
36 Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, dass mit einem bestimmten Willensinhalt die Negation der Freiheit einhergeht; allein dem Menschen kommt die Fähigkeit zu, sich einen Inhalt zu setzen und gerade durch diese Beschränkung, bspw. selbst bei der Wahl eines Triebes zum eigenen Zweck, frei zu sein. Dieses herausgearbeitete Charakteristikum wird also nicht ex post von Hegel negiert; mangelhaft ist dieser Prozess allein gemessen an der Freiheit an sich, die dem Philosophen zufolge bei der höchsten Verwirklichung der menschlichen differentia specifica zum Willensinhalt werden muss. 37 Im nächsten Kapitel wird deutlich werden, dass das Recht den Menschen auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft durchaus als äußeres Zwangsrecht erscheint; dies stellt jedoch keinen Einwand dar, da die Wahrnehmung von der Bestimmung der Sache getrennt und diese Ansicht von den Subjekten selbst überwunden werden muss. 38 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass diese Argumentation keinesfalls die Rechtfertigung eines jeglichen Rechts intendiert; wie Hegel später aus-
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hältnis gibt, ist kein Zufall – das Recht wird von den freien Subjekten selbst hervorgebracht, ihre Freiheit gießt sich also in Rechtsform, sodass das System der Gesetze dem Inhalt nach verwirklichte Freiheit ist. Und weil es das ist, so die andere Seite der Adäquanz, kann es als zweite Natur der Subjekte bezeichnet werden; sie sind also an sich zoon politikon und schaffen dementsprechend eine Welt, die ihrer Natur gemäß ist. Bei dieser ersten grundlegenden Behauptung, die Hegel vor seiner Analyse des Willens aufstellt, geht er offenbar bereits vom Willen, der seine Freiheit will, aus: Von dem Willen, wie er zuvor bestimmt wurde, der also nicht determiniert ist und sich Beliebiges zum Inhalt setzt, kann kaum darauf geschlossen werden, dass er Gesetze hervorbringt und die von ihm hervorgebrachten Gesetze ein Reich der Freiheit darstellen; die These ist nur dann haltbar, wenn man bereits voraussetzt, dass die Rechtsetzenden selbst das Interesse haben, das Prinzip Freiheit in Rechtsform zu verwirklichen. Dass der Wille die politische Freiheit zum Inhalt hat, lässt sich als Rückschluss aus dem angegebenen Passungsverhältnis genauer fassen. Ausgeschlossen ist damit eine Vorstellung, die Freiheit als Rückfall auf den rein unbestimmten Willen, wie er beispielsweise in der Meditation auftritt, interpretiert Die Freiheit zu wollen, bedeutet nicht, dass sich der Wille von jedem Konkreten frei macht und in dieser Absage seine Freiheit findet. Auch zeugt es Hegel zufolge von einem „gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens“ (GPR, § 14, Anm.) zu meinen, dass Willkür bzw. zu tun und zu lassen, was man will, Substanz der Freiheit ist. Die „Hauptthese Hegels“, „[d]aß sich der freie Wille selbst als freien Willen will“ (Rawls 2002, S. 450), bringt vielmehr zum Ausdruck, dass der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst als zur Freiheit bestimmt entwickelt und deswegen zu der Einsicht gelangt, dass er seiner differentia specifica in der Welt Geltung verleihen muss. An diesem Springpunkt seiner politischen Philosophie verknüpfen sich also die beiden Elementarbestimmungen: Es ist „die Tätigkeit des Denkens“ (GPR, § 21, Anm.), durch die „der für sich freie Wille“ (GPR, § 21), sprich also die Freiheit als von dem Menschen gewusste Substanz, zur Existenz gebracht wird. Im Vergleich zum Sklaven verdeutlicht Hegel diese Bestimmung: „Hier ist der Punkt, auf welchem es erhellt, daß der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freier Wille ist. Der Sklave weiß nicht sein Wesen, seine Unendlichkeit, die Freiheit, er weiß sich nicht als Wesen, – und er weiß sich so nicht, das ist, er denkt sich nicht. Dies Selbstbewußtsein, das durch das Denken sich als Wesen erfaßt und damit eben sich von dem
führt, ist hier nicht an den „Formalismus des Rechts“ (GPR, § 30) zu denken, sondern allein an dasjenige, das seinen Prinzipien nach Freiheit verwirklicht, also „höheres Recht“ (ebd.) ist.
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Zufälligen und Unwahren abtut, macht das Prinzip des Rechts, der Moralität und aller Sittlichkeit aus.“ (GPR, § 21, Anm.)
Die Freiheit als Willensinhalt zu setzen, ist nur dann möglich, wenn man um seine Besonderheit als Mensch weiß; ohne diesen elementaren Schritt der Selbsterkenntnis kann sich der Mensch zwar entsprechend der Bestimmung als freiem Wesen Zwecke setzen und diese realisierten, zu wahrhafter Freiheit, die dem Begriff dieser entspricht, vermag er jedoch nicht zu kommen. Sich selbst zu erkennen, was Hegel gleichsetzt mit der Erkenntnis des Wesens des Menschen, heißt also, dass man sich als denkend sowie frei und darin als dazu bestimmt versteht, die Freiheit an sich zu wollen. Und hieraus wiederum ergibt sich dem Philosophen zufolge, dass man sie sich nicht nur ideell zum Zwecke setzt, sondern sie verwirklichen will, die Selbsterkenntnis also mit der Selbstverwirklichung einhergeht. Insgesamt handelt es sich hier also um drei Stufen: Die Freiheit ist an-sich-seiende Bestimmung des Menschen und das, was dem Begriff nach ist, wird für sich, wenn der Mensch konträr zum Sklaven ein Bewusstsein von dieser seiner differentia specifica erlangt. Ein „an und für sich seiende[r] Wille“ (GPR, § 22) wird er erst dann, wenn dieses Wissen nicht nur im Subjekt als „bloße Möglichkeit, Anlage, Vermögen (potentia)“ (ebd.), sondern als „Dasein des Begriffs“ (ebd.) Wirklichkeit wird. An diesem Punkt der Analyse ist die Textstelle der Adäquanz von Willen und Recht eingeholt: Diese Übersetzungsleistung, die allgemein als Aufhebung des Widerspruchs von Subjektivität und Objektivität gekennzeichnet wurde, verweist auf das Rechtssystem als Reich der Freiheit. Weil der Mensch einen Willen hat, kommt er denkend dazu, die Freiheit an sich zu wollen, und dieses theoretische Verhalten schließt ein, dass es praktisch werden möchte; das Subjekt muss bei seinem Prozess der Selbstaneignung den Blick also in die objektive Welt richten. Dabei stößt es auf ein Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit: Zum einen ist das Recht Voraussetzung für Selbstverwirklichung (vgl. GPR, § 29) in dem Sinne, dass der Mensch Hegel zufolge in einem Rechtsstaat, in dem das Prinzip der Freiheit in Gesetzesform gegossen ist, leben muss, damit er frei sein kann. 39 Der Sklave, der praktisch zu einem Unfreien gemacht wurde, wusste nichts von seiner an-sich-seienden Bestimmung; sie hatte keine Wirklichkeit und damit lag der Gedanke, eigentlich frei zu sein, fern. Umgekehrt ist die Existenz einer Rechtsstruktur daran gebunden, dass sich der Mensch als zur Freiheit bestimmt erkennt und dieser in der Welt Realität
39 „Hegel bestreitet es, daß die menschliche Freiheit unabhängig vom angemessenen sozialen Rahmen zur Gänze verwirklicht werden kann. Nur in einer rationalen (vernünftigen) sozialen Welt – in einer Welt, die aufgrund der Struktur ihrer Institutionen unsere Freiheit verbürgt – können wir ein völlig rationales und gutes Leben führen.“ (Rawls 2002, S. 429)
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verleihen möchte; Gesetze sind selbstredend immer gemacht und insofern ist deren Inhalt abhängig von der Intention der Gesetzgeber. Haben diese den ersten Schritt der Selbsterkenntnis nicht vollzogen, kann es zwar Gesetze in Form des Rechts, nicht jedoch den einzig ihnen adäquaten Inhalt geben. Was bedeutet es nun genauer, dass sich der Inhalt des Rechts dem Willen, der seine eigene Freiheit möchte, verdankt? Die erste Ausbuchstabierung der Freiheit besteht für Hegel in dem Recht auf Eigentum: „Der freie Wille muß sich zunächst, um nicht abstrakt zu bleiben, ein Dasein geben, und das erste sinnliche Material dieses Daseins sind die Sachen, das heißt die äußeren Dinge. Diese erste Weise der Freiheit ist die, welche wir als Eigentum kennen sollen“ (GPR. § 33, Zus.). Der Mensch fasst Vorhaben und bedarf eines Stoffes, den er zum Material seines Willens machen kann, um seine Intention verwirklichen zu können. Aus diesem Faktum menschlichen Lebens, das sich aus dem Willen ergibt, leitet Hegel ab, dass der äußere Stoff in Form des Privateigentums vorliegen sollte; allein wenn das Material des Willens also exklusiv einem Menschen zugerechnet werden kann, findet er eine seinem Begriff adäquate Ausdrucksweise vor.40 Die erste Erscheinungsweise des Eigentums stellt die Inbesitznahme des Körpers dar, wovon bislang allein die Seite der geistigen Aneignung (vgl. Kapitel 2.1.2), nicht jedoch die objektive Voraussetzung dessen betrachtet wurde: Hegel zufolge hat ein Mensch seinen Körper „wie andere Sachen“, aber „nur, insofern es mein Wille ist“ (GPR, § 47), was beim Tier nicht der Fall ist, als es ihm nicht möglich ist, sich selbst zu verstümmeln oder umzubringen (ebd., Anm.).41 Der Mensch als freies Wesen kann sich bewusst dazu entscheiden, sich seinen Körper anzueignen, und damit kann er sich umgekehrt auch gegen das Leben richten; in diesem Sinne ist das Verhältnis zum Körper „die erste Sphäre der manifestierten Willensfreiheit“ (Kloc-Konkolowicz, in: Asmuth 2007, S. 390). Im ersten Fall entsteht Hegel zufolge ein rechtliches Verhältnis, nämlich das einer Person, das über ihre Physis als ihr Privateigentum verfügt. Auch an diesem elementaren Beispiel wird also deutlich, dass die Möglichkeit einer Rechtsstruktur untrennbar mit dem Willen verbunden ist: Nur, wo ein Bewusstsein exis-
40 Nebenbei sei hier bemerkt, dass der Schluss Hegels von der Notwendigkeit, dass der Wille ein Material zu seiner Realisierung vorfindet, auf das Eigentumsrecht als adäquate Form fraglich erscheint. Weswegen verbindet sich mit der Möglichkeit, seine Intention zu materialisieren, eine exklusive Zurechnung des Stoffes? Inwieweit das Eigentum den von Hegel vorgesehenen Zweck erfüllen kann, ist Gegenstand des nächsten Kapitels. 41 „In diesem Elemente des Willens liegt, daß ich mich von allem losmachen, alle Zwecke aufgeben, von allem abstrahieren kann. Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen; das Tier kann dieses nicht; es bleibt immer nur negativ; in einer ihm fremden Bestimmung, an die es sich nur gewöhnt.“ (GPR, § 5, Zus.)
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tiert, das sich frei für oder gegen etwas zu entscheiden vermag, kann es bürgerliches Recht geben. Das Recht als staatliches Ordnungsprinzip hat seine Voraussetzung dieser Argumentation zufolge in der Konstitution des Menschen; wenn sich dieser seinen Körper aneignet, wird er zum Privateigentümer seiner selbst (vgl. auch GPR, § 57) und legt somit die grundlegende Bedingung für das Bürger-Sein, da sich ohne physische Existenz selbstredend kein Volk konstituieren bzw. kein Staat bilden kann. Umgekehrt – gemäß der aus der Logik bekannten dialektischen Struktur der wechselseitigen Bedingtheit von Einzelnem und Allgemeinem – ist das Subjekt auch auf eine entsprechende Ordnung verwiesen, um Eigentümer seiner selbst sein zu können.42 Hier geht es nun nicht darum, im Vorgriff auf den objektiven Geist Charakteristika des Eigentums zu erschließen, sondern letzteres interessiert allein unter dem Aspekt, dass es dem Philosophen zufolge eine notwendige Institution relativ zur Tatsache des Willens darstellt: Ein mit Denken und Willen begabtes Subjekt kann sich nur dann verwirklichen, wenn es in einem Staat lebt, in dem das Eigentum gilt. Das Recht und genauer die Institution des Eigentums sowie im Folgenden Vertrag, Person und sämtliche gesellschaftlich-politischen Momente, die im nächsten Kapitel analysiert werden, leitet Hegel aus dem Faktum der menschlichen Willensfreiheit und damit aus der Bestimmung des Menschseins an sich ab (vgl. auch Eichenseer 1986, S. 117 sowie S. 120).43 Insofern handelt es sich Hegel zufolge um das einzig mögliche gesellschaftliche System, das dem Begriff des Menschen gerecht wird und bei gelungener Welteinrichtung Ausfluss der Menschennatur darstellt. In diesem Sinn vertritt Hegel also eine politische Anthropologie: Ein Wille, der sich denkend dazu emporarbeitet, Denken und Willen als Elementarbestimmungen des Menschen zu erkennen, muss dahin gelangen, sich die Freiheit selbst zum Inhalt zu setzen. Dies bedeutet, dass theoretisches und praktisches Verhalten als differentia specifica des Menschen eine fundamentale politische Bedeutung haben, aus der sich
42 Hieraus ergibt sich ein Argument gegen den Vorwurf, das Individuum sei reine Akzidenz des Staates: Dem Menschen ist Hegel zufolge aufgrund seiner natürlichen Ausstattung, genauer der Aneignung des Körpers als Eigentum, eine entsprechende staatliche Struktur adäquat. So existiert also ein wechselseitiges Verhältnis der Entsprechung bzw. ist umgekehrt ein Staat abzulehnen, wenn er der menschlichen Konstitution nicht entspricht. Anders gesagt wird hier die Legitimität eines Staates an eine Bedingung geknüpft, die jedes Gemeinwesen in den vernünftigen Individuen hat – eine gänzliche Maßstabslosigkeit gegenüber jeglichen staatlichen Gebilden ist somit ausgeschlossen. 43 „Zweifellos ist der Mensch für Hegel ein ‚zoon politikon‘, ein Lebewesen, das seine Fähigkeiten nur in einer Polis, einer Rechts- und Entscheidungsgemeinschaft freier Bürger, verwirklichen kann.“ (Siep, in: Höffe 1992a, S. 110)
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seinem Anspruch nach die im Kapitel über den objektiven Geist zu untersuchenden gesellschaftlich-politischen Einrichtungen ableiten lassen.
2.3 RESULTATE UND ÜBERGANG: DIE REALISIERUNG DES TRIEBS DER PERFEKTIBILITÄT ALS POLITISCHPHILOSOPHISCHE AUFGABE Selbsterkenntnis als absolutes Gebot heißt für Hegel, dass der Einzelne sich dessen bewusst wird, dass er Träger der Vernunft und damit einer überindividuellen Eigenschaft ist, die ihn mit den anderen Angehörigen seiner Gattung verbindet. 44 Der Prozess dieser Erkenntnis stellt eine Entwicklung dar, in der der Mensch sich selbst sowie die Welt geistig und praktisch aneignet: Weil er denkend und mit Willen begabt ist, hat er die Freiheit, sich in Auseinandersetzung mit seinem eigenen Körper, seinen Empfindungen, der Natur und seiner belebten Umwelt zu einem Subjekt zu bilden; im Gegensatz zum vegetabilischen und animalischen Leben verliert er sich nicht im Verhältnis zu Äußerem. Durch deren geistige Durchdringung und die Umsetzung seiner Vorhaben in die Tat erfüllt er den ihm als Menschen zukommenden Bildungsauftrag. Dass es sich hierbei überhaupt um eine Aufgabe handelt, die Verwirklichung seines Begriffes ihm also nicht in die Wiege gelegt ist, ergibt sich aus dem Faktum der Freiheit; die Möglichkeit, am absoluten Gebot zu scheitern, ist insofern darin eingeschlossen. Inhaltlich liegt der Bildungsauftrag darin begründet, dass der Mensch keineswegs ein reines Vernunftwesen ist, das sich denkend die Welt aneignet und sie nach seinen Zwecken formt. Er ist vielmehr eine Amphibie, „indem er nun in zwei Welten zu leben hat, die sich widersprechen [...]. Denn einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von dem Bedürfnis und der Not bedrückt, von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnliche Zwecke und deren Genuß verstrickt, in Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen [...].“ (VÄ I, S. 81)
Inwieweit der Mensch lernen kann, mit dieser Zwiespältigkeit umzugehen, wurde an mehreren Erscheinungsformen des Widerspruchs verdeutlicht: Der Mensch kann sich Empfindungen etc. aneignen und in ihnen frei sein, indem er sich von ihnen distanziert, sie zum Gegenstand der denkenden Betrachtung macht und sie darüber
44 „[D]er einzelne Mensch ist als Selbstbewusstsein in der Lage, zu begreifen, dass er als einzelnes Selbstbewusstsein zugleich allgemeines Selbstbewusstsein, Gattung ist.“ (Bockenheimer 2013, S. 28.)
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zu beherrschen vermag. Am Beispiel der Naturaneignung wird deutlich, dass dies nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Verhalten erfordert: Die „Vermeinigung“ erfolgt nicht nur im Geiste, sondern durch das Umsetzen des Willens kann sich der Mensch seine Umwelt ganz praktisch gemäß machen; insofern ist der Prozess der Selbsterkenntnis also auch einer der Selbstverwirklichung. Dieses Tun des absoluten Idealismus führt nie dazu, dass der Mensch aufhört, an der Schnittstelle von Natur und Geist zu sein, aber er vermag es, diese Widersprüche auf einer höheren Ebene aufzuheben und insofern den Kontakt mit dem seiner Vernunft Äußerlichen zu einer Freiheitsgenese zu entwickeln. Dieser Weg zur Selbsterkenntnis lässt sich als Realisierung des „Trieb[s] der Perfektibilität“ (VPG, S. 74) kennzeichnen. In diesem scheinbar paradoxen Begriff bringt Hegel die Doppelnatur des Menschen zum Ausdruck: Er ist ein natürliches Wesen, hat als solches Triebe, darüber hinausgehend jedoch auch – in Abgrenzung zum animalischen Organismus – einen Trieb zur Entwicklung seiner selbst. Diesem nachzukommen, ist nicht instinktiv zu leisten, sondern erfordert die Distanzierung vom natürlichen Ausgangspunkt und das bewusste Emporarbeiten zur Vernunft. Da diese Vernunft eine überindividuelle Eigenschaft darstellt, erfolgt die Ontogenese nicht im „luftleeren“ Raum; vielmehr gehört dazu immer auch, dass der Einzelne bei seinem individuellen Prozess bereits auf eine Geschichte der Vernunft zurückblicken kann, sich diese aneignet und schließlich fortentwickelt: „Der Einzelne muß auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist; so sehen wir in Ansehung der Kenntnisse das, was in früheren Zeitaltern den reifen Geist der Männer beschäftigte, zu Kenntnissen, Übungen und selbst Spielen des Knabenalters herabgesunken und werden in dem pädagogischen Fortschreiten die wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der Bildung der Welt erkennen. Dies vergangene Dasein ist bereits erworbenes Eigentum des allgemeinen Geistes, der die Substanz des Individuums und so ihm äußerlich erscheinend seine unorganische Natur ausmacht. – Die Bildung in dieser Rücksicht besteht, von der Seite des Individuums aus betrachtet, darin, daß es dies Vorhandene erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme. Dies ist aber von der Seite des allgemeinen Geistes als der Substanz nichts anderes, als daß diese sich ihr Selbstbewußtsein gibt, ihr Werden und ihre Reflexion in sich hervorbringt.“ (PdG, S. 32)
Die Vernunft bzw. die Allgemeinheit ist also dialektisch bestimmt: Indem der Mensch sich als vernünftiges Wesen und alle anderen Angehörigen seiner Gattung als solche begreift, wird die Vernunft als an-sich-seiende Bestimmung des Menschen, die also einerseits als Potenz bereits ist, für sich erst verwirklicht. Der Einzelne arbeitet sich in seiner Ontogenese zu dieser Erkenntnis empor und begreift dadurch zugleich, dass die Vernunft überindividuell ist, sprich nicht nur von ihm
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hervorgebracht wird, sondern ebenfalls auch unabhängig von ihm als allgemeiner Geist existiert. An der Vernunft ausgedrückt bedeutet dies, dass ihr nur Realität zukommt, wenn das Individuum sich ihrer bewusst ist, sie zugleich jedoch auch ein selbstständiges, überindividuelles Subjekt darstellt:45 „Das Denken, als dies für sich selbst seiende Allgemeine, ist das Unsterbliche“ (Enz. II, § 376, Zus.). Diese Geschichte der Vernunft charakterisiert der Philosoph an anderer Stelle wie folgt:46 „Die Schöpfung ist aber ewig; sie ist nicht einmal gewesen, sondern sie bringt sich ewig hervor, da die unendliche Schöpferkraft der Idee perennierende Tätigkeit ist. In der Natur sehen wir also das Allgemeine nicht entstehen; d. i. das Allgemeine der Natur hat keine Geschichte. Wissenschaft, Verfassung usw. haben dagegen eine Geschichte, denn sie sind das Allgemeine im Geiste.“ (Enz. II, § 339, Zus.; vgl. auch PdG, S. 225)
Die Schöpfung, wie die Geschichte hier mit religiösem Terminus bezeichnet wird, ist nicht einmal entstanden und damit abgeschlossen oder nicht ständig vergehend und neu entstehend, wie das in der Natur der Fall ist; letztere bringt es insofern weder zu einem Allgemeinen noch zu einer Geschichte dessen. Der Mensch hingegen vermag sich als Teil eines Allgemeinen zu begreifen und dieses wird über Generationen hinweg immer wieder neu erkannt, entwickelt und damit auch überhaupt erst erzeugt. Insofern ist die Geschichte der Vernunft nicht abgeschlossen, sondern sie bringt sich als eine Art prozessierenden Entstehens immer wieder hervor. Der
45 Schnädelbach diskutiert im Sinne der Gefahr, den Geist als autonomes, metaphysisches Subjekt aufzufassen bzw. dessen erste Bestimmung als durch die Individuen Hervorgebrachen zu übersehen, den Vorschlag der Ersetzung des Wortes „Geist“ durch „Kultur“, die Kunst, Religion und Wissenschaft bzw. Philosophie umfasst (vgl. Schnädelbach 1999, S. 115 ff.) und sich für heutige Ohren vermutlich vertrauter als die „Geist“Terminologie anhört. 46 Diese ist gleichbedeutend mit der Geschichte bzw. dem Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, wie auch Ritter ausführt: „Hegel kann daher die Substanz, die Geschichte zur Weltgeschichte macht, sowohl als Geist, wie als Vernunft [...] bezeichnen, aber er kann auch beide Begriffe durch Freiheit ersetzen, weil Freiheit die geschichtliche Verwirklichung des Geistes und so der auf diese Verwirklichung verwiesene Vernunft ist“ (Ritter 1956, S. 222 sowie S. 247 f.). Damit wird auch deutlich, dass „Weltgeschichte“ – analog zum Begriff der Wirklichkeit in Abgrenzung zur Realität – nicht einfach jegliches historische Ereignis bezeichnet, sondern nur denjenigen Teil der Geschichte, der als vernünftig zu bezeichnen ist: „Die Einheit von Freiheit und Menschsein ist für Hegel auch das Prinzip der Weltgeschichte; das hat den sehr genauen Sinn, daß Geschichte dann zur Weltgeschichte wird, wenn sie den Menschen im Sinn seines Menschseins zu ihrem Subjekt hat.“ (Ritter 1956, S. 199; vgl. dagegen Popper 2003, S. 79)
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Mensch als an-sich Vernünftiger ist Teil dieser Phylogenese; er eignet sich die Erkenntnisse durch seinen individuellen Entwicklungsprozess an und schreibt diese Geschichte durch sein eigenes geistiges Tun zugleich fort. „Insofern der Mensch auch natürliches Wesen ist, ist er selbstredend endlich, also sterblich. Er ist jedoch auch ein soziales und geistiges Wesen; als solches ist er unendlich“ (Wahsner 2006, S. 236; vgl. auch Taylor 1983, S. 435).47 Dies zu begreifen, ist Teil des Bildungsauftrages, den Hegel mit dem absoluten Gebot der Selbsterkenntnis formuliert. Wie bereits eingangs formuliert, wird dem Einzelnen mit dieser Vorgabe kein Anspruch aufgemacht, dem er von außen subsumiert wird. Vielmehr ist dieser Prozess das Hervorbringen der allgemeinen, aber ebenso auch seiner Vernunft. „[D]er Verlauf der Geschichte ist es, welcher uns nicht das Werden fremder Dinge, sondern dies unser Werden, das Werden unserer Wissenschaft darstellt.“ (VGP, S. 22)48 Inwiefern die Willensbestimmung nicht nur als philosophische, sondern auch als genuin politische zu verstehen ist, wurde bereits gezeigt und soll nochmals kurz in Erinnerung gerufen werden, weil sich hieraus auch die Notwendigkeit des Übergangs in den objektiven Geist ergibt. Der Bildungsauftrag, mit dem der Mensch durch das absolute Gebot der Selbsterkenntnis ausgestattet wird, stellt keinen rein formellen dar in dem Sinne, dass der Einzelne seinen Geist und damit auch sein reflektiertes Tun entwickeln soll; diese Selbstkultivierung ist durchaus auch gemeint, wie dies die behandelten Erscheinungsformen gezeigt haben. Darüber hinausgehend jedoch benennt der Philosoph auch ein konkretes „Wohin“ der Bildung: Wenn man sich als freies Subjekt begreift, folgt daraus nicht nur ein allgemeines Bemühen um geistige und praktische Selbst- und Weltaneignung, sondern das Subjekt sollte auch dahin gelangen, die Freiheit selbst im theoretischen und praktischen Sinn zu wollen. Dies bedeutet für das Individuum, dass es begreift, dem anthropologischen Postulat nur dann nachkommen zu können, wenn es in einer Welt lebt, deren Gestaltungs-
47 In moderner Begrifflichkeit gefasst könnte man dies als Kulturgeschichte der Menschheit bezeichnen, was keineswegs notwendigerweise metaphysisch gedacht werden muss (vgl. hingegen Siep, in: Höffe 1992a, S. 130), sondern sich als Traditionsbestand an Wissen und Fähigkeiten fassen lässt. 48 Dabei stellt dieses Moment des absoluten Gebots – das auch in dem Zitat über den Charakter der Amphibie mit den „ewigen Ideen“, zu denen es der Mensch bringt, angesprochen wurde – einen Aspekt dar, der bislang ausgeblendet wurde und erst am Ende dieser Arbeit wieder aufgegriffen wird: Das Emporarbeiten zur Vernunft ist noch nicht damit abgeschlossen, dass sich der Mensch als Freier begreift, sondern es erfordert ein freies Denken, das in Gänze erst vom Philosophen erbracht wird. Was diese Tätigkeit, die Geschichte der Vernunft zu erfassen, auch im Hinblick auf Selbstverwirklichung im Allgemeinen bedeutet, wird zu analysieren sein; an dieser Stelle soll festgehalten werden, dass die differentia specifica also auch eine philosophische Bestimmung darstellt.
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prinzip Freiheit ist; das Leben in einem freiheitlichen Rechtsstaat, in dem es als über Eigentum verfügende Person anerkannt wird, stellt also eine äußere notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Gelingens seines individuellen Prozesses dar. Zum einen wird das Subjekt also auf eine externe Voraussetzung verwiesen, zum anderen ergibt sich daraus auch, dass es sich als staatliches Wesen praktisch darum bemüht, sein Gemeinwesen nach den Prinzipien der Freiheit zu gestalten: „Zur Idee der Freiheit gehört dagegen, daß der Wille seinen Begriff, die Freiheit selber, zu seinem Inhalte und Zwecke macht. Wenn er dies tut, wird er objektiver Geist, baut sich eine Welt seiner Freiheit auf und gibt somit seinem wahrhaften Inhalte ein selbstständiges Dasein. Zu diesem Ziele gelangt aber der Wille nur dadurch, daß er seine Einzelheit abarbeitet, daß er seine in dieser nur an sich seiende Allgemeinheit zum an und für sich allgemeinen Inhalt entwickelt.“ (Enz. III, § 469, Zus.)
Die gelungene Selbsterkenntnis vorausgesetzt, muss der Mensch also notwendigerweise einen Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist machen; die Selbsterkenntnis ist gleichbedeutend damit, dass er den Verhältnissen auch die Freiheit einzuschreiben versucht, um als zoon politikon in einer ihm adäquaten Welt zu leben, die seine Entwicklung zulässt und fördert. Die äußeren Gegebenheiten braucht der Mensch für seine eigene Selbstverwirklichung und diese bringt er durch sein Tun zugleich immer auch hervor. Die Betrachtung der unterschiedlichen Formen des Allgemeinen, die Hegel zufolge neben der natürlichen Allgemeinheit im Reich des Geistes existieren und kontinuierlich erzeugt werden, spezifiziert also zugleich den geistigen Weg, den das Individuum bei seiner Entwicklung zum Subjekt vor sich hat. Durch die Analyse der gesellschaftlich-politischen Welt, also der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, wird deutlich, wie sich der Einzelne zu einem allgemeinen Ich bilden kann. Es gilt nun also das, was bislang mit dem Eigentum nur angedeutet wurde, nämlich die konkreten gesellschaftlich-politischen Institutionen zu entwickeln, die sich Hegel zufolge aus der Willensfreiheit ergeben: Wie wird der Wille wahrhaft frei oder wie kann der Mensch seinen Begriff als an-und-für-sichseiende Vernunft und damit als allgemeines Ich realisieren?
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Das allgemeine Ich auf der Ebene des objektiven Geistes: die Emergenz der Armut als ökonomisch-politisches Problem
Die Notwendigkeit des Nachvollzugs der Allgemeinheit auf der Ebene des objektiven Geistes ergibt sich, wie dargelegt, Hegel zufolge aus der politischen Qualität menschlicher Willensfreiheit.1 Nachdem das Individuum in der Sphäre des subjektiven Geistes „zunächst nur in die Absolutheit der leiblichen und geistigen Individualität versenkt [ist, I. S.], die das konkrete Ich als Allgemeines ist“ (Topp 1982, S. 160), bedarf es des Übergangs in die Realität. In den gesellschaftlich-politischen Einrichtungen kommt „die Freiheit, das Wissen des Geistes von sich als freiem zum Dasein“ (Enz. III, § 385, Zus.). Selbstverwirklichung ist nicht nur allein eine Frage der Geistesanstrengung im Sinne einer individuellen Bildung, die sich in der inneren Welt des Menschen abspielt, sondern der Einzelne ist hierbei ganz praktisch darauf verwiesen, dass er in einem Umfeld lebt, in dem er sich als gesellschaftliches und politisches Wesen realisieren kann; schließlich „muß geistige Wirklichkeit äußerlich in Raum und Zeit verwirklicht werden“ (Taylor 1983, S. 478). Menschen sind per definitionem frei, aber an-und-für-sich zu werden, was sie an-sich sind, erfordert, dass sie ein Bewusstsein ihrer Freiheit entwickeln und aber ebenso, dass sie entsprechende Institutionen etc. in ihrer Umgebung vorfinden: „Daß der Mensch frei werde, dazu gehört also eine freie Welt“ (WHGPR, § 29, S. 228). Und zugleich – dies hat sich als Wechselverhältnis bereits im letzten Kapitel gezeigt – stehen ihm diese Ausprägungen des objektiven Geistes nicht einfach gegenüber, sondern sie
1
Im folgenden Kapitel werden sowohl der dritte Teil der Enzyklopädie sowie die Grundlinien der Philosophie des Rechts im Mittelpunkt der Erörterung stehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die inhaltlichen Bestimmungen der beiden Werke im Wesentlichen entsprechen. Hegel selbst verweist darauf, dass er sich zum Thema des objektiven Geistes in der Enzyklopädie kurz halten könne, da dieses bereits in den Grundlinien von ihm ausgeführt worden sei (vgl. Enz. III, § 487).
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werden auch von ihm und seinesgleichen erzeugt und weiterentwickelt (vgl. auch Fetscher 1970, S. 223). Hegel drückt dies aus als eine „von ihm [dem Geist, I. S.] hervorzubringende und hervorgebrachte[] Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“ (Enz. III, § 385), wobei Geist hier nicht nur das einzelne Subjekt meint, sondern auch die Gesamtheit der Menschen, die diese ihnen gemäße Welt hervorbringen. Objektiver Geist drückt ebendieses Verhältnis aus, dass der Gegenstand einerseits die Wirklichkeit ist und diese einen durch den Geist im Sinne einer Ontogenese und Phylogenese erzeugte ist. Adäquat ist der Mensch dieser Welt, wie zuletzt gesehen, wenn „der Wille nicht subjektive[n], d. i. eigensüchtigen, sondern allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken hat“ (Enz. III, § 469, Anm.) – dies die erste Bedeutung von „Objektivität“ (vgl. auch Enz. III, § 474); umgekehrt, so die zweite Seite der geforderten Objektivität, ist die Welt dem Menschen gemäß, wenn die Freiheit das in ihr herrschende Prinzip ist. Hierzu muss sie, die „selbst zunächst nur Begriff, Prinzip des Geistes und des Herzens“ ist, sich zur Gegenständlichkeit entwickeln, „zur rechtlichen, sittlichen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit“ (Enz. III, § 482, Anm.).2 Dabei stellt dies keine Selbstverständlichkeit dar, sondern ist im zweifachen Sinne eine Aufgabe an das Subjekt: Zunächst erscheint ihm die Realität als ihm gegenüberstehende und damit fremde; er hat sie schließlich nicht selbst hervorgebracht, findet sich vielmehr in sie gesetzt; wie dies bereits für die natürliche Umwelt und seine Leidenschaften entwickelt wurde, stellt sich die Anforderung der geistigen und praktischen Selbst- und Weltaneignung nun also auch für die gesellschaftlich-politischen Institutionen. Was zunächst als Entzweiung erscheint, muss vom Menschen geistig angeeignet werden, und dieses Finden der Vernunft in der Objektivität erfordert zugleich, dass er diese selbst (mit-)hervorbringt. Während mit der Wissenschaft als vollendeter Stufe der verwirklichten Freiheit bereits die Sphäre des absoluten Geistes angesprochen ist (vgl. Kapitel 4), sollen die rechtliche und sittliche Seite im Folgenden Gegenstand der Analyse sein: Welche Prinzipien werden vom Hegelschen Staat in Rechtsform gegossen, durch die sich der Einzelne zu verwirklichen vermag? Welche Voraussetzungen hat dieser Prozess der Selbsterkenntnis des Geistes in der Objektivität und ist es allen Individuen möglich, dieses von Hegel postulierte Gebot und damit also auch die Versöhnung mit sich und der Welt zu realisieren? Dieses Kapitel stellt systematisch die Stelle dar, an der das Problem der Armut zu verorten ist. Denn obwohl diese Arbeit dem Titel zufolge nicht nur Selbstverwirklichung, sondern auch Armut zum zweiten zentralen Gegenstand hat, war bislang davon im Nachvollzug der Hegelschen Gedanken keine Rede. Meines Erach-
2
Auch hierdurch ergibt sich ein Argument gegen die Auslegung, die Hegel einen ethischen und juridischen Positivismus bzw. Maßstabslosigkeit zuspricht (vgl. auch Enz. III, § 484).
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tens ist dies logisch notwendig: Wie dargelegt, stellt das absolute Gebot der Selbsterkenntnis und damit Selbstverwirklichung ein anthropologisches Postulat dar, das sich also an jeden Menschen als solchen richtet. Es zeichnet Hegel aus, dass er hier keinerlei Abstufungen historisch-gesellschaftlicher, schichtspezifischer, biologischer, religiöser oder anderer Art vornimmt, sondern jedes menschliche Wesen meint, weil sich diese Gattung allgemein bestimmt durch die Fähigkeit, denken zu können und einen Willen zu besitzen. Die bisher analysierten Bestimmungen treffen also gerade ohne Differenzierung auf den Menschen an sich zu: Er soll den dargelegten Bildungsauftrag erbringen, sich also als eine freie Person begreifen und sich als solche Realität geben. Insofern ist es folgerichtig, dass eine Arbeit mit Fokus auf Armut bei Hegel von dieser zunächst abstrahieren muss, um nachvollziehen zu können, wo dieses gesellschaftlich-politische Phänomen begrifflich im Hegelschen Gedankengang zu verorten ist. Im Folgenden wird es also darum gehen, den Ursprung der Armut in der bürgerlichen Gesellschaft zu ergründen und schließlich aufgrund der Emergenz des Problems sie fortan in Hegels Analyse der weiteren Sphären der Selbstverwirklichung „mitzudenken“. Dabei gilt es, materielle Deprivation rückwirkend auch auf das bislang Analysierte bzw. das absolute Gebot und den daraus folgenden Bildungsauftrag der Selbst- und Weltaneignung zu reflektieren: Besteht die Brisanz des Armutsproblems nicht gerade darin, dass das absolute Gebot einen anthropologischen Auftrag darstellt, sich also an jeden qua Menschsein gleichermaßen richtet? Wie zu zeigen sein wird, ist Hegel durchaus bewusst, dass der Bildungsauftrag für die Armen eine besondere Herausforderung darstellt. Diese Überlegungen gliedern sich in zwei Teile: Zunächst sollen die Bestimmungen der Ökonomie, die für den Begriff des allgemeinen Ich relevant sind, dargelegt werden (Kapitel 3.1). In diesem Abschnitt möchte ich folgende leitende These – orientiert am Allgemeinen, die diese Sphäre konstituiert – begründet vertreten: Die Ökonomie stellt für Hegel eine „formelle“ (Enz. III, § 517) bzw. „äußerliche“ (Enz. III, § 534) Allgemeinheit dar. Dies ist darin begründet, dass a) das Eigentumsrecht ignorant gegenüber der Bedürfnisbefriedigung ist und mit ihm ein negativer gesellschaftlicher Zusammenhang etabliert ist, der im Vertragsrecht zum Ausdruck kommt. b) durch das Prinzip der Konkurrenz und des anarchisch-ungeplanten Zusammenhangs in der bürgerlichen Gesellschaft notwendigerweise Verlierer produziert werden. Damit liegt bereits auf der Ebene des abstrakten Rechts das Phänomen der Armut begründet, das sich in den verschiedenen Sphären perpetuieren wird. c) das Eingreifen des „Not- und Verstandesstaat[es]“ (GPR, § 183) von den Wirtschaftssubjekten in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft als äußerer Zwang gegen ihren Willen begriffen wird, ihrem Denken und Handeln also nicht immanent ist.
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Im Ökonomie-Teil wird die Problematik der Armut in einem Unterkapitel näher betrachtet, da ihr Erscheinen Konsequenzen für alle weiteren Sphären der Entfaltung der Subjektivität hat. Folgende These/n über den Hegelschen Begriff der Armut werden dabei entwickelt: Der Sozialstaat stellt für Hegel eine adäquate Antwort auf die „quälende“ (GPR, § 244, Zus.) Frage der Armut dar, die dieser die Brisanz nimmt, da a) er durch Kompensation zwar nicht materielle Deprivation, jedoch die absolute Form der Armut beseitigt. b) eigentlicher Sorgegenstand also nicht die Not an sich, sondern die Erhaltung des Person-Seins der davon Betroffenen sowie die Entstehung eines „Pöbels“ (GPR, § 244) ist. Schließlich stellt die materielle und geistige Deprivation der relativ Armen im Staats-Kapitel für ihn keinen Analysegegenstand mehr dar. c) die relativ Armen nicht nur materielle Hilfe finden, sondern auch einen Grund, um den Staat trotz ihrer ökonomischen Situation zu affirmieren. Die Lösung der Armut als soziale Frage bzw. deren Betrachtung aus der Perspektive des Staates begründet also, weswegen sich Hegels Selbsteinschätzung zufolge aus dem ökonomischen kein politisches Problem entwickelt, das bei der Analyse des Staates explizit zu behandeln ist. Der zweite Teil widmet sich dem nach gängigem Verständnis Herzstück der Hegelschen Philosophie: seinem Staatsverständnis (Kapitel 3.2). Auch hier werden nur die Momente behandelt werden, die Auskunft über sein Konzept der Selbstverwirklichung und dem damit zusammenhängenden Begriff von Allgemeinheit geben. Für folgende These soll hierbei argumentiert werden: Der Staat stellt für Hegel eine „gewußte“ (Enz. III, § 535) und „substantielle“ (Enz. III, § 534) Allgemeinheit dar. Dies impliziert a) ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bürger und Staat: beide können ihren Begriff nicht ohne den anderen verwirklichen. b) zwei Ebenen der Verwirklichung: eine epistemische und eine praktische. c) Gelingt die Entwicklung dieses Verhältnisses, handelt es sich um eine vermittelte Einheit in einer politischen Lebensform.
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3.1 DAS ALLGEMEINE ICH IN DER SPHÄRE DER ÖKONOMIE Die Bedeutung der Ökonomie liegt für Hegel darin, dass der Wille, der sich auf etwas richtet, Mittel zur Verwirklichung seiner Zwecke benötigt. Wie gesehen, ergibt sich für Hegel aus dieser allgemein-anthropologischen Tatsache, dass es des Eigentums als rechtlicher Einrichtung bedarf, weil der Wille sich nur so in den Dingen materialisieren kann. Dabei ist er jedoch nicht mit sich allein, sondern betätigt sich immer in Gesellschaft – dies umso mehr, als durch die Teilung der Arbeit und der zunehmenden Spezialisierung dem Philosophen zufolge kaum an Reproduktion ohne den Austausch mit anderen zu denken ist.3 Deswegen muss es Hegels Logik zufolge auch den Vertrag als elementare Rechtsform zwischen zwei Personen geben. Während Eigentum und Kontrakt auf der Ebene des abstrakten Rechts angesiedelt sind, insofern sie die vom Staat verfügte Rechtsform behandeln,4 bezeichnet die bürgerliche Gesellschaft die stoffliche Seite des ökonomischen Zusammenhangs: Wie gestaltet sich der Austausch zwischen Warenbesitzern in concreto auf dem Markt? Auch in diesem Abschnitt werden die jeweiligen Gegenstände nicht erschöpfend, sondern mit dem Fokus auf das Thema der Arbeit behandelt werden: Was bedeuten die Hegelschen Bestimmungen dieser Ökonomie, die er als die dem Menschen adäquate versteht, für dessen Selbstverwirklichung und für die Form der Allgemeinheit, die sich auf dieser Ebene konstituiert?
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Fraglich ist bei dieser Argumentation, ob die Organisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses tatsächlich notwendigerweise über den Tausch vermittelt werden muss, wie Hegel dies postuliert. Da er jedoch von vornherein vom Eigentumscharakter der Produkte ausgeht, deren wesentliches Charakteristikum – wie zu zeigen sein wird – im Zueignungsrecht liegt, ist diese Annahme immanent beurteilt folgerichtig.
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So sehr der Hinweis von Gey korrekt ist, dass sich die Analyse hier auf der Ebene des Rechts befindet, ist es dennoch irreführend, darauf zu beharren, dass „die Abstraktion von der materiellen Wirklichkeit durch[zu]halten“ (Gey 1980, S. 96) ist: Die hier abstrakt behandelten Rechte sind eben die Prinzipien dieser Gesellschaft, sodass mit der formalrechtlichen Grundlegung selbstredend Bestimmungen über den durch sie gestifteten realen Zusammenhang getroffen werden. Würde Abstraktion völlige Loslösung bedeuten, wäre das Recht einer Gesellschaft schlicht ohne Auswirkung auf die Realität, in der es herrscht.
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3.1.1 Eigentum und Vertrag, oder: Der Einbruch der Ökonomie in die Sphäre des Politischen Im Folgenden wird dargelegt, inwiefern das Problem der Armut bereits auf der Ebene des abstrakten Rechts verortet werden kann, auch wenn es erst in der bürgerlichen Gesellschaft als materielle Vermittlung des Reproduktionszusammenhangs seine Konsequenzen zeitigt. Dies ist – in Hinblick auf die nächsthöhere Stufe der Selbstverwirklichung – gleichbedeutend mit dem Einbruch der Ökonomie in die Sphäre des Politischen. Das Eigentum als materielle Seite der Selbstverwirklichung – die Negation des Allgemeinen Dass Selbsterkenntnis bzw. -verwirklichung ein absolutes Gebot für den Menschen ist, liegt in dessen differentia specifica begründet: Durch seine Fähigkeit zu denken, kommt Freiheit in die Welt. Wie gezeigt wurde, stellt die erste Form der Selbstaneignung, die auch von gesellschaftlich-politischer Relevanz ist, das freie Verhalten gegenüber dem eigenen Körper dar: Der Mensch kann seine eigene Existenz bejahen, indem er seinen Körper als Eigentum in Besitz nimmt und sich dadurch gegen die ihm dank der Willensfreiheit im Unterschied zum Tier zukommende Möglichkeit des Selbstmordes entscheiden. Dies stellt die erste Rechtsform dar, die des staatlichen Schutzes bedarf und Voraussetzung für alle weiteren Rechtsformen ist. In der Sphäre des abstrakten Rechts, „in der von den realen gesellschaftlichen Bedingungen“ (Gey 1980, S. 93) zunächst noch abstrahiert wird,5 ist die logisch sich daraus ergebende Bestimmung die der Person. Das Subjekt wird dabei verstanden als „abstraktes Ich“ (GPR, § 35, Anm.) in dem Sinne, dass von allen konkreten Eigenschaften abgesehen wird und allein bedeutsam ist, dass es sich als „Allgemeine[s] und Freie[s]“ (ebd., § 35) weiß. Gesellschaftlich drückt sich das Person-Sein aus als „Rechtsfähigkeit“ (GPR, § 36; vgl. auch Ritter 1961a, S. 256), deren wechselseitige Anerkennung die Grundlage des Rechts ausmacht (vgl. GPR, § 36); darin sind sich „Alle identisch [...]. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“ (GPR, § 209, Anm.). Während der Ausschluss von allen besonderen Bestimmungen als irrelevant für das Person-Sein plausibel ist, da hier allein der Mensch als Freier und damit Rechts-
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Wie Eichenseer richtig feststellt, aber mit völligem Unverständnis quittiert, drückt sich in Hegels Kategorisierung aus, dass die „materielle Reproduktion der Gesellschaft [...] als ein bloß abgeleitetes Element“ (Eichenseer 1986, S. 111) der juristischen Form verstanden wird.
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fähiger interessiert,6 erstaunt die Negation der „Besonderheit des Willens“ in der Ausprägung von „Begierde, Bedürfnis, Triebe, zufälliges Belieben usf. – Im formellen Rechte kommt es daher nicht auf das besondere Interesse, meinen Nutzen oder mein Wohl an“ (GPR, § 37). Wie aber kann dies verstanden werden, dass sich das Recht gleichgültig verhält gegenüber den Bedürfnissen bzw. Interessen einer Person? Er präzisiert diese Bestimmung im Zusatz, in dem es heißt, dass das Recht eine „bloße Möglichkeit“ (ebd., Zus.) darstellt: „Deshalb gibt die rechtliche Bestimmung eine Befugnis, aber es ist nicht notwendig, daß ich mein Recht verfolge, weil es nur eine Seite des ganzen Verhältnisses ist“ (ebd.). Dies erscheint insofern nachvollziehbar, als man zahlreiche Rechte verliehen bekommt, durch die man nicht tangiert wird, weil man mit dem Regelungsgegenstand nichts zu tun hat; Paragraphen zum Baurecht lassen beispielsweise das Einzelsubjekt, das kein entsprechendes Vorhaben plant, unberührt. Gleichzeitig bleibt jedoch bei der Bestimmung, dass von den Interessen des Einzelnen abstrahiert wird, eine Schwierigkeit in dem Fall, in dem der Gegenstandsbereich eines Gesetzes diesen berühren: Wie kann es verstanden werden, dass das Recht den Schutz der Menschen als Freie zum Gegenstand hat, wenn dies zugleich die Absehung von ihren Interessen einschließt? Was ist dann mit dem Begriff der Freiheit bezeichnet? Um dieser Frage nachzugehen, wird Hegels weiterem Argumentationsgang gefolgt. Der Philosoph kommt nun auf das Eigentum zu sprechen: „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein“ (GPR, § 41), was überzeugend erscheint: Während Selbstverwirklichung bisher immer betrachtet wurde als ein Prinzip, das nur gelingen kann durch die Bildung des Subjekts – also durch die Realisierung seiner geistigen Fähigkeiten –, wendet sich Hegel nun der materiellen Voraussetzung der Vernunftentwicklung und damit der Selbstverwirklichung im Allgemeinen zu; die Perspektive, aus der Hegel diese Institution entwickelt, sind also „Erwägungen der Freiheit“ (Rawls 2002, S. 439). Ohne Mittel kann sich kein Willensinhalt verwirklichen und in diesem Sinne scheint das Eigentum als Sphäre der Freiheit einer Person diese Bedingung zu erfüllen.7 Eigentum kenn-
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Die Rechtsfähigkeit wird dem Menschen als Menschen und damit uneingeschränkt, nicht in Abhängigkeit von einem bestimmten Status oder der Zugehörigkeit zu einem Stand, zugesprochen (vgl. Gey 1980, S. 95).
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Weniger überzeugend ist, dass Hegel die Notwendigkeit, Material zur Umsetzung seiner Zwecke zu finden, mit dem Eigentumscharakter gleichsetzt: Wie er herausarbeitet, verhält sich das Eigentum ignorant zur Bedürfnisbefriedigung, sodass es zwar zutreffend ist, dass es des Stoffes bedarf, um seine Intentionen zu realisieren. In der Gleichsetzung der hierfür benötigten Gegenstände mit deren Eigentumscharakter besteht jedoch Hegels Irrtum. Wie Marx später gezeigt hat, ist die Rechtsform des Eigentums Ausdruck dessen, dass die Güter nicht einfach für den Konsum produziert werden, sondern gekauft werden
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zeichnet hier den Vorgang, dass eine Person in eine Sache ihren Willen legt, welche dadurch zu der ihrigen wird (vgl. GPR, § 44); Hegel nennt dies auch das „absolute[] Zueignungsrecht“ (ebd.). Seine genauere Ausführung zum Verständnis der Sphäre der Freiheit irritiert jedoch: „Das Vernünftige des Eigentums liegt nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern darin, daß sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt. Erst im Eigentume ist die Person als Vernunft. Wenn auch diese erste Realität meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache, somit eine schlechte Realität ist, so kann die abstrakte Persönlichkeit eben in ihrer Unmittelbarkeit kein anderes Dasein als in der Bestimmung der Unmittelbarkeit haben“ (GPR § 41, Zus., vgl. auch GSGPR, § 45, S. 186).
Mehrere Bestimmungen sollen dem Zitat entnommen werden: Durch das Eigentum kommt es Hegel zufolge zu einem Fortschritt in der Herausbildung der Individualität insofern sich die „bloße Subjektivität“ der Person aufhebt; sie wird also bewahrt und zugleich auf eine höhere Stufe gehoben, da sich der Einzelne nun eine Existenz in der Welt geben kann – insofern ist die reine Innerlichkeit des Geistes überwunden. Die Wirklichkeit, die sich so gegeben wird, ist Hegel zufolge jedoch eine schlechte Realität, weil sie sich in der Sphäre der Äußerlichkeit bzw. der Willkür abspielt (vgl. auch ebd., § 42);8 gleichwohl gibt es hierfür keine Alternative: Der Wille bedarf der konkreten Dinge, derer er sich bemächtigt, um seine Inhalte umsetzen zu können. Das Prinzip des Eigentums bedeutet, dass dem Einzelnen vom Staat erlaubt ist, seine Freiheit in den äußeren Dingen zu finden, sich also der Mittel zu bemächtigen und sie zu seinem Gunsten zu benutzen. Nun soll das Augenmerk auf den Beginn des Zitats gerichtet werden, das der bisherigen Auslegung der Stellung des Eigentums gänzlich zu widersprechen scheint: Hegel führt eindeutig aus, dass das Vernünftige dieser Institution nicht in der Bedürfnisbefriedigung liegt – entsprechend seiner Bestimmungen des Rechts im Allgemeinen, in dem es nicht um das Wohl der Personen geht, hat also auch das Eigentum nicht die Stillung der Bedürfnisse durch Gebrauch der Dinge zum Zweck. Es ist diese Unterscheidung
müssen. Es kennzeichnet also nicht Güter allgemein, sondern die Güter in der kapitalistische Produktionsweise, dass sie zu Waren werden. Als solche sind sie dem Bedürfnis jedoch entzogen; ihre Benutzung steht unter dem Vorbehalt der Zahlungsfähigkeit und entspricht somit gerade nicht einfach dem Willen, der Mittel zur Umsetzung seiner Zwecke bedarf. 8
Seine an vielen Stellen hervorgehobene Betonung, dass es sich hier „bloß“ um die Sphäre der Äußerlichkeit handelt und die Sache, in die sich der Wille legt, „das Gegenteil des Substantiellen“ (GPR, § 42, Anm.) ist, macht deutlich, dass diese Lebenswelt des Individuums insgesamt von Hegel deutlich dem Staat sowie dem Geistigen untergeordnet wird.
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vom Besitz, die Hegel an zahlreichen Stellen betont (vgl. bspw. GPR, § 59 sowie Enz. III, § 488 f.) und die auch in der Forschungsliteratur9 unumstritten in diesem Sinne aufgefasst wird (vgl. bspw. Rawls 2002, S. 441, Hösle 1988, S. 492; Peperzak 1991, S. 137; Jaeschke 2010, S. 378): Das Eigentum hat seine Substanz nicht im Gebrauch der Sache, es ist „als das erste Dasein derselben [der Freiheit, I. S.], wesentlicher Zweck für sich“ (GPR, § 45, Anm).10 Obwohl alle von mir gesichteten Hegel-Interpreten diese Deutung teilen, gehen sie jedoch über diesen Widerspruch hinweg, als sei die Bestimmung des Eigentums, die äußere Sphäre der Freiheit zu sein und zugleich nicht den Zweck der Bedürfnisbefriedigung zu haben, selbsterklärend (vgl. bspw Jaeschke 2010, S. 378; Schnädelbach 2000, S. 206 f.; Peperzak 1991, S. 137; Hösle 1988, S. 492; Gey 1980, S. 95).11 In der Gegenüberstellung scheint Hegel geradezu vor dem Missverständnis warnen zu wollen, diese Einrichtung als die Möglichkeit der Selbstrealisation des Subjekts zu behandeln: „Aber der Wille des Eigentümers, nach welchem die Sache die seinige ist, ist die erste substantielle Grundlage, von der die weitere Bestimmung, der Gebrauch, nur die Erscheinung und besondere Weise ist, die jener allgemeinen Grundlage nachsteht“ (GPR, § 59). Eigentum kann also den Gebrauch der Sache durchaus einschließen, aber daran entscheidet sich umgekehrt dieses Verhältnis nicht. Es besteht seiner Substanz nach vielmehr darin, dass der Wille sich seinem Begriff nach verwirklichen kann; die vom Staat anerkannte Person bekommt ihre Mittel zur freien Disposition zugesprochen. Die Verfügungsgewalt des
9
Wie Ritter richtig konstatiert (vgl. Ritter 1961a, S. 257), wird der Themenkomplex „Eigentum“ in der Hegel-Forschung gänzlich vernachlässigt; kaum ein Denker widmet sich ihm überhaupt, wodurch sie, wie zu zeigen sein wird, eine substantielle Problematik des Hegelschen Systems ausblenden. Georg Eichenseer ist einer der wenigen in der Forschung, der die Eigentumstheorie in ihrer Bedeutung für die Hegelsche Philosophie erfasst hat; ihm zufolge „durchherrscht“ sie „den objektiven Geist und darin alle geltenden Rechtsprinzipien“ (Eichenseer 1986, S. 120).
10 „Hegel nimmt Abstand vom Versuch, das Privateigentum damit zu begründen, dass es ein Mittel ist, menschliche Bedürfnisse und Triebe zu befriedigen, oder dass es ein Mittel ist, Wohlfahrt zu erreichen.“ (Göran 1977, S. 104) 11 Selbst Domenico Losurdo, dessen Hegel-Deutung im Wesentlichen um das Thema der Eigentumstheorie kreist, erwähnt diesen Widerspruch bzw. das Verhältnis von Eigentum und Gebrauch an keiner Stelle. Theoretiker, die sich mit der Problematik der Armut derart befassen, verpassen es dadurch – wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird –, die Ursache der Armut richtig zu verorten. Hegel selbst sieht in diesen abstrakten Prinzipien des Rechts die Festlegung der Ausgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenhangs und damit bereits hier – nicht erst in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft – die Basis der später erläuterten Konsequenzen.
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Eigentümers über die Dinge gilt ausschließlich.12 Hegels sogenannte absolute Zueignung ist also Zweck des Eigentums und somit ist die Frage des Gebrauchs eine kontingente, die den Eigentumscharakter einer Sache unberührt lässt. Die materielle Seite der Selbstverwirklichung, wie ich dies im Einstieg zu interpretieren versucht habe, stellt also nicht die wesentliche Bestimmung dieser Institution dar. 13 Das Eigentum erfüllt dann seinen Sinn, wenn es gewährleistet, dass der Mensch als Person existiert: Der Mensch muss rechtsfähig bzw. Teil der Gesellschaft sein können, was durch das Prinzip Eigentum grundsätzlich vom Staat anerkannt ist. Dies gilt aber gerade in Abstraktion von den tatsächlichen ökonomischen Mitteln über die jemand verfügt, also zu seinen Gunsten einsetzen kann. Hegel selbst nennt in seiner Abhandlung der bürgerlichen Gesellschaft unterschiedliche ökonomische Figuren wie beispielsweise den selbstständigen Warenproduzenten, den Unternehmer sowie den Arbeiter. Von der Differenzierung kann er absehen, da alle die Gemeinsamkeit haben, als Eigentümer definiert zu werden: Jeder Einzelne ist auf seine eigenen Mittel verwiesen, aus denen er einen Lebensunterhalt erwirtschaftet. Dabei lässt sich jedoch bereits auf dieser Ebene des abstrakten Rechts festhalten, dass mit diesem Prinzip die Möglichkeit der Armut begründet liegt. Das absolute Zueignungsrecht schlägt um in einen Ausschluss von den Möglichkeiten der Reproduktion, wenn es Personen nicht vermögen, sich erfolgreich auf dem Markt zu bewähren. Können sie keine Mittel durch den Verkauf ihrer Produkte oder ihrer Arbeitskraft erwerben, sehen sie sich dem Eigentum der anderen gegenüber, ohne sich dieses aneignen zu können. Da hier noch weitere Bestimmungen wie die Vermittlung des gesellschaftlichen Zusammenhangs fehlen, soll auf diesen Punkt der Emergenz der Armut nach dem Nachvollzug der Hegelschen Bestimmungen ausführlich zurückgekommen werden. Festgehalten werden soll an dieser Stelle, dass sich aus der Ignoranz des Eigentums gegenüber der Bedürfnisbefriedigung sowie den höchst ungleichen ökonomischen Mitteln darauf schließen lässt, dass die Eigentümer eine Bewährungsprobe auf dem Markt zu bestehen haben und beim Scheitern dieser mit ökonomischem Ausschluss konfrontiert sind. Inwiefern diese Möglichkeit
12 „Das Recht, Eigentum zu besitzen, habe ich also als freier Wille; meine Bedürfnisse und die Erfüllung meiner Wünsche haben nichts damit zu tun. Die wahrhafte Stellung ist, wie Hegel sagt, die, daß das System des Eigentums als besondere angemessene Verkörperung der Freiheit gerechtfertigt ist. Das System selbst als Ausdruck der Freiheit ist der eigentliche Zweck.“ (Rawls 2002, S. 441) 13 Auch Rawls konstatiert, „daß Hegel es völlig unterläßt, sich auf die Vorteile des Privateigentums – sei’s für die einzelne Person oder für die Gesellschaft insgesamt […] zu berufen. Er gibt keinen Hinweis auf die erwünschten Folgen, die das Eigentum langfristig für die Gesellschaft mit sich bringt. Und er beruft sich auch nicht auf das, was die Leute womöglich mit ihrem Eigentum anfangen wollen.“ (Rawls 2002, S. 441)
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notwendig eintreten muss, wird im Laufe der Argumentation eingeholt. Das Geltendmachen des Eigentums in dem benannten Sinn stellt jedenfalls – so lässt sich an dieser Stelle festhalten – keinen Widerspruch zu den bürgerlichen Prinzipien dar, solange die Rechtsfähigkeit der Menschen erhalten bleibt. Ein Gleichheitsideal heranzutragen oder auch nur ein Auskommen zu fordern, ist auf dieser Ebene ein von außen herangetragener Maßstab, der nicht in der Logik des Eigentums selbst liegt. Hegel bezeichnet dies als wohlmeinenden Wunsch, der der Sphäre der Moral, nicht der des Eigentums entspringt (vgl. GPR, § 49, Anm.). Diese Forderung kann ihm zufolge also durchaus aufgestellt werden – solange gewährleistet ist, dass Menschen sich als Person betätigen können, verhält sich die Institution Eigentum jedoch ignorant dazu. Der Vertrag – Dokument des im Eigentum begründeten negativen gesellschaftlichen Zusammenhangs In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, welches Verhältnis die Personen zueinander einnehmen; schließlich wird dieses bislang dadurch charakterisiert, dass sie sich durch ihr absolutes Zueignungsrecht wechselseitig von ihrem Eigentum ausschließen, eine Gesellschaft aber kaum dadurch bestimmt sein kann. Wie also gestaltet sich der soziale Zusammenhang ihrer Reproduktion? Hegel leitet hier in die Behandlung des Vertrages über (vgl. GPR, § 71); in diesem wird der intersubjektive Bezug, der bereits im Eigentum enthalten ist, expliziert (vgl. Hösle 1988, S. 500). Bei der näheren Charakterisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen in dieser Sphäre werden bereits Hinweise auf seine anschließenden Ausführungen über die bürgerliche Gesellschaft gegeben, in denen die durch die Rechtsprinzipien gestiftete negative Weise des Bezugs der Personen untereinander 14 entfaltet wird. Auf der Ebene des Eigentums wird nicht nur keine Form der Allgemeinheit hervorgebracht15 – was sprachlich dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass sich keine
14 Deutlich wird der negative gesellschaftliche Zusammenhang auch im Rückblick von der höheren Stufe aus, vom Standpunkt der Moralität: „Im Rechte kommt es nicht darauf an, ob der Wille der anderen etwas möchte in Beziehung auf meinen Willen, der sich Dasein im Eigentum gibt. Im Moralischen dagegen handelt es sich um das Wohl auch anderer, und diese positive Beziehung kann erst hier eintreten.“ (GPR, § 113 Zus.) 15 Dass Hegel von der Allgemeinheit spricht, die sich durch den Vergleich der Bedürfnisse im Tausch ergeben würde, widerspricht dem nicht: Gekennzeichnet werden soll an dieser Stelle der Wert der Sache, der sich im Geld ausdrückt (vgl. GPR, § 63; ebd. Zus. sowie § 77; vgl. auch Vieweg 2012, S. 129 f.), weswegen in dieser Passage also allein das Wort identisch ist. Dasselbe gilt für die Allgemeinheit, als die er geistige Produkte kennzeichnet (vgl. GPR, § 68); hier bezieht sich die Bezeichnung auf die Charakterisierung des
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Hegelsche Schöpfung einer attributiven Konstruktion im Kapitel findet –, sondern die entstehende Beziehung trägt sogar weit unter der Sphäre des Allgemeinen den Keim der Negation einer positiven Gesellschaftlichkeit in sich.16 Hegel spricht davon, dass die einzelne Person „sich zu einer anderen Person [verhält, I. S.], und zwar haben beide nur als Eigentümer füreinander Dasein“ (GPR, § 40). Zunächst wird an dieser Stelle also das Faktum der Konstitution eines gesellschaftlichen Zusammenhangs durch die Institution Eigentum benannt. Zur näheren Bestimmung dessen, dass sich die Menschen hier rein als Eigentümer aufeinander beziehen, ist die Abstraktion vom Beginn des Abschnittes bedeutsam: Weder in der Form der Person noch als Eigentümer geht es um das Wohl oder die Interessen der Einzelsubjekte. Sie stehen sich mit dem exklusiv ihrem Willen zuzurechnendem Eigentum gegenüber, was gleichbedeutend mit dem wechselseitigen Ausschluss von den jeweiligen Dingen ist: Die äußerliche Sache „als Dasein des Willens ist [...] als für anderes nur für den Willen einer anderen Person“ (GPR, § 71); jegliches Eigentum ist für den anderen also „ein Unantastbares“ (Enz. III, § 385, Zus.). Was einem anderen gehört, ist selbstredend also keineswegs Mittel zur Realisation der eigenen Zwecke, sondern dem Bedürfnis vielmehr entzogen; der Eigentümer, dessen Wille in den Dingen haust, hat das Recht zur „Exklusion der Verfügungsmacht anderer“ (Vieweg 2012, S. 109).17 Wenn, wie in durchgesetzten Eigentumsverhältnissen selbstverständlich, alle Sachen jemandem gehören, entsteht eine unbedingte Angewiesenheit darauf, sich
Gegenstandes – des Wissens –, der zum Eigentum wird. Widerlegt wird also auch in diesem Sinne nicht die These, dass in dieser Sphäre keine Allgemeinheit entsteht. 16 Die im Folgenden entfalteten Bestimmungen fasst Hegel an einer späteren Stelle zusammen: „Der Vertrag und das Unrecht fangen zwar an, eine Beziehung auf den Willen anderer zu haben, – aber die Übereinstimmung, die in jenem zustande kommt, gründet sich auf die Willkür; und die wesentliche Beziehung, die darin auf den Willen des anderen ist, ist als rechtliche das Negative, mein Eigentum (dem Werte nach) zu behalten und dem anderen das seinige zu lassen. Die Seite des Verbrechens dagegen als aus dem subjektiven Willen kommend und nach der Art und Weise, wie es in ihm seine Existenz hat, kommt hier erst in Betracht.“ (GPR, § 113, Anm.) 17 Den dadurch entstehenden Gegensatz im intersubjektiven Bezug bringt Hegel in einem anderen Zusammenhang en passant in seiner krassesten Ausprägung zum Ausdruck: „Mechanische Kräfte, Waffen, Instrumente erweitern den Bereich meiner Gewalt“ (GPR, § 55, Anm.). Hervorzuheben ist hier nicht nur, dass Hegel von Waffen spricht, derer sich der Wille bemächtigen kann, sondern vor allem, dass das Verfügen über Dinge im Allgemeinen in dieser Aufzählung als Gewalt bezeichnet wird; die anfänglichen Überlegungen zu einem positiven Verhältnis bezüglich der Bedürfnisbefriedigung sind spätestens hier endgültig negiert.
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mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern in ein Tauschverhältnis zu treten: „Man hat es nicht mit der äusseren Natur zu thun, jeder Baum, jedes Thier gehört nicht mehr der Natur an, sondern einem Eigenthümer, die Abhängigkeit ist so viel grösser“ (GSGPR, § 195, S. 494). Will man den Ausschluss überwinden, muss man sich mit anderen ins Verhältnis setzen, wobei sie als Eigentümer entsprechend der Abstraktion von Anfang nicht das Wohl der anderen zum Anliegen haben; die Personen verhalten sich vielmehr als „egoistische Selbstständigkeiten mit grundverschiedenen Interessen“ (Peperzak 1991, S. 166).18 Deswegen bedarf es des Vertrages als rechtlicher Institution, in der sich die Willen wechselseitig aufeinander beziehen und hinsichtlich des infrage stehenden Gegenstands einen „gemeinsamen Willen“ (GPR, § 71) entwickeln und in diesem kodifizieren. Auch für das Verständnis der weiteren Bestimmungen ist es zentral, die Hegelsche Beurteilung des Vertrages nachzuvollziehen: Kontraktverhältnisse sind für ihn zwar einerseits aus Vernunftgründen geboten (vgl. ebd.) und „der eigentümliche und wahrhafte Boden, in welchem die Freiheit Dasein hat“ (ebd.), weil die Eigentümer sich und ihr jeweiliges Hab und Gut wechselseitig anerkennen und allein auf Basis dieser Respektierung des Willens zueinander in Beziehung treten. Auf der anderen Seite jedoch wird dieses Verhältnis zugleich von ihm als eigentümlich gekennzeichnet; der Vertrag hat für Hegel ein Freiheitsmoment, aber zugleich in mehrerlei Hinsicht negative Konnotationen. Ein erstes Indiz ist hierfür in der Bezeichnung der Gemeinsamkeit des Willens zu sehen, der an anderer Stelle explizit von der Allgemeinheit abgegrenzt wird: „[D]er identische Wille, der durch den Vertrag in das Dasein tritt, ist nur ein durch sie gesetzter, somit nur gemeinsamer, nicht an und für sich allgemeiner“ (GPR, § 75). Wie bereits in den Ausführungen zur Logik deutlich wurde, wird die Gemeinsamkeit dem Allgemeinen gegenüber deutlich abgewertet; die Allgemeinheit des Willens stellt sich dar „in der untergeordneten Form der Uebereinstimmung zweier Willen“ (GSGPR, § 53, S. 203). Auf was sie sich einigen, kann völlig willkürlich sein (vgl. GPR, § 113, Anm.) – was auch insofern konsequent ist, als die Sphäre, über die ein Wille jeweils gebietet, wie im nächsten Absatz nochmals aufzugreifen sein wird, „eine rechtliche Zufälligkeit“ (ebd., § 49) darstellt. Deswegen liegt im Vertrag, dem „Gesetztsein des akzidentiellen Willens“ (Enz. III, § 495), der Übergang zum Unrecht (vgl. GPR, § 81 ff. sowie Enz. III, § 495): Der sich im Vertrag konstituierende identische Wille ist „ein Gemeinsames der Willkür“ (GPR,
18 Peperzaks Ausführung, dass die Personen im Vertragsverhältnis egoistisch auftreten würden, ist insofern nicht ganz zutreffend, als er hier eine moralische Kennzeichnung vornimmt; Hegel befindet sich jedoch strikt auf der Ebene der Analyse der ökonomischen Beziehung. Der Sache nach drückt er dadurch freilich den negativen Charakter der Gesellschaftlichkeit angemessen aus.
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§ 82; vgl. auch ebd., § 81 Zus.), sodass gegen die „an sich seiende Allgemeinheit des Rechts“ (ebd., § 83) durch den Vertragsinhalt verstoßen werden kann; schließlich könnten sich die beiden Personen zunächst gemeinschaftlich auf einen gegen die Allgemeinheit verstoßenden Inhalt einigen. Moralisch gefasst kennzeichnet dies den Übergang zum Bösen (vgl. Enz. III, § 498 sowie ebd., § 499), ein Begriff, der in Kapitel 3.2.2 näher beleuchtet wird. Der Übergang zum Verbrechen (vgl. GPR, § 113, Anm.) führt zum „zweite[n] Zwang“ (GPR, § 93) des Staates, da, wie erläutert, die beiden Vertragspartner an sich kein Interesse an der Bedienung des Wohls des anderen haben, sondern den Vertrag lediglich aufgrund ihrer eigenen Kalkulation eingehen. Im negativen Verhältnis zueinander, in dem sie allein aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit durch den im Eigentum konstituierten Ausschluss zu einer in einer Hinsicht identischen Willen kommen, liegt freilich die empirisch unvermeidliche Konsequenz des Vertragsbruches (vgl. ebd., § 93). Deswegen ist es notwendig, dass das Recht auch als „Zwangsrecht“ (ebd., § 94) auftritt, indem der Staat die beiden Kontrahenten aufs Recht verpflichtet: Wenn sich beispielsweise im Kaufvertrag „das entgegengesetzte Interesse der Produzenten und Comsumenten“ (GSGPR, § 236, S. 596) gegenübersteht, bedarf es im Zweifelsfall des Staates, der das Recht des einen gegen den anderen Vertragspartner durchsetzt. Der allgemeine Standpunkt des Rechts ist in dieser Sphäre also zunächst nicht durch das Denken und Handeln der Individuen präsent, sondern allein durch den Not- und Verstandesstaat, der sie – notfalls durch die Anwendung von juristischer Gewalt – zur Einhaltung des Allgemeinen zwingt. Auch in diesem Sinne ist es auf dieser Ebene noch rein äußerlich bzw. formell; das Allgemeine hat hier durch die Praxis der Subjekte höchstens eine zufällige Existenz. Weil der Vertrag Ausdruck von Verhältnissen ist, denen es an wirklicher Allgemeinheit mangelt, weist Hegel in aller Vehemenz die Vorstellung eines kontraktualistischen Modells für Ehe und Staat zurück; Hegel zufolge sind diese, wie sie am prominentesten für die Ehe von Kant vertreten wird, eine „Schändlichkeit“ (GPR, § 75 Anm.) und in der Beziehung des Staates zu seinen Bürgern aufgrund des „bloß Gemeinsame[n] des Willens“ (ebd.) und der Willkür abzulehnen: „So verschieden einerseits jene beiden Standpunkte sind, so haben sie dies gemein, die Bestimmungen des Privateigentums in eine Sphäre übertragen zu haben, die von ganz anderer und höherer Natur ist“ (ebd.). Die auf dem Eigentumsprinzip basierenden Vertragsverhältnisse, so kann mit Schnädelbach konstatiert werden, implizieren also „die totale Versachlichung oder Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen“ (Schnädelbach 2000, S. 211):19 Das so installierte „Do ut des“ als herrschende Ver-
19 Während dieses Phänomen von Hegel eindeutig negativ beurteilt wird, folgt Ritter dieser Diagnose (vgl. Ritter 1961a, S. 273 ff.), sieht darin einerseits die erläuterten negativen Konsequenzen, kann der entstehenden Versachlichung der Beziehungen jedoch auch eine
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kehrsform stiftet einen negativen Zusammenhang, in dem der andere nur berücksichtigt wird, insofern dies den eigenen Interessen dient;20 deswegen wäre die Übertragung dieser Beziehung auf die Familie oder den Staat so fatal. Die Realität der Freiheit von (relativ) Armen Wie in den Thesen vorab postuliert, lässt sich meines Erachtens bereits hier – auf der Ebene des abstrakten Rechts bzw. sich ergebend aus den Prinzipien des Eigentums und des Vertrages –, die Ursache des Armutsphänomens verorten. Die Institution des Eigentums als die Weise, durch die sich die Person eine Sphäre der Freiheit gibt, bedeutet nicht, dass ein zunächst ideeller Wille den Stoff vorfindet, worauf er seine Intention richten und diese verwirklichen kann. Vom Gebrauch einer Sache ist gerade abzusehen, wenn es um die Bestimmung geht, dass der Mensch eine Person sein kann. „Im Verhältnisse zu den äußerlichen Dingen ist das Vernünftige, daß Ich Eigentum besitze [...] Was und wieviel Ich besitze, ist daher eine rechtliche Zufälligkeit" (GPR, § 49). Dass die Bewährungsproben auf dem Markt nicht für alle Eigentümer positiv ausgehen können, zeigt das mit dem Vertragsrecht etablierte gesellschaftliche Verhältnis: Die Warenbesitzer stehen in Konkurrenz zueinander und versuchen also, sich gegen die anderen zu bereichern. Dabei folgt dieses Tun keiner Planung, sondern jeder bietet als Eigentümer auf dem Markt an, was er herzustellen und zu verkaufen vermag. Diese ungeplante-anarchische Weise der gesellschaftlichen Reproduktion bedeutet, dass sowohl Angebot als auch Nachfrage von und nach hergestellten Waren und Arbeitskräften in einem rein äußerlichen Verhältnis zueinander stehen. Tatsächlich wäre es reiner Zufall, dass alle angebotenen Produk-
positive Seite abgewinnen: Durch die Beschränkung auf das reine Eigentümer-Dasein entsteht eine Entzweiung der Person, insofern Fragen des Inneren und Geistigen aus der Gesellschaft ausgeklammert werden und gänzlich dem Individuum anheimgestellt sind. Gerade dies begreift er als neu entstandenen Raum der Freiheit: „Indem sich die Gesellschaft auf das sachliche, durch Eigentum vermittelte Verhältnis von Personen zueinander beschränkt, gibt sie dem Einzelnen als Persönlichkeit frei, zum Subjekt in allem zu werden, was den Reichtum wie die Tiefe des nun von keiner Versachlichung berührten persönlichen, sittlich geistigen Seins ausmacht“ (Ritter 1961a, S. 277). Diese Argumentation hat zwar eine gewisse Plausibilität, hat jedoch Mängel angesichts der weiteren Bestimmung, die nun herausgearbeitet wird. 20 Schnädelbach zufolge macht sich Hegel über die dadurch gestifteten negativen Beziehungen keine Illusionen, würde jedoch versuchen, „ihr Übergreifen auf den menschlichen Nahbereich zumindest mit begrifflichen Mitteln auszugrenzen“ (Schnädelbach 2000, S. 211) – was dies jedoch konkret bedeutet, bleibt offen.
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te quantitativ und qualitativ mit der Nachfrage der Abnehmer übereinstimmen. 21 Insofern ist es notwendig, dass Menschen auf dem Markt keinen Erfolg haben, weil ihre hergestellten Waren oder ihre Arbeitskraft nicht nachgefragt werden. Deutlich wird diese Argumentation auch bei der Betrachtung des tatsächlichen materiellen Zusammenhangs, den Hegel nach der Abhandlung des abstrakten Rechts diskutiert (vgl. 3.1.2). In der Logik des Eigentums- und Vertragsrechts liegt also kein Verstoß gegen die Freiheit vor, wenn ein Mensch kaum Mittel zur Verwirklichung seines Willens in der Welt hat, sondern erst dann, wenn überhaupt seine Rechts- bzw. Vertragsfähigkeit angegriffen wird; in einem solchen Fall würde ihm verunmöglicht werden, sich überhaupt als rechtsfähiger Wille und damit als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft betätigen und reproduzieren zu können. Materielle Ungleichheit stellt keinen Verstoß gegen die Prinzipien des abstrakten Rechts dar – was jedoch bedeutet sie für die Sphäre der Freiheit einer Person, die nur wenige Dinge ihr Eigentum nennen kann? Wie ist es mit der Realität ihrer Freiheit (Enz. III, § 385, Zus.) beschaffen? Verkommt ihre Freiheit nicht zu einem reinen Formalismus, wenn ihr die Mittel zur Realisierung ihrer Willensinhalte fehlen? Letztlich stellt dies die ganze Interpretation der Rechtsphilosophie als „philosophische Lehre von der Verwirklichung der Freiheit zum aktualen Dasein aller als Freier“ (Ritter 1961a, S. 264) in Frage. Gerade wenn das Privateigentum als „Inkarnation menschlicher Freiheit“ (Brocker 1992, S. 314, Hervorh. i. O.) zu definieren ist, wird die enge „Verklammerung von ,Freiheit‘ und ,Eigentum‘“ (ebd.) dann zum Problem, wenn die Person faktisch über keines verfügt. Hegel führt aus, dass dieses Prinzip durchaus an Bedingungen geknüpft ist; unveräußerlich seien nämlich diejenigen „substantiellen Bestimmungen [...], welche meine eigenste Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseins ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion“ (GPR, § 66). Die erstgenannten lassen sich zusammenfassen als Aufrechterhaltung der Möglichkeit, Eigentümer bzw. Person zu bleiben; ein Vertrag, in dem ein Mensch seine rechtliche Freiheit aufgibt und sich als Sklave verkauft, wäre demzufolge unzulässig (vgl. auch ebd., Zus.). Wie Jaeschke zutreffend erläutert, wird der Zusammenhang von Person und Eigentümer nicht „wechselseitig-konstitutiv“ (Jaeschke 2010, S. 378) gedacht, sodass dieser rechtliche Status eines Menschen nicht an das tatsächlich vorhandene Eigen-
21 Man könnte dagegen halten, dass dies in Zeiten allgemeinen Wachstums durchaus der Fall sein kann. Meines Erachtens trägt dieser Einwand jedoch nicht: Selbst dann tritt das Scheitern einiger Marktteilnehmer ein und sie müssen sich neu orientieren, um Arbeit zu finden. Immerhin wäre die Perpetuierung der Armut damit ausgeschlossen. Angesichts der selbst in Deutschland immer bestehenden Sockelarbeitslosigkeit wird jedoch deutlich, dass das Passungsverhältnis selbst in Zeiten des Booms nicht zustande kommt.
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tum einer Person gebunden wird. Meines Erachtens ist seine Schlussfolgerung jedoch unzutreffend, denn dass eine Person trotz der empirisch nicht vorhandenen Sphäre ihrer Freiheit dennoch formal ihren Rechtsstatus behält, beseitigt keineswegs die angesprochene Schwierigkeit; vielmehr bestätigt sich darin, dass dem Mittellosen letztlich allein der formale Status bleibt; wie auch Eichenseer konstatiert, „bringt Hegel den Rechtsformalismus konsequent auf seinen Begriff“ (Eichenseer 1986, S. 121). Was dies für die Verwirklichungsgsmöglichkeit eines Menschen bedeutet, ist Hegel zufolge gänzlich aus dieser Sphäre auszublenden. 22 Die von ihm eingangs angesprochene Abstraktion vom persönlichen Wohl, von Interessen und Bedürfnissen vermag er letztlich jedoch selbst in theoretischer Hinsicht nicht durchzuhalten, was an den weiteren, von ihm angesprochenen substantiellen Bestimmungen deutlich wird: Mag auch die von Hegel genannte „allgemeine Willensfreiheit“ dadurch erhalten werden, dass der Mensch seinen rechtlichen Status bzw. den reinen Formalismus der Freiheit innehat, so ergibt sich spätestens hinsichtlich der aufgeführten Religion und Sittlichkeit ein Problem: Wie soll sich ein Individuum geistig entfalten können, wenn ihm jegliche Mittel fehlen? Das „äußerliche Material für das Dasein des Willens“ (Enz. III, § 483) einer Person ist unbestreitbar Conditio sine qua non für die Möglichkeit von Selbstverwirklichung. Auch Ritter führt aus, dass „alle substantiellen geistig-sittlichen Ordnungen der Freiheit mit dem Eigentum des bürgerlichen Rechts zur Existenz kommen“ (Ritter 1961a, S. 267), ohne sich jedoch die Frage zu stellen, wie es um die Sittlichkeit der Menschen und in einem zweiten Schritt auch um die Ordnung bestellt ist, wenn das Eigentümer-Sein keine Realität hat.23 Der von ihm angesprochene, neu entstandene Raum der Freiheit bleibt bloße Potenz, wenn die Eigentümergesellschaft nicht nur das Denken des Einzelnen freigibt, sondern auch sein materielles Auskommen zu einer Privatfrage erklärt – wie unten gezeigt wird, gilt dies allein für die Abstraktion von der nächsten Stufe, bleibt also nicht Hegels „letztes Wort“. Ist die äußere Bedingung erfüllt, so kann natürlich nicht umgekehrt geschlossen werden, dass das Emporarbeiten zur Vernunft auch gelingt; es bedarf jedoch, wie Hegel zu Beginn des Abschnitts auch selbst ausführt, der äußeren Sphäre der Freiheit – so sehr es sich dabei auch nur um die äußere Voraussetzung handelt. Mit dieser Schwierigkeit offenbaren sich außerdem weitere Konsequenzen innerhalb der Ökonomie hinsichtlich des Vertragsverhältnisses: Über was vermag jemand überhaupt einen Vertrag
22 Bereits anhand des hier ausformulierten Punktes wird deutlich, dass die Verortung der Armut in der Sekundärliteratur durchweg falsch vorgenommen wird, da sie als erst in der bürgerlichen Gesellschaft auftretend besprochen wird. 23 Dies erstaunt umso mehr, weil Ritter wie kaum ein anderer den Fokus auf die dadurch entstehenden materiellen Konsequenzen: die Akkumulation von Reichtum bei gleichzeitigem Elend, legt (vgl. Ritter 1961a, S. 267).
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zu schließen, wenn er kein Eigentum hat? Hegel widmet sich dieser Frage in der Abhandlung der bürgerlichen Gesellschaft. Es zeigen sich hier weitreichende Implikationen für das Subjekt-Sein der Einzelindividuen, die schließlich auch das Bürger-Sein im Staate einschließen, sodass die Problematik der Armut bzw. der fehlenden Sphäre der Freiheit einer Person von einer ökonomischen zu einer radikal politischen Frage wird – während Hegel selbst darauf besteht, dass der Einzelne als Wirtschaftssubjekt „keine politische Beziehung“ (GSGPR IV, S. 472) habe. Lässt sich die erstmals von Hegel begründete strikte Trennung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat überhaupt aufrechterhalten, wenn erstere die Potenz der Aushöhlung der individuellen Entfaltung in sich trägt?24 Erinnert man sich an Hegels Ausführungen zur Selbstverwirklichung als absolutes Gebot bzw. zum Trieb der Perfektibilität (VPG, S. 74), in dem sich der menschliche Bildungsauftrag ausdrückt, so stellt sich außerdem die Frage, ob Hegel im Gegensatz zu seinen eigenen Worten – und übrigens entsprechend der Taylorschen Deutung (vgl. Kapitel 1.3.1) – allein eine kleine Elite im Blick hat, die den Weg zur Vernunft gehen kann, oder ob es sich um eine Inkonsequenz im Hegelschen System handelt. Im ersten Fall würde Selbstverwirklichung letztlich zu einem exklusiven Konzept werden. Die Beantwortung der Frage muss zunächst offengelassen werden, weil der Philosoph selbst diese Problematik erkennt und um Abhilfe ringt: Ihm ist durchaus bewusst, dass seine eigene Analyse die Existenz von Armut einschließt und diese letztlich zu einem Sprengsatz für seinen gesamten Entwurf zu werden droht. In seinen Vorlesungen fasst er die Konsequenzen des Eigentumsrechts drastisch zusammen: „Durch die Trennung des Eigenthums, kann man sagen, kamen alle diese Leidenschaften, dieser Haß, Neid, dieser Streit, Hader, diese Noth in die Welt, was muß der Mensch von dieser seiner Höhe der Vernunft herab sich Mühe geben, arbeiten, sich mit den geringsten Dingen beschäftigen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen pp.“ (GSGPR, § 46, S. 188). Als Lösungsvorschlag auf der Ebene des abstrakten Rechts diskutiert Hegel das Gemeineigentum im Abschnitt über das abstrakte Recht und verwirft es am Beispiel von Platons Theorie (vgl. GPR, § 46, Anm.);25 ihm zufolge würde damit der Willkür der Gemeinschaft überantwortet werden, welcher Anteil dem Einzelnen zugeteilt wird (vgl. GPR, § 46; vgl. auch Vieweg 2012 S. 111). Alle anderen Maßnahmen und Umgangsweisen mit der Armut, die Hegel untersucht, führen aus der Sphäre der
24 Zum Entstehen dieses neuen Raumes bzw. zu der Genese des Verständnisses der bürgerlichen Gesellschaft als dem Staat gegenübergestellte Sphäre vgl. Riedel (ders. 1982, S. 139-170). 25 Dass die Forschung diesem möglichen Lösungsweg zumeist keinerlei Beachtung schenkt (vgl. bspw. Ruda 2011, S. 37 ff.), liegt vermutlich an der erwähnten Ausblendung der theoretischen Verortung der Armut bereits in der Sphäre des abstrakten Rechts.
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Rechtsprinzipien in die bürgerliche Gesellschaft und werden daher erst nach der Darlegung ihrer Bestimmungen behandelt. 3.1.2 Die „formelle“ oder „äußerliche Allgemeinheit“ der bürgerlichen Gesellschaft Die bürgerliche Gesellschaft ist Teil der Sittlichkeit, deren Ursprung in der Familie zu verorten ist: Hier transzendiert der Mensch die natürliche zu einer sittlichen Allgemeinheit, die jedoch zugleich in dieser Lebenswelt noch nicht vollendet werden kann. Die bürgerliche Gesellschaft stellt die zweite Erscheinungsweise des Sittlichen dar, führt jedoch zugleich, wie nun zu erläutern sein wird, durch die in ihr geltenden Gesetze zu einer Auflösung des Sittlichen. Dieser Doppelcharakter wird auch im Begriff der „formelle[n]“ (Enz. III, § 517) oder „äußerliche[n] Allgemeinheit“ (Enz. III, § 534) zum Ausdruck gebracht, den diese Lebenswelt Hegel zufolge hervorzubringen vermag: Einerseits spricht er hier von Allgemeinheit; zugleich ist diese eine bloß formelle, die sich rein auf die Form, nicht jedoch auf den spezifischen Inhalt dieser Sphäre bezieht. Der sie konstituierende Zusammenhang wird durch das materielle Bedürfnis und damit durch die Natürlichkeit und nicht durch die Freiheit des Menschen gekennzeichnet (vgl. Enz. III, § 431). Die so entstehende Gesellschaft ist, wie mit der ersten Bestimmung bereits ausgedrückt, allein durch den Privatmaterialismus des Einzelnen konstituiert.26 Das zwiespältige Erscheinungsbild benennt Hegel bereits im ersten Paragraphen als die beiden die bürgerliche Gesellschaft konstituierenden Prinzipien: Zum einen herrscht in dieser das „System der Atomistik“, was bedeutet, dass jede Person „ihre eigene Besonderheit und ihr Fürsichsein in ihrem Bewußtsein und zu ihrem Zwecke“ (Enz. III; § 523; vgl. auch GPR, § 182) hat. Wie bereits im Abschnitt zuvor analysiert, tritt die Person logischerweise nicht nur auf formal-rechtlicher Ebene, sondern auch im konkret dadurch gestifteten Zusammenhang als Wirtschaftssubjekt auf, das zunächst allein sich und sein eigenes Wohl zum Anliegen hat. „Kein Bürger ist durch politische Definition darauf reduziert, Organ der Realisierung eines fremden Interesses zu sein“ (Schick, in: Braune u. a. 2013, S. 175), was Hegel auch
26 Neschen ist eine der wenigen Hegel-Forscherinnen, die Hegels Charakterisierung der bürgerlichen Gesellschaft als formelle Allgemeinheit aufgreift. Auch ihres Erachtens nach liegt diese Zuschreibung darin begründet, dass diese Sphäre „lediglich eine Vermittlungsplattform der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung, auf der eine ökonomische allseitige Abhängigkeit entsteht“ (Neschen 2008, S. 179) ist. Leider bleibt sie in ihrer Analyse weitgehend beim Nachvollzug der Hegelschen Argumentation stehen, sodass bspw. die im Folgenden darzulegende widersprüchliche Auffassung Hegels über die Rolle der Bedürfnisse in dieser Ökonomie nicht kritisiert wird (vgl. ebd., S. 180 sowie S. 183).
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an mehreren Stellen hervorhebt: Dass „[d]as Prinzip der selbstständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit“ (GPR, § 185 Anm.) im modernen Staat nun gilt, stellt die Verwirklichung des „unendlichen Rechts der Idee“ (ebd., Zus.) dar, hinter deren Zurückbleiben Hegel zufolge das Unrecht der alten Staaten und mancher philosophischer Entwürfe wie beispielsweise demjenigen Platons besteht. Jeder hat im modernen Staat die Lizenz, sich frei um sich zu kümmern bzw. seinen partikularen Interessen nachzugehen, die nicht mit dem Allgemeinen zusammenfallen. „Die selbstständige Entwicklung der Besonderheit“ (ebd., Anm.) zuzulassen, ist also das große Verdienst der bürgerlichen Gesellschaft, wobei Hegel keine Täuschung darüber zulässt, dass er allein vom Menschen als Wirtschaftssubjekt bzw. Bourgeois27– „hier auf dem Standpunkte der Bedürfnisse“ (GPR, § 190, Anm.) – spricht.28 Die Ausführungen zu diesem wesentlichen Moment, den Einzelnen mit seinen materiellen Interessen freizusetzen, stellt jedoch erst den Beginn der Analyse dar; schließlich stehen die Wirtschaftssubjekte in einem gesellschaftlichen Verhältnis zueinander. Wie auf der Ebene des abstrakten Rechts für die Vertragsverhältnisse bestimmt, stiften die erörterten Rechtsprinzipien zugleich einen spezifischen Zusammenhang; im Konkretum der bürgerlichen Gesellschaft wird dieser allein „zu einem allgemeinen, vermittelnden Zusammenhange von selbstständigen Extremen und von deren besonderen Interessen“ (Enz. III, § 523; vgl. auch GPR, § 182). Das System der Atomistik etabliert also zugleich eines „der freien Konkurrenz“ (Bloch 1972, S. 265). Darin liegt begründet, dass die Allgemeinheit allein eine der Form ist: Jedes Individuum hat ausschließlich sich zum Zweck, darüber konstituiert sich anarchisch-ungeplant der Konnex zwischen den Einzelnen: „Die Allgemeinheit hat hier zum Ausgangspunkt die Selbstständigkeit der Besonderheit, und die Sittlichkeit scheint somit auf diesem Standpunkte verloren“ (GPR, § 181, Zus.). Trotz der mehrmaligen Betonung des Verlusts und der bloßen Form der Allgemeinheit hält
27 Dem Begriff „Bourgeois“ kommt hier keine negative Konnotation zu, sondern bezeichnet den Menschen auf dem Standpunkt seiner ökonomischen Interessen stehend. 28 Hegel zufolge „ist also erst hier [in der bürgerlichen Gesellschaft, I. S.] und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede“ (GPR, § 190, Anm.). Da kein Zweifel daran gelassen wird, dass in dieser Sphäre das Subjekt als allein sein eigenes Wohl verfolgendes betrachtet wird, erstaunt es, dass die Verteidiger Hegels ausgerechnet diese und ähnliche Stellen (vgl. bspw. GPR § 185, Anm. und Zus., GPR, § 209 Anm.) zur Bekräftigung ihrer Position mit einer gewissen feierlichen Emphase anführen (vgl. bspw. Vieweg 2012, S. 304 f. sowie Ritter 1956, S. 228). Zweifelsohne ist es das Verdienst der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, die Besonderheit ins Recht zu setzen; jedoch sollte man dabei nicht aus dem Blick verlieren, dass hier ausschließlich das Individuum als Inhaber materieller Interessen bzw. als Bourgeois Gegenstand der Betrachtung ist.
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Hegel an diesem Begriff fest: Der Schein der Allgemeinheit ist hier im doppelten Sinne zu verstehen, einerseits als reiner Anschein, über den man sich täuscht, zum anderen jedoch durchaus als tatsächliche Erscheinung (grch. parousía – Gegenwart, Anwesenheit; vgl. Schnädelbach 2000, S. 268). Letztlich ist der Einzelne im Irrtum, wenn er annimmt, dass es ihm nur um sich geht, „denn indem ich das Besondere festzuhalten glaube, bleibt doch das Allgemeine und die Notwendigkeit des Zusammenhangs das Erste und Wesentliche: ich bin also überhaupt auf der Stufe des Scheins, und indem meine Besonderheit mir das Bestimmende bleibt, das heißt der Zweck, diene ich damit der Allgemeinheit, welche eigentlich die letzte Macht über mich behält.“ (GPR, § 181, Zus.)
Während sich das Individuum also in einer Täuschung befindet, kommt es in der Realität durchaus zur Konstitution einer – wenn auch nur als äußerlich und formal bestimmten – Allgemeinheit. Es ist also zu klären, wie es überhaupt zu dieser rudimentären Form kommen kann, wenn es jedem Einzelnen allein um seinen materiellen Vorteil geht, und jeder bei seinem Handeln unwissend doch in erster Linie der Allgemeinheit dient. Diese Bestimmung erstaunt insofern, als die Entstehung des Allgemeinen von Hegel bislang immer geknüpft wurde an das Bewusstsein der Individuen über es – in diesem Zitat hingegen wird es vom Einzelnen unterschieden und scheint sogar im Gegensatz zu ihm stehen, sofern es „hinter seinem Rücken“ die ihn letztlich bestimmende Macht darstellt.29 Das System der Bedürfnisse als gesellschaftlicher Reproduktionszusammenhang Zur Klärung soll Hegels Argumentation im ersten Abschnitt, das sogenannte „System der Bedürfnisse“, nachvollzogen werden. Dieser untergliedert sich in die Punkte „Die Art des Bedürfnisses und der Befriedigung“, „Die Art der Arbeit“ und „Das Vermögen“ und wird von Hegel wie folgt definiert: „Die Besonderheit zunächst als das gegen das Allgemeine des Willens überhaupt Bestimmende [...] ist subjektives Bedürfnis, welches seine Objektivität, d. i. die Befriedigung durch das Mittel α) äußerer Dinge, die nun ebenso das Eigentum und Produkt anderer Bedürfnisse und Willen sind, und β) durch die Tätigkeit und Arbeit, als das die beiden Seiten vermittelnde, erlangt. Indem sein Zweck die Befriedigung der subjektiven Besonderheit ist, aber in der Be-
29 Insofern muss bereits an dieser Stelle bestritten werden, dass in dieser Sphäre das „Prinzip der Autonomie des Individuums“ (Horstmann, in: Siep 2005, S. 195) das Bestimmende und „auch Grundlage aller es übergreifen-der Strukturen“ (ebd.) ist.
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ziehung auf die Bedürfnisse und die freie Willkür anderer die Allgemeinheit sich geltend macht, so ist dies Scheinen der Vernünftigkeit in dieser Sphäre der Endlichkeit der Verstand, die Seite, auf die es in der Betrachtung ankommt und welche das Versöhnende innerhalb dieser Sphäre selbst ausmacht.“ (GPR, § 189)
Während im abstrakten Recht die negative Bestimmung festgehalten wurde, dass der Zweck des Eigentums nicht in der Bedürfnisbefriedigung liegt, wendet sich Hegel nun dem Reproduktionsprozess der Gesellschaft und damit der Frage zu, wie die materiellen Bedürfnisse ihrer Mitglieder bedient werden; schließlich existiert faktisch eine Reproduktion der Gesellschaftsmitglieder, sodass also eine noch näher zu bestimmende Weise der durchaus existierenden – wenn diese auch nicht Zweck der gesellschaftlichen Einrichtungen ist – Bedürfnisbefriedigung erfolgen muss. Die einzelnen Momente dessen und die sich dadurch konstituierende Allgemeinheit sollen nun im Gang durch sein „System der Bedürfnisse“ entwickelt und dadurch die Bestimmungen des Zitats sukzessive eingeholt werden. Hegel widmet sich zunächst dem Bedürfnis an sich, das ihm zufolge in die Partikularität des Subjekts fällt. Der Mensch zeichnet sich im Gegensatz zum Tier dadurch aus, dass er Bedürfnisse der vielfältigsten Art hat, neue entwickelt (vgl. GPR, § 190) und die Natur zu beherrschen vermag, wodurch er sich die Mittel zur Befriedigung dieser erzeugt (vgl. GPR, § 191). Hegel zufolge darf es der „Geist auch nicht so bequem haben“ (ebd., § 190, Zus.) wie das Tier, sodass diese „Verfeinerung“ (ebd., § 191) als ein positives Moment der Selbstverwirklichung verstanden wird: Dass nicht allein der unmittelbare Bedarf bzw. die Nützlichkeit, sondern Geschmack und somit rein subjektives Gefallen30 zu Kriterien der Beurteilungen von Dingen werden (vgl. ebd., § 190, Zus.), wird von dem Philosophen als zur Bildung gehörendes (ebd.), materielles Freiheitselement verstanden. Dies bedeutet umgekehrt, dass es dem Menschen sogar inadäquat wäre, wenn er auf dem Niveau der ursprünglichen Naturbedürfnisse stehen bliebe: „[D]as Naturbedürfnis als solches und dessen unmittelbare Befriedigung [ist] nur der Zustand der in die Natur versenkten Geistigkeit und damit der Rohheit und Unfreiheit“ (GPR, § 194, Anm.). Analog zum Postulat des geistigen Emporarbeitens aus der Unmittelbarkeit der Empfindung wird auch hier die Forderung nach der Entwicklung und Kultivierung von Bedürfnissen aufgestellt, durch die sich das Subjekt zu
30 Die Auslegung, Hegel würde hier bei der „Meinung, die befriedigt werden muss“ (GPR, § 190, Zus.) kritisch von Statussymbolen sprechen (vgl. Vieweg 2012, S. 290), ist m. E. nicht zutreffend. Da er ausführt, dass dieses Element zur Bildung gehört (ebd.), ist die Meinung als Kriterium eindeutig positiv konnotiert. Dies lässt die Deutung plausibler erscheinen, dass diese Stelle von der Entwicklung der Subjektivität von der rein in die Zufälligkeit des Geschmacks fallenden Bewertung einer Sache handelt.
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einem solchen bildet. Der Philosoph vertritt keine Konsumkritik,31 sondern trägt – wie sich dies auch bisher immer dargestellt hat – der Bestimmung des Menschen als nicht nur geistigem, sondern auch körperlichem Wesen Rechnung; somit ist die Entfaltung in materieller Hinsicht durch die Hervorbringung neuer Verlangen Teil der Verfeinerung und „Befreiung“ (ebd., § 195) des Individuums. Dennoch ist diese – als zentraler Unterschied zur geistigen Befreiung – rein „formell, indem die Besonderheit der Zwecke der zugrunde liegende Inhalt bleibt“ (GPR, § 195): Während sich das Individuum durch das Emporarbeiten zur Vernunft einen allgemeinen Inhalt aneignet, der letztlich bei gelingender geistiger Selbstverwirklichung bei allen Individuen den identischen hervorbringt, stellt die materielle Befreiung durch Saturierung einen Raum der Willkür dar, insofern als es rein in den Geschmack des Subjekts fällt, was dieses begehrt. Für Hegel konstituiert sich der materielle Freiheitsraum gerade da, wo die Natürlichkeit überwunden und darüber hinausgehende Dinge begehrt werden. In dieser Sphäre des Genusses hat die Partikularität des Individuums ihr Recht, die Befreiung bleibt so ihrem Inhalt nach besonders. Wie nun erlangen die Subjekte den materiellen Stoff, durch den sie sich saturieren können? In dem Begriffszitat verweist Hegel darauf, dass die Bedürfnisse ihre Objektivität durch das Eigentum anderer sowie durch die Arbeit als das beide Seiten Verbindende erlangen. In den Ausführungen über das abstrakte Recht wurde die erste Bestimmung dargelegt: In den Dingen liegt der Wille einer Person, sodass sich zu diesem in einem prinzipiell anerkennenden Verhältnis in Beziehung gesetzt werden muss; nur wenn auf Basis dieser wechselseitigen Anerkennung ein gemeinsamer Wille hinsichtlich der infrage stehenden Sache gefunden werden kann, ergibt sich die Möglichkeit der Aneignung des mir ursprünglich entzogenen Eigentums des anderen. Damit diese Einigung gelingt, ist unterstellt, dass man selbst dem Verfüger über die Ware etwas anzubieten vermag, was auf sein Interesse stößt. Bin ich also selbst kein Eigentümer – sei es anderer Waren oder der allgemeinen Ware, sprich dem Geld – kommt es selbstredend zu keinem Tausch; mein Ausschluss wäre nicht zu überwinden. Deswegen spricht Hegel von der Arbeit als das die beiden
31 Deutungen, die Hegels vermeintliche Konsumkritik vor allem an seinen Ausführungen zum Luxus festmachen (vgl. bspw. Vieweg 2012, S. 292), scheinen nicht mit seiner Intention übereinzustimmen: Dass sich die „Abhängigkeit und Not“ (vgl. GPR, § 195) durch das Verlangen nach Luxus vergrößern würden, kennzeichnet nicht eine Art innere Verkümmerung, sondern stellt eine Kritik des gesellschaftlichen Zusammenhangs dar, indem das Angewiesensein auf den anderen negative Implikationen hat (vgl. die folgenden Ausführungen sowie Schick 2013, S. 180 in: Braune u. a.). Wie Schnädelbach richtig feststellt, lehnt Hegel auch eine Unterscheidung in vermeintlich wahre und falsche Bedürfnisse, wie dies bspw. von Jean-Jacques Rousseau oder später von Herbert Marcuse vertreten wird, ab (vgl. Schnädelbach 2000, S. 276).
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Seiten Vermittelnde; sie leistet „die immer sich erneuernde Hervorbringung austauschbarer Mittel“ (Enz. III, § 524). Die Betätigung nicht nur im Geiste, sondern auch das Produzieren von Waren ist also entscheidend, damit eine Person als Eigentümer in der Gesellschaft in Erscheinung tritt, ihre Bedürfnisse befriedigen und damit die erläuterte materielle Befreiung erlangen kann:32 „Die Vermittlung, den partikularisierten Bedürfnissen angemessene, ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Prozesse spezifiziert. Diese Formierung gibt nun dem Mittel den Wert und seine Zweckmäßigkeit, so daß der Mensch in seiner Konsumtion sich vornehmlich zu menschlichen Produktionen verhält und solche Bemühungen es sind, die er verbraucht.“ (GPR, § 196)
Die Arbeit wird wesentlich dadurch charakterisiert, dass das in der Natur vorgefundene Material gemäß den Zwecken des Menschen umgestaltet wird. Durch diese erhalten die bearbeiteten Sachen ihren Wert im doppelten Sinne, nämlich ihre Brauchbarkeit für die Bedürfnisbefriedigung und ihren geldgleichen Wert für den Austausch.33 Da, wie Hegel im Zusatz schreibt (vgl. ebd., Zus.), kaum Stoffe existieren, die unmittelbar verkonsumiert werden können, ist die Saturierung von Bedürfnissen ab einer gewissen Stufe der zivilisatorischen Entwicklung immer eine gesellschaftliche Frage: Die Dinge sind durch menschliche Produktion entstandene, sodass der Einzelne also auf andere verwiesen ist, sobald seine Bedürfnisse den Umkreis der unmittelbar durch die Natur gegebenen sowie die durch ihn selbst herzustellenden Güter übersteigt. Im Zitat ist das mit der Fähigkeit, adäquate Mittel nicht nur zu bereiten, sondern auch zu erwerben, sowie mit dem Hinweis auf den durch Arbeit entstehenden Wert angesprochen: Der Produzent erzeugt Mittel für seine Konsumption, aber ebenso solche, die er auf dem Markt als potentieller Vertragspartner anbieten kann. Neben der Möglichkeit eine äußere Sphäre seiner Freiheit zu erlangen, ist Arbeit auch deswegen ein wichtiges Moment von Selbstver-
32 Bei der Betonung der Bedeutung der Arbeit und angesichts des heute überall zu vernehmenden Rufes nach ihr – wo doch nicht sie, sondern die Sicherung des Lebensunterhaltes der Zweck ist – muss hervorgehoben werden, dass dies auch Hegels Ansicht ist: „Kein Mensch wirft Abends die Produkte seiner Arbeit während des Tages ins Wasser, jeder hat vielmehr diese Produkte zu seinem Zweck, nicht seine Arbeit die nur das Mittel ist, das Resultat ist die Befriedigung seiner Bedürfnisse, gesicherter Lebensunterhalt.“ (GSGPR, § 254, S. 624) 33 Es ist Hegels Verdienst, diese beiden Momente der Arbeit erkannt zu haben – es ist jedoch seine Schwäche, sie – analog zur Kategorie des Eigentums – als Kennzeichnung der Arbeit an sich und nicht als der Arbeit im Kapitalismus begriffen zu haben.
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wirklichung, weil sie mit theoretischer und praktischer Bildung (vgl. GPR, § 197) – modern: mit dem Erwerb von Qualifikationen – verbunden ist: Unter anderem entwickelt das Individuum spezifische Kenntnisse, bspw. über das bearbeitete Material, verfeinert seine Beweglichkeit und Schnelligkeit und verbessert so in seinem Metier die Geschicklichkeit (vgl. GPR, § 197). Entsprechend der Bestimmungen dieser Sphäre, sich rein auf die äußere Seite der Freiheit einer Person zu beziehen, bezeichnet Hegel dies als „formelle Bildung“34 (Enz. III, § 525). Die Rechtsfigur „Eigentümer“ in der Realität: Waren-, Arbeitskraftund Kapitalbesitzer Diese prägt sich vor allem deswegen aus, weil mit der Entwicklung der Produktivkräfte eine zunehmende Spezifizierung auf bestimmte Tätigkeiten einhergeht und das Individuum damit in seinem Bereich Gewohnheit entwickelt. Aufgrund dieser durch die Teilung der Arbeit hervorgebrachten Spezifizierung steigt wiederum die Produktivität der Gesellschaft, da der Einzelne nun mehr Produkt in kürzerer Zeit herstellen kann (GPR, § 198). Hegel hat bereits den Prozess der zunehmenden Mechanisierung bzw. den Einsatz von Maschinen vor Augen, wodurch der Mensch zunächst ein Stück weit entlastet wird (vgl. ebd., § 198).35 Es stellt sich außerdem eine weitere Konsequenz ein, die vor allem im Kontext mit Hegels drittem Element des Systems der Bedürfnisse, dem Vermögen, an Brisanz gewinnen wird: Durch die zunehmende Teilung der Arbeit „vervollständigt [...] [sich, I. S.] die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit“ (GPR, § 198); schließlich spezifiziert sich der Einzelne zunehmend auf eine Teiltätigkeit zur Herstellung eines Produkts, sodass er
34 Insofern ist es irreführend hier einen Art empathischen Bildungsbegriff zu verorten: Es geht weniger darum, dass das Subjekt sich selbst als Allgemeines und Vernünftiges erkennt, wie dies u. a. in der Sphäre des Staates und der Philosophie der Fall ist; der Fokus liegt hier primär auf der Funktionalität des Individuums in und für die Gesellschaft (anders hingegen bspw. Brocker 1992, S. 317); wie Losurdo ausführt, ist formelle Bildung das Instrumentarium, das der Bourgeois „zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit benötigt.“ (Losurdo 2000, S. 287) 35 Wie im Abschnitt über die Eigentumstheorie in Abstraktion bereits deutlich wurde und wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist es nicht korrekt, das Entstehen der Armut allein hier, bei dem Einsatz der Maschinen und damit der Überflüssigmachung der Arbeiter zu verorten (vgl. für eine solche Deutung bspw. Ruda 2011, S. 34). Die Notwendigkeit der Armut ist vielmehr bereits in der Eigentumslosigkeit begründet: Allein deswegen wird es materiell überhaupt nur zum Problem, dass jemandes Geschicklichkeit an einer bestimmten Stelle aufgrund des Einsatzes von Maschinen nicht mehr benötigt wird.
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zur Saturierung seiner Bedürfnisse zunehmend auf die anderen Gesellschaftsmitglieder verwiesen ist (vgl. auch Hösle 1988, S. 541). An dieser Stelle werden auf der Ebene des materiellen Reproduktionsprozesses die Bestimmungen aus der Sphäre des Rechtlichen bedeutend: Als Eigentümer ist jeder zunächst vom Eigentum des anderen ausgeschlossen und allein auf seine Mittel verwiesen. Um an die Dinge des Bedarfs zu kommen, die er nicht selbst herstellt – die aus den benannten Gründen immer zahlreicher werden –, muss die Person eine eigentumsmäßige Gegenleistung anbieten können, um Verträge mit den anderen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft schließen zu können. Was jemand erwerben kann, bestimmt sich also durch die Ware, die er auf dem Markt anbieten kann. Entsprechend zur Hegelschen Bestimmung, das tatsächliche Eigentum einer Person zur rechtlichen Zufälligkeit zu erklären, der keine aus der Sphäre der Moral entspringenden Gleichheitsforderungen entgegengehalten werden dürfen, stellt sich die Realisierung des Rechtsprinzips Eigentum als notwendigerweise höchst unterschiedliche Verteilung des Vermögens dar: Während einige über „eine unmittelbare eigene Grundlage (Kapital)“ (GPR, § 200) verfügen, haben andere allein „Geschicklichkeit“ (ebd.), wobei diese aufgrund von Zufälligkeiten sowie ungleichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten wiederum äußerst ungleich bei den verschiedenen Personen auftritt (vgl. ebd.). Während Eigentümer, die über Kapital verfügen, eine selbstständige Grundlage für ihre Existenz besitzen, haben die davon freien zwei Möglichkeiten ihrer Reproduktion: Sie können als Warenbesitzer im klassischen Sinne auftreten, also Produkte herstellen, die sie anschließend auf dem Markt verkaufen. Wie erläutert, wird diese ökonomische Figur jedoch immer seltener, da Waren zumeist maschinell produziert werden – also Auslagen erfordern, die die Mittel eines solchen Unselbstständigen zumeist übersteigen und zudem häufig mehr als einen Arbeiter zur Herstellung erfordern. Die zweite Möglichkeit besteht darin, ihre „Geschicklichkeit“ bzw. ihre Qualifikationen und Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt anzubieten, um durch den Verkauf einer zeitweiligen Verfügung über ihr Können Geld zu erwerben. Dass diese Weise der Reproduktion andere Schwierigkeiten mit sich bringt, wird später bei der Prüfung der Hegelschen Erläuterungen zur sich konstituierenden formellen Allgemeinheit deutlich werden. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die formal gleichen Eigentümer in der Realität äußerst unterschiedlich mit Mitteln ausgestattet sind und dies für Hegel selbstverständlich war: Er wiederholt seine Polemik gegen das Aufstellen eines Sollens der Gleichheit (vgl. ebd., Anm.); die „Ungleichheit der Geschicklichkeit, des Vermögens und selbst der intellektuellen und moralischen Bildung“ (vgl. ebd.) ist für den Philosophen
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schlicht von Natur aus gegeben und – entgegen seiner sonstigen Forderung der Emanzipation des Geistes von der Natürlichkeit – unumgänglich.36 Die Unterscheidung nach der ökonomischen Grundlage der Erwerbsquelle, wie sie mit Kapital und eigener Geschicklichkeit getroffen wurde, lässt sich noch weiter ausdifferenzieren, wenn man nicht allein die eigentumsmäßige Basis der Revenue betrachtet: Hegel zufolge untergliedert sich die Ökonomie in drei Stände, die modern als „Berufe“ bzw. Berufsgruppen bezeichnet werden können (vgl. Hösle 1988, S. 534 sowie Vieweg 2012, S. 299).37 Differenziert wird zwischen dem „substantielle[n] oder unmittelbare[n]“ (GPR, § 202), also dem landwirtschaftenden Stand, dem „Stand des Gewerbes“ (GPR, § 204), der sich in den Handwerksstand, den Fabrikantenstand sowie den Handelsstand untergliedert (vgl. ebd.) sowie dem „allgemeine[n] Stand“ (GPR, § 205), unter den alle Beamten und Politiker gefasst werden. Letztere fallen dabei, wie im Kapitel über den Staat noch näher auszuführen sein wird, aus der ökonomischen Logik der Warengesellschaft heraus, da sie vom Gemeinwesen alimentiert werden. Erwähnt werden die Stände hier nur unter dem Gesichtspunkt, dass sie ein konstitutives Element der bürgerlichen Gesellschaft darstellen, in der der Einzelne als Bourgeois zum ersten Mal mit der Allgemeinheit verbunden wird: „Ein Mensch ohne Stand ist eine bloße Privatperson und steht nicht in wirklicher Allgemeinheit“ (EGGPR, § 207, S. 263), weil ihm das Gemeinschaftsgefühl der Berufsverbände fehlt. Zwar ist dieser Zusammenschluss widersprüchlich, da Menschen als Wirtschaftssubjekte nach wie vor Konkurrenten sind, sich aber dennoch als Angehörige eines bestimmten Standes als Kollektiv begreifen. Hegel zufolge bilden sie auf Basis der geteilten Weise der Subsistenz gemeinsame Interessen, Bedürfnisse und Gewohnheiten aus (vgl. Enz. III, § 527)38 und
36 Analog zur sich bei Hegel wiederholenden Apologie findet dieser Passus auch in der Sekundärliteratur entsprechend den Ausführungen zum Eigentum breite Zustimmung (vgl. bspw. Hösle 1988, S. 545); Hösle ist in seiner Deutung jedoch Inkonsequenz vorzuwerfen, da er einerseits meint, dass die Notwendigkeit von Vermögensunterschieden „sicher zugegeben“ (ebd.) werden muss, aber andererseits abstreitet, dass damit Folgen für die Bildung einer Person verbunden sind, wie dies Hegel ausführt (vgl. ebd., S. 545). 37 Hierfür spricht unter anderem, dass das Prinzip der Freiheit der Berufswahl gilt: Hegel zufolge können sich die Individuen einem jeweiligen Stand zurechnen (vgl. Enz. III, § 527 sowie GSGPR, § 206, S. 522 f.). 38 Hegel entwickelt hier „erste Ansätze zu einer Berufspsychologie“ (Hösle 1988, S. 545), wenn er erläutert, wie sehr die Gesinnung eines Individuums dadurch geprägt oder sogar erzeugt wird, welchem Stand es jeweils angehört, sodass man sich des Eindrucks kaum erwehren kann, hier einen rudimentären Ansatz der Marxschen Basis-Überbau-These vor sich zu haben – wenn auch ausdrücklich nicht in kritischer Absicht: Für den Philosophen scheint es selbstverständlich zu sein, dass beispielsweise der natürliche Stand eine auf
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finden in diesen „ihre Sittlichkeit als Rechtschaffenheit, ihr Anerkanntsein und ihre Ehre“ (ebd.). Dennoch ändern die Berufsgruppen als wesentliches Moment der bürgerlichen Gesellschaft nichts daran, dass die Individuen in dieser vornehmlich als private Wirtschaftssubjekte auftreten und erst in zweiter Hinsicht Standesangehörige sind; die Stände treten zwar, wie noch deutlich wird, ökonomisch und politisch als Kollektiv auf, ersetzen die freien Personen jedoch nicht. Wie zu zeigen sein wird, sind die Stände für das Phänomen der Armut in zweierlei Hinsicht relevant. Das System der Bedürfnisse – weder Moment der äußeren Freiheitssphäre noch Prinzip einer sich konstituierenden Allgemeinheit Die bürgerliche Gesellschaft stellt eindeutig einen Fortschritt gegenüber anderen ökonomischen Systemen dar, was bereits durch eines ihrer zwei sie konstituierenden Prinzipien deutlich wurde: „Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeiten und Willkür“ (GPR, § 182) ist hier ins Recht gesetzt; es ist also gesellschaftlich und staatlich anerkannt, dass sich der Einzelne zunächst primär um sich und seine Familie kümmert, wobei diese Berechtigung unabhängig von allen Besonderheiten des Menschen für jeden gilt. So sehr diese Fortentwicklung festzuhalten ist, schließen sich daran doch unmittelbar zwei Fragen an, die letztlich für die Beurteilung dieses Systems des Wirtschaftens entscheidend sind: Gelingt dem Einzelnen die Realisierung seiner materiellen Willensinhalte oder bleibt die ihm zugestandene äußere Sphäre seiner Freiheit ein Formalismus? Und welcher gesellschaftliche Zusammenhang konstituiert sich hierbei, wenn in der bürgerlichen Gesellschaft „jeder sich Zweck, alles andere [...] ihm nichts“ (GPR, § 182, Zus.) ist? Einige Argumente aus Hegels Bestimmungen wurden hierzu bereits ausgeführt, die eher zur Skepsis veranlassen: Die Personen stehen in einem sich wechselseitig von ihrem Eigentum ausschließenden Verhältnis und setzen sich allein auf Basis eines Vertragsverhältnisses, also des Prinzips „Do ut des“ in Beziehung zueinander; hierbei haben sie lediglich ihr eigenes Wohl im
„dem Zutrauen beruhende Sittlichkeit“ (GPR, § 203) besitzt, die sich durch das sie charakterisierende Verhältnis zur Natur ergibt: In der Landwirtschaft weiß man sich primär in Abhängigkeit von der Natur und kann somit weitgehend nur hinnehmen, was der Vorstellung nach von Gott gegeben wurde. Insofern wissen die Mitglieder dieses Standes den eigenen Willen und das eigene Tun als ein untergeordnetes, nicht die Verhältnisse bestimmendes Moment; sie fügen sich in die gegebene Abhängigkeit und verallgemeinern diese Gesinnung des Zutrauens auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse (vgl. v. a. GPR, § 203, Zus.).
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Blick, das Verhältnis zum anderen entsteht allein aufgrund ihrer wechselseitigen Abhängigkeit. Materiell gestaltet sich dies derart, dass die Vermögen äußerst unterschiedlich verteilt sind, sodass sowohl den Tätigkeiten, die jemand zu verrichten vermag, wie auch den dadurch erlangten Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung aufgrund der ungleichen Tauschverhältnisse verschiedene Qualität zukommt. Daraus ergeben sich Differenzen hinsichtlich der materiellen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung als auch der formellen Bildung und Sittlichkeit, weswegen dieses zunächst ökonomische Thema letztlich zu einem genuin politischen wird: Wie kann das absolute Gebot des Emporarbeitens zur Vernunft allen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft gelingen? Oder gilt dieses, obwohl es sich dem Wortlaut zufolge aus dem Begriff des Menschen als Vernunftbegabtem ergibt und damit für alle gelten müsste, praktisch nur für wenige? Diese Folgerungen erschließen sich aus Hegels eigenen Bestimmungen und sind partiell – zum Beispiel hinsichtlich der Negation des Zwecks der Bedürfnisbefriedigung durch das Eigentum oder des von der Anerkennung des Willens abgesehenen auch negativen intersubjektiven Verhältnisses im Vertrag – von ihm selbst ausgesprochen. Was nun die Beantwortung der beiden Fragen für die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft anbelangt, so finden sich bei dem Philosophen zahlreiche weitere Ausführungen, die im Folgenden noch zu würdigen sind. Hegels Beurteilung ist, so viel wurde bereits ebenfalls deutlich, äußerst ambivalent: Er ist weder – wie die „marktliberale Theorie“ – ein glühender Verfechter der bürgerlichen Gesellschaft, noch lehnt er sie in Gänze ab; dass sie jedoch zahlreiche Widersprüche produziert und negative Konsequenzen zeitigt, steht für Hegel außer Frage, weswegen ihm letztlich auch eine Aufhebung im Staat nötig scheint.39 Wodurch also ergibt sich seine zweigeteilte Einschätzung? Für Hegel steht zunächst fest, dass „in der bürgerlichen Gesellschaft Besonderheit und Allgemeinheit auseinandergefallen sind“ (GPR, § 184, Zus.); wären sie identisch, müsste nicht extra hervorgehoben werden, dass sich in dieser Sphäre jeder Selbstzweck sein darf – die Beförderung des Allgemeinen wäre in diesem Fall kaum von der des Einzelnen zu unterscheiden. Hier aber hat jedes Wirtschaftssubjekt nur sein eigenes Wohl im Sinne, kann dieses jedoch aufgrund der beschriebenen Umstände der Arbeitsteilung sowie der Vervielfältigung der Bedürfnisse nur durch die Bezugnahme auf andere erreichen; „diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen“ (GPR, § 182, Zus.), somit bestimmt ein prinzipiell instru-
39 Wie bereits im Abschnitt über den Eigentumsbegriff deutlich gemacht, wird die These vertreten, dass die Sphäre der Ökonomie von Hegel bereits zu Beginn ihrer Entwicklung auf der Ebene des abstrakten Rechts in diesem Sinne beurteilt wird; in der Sekundärliteratur erscheint es oft gänzlich unbegreiflich, warum plötzlich von negativen Folgen die Rede ist, wo doch zunächst die Bedürfnisbefriedigung aller ohne Friktionen zu gelingen scheint (vgl. bspw. Horstmann, in: Siep 2005, S. 207 und dazu im Widerspruch S. 209 f.).
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mentelles Verhältnis den intersubjektiven Verkehr. Dennoch behauptet Hegel, dass so eine Allgemeinheit in Erscheinung tritt: „Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl der anderen mit befriedigt. Indem die Besonderheit an die Bedingung der Allgemeinheit gebunden ist, ist das Ganze der Boden der Vermittlung, wo alle Einzelheiten, alle Anlagen, alle Zufälligkeiten der Geburt und des Glücks sich frei machen [...]. Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert.“ (GPR, § 182, Zus.)
Das Wollen des Einzelnen muss, um Befriedigung erlangen zu können, als Allgemeines auftreten in dem Sinn, dass es sich die gesellschaftlich gültige Form geben muss. Dies bedeutet im Fall der in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Rechtsprinzipien, dass Personen sich als Eigentümer zueinander verhalten: Wer etwas konsumieren möchte, muss als Geld- oder Warenbesitzer auf dem Markt auftreten und sich so Mittel für den Tausch erwerben, um dem anderen Eigentümer eine waren- oder geldgleiche Gegenleistung anbieten zu können; dieses Prinzip gilt für alle Personen der bürgerlichen Gesellschaft, unabhängig von ihrer Herkunft, ihren materiellen Mittel oder Ähnliches. In einem zweiten Schritt – wie bereits am Begriffszitat zu Beginn dieses Abschnittes gezeigt – impliziert dieses Auftreten laut Hegel außerdem, dass der Einzelne – so sehr er auch allein sich selbst Zweck ist – dennoch den anderen befriedigt, weil er sich mit diesem als Eigentümer ins Verhältnis setzen muss und eine Transaktion allein zustande kommt, wenn sie einen gemeinsamen Willen entwickeln.40 Einerseits entsteht so also eine Art Allgemeinheit, indem sich alle derselben Rechtsstrukturen bedienen und ihre Saturierung allein auf diesem Weg der wechselseitigen Berücksichtigung ihrer Interessen suchen können. Andererseits handelt es sich hierbei nur um die Form der Allgemeinheit, weil nach wie vor jeder Marktteilnehmer ausschließlich seinen „selbstsüchtige[n] Zweck“ (GPR, § 183) verfolgt. Die Bedienung des anderen Willens erfolgt nur aufgrund der unbedingten Abhängigkeit, die nicht umgangen werden kann und ist also allein Mittel zum eigenen Wohl: Das Individuum soll „sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen“ (GPR, § 187), da „die Befriedigung gegenseitig bedingt“ (GPR, § 192; vgl. auch GPR, § 184, Zus. sowie GPR, § 187) ist. Aus dieser wechselseitigen Bedingtheit leitet Hegel ab, dass so im bloßen Verfolgen des
40 „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist“ (GPR, § 183).
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eigenen Wohls dennoch das eines jeden letztlich zustande kommt – sofern, wie er mit der Einschränkung „beschränkt durch die Allgemeinheit“ verdeutlicht, das Wirtschaftssubjekt in der gesellschaftlich gültigen Rechtsform, also als Eigentümer, auftritt. So entstehe „die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen“ (GPR, § 188). Die Existenz des Allgemeinen in dieser Sphäre nimmt dem Philosophen zufolge sogar die Form eines allgemeinen Vermögens an (vgl. GPR, § 199), von dem jedes Gesellschaftsmitglied – wenn auch selbstredend in unterschiedlichem Maße – partizipieren kann. Diese Verschlingung der Besonderheiten zu einem System der Bedürfnisse ist das, was im Begriffszitat als das Versöhnende dieser Sphäre gekennzeichnet wird: Diese Charakterisierung erinnert an den negativen Ausgangspunkt, in dem sich Bourgeois-Interessen selbstsüchtig gegenüberstehen, also zunächst in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen. Die Interessen werden Hegel zufolge dadurch versöhnt, dass sie die Anliegen des anderen berücksichtigen müssen, um ihren eigenen Willensinhalt realisieren zu können. Die pure Notwendigkeit, ein Produkt nur durch Bezahlung bzw. Geld allein durch das Anbieten von Waren zu bekommen, verwandelt den zunächst negativen Charakter der Beziehung zu einem – wenn auch zwangsweise erzeugten – Zusammenwirken der Gesellschaftsmitglieder. Folgt man der Rechtsphilosophie bis zu dieser Stelle, so könnte Hegel als Liberaler par excellence bezeichnet werden, der den Menschen als bürgerliches Wirtschaftssubjekt schätzt und die Vorstellung einer „invisible hand“ zu vertreten scheint; trotz der Analyse der negativ konnotierten Vertragsverhältnisse setzt sich schließlich hinter dem Rücken der Marktteilnehmer eine allgemeine Bedürfnisbefriedigung durch – eine Allgemeinheit, die auch bis zu dieser Stelle der Argumentation nur als rudimentär zu bezeichnen ist, aber immerhin einen Schritt in Richtung Vernunftverwirklichung darstellt. Bis zu diesem Stand der Analyse wird die Gesellschaft bestimmt als die „von Adam Smith, in der sich, wie es damals schien, die selbstsüchtigen Zwecke der Einzelnen per saldo als eine Gemeinschaft der Interessen herausstellen“ (Bloch 1972, S. 254). Nun bleibt Hegel jedoch bei der konstatierten Versöhnung, dieser einseitigen Betrachtungsweise, die auch den zahlreichen Anspielungen auf die negativen Konsequenzen der behandelten Prinzipien widersprechen würde, nicht stehen (vgl. auch Vieweg 2012, S. 288 sowie Schnädelbach 2000, S. 278);41 Besonderheit und Allgemeinheit bleiben sogar in solchem Maß unversöhnt, dass Hegel an das Recht des Einzelnen gegen das Allgemeine erinnert:
41 „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verfloch-
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„Sagt man also: im Allgemeinen wird sich das Gleichgewicht immer herstellen, so ist dies richtig. Aber es ist hier ebenso ums Besondere als ums Allgemeine zu tun; die Sache also soll sich nicht bloß im Allgemeinen machen, sondern die Individuen als Besonderheit sind Zweck und haben eine Berechtigung.“ (Vorl. zu GPR III, S. 699, zitiert nach Losurdo 2006, S. 28)
Hegels Bestimmung vom Beginn des Kapitels, dass das Allgemeine in dieser Sphäre letztlich immer die Macht über die Individuen behalten wird, bedeutet letztlich, dass der Einzelne den Marktgesetzen entsprechen muss, soll seine Subsistenz gewährleistet sein. Dies ist jedoch nicht immer und damit nicht aus dem „freien Spiel der Märkte“ heraus der Fall, sodass der Philosoph gegen diese die Berechtigung des einzelnen Individuums hervorheben muss. Weswegen kann die Subordination unter das Allgemeine des Marktes die Reproduktion mancher Gesellschaftsmitglieder bedrohen? Das System der Atomistik verwandelt sich durch den rechtsförmig gleichen Bezug der Eigentümer aufeinander nicht in eine harmonische Gesellschaft, in der ein positiver intersubjektiver Zusammenhang generiert wird und die Bedürfnisse all ihrer Mitglieder befriedigt werden – im Gegenteil: „andererseits als unendlich erregt und in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkür sowie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt, ist die Befriedigung des notwendigen wie des zufälligen Bedürfnisses zufällig. Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwicklung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar.“ (GPR, § 185)
Einerseits kommt es durch das Tauschprinzip, in dem sich Eigentümer gegenübertreten, zu einer Reproduktion der Gesellschaft, weil alle wechselseitig dazu gezwungen sind, die Privatinteressen des anderen zu berücksichtigen; auf diese anarchische Weise gelingt im Großen und Ganzen die materielle Versorgung der Menschen. Andererseits ist und bleibt der intersubjektive Zusammenhang ein negativer, bei dem der andere nur zur materiellen Saturierung gelangt, wenn er über genügend Geld, Waren oder eine einen Kapitaleigentümer interessierende Geschicklichkeit verfügt. Unendlich erregt ist der Einzelne, da sich seine Bedürfnisse vervielfältigen, wodurch wiederum seine Abhängigkeit von den anderen steigt. Ob dabei seine elaborierten wie auch seine elementaren Bedürfnisse befriedigt werden, ist dabei kontingent, weil dies von der Zufälligkeit seines Verfügens über Eigentum, seinen persönlichen Fähigkeiten, den Bedürfnissen der anderen sowie weiteren, außer seinem Willen liegenden Bedingungen wie Anzahl der anderen konkurrierenden Warenbe-
ten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist“ (GPR, § 183).
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sitzer etc. abhängt.42 So sehr sich also eine allgemeine Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels naturwüchsig-ungeplant entwickelt, bleibt die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen entsprechend der bereits beim abstrakten Recht herausgearbeiteten Bestimmungen völlig dem Zufall überlassen; die Bedürfnisse werden „von diesem Prozess nur mitgeschleift“ (Adorno 2003a, S. 290), da sie nie Zweck der Gesellschaft sind. Deswegen, so Hegel in seinen Vorlesungen, hat es „mancher Sklave [...] besser wie bei uns der freie Bauer“ (GSGPR, § 45, S. 187), weil die Grundbedürfnisse des ersteren von seinem Herrn befriedigt werden müssen, damit er arbeiten kann. Armut und Reichtum existieren nebeneinander (vgl. GPR, § 243), letztere bedingt sogar – wie er auch am Beispiel Londons zu seiner Zeit veranschaulicht (vgl. GSGPR, § 195, S. 494) – in zunehmendem Maß das Elend: „mit diesem lebendigen Reichtum, vermehrt sich die Armuth und Noth“ (GSGPR, § 195, S. 494). Zumindest als Bourgeois hat kein Gesellschaftsmitglied ein Interesse an der Beseitigung des Elends: Mildtätigkeit in dieser Sphäre läuft dem Eigentümerinteresse zuwider, das „Do ut des“ würde ausgehöhlt werden. Der anfänglich in dieser Sphäre konstatierte Verlust der Sittlichkeit bleibt bestehen; demjenigen, der kaum seine Subsistenz bestreiten kann, ermangelt es zudem an formeller Bildung. Dass geistiges und materielles Elend entsteht, ist dabei notwendig – schließlich konstituiert sich hier eine Konkurrenz zwischen Wirtschaftssubjekten, in der sich die Reproduktion der Gesellschaft anarchisch-ungeplant herstellt; „der Mensch ist auf den Standpunkt des Kampfes gestellt“ (GSGPR, § 195, S. 495). Jeder muss versuchen, möglichst viel auf dem Markt anzubieten, um sich die anderen zum Mittel der eigenen Bedürfnisbefriedigung machen zu können: „Dadurch, daß ich mich nach dem anderen richten muß, kommt hier die Form der Allgemeinheit herein. Ich erwerbe von anderen die Mittel der Befriedigung und muß demnach ihre Meinung annehmen. Zugleich aber bin ich genötigt, Mittel für die Befriedigung anderer hervorzubringen. Das eine also spielt in das andere und hängt damit zusammen.“ (GPR, § 192, Zus.)
Es wird deutlich, dass das ausgedrückte Prinzip unmittelbar negative Konsequenzen43 beinhaltet, wenn der Einzelne nicht fähig ist, etwas auf dem Markt anzubieten,
42 „Ich bin daher auf dieser Stufe abhängig von der Zufälligkeit der Umstände, der Macht der Allgemeinheit, der Willkühr Anderer.“ (GSGPR, § 185, S. 476) 43 Es ließen sich noch zahlreiche negative Konsequenzen aufführen, die Hegel in den Vorlesungen über die Rechtsphilosophie darlegt. So erläutert er beispielsweise, dass es aufgrund des Prinzips der Konkurrenz ein Irrglaube wäre, zu meinen, dass niedrige Preise positiv für alle sind: Ermöglichen diese dem einen Marktteilnehmer Einsparungen, ruinieren sie den anderen (vgl. GSGPR, § 254, S. 626). Eben weil es sich um eine Ordnung der
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das auf Nachfrage trifft; „einige machen einen großen Gewinn, sechs mal so viele gehen zu Grunde“ (GSGPR, § 254, S. 626). Was sich als wechselseitiges Ergänzungsverhältnis ausdrücken lässt, wird schnell zur einseitigen Abhängigkeit und Verunmöglichung der Teilhabe am Wirtschaftsleben, wenn man selbst nicht über Geld bzw. Waren verfügt oder den Markt durch die angebotenen Güter nicht zu seinem Mittel machen kann.44 So entstehen „asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse“ (Schick, S. 185 in: Braune u. a. 2013; vgl. auch Eichenseer 1986, S. 122) oder im schlimmsten Fall führt die „unbedingte[] Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Zusammenhange“ (Enz. III, § 526) sogar zum völligen Verlust der Partizipationsfähigkeit an der Ökonomie, denn es gibt schließlich „keine Sicherheit des Erwerbs“ (GSGPR, § 254, S. 626). Der Tausch von Geld gegen Arbeitskraft als Erwerbsquelle der Mittellosen Diese Tendenz wird durch eine weitere Ungleichheit verstärkt, die Hegel mit der Differenzierung von Kapital, Geschicklichkeit und Personen zur Sprache bringt: Durch die Verschiedenheit in der Art der Einkommensquelle perpetuieren und verschärfen sich die Abhängigkeitsverhältnisse, weil diejenigen, die über kein Kapital verfügen, sich entweder als selbstständige Warenproduzenten auf niedrigem Produktivitätsniveau reproduzieren oder auf einen Arbeitgeber angewiesen sind – wodurch die erwähnte zunehmende Mechanisierung und die damit einhergehende Einsparung von Arbeitsplätzen negative Konsequenzen zeitigen können. An dieser Stelle sind die bereits entwickelten Bestimmungen zum eigenen Körper als Eigentum sowie in einem zweiten Schritt die des Vertrages bedeutsam: „Von meinen besonderen, körperlichen und geistigen Geschicklichkeiten und Möglichkeiten der Tätigkeit kann ich einzelne Produktionen und einen in der Zeit beschränkten Gebrauch von einem anderen [handschriftlich: d. h. den ein anderer davon machen kann] veräußern, weil sie nach dieser Beschränkung ein äußerliches Verhältnis zu meiner Totalität und Allgemeinheit erhalten. Durch die Veräußerung meiner ganzen durch die Arbeit konkreten Zeit und
Konkurrenz handelt, in der die Menschen zueinander gegensätzlich gestellt sind, können solche ökonomischen Bewegungen auch derart gegenläufige Folgen zeitigen. 44 Hegel argumentiert hier rein ökonomisch; konsum- und kulturkritische Auslassungen, wie sie sich in der Forschungsliteratur häufig an diesen Stellen festmachen, treffen seine Intention m. E. nicht. Hinzu kommt, dass diese oft in vermeintlich allgemeingültige Weisheiten und substanzlose Bestimmungen – wie in der Rede von der „gesamten Dynamik“ (Vieweg 2012, S. 292), die zu Luxus und Elend führe – abgleiten (vgl. v. a. Vieweg 2012, S. 289 ff.).
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der Totalität meiner Produktion würde ich das Substantielle derselben, meine allgemeine Tätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigentum eines anderen machen.“ (GPR, § 67)
Indem man den eigenen Körper in Besitz nimmt, kann dieser zu einem „beseelte[n] Mittel“ (GPR, § 48) werden, das dem Eigentümer seinen Erwerb ermöglicht. Das Prinzip des Eigentums gepaart mit der staatlichen Lizenz, sich um seine partikularen Interessen kümmern zu dürfen, eröffnet also dem zunächst Mittellosen die Möglichkeit, eine Ware auf dem Markt anbieten zu können. Er bietet seine Qualifikationen feil, wobei Hegel hier auf die Unterscheidung zwischen einem zeitlich begrenzten und einem vollständigen Verkauf und damit auf die Differenzierung zwischen Arbeiter und Sklaven Wert legt: Ersterer stellt sein Arbeitsvermögen zwar vorübergehend in den Dienst eines anderen, dessen Wohl er so befördert, aber er bleibt Eigentümer seiner selbst (vgl. auch GSGPR, § 67, S. 240). Dies kennzeichnet Ritter als „Versachlichung der Arbeit und aller Arbeitsverhältnisse“ (Ritter 1961a, S. 278), in denen nun „Unternehmer und Arbeiter nicht mehr wie Herr und Knecht“ (ebd.) einander gegenüberstehen. Diese Beziehung und die darin implizierte wechselseitige Anerkennung als Person ist Basis dafür, dass Geschicklichkeiten als handelbares Rechtsgut auf dem Arbeitsmarkt auftreten und zu einem Allgemeinen werden können, denen ein Geldbetrag entspricht: Im Vertrag „wird damit an die Sache oder Leistung der Unterschied der unmittelbaren spezifischen Beschaffenheit derselben von dem Substantiellen derselben, dem Werte, gesetzt, in welchem jenes Qualitative sich in quantitative Bestimmtheit verändert; ein Eigentum wird so vergleichbar mit einem anderen und kann qualitativ ganz Heterogenem gleichgesetzt werden. So wird es überhaupt als abstrakte, allgemeine Sache gesetzt.“ (Enz. III, § 494)
Die unterschiedlichsten Dinge, in unserem Fall verschiedenartigste Tätigkeiten wie handwerkliche, geistige oder Dienstleistungen etc., werden kommensurabel und damit vertragsfähig bzw. handelbar, indem sie in eine Geldgröße verwandelt werden. So werden unterschiedliche Qualitäten quantitativ vergleichbar, acht Stunden Arbeit als Handwerker kann beispielsweise der Gegenwert von 600 Euro zugesprochen werden. Diese Gleichsetzung hinsichtlich des Wertes bzw. die Existenz des Geldes sind also Bedingungen sine qua non, damit sich diese Gesellschaft überhaupt reproduzieren kann. Nur durch das universale Tauschmittel kann der Eigentümer seine Arbeitskraft zu Markte tragen und zu einem Gegenwert verkaufen. Insoweit stellt die bürgerliche Gesellschaft Hegel zufolge einen Fortschritt dar, als sie alle auf die eigenen Mittel verpflichtet und es durch Person und Eigentum auch den hinsichtlich Wareneigentum Mittelosen ermöglicht, selbstständig auf dem Markt aufzutreten.
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Fraglos gelten auch in diesem kontraktualistischen Verhältnis auf dem Arbeitsmarkt die abstrakten Bestimmungen des Vertrages: Die beiden sich gegenübertretenden Eigentümer verfolgen allein ihre eigenen Interessen und entwickeln nur dann einen gemeinsamen Willen, wenn sie zur Erfüllung ihres Wohls auf den anderen angewiesen sind. In der Tat ist es evident, wie Hegel schreibt, dass sich bei denjenigen, die allein über die eigenen Qualifikationen disponieren, Elend einstellen muss, wenn ihre Fähigkeiten von Arbeitgebern nicht gebraucht werden. 45 Zwar sind auch letztere darauf verwiesen, auf dem Markt geeignete Kräfte zu finden, aber schon aufgrund des quantitativen Verhältnisses und vor allem angesichts der unbedingten Verwiesenheit der Mittellosen auf einen Kapitaleigentümer muss das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis völlig asymmetrisch ausfallen: Durch die Etablierung der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft „vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer [...] auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundene Klasse“ (GPR, § 243).46 Dieser an sich durch die materielle Ungleichheit bestehende Faktor wird durch die Mechanisierung verschärft (vgl. GSGPR, § 197, S. 503), da durch den Einsatz von Maschinerie in der Regel weniger Arbeitskräfte gebraucht werden. Die Möglichkeit, sich um sich kümmern zu dürfen, schlägt also um in Not, wenn der Einzelne weder Waren im klassischen Sinne noch seine Arbeitskraft verkaufen kann. An diesem Punkt bestätigt sich die Analyse der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft auf der Ebene des abstrakten Rechts: Die Verpflichtung auf das eigene Eigentum ist für die Mittellosen gleichbedeutend mit einem universellen Ausschluss. Wer sich nicht als Arbeitskraft betätigen kann, ist nicht nur von materieller Deprivation bedroht, sondern geht auch der formellen Bildung verlustig. Wie Hegel
45 Insofern gilt bei Hegel, dass nicht arm ist, wer einen Arbeitsplatz findet, wohingegen Marx darauf verweisen würde, dass der „doppelt freie Lohnarbeiter“ nicht nur arm ist, weil er keinerlei Mittel zur Bestreitung seiner Subsistenz hat, sondern auch in dem Sinne, dass er durch die Lohnzahlung von den von ihm hergestellten Produkten – die als Eigentum des Kapitalisten dessen Reichtum vermehren – getrennt bleibt und damit seinen Ausgangspunkt reproduziert. 46 Hegel erweitert in den Vorlesungen seine Kritik zu diesem Punkt noch in dem Sinne, dass er die Möglichkeit der Kapitaleigentümer, sich ohne eigene Arbeit zu reproduzieren, als unproduktive Einseitigkeit verunglimpft: „In der Staatswirtschaft sind daher die blossen Konsumenten sehr schlecht angeschrieben, die Kapitalisten, die Hummeln der Gesellschaft, sie sind nicht produktiv, bringen nicht Mittel heran für die Anderen, sie haben diese Mittel, bringen aber keine hervor. Die Arbeit soll daher in dieser Gegenseitigkeit bestehen, die Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen hervorzubringen und diese sollen wieder eine Quelle von Arbeit sein.“ (GSGPR, § 196, S. 499)
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fortfährt, geht die materielle Exklusion einher mit einer allgemeinen geistigen und sittlichen Einschränkung, die nicht allein die beruflichen Qualifikationen betrifft: Mit der Not hängt „die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd.) zusammen.47 Das Elend führt also letztlich zur Herausbildung einer Schicht, deren Freiheit in jeder Hinsicht beschränkt ist und die dadurch unfähig wird, sich auf verschiedene Weise zu kultivieren 48 – auch dies wieder ein Verweis auf die politische Sprengkraft der vermeintlich rein ökonomischen Frage. In diesem notwendigen Auftreten der Armut macht sich geltend, dass die Allgemeinheit in der Ökonomie für einige Gesellschaftsmitglieder eine rein formelle ist: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Allgemeinheit nur Notwendigkeit“ (GPR, § 229, Zus.), in dem herausgearbeiteten Sinn, dass alle Personen zwar in der identischen Rechtsform auftreten müssen und sich dadurch allgemeine Institutionen wie der Markt entwickeln, über die sich die gesellschaftliche Reproduktion abwickelt. Zugleich hat jeder aber nur sein eigenes Wohl zum Zweck und instrumentalisiert den anderen als Mittel der eigenen Bedürfnisbefriedigung. Das Bedienen der Interessen anderer erfolgt also nur dann, wenn dies für die eigenen notwendig ist. Ein allgemeiner Inhalt im Sinne einer Abstraktion von dem Standpunkt der Selbstsucht und die Einnahme einer allgemeineren Sichtweise, die nicht nur die eigenen materiellen Interessen als Richtschnur hat, existiert im System der Atomistik nicht. Die Marktteilnehmer produzieren „ein Allgemeines, ein System, das die unabdingbare Voraussetzung ihres Wollens und Tätigseins ist, da sie selbst nur unter seiner Voraussetzung überhaupt erst tätig sein können“ (Eichenseer 1986, S. 171), aber diese wechselseitige Angewiesenheit wird in dieser Sphäre nie in einen wechselseitig positiven Bezug aufeinander verwandelt. Dass diese vermeintlich „dialektische Bewegung“ (GPR, § 199) ihre Tücken hat und letztlich zweifelhaft ist, ob sich bei diesem blindwirkenden Entstehen überhaupt sinnvoll von einer Allgemeinheit sprechen lässt, scheint auch Hegels eigenes Urteil zu sein. Dies macht unter anderem
47 Es ist nicht zutreffend, dass die Armut aus der „moralischen Depravation“ (Brocker 1992, S. 318) der Betroffenen abgeleitet wird, wie das Brocker mit Verweis auf § 241 behauptet. Hier wird vielmehr der Verlust einer entsprechenden Gesinnung als Konsequenz des materiellen Elends aufgezeigt. 48 Es erstaunt, dass die Sekundärliteratur zwar keinen Zweifel an der Bedeutung der Bildung für das Subjekt hat, aber kaum die geistigen Konsequenzen der materiellen Armut, die Hegel deutlich benennt, in den Blick nimmt (vgl. bspw. Rózsa 2007, S. 92, S. 95 sowie S. 98 f.); die unter anderem von Rózsa konstatierten „schichtenspezifischen Züge“ (dies. 2007, S. 99) der Bildung werden nicht hinsichtlich ihrer Folgen beurteilt.
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sein Fortgang in den Grundlinien zur Rechtspflege,49 zur Korporation mit ihren Ständen,50 zur Polizei und schließlich der Übergang in das den äußeren Not- und Verstandesstaat überwindende wahrhaftige Gemeinwesen deutlich: Unabhängig von der Frage der materiellen Existenz ihrer Mitglieder vermag es die bürgerliche Gesellschaft nicht, ihren eigenen Fortbestand aus sich heraus zu sichern (vgl. auch Hösle 1988, S. 539); zu viele destruierende Faktoren wirken in ihr, sodass es einer Absicherung durch eine diese Sphäre beherrschende Gewalt bedarf, die die in ihr wirkenden Kräfte bändigt. Bevor näher darauf eingegangen wird, soll jedoch das „Drama der Armut“ (Losurdo 1988, S. 173) nochmals aufgegriffen werden, da sich Hegel selbst natürlich nicht auf eine Analyse und Verortung des Phänomens beschränkt, sondern aufgrund der auch von ihm erkannten Sprengkraft des Elends unterschiedliche Weisen der Abhilfe untersucht. 3.1.3 Zusammenfassender Begriff der Verwandlung des Phänomens der Armut in die soziale Frage „Die bürgerliche Gesellschaft muß denn alle die dürftigen, ruinierten Familienväter und so eine Menge von Poebel versorgen, oder sie kommt von ihnen in Gefahr.“ (GSGPR, § 255, S. 630)
Formen der materiellen Deprivation: absolute, relative Armut und Pöbel Hegel hat die Notwendigkeit des Erscheinen des Elends (vgl. Enz. III, § 533; vgl. auch Ruda 2011, S. 32)51 aufgrund der Zufälligkeit der Bedürfnisbefriedigung mit
49 Die Notwendigkeit der Rechtspflege zeugt davon, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft keinen Standpunkt der Allgemeinheit gibt. Vielmehr muss der Staat diesen zunächst als übergeordnete Instanz gegen die Gesellschaftsmitglieder in der Form des Rechts durchsetzen. 50 Erst die Stände sind Hegel zufolge „die Wurzel, durch die die Selbstsucht sich an das Allgemeine, an den Staat knüpft, dessen Sorge es sein muß, daß dieser Zusammenhang ein gediegener und fester sei“ (GPR, § 201, Zus.). 51 Dass Armut aus ökonomischen Gründen von Hegel als notwendiges Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft verstanden wird, heißt deswegen aber keineswegs, dass dem ein abgeklärter Standpunkt zugrunde läge oder dass diese gar zu einem Konstituens der bürgerlichen Gesellschaft erklärt wird – sie wird von Hegel eindeutig als negative Konsequenz dieser Wirtschaftsweise verstanden, der es Abhilfe zu schaffen gilt. Insofern irritie-
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all den unter anderem für die Bildung, Interessen und manchmal auch für die Gesinnung eines Individuums entstehenden Konsequenzen erkannt und sich um eine mögliche Abhilfe bzw. eine Integration in seinen Systementwurf bemüht. Um die von ihm diskutierten Maßnahmen gegen materielle Deprivation und seine Beurteilung dieser nachvollziehen zu können, lohnt sich eine kurze Wiederholung und Präzisierung der Formen der Armut, die ihm selbst bekannt waren. Wie zu zeigen sein wird, leiten sich die Arten und die Beurteilung der möglichen Kompensationsbemühungen aus seiner Problemdefinition ab. Wie ich versucht habe darzulegen, liegt die Grundlage für die Emergenz der Armut in den Rechtsprinzipien, die die bürgerliche Gesellschaft konstituieren. Der Potenz nach ist mit diesen bereits ohne Betrachtung des materiellen Zusammenhangs der Gesellschaftsmitglieder, der sich aus dem abstrakten Recht ergibt, vorbestimmt, dass es zu materieller Deprivation kommen muss, weil das Prinzip Eigentum jeden in Abstraktion von seinem tatsächlichen Reichtum auf die eigenen ökonomischen Mittel verpflichtet; dabei macht sich die Lizenz, über das eigene Eigentum verfügen zu dürfen, bei den (relativ) Mittellosen als Ausschluss von den Reproduktionsmöglichkeiten geltend. Was sich für den Einzelnen als potentiell prekäre Lage darstellt, impliziert keinen Verstoß gegen das Rechtsprinzip, solange sein Person-Sein garantiert ist: Er muss als rechtsfähiger Wille, der mit anderen Gesellschaftsmitgliedern Verträge schließen kann, erhalten bleiben. Dies ist deswegen so wichtig, weil der Kontrakt die Weise ist, in dem sich die einzelnen Bourgeois, die ihr Partikularinteresse verfolgen, sich zueinander ins Verhältnis setzen: Durch die Einigung auf einen gemeinsamen Willen, der in Rechtsform gegossen wird, werden in dieser Gesellschaft Waren getauscht bzw. ver- sowie gekauft und damit der wechselseitige Ausschluss vom Eigentum der anderen überwunden. Den zunächst Mittellosen ist in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem Prinzip der freien Verfügung über seine eigene Person der Weg eröffnet, ihre Geschicklichkeit für eine gewisse Zeit zu verkaufen, sie also in den Dienst eines Kapitaleigentümers zu stellen, unter dessen Anleitung sie Produkte für den Austausch produzieren. Der dafür erhaltene Lohn ermöglicht ihnen, am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess teilzunehmen, indem sie ihr Geld auf dem Markt verwenden können, um an die Güter ihres Bedarfs zu kommen. Diese Erwerbsform negiert jedoch nicht den Ausgangspunkt, dass Eigentümer der Arbeitskraft „virtualiter Pauper“ (MEW
ren Viewegs Ausführungen hierzu: „Der Sachverhalt Armut ist kein Einbruch in die Wohlgeordnetheit der Konzeption, nicht etwas, das Hegel auch noch gesehen hat, sondern eine Stufe im logischen Gang; kein Unfall, keine unvorhergesehene Katastrophe, die Gefahr der Pauperisierung bleibt ein Konstituens der bürgerlichen Gesellschaft“ (Vieweg 2012, S. 316) – dass eine Katastrophe prophezeit werden kann, vermag ihr jedoch kaum den Charakter einer solchen zu nehmen.
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42, S. 505) sind, weil sich die Nachfrage nach ihnen anarchisch-ungeplant dem Zweck des Kapitaleigentümers entsprechend ergibt – oder auch nicht. Der Bedarf dieser Schicht nach Arbeitskräften verdankt sich – entsprechend der staatlichen Erlaubnis, seine partikularen Interessen zu verfolgen – nicht dem Bedürfnis der Mittellosen, das diese bedienen möchten, sondern ihren eigenen ökonomischen Kalkulationen: Werden Arbeitnehmer gebraucht, um die eigene Warenproduktion auf diesem Niveau zu erhalten oder gar auszuweiten oder stellt sich die Marktlage so dar, dass sogar entlassen werden muss? Die ungeplante Weise, durch die sich die formale Allgemeinheit auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft konstituiert, macht sich auf dem Arbeitsmarkt für den potentiell Armen geltend als rein zufälliges Gelingen seiner Reproduktion. Er hat für sich das Mittel seiner Geschicklichkeit, aber ob diese tatsächlich in einem Arbeitsverhältnis zum Einsatz gebracht werden kann, ist abhängig von der wirtschaftlichen Konjunktur bzw. den Marktgesetzen. Wie Hegel dies formuliert, behält das Allgemeine die Macht über die Einzelnen, selbst wenn ersteres durch das Handeln der Marktteilnehmer unbewusst hervorgebracht wird; das Individuum muss sich in seinen ökonomischen Kalkulationen daran orientieren, was ihm der Markt vorgibt. Beim Arbeitslosen macht sich dies in der erläuterten negativen Weise geltend, sodass Hegel schließlich das Recht des Einzelnen gegen das Allgemeine beschwören muss: Die Fähigkeit, Person zu sein, darf dadurch nicht unterminiert werden. Daraus erschließt sich nun die Definition der Armut, die der Philosoph selbst gibt, nachdem er die Wirkmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft analysiert hat. Der Begriffs-Paragraph soll aufgrund seiner Bedeutung für das Verständnis in Gänze widergegeben und in den folgenden Abschnitten gedanklich eingeholt werden: „Aber ebenso als die Willkür können zufällige, physische und in den äußeren Verhältnissen (§ 200) liegende Umstände Individuen zur Armut herunterbringen, einem Zustande, der ihnen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft läßt und der – indem sie ihnen zugleich die natürlichen Erwerbsmittel (§ 217) entzogen [hat] und das weitere Band der Familie als eines Stammes aufhebt (§ 181) – dagegen sie aller Vorteile der Gesellschaft, Erwerbsfähigkeit von Geschicklichkeiten und Bildung überhaupt, auch der Rechtspflege, Gesundheilssorge, selbst oft des Trostes der Religion usf. mehr oder weniger verlustig macht. Die allgemeine Macht übernimmt die Stelle der Familie bei den Armen, ebensosehr in Rücksicht ihres unmittelbaren Mangels als der Gesinnung der Arbeitsscheu, Bösartigkeit und der weiteren Laster, die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen.“ (GPR, § 241)
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Dass Menschen arm werden, ist für Hegel eine Notwendigkeit, die bereits im abstrakten Recht begründet liegt.52 An welchen Individuen sich diese Notwendigkeit geltend macht, kann nun näher bestimmt werden. Die äußeren Verhältnisse mit dem von ihm eingefügten Verweis auf § 200 GPR entsprechen meinen bisherigen Ausführungen über die Notwendigkeit der materiellen Deprivation durch die Unterordnung der Eigentümer unter die Marktgesetze und der darin implizierten Zufälligkeit des Gelingens ihrer ökonomischen Zwecke. § 200 GPR handelt von der erläuterten Scheidung der Gesellschaftsmitglieder in Eigentümer von Kapital und solchen der eigenen Geschicklichkeit – eine prinzipielle materielle Verschiedenheit der Gesellschaftsmitglieder, die unter anderem „Ungleichheit des Vermögens [...] zur notwendigen Folge hat“ (§ 200 GPR). Ihr unterschiedlicher Ausgangspunkt bedingt also ihre Ungleichheit hinsichtlich der Fähigkeit, am allgemeinen Vermögen der Gesellschaft zu partizipieren, die dann zur Armut wird, wenn dem ursprünglich Mittellosen der Einsatz der eigenen Arbeitskraft für die Kapitaleigentümer und damit der Erwerb durch Lohnarbeit verunmöglicht wird. Diesen Ausführungen zufolge ist das Auftreten der Armut auf diejenigen Individuen begrenzt, die der Schicht derer angehören, die nur über ihre eigene Geschicklichkeit verfügen. Sie sind der Potenz nach immer von Arbeitslosigkeit bedroht und stellen insofern prinzipiell eine prekäre Existenz dar. Die zweite Spezifizierung der von Armut Betroffenen kann durch einen Blick auf die Eigenschaften der Individuen selbst vorgenommen werden: Hegel spricht von zufälligen, physischen Umständen, die in § 200 GPR präziser gefasst werden als Unterschied in der Schicht der Geschicklichkeit besitzenden Eigentümer, der „durch die zufälligen Umstände bedingt ist, deren Mannigfaltigkeit die Verschiedenheit in der Entwicklung der schon für sich ungleichen natürlichen körperlichen und geistigen Anlagen hervorbringt“ (GPR, § 200). Wenn, wie mit dem Prinzip von Person und Eigentum verfügt, alle Subjekte auf ihre ökonomischen Mittel verpflichtet sind bzw. positiv ausgedrückt ihre eigenen materiellen Potenzen, aber auch Fähigkeiten für ihre eigenen Bereicherungsversuche auf dem Markt einsetzen dürfen, dann ergibt sich daraus logisch, dass alle diesbezüglichen Unterschiede ökonomisch relevant werden. Abstrahiert man von der Verschiedenheit in der materiellen Ausstattung, so ist mit Blick auf die Schicht der potentiellen Arbeitnehmer evident, dass ihre körperliche und geistige Verfasstheit bzw. ihre Fähigkeiten und Qua-
52 Von Armut betroffen sind also Menschen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, eine Bestimmung, die die moderne Armutsforschung weitgehend teilt (vgl. Kapitel 5). Wie Marx später gezeigt hat, ist dieses Armutsverständnis verkürzt: Menschen, die lediglich über ihre Arbeitskraft verfügen, sind an sich mittellos und selbst durch Anstellung wird dieser Ausgangspunkt durch die Lohnzahlung nicht negiert, sondern vielmehr immer wieder hergestellt. Die Notwendigkeit, die Arbeitskraft zu verkaufen, entfällt nicht.
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lifikationen einer Beurteilung durch die Arbeitgeber unterliegen und also für ihr eigenes Fortkommen relevant sind. Dementsprechend ist es wahrscheinlich, dass Armut an denjenigen Individuen in Existenz tritt, die aufgrund von natürlichen Eigenschaften für Kapitaleigentümer kaum brauchbar erscheinen, beispielsweise bei Unqualifizierten, Kranken und behinderten Menschen.53 Dass das Diktum der Unbrauchbarkeit primär diese Personen auf dem Arbeitsmarkt treffen kann, ist evident; zumal, wie Hegel ausführt, sich die an-sich seienden Unterschiede der Menschen durch zufällige Umstände verstärkt werden können. Ein Beispiel hierfür ist, dass die die Erwerbsfähigkeit einschränkenden Charakteristika darüber verstärkt werden, dass die davon Betroffenen keine Stelle finden und ihnen darüber die Berufspraxis als weiteres Bildungselement fehlt. So können sich ursprüngliche Differenzen verschärfen und sich die Armut letztlich perpetuieren.54 Wie lässt sich die Lage der Armut näher charakterisieren? Dass Arme in einem Zustande sind, der ihnen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft lässt, kann meines Erachtens so verstanden werden, dass sie weiterhin als Gesellschaftsmitglieder auf die Art der Reproduktion dieser verwiesen sind, insofern also das gleiche Bedürfnis teilen, sich mit der eigenen Arbeit den Erwerb zu sichern. Wie Hegel ausführt, besteht in der bürgerlichen Gesellschaft keine andere Möglichkeit der Reproduktion; klassische Formen der Subsistenz existieren nicht mehr 55 und auch die Familie stellt keinen Ausweg dar, weil – wie Hegel mit Verweis auf § 181 GPR deutlich macht –, diese zwar nach wie vor ein dieses System konstituierendes Element der Sittlichkeit darstellt, der Einzelne jedoch als „Persönlichkeit“ bzw. als das „Besondere“ (§ 181) aus der ursprünglichen Gemeinschaft heraustreten und sich um sich selbst als freie Person kümmern muss. Die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft hat der Arme aber auch noch in einem anderen Sinn: Als Mitglied dieser kennt er das Niveau der Bedürfnisbefriedigung seiner Zeit und damit alle Möglichkeiten zur Kultivierung der Subjektivität, die es der Potenz nach gibt. Sein Ausschluss erscheint ihm also nicht nur als ein solcher von den elementaren Reproduktionsbedingungen, sondern er kann diesen geistig zugleich auf elaboriertere Mittel
53 Vgl. hierzu auch Kapitel 5, in dem bei einem Vergleich der Hegelschen Analyse mit derjenigen des „Armuts- und Reichtumsberichts“ detaillierter auf die Differenzen innerhalb der als gleiche Eigentümer definierte Personen und deren Konsequenzen eingegangen wird. 54 Den heute so genannten „Teufelskreis“ bzw. die „Verfestigung“ der Armut hat Hegel bereits analytisch vorweggenommen. 55 Vereinzelt kann es natürlich weiterhin Selbstständige, wie beispielsweise Handwerker, geben, was jedoch nichts am Prinzip der auf diese Weise organisierten Reproduktion verändert. Auch diese Personen müssen sich auf dem Markt bewähren und sind insofern dem anarchischen Zusammenhang ausgeliefert.
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beziehen, die ihm vorenthalten bleiben. Insofern haben Arme also dieselben Bedürfnisse wie andere durchschnittliche Gesellschaftsmitglieder, die bei ihnen nicht zu einer Entwicklung der Subjektivität führen, sondern ihnen rein als Mangel erscheinen. Das Gefühl der Deprivation, das durch die Kenntnis all der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung verschärft wird, wird außerdem durch eine weitere Dimensionen der Armut genährt: Die Fähigkeiten eines Armen als Arbeitsloser werden durch die fehlende Berufserfahrung nicht gepflegt, geschweige denn fortentwickelt und schließlich wird ihnen die Teilnahme am „normalen“ Leben durch die fehlenden materiellen Mittel erschwert. Wie deutlich wurde, ist der Arme formal Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft und bleibt Person bzw. rechtsfähig; zugleich wird aber selbst dieser Formalismus der Freiheit von ihrer Mittellosigkeit tangiert: „Der Rechtspflege wird der Arme leicht verlustig, ohne Kosten ist kein Recht zu erlangen, ohne Geld kein Prozeß zu betreiben“ (GSGPR, § 241, S. 606),56 sodass er also beispielsweise nur schwerlich gegen Vertragsverletzungen, die ihm im gesellschaftlichen Verkehr zugefügt werden können, wehren kann. „Ebensowenig kann er für seine Gesundheit sorgen, Aerzte und Arzneien kosten Geld“ (GSGPR, § 241, S. 606), was durch ein staatliches Gesundheitssystem heute nicht wiederlegt, sondern bestätigt wird.57 Sogar auf die Möglichkeit der Praktizierung ihrer Religion – ein Bereich, der zunächst völlig unabhängig vom Verfügen über Mittel zu sein scheint – wirkt sich ihr materieller Zustand aus: „Selbst des Trosts der Religion geht der Arme verlustig, in Lumpen kann er nicht in die Kirche gehen [...]; endlich gehen die Geistlichen auch lieber in die Häuser der Reichen, als in die Hütten der Armen um sie auf dem Todtenbette zu trösten“ (GSGPR IV, § 241, S. 606). Hegel lässt also keinen Zweifel daran, dass materielle Armut umfassende Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche hat, weil ihnen die positiven Wirkungen der Arbeit abgehen und ihnen die materielle Grundlage zur Teilhabe am sittlichen Leben als auch an den politischen Einrichtungen wie der Justiz fehlen. Die Dimension der politischen Exklusion soll im folgenden Kapitel über den Staat nochmals aufgegriffen und präzisiert werden; schließlich stellt sich die Frage, ob und wie Arme in ihrem Gemeinwesen repräsentiert sind und was die berühmte Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft im Staat für diese Gruppe bedeutet.
56 Die staatlichen Regelungen des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe in Deutschland sind Dokument ebendieser Tatsache. 57 Durch die Debatte über „ObamaCare“ wurde einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerufen, dass Millionen von Amerikanern keine Krankenversicherung haben, was schließlich davon zeugt, dass die freien Eigentümer, die als Arbeitnehmer nicht oder nur unter für sie sehr schlechten Konditionen auf Nachfrage vonseiten der Arbeitgeber treffen, privat nicht für die Kosten ihrer Gesundheit aufkommen können.
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Der Bezug des Staates auf die Armutsproblematik wurde bislang völlig ausgeblendet und ist auch aus dem Begriffszitat noch ungeklärt, in dem Hegel von der allgemeinen Macht spricht, die hinsichtlich der unmittelbar materiellen Mängel als auch der daraus abgeleiteten Gesinnung an die Stelle der Familie tritt. Bevor auf dessen Tätigwerden bei der Diskussion der Armutsbekämpfungsmaßnahmen eingegangen wird, muss noch ein weiterer Aspekt des zitierten Paragraphen erläutert werden, ohne den auch der Bezug des Staates auf das Denken der Menschen bzw. deren Gesinnung unklar bleibt: Hegel differenziert den Begriff der Armut in einer weiteren Hinsicht, die unter dem Begriff des Pöbels58 zu fassen ist. „Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise [...] bringt die Erzeugung des Pöbels hervor“ (GPR, § 244), was insofern eine wichtige Formulierung darstellt, da das Entstehen der Armut an sich dieser gemäß nicht automatisch die Existenz dessen hervorbringt, sondern nur dessen Möglichkeit. Zu der rein materiellen Bestimmung, die die geschilderten Konsequenzen in sämtlichen Lebenswelten zeitigt, ist dem Pöbel als zusätzliches Definitionsmerkmal zu den anderen Armen eigen, dass er eine positive Gesinnung gegenüber der Gesellschaft und dem Staat verliert: Es kommt „zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“ (GPR, § 244; vgl. auch GSGPR, § 244, S. 608).59 Der Arme, der zum Pöbel wird, verliert also das Vertrauen in das Justizsystem sowie zu den gesellschaftlichen Institutionen und das Bedürfnis, durch Berufstätigkeit Anerkennung zu erfahren. Dabei kann Hegel zufolge nicht angegeben werden, wann Menschen in Not eine solche Gesinnung entwickeln; vielmehr sei es von Land zu Land unterschiedlich, ab welcher Schwelle der materiellen Deprivation Menschen die Empfindung haben, dass ihnen Unrecht widerfährt und eine staatsferne Gesinnung entwickeln (§ 244, Zus.). Es stellt sich die Frage, inwieweit die Einstellung des Pöbels dem Philosophen zufolge nachvollziehbar ist; immerhin beruht diese auf dem Faktum, auf dem Arbeitsmarkt das Urteil der Unbrauchbarkeit beschieden bekommen zu haben. Augenfällig ist dies auch hinsichtlich der Einschätzung gegenüber dem Rechtsstaat
58 Es ist dabei nicht zutreffend, wie Schnädelbach dies ausführt, dass der Pöbel „in Hegels Begriffsprägung nichts anderes als das Proletariat“ (Schnädelbach 2000, S. 293) ist: Das Proletariat wird von Marx als die ausgebeutete Klasse charakterisiert, auf der der Reichtum der Gesellschaft beruht; der Pöbel hingegen ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass deren Arbeitskraft als überflüssig beurteilt wird. 59 „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. Ferner ist damit verbunden, daß der Mensch, der auf die Zufälligkeit angewiesen ist. leichtsinnig und arbeitsscheu wird.“ (GPR, § 244, Zus.)
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– schließlich führt Hegel selbst aus, dass dem Armen oft die Mittel fehlen, um sein Recht einzuklagen. Zunächst scheint die Antwort eindeutig zu sein, wenn er erläutert dass „im Pöbel das Böse [entsteht, I. S.], daß die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht“ (GPR, § 244, Zus.). Die dialektische Beschuldigung dieser Gruppe, ein Recht auf etwas einzufordern, dessen Praktizierung sie sich zugleich verwehrt, erstaunt insofern, als der Verlust der benannten Ehre und der Charakterzug, „arbeitsscheu“ (GPR, § 244, Zus.) zu sein, von ihm selbst immer als Folge, nicht als Ursache ihrer Lage ausgedrückt wird. Jemand, der zum Pöbel wird, ist zuvor bereits arm, also arbeitslos; keineswegs ist seiner eigenen Bestimmung nach umgekehrt Faulheit oder fehlende Ehre Grund der Unfähigkeit, die eigene Subsistenz zu sichern. Schlüssig deuten lässt sich die Textstelle nur, wenn man eine zeitliche Dimension einführt: Der dauerhaft Arme glaubt nicht mehr daran, auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu haben und „richtet sich in seiner Lage ein“, wie das heute in polemischer Absicht häufig ausgedrückt wird. Nach zahlreichen Bewerbungen nicht mehr an sich zu glauben und die Suche aufzugeben, hätte zwar nach wie vor nicht die Gesinnung, sondern die ökonomische Situation zum Ausgangspunkt, würde dann aber genau der von Hegel als das „Böse“ titulierten Einstellung entsprechen: Einerseits ist der Wille verlorengegangen, die eigene Subsistenz selbstständig zu sichern, andererseits wird dies als das Unrecht verstanden, das einem von der Gesellschaft angetan wird. Es bleibt natürlich die Frage, auf wie viele dauerhaft Arbeitslose diese Beschreibung tatsächlich zutrifft und ob die Argumentation aufgrund des bleibenden Ausgangspunktes in der objektiven Situation verworfen werden muss – für Hegel jedenfalls kristallisiert sich in dieser Gesellschaftsschicht das Böse. Umso frappierender ist der Fortgang des Zusatzes: „Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“ (GPR, § 244, Zus.)
Die Natur hat keine Zwecke, sodass der Mensch nicht geltend machen kann, von ihr ungerecht behandelt worden zu sein. Auch im Falle einer offensichtlichen Ungleichheit zwischen den Menschen oder einer Lage der Not ist es nicht sinnvoll, dies der Natur vorzuwerfen, da ihr jegliches zweckgerichtetes Agieren fehlt. Während sie also weder als Verursacher noch als Instanz der Abhilfe in Frage kommt, gestaltet sich das Verhältnis innerhalb einer Gesellschaft, also eines von Menschen gemachten Zustandes anders: Erfährt hier eine bestimmte Schicht einen Schaden, so erhält dessen Ent- und Fortbestehen die Form des Unrechts, weil er von den Gesellschaftsmitgliedern bewusst verursacht oder zumindest nicht beseitigt wird. Dass einer Klasse Unrecht angetan wird, wie Hegel dies kennzeichnet, hebt, wenn nicht
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das Intentionale, so doch das Aktive dessen hervor. Kann der Pöbel Hegel zufolge nun doch ein Recht bzw. das Erfahren eines Unrechts durch die Gesellschaft geltend machen? Die zitierte Stelle lässt zwei Deutungen zu: Hegel spricht im ersten Halbsatz von der Möglichkeit, ein Unrecht zu behaupten, sodass man seine Aussage also so deuten kann, dass dieses zwar postuliert wird, aber nicht mit der Realität übereinstimmt. Die zuvor diskutierte Bestimmung, dass im Pöbel das Böse entsteht, legt diese Fassung der bloßen Behauptung nahe. Andererseits widerspricht dem der Fortgang des Satzes evident: Der Philosoph spricht nicht von dem Postulat eines Mangels und nicht davon, dass der Pöbel dies geltend macht, sondern formuliert, dass der Mangel die Form des Unrechts hat; demzufolge würde dem Pöbel also sein Recht durch die Gesellschaft verweigert werden. Meines Erachtens ergibt sich die plausiblere Position durch den letzten Satz, der auf das Problem der Armut verweist: Der Pöbel erfährt objektiv Unrecht, weil eines der wesentlichen Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft darin besteht, dass jeder sich um seine ökonomische Existenz kümmern darf und damit auch die Möglichkeit dazu gewährleistet sein muss (vgl. GPR, § 240). Dies wird den Armen verwehrt, sodass sich an ihnen also der Verstoß dieses Systems gegen sich selbst manifestiert. Dies ändert jedoch in einem zweiten Schritt für Hegel nichts daran, dass eine Gesinnung der Arbeitsscheu als böse zu titulieren ist, da diese ebenfalls eine Verletzung des bürgerlichen Prinzips, privat für seinen Erwerb zu sorgen, darstellt. Insofern erfährt den Armen Unrecht und der arme Pöbel manövriert sich daraufhin in ein solches. Folgt man dieser Deutung, erschließt sich auch, dass Hegel nach der Bestimmung des Pöbels scheinbar unvermittelt zu den Armen überleitet und die Notwendigkeit betont, dieser abzuhelfen: Der Zusammenhang besteht darin, dass das erste, durch die Gesellschaft an den Armen verursachte Unrecht verhindert werden muss, weil durch die Lösung des Armutsproblems zugleich das zweite Unrecht des Pöbels, der eine staatsablehnende Gesinnung entwickelt, obsolet wird. Wichtig ist hierbei das „Weil“: Hegels Schluss darauf, dass die „wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, [...] eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende“ (GPR, § 244, Zus.) ist, erfolgt nicht aus der Tatsache der Armut und der verheerenden Konsequenzen für die davon Betroffenen. Vielmehr kommt dieser Frage die Brisanz zu aufgrund des Willens, das Entstehen einer Schicht zu verhindern, die dem Staat und allen gesellschaftlichen Institutionen misstraut und sich damit außerhalb des sittlichen Zusammenhangs stellt. Der Verwandlung des Phänomens der Armut in die soziale Frage liegt dieser Instrumentalismus aus der Perspektive des Funktionierens der gesellschaftlichen Ordnung zugrunde. An anderer Stelle bringt er diese auf den Punkt: „Es ist nicht allein das Verhungern, um was es zu tun ist, sondern der weitere Gesichtspunkt ist, daß kein Pöbel entstehen soll“ (GPR, § 240 Zus.). Ich möchte dafür argumentieren, dass – entgegen der Auslegung der Hegel-Kritiker, die seine Apologie in der Staatstheorie verorten – dieser Schluss den Punkt der an dieser Stelle unbegründeten Staatsaf-
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firmation markiert. Der Armut abzuhelfen, stellt keine Aufgabe dar, die sich aus dem Elend an sich ergibt, sondern dient der Verhinderung einer Gesinnung, die sich gegen Staat und Gesellschaft richtet. Anders ausgedrückt: Es soll dafür Sorge getragen werden, dass den Individuen durch materielles Elend nicht eine rechtskonforme und loyale Gesinnung verunmöglicht wird. Diese Perspektive ist deswegen als unbegründete Staatsaffirmation zu kennzeichnen, weil sie sich diesen zum Sorgeobjekt macht und zwar unabhängig davon, was seine Prinzipien für einen Teil der Bürger implizieren. Insofern steht der Staat also an erster Stelle und seine Bejahung darf sich Hegels Auffassung zufolge nicht daran knüpfen, welchen Nutzen sein Volk von ihm hat. Eine Ablehnung dieser Institution ist per se Unrecht – selbst wenn sie eingestandenermaßen in der elenden objektiven Lage der Betroffenen begründet liegt. Diese Situation an sich erzeugt im Umkehrschluss keine Handlungsnotwendigkeit, würde sie nicht zugleich das zweite Unrecht des Pöbels erzeugen oder zumindest begünstigen. Eine Begründung für die Bedeutung des Kampfes gegen Armut liegt also in der Verhinderung des Pöbels und damit in der Sorge um die Stabilität von Staat und Gesellschaft. Ich möchte dafür argumentieren, dass entlang dieser Perspektive in den von Hegel ausdifferenzierten Formen der Armut Parallelen zu der „modernen“ Unterscheidung von absoluter und relativer Armut60 finden lassen, die einen weiteren Grund für die von Hegel diagnostizierte Handlungsnotwendigkeit aufzeigen. Der Begriff der absoluten Armut kennzeichnet – unabhängig von der genauen quantitativen Bestimmung des durch die Weltbank errechneten DollarTageseinkommens – eine existenz-bedrohende Situation der Betroffenen, in der diese weniger Geld zur Verfügung haben, als zum Kauf der lebensnotwendigen Dinge nötig ist. In den Begriffen Hegels gefasst handelt es sich dabei also um einen Zustand, in dem der einzelne Wille über so geringes Eigentum verfügt, dass er sich nicht durch eigene Mittel und zwar weder durch Subsistenz noch durch ein eigentumsmäßiges Angebot zur Überwindung des Ausschlusses vom absoluten Zueignungsrecht der anderen reproduzieren kann. Während auch sie als Menschen und damit als mit (freien) Willen Begabte als der Potenz nach Rechtsfähige bestimmt sind, können sie dieser keine Realität verleihen. Das Eigentumsrecht macht sich für sie geltend als universeller Ausschluss von allen Gütern, sodass ihnen letztlich das Person-Sein verwehrt und selbst das „physische Existenzminimum“ (Butterwegge 2009, S. 18) angegriffen ist. Im Gegensatz hierzu definiert „relative Armut“ materielle Deprivation im Verhältnis zum „normalen“ Lebensstandard eines Menschen, wobei die Festlegung dieser Messlatte Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen darstellt (vgl. ebd.,
60 Diese Unterscheidung hat sich in der Armutsforschung inzwischen unbestritten „[d]urchgesetzt und bewährt“ (Butterwegge 2009, S. 18).
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S. 19 ff.).61 Ein davon Betroffener hat also nicht genügend Eigentum, um am Leben in seiner Nation im durchschnittlichen Sinne teilzuhaben, er ist aber von den elementaren Mitteln des Bedarfs nicht ausgeschlossen. Hier interessiert noch nicht, weswegen er unter materieller Deprivation, nicht jedoch unter absoluter Armut leidet bzw. welche Maßnahmen von Hegel und auch tatsächlich gegen letztere Form der Armut vorgesehen bzw. ergriffen werden. An diesem Punkt des Argumentationsgangs ist allein hervorzuheben, dass vom Eigentumsrecht her gesehen eine existenzbedrohende, sprich absolute Armut einen Verstoß gegen dieses Prinzip darstellt, während es sich gegenüber der relativen Form der Entbehrung ignorant verhält. Wenn sich ein armer Mensch als Person reproduzieren kann, dann stellt die faktische Einschränkung seiner Freiheit durch die relativ wenigen Mittel zur Realisierung seines Willensinhalts keine dar, die das abstrakte Recht verletzt. Die geringeren Teilhabemöglichkeiten dieser Personen anzuklagen, so würde Hegel argumentieren, kann nicht mit Verweis auf die bürgerlichen Prinzipien des Rechts geschehen, sondern müsste sich eines hinzutretenden, externen Maßstabes wie der Moral oder anderer Prinzipien dieser Gesellschaft bedienen. Dasselbe in Bezug auf die anderen Gesellschaftsmitglieder ausgedrückt bedeutet, dass auch diese keinen Ausweg aus der Armut eröffnen, sofern sie als Eigentümer in Betracht kommen; als solche sind sie lediglich potentielle Vertragspartner, denen eine eigentumsmäßige Gegenleistung angeboten werden muss, um den Ausschluss zu überwinden. Als Möglichkeit, die Armut abzuschaffen oder zu überwinden, bedarf es einer anderen Eigenschaft dieser Menschen denn ihr Eigentümer-Sein. Dass bei der heute gängigen Unterscheidung von absoluter und relativer Armut ein Konsens lediglich hinsichtlich der Notwendigkeit der Abschaffung von ersterer besteht und die Bekämpfung der Armut relational zu anderen in der Gesellschaft immer auch mit dem Verdacht der „Gleichmacherei“ verbunden ist, scheint die Hegelsche Analyse der Eigentumslogik zu bestätigen; allein in der absoluten wird von allen unbestritten ein Verstoß gegen die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft gesehen. Die relative Form muss vor allem kompensiert, nicht jedoch beseitigt werden. Und auch Hegel teilt diese Problemdefinition und der sich daraus ableitenden Konsequenzen für den Umgang mit Armut: Die Forderung nach materieller Gleichheit bezeichnet der Philosoph als „leer[] und oberflächlich[]“ (GPR, § 49; vgl. auch GSGPR, § 49, S. 198), weil von einer „Ungerechtigkeit der Natur“ nicht gesprochen werden könne: „[D]ie Natur ist nicht frei und darum weder gerecht noch ungerecht“ (ebd.). Hegels Argument vermag jedoch kaum zu überzeugen,
61 Wie Butterwegge zutreffend ausführt, bezieht sich der Streit um die „angemessene“ Definition sogar auf die absolute Armut, da diese „beispielsweise davon abhäng[t], ob es sich um ein warmes oder um ein kaltes Land handelt, in dem jemand lebt“ (Butterwegge 2009, S. 18).
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denn inwiefern kann mit dem Verweis auf die zufällige, natürliche Genese der Eigentumsverhältnisse die Forderung nach einer gesellschaftlichen Umverteilung ex post abgelehnt werden? Das Entstehen mag naturbedingt sein; dass dem Phänomen jedoch nicht entgegengesteuert werden kann durch bewusstes Eingreifen, vermag aus der Feder eines Denkers, der ansonsten von der Notwendigkeit der Vergeistigung der Natürlichkeit des Menschen spricht, kaum zu überzeugen. Schließlich scheint der Verweis sogar im direkten Gegensatz zu der zuvor diskutierten Auffassung zu stehen: Historisch mag die Entstehung der materiellen Ungleichheit bewusstlos durch zufällige Ereignisse der Natur vor sich gegangen sein; diesen Zustand zu perpetuieren, stellt dann jedoch einen Mangel dar, der sich aufgrund dessen, dass er in der Gesellschaft fortbesteht, in Unrecht verwandelt. Hegel jedenfalls macht deutlich, dass die materielle Ungleichheit an sich und damit der relative Ausschluss einiger Gesellschaftsmitglieder von den Mitteln zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse unproblematisch sind. Lediglich die existenzgefährdende absolute Armut stellt einen Verstoß gegen die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft dar und muss deswegen unbedingt – auch unabhängig von der Möglichkeit der Entstehung eines Pöbels – verhindert werden. Aus der gekennzeichneten Verschiebung von der Lage der von materieller Deprivation Betroffenen, die Hegel selbst für sämtliche Lebensbereiche schildert hin zur Perspektive des Staates, der durch soziale Unruhe bedroht werden könnte sowie dem befürchteten immanenten Verstoß gegen die bürgerlichen Prinzipien, den die absolute Armut aufgrund der Untergrabung des Person-Sein bedeutet, lässt sich darauf schließen, so möchte ich im folgenden Abschnitt zeigen, welche Maßnahmen gegen materielle Deprivation Hegel verwirft bzw. befürwortet: Die Definition, Armut allgemein als potentielle Bedrohung des Staates aufgrund der Entstehung des Pöbels und absolute Armut als Selbstwiderspruch der Gesellschaft zu fassen, begründet seine Lösungsvorschläge. Hegels Diskussion der Linderungsmöglichkeiten: Versuche der seiner Problemdefinition adäquaten Kompensation „Die Frage wie der Armuth zu helfen ist, ist sehr schwer zu beantworten“ (GSGPR, § 245, S. 611), so Hegel in seinen Vorlesungen über die Rechtsphilosophie. Dass sich die Frage aus den zwei herausgearbeiteten Gründen stellt, ist für Hegel evident: Alle Gesellschaftsmitglieder müssen ihrer Potenz nach als Rechtsfähige erhalten bleiben und keinesfalls darf der soziale Frieden der Gesellschaft gefährdet werden. Aus dem ersten Grund ergibt sich die Notwendigkeit, absolute Armut als Gesellschaft unbedingt zu verhindern: Sie unterminiert überhaupt die Fähigkeit, Rechts-
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person sein zu können und ist damit auch für Hegel nicht hinnehmbar. 62 Die Einschränkung der äußeren Sphäre der Freiheit einer Person ist relativ zwar problematisch, weil dadurch die Gefahr der Entstehung von sozialer Unruhe durch den Pöbel entsteht, ermöglicht dem Menschen aber weiterhin, sich als Person zu erhalten; 63 das Ziel, diese abzuschaffen, gilt also keineswegs bedingungslos, wie Hegel durch seine Beurteilungen der möglichen Maßnahmen gegen Armut deutlich macht. Absoluter Armut dagegen muss mit allen Mitteln begegnet werden. Paradoxerweise sind sogar Verstöße gegen das Recht und gegen die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft zulässig, um ebendiese durch Notmaßnahmen zu retten: So schreibt Hegel beispielsweise, dass dem Schuldner soviel gelassen werden muss, „als zur Möglichkeit seiner – sogar standesgemäßen – Ernährung dienend angesehen wird“ (GPR, § 127, Anm.); der Gläubiger hat also die Pflicht, auf seinen ihm eigentlich zustehenden Betrag zu verzichten, wenn die Begleichung der Schuld das Sein des anderen als Wirtschaftssubjekt angreifen würde. Auch an der Figur des Hungernden wird diese Positionierung deutlich: „Der Mensch welcher verhungert, hat das absolute Recht das Eigentum eines Andern zu verletzen, er verletzt das Eigenthum eines Anderen nur nach einem beschränkten Inhalt, im Nothrecht aber liegt daß er nicht das Recht des Anderen als Recht verletzt. Das Interesse ist nur auf dieß Stückchen Brodt gesetzt, er behandelt den Anderen nicht rechtlos.“ (GSGPR, § 127, S. 341)
Das Eigentumsrecht des anderen wird durch den Mundraub verletzt – bemerkenswerterweise jedoch nur in beschränkter Hinsicht, womit letztlich ein Rechtsverstoß legitimiert wird. Entscheidend ist für Hegel hier, dass „das Recht des Anderen als Recht“ nicht verletzt wird, was so zu verstehen ist, dass er die Substanz des PersonSeins des anderen nicht tangiert, während das Unterlassen des Rechtsverstoßes auf Seiten des Diebes zu einer „totale[n] Negation des Daseins der Freiheit“ (GPR,
62 Wie gesehen, so ist das Eigentumsprinzip ignorant gegenüber dem, wie viel jemand besitzt und jegliche Gleichheitsforderung ist abzulehnen; dass jemand überhaupt die Möglichkeit hat, den rechtlichen Status des Eigentümers inne zu haben, ist jedoch unabdingbar. Wie auch Hösle konstatiert, knüpft sich an dieses Postulat die Notwendigkeit – trotz aller Verneinung von Gleichheitsforderungen –, dafür zu sorgen, dass jeder diesen Status behalten kann, also schlicht die Forderung, „daß er überlebe“ (Hösle 1988, S. 497). 63 Meines Erachtens stellt es einen Mangel von Losurdos Analyse des Armutsproblems dar, dass er nicht zwischen relativer und absoluter Armut unterscheidet (vgl. bspw. Losurdo 1988, S. 173 ff.); den Fokus primär auf das Problem des Hungernden zu richten, bedeutet, sich theoretisch allein der absoluten Armut anzunehmen. Auch bei Ruda liegt diese Verengung und die mit Hegel geteilte Perspektive vor.
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§ 127, Zus.) führen würde. Die „logische und epistemologische Grundlegung des Notrechts“ (Losurdo 1988, S. 173) liegt also darin, dass der Hungernde über den Besitzer des Brotes „ein einfach negatives Urteil ausspricht“ (ebd., S. 174), während über denjenigen, der den Hungertod riskiert, „ein negativ unendliches Urteil ausgesprochen [wird, I. S.], das ihm nicht nur ein besonderes und begrenztes Recht, sondern die Gesamtheit der Rechte aberkennt“ (ebd.; vgl. auch Losurdo 2000, S. 216 ff.). Insofern nimmt Hegel also eine Abwägung zweier Rechtsgüter vor (vgl. GSGPR, § 127, S. 341 f.) bzw. verhandelt einen „Konflikt der Freiheiten“ (Losurdo 2006, S. 36) und kommt letztlich aufgrund der jeweiligen Konsequenzen zum Schluss der Billigung der Rechtsverletzung. Diese Argumentation ist Teil des „anthropologischen Realismus“: Weil Hegel einen „abstrakten generellen Begriff vom Menschen“ (Losurdo 1988, S. 171) ausarbeitet, erkennt er auch im Hungernden die Zugehörigkeit zum Mensch-Sein und möchte ihm deswegen nicht verweigern, was ihm als solches Wesen entspricht – in diesem Fall also die grundlegende Möglichkeit, überhaupt rechtsfähige Person und so Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein und bleiben zu können.64 Die Bedrohung dessen durch die absolute Armut muss deswegen unbedingt ausgeschlossen werden. Jedoch darf dabei nicht vergessen werden, dass diese Maßnahme sich allein auf das äußerste Elend richtet, von Hegel explizit unter dem Stichwort des „Notrechts“ verhandelt wird und deswegen evident nicht als allgemeines Mittel gegen Armut verstanden wird: Es ist freilich undenkbar, den Verstoß gegen das Gesetz explizit als Recht zu implementieren – letztlich würde dann die Ausnahme zum neuen rechtlichen Zustand und in diesem Fall also das Eigentumsrecht aufgehoben werden.65 Insofern ist es wichtig, bei der von Hegel eingeräumten Lizenz zum Gesetzesverstoß den ihr zukommenden Status zu beachten: Es ist das Ausnahmerecht des Einzelnen, das nicht gesetzlich kodifiziert werden kann; „nur die Not der unmittelbaren Gegenwart [kann, I. S.] zu einer unrechtlichen Handlung berechtigen“ (GPR, § 127, Zus.). Es stellt allein ein individuelles Mittel gegen absolute Armut dar, nicht jedoch eine verallgemeinerbare Maßnahme. Alle von Armut Betroffenen, deren Status als Rechtsfähige nicht tangiert ist bzw. alle relativ Armen sind von dieser „Lösung“ also per definitionem ausgeschlossen.
64 Der Sorgegegenstand ist also in der Tat die Möglichkeit des Personseins und nicht die individuelle Existenz bzw. „nicht das einzelne Subsistenzeigentum, sondern nur das abstrakte Privateigentumsverhältnis als solches“ (Eichenseer 1986, S. 176). 65 Dies entspricht Hegels Kritik an der Kantschen Vorstellung, durch den Kategorischen Imperativ auf einen Inhalt der Moral schließen zu können: Das Eigentumsgesetz bspw. muss bereits als vorab feststehend postuliert werden, um im Verstoß gegen es einen Widerspruch konstatieren zu können, der anzulehnen ist (vgl. VGP III, S. 366 ff.).
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Im Eigentumsabschnitt wurde bereits deutlich, dass Hegel die Form des Gemeineigentums aufgrund der willkürlichen Zuteilung dessen ablehnt. Auch die Familie, die unmittelbar zwar die Institution darstellt, die sich um ihre Mitglieder nicht nur hinsichtlich der Vermittlung der formellen und allgemeinen Bildung, sondern auch um deren Subsistenz kümmert (vgl. GPR § 238), stellt kein probates Mittel gegen Armut dar, weil deren Bande durch die bürgerliche Gesellschaft Hegel zufolge zerstört werden (vgl. ebd.): Der Einzelne entwickelt sich im Laufe seines Lebens aus seiner ursprünglichen Familie heraus und muss fortan selbst für seinen Erwerb sorgen; scheitert sein Bemühen, ist sie zwar verantwortlich „für das Brot“ (ebd., Zus.), also sprich für die bloße Möglichkeit der Existenz des Einzelnen, aber dieser bleibt ansonsten „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“ (GPR, § 238), der dem Prinzip nach nicht mit einem materiellen Auffangen durch seine Familienmitglieder rechnen kann. Diese Argumentation folgt demselben Muster wie hinsichtlich des Notrechts: Weil absolute Armut unbedingt verhindert werden muss, ist hier auch ein Verstoß gegen die Prinzipien dieser Gesellschaft zu dulden – in diesem Fall der Grundsatz, dass sich der Mensch als Freier um sein eigenes Auskommen kümmern und insofern früher oder später den Kreis seiner ursprünglichen Familie verlassen muss. Droht der Einzelne in eine existenzgefährdende Armut herabzusinken, so ist die Familie in der Verantwortung, für Brot, also für die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse zu sorgen. Eine weitere Identität der beiden Maßnahmen besteht außerdem darin, dass sie nur kurzfristiger Natur sind: Weder kann der als Notrecht gebilligte Rechtsverstoß zum permanenten Zustand werden, noch verhilft die Grundversorgung des Armen durch die Familie diesem aus seiner Situation. Bleibt dieser in seiner Lage, perpetuiert sie sich – im schlimmsten Fall bis zu dem Zeitpunkt, zu dem auch die Familie sich das Kümmern um ein zusätzliches Mitglied nicht mehr leisten kann. Dies betrifft auch das folgende „Rezept“, das bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat: Die anderen Gesellschaftsmitglieder, die nicht Familienangehörige sind, wurden bislang immer als Wirtschaftssubjekte betrachtet, die ihren eigenen ökonomischen Nutzen verfolgen. Natürlich betätigen sich Menschen jedoch nicht allein in der Rolle des Bourgeois, der für sein Handeln eine eigentumsmäßige Gegenleistung möchte, sondern sie können auch andere Standpunkte entwickeln, die Konsequenzen für das soziale Verhältnis haben. Eine von der Ökonomie getrennte und damit von der Nutzenkalkulation absehende Betätigungsform diskutiert Hegel unter dem Stichwort der privaten „Mildtätigkeit“ (GPR, § 242), die auch die relativ Armen in den Adressatenkreis einbezieht: Eine solidarische Gesinnung kann die Armut lindern; es ist dies der Ort, an dem „die Moralität genug zu tun findet“ (GPR, § 242). Jedoch vermag diese nicht mehr als ein wenig Kompensation zu leisten:
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„Dabei bleibt jedoch dem Zufall ein weites Feld. Z. B. daß einem Hülfe geleistet werde, und auf diese oder jene besondere Weise, die Krankenpflege, die Armenhülfe pp solche Fälle bleiben übrig und bilden einen Kreis der Moralität, der aber beschränkt ist, und im sittlichen Zustande immer kleiner wird. Das Almosengeben findet sich weit mehr im weniger gebildeten Zustand der Gesellschaft als im gebildeten.“ (GSGPR, § 207, S. 527)
Hegels Hinweis, dass diese Weise der Tätigkeit im sittlichen Zustande abnimmt, 66 soll an entsprechender Stelle aufgegriffen werden. Die Mildtätigkeit ist jedenfalls zu sehr eine Frage der Willkür, als dass darin ein flächendeckend wirksames, verlässliches Rezept gegen die Armut gefunden werden könnte, die ihrerseits ja systematisch auftritt. So gibt es zwar auch institutionalisierte Arten der privaten Hilfe wie „Armenärzte und Rechtsanwälde“ (GSGPR, § 241, S. 606), womit in zwei wesentlichen von materieller Deprivation betroffenen Lebensbereichen – des Rechtssowie des Gesundheitssystems – die Armen nicht ihrem Schicksal überlassen werden. „[A]ber es hängt hierbei viel von dem Umstand ab, was diese Leute für ein Gemüth haben. Sie können edel sein, sich viel Mühe geben, aber ebenso auch nicht“ (GSGPR, § 241, S. 606), so fährt Hegel fort. Unabhängig von der Intensität des Engagements ist evident, dass privates Kümmern um diese Schicht, das allein neben dem eigentlichen Erwerbsleben stattfinden kann, die Ursachen der Armut unberührt lässt und nicht mehr als eine punktuelle Linderung des Elends zu leisten vermag. Weitere Vorschläge zur Linderung der Not sind die zu seiner Zeit diskutierten Maßnahmen, „der reichen Klasse die direkte Last auf[zulegen]“ (GPR, § 245) oder durch Mittel der bürgerlichen Gesellschaft öffentliches Eigentum anzuhäufen, das dann in Form von „reichen Hospitälern, Stiftungen, Klöstern“ (GPR, § 245) verausgabt wird; beides lehnt er entschieden ab: Die Individuen würden in diesem Fall versorgt werden, ohne, dass sie hierfür arbeiten, was nach Hegel dem Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem „Do ut des“ zuwiderlaufen und letztlich auch das Selbstwertgefühl der Betroffenen untergraben würde (vgl. ebd.). Wenn die Existenz nicht bedroht ist und es darum geht, wie die Gesellschaft als Ganze Abhilfe gegen die Armut organisieren kann, lässt Hegel keinen Zweifel an der Superiorität der gültigen Prinzipien; die relativ Armen können sich gegen diese auf keinerlei Recht berufen.
66 Tatsächlich stellt sich hier die Frage, ob diese Stelle von Hegel nicht als Kritik der Moral intendiert ist, da diese letztlich überflüssig werden würde, wenn die Gesellschaft nicht mehr von negativen Konsequenzen zeitigenden Notwendigkeiten und Zufälligkeiten beherrscht wird (vgl. Schnädelbach 2000, S. 281 sowie S. 289).
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Wegen des herrschenden Grundsatzes, für seine eigene Subsistenz qua Arbeit aufkommen zu müssen, wird die Bettelei zunächst positiv hervorgehoben, schließlich jedoch verworfen: „Das beßte Mittel ist die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und sie so auf den Bettel anzuweisen. Bei milden Stiftungen pp haben die Menschen keine Scheu, sie thun etwas wozu sie berechtigt sind, schämen sich nicht den Vorsteher anzusprechen, dagegen das Betteln schreckt ab, lieber arbeiten die Meisten, suchen sich durchzubringen, ehe sie dazu ihre Zuflucht nehmen.“ (GSGPR, § 245, S. 612)
Hegel sieht darin zunächst also primär eine Art Erziehungsmaßnahme, die verhindert, dass sich Mensch in der Armut „einrichten“; inwieweit freilich dem Elend in materieller Hinsicht dadurch Abhilfe verschafft werden kann, lässt er von Anfang an offen. Dieses Rezept zielt primär auf die Verhinderung der Entstehung eines Pöbels, was er am Beispiel Schottlands verdeutlicht: „Als direkteste Mittel hat sich [...] gegen Armut sowohl als insbesondere gegen die Abwerfung von Scham und Ehre, der subjektiven Basen der Gesellschaft, und gegen die Faulheit und Verschwendung usf., woraus der Pöbel hervorgeht, dies erprobt, die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und sie auf den öffentlichen Bettel anzuweisen“ (GPR, § 245, Anm.). Betteln zu müssen, schreckt die Menschen ab und ist insofern tauglich dafür, dass die Betroffenen jeglichen Arbeitsplatz annehmen; ob sie deswegen auch tatsächlich Arbeit bekommen, ist damit noch offen und – bedenkt man den Ausgangspunkt ihrer Lage – eher unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz wird die Maßnahme nicht gänzlich verworfen, weil sie für den Zweck der Verhinderung von Arbeitsscheu geeignet ist; ob sie jedoch auch tatsächlich geeignet ist, um die Empfindung des Unrechts durch die Gesellschaft zu bekämpfen, lässt selbst Hegel offen. Insofern ist das Mittel der Bettelei selbst gemessen nicht an der Bekämpfung der Armut, sondern an der Erziehung zur Sittlichkeit zweifelhaft. Den Vorlesungsmitschriften zufolge verwirft er das vermeintliche Rezept der Bettelei auch hierfür (vgl. hingegen Schnädelbach 2000, S. 293 sowie Hösle 1988, S. 552): „Ein Mensch, der einmal gebettelt hat, verliert bald die Gewohnheit zu arbeiten, und er glaubt einen Anspruch darauf zu haben, ohne Arbeit zu leben“ (HHGPR, § 241, S. 220). Auch diese Maßnahme kann also nicht die Lösung des Pöbelproblems leisten; dass Hegel sie überhaupt als taugliches Instrument diskutiert und zumindest in den Grundlinien daran festhält, bestätigt den von mir hervorgehobenen Sorgegegenstand und Maßstab: Es gilt, den sozialen Frieden im Staate zu sichern und dafür jedoch keinesfalls Verletzungen der Funktionsweise der Gesellschaft hinnehmen zu müssen. Auch der Vorschlag, der heute wohl als das Rezept gegen Armut angesehen wird, kann das Problem nicht lösen: Künstlich, also ohne durch die Marktgesetze erzeugt zu werden, Arbeitsplätze zu schaffen, ist deswegen abzulehnen, weil so nur
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mehr Waren produziert werden würden als es Abnehmer hierfür gibt (vgl. GPR, § 245). Dieser Eingriff in die Mechanismen der Ökonomie könnte weitere Störungen verursachen, durch das Überangebot am Markt etwa die Absatz- und damit Reproduktionsmöglichkeiten der anderen Warenanbieter zerstören. Dies würde nicht nur den Betroffenen nicht helfen, sondern auf lange Sicht sogar kontraproduktiv wirken, sprich vermutlich sogar noch mehr Arme erzeugen. „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“ (GPR, § 245). Zwar erzeugt sie Reichtum in bislang ungeahntem Maße, jedoch perpetuieren die Marktgesetze eine Ungleichverteilung und begründen, weswegen ein direkter, drastischer Eingriff in den privaten Reichtum unzulässig und ggf. sogar kontraproduktiv ist. So existiert in dieser Gesellschaft trotz all des Reichtums eine arme Schicht, deren Kennzeichnung als Übermaß die Billigung der relativen Armut bestätigt. Letztlich, so konstatiert Hegel, wird „[d]urch diese ihre Dialektik [...] die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben“ (§ 246) und zwar „zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen“ (GPR, § 246). Hegels „Zunächst“ ist vermutlich zu verstehen als Kennzeichnung des Übergangs der Gesellschaft in andere, ihrer Konstitution nach identische kollektive Wirtschaftssubjekte, wobei damit zugleich angedeutet wird, dass ein weiterer Übergang dieser – das Aufheben im Staate – erforderlich sein wird. Zunächst also, weiterhin in der Sphäre der Wirtschaft, eröffnet sich noch die Möglichkeit des weltweiten Handels (vgl. GPR, § 247), durch den die Überproduktion innerhalb einer Nation verhindert werden kann; zumindest bis zu einem gewissen Grade könnten so negative Konsequenzen einer artifiziellen Arbeitsplatzgenerierung entgegengewirkt werden, indem die überschüssigen Produkte, die zuhause keinen Abnehmer finden, dort verkauft werden. Freilich stößt dieses Mittel an seine Grenzen, wenn die Absatzmärkte der anderen Gesellschaft gesättigt und/oder diese selbst durch die Öffnung und den Kontakt mit anderen Ökonomien ihre Kenntnisse sowie ihre Produktivität fortentwickeln. Mit dem Hinaustreiben über die eigenen Grenzen verbindet Hegel außerdem „das Mittel der Kolonisation“ (GPR, § 248), wobei er zwischen der sporadischen und der systematischen Form unterscheidet.67 Dem Philosophen zufolge kann darin eine
67 Meines Erachtens ist die Hegelsche Kolonisationsbeschreibung keineswegs mit Lenins Imperialismustheorie gleichzusetzen, wie dies Schnädelbach ausführt (vgl. Schnädelbach 2000, S. 294); Lenins Intention besteht in der Herausarbeitung der Notwendigkeit des Imperialismus aus dem Begriff des Kapitals – eine Kritik, die Hegel selbstredend fern liegt.
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Möglichkeit gesehen werden, um die Absatzmärkte und damit den Bedarf einer Gesellschaft nach Arbeitsplätzen zu erweitern – wobei er sich hier nicht daran zu stören scheint, dass die Erweiterung der Fähigkeit der kapitalistischen Reproduktion der Warenbesitzer einer Nation die der anderen unmittelbar beschneidet. Die systematische Kolonisation hat deswegen einen Konnex zum Armutsthema, weil durch die dauerhafte Emigration eines Teils der Bevölkerung dieser neue Mittel wie Böden etc. in dem anderen Land nutzen kann. Diese Lösung kann jedoch keine für alle Gesellschaften darstellen, sie ist vielmehr nur für einige wenige eine potentiell vorübergehende Abhilfe. Hinzu kommt – auch dies war für Hegel evident –, dass die Kolonisation selbst für den Mutterstaat durchaus Widersprüche mit sich bringt; da er sich letztlich um die Reproduktionsmöglichkeit kümmern muss, ohne, dass die kolonisierten Länder als einer anderen Nation subsumierte Gebiete ein Eigeninteresse an ihrem Erfolg haben, erweist sich die Befreiung sogar „als der größte Vorteil für den Mutterstaat“ (GPR, § 248, Zus.). Auch die ökonomischen Außenbeziehungen sind also letztlich kein erfolgversprechender Weg, um der Not der bürgerlichen Gesellschaft dauerhaft Einhalt zu gebieten. Hegels Realismus: Sozialstaat und Korporationen als Verhinderung der absoluten Armut und als Entstehen des Denkens der Allgemeinheit All diese vermeintlichen Rezepte müssen Hegel zufolge im Resultat als unbrauchbar zurückgewiesen werden, sodass er konstatiert: „[D]iese bewußtlose Notwendigkeit [der bürgerlichen Gesellschaft, I. S.] ist nicht genug“ (GPR, § 255, Zus.). Die unterschiedlichen Methoden der scheinbaren Abschaffung der Armut, die diese Wirtschaftsweise aus ihren blindwirkenden Gesetzen heraus zu produzieren vermag, leisten höchstens eine quantitativ oder zeitlich beschränkte Eindämmung des Elends – wirklich beseitigt wird es dadurch nicht. Notwendig ist damit ein „Hinaustreiben“, das die begrenzte Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft überwindet – und Hegel deutet in dem Zitat auch schon an, was die erste Bestimmung dieser höheren Stufe ist: Statt der bewusstlosen Gesetze des Marktes bedarf es eines gezielten, willentlich hergestellten Zusammenhangs, der sich der Armut aus einer übergeordneten Perspektive widmet; die ökonomische Sphäre vermag „keine vernünftige, auf das begreifende Denken fußende Organisation oder Regulation“ (Vieweg 2012, S. 308, Hervorh. i. O.) hervorzubringen. Es ist dies der Übergang in den Staat, der dem Philosophen zufolge aufgrund der Unzulänglichkeit der ökonomischen Sphäre nötig ist (vgl. auch Schnädelbach 2000, S. 266, Fetscher 1970, S. 67, Bloch 1972,
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S. 254 sowie MEW 1, S. 357).68 Losurdos anthropologischen Realismus entsprechend und am Problem des Hungernden fortgedacht, drückt er dies wie folgt aus: „Wir wissen außerdem, dass der Hungernde für Hegel in Wirklichkeit nicht unter die allgemeine Kategorie Mensch oder Individuum subsumiert werden kann; damit es zu dieser Subsumtion kommen kann, ist der Eingriff der politischen Macht, des Staates, vonnöten. Für Hegel ist die Anerkennung des Wertes und der Würde des Individuums – natürlich in seiner Allgemeinheit verstanden – nicht möglich ohne eine ,realistische‘ Grundlegung sowohl auf theoretischem als auch auf praktisch-politischem Niveau.“ (Losurdo 1988, S. 180)
Hegel bereitet also in seiner Philosophie durch die Erkenntnis des Begriffs des Menschen in seiner Allgemeinheit sowie der Notwendigkeit der Armut in der bürgerlichen Gesellschaft die theoretische Grundlegung, die in der Praxis selbst nachvollzogen werden muss. Damit der anthropologische Realismus kein rein philosophisches Konzept bleibt, bedarf es einer übergeordneten Instanz, die auch den Ausgestoßenen ihr Sein als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht. Bevor er auf den Staat an sich zu sprechen kommt, behandelt Hegel im Kapitel der bürgerlichen Gesellschaft staatliche Institutionen wie die Rechtspflege, die Polizei und die Korporation, weil diese notwendige Einrichtungen darstellen, um die durch die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft entstehenden negativen Folgen zu kompensieren und ihr dauerhaftes Fortbestehen 69 so überhaupt erst zu ermöglichen (vgl. auch Hösle 1988, S. 541). Dass es sich dabei um Organe des Staates
68 Die von Schiller eingeführte Gegenüberstellung, dass „dieser Übergang [...] nicht aus ökonomischen, sondern aus sittlichen Gründen notwendig“ (Schiller, S. 93) sei, irritiert: Das ökonomische Problem erzeugt das sittliche – diese beiden Kategorien können also nicht strikt getrennt werden (vgl. auch Neschen 2008, S. 91). Nicht korrekt ist es meines Erachtens außerdem, das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat bzw. den Übergang in letzteren instrumentell zu fassen (vgl. bspw. Horstmann in Siep 2005, S. 214): Hegels Bestimmungen der Ökonomie verdanken sich nicht dem Anliegen, den Staat als einer Art Kontrastfolie gegenüberzustellen, sondern Hegel hält die entwickelte Definition dieser Sphäre vielmehr für die Erklärung dessen, was aufgrund der herausgearbeiteten Bestimmungen notwendig existieren muss. 69 In diesem Sinne ist Hegel ein „scharfer Kritiker des ökonomischen Liberalismus“: „[O]hne ordnungspolitischen Rahmen und ohne Interventionen“ (Schnädelbach 2000, S. 271 sowie S. 290) des Staates kann der Markt nicht das Allgemeine und Sittliche hervorbringen (vgl. auch Vieweg 2012, S. 303). Hegel zufolge soll sich der Staat demnach nicht aus der Ökonomie heraushalten: Ohne den Staat und seine rahmensetzende Tätigkeit kann es diese Ökonomie auf Dauer nicht geben; die Rechtspflege ist bspw. ein unverzichtbares Element zum Schutze des Eigentums in der Konkurrenz.
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handelt, daran lässt er keinen Zweifel: Ihm zufolge sind unter der Regierungsgewalt auch „die richterlichen und polizeilichen Gewalten inbegriffen [...], welche unmittelbarer auf das Besondere der bürgerlichen Gesellschaft Beziehung haben und das allgemeine Interesse in diesen Zwecken geltend machen“ (GPR, § 287); ebenso treten die Stände, zumindest neben ihrer gesellschaftlichen Funktion, auch als politische Institution auf (vgl. GSGPR, § 201, S. 511). Das von Hegel so bezeichnete Geltendmachen des Allgemeinen in der genuinen Sphäre des Besonderen hat dabei zwei Aspekte: Zum einen geht es meinem Verständnis zufolge darum, das Allgemeine ersteres praktisch zur Existenz zu bringen und zu erhalten, indem beispielsweise durch die Justiz sichergestellt wird, dass die Verträge der Privatsubjekte nicht gegen es verstoßen; den Beginn der Allgemeinheit markiert dies deswegen, weil es sich hier noch um „Zwangsrecht“ (GPR, § 94) handelt, das den Bürgern von außen verordnet wird. Zum anderen – und dies stellt einen zentralen Aspekt für den Übergang aus dem Not- und Verstandesstaat in den wahrhaft allgemeinen dar – beginnt bei den Bourgeois die im Denken vollzogene Abstraktion von ihren Privatinteressen hin zu einem Standpunkt des Allgemeinen bzw. der Perspektive des Staatsbürgers; beide Aspekte nehmen hier ihren Beginn und vollenden sich erst im nächsten Abschnitt der Enzyklopädie bzw. der Rechtsphilosophie und dementsprechend in dieser Arbeit erst im nächsten Kapitel. Zunächst soll auf das erste Moment der Entwicklung des Allgemeinen eingegangen werden, weil sich mit diesem praktischen Erscheinen dessen auch Wege der Armutsbekämpfung verbinden. Deren Notwendigkeit begründet Hegel in dem Abschnitt nochmals, um so letztlich auch die Unabdingbarkeit einer allgemeinen Daseinsvorsorge bzw. der, wie Hegel dies nennt, Polizei70 zu rechtfertigen: Weil die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder zwar durch die Vermittlung des Marktes geleistet werden soll, aber dennoch dem Zufall unterworfen (vgl. Enz. III, § 533) und damit bloße „Möglichkeit“ (GPR, § 230 sowie ebd., § 237) bleibt, bedarf es des Sozialstaates bzw. des polizeilichen Handelns als „das Allgemeine das sich bethätigt in Rücksicht auf die bürgerliche Gesellschaft“ (GSGPR, § 229, S. 587): „Die polizeiliche Aufsicht und Vorsorge hat den Zweck, das Individuum mit der allgemeinen Möglichkeit zu vermitteln, die zur Erreichung der individuellen Zwecke vorhanden ist. Sie hat für Straßenbau, Brückenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse sowie für die Gesundheit Sorge zu tragen.“ (GPR, § 236, Zus.)
70 Wie im Folgenden auch deutlich werden wird, versteht Hegel unter Polizei nicht die landläufig damit bezeichnete Behörde, sondern er hat einen weiteren Begriff dieser Institution, worauf er auch explizit verweist (vgl. GSGPR, § 230, S. 587).
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Primär besteht die Aufgabe der Polizei also darin, elementare Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu implementieren, die im Resultat absolute Armut verhindern bzw. eine normale bürgerliche Existenz überhaupt erst ermöglichen. „Die allgemeine Macht übernimmt die Stelle der Familie bei den Armen“ (GPR, § 241), um deren Partizipationsfähigkeit als Rechtspersonen unabhängig von ihrer Herkunft sicherzustellen. Aus diesem Grund können bspw. auch – maßvolle – Einschränkungen der Gewerbefreiheit (GPR, § 236, Zus.) durch die Polizei erforderlich sein. Sie ist die Institution, die sich aus einer übergeordneten Perspektive auf das wirtschaftliche Treiben bezieht und innerhalb der Kollisionen der bürgerlichen Gesellschaft „die Ausgleichung auch einer über beiden [der Produzenten und Konsumenten, I. S.] stehenden, mit Bewußtsein vorgenommenen Regulierung“ (GPR, § 236) besorgt. An dieser Stelle findet sich also „Hegels Theorie eines sozialen Staates“ (Vieweg 2012, S. 309, Hervorh. i. O.; vgl. auch Schnädelbach 2000, S. 289), den er zumindest in Ansätzen skizziert: Weil sich das Sittliche in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in ihre Extreme verliert und die Wirtschaftssubjekte „blind in den selbstsüchtigen Zweck vertieft“ (GPR, § 236, Anm.) sind, bedarf es der Polizei als übergeordneter, planmäßig handelnder Regulierung, „um zum Allgemeinen zurückgeführt zu werden und um die gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraumes, in welchem sich die Kollisionen auf dem Wege bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern“ (GPR, § 236, Anm.). Hegel misstraut letztlich der von ihm charakterisierten unsichtbaren Hand der Marktmechanismen, die jedem seine Reproduktion ermöglichen soll. So bedarf es des Staates, der regulierend und kompensierend eingreift und so zumindest die elementare materielle Absicherung der Söhne der bürgerlichen Gesellschaft anstelle der Familien übernimmt. „Hegels Analyse [muss, I. S.], richtig verstanden, zur Konzeption eines Sozialstaates führen [...] – nur er lässt einerseits die Gesellschaft frei und gesteht ihr das moderne Recht der Besonderheit zu, ohne jedoch andererseits tatenlos den Verwicklungen zuzusehen, in die die bürgerliche Gesellschaft ohne staatliche Lenkung und Kontrolle notwendig stürzt“ (Hösle 1988, S. 556). Hegel hält das Prinzip der Freiheit, das im Ökonomischen die Lizenzierung und jedoch auch Verpflichtung, sich um sich mit den eigenen Mitteln zu kümmern, beinhaltet, für unumkehrbar; gerade wegen der Konsequenzen dieses seines „Höchstwertes“ ist es in einem zweiten Schritt jedoch nötig, dass sich der Not- und Verstandesstaat derjenigen Bürger annimmt, die auf dem freien Markt nicht zu bestehen vermögen: „[E]inzelne Teile würden in diesem Kampf zugrunde gehen“ (WHGPR, § 117, Anm., S. 137).71 Hegels Weitsicht besteht also darin, die Wirkungsweise dieser Art
71 Bemerkenswerterweise sieht sich Hegel zu seinen Zeiten mit zwei unterschiedlichem Formen der Kritik am Sozialstaat konfrontiert, die auch heute die Debatte unter dem Schlagwort des Widerspruchs zwischen Freiheit und Gleichheit prägen: Während die eine
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der Organisation der Gesellschaft und damit die notwendige Produktion von Armut erkannt zu haben. Person, Freiheit und Eigentum stellen unhintergehbare Grundsätze dar, sodass Armutsabhilfe also nicht in deren Abschaffung, sondern lediglich in Kompensation bestehen kann. Bändigen lässt sich das Elend nicht durch all die im Gesamten wirkungslosen Maßnahmen, die bislang skizziert wurden, sondern erst an dieser Stelle: Allein das Eingreifen des Staates in seiner Eigenschaft als sozialer stellt ein adäquates „Rezept“ nicht zur Abschaffung, jedoch zum Umgang mit der Armut dar und kann zur Beseitigung zumindest in ihrer absoluten Form führen. So stellt der Staat beispielsweise eine flächendeckende Gesundheitsversorgung bereit und garantiert dadurch auch den Armen eine medizinische Behandlung. Zwar führt Hegel dies hier nicht auf, jedoch ist zum Beispiel auch an Rechtskostenbeihilfe zu denken, um den Ausgeschlossenen den Zugang zur Justiz und damit zu ihrem Recht zu erleichtern. Diese Ableitung des Sozialstaates aus den Folgen der Wirkweise der bürgerlichen Gesellschaft bestätigt die bisherige Verortung der Bedeutung des Armutsproblems für Hegel: Das primäre Problem besteht nicht in der relativen, sondern in der absoluten Armut, sodass die Linderung des Elends durch allgemeine Daseinsvorsorge die adäquate Umgangsweise darstellt: „Das Allgemeine muß daher für den Armen sorgen, ebensowohl in Rücksicht seines Mangels als der Gesinnungen der Arbeitslosigkeit und der Bösartigkeit, welche aus seiner Lage in dem Gefühl des erlittenen Unrechts hervorgehen können.“ (WHGPR, § 118, S. 137)
Menschen, die durch ihre Not davon bedroht sind, ihren Status als rechtsfähige Person zu verlieren, wird durch die Garantie ihrer Subsistenzfähigkeit geholfen. Hegel entwirft kein ausgearbeitetes Konzept eines Sozialstaates, aber die wenigen Hinweise, die er gibt, lassen seine Intention als Entwurf einer Art Existenzminimums deuten, das darin besteht, dass dem Einzelnen durch eine Grundversorgung eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht wird. Sein Verweis auf einen nötigen Ausgleich zwischen den Wirtschaftssubjekten und der Einschränkung der Interessensdurchsetzung beispielsweise in Form der limitierten Gewerbefreiheit verdanken sich dem Anliegen, jedem eine – wenn auch stark differenzierte und im Falle der Notleidenden extrem eingeschränkte – Sphäre seiner Freiheit zu gewährleisten. Auch der Wille der Armen bedarf des Eigentums zumindest in dem Maße, das ihm seinen Bestand und seine elementare Betätigung erlaubt. Dem wird durch den Sozi-
Seite der Polizei in Form des Sozialstaates mit Verweis auf die Freiheit nur sehr eingeschränkte oder gar keinerlei Befugnisse geben möchte, fordern die anderen einen stärkeren Eingriff, wobei Hegels Position in der Mitte dieser beiden Extreme zu verorten ist (vgl. GPR, § 236).
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alstaat bzw. öffentliche Infrastruktur unter anderem Rechnung getragen, indem eine seiner Maßnahmen in dem „öffentliche[n] Ausstellen von Waren, die von ganz allgemeinem, alltäglichem Gebrauche sind“ (GPR, § 236) besteht. Dieses Konzept erinnert an die heutigen Tafeln mit dem Unterschied, dass Hegel betont, dass diese Stellen vom Staat betrieben werden müssen. Die relative Armut hingegen gerät entsprechend seiner Problemdefinition nicht in den Blickpunkt: Die Gewährleistung einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung sowie eine Art Essens- und Kleiderausgabe beispielsweise richtet sich evident nicht an diejenigen, die aus eigener Kraft zumindest für ihre elementare Subsistenz aufkommen können; auch sonst finden sich in seinen Ausführungen keine Maßnahmen, die auf die relativ Armen als Zielgruppe schließen lassen, obwohl die Logik des Sozialstaates dies durchaus ermöglichen würde. Diese Fokussierung folgt seiner Diagnose des Dramas der Armut. Auch das zweite im Zitat angesprochene Moment der Leistung des Sozialstaats neben der unmittelbaren Abhilfe gegen die absolute Armut entspricht seiner Problemdefinition: Ich habe versucht zu zeigen, dass die Entstehung des Pöbels und die dadurch drohende Untergrabung der sozialen Stabilität seinen wesentlichen Sorgegegenstand darstellt. Die Eindämmung der Armut auf ihre relative Form macht es immerhin unwahrscheinlicher, dass sich innerhalb der armen Schicht eine gesellschafts- und staatsfeindliche Gesinnung entwickelt, weil der Sozialstaat auch auf der Ebene des Denkens einen Beitrag zur Versöhnung mit dem Allgemeinen leistet: Er stellt schließlich das praktische Dokument dessen dar, dass er alle Staatsangehörigen als seine Bürger begreift; er kümmert sich um sie in der Form, dass ihnen die Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht wird. Diese werden nicht nur materiell als Gesellschaftsmitglieder erhalten, sondern sie haben auch einen Grund dafür, diesen Staat als ihr Gemeinwesen zu begreifen. So mögen die Betroffenen weiterhin die Empfindung haben, dass ihnen Unrecht geschieht – der Verursacher dessen wird vermutlich jedoch eher in den anderen Bourgeois denn im Staat gesehen. Dieser betätigt sich als korrigierende und kompensierende Instanz, die sogar konkurrierende ökonomische Interessen beschränkt, und insofern wird eine potentiell aufkommende Staatskritik kaum die Form einer prinzipiellen Ablehnung einnehmen. Ganz im Gegenteil: In deren Lage scheint es sogar näherliegend, ein verstärktes Eingreifen des Staates zum eigenen Schutze und weitere sozialstaatliche Maßnahmen zu fordern. Insofern bleibt also festzuhalten, dass Hegel das Armutsproblem theoretisch zwar nicht in dem Sinne löst, dass sein idealer Sozialstaat es beseitigt, ihm jedoch die Brisanz nimmt, indem er Armut auf ihre relative und damit kaum staatsgefährdende Form begrenzt. Die dem Philosophen zufolge drängende, die modernen Gesellschaften quälende Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist damit zumindest in seinem Sinne beantwortet. Bei diesem Stand der Analyse gibt es jedoch noch eine Leerstelle, der sich Hegel in Form der Korporationen annimmt: Wie herausgearbeitet, erscheint der Staat
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den Wirtschaftssubjekten auf dieser Ebene rein als sie beschränkende Gewalt; lediglich bei den Armen wird sie affirmiert, weil sie ihnen durch die rechtliche Beschränkung der ökonomisch Überlegenen sowie durch materielle Maßnahmen ihr Person-Sein ermöglicht. Dieser Mangel muss freilich überwunden werden; ein funktionierendes Gemeinwesen wäre so schließlich nicht denkbar. Wie also kommt es dazu, dass die Bourgeois den Staat nicht mehr rein als Gewalt oder gar als Staat der Armen begreifen, sondern selbst im Denken den Standpunkt der Allgemeinheit einnehmen? Dabei stellt sich diese Frage erstens grundsätzlich, zweitens im Besonderen in Bezug auf das Verhältnis der Gesellschaftsmitglieder gegenüber den Armen, die bislang rein als Konkurrenten und/oder Schutzobjekt des Staates wahrgenommen werden. In diesem doppelten Sinne behandelt Hegel die Berufsverbände: 72 Sie sind eine teilstaatliche Institution, die das allein am eigenen Wohl orientierte Denken der Bourgeois auf einen allgemeinen Standpunkt (zurück-)führt und zugleich ein Mittel gegen Armut darstellen: „Die polizeiliche Vorsorge verwirklicht und erhält zunächst das Allgemeine, welches in der Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist, als eine äußere Ordnung und Veranstaltung zum Schutz und Sicherheit der Massen von besonderen Zwecken und Interessen, als welche in diesem Allgemeinen ihr Bestehen haben so wie sie als höhere Leistung Vorsorge für die Interessen (§ 246), die über diese Gesellschaft hinausführen, trägt. Indem nach der Idee die Besonderheit selbst dieses Allgemeine, das in ihrem immanenten Interessen ist, zum Zweck und Gegenstand ihres Willens und ihrer Tätigkeit macht, so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück; dies macht die Bestimmung der Korporation aus.“ (GPR, § 249; vgl. auch GSGPR, § 251, S. 621)
Das Verhältnis von Polizei und Allgemeinem ist dadurch charakterisiert, dass diese Institution das Allgemeine innerhalb der Gesellschaft als äußere Ordnung zu implementieren versucht: Sie stellt Bedingungen zur Verfügung, die ein dauerhaftes Bestehen der bürgerlichen Gesellschaft und damit die Reproduktion der Wirtschaft überhaupt erst ermöglicht; Hegel nennt dieses Auftreten des Staates als „Not- und Verstandesstaat“ explizit auch „äußerliche Allgemeinheit“ (Enz. III, § 534). Äußerlich ist dies, insofern es sich hierbei um physisch vorhandene Einrichtungen handelt, sich der Versuch der Verankerung des Allgemeinen also ganz konkret auf die Praxis bezieht. Sie sind es aber auch in dem Sinne, dass diese Perspektive eine den
72 Wie Vieweg ausführt, ist Hegels Korporations-Begriff keineswegs an vorindustriellen Zeiten orientiert, sondern entspricht mit seinen „Prinzipien wie Berufsstolz, Anerkennung, Wertschätzung, Hilfe und Unterstützung, massives Eintreten für die Interessen der Zugehörigen (positive Lobbyarbeit)“ (Vieweg 2012, S. 339) einer modernen Berufsvereinigung.
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Bourgeois zunächst fremde darstellt, die diesen von außen als Pflicht herangetragen wird: Der Bezug auf die allgemeinen Einrichtungen und Bedingungen ist deren Interessen nicht immanent, sondern muss ihnen durch die Polizei auferlegt werden. Als äußere Allgemeinheit „kann der Staat nicht die sittlich inhaltliche Vereinigung des Allgemeinen und Besonderen ausdrücken, sondern nur den allgemeinen Interessenausgleich und die Abschwächung des Antagonismus erzwingen“ (Eichenseer 1986, S. 173). Am Beispiel der bereits erwähnten Gewerbefreiheit ist dies so zu verstehen, dass das Geschäftsinteresse des Einzelnen zwanghaft durch polizeiliche Verfügung eingeschränkt werden kann, weil dem ein anderes, höherstehendes Interesse entgegensteht; die rechtlichen Schranken des ersteren widersprechen zunächst seinem Willen, er würde diese Einschränkung seiner Interessensverfolgung nicht freiwillig an sich vollziehen. Einerseits ist damit zweifelsohne ein Fortschritt gegenüber der Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft erreicht, weil das Allgemeine im Kampfplatz der Wirtschaftssubjekte nun überhaupt erst zur Existenz gelangt. Zugleich ist dieser als mangelhaft und fragil zu bezeichnen, weil das Vernünftige den Individuen in dieser Phase allein als Äußeres, im Zweifel auch als gewaltsame Verpflichtung entgegentritt – kurzum: Das Allgemeine lebt in der Ökonomie allein durch die bewusst vollstreckte, übergeordnete Gewalt des „Not- und Verstandesstaat[es]“ (GPR, § 183), wodurch freilich dieser selbst ein prekäres Dasein hat. Gelebt wird er von den Subjekten schließlich nur durch Zwang, nicht durch Einsicht. „Das Recht und die Gerechtigkeit müssen aber ihren Sitz in der Freiheit und im Willen haben und nicht in der Unfreiheit, an welche sich die Drohung wendet“ (GPR, § 99, Zus.), so führt Hegel das Ungenügen des bislang erreichen Standpunktes aus. Dieses sowie die Gefahr der Instabilität wird nun im nächsten Schritt der Ableitung, der sich auf das Denken und Handeln der Einzelnen bezieht, aufgehoben: Wie Hegel im obigen Zitat ausführt, so wird das Allgemeine zum Anliegen der Subjekte selbst, was sowohl in deren Bewusstsein als auch in ihrer Praxis zum Ausdruck gebracht wird. Dies markiert die Rückführung der allein an ihren eigenen materiellen Interessen orientierten Wirtschaftssubjekte auf einen vernünftigen kollektiven und schließlich auch staatlichen Zusammenhang, der Hegel zufolge empirisch als erster in den Korporationen auftritt. Inwiefern nun können die Berufsverbände dies leisten? „Zunächst ist in der Corporation das besondere Interesse Zweck, in Ansehung dieses gilt das Prinzip, daß jeder dabei auf sich selbst gestellt ist, und das Individuum spricht dies auf sich gestellt zu sein als sein absolutes Recht an“ (GSGPR, § 251, S. 619). Die erste Bestimmung dieser Institution ist also diejenige, die auch das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft selbst ausmacht: Der Einzelne verfolgt in Eigenverantwortung seine Interessen. Erst in einem zweiten Schritt findet eine im Hegelschen Sinne Aufhebung dieses eingeschränkten Standpunkts statt: „Dieß muß bleiben, aber das Zweite ist, daß darin zugleich die Einzelheit des Interesses sich organisirt, als ein Allge-
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meines sich formiert und einen partikulairen Kreis bildet, der jedoch mit dem Staate in wesentlicher Verbindung steht. Diese Verbindung mit dem Staate ist ein Punkt von höchster Wichtigkeit“ (GSGPR, § 251, S. 619). Das Besondere wird darüber also zu einem Allgemeinen, dass sich die identischen, aber gegeneinander konkurrierenden Inhaber von Privatinteressen zusammenschließen und nach Außen hin ein Kollektiv bilden, das ihren Berufsstand als Ganzes organisiert und innerhalb des Staates vertritt. So stellt die Korporation das „Mittelglied“ (GSGPR, § 251, S. 620) dar zwischen Lizenzierung des Besonderen und Implementierung des Allgemeinen.73 Indem sich die in den Korporationen zusammengeschlossenen Mitglieder umeinander kümmern, die Aufgabe der „die durch Befähigung bedingte Sicherung der Subsistenz“ (GPR, § 253) wahrnehmen74 und sie hierdurch auch Anerkennung als Personen finden, ist dies der Ort, an dem das Wirtschaftssubjekt „aus seinem einzelnen Privatinteresse heraustritt und eine bewußte Tätigkeit für einen relativallgemeinen Zweck“ (Enz. III, § 534) hat. Ein Stück weit wird hier also vom Individuum der Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft überwunden: Es weiß sich als Angehöriger eines Ganzen und ist bereit, für die anderen in seinem Zusammenschluss Verantwortung zu übernehmen. Insofern verbindet sich in der Korporation das Erwachen des Denkens des Allgemeinen mit einer entsprechenden Praxis, die durch das materielle Kümmern um ihre Mitglieder die absolute Armut dieser ausschließt und damit deren Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Neben den Ansätzen des Sozialstaates ist es also dieser Zusammenschluss, in dem Hegel ein probates Mittel gegen Armut ausmacht. Sie tritt „für sie als zweite Familie ein [...], welche Stellung für die allgemeine, von den Individuen und ihrer besonderen Notdurft entferntere bürgerliche Gesellschaft unbestimmter bleibt“ (GPR, § 252). Die Berufsverbände als Ort der wechselseitigen Sorge um die Subsis-
73 „Das Mittelglied ist also sittlich wie der Staat, hat einerseits das Interesse der Einzelnen nach ihrer Besonderheit in sich, aber andererseits dieß mit dem Staate gemein, daß auch das besondere Interesse als allgemeines darin bezweckt und bethätigt wird.“ (GSGPR, § 251, S. 619). 74 „Daß jedes Mitglied das Recht habe durch seine Geschicklichkeit seine Subsistenz zu erwerben, leidet abstrakter Weise keinen Zweifel, was aber unmittelbar damit verbunden ist, ist Folgendes. Das Individuum will treiben was es kann und die Wahl ist ihm überlassen, liegt in seiner Willkühr. Das Andere ist, das Individuum will nicht nur treiben was es kann, sondern hat den wesentlichen Zweck daß ihm dadurch seine Subsistenz gesichert sei, dieß soll das Resultat sein. Das eine ist sein Wille, das Andere ist die Realität seiner Thätigkeit, daß der Zweck auch erfüllt werde. Gewöhnlich bleibt man bei dem Formellen des Treibenwollens stehen, das Wesentliche ist aber die andere Seite, daß der Zweck erreicht werde und dieß ist es was die Corporation thut.“ (GSGPR, § 254, S. 624).
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tenz sind dabei – unabhängig von der tatsächlichen Effektivität, die im Folgenden noch untersucht wird – deswegen von höchster Bedeutung, weil der andere nicht mehr allein als ökonomischer Konkurrent wahrgenommen wird. Der Bourgeois kennt innerhalb des Kollektivs nicht mehr nur seinen eigenen wirtschaftlichen Erfolg als Maßstab, sondern bezieht das Wohl der anderen Korporationsmitglieder in sein Denken und seine Praxis ein. Seine „Isolierung auf die selbstsüchtige Seite des Gewerbes“ (GPR, § 253, Anm.) wird aufgebrochen, wodurch die in der bürgerlichen Gesellschaft verlorene Sittlichkeit einen neuen Ort erhält. Dies hat auch positive Konsequenzen für die Armen, da „die Hilfe, welche die Armut empfängt, ihr Zufällige[s] sowie ihr mit Unrecht Demütigendes“ (GPR, § 253, Anm.) verliert: Sie verdankt sich dem Wissen der anderen, in dem Betroffenen ein Mitglied des eigenen Verbandes vor sich zu haben und insofern hat auch das Kümmern keinen hochmütigen Charakter (vgl. ebd.), das ihr vielleicht im Falle der privaten Mildtätigkeit zukommt. Der Arme wird anerkannt als Teil des Kollektivs und nicht als inferiores Opfer, dem man dank eigener Überlegenheit und Gutmütigkeit zum Objekt der Hilfe macht. Unabhängig von der Adäquanz des Mittels zur Linderung des Armutsproblems allgemein kommt der Entwicklung dieses Bewusstseins und schließlich der Praktizierung eines „gemeinsamen Zweck[es]“ (GPR, § 254) ein intrinsischer Wert für Hegels Sittlichkeitskonzeption zu. Gleichzeitig bleiben die Berufsverbände in beiderlei Hinsicht – des Entstehens eines staatsbürgerlichen, allgemeinen Denkens sowie als Maßnahme gegen Armut – evident unter den Möglichkeiten des Staates: So sehr der bornierte Standpunkt des Einzelinteresses verlassen wird, wenn man sich als Kollektiv denkt und vertritt, bleibt es doch – wie im Zitat oben genannt – ein partikulares Anliegen, das sich innerhalb der Korporation verallgemeinert. Die Mitglieder sorgen sich im Bewusstsein als auch durch konkrete Tätigkeiten um sich, stehen für das Wohl der anderen ein, aber die Solidarität bleibt allein auf die eigenen Berufsangehörigen beschränkt. Es ist dies nicht der Standpunkt des anthropologischen Realismus, der sich hier geltend macht; der Zweck ist – wie Hegel dies kennzeichnet – ein relativ-allgemeiner. Auch als Rezept gegen Armut stößt der berufsständische Zusammenschluss schnell an seine Grenzen (vgl. auch Hösle 1988, S. 553): Hegel spricht ihnen das Recht zu, „die Glieder aufzunehmen ‚oder auszuschließen‘“ (GSGPR, § 255, S. 629), sodass es also für den Einzelnen keine Garantie dafür gibt, in den Korporationen eine zweite Familie und damit eine Absicherung gegen die existentielle Armut zu finden. Dass dadurch dieses vermeintliche Mittel zur Armutsbekämpfung untergraben wird, vermutet auch Hegel selbst, weswegen er in diesem Kontext wieder auf ein anderes, zuvor behandeltes und als endgültige Lösung bereits ausgeschlossenes Mittel zurückkommt: „Was den Einwurf anbetrifft, daß so viele Geschicke ausgeschlossen werden, so kann es allerdings der Fall sein, daß sich auf ein Gewerbe zu viele legen und nicht aufgenommen werden können von der Corporation, ist dies
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gegründet, so tritt die Nothwendigkeit der Kolonisation ein“ (GSGPR IV, § 255, S. 629). So schließt sich der Kreis also zur Kolonisation mit den ihr eigenen Widersprüchen (s. oben), sodass außer dem Sozialstaat letztlich keine Maßnahme als probates Mittel der Kompensation der notwendig produzierten Armut bestehen bleibt. Zu allem Überfluss verschärft sich dieses Problem auch noch, wenn in einem Staat Gewerbefreiheit gilt, wie Hegel mit Verweis auf England ausführt, für das sie ein „Krebsschaden“ sei, woraus er folgert: „Die bürgerliche Gesellschaft muß denn alle die dürftigen, ruinierten Familienväter und so eine Menge von Poebel versorgen, oder sie kommt von ihnen in Gefahr“ (GSGPR, § 255, S. 630). Die Abhandlung des Armutsproblems in Bezug auf die Korporationen endet also letztlich mit dem Verweis auf die drohende Untergrabung der Existenz der bürgerlichen Gesellschaft durch die materielle und geistige Armut: Aufgrund der fehlenden Sicherstellung der Subsistenz der Bürger droht ein rein ökonomisches Problem zur Sprengkraft für die ganze Gesellschaft und schließlich auch des politischen Zusammenschlusses zu werden; die Personen verlieren mit der Möglichkeit der Partizipation schließlich auch den positiven Bezug auf das Gemeinwesen. Letztlich vermag Hegels Analyse zufolge allein der Sozialstaat dies abzufedern, indem zumindest die absolute Armut beseitigt wird. Während die elementare Versorgung trotz der benannten Probleme also gesichert werden kann, bleibt die Einschränkung der geistigen und sonstigen Entfaltungsmöglichkeiten durch einen relativen Ausschluss vom Wohlstand bestehen. Hegel vertritt evident kein Steuerungs- oder staatliches Versorgungsideal: Letztlich bleibt es eine individuelle Zufälligkeit der persönlichen und gesellschaftlichen Umstände, wie viel jemand sein Vermögen nennen kann; das Anliegen besteht nicht in einer Tilgung jeglicher Differenz, sondern in der Sicherstellung der Subsistenz einer Person, die ihn als solche – sprich als Rechtsfähigen – erhält. In diesem Sinne spricht Hegel auch davon, dass „die bürgerliche Gesellschaft schuldig ist, die Individuen zu ernähren“ (GPR, § 240): Die Verunmöglichung der Existenz eines Menschen verstößt gegen das, was sein Dasein als Wille bzw. der Begriff des Menschen an sich verlangt. Dass damit die Einschränkung der Selbstverwirklichungs-Potenzen einhergehen kann, erkennt der Philosoph, scheint dies aber letztlich als sekundär einzustufen, solange die Gefahr der Entstehung eines Pöbels zumindest eingedämmt werden kann. Meines Erachtens liegt gerade hierin Hegels an dieser Stelle unbegründete Staatsaffirmation: Er weiß um die Wirkungsweise dieser Ökonomie und damit der Notwendigkeit von Armut und unterstellt in der von ihm aufgezeigten Lösung durch den Sozialstaat, dass diesem Phänomen dann die Brisanz genommen wird, wenn die drohende soziale Instabilität abgewendet wird. Die Perspektive auf das Drama der Armut ist also diejenige des Staates: Die quälende Frage stellt eine solche dar, weil der Pöbel das Gemeinwesen zu untergraben droht, sodass die Reduktion auf die relative Form der Armut eine adäquate Antwort zu sein scheint.
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Offen bleibt noch die Schwierigkeit hinsichtlich der Vermittlung von ökonomischem und staatsbürgerlichem Denken:75 Die Wirtschaftssubjekte verlassen in den Korporationen den Standpunkt des Bourgeois und begreifen sich als ein Kollektiv, das auch die ärmeren Mitglieder umfasst. Dennoch ist dies noch nicht identisch mit einer tatsächlich staatsbürgerlichen Gesinnung, in der sich die Abstraktion vom eigenen Interesse nicht allein auf die Korporationsmitglieder bezieht; der Übergang dazu, die übergeordnete Gewalt nicht allein als beschränkend zu empfinden, sondern Patriot zu sein, ist also noch ungeklärt. Was dieses Denken hinsichtlich der Armen anbelangt, wurde deutlich, dass diese im Sozialstaat einen Grund für eine nationale Gesinnung finden können; bei diesen stellt sich Hegel primär die Frage nach ihrer Repräsentation im Gemeinwesen: Sind bzw. werden sie in den Institutionen des Staates trotz ihrer wenigen Mittel, die sich auch auf den formalen Bildungsgrad auswirken, vertreten? Die Antwort darauf hat natürlich wiederum Folgen für die Möglichkeit der Entwicklung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins bzw. einer Pöbelgesinnung. Zu untersuchen bleibt also, inwieweit der Staat die Mängel der bürgerlichen Gesellschaft aufhebt bzw. die Wirtschaftssubjekte geistig und praktisch zu integrieren vermag – Hegel selbst geht jedenfalls davon aus: „Der Zweck der Korporation als beschränkter und endlicher hat seine Wahrheit – sowie die in der polizeilichen äußerlichen Anordnung vorhandene Trennung und deren relative Identität – in dem an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit; die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über.“ (GPR, § 256)
3.2 DAS ALLGEMEINE ICH IM STAAT, DER SPHÄRE DER „GEWUSSTEN“ UND „SUBSTANTIELLE[N]“ ALLGEMEINHEIT, ODER: DIE VERMITTELTE EINHEIT VON BÜRGER UND STAAT IN DER POLITISCHEN LEBENSFORM ALS ÜBERWINDUNG DER ÄUSSEREN ALLGEMEINHEIT „Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit.“ (GPR, § 258, Anm.)
75 Adorno kennzeichnet Hegels Philosophie deswegen als „die Antinomie des Allgemeinen und Besonderen in der bürgerlichen Gesellschaft“ (Adorno 2003a, S. 290).
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Die Sphäre des Staates ist zweifelsohne diejenige, die bei der Auseinandersetzung mit Hegel sowohl von seinen Kritikern als auch seinen Befürwortern am ausführlichsten beleuchtet wird. Wie in Kapitel 1.3.1 herausgearbeitet, stehen dabei vor allem institutionelle Fragen im Vordergrund: Betonen die Vertreter der Staatsapologie-These Hegels antidemokratische Einstellung, seine Befürwortung des Fürsten und die vermeintliche Unterordnung des Individuums unter einen (nahezu) allmächtigen Staat ohne Pressefreiheit etc., argumentieren seine Verteidiger häufig auf derselben Ebene, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Freilich gibt es innerhalb dieser beiden Linien differenziertere Positionen und weitere Facetten, beispielsweise durch die Deutung Ritters, der vor allem die Verankerung der Freiheit als das dominierende Prinzip hervorhebt und sich deswegen primär auf einzelne Rechtsgüter wie Person und Eigentum kapriziert. Diese letztere Akzentuierung wird auch in diesem Kapitel eine Rolle spielen, da sich schließlich die Frage aufdrängt, woher die zweifelsohne bei Hegel vorhandene Hochschätzung des Staates herrührt: Weswegen wird dem Philosophen zufolge erst mit dem Auftreten dieser Institution die „substantielle“ (Enz. III, § 534) und „gewußte“ (Enz. III, § 535) Allgemeinheit erreicht?76 Um Hegels vermeintlich „vergoldete[s] Staatsbild“ (Bloch 1972, S. 245) also auf seinen Grund zurückzuführen, muss mithin der Staat selbst Gegenstand der Untersuchung und dabei auch geklärt werden, inwiefern durch ihn die konstatierten Mängel der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben sind. Die andere Seite der Doppelstruktur bedarf aber ebenfalls einer Erläuterung: Inwieweit finden die Individuen erst im Staate die ihnen adäquate Lebensform als vernünftige Wesen? Mit dem Nachvollzug dessen soll geklärt werden, weswegen der Mensch ein genuin politisches Wesen ist, das seine Selbstverwirklichung verfehlt, wenn es den Staat nicht als wahrhaft Allgemeines sowohl erkennt als auch praktisch in ihm leben kann. Ich möchte mit dem Versuch der Beantwortung dieser Fragen im Folgenden zeigen, dass in der Hegelschen Forschung zumeist ein falscher Schwerpunkt gesetzt wird, wenn sie sich vor allem auf Fragen der Institutionen konzentriert:77 So wichtig
76 „Die Erringung nicht nur der ,Wirklichkeit‘ sondern auch der ,Allgemeinheit‘ des Wohltuns erfolgt erst auf dem Niveau des Sittlichen, der Politik. [...] Die Politik ist es, die eine wirkliche und konkret verwirklichte Allgemeinheit repräsentiert.“ (Losurdo 2000, S. 295) 77 Eine der wenigen Deutungen in der Forschung, die dementsprechend auch den Patriotismus bzw. die Gesinnung als eine der beiden wesentlichen Bestimmungen – wenn auch, wie zu zeigen sein wird, mit Differenzen zu meiner Auslegung – hervorhebt, ist von Vittorio Hösle: Neben seinem Fokus auf die staatsbürgerliche Einstellung betont er außerdem, dass es Hegel primär um die Idee des Staates und weniger um die konkrete, empirisch vorfindbare Ausgestaltung geht (vgl. Hösle 1988, S. 556 f.). Gelungene Staatlichkeit als Lebensweise zu begreifen und damit das Bewusstsein in den Blick zu nehmen, wird außerdem auch in den Interpretationen Maihofers, Sieps und Viewegs geleistet. Tay-
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diese in einem zweiten Schritt sein mögen, geht es doch zunächst darum, dass der Staat durch die richtige Gesinnung und das entsprechende Handeln der Bürger überhaupt in seiner Allgemeinheit zur Existenz gebracht wird. Die Doppelstruktur von Subjektivität und Allgemeinheit zeigt sich in dieser Sphäre am deutlichsten: Nur durch ein Bewusstsein des Einzelnen vom Dasein als allgemeinem Ich vermag ein Gebilde überhaupt dem Begriff des Staates adäquat zu sein; „die CitoyenGemeinschaft als freie, gebildete Bürgerschaft muss als das Kernstück von Hegels Staatsorganisation angesehen werden“ (Vieweg 2012, S. 439, Hervorh. i. O.). Insofern soll also die These von der Herrschaftsapologie zurückgewiesen werden, da meiner Auslegung zufolge Staat und Subjekt bei Hegel wechselseitig aufeinander verwiesen sind; von einer „Negation der individuellen Subjekte“ (Zima 2007, S. 110) kann keine Rede sein – der Staat könnte in diesem Fall seinem Begriff, wie Hegel ihn versteht, nicht gerecht werden.78 Auch die Fokussierung auf die sogenannten welthistorischen Individuen verpasst – so wird zu zeigen sein – die Substanz des Hegelschen Staates, da diese auf einer Verallgemeinerung eines bestimmten Bewusstseins beruht, die durch Einzelne nicht realisiert werden kann. Das Leben im Staat sowie seine Institutionen selbst stellen eine Lebensform dar (vgl. auch Rawls 2002, S. 451), was bedeutet und wie im Folgenden auszuarbeiten sein wird, dass Hegel ein sehr anspruchsvolles Politikkonzept vertritt. Zu analysieren bleibt auch, inwiefern die aus der Ökonomie herrührenden, politische Implikationen zeitigenden Schwierigkeiten durch die Sphäre des genuin Politischen überwunden werden: Vermag es der Staat, die Armen nicht nur durch den Sozialstaat zu integrieren, sondern dieser auch eine adäquate Repräsentation im Gemeinwesen einzuräumen? Dass sich die materielle Deprivation auf die Bildung und die Sphäre des Rechts auswirkt und damit auch zu einem politischen Problem wird, wurde bereits analy-
lor sprich zwar von einer „Lebensform“ (Taylor 1983, S. 478), bleibt jedoch in diesem Punkt seiner Analyse letztlich zu unspezifisch, weil er die Bestimmung des Menschen als gesellschaftliches nicht von der des politischen Lebewesens unterscheidet (vgl. bspw. ebd., S. 489 f.). 78 Popper führt aus, „daß der Staat alles ist und das Individuum nichts; denn es verdankt dem Staat alles, seine physische sowie auch seine geistige Existenz“ (Popper 2003, S. 40); genauso könnte man diese Behauptung jedoch umdrehen: Der Staat ist ohne die Individuen nichts, da er in seinem Sein als Staat sowohl von dem physischen Vorhandensein eines Volkes als auch von der Bejahung dieser abhängig ist. Auch Schillers ansonsten eher ausgewogenere Deutung ist hier eindeutig zurückzuweisen: „Vom Standpunkt des Allgemeinen erscheinen die konkreten Formen der subjektiven Freiheit als subalternes, letztlich verächtliches Treiben“ (Schiller 2006, S. 95), so führt er aus und kommt letztlich also auch zum Resultat einer einseitigen Subordination, die die wechselseitige Bedingtheit von Staat und Individuum verpasst.
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siert; in diesem Kapitel soll die Beteiligung bzw. Vertretung der Armen in der Politik im engen Sinne, sprich in den staatlichen Institutionen Gegenstand der Untersuchung sein.79 Die erste Bestimmung des politischen80 Staates besteht darin, dass er den Standpunkt der äußeren Allgemeinheit des Not- und Verstandesstaats überwindet; positiv ausgedrückt: Er ist die wahrhafte Allgemeinheit, insofern diese erstens – von Seiten der Bürger betrachtet – den Menschen nicht als äußerer Zwang entgegentritt, sondern tatsächlich im Denken und ihrer Praxis von ihnen gelebt wird; und er ist dies zweitens seiner eigenen Substanz nach, insofern er die Ebene der bürgerlichen Gesellschaft aufhebt in eine Sphäre, in der es nicht mehr um die Limitierung der schädlichen Wirkungen des ökonomischen Treibens und damit überhaupt um das Etablieren eines rudimentären Allgemeinen zu tun ist, sondern in der das Allgemeine als solches – nicht die Abwehr negativer Konsequenzen – verwirklicht werden soll. In Folgendem besteht also der Begriff des Staates, den Hegel im ersten Paragraphen des entsprechenden Abschnitts darlegt: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß, vollführt. An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“ (GPR, § 257; vgl. auch Enz. III, § 535)
In dem Zitat werden beide Momente sowie deren Wechselverhältnis zum Ausdruck gebracht: Der Staat selbst wird gekennzeichnet als sittliche Idee, wobei noch zu klären sein wird, inwiefern diese durch den Staat in Existenz tritt. Dieser ist kein losgelöstes, über den Individuen stehendes Subjekt, sondern es bedarf einer Vermittlung
79 Da die politische Lebensweise allen Menschen adäquat ist, verlässt das Kapitel den ausschließlichen Fokus auf das arme Individuum; dem Resultat der ökonomischen Sphäre entsprechend wird die arme Schicht innerhalb des Volkes fortan jedoch stets gesondert berücksichtigt werden müssen. 80 Es ist dies der Begriff des Politischen, in dem Einzelnes und Allgemeines die Niederungen der Ökonomie in einem Höheren aufheben; insofern sieht Hegel das Phänomen des Politischen als sine qua non der Realisierung des geistigen Subjekts und damit als überzeitliche Erscheinung. „Die höchste Bestimmung erfährt das Denken praktischer Freiheit auf der Ebene des Politischen, auf dem Standpunkt des ‚höchsten konkreten Allgemeinen‘ (§ 303)“ (Vieweg 2012, S. 345, Hervorh. i. O.), sodass der Mensch als Denkender also auf diese Realisationsform des Allgemeinen bzw. des Politischen in seiner Selbstverwirklichung verwiesen ist.
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durch die einzelnen Bürger, die so durch ihr Bewusstsein und ihre Praxis den Staat überhaupt erst in seinem begrifflichen Sinne realisieren. 81 Diese Abhängigkeit in der Doppelstruktur von Einzelnem und Allgemeinheit besteht jedoch ebenso in die andere Richtung: Auch die Subjekte brauchen Hegel zufolge den Staat, um frei sein zu können – ihren Begriff als mit Willen und Bewusstsein begabte Wesen können sie also nur dann verwirklichen, wenn sie in einem sittlichen Staat leben; dies ist ihre Wesensbestimmung als zoon politikon. Dieses Verhältnis drückt sich aus in Hegels Begriff der Verfassung, in der sich die Vernünftigkeit der Institutionen mit der Gesinnung der Bürger vereint (vgl. GPR § 265 sowie Enz. III § 539, § 540) und so „das Allgemeine sich fortwährend auf notwendige Weise hervorbringt“ (GPR, § 269, Zus.). „[D]ie Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck“ (GPR, § 258, Anm.) und ebendiese „Einheit von Mensch und Staat, Gesinnung und Institution“ (Rosenzweig, S. 341, in: Riedel 1975) wird in der Verfassung zum Ausdruck gebracht – sodass also auch deren Wesen verpasst wird, wenn Interpreten sich gänzlich auf die Konstitution des Staates selbst fokussieren und die zweite Seite ausblenden.82 Gerade in der Vermittlung liegt die Sittlichkeit des Gemeinwesens: „Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit.“ (GPR, § 258, Anm.) Dieses Wechselverhältnis,83 das meiner These zufolge sowohl eine epistemische bzw. geistige als auch eine praktische Ebene beinhaltet, soll in den folgenden beiden Punkten herausgearbeitet werden; insofern stellt die Strukturierung dieses Un-
81 Anders ausgedrückt: „Die Legitimation des Staates, des Politischen überhaupt, kann letztlich nur aus einer Instanz erfolgen: aus dem begreifenden Denken. Alle anderen Begründungsprinzipien – das Natürliche, das Verständige, das Pragmatische, das Göttliche etc. – verfehlen den Grund des Politischen, verkennen die Idee des Staates und sind mitunter potentielle Gefährdungen der Freiheit“ (Vieweg 2012, S. 344, Hervorh. i. O.; vgl. auch Ritter 1956, S. 208). 82 Für einen Nachvollzug der Wandlung des Verfassungsbegriffes bzw. dessen, wie Hegel ihn versteht vgl. Rosenzweig, v. a. S. 341 f., in: Riedel 1975. 83 Maihofer führt dies treffend aus: „Diese Vereinigung des Besonderen mit dem Allgemeinen, so daß beides ineinander ‚aufgehoben‘ ist, muß sich nun ebenso auf der Seite der Subjektivität der Person und der sie tragenden Gesinnung, wie auf der Seite der Objektivität der Institutionen und der sie gründenden Gesetze vollziehen. Es muß mit anderen Worten: die Inhalts-Bestimmung der subjektiven Freiheit des Einzelnen und der sie bewegenden Gesinnung aus dem Recht und Wohl des Besonderen wie des Allgemeinen zugleich erfolgen; ebenso aber auch die Inhalts-Bestimmung der objektiven Freiheit aller, wie sie im Gesetz sich ausspricht, das Recht und Wohl des Besonderen und des Allgemeinen zugleich in sich vereinigen.“ (Maihofer 1975, S. 368)
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terkapitels nach Theorie und Praxis sowie Bürger und Staat eine rein analytische Trennung dar, die schließlich im Hegelschen Sinne aufgehoben werden muss. Weil es sich dabei um die Betrachtung der Einheit der beiden Subjekte des Volkes sowie des Staates handelt, wird dabei letztlich derselbe Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. So wird es zwar zu Wiederholungen und Verweisen auf vorangegangene Erklärungen kommen; das jedoch wird insofern als notwendig erachtet als zunächst sowohl die Perspektive des Subjekts als auch die des Staates einzeln betrachtet werden müssen, um in einem zweiten Schritt die Vermittlung bzw. die von Hegel intendierte Aufhebung der Entzweiung in der Einheit nachvollziehen zu können, denn: „Auf die Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit im Staate kommt alles an“ (GPR, § 261, Zus.). Dabei muss sich der Nachvollzug der Hegelschen Gedanken selbstredend auch prüfend dazu stellen: Wird dieses von Hegel postulierte Sollen der sich entwickelnden Identität zwischen den beiden Momenten auch erreicht? Dies gilt es vor allem auch vor dem Hintergrund des Resultates der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu hinterfragen: Wie stellt sich die Vermittlung von Staat und Bürger nicht nur im Allgemeinen, sondern auch mit Blick auf die von materieller Deprivation Betroffenen dar? 3.2.1 Die epistemische Seite der Allgemeinheit als gewusster: Verwirklichung der höchsten Sittlichkeit im und durch das Denken der Bürger und des Staates Der Staat und die Bürger sind meinem Verständnis der Hegelschen Philosophie zufolge nur dann wahrhaft als solche/r zu bezeichnen, wenn auf beiden Seiten ein Wissen um diese wechselseitige Bedingtheit84 besteht – deswegen häufen sich in diesem Abschnitt der Rechtsphilosophie und der Enzyklopädie entsprechende Adjektive und Substantive, die auf das Selbstbewusstsein, das Wissen und das Wollen rekurrieren: Dass Individuum und Staat sich wechselseitig zur an-und-für-sichseienden Existenz bringen, kumuliert in dem Begriff der „gewusste[n] Allgemeinheit“ (Enz. III, § 535). Der Staat ist in diesem Sinne ein „im begreifenden Denken verankerte[r] Zusammenschluss“ (Vieweg 2012, S. 349). Von Seiten der Obrigkeit ausgedrückt, geht es um die „Form der Allgemeinheit, welche in der Bildung ist, der Form des Gedankens, wodurch der Geist sich in Gesetzen und Institutionen, seinem gedachten Willen, als organische Totalität objektiv und wirklich ist“ (GPR, § 256). Bei den Einzelnen ist es darum zu tun, dass sie die Identität ihres Zwecks mit dem
84 „Zur Gänze verwirklicht sich der Geist nur im menschlichen Denken und Selbstbewußtsein. Daher ist die Form des neuzeitlichen Staats, der in seinen politischen und sozialen Institutionen die Freiheit der Personen zum Ausdruck bringt, nicht ganz wirklich, ehe seine Bürger verstehen, wie und warum sie in ihm frei sind.“ (Rawls 2002, S. 428).
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des Allgemeinen „wissen und finden können“ (GSGPR, § 261, S. 636). Es müssen also sowohl vonseiten der Bürger als auch der hoheitlichen Institutionen die jeweiligen Bewusstseinsformen Gegenstand der Untersuchung werden, „da seine [des Staates, I. S.] Einrichtungen und das ihm Geltende überhaupt über das Rechtliche, Verfassung usf. wesentlich in der Form des Gedankens als Gesetz ist, und indem er kein Mechanismus, sondern das vernünftige Leben der selbstbewußten Freiheit, das System der sittlichen Welt ist, so ist die Gesinnung, sodann das Bewußtsein derselben in Grundsätzen ein wesentliches Moment im wirklichen Staate.“ (GPR, § 270, Anm.)
Das Subjekt als Citoyen: Patriotismus als theoretische Seite der gelebten Allgemeinheit Im Folgenden soll zunächst die Perspektive des Bürgers eingenommen und die oben zitierte Definition entwickelt werden: Was bedeutet Hegels Bestimmung, dass das Gemeinwesen vom Bürger als wahrhafte Allgemeinheit gewusst wird? In diesem Abschnitt wird die These vertreten, dass sich Staatlichkeit für den Philosophen in einer Lebensweise ausdrückt bzw. die Bürger eine gewisse geistige und praktische Lebensweise pflegen müssen, um dessen Begriff als sittliche Idee zu realisieren. Der an-und-für-sich seiende Staat ist ein solcher also allein als „lebendiger Geist“ (Enz. III, § 539), weswegen in den Fokus genommen werden muss, wie das Gemeinwesen von den Einzelnen gelebt wird. Allein die Verankerung der Freiheit in der Staatsräson bzw. in den Institutionen reicht Hegel zufolge evident nicht aus: Ein vernünftiges Gemeinwesen entsteht „nicht aus der Tätigkeit irgendeines selbsttätigen Begriffs oder allmächtigen Wesens, sondern ausschließlich aus der Selbststätigkeit und Selbstbestimmung des Subjekts, das sich in seiner Einzelheit nicht nur als ein Besonderes, sondern als ein Allgemeines weiß und will“ (Maihofer 1975, S. 369, Hervorh. i. O.). Nur als politisches Wesen mit entsprechendem Bewusstsein und Tätigkeit wird ein sittliches Gemeinwesen zur Existenz gebracht und kann umgekehrt auch der Einzelne sich selbst verwirklichen; insofern ist es die „höchste Pflicht“ der Individuen, „Mitglieder des Staates zu sein“ (GPR, § 258). Rekapituliert man die bisherigen Erkenntnisse, bedeutet dies, dass allein im politischen Tätigsein die Vernunft des Menschen zur Entfaltung gelangt – „[...] das Allgemeine sei zugleich die Sache eines jeden als Besonderen“ (GPR, § 265, Zus.), fordert Hegel dementsprechend. Die Vernunft muss also genuin politisch gedacht werden. „[...] [U]nd die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate“ (GPR, § 258, Anm.), so der Philosoph. Das allgemeine Ich findet nach den rudimentären Ansätzen in der Ökonomie in der Sphäre der Politik also sein eigentliches Betätigungsfeld, indem es ein Ethos als Bürger ausbildet. Dementsprechend ist es
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das Ziel des Individuums als Teil eines Volkes „[...] die ganze Gesinnung und Tätigkeit des Einzelnen, als der für sich ein Zentrum zu sein strebt, in das Leben der allgemeinen Substanz zurückzuführen und in diesem Sinne als freie Macht jenen ihr untergeordneten Sphären Abbruch zu tun und sie in substantieller Immanenz zu erhalten“ (Enz. III, § 537) – zunächst also zur Seite der Gesinnung, wobei auch geklärt werden soll, was es mit der benannten Rückführung auf sich hat. Die geistige Betätigung als Bürger tritt in ihrer elementaren Form als Patriotismus auf; aus der Perspektive der sittlichen Idee bzw. des so verstandenen Staates ausgedrückt, bedeutet dies, dass diese ihre „subjektive Substantialität“ durch die „politische Gesinnung“ (GPR, § 267) erhält. Damit ist bereits deutlich, dass das Nationalgefühl Teil der Identität der Subjekte ist (vgl. GSGPR, § 268, S. 641), wobei dies nicht missverstanden werden darf als eine reine Angelegenheit des Gefühls bzw. der Innerlichkeit: Für Hegel hat „[d]ie politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt“ die Form der „in Wahrheit stehenden Gewißheit [...] und das zur Gewohnheit gewordene Wollen“ (GPR, § 268). Durch die Kennzeichnung als „wahr“ bringt der Philosoph zum Ausdruck, dass Patriot im Hegelschen Sinne nur sein kann, wer erkannt hat, was den Staat, in dem er lebt, ausmacht: „Wahrheit ist ferner daß die subjektive Vorstellung, die Meinung, Reflexion, der Verstand identisch sei mit seinem Objekt, seinem Gegenstand“ (GSGPR, § 268, S. 641) in dem Sinne, dass das Objekt bzw. in diesem Fall das Gemeinwesen vom Denken als das erfasst wird, was es tatsächlich ist und sich das Subjekt durch diesen Prozess den Gegenstand geistig angeeignet hat. Die Wahrheit geht dem Menschen, wie in Kapitel 2.1 herausgearbeitet, ins Gefühl über und wird so zur Gewohnheit, die sich ohne jegliches Nachdenken einstellt – jedoch erst, nachdem der Gegenstand geistig erfasst wurde.85 Insofern ist es also völlig verfehlt, Hegel hier einen „totalitären Nationalismus“ (Popper 2003, S. 60) vorzuwerfen, der sich „an unsere Stammesinstinkte“ (ebd.), an „Leidenschaft und Vorurteil“ (ebd.) wendet oder „unreflektiert[]“ (Siep 1992b, S. 271) sei.86 Diese Kennzeichnung ist sowohl für ein Verständnis des He-
85 Der weitere Wortlaut greift die Differenz zum Tier auf: „[...] nur dem Geist kommt diese Identität zu und so ist denn nur das Geistige frei“ (GSGPR, § 268, S. 641); das Tier hat kein Bewusstsein und kann so die es umgebende Umwelt weder erkennen noch logischerweise begründet befürworten oder ablehnen. 86 Auch die inhaltliche Kennzeichnung des Zutrauens gegenüber dem Gemeinwesen scheint mir bei Siep nicht zutreffend gekennzeichnet zu sein: Ihm zufolge besteht diese in der „Überzeugung, daß so etwas wie moderne Staatlichkeit für die Selbsterhaltungs- und Selbstverwirklichungsinteressen eines jeden nötig ist“ (Siep 1992b, S. 271) – wo letzterem unbedingt zuzustimmen ist, muss das erste Prinzip umso vehementer zurückgewiesen werden: Selbsterhaltung ist ein Zweck, der dem animalischen Organismus zu eigen ist;
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gelschen Subjektbegriffs als auch für heutige politische Phänomene von höchster Relevanz: Eine nationale Gesinnung wird von Hegel abgelehnt, wenn sie sich allein durch die Gewohnheit bzw. das zufällige Geboren-Sein in einem Land einstellt; sie verlangt vielmehr, in der höchsten epistemologischen Form aufzutreten, um der Freiheit und Reflexionsfähigkeit der Individuen adäquat zu sein. Wo Patriotismus allein auf Mitmachen beruht, bei dem sich die Untertanen opportun den Ansagen der Macht unterwerfen, handelt es sich schlicht nicht um diese politische Gesinnung. Weder dem Fahnenschwenken in totalitären Staaten noch der bornierte Alltags-Nationalismus unpolitischer Art, als auf der bloßen Zufälligkeit der Geburt beruhender, wird hier das Wort geredet. Vielmehr legt Hegel mit der Forderung nach der Erkenntnis des Staates einen sehr hohen Maßstab für das Auftreten einer wahrhaft politischen Gesinnung an. Was kennzeichnet den Patriotismus inhaltlich? Er ist, zusammenfassend, das Erfassen und Affirmieren der Allgemeinheit im Denken der Einzelnen – wobei auch hier wieder entgegen der Theorie der Machtapologeten eine durchaus anspruchsvoll zu nennende Bedingung formuliert wird: Patriotismus meint das Bewusstsein, „daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist, womit eben dieser unmittelbar kein anderer für mich ist und Ich in diesem Bewußtsein frei bin“ (GPR, § 268). Wenn also nicht gilt, dass „mein Interesse, mein Wohl auch sein Zweck ist, daß unsere Zwecke identisch sind“ (GSGPR, § 268, S. 642), dann, so lässt sich umgekehrt schließen, wäre eine patriotische Gesinnung fehl am Platze. Hegel versteht nationales Bewusstsein also nicht als ein selbstverständliches Gefühl, sondern es ist gebunden daran, dass es tatsächlich eine Übereinstimmung zwischen den eigenen und den Interessen des Staates gibt. Auch dies stellt ein Argument dar gegen die Vertreter der Staatsapologie-These, die zumeist davon ausgehen, dass die Parteilichkeit für den Staat keinem Kriterium unterliegt. Wie die Interessensidentität inhaltlich genauer zu fassen ist, wird hier noch offen gelassen; es kann jedoch bereits an dieser Stelle ausgeschlossen werden, dass es sich um ein reines Subsumptionsverhältnis handelt, bei dem die Bürger allein unter einen sie schädigenden Zweck gebeugt werden.87
der Mensch hingegen überwindet dieses elementare und zugleich auf die Natürlichkeit beschränkte Telos. 87 Hier weist Hegel auch der Gesinnung im Kriege ihren Platz zu: Nur wenn man von dieser Identität der „gewöhnlichen Zustände und Lebensverhältnisse“ (GPR, § 268, Anm.) und dem eigenen Interesse ausgeht, ergibt sich daraus auch die „Aufgelegtheit zu außergewöhnlicher Anstrengung“ (ebd.) bis zur Bereitschaft der Aufopferung im Krieg. Bedingung ist also, dass die alltäglichen Umstände affirmiert werden und man diese deswegen zu verteidigen bereit ist.
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Die Ausführungen geben außerdem weiteren Aufschluss über das zuvor behandelte Phänomen der Armut und bestätigen die bisherige Deutung: Da die Ausbildung einer nationalen Identität nur unter der genannten Bedingung zu befürworten ist, stellt das Problem des materiellen Ausschlusses sowie des Pöbels auch ein politisches dar, weil sich die Frage stellt, inwiefern Personen, deren Subsistenz nicht oder allein auf relativ niedrigem Niveau gesichert ist, einen Grund zur Annahme der Interessensidentität haben: Fällt deren Wohl mit dem Zweck des Staates in eins? Hegel vertritt einen anspruchsvollen Patriotismus, der sich epistemisch als Wissen um das Sein des Staates auszeichnet; jedoch wusste der Philosoph durchaus um den Zusammenhang von materieller und geistiger Armut, sodass sich also auch hinsichtlich der Möglichkeit der Entstehung einer adäquaten Staatsbürgerbildung ein Hindernis für eine gleiche Partizipation dieser Citoyen ergeben kann. Inwieweit es hier also zur Annahme einer Interessensidentität, die von den von materieller Deprivation Betroffenen auch erkannt wird, kommen kann, wird sich bei der Frage nach der Entwicklung des Patriotismus erneut stellen. Der Staat ist zur Verwirklichung seines Begriffes jedenfalls – entsprechend dem abstrakt bereits behandelten wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis – auf die Bejahung durch sein Volk angewiesen: Nur, wenn das Volk patriotisch ist, lebt der Staat tatsächlich; „[f]ür einen vernünftigen, freien Staat ist das echte CitoyenBewusstsein [...] eine conditio sine qua non, denn es ist als Freiheitsbewusstsein die ,Seele‘ des Staates“ (Vieweg 2012, S. 396). Das wahrhaft Allgemeine existiert nicht einfach als ein selbstständiges Subjekt, sondern ist in seiner Qualität abhängig davon, dass es als an-und-für-sich Vernünftiges von den Einzelnen erkannt und gewusst wird: „Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben“ (GPR, § 268, Zus.). Insofern er also allein äußere Allgemeinheit bzw. Macht ist, die den Bürgern seinen Willen durch das Gewaltmonopol aufzwingt, bleibt der Staat fragil und kann selbstredend nicht beanspruchen, die wahrhafte Allgemeinheit darzustellen. Diese hier vonseiten des Staatsbegriffes formulierte Bedingung liegt Hegels Befürchtung zugrunde, die sich an der Entstehung des Pöbels festmacht: Wird diese Bevölkerungsschicht das Gemeinwesen untergraben, weil sie es nicht als ein solches anerkennt? Dieses Problem erhält seine Brisanz für Hegel also auch aufgrund des hier deutlich werdenden anspruchsvollen Staatskonzepts, das davon ausgeht, dass der Staat von einem Bürgerwillen getragen wird. Nicht erst der Aufstand eines Volksteils gegen die Hoheit, sondern bereits dessen Weigerung, den Staat geistig zu bejahen, stellt für den Staat des Philosophen eine Herausforderung dar. Schließlich ist dieser darauf verwiesen, dass „sich das Gesetz der Vernunft und der besonderen Freiheit durchdringe, und mein besonderer Zweck identisch mit dem Allgemeinen werde, sonst steht der Staat in der Luft.“ (GPR, § 265, Zus.). Diese Übereinstimmung der Zwecke bezieht sich nicht nur auf das Denken – für Hegel ist es unabdingbar, dass das Allgemeine von den Bürgern auch tatsächlich
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gelebt wird, was es in einem zweiten Schritt herauszuarbeiten gilt. Hier soll festgehalten werden, dass die Ausbildung eines Ethos als Bürger notwendige Bedingung ist für die Verwirklichung des Staates als wahrhaft Allgemeines und damit auch für das allgemeine Ich.88 Nur, wenn Menschen ein Bewusstsein als Angehörige ihrer Polis entwickeln, so Hegel, ist ein gelungenes Leben möglich. Gerade diese wechselseitige Bedingtheit lässt deutlich werden, dass sich das Problem der Armut in der Sphäre des Politischen perpetuiert. Offen ist nun, wie es zur Entwicklung des Patriotismus kommt. Dies scheint mir deswegen eine zentrale Fragestellung zu sein, weil die sich herausbildende Subjektivität sich auf dem momentanen Stand der Analyse folgendermaßen darstellt: Der vernunftbegabte Einzelne lebt in einer Gesellschaft, in der er sich in Konkurrenz zu den anderen Mitgliedern um sein materielles Wohl und das seiner Familie kümmert; in letzterer praktiziert er einen sittlichen Standpunkt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er vom Gegeneinander der ökonomischen Sphäre dispensiert ist. Der Staat tritt ihm auf dieser Stufe der Untersuchung allein als Herrschaft gegenüber, die das ökonomische Treiben durch Vorschriften inklusive Strafrecht in rechtliche Bahnen lenkt; das ermöglicht ihm einerseits sein (dauerhaftes) Handeln als Wirtschaftssubjekt, wirkt auf ihn andererseits aber durchaus auch limitierend, weil selbstredend auch er dem Recht des Staates über die bürgerliche Gesellschaft unterworfen ist. Wie kann sich hieraus nun ein positiver Bezug auf den Staat bzw. die Erkenntnis, dass es sich bei diesem um das wahrhaft Allgemeine handelt, ergeben? In der oben zitierten Textstelle wird das vom Philosophen selbst ausdrücklich als Aufgabe des „Zurückführens“ bezeichnet, was vom vorherigen Verlust des Allgemeinen zeugt. Einerseits gibt es also den bornierten Interessensstandpunkt und andererseits Hegels Postulat, dass der Bourgeois zum Allgemeinen bzw. zum Standpunkt des Citoyens gebracht werden soll:
88 Die Vernachlässigung der wechselseitigen Bedingtheit, die in der Forschung fast ausschließlich von Hösle unter der Bezeichnung der „Doppelung“ (Hösle 1988, S. 562) hervorgehoben wird, lastet letzterer Hegel selbst an: Dieser hätte das Moment der Gesinnung zwar als eine wesentliche Bestimmung des Staates verstanden, aber andererseits die Doppelung zu wenig im Werk selbst betont, was sich darin ausdrücke, dass ihr keine eigene Überschrift und auch allein nur ein Paragraph gewidmet wird (vgl. Hösle 1988, S. 561). Damit verkennt er jedoch, dass Hegel im Staats-Abschnitt ständig von Selbstbewusstsein, Wissen und ähnlichen Kategorien spricht, also das Moment der „gewußten Allgemeinheit“ zu der Wesensbestimmung des Staates erhebt, wodurch gerade beide Momente – die Seite des Bürgers sowie des Staates – vereint sind. Insofern diese im Mittelpunkt der Eingangsausführungen sowohl der Grundlinien als auch der Enzyklopädie steht, lässt sich ihm die Vernachlässigung nicht vorwerfen. Dies gilt umso mehr, als, wie erwähnt, auch der Verfassungsbegriff dieses Wechselverhältnis zum Ausdruck bringt.
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„Die Individuen der Menge, da sie selbst geistige Naturen und damit das gedoppelte Moment, nämlich das Extrem der für sich wissenden und wollenden Einzelheit und das Extrem der das Substantielle wissenden und wollenden Allgemeinheit in sich enthalten und daher zu dem Rechte dieser beiden Seiten nur gelangen, insofern sie sowohl als Privat- wie als substantielle Personen wirklich sind, – erreichen in jenen Sphären teils unmittelbar das erstere, teils das andere so, daß sie in den Institutionen, als dem an sich seienden Allgemeinen ihrer besonderen Interessen, ihr wesentliches Selbstbewußtsein haben, teils daß sie ihnen ein auf einen allgemeinen Zweck gerichtetes Geschäft und Tätigkeit in der Korporation gewähren.“ (GPR, § 264)
An dieser Stelle wird diese doppelte Bestimmtheit des Subjekts zum Ausdruck gebracht, wobei sich beide Momente einander nicht einfach gegenüberstehen, sondern durchaus konfligieren können; Hegel zufolge kann man die „zwei Seelen in einer Brust“ nur dadurch befriedigen, dass beide sowohl ideell in einem entsprechenden Bewusstsein als auch de facto in den jeweiligen Institutionen ihre Berechtigung und damit ihr Betätigungsfeld finden. An dieser Stelle der Analyse stehen sich beide Standpunkte also scheinbar unvermittelt gegenüber; eine Antwort auf die Frage der Entwicklung des Patriotismus wird jedoch insofern angedeutet, als der Philosoph auf die Notwendigkeit der Praktizierung des letzteren verweist: Das Subjekt muss sich als Allgemeines im Geiste und in der Handlung betätigen und gelangt durch diese Lebensweise, so scheint der Philosoph hier zirkulär zu argumentieren, zu diesem gelebten Standpunkt selbst. Mit diesem Prozess ist jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für dessen Gelingen formuliert, die er auch benennt: die Vernünftigkeit des staatlichen Gebildes. Der Patriotismus ist „nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in welchem die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist, so wie sie durch das ihnen gemäße Handeln ihre Betätigung erhält“ (GPR, § 268). Diese Auskunft ist in mehrerlei Hinsicht diskussionswürdig:89 Einerseits wird das Auftreten des Patriotismus, in Bestätigung des zuvor Analysierten, an das in-
89 Wenn man den Vorlesungstext berücksichtigt, ergibt sich außerdem eine weitere Schwierigkeit: Hegel fasst das Individuum an dieser Stelle radikal als Zeitliches in dem Sinne, dass es in seinem Tun und Denken von den Gegebenheiten und dem Zeitgeist geprägt wird und sich dieses Einflusses auch nicht entziehen kann. Alle Individuen würden letztlich „das Besondere einer Zeit“ (GSGPR, § 268, S. 642) annehmen: „[S]ie sind das Werk ihrer Zeit und ihres Landes [...]. Der Geist einer Nation geht in jedem Individuum fort, er mag es wissen und sich dagegen wehren wie er will oder er mag ihm unbekannt sein; wie ein jeder ißt und trinkt ohne von Anatomie zu wissen. In seinem besonderen Sein, in seinen Handlungen ist jener Geist das Treibende, das Unbewegliche in ihm, was ihn bewegt“ (GSGPR, § 268, S. 642). Hegel als ein Denker, der in seinem Werk unermüdlich den Bildungsauftrag des Einzelnen betont, der sich von seiner Unmittelbarkeit zur Ver-
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haltliche Kriterium gebunden, dass die staatlichen Einrichtungen auch tatsächlich eine Verankerung der Vernunft darstellen. Dies wird von Hegel durch die Emphase des „Wirklichen“ eindeutig ausgedrückt: Wie dargelegt, unterscheidet Hegel stets zwischen dem bloßen Dasein bzw. der Realität und der Wirklichkeit einer Sache, wobei letzteres die Realisierung eines Begriffs bzw. des Dings an-und-für-sich kennzeichnet. Allein wenn also die Institutionen als vernünftig zu bezeichnen sind bzw. ihrem Begriff als wahrhafte Allgemeinheit gerecht werden, vermögen sie auch, Zutrauen bei den Bürgern hervorzurufen. Andererseits ergeben sich trotz dem entschieden von Hegel abgelehnten juridischen Positivismus zwei Schwierigkeiten. Wie lässt sich der Zirkel rechtfertigen, der in den Vorlesungen noch deutlicher zum Ausdruck gebracht wird: „Der Patriotismus ist das Resultat der Institutionen des Staats, aber ebenso ist die Gesinnung die Ursache, durch sie und aus ihr erhält der Staat seine Bethätigung, Erhaltung“ (GSGPR, § 268, S. 641)?90 Das erläuterte Wechselverhältnis stellt sich bei der Behandlung der Entstehung des Patriotismus also als das Problem dar, dass der Staat einerseits allein zum wahrhaft Allgemeinen wird, wenn er von den Bürgern als solches erkannt und entsprechend gelebt wird; andererseits aber muss er das bereits sein, um als solcher anerkannt zu werden. Es mag naheliegend erscheinen, diesen Zirkel (vgl. hierzu auch Brauer 2007, S. 237) in der Empirie historisch aufzulösen, wovon diese analytischbegriffliche Arbeit jedoch absieht – zumal sich auch dann noch die Frage stellt, wo der Ursprung der Vernunft begrifflich zu verorten ist: Wie kam diese in die Welt,
nunft emporarbeiten soll, geht andererseits ganz selbstverständlich davon aus, dass ein jeder Kind seiner Zeit ist, in seinem Denken und Tun also durch die Zufälligkeit der Gegebenheiten bestimmt bleibt. Nun ist es unbestreitbar so, dass Menschen durch die Nation, in der sie leben und die Zeit, in die sie hineingeboren sind, zutiefst geprägt werden – aber stellt es letztlich nicht eine Kapitulation der Vernunft dar, wenn sich das Individuum nicht von diesen kontingenten Umständen emanzipieren kann? Gerade die Vernunft wird von Hegel zwar immer als sich entwickelnde gedacht, jedoch ist sie keineswegs inhaltsleer oder allein jeweils von den Rationalitätsvorstellungen einer Zeit gefüllt. Wie auch im Folgenden deutlich werden wird, so meint die Realisation der Vernunft die Verwirklichung bestimmter Prinzipien, deren Gültigkeit nicht ins Belieben der Zeit gestellt sind – und in dieser Hinsicht kann, so die These, Hegel also nicht als Theoretiker verstanden werden, für den letztlich alle Normen und Werte relative Gültigkeit beanspruchen können. Insofern muss also auch die Zeitlichkeit der Individuen als auf gewisse Momente beschränkt verstanden werden. 90 Vgl. auch Enz. III, § 540: „Die Verfassung setzt jenes Bewußtsein des Geistes voraus, und umgekehrt der Geist die Verfassung, denn der wirkliche Geist selbst hat nur das bestimmte Bewußtsein seiner Prinzipien, insofern dieselben für ihn als existierend vorhanden sind.“
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wenn sie doch nicht objektiv werden kann ohne ein entsprechendes Bewusstsein der Menschen, aber umgekehrt ebendieses nicht vorhanden sein kann, ohne, dass diese in bereits vernünftigen Gegebenheiten leben? Hegel selbst beantwortet diese Frage nicht explizit. Meinem Verständnis zufolge geben hierauf jedoch die welthistorischen Individuen eine Antwort, auf die Hegel selbst in der Abhandlung der Weltgeschichte in demselben Abschnitt zu sprechen kommt. Während manche Interpreten die Sinnhaftigkeit der Abhandlung dieses Thema im Staats-Kapitel bezweifeln, ordnet sich dies meiner Deutung zufolge als Auflösung des Zirkels ein: Hegel schreibt, dass „das Element des Daseins des allgemeinen Geistes [...] in der Weltgeschichte die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“ (GPR § 341) ist. In der Darstellung dieser gilt es also, in allem empirisch Vorfindbaren das Allgemeine und speziell dessen Entwicklung herauszuarbeiten. Bei diesem „Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes“ (GPR, § 347) bzw. der Durchsetzung der Vernunft, die sich schließlich auch in den Institutionen eines Staates manifestiert, spielt das Handeln Einzelner eine entscheidende Rolle. Deren theoretisches und/oder praktisches Wirken stellt die Auflösung des Zirkels dar, weil durch sie zunächst rein individuelle Fortschritte in der Durchsetzung der Vernunft erreicht werden, die sich dann verallgemeinern, zunächst in einem Volke und anschließend welthistorisch (vgl. Enz. III, § 550 ff.). „An der Spitze aller Handlungen, somit auch der welthistorischen, stehen Individuen als die das Substantielle verwirklichenden Subjektivitäten (§ 279 Anm.)“ (GPR, § 344). Diese werden jedoch – entgegen der Deutungen, die unter dem Schlagwort der großen Männer bei der Skizzierung des Forschungsstandes behandelt wurden und Hegel die Legitimation des „Führerprinzip[s]“ (Popper 2003, S. 86) unterstellen91 – als „bewußtlose Werkzeuge“ (GPR, § 344; vgl. auch Enz. III, § 551) bestimmt, denen der Vollzug bzw. die Fortentwicklung des Allgemeinen „verborgen“ (GPR, § 348) ist; allein die „selbstgemachte[] Eitelkeit“ (GPR, § 124 Anm.) führt häufig dazu, dass das Substantielle von deren Tun, das eben nicht in die Zufälligkeit der Individualität fällt, übersehen wird. Sie selbst, „diese Gestalten vergehen, der Geist an und für sich aber [hat, I. S.] sich den Übergang in seine nächste höhere Stufe vorbereitet und erarbeitet“ (GPR, § 344). So stellen also die sogenannten großen Männer die Subjekte dar, die die Vernunft ihrem Telos näherbringen und zu einer Verallgemeinerung dieses Fortschritts beitragen. Hegel führt diesen Prozess nicht weiter aus, aber es scheint naheliegend, dass die Gestaltung dieser Entwicklung von den jeweiligen Individuen abhängt: Handelt es sich um einen politischen Lenker, so wird die Entwicklung vermutlich zunächst
91 Inwiefern der Monarch in Hegels Charakterisierung Gott gleicht, wie Theunissen behauptet, ist noch weniger nachzuvollziehen (vgl. Theunissen 1970, S. 444).
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in den Institutionen befördert; bei Philosophen wie Sokrates ist wohl erst von einer Bewusstseinsveränderung bei seinen Anhängern auszugehen, die sich dann verallgemeinert und entsprechende Konsequenzen für den objektiven Geist hat, sodass der benannte Zirkel entstehen kann.92 Erkenntnisbringend ist dabei auch der von Hegel angegebene Verweis auf die Anmerkungen zum § 279 der Grundlinien: In diesem behandelt Hegel die Stellung der Persönlichkeit des Fürsten sowie das Auftreten des Sokrates und dessen geschichtliche Bedeutung; keineswegs gelten ihm also nur Feldmänner als potentiell welthistorische Individuen. Ein weiterer Aspekt in Hegels Erläuterung der Entstehung der politischen Gesinnung durch die Praxis des vernünftigen Staates scheint bemerkenswert: Der Philosoph postuliert keinen Übergang aus dem Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft zu dem des Staates, sondern behauptet ohne Rückbezug auf die Sphäre der Ökonomie, dass die Gesinnung durch den Staat selbst generiert wird. Dies bedeutet, dass es zumindest in der Genese keine Vermittlung zwischen dem Denken als Bourgeois und dem als Citoyen gibt. Die Individuen als Konkurrenzsubjekte der bürgerlichen Gesellschaft, die allein eine formelle Allgemeinheit hervorzubringen vermögen, stehen in der Sphäre des Staates auf dem Standpunkt des wahrhaft Allgemeinen, bei dem sie von ihrem Dasein als Konkurrenten abstrahieren – jedoch ohne, dass sie dieses Denken und die entsprechende Praxis aufgeben würden. So existiert also im Subjekt selbst eine Entzweiung zwischen dem Bourgeois, der nur sein Interesse im Blick hat und den Staat dabei als Beschränkung begreift und dem Staatsbürger, der es vermag, als Bürger eine patriotische Gesinnung zu pflegen bzw. den Standpunkt des wahrhaft Allgemeinen einzunehmen. Hier drängt sich die Frage auf, ob die Aufhebung der Entzweiung gelingt, wie es bislang als Charakteristikum dieser Hegelschen Gedankenfigur der notwendigen Entzweiung und darauffolgenden Vermittlung auf höherer Ebene festgehalten wurde. Wie stellt sich die Entwicklung der staatsbejahenden Gesinnung für die arme Bevölkerungsschicht dar? Während ich zu zeigen versucht habe, dass ein genuin wirtschaftliches Problem zu einem politischen wird, scheint der Philosoph selbst diese Argumentation nicht zu teilen: Die Gefahr des Pöbels, vor der er im Abschnitt über die bürgerliche Gesellschaft ausführlich warnt, ist für den Philosophen gebannt. Wie lässt sich dies erklären, wenn man bedenkt, dass er ein anspruchsvolles Verständnis von Patriotismus vertritt, bei dem die Interessensidentität zwischen Staat und Bürger sowie das Wissen um diese notwendige Bedingungen darstellen? Der Unterschied zwischen reichen und normal ausgestatteten auf der einen sowie
92 In einer Nebenbemerkung verdeutlicht er dies am angegebenen Beispiel: „Das Prinzip der Moralität, der Innerlichkeit des Sokrates ist in seinen Tagen notwendig erzeugt [worden], aber dazu, daß es zum allgemeinen Selbstbewußtsein geworden ist, gehörte Zeit.“ (GPR, § 274, Zus.)
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armen Bürgern auf der anderen Seite zeigte sich hinsichtlich ihres geistigen Bezugs auf den Staat bereits in der bürgerlichen Gesellschaft und wird nun im Vergleich zum zweiten Standpunkt der Bevölkerungsmehrheit nochmals deutlich: Wie ich herauszuarbeiten versucht habe, begreifen die Bürger den Staat aus der Perspektive ihrer ökonomischen Betätigung zunächst als reine Beschränkung. Objektiv lizenziert die Hoheit ihre Interessensverfolgung. Diese geht jedoch immer damit einher, dass der wirtschaftlichen Betätigung nicht nur eine Sphäre der Freiheit gewiesen, sondern sie dadurch zugleich begrenzt wird. Letzteres, die Limitierung ihrer Bourgeois-Interessen, dominiert ihr Denken über den Staat auf dieser Ebene: Sie begreifen ihn als Gewalt, der sie beispielsweise durch Einschränkung der Gewerbefreiheit oder durch das Ins-Recht-Setzen eines Konkurrenten etc. beschränkt. Anders stellt sich dies für die Armen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft dar: Sie als die ökonomischen Verlierer scheinen einerseits prädestiniert dafür, nicht nur persönliche Untugenden wie Faulheit zu entwickeln, sondern auch den Staat an sich abzulehnen. Dies begründet die Brisanz der Armutsfrage für Hegel, deren Bedeutung er an dieser Stelle der Analyse relativiert sieht – was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass der Pöbel sowie die Armen als spezifische Bevölkerungsschicht keine Erwähnung in der Staatsabhandlung mehr finden. Der Sozialstaat, der die Form der absoluten Armut durch die Garantie einer Grundversorgung weitestgehend beseitigt, gibt den materiell Exkludierten einen Grund, trotz ihrer Lage eine positive Einstellung gegenüber dem Staat zu entwickeln. Sie begreifen diesen nicht als beschränkende Gewalt, wie das bei den anderen Gesellschaftsmitgliedern aus Sicht des Bourgeois der Fall ist, sondern vielmehr als eine sich um sie kümmernde Hoheit. So können sich also paradoxerweise die Armen bereits auf der ökonomischen Ebene im Gemeinwesen aufgehoben wissen, indem sie eine Interessensidentität in der Kompensationsleistung des Staates erfahren. Tatsächlich gibt es keinerlei Notwendigkeit dafür, dass sie tatsächlich eine solche Gesinnung entwickeln – sie können sich dank ihres Willens freilich auch für die Empörung des Pöbels entscheiden. Für Hegel jedenfalls scheint evident gewesen zu sein, dass letzteres eher die Ausnahme bleibt; andernfalls ist nicht zu erklären, weswegen er das Armutsproblem nicht nochmals aufgreift. Entgegen der Hegelschen Annahme möchte ich hingegen die These aufrechterhalten, dass das ökonomische zu einem politischen Problem wird; ob und wie die relativ Armen in ihrem Gemeinwesen repräsentiert sind und inwieweit sie das Allgemeine trotz des vom Philosophen erkannten Konnexes zwischen materieller und geistiger Deprivation praktizieren können, bleibt noch zu untersuchen.
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Der Staat und seine Bediensteten: der in der Verfassung und der professionellen Beamtenschaft manifeste Staatswille als theoretische Verwirklichungsform der gewussten Allgemeinheit Hinsichtlich der kognitiven Seite der Allgemeinheit aus der Perspektive des Staates müssen meiner Deutung zufolge vor allem zwei Aspekte hervorgehoben werden: Die gewusste Allgemeinheit existiert als Bewusstsein erstens in der geschriebenen Verfassung und zweitens in professionellen Staatsbediensteten bzw. im allgemeinen Stand, der den in der Verfassung manifestierten Staatswillen exekutiert. Auch in Hegels Bestimmung der Obrigkeit kumulieren Begrifflichkeiten, die sich auf den Willen, das Wissen und das Bewusstsein beziehen: „Nur als im Bewußtsein vorhanden, sich selbst als existierender Gegenstand wissend, ist er der Staat“ (GPR, § 258 Zus.);93 an anderer Stelle heißt es: „Das Wesen des Staates ist das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Willens, aber als sich wissend und betätigend schlechthin Subjektivität und als Wirklichkeit ein Individuum“ (Enz. III, § 537). Hervorzuheben ist hierbei, dass der Staat von Hegel mit einem epistemischen Zustand, nämlich dem Wissen, bestimmt wird und dass die Exekution dessen ihm zufolge durch einen Willen bzw. ein Individuum erfolgt. Er stellt für Hegel also einen bewussten und einheitlichen Organismus dar. Daran ändert ihm zufolge auch die Gewaltenteilung nichts (vgl. GPR, § 270).94 Diese ist zwar eine „höchst wichtige[] Bestimmung“ des Staates, welches „als die Garantie der öffentlichen Freiheit betrachtet“ (GPR, § 272, Anm.) werden kann, aber „jede [Gewalt, I. S.] muß an sich selbst ein Ganzes bilden und die anderen Momente in sich enthalten“ (GPR, § 272, Zus.), da andernfalls „das Ganze zerrüttet“ (ebd.) werden würde. Wie hinsichtlich der Einzelnen bereits gezeigt wurde, so gilt auch hier, dass die wesentliche Bestimmung darin zu sehen ist, dass dieses Staatsindividuum den Zweck, den es exekutiert, in historischen Bildungsstufen ausgearbeitet hat und sich dessen bewusst ist: Die unterschiedlichen Gewalten des Staates haben ihre Substantialität laut Hegel darin, „der als durch die Form der Bildung hindurchgegangene, sich wissende und wollende Geist [zu sein, I. S.]. Der Staat weiß daher, was er will, und weiß es in seiner Allgemeinheit, als Gedachtes; er wirkt und handelt deswegen nach gewußten Zwecken, gekannten Grundsätzen und nach Gesetzen, die es nicht nur an sich, sondern fürs Bewußtsein sind“ (GPR, § 270).
93 Vgl. auch GPR, § 258, Zus.: „Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht und sich in derselben mit Bewußtsein realisiert.“ 94 Sicherlich wäre es an sich lohnend, auf Hegels Auffassung über die Gewaltenteilung näher einzugehen; diese und weitere Bestimmungen des Staates müssen jedoch ausgeblendet und sollen nur insoweit erläutert werden als sie relevant sind für das Verhältnis von Individuum und Staat.
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Dieser sich selbst wissende und sich fortentwickelnde einheitliche Wille des Staates ist manifest in der Verfassung als dem geronnenen Bewusstsein der Freiheit. Denn schließlich steht der Staat nicht „in der Luft“, sondern es bedarf der Kodifizierung seiner Prinzipien, um sie durch reflektiertes Handeln seiner Bediensteten in die Praxis umsetzen zu können. Die Verfassung „enthält die Bestimmungen, auf welche Weise der vernünftige Wille, insofern er in den Individuen nur an sich der allgemeine ist, teils zum Bewusstsein und Verständnis seiner selbst komme und gefunden werde“ (Enz. III, § 539). Während die Einzelnen den Staatswillen also nur an sich haben, hilft ihnen die Verfassung dabei, diesen durch die niedergeschriebene Staatsräson auch als an-und-für-sich-seienden zu gewinnen und – insofern sie Staatsdiener sind – diesen dann entsprechend durch ihr professionelles Handeln zu verwirklichen. Insofern ist die Verfassung also nicht allein die in einem Dokument geronnene, durch die Bildung eines Volkes sich fortentwickelnde Vernunft, sondern zugleich zentraler Mittler zwischen dem einmal gewonnen Bewusstsein der Freiheit und deren permanenter Implementierung bzw. Fortschreibung – so geht die Verfassung „ewig aus dem Staate hervor, wie er sich durch sie erhält“ (GPR, § 269, Zus.), wie Hegel den oben erklärten Zirkel auf der Ebene des Staates zum Ausdruck bringt. Die Bedeutung der Verfassung ist also für die Realisierung der Vernunft kaum zu überschätzen, weswegen Hegel sich intensiv den Fragen der Entstehung, der Fortentwicklung sowie der Form der Verfassung widmet. Ihm zufolge ist es dem vorher beschriebenen Verständnis entsprechend eine „sinnlos[e]“ (GPR, § 273) Frage, „wer die Verfassung machen soll“ (ebd.) und dies aus drei Gründen: Stellt man diese Frage, so würde man erstens unterstellen, dass aktuell keine Verfassung besteht und „somit ein bloßer atomistischer Haufen von Individuen beisammen sei“ (ebd.), was sich so verstehen lässt, dass es in einem solchen Zustand schlicht kein Volk und damit auch keinen Staat geben würde. An anderer Stelle verwirft Hegel nämlich in den schärfsten Tönen die Vorstellung, dass es sich beim Volk allein um „eine unorganische Menge“ (GPR, § 303, Anm.) handelt, „eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre“ (ebd.; vgl. auch GPR, § 279). Existiert umgekehrt ein Volk bzw. populus (vgl. Enz. III, § 522, Anm.), das seinem Begriff gerecht wird, in dem also seine einzelnen Mitglieder ihre Identität in der patriotischen Gesinnung haben, muss es umgekehrt auch eine Verfassung geben, in der dieses Wissen geronnen ist und das umgekehrt zur Konstitution der Gemeinschaft der Citoyen führt (vgl. auch Enz. III, § 540). Wenn es jedoch bereits eine Verfassung gibt, so Hegels zweite Begründung der Zurückweisung der Fragestellung, dann bedeutet das Entwerfen der Verfassung nur ihre Fortschreibung (vgl. GPR, § 273). Sein drittes und wohl gewichtigstes Argument besteht schließlich darin, dass es schlicht nicht möglich ist, ein solches Dokument „am Reißbrett“ zu entwerfen:
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„Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.“ (GPR, § 273; vgl. auch GPR, § 274, Anm.)
Die Entwicklung der Vernunft innerhalb eines Volkes kann nicht unvermittelt „erfunden“ werden, sondern stellt einen generationenübergreifenden Prozess dar, in dem sich der Volksgeist zur Freiheit als seinem Telos fortentwickelt. Einer staatlichen Entität eine Verfassung durch eine partikulare Gruppierung in einem plötzlichen Akt oder gar von außen „überzustülpen“,95 ist somit dem Philosophen zufolge schlicht unmöglich. Hinter diesem Gedanken steht kein „kollektive[r] Mystizismus“ (Popper 2003, S. 55) oder „Historizismus“ (ebd.),96 sondern die Überlegung, dass ein staatsbürgerliches Bewusstsein im Volk reifen muss und sich die jeweils erreichte Stufe der Reflexion in der Verfassung manifestiert, die selbst eine prozessuale Entwicklung durchläuft. Die Frage, wer eine Verfassung machen solle, sei also letztlich gleichbedeutend mit der, „wer den Geist eines Volkes zu machen habe“ (Enz. III, § 540, Anm.). Wie aber kann es zu diesen Verfassungsveränderungen bzw. solchen im Reflexionsstand des Volksgeistes kommen? Hegel zufolge besteht ebendarin das Handeln der gesetzgebenden Gewalt, die die Verfassung durch das Recht ausformuliert und dadurch zugleich die Prinzipien, die in der Verfassung zu Bewusstsein kommen, realisiert und fortentwickelt: „Die Verfassung muß an und für sich der feste geltende Boden sein, auf dem die gesetzgebende Gewalt steht, und sie muß deswegen nicht erst gemacht werden. Die Verfassung ist also, aber ebenso wesentlich wird sie, das heißt, sie schreitet in der Bildung fort. Dieses Fortschreiten ist eine Veränderung, die unscheinbar ist und nicht die Form der Veränderung hat“ (GPR, § 298, Zus.). Sie sollten dem Philosophen zufolge also nur behutsam vorgenommen
95 So birgt diese Argumentation Hegels einige politische Sprengkraft, weil es die Vorstellung eines regime change von außen als nicht zu realisierendes Unternehmen verwirft; vgl. hierzu auch das von Hegel gegebene Beispiel des Falls Napoleons in Spanien (vgl. GPR, § 274, Zus.). 96 Es ist frappierend, dass Popper diese Behauptungen Hegels angreift, weil er an anderer Stelle von einer (einzigen) „wichtige[n] Idee“ (Popper 2003, S. 71) spricht, die man den Philosophen zurechnen könne, „wenn man bereit ist, danach zu suchen“ (ebd., S. 72), nämlich die Erkenntnis, „daß Menschen ihr Leben nicht als ein unbeschriebenes Blatt beginnen können, daß es ihnen nicht möglich ist, eine Welt des Denkens aus dem Nichts zu schaffen, sondern daß ihre Gedanken größtenteils das Produkt einer intellektuellen Erbschaft sind“ (ebd.) – nichts anderes jedoch möchte Hegel meines Erachtens in Bezug auf die Entstehung von Verfassungen zum Ausdruck bringen.
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werden, was sich leicht einsehen lässt, wenn die Verfassung selbst als gewachsener Reflexionsstand der Bürger verstanden wird; sie ist „die Arbeit von Jahrhunderten, die Idee und das Bewußtsein des Vernünftigen, inwieweit es in einem Volk entwickelt ist“ (GPR, § 274, Zus.). Bei der Erklärung von weiter reichenden Modifikationen wie vor allem revolutionären Umstürzen kann auf die oben gegebenen Ausführungen zur Fortentwicklung des Bewusstseins der Freiheit bei den einzelnen Subjekten durch die allmähliche Verallgemeinerung der Erkenntnisse von welthistorischen Individuen verwiesen werden. Dem Stellenwert einer bewussten Exekution des Staatswillens entsprechend, überlegt Hegel, wie diese am Besten zu gewährleisten sei. Seine Antwort besteht in dem Entwurf einer Beamtenschaft und der entsprechenden Ämter, deren Inhaber epistemisch den Stand der gewussten Allgemeinheit erreicht haben. Festzuhalten ist also, dass ein wesentlicher Bestandteil des Hegelschen Staates in einem Stand besteht, dessen Beruf im Wissen sowie der Exekution der Staatsnotwendigkeiten besteht. Allein dank dieser Professionalisierung durch institutionalisierte Ämter bis hin zu den Ministerien kann die Umsetzung der Verfassung gewährleistet werden. „Die Wirksamkeit des Staats ist an Individuen geknüpft“ (GPR, § 277, Zus.), so Hegel, jedoch evident nicht an deren Persönlichkeit, sondern an sie in ihrer Eigenschaft als Exekutor ihres Amtes (vgl. ebd.). Unter anderem umfasst dies die Regierung, die bestimmt ist als „der allgemeine Teil der Verfassung, d. i. derjenige, welcher die Erhaltung jener Teile zum absichtlichen Zwecke hat“; die Regierungsgewalt ist „mit der konkreten Kenntnis und Übersicht des Ganzen in seinen vielfachen Seiten“ (GPR, § 300) vertraut, und zwar sowohl hinsichtlich der grundlegendsten Prinzipien der Verfassung als auch hinsichtlich dessen, was man heute als politisches „Alltagsgeschäft“ bezeichnen könnte (vgl. ebd.). Diese zusammen mit den Beamten bezeichnet Hegel als den „Mittelstand“ (GPR, § 297), der dadurch charakterisiert ist, dass in diesem „die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewußtsein“ (ebd.) vereint sind; sie bilden mit ihrer „hervorstechendste[n] Bildung“ (ebd., Zus.) die „Grundsäule“ des Staates bzw. kann ein solcher – wie Hegel am Beispiel Russlands veranschaulicht – ohne den „allgemeine[n] Stand“ (Enz. III, § 528), der die Notwendigkeiten reflektiert vollstreckt, nicht bestehen. Zu diesem Stand zählt der Philosoph unter anderem „Militair, Rechtsgelehrte, Aerzte, Geistliche, Gelehrte“ (GSGPR, § 205, S. 521). Dabei wird ihre Fähigkeit, das staatliche Allgemeine zu exekutieren, explizit mit der herausragenden Bildung dieses Standes – der in der Enzyklopädie als „denkende[r] Stand“ (Enz. III, § 528) bezeichnet wird – begründet: „Diesem Stand ist die Bildung wesentlich eigen, sie ist für ihn wesentlich, denn sein Geschäft ist der allgemeine Zweck, der seinem Inhalte nach die Form der Allgemeinheit hat, die Aktivität dieses Standes ist allgemein, für das Allgemeine, auf allgemeine Weise“ (ebd.). Zum einen geht der Philosoph also davon aus, dass die Verfassung Ausdruck des Volksgeistes ist und somit auch jeder Einzelne als Bürger eine bewusste Bejahung des Staates benötigt, um letzteren zu einer an-sich-
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seienden Existenz zu bringen; zum anderen bedarf es jedoch eines herausgehobenen Standes, der allein das Staats-Allgemeine zum Zweck hat und sich dementsprechend auch auf kognitiver Ebene vertieft dessen Bestimmungen und Notwendigkeiten widmet.97 Mit der Einrichtung eines professionellen Standes von Staatsdienern verbindet sich das Bemühen, diese von den Notwendigkeiten der anderen Wirtschaftssubjekte zu befreien, um sicherzustellen, dass sie sich ausschließlich dem Allgemeinen widmen: Die Beamtenschaft soll alimentiert werden, wo nicht das Privatvermögen diese Funktion sicherstellt (vgl. GPR, § 205). Diese materielle Versorgung gewährleistet, dass „das Privatinteresse in seiner Arbeit für das Allgemeine seine Befriedigung findet“ (ebd.), sodass dieser Stand weitestgehend immun gegenüber Bestechung ist. Das Bourgeois-Interesse soll befriedigt werden, sodass sich die Beamten also tatsächlich von nichts als den Staatsnotwendigkeiten leiten lassen. Der Philosoph weiß mithin um diejenigen Gefahren für den Staat, die aus den Partikularinteressen erwachsen können und möchte durch die Alimentierung alle ökonomischen Berechnungen der Staatsbediensteten als Privatsubjekte aus der Sphäre des Staates ferngehalten wissen. Bemerkenswert daran ist außerdem, dass es theoretisch durch die Alimentierung auch den Armen ermöglicht wird, sich um ein Staatsamt zu bewerben, da sie eine Alternative für eine eigene Versorgung durch Privatvermögen darstellt. Im Zusammenhang mit der Gesinnung, durch die die gewusste Allgemeinheit verwirklicht wird, kommt Hegel noch auf eine weitere Personengruppe zu sprechen, die er als genuin „vermittelndes Organ“ (GPR, § 302) bezeichnet und die zumindest hinsichtlich ihrer Doppelexistenz letztlich auch im Punkt zuvor untersucht werden könnten: Die Stände stehen „zwischen der Regierung überhaupt einerseits und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volke andererseits“ (ebd.). Sie sollen hier behandelt werden, weil sie von dem Philosophen in ihrer Funktion
97 Diese Abstufung scheint einerseits unmittelbar plausibel zu sein, schließlich bedarf es genügend Zeit und anderer Ressourcen, um sich intensiv mit den unterschiedlichsten Staatsangelegenheiten auseinanderzusetzen. Eine „notwendige Spezialisierung“ (Taylor 1983, S. 536) muss gerade im Bereich des Rechts, der Verwaltung und weiterer Ministeriumstätigkeit erfolgen, ohne, dass sich aus dem Ausschluss der meisten ein Problem für deren Wissen um das Allgemeine ergeben würde. So sehr es keine „Gesellschaft von ‚Allround‘-Menschen“ (Taylor 1983, S. 536) geben kann, müsste in einer Theorie der staatsbürgerlichen Bildung dennoch näher ausgeführt werden, welche Aufgaben allein von Spezialisten zu erledigen sind und woran auch das breite Volk im Interesse an einem staatstragenden Bewusstsein wie beteiligt sein sollte. Dies zu konkretisieren unterlässt Hegel jedoch, auch wenn bei der Behandlung der Staatspraxis einige Hinweise darauf gegeben werden.
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als Rückführung der Konkurrenzsubjekt-Gesinnung auf die des Bürgers bzw. des Staates besprochen werden: „Das ständische Moment hat die Bestimmung, daß die allgemeine Angelegenheit nicht nur an sich, sondern auch für sich, d. i. daß das Moment der subjektiven formellen Freiheit, das öffentliche Bewußtsein als empirische Allgemeinheit der Ansichten und Gedanken der Vielen, darin zur Existenz komme.“ (GPR, § 301)
Hier wird also eine erste Antwort auf die im vorherigen Punkt aufgeworfene Frage, wie es zu der Ausbildung eines Ethos als Citoyen kommen kann, gegeben: Die Stände, die „von der Einzelheit, dem Privatstandpunkt und den besonderen Interessen herkommen“ (GPR, § 301, Anm.) und die „für diese auf Kosten des allgemeinen Interesses ihre Wirksamkeit zu gebrauchen geneigt seien“ (ebd.), müssen – diesen Auftrag formuliert das Zitat – in ihrem Denken auf das an sich Vernünftige rückgeführt werden, sodass sie dieses auch für sich, also in ihrem Bewusstsein und damit in einem zweiten Schritt auch in ihrer Praxis gewinnen. Diese Bildung der geistigen Anschauung vom bloß bornierten Interessensstandpunkt im Ökonomischen hin zu einem wahrhaft politischen Denken kann als Verlassen der empirischen Allgemeinheit bezeichnet werden: Hegel spricht davon, dass „[d]er Ausdruck die Vielen“ (GPR, § 301, Anm.) diese Art der Allgemeinheit bezeichnen würde, sprich eines Sammelsuriums von Meinungen und Interessen, die noch keine Identität im Geiste ausgebildet haben. Dies stellt den „naturwüchsigen“ Standpunkt der Subjekte als Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft dar; sie denken, wie dies im Zitat bezeichnet wird, allein von ihrer subjektiven formellen Freiheit her, also von ihrer durch das Recht erfolgten Lizenzierung ihrer Privatinteressen. Demgegenüber stehen die Staatsbeamten, bei denen sich eine „notwendig tiefere und umfassendere Einsicht“ (GPR, § 301, Anm.) in die politischen Angelegenheiten findet. Wenn auch zu wissen, „was der an und für sich seiende Wille, die Vernunft, will, [...] die Frucht tiefer Erkenntnis und Einsicht [ist], welche eben nicht die Sache des Volkes ist“ (ebd.), so kann dies doch nicht Hegels letztes Wort sein: Es bedarf der Ausbildung eines entsprechenden Bewusstseins als Citoyen auch in der breiten Masse des Volkes, um tatsächlich von einem gefestigten Gemeinwesen sprechen zu können. Wie er in seinen Ausführungen über den Patriotismus als notwendige Gesinnung erklärt, muss das Gemeinwesen bejaht werden, das andernfalls eine rein auf Gewalt beruhende Herrschaft wäre. Dies nun markiert den Ort, an dem die Stände ihre Aufgabe haben: Ihre Bedeutung besteht darin, „daß der Staat dadurch [durch die Stände, I. S.] in das subjektive Bewußtsein des Volks tritt und daß es an demselben teilzuhaben anfängt“ (GPR, § 301, Zus.). Inhaltlich bezeichnet dies das Erfordernis, vom eigenen Materialismus zu abstrahieren und den höheren Standpunkt der Allgemeinheit einzunehmen; wie zuvor gezeigt wurde, beginnt dieser Prozess innerhalb der Korporationen, muss sich letztlich jedoch vom eigenen Berufsverband
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auf alle Mitbürger ausweiten. So soll in den Ständen schließlich „die eigene Einsicht und der eigene Wille der Sphäre, die in dieser Darstellung bürgerliche Gesellschaft genannt worden ist, in Beziehung auf den Staat zur Existenz“ (GPR, § 302, Anm.) kommen, sprich also bei dem Sein als Bourgeois selbst eine Reflexion von einem allgemeineren Standpunkt aus einsetzen. Die „innere Notwendigkeit“ (ebd.), wie Hegel diese geistige Abstraktionsleistung auch bezeichnet, ist gerade deswegen so schwer zu erbringen, weil sie „nicht mit äußeren Notwendigkeiten und Nützlichkeiten zu verwechseln ist“ (ebd.) – sodass sich also die Frage stellt, wie es zu dieser Verstandesleistung kommen kann. Um dies nachzuvollziehen, muss das vom Philosophen geforderte Staatshandeln untersucht werden, durch das sich die vernünftige Allgemeinheit verwirklicht. Auf diese Frage kommt bei der Analyse der praktischen Einbindung der Stände in Hegels Staat sowie der Meinungsfreiheit der nächste Punkt zurück. So sehr das Bewusstsein und eine entsprechende Gesinnung sine qua non eines wahrhaftigen Staates und umgekehrt eines selbstverwirklichten Lebens als zoon politikon sind, so ist die geistige Ebene allein nicht ausreichend: „[...] bei einem ausgebildeteren Zustande der Gesellschaft, und bei der Entwicklung und dem Freiwerden der Mächte der Besonderheit, [ist, I. S.] die Tugend der Häupter des Staats unzureichend und eine andere Form des vernünftigen Gesetzes als nur die Gesinnung [ist, I. S.] erforderlich“ (GPR, § 273, Anm.) – welche Formen dies sind und worin eine vernünftige Staatsräson dem Philosophen zufolge besteht, soll im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein. 3.2.2 Die praktische Seite der Allgemeinheit als substantielle: Form und Inhalt der gelebten politischen Vernunft durch Bürger und Staat In diesem Abschnitt soll das politische Handeln durch Bürger und Staat beleuchtet werden: Wie lässt sich das vernünftige Denken realisieren? „Betätigt und bestimmt sich doch diese subjektive und objektive Freiheit nicht von selbst, sondern einzig und allein in Akten der Selbst-Bestimmung und damit Inhalts-Bestimmung der Freiheit als das besondere Werk jedes Einzelnen und das allgemeine Werk aller Einzelnen“ (Maihofer 1975, S. 369). Geklärt werden muss hierzu, welche Betätigungsformen sowohl von Regierenden als auch Regierten dem Philosophen zufolge nötig sind und welcher Inhalt durch diese Handlungsweisen in Existenz gebracht wird.
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Gelebte politische Gesinnung des allgemeinen Ich Ein Ethos als Bürger zu pflegen, schließt ein, dass diese Gesinnung auch betätigt wird,98 wie in der bereits zitierten Textstelle zum Ausdruck gebracht wird: Die Individuen müssen nicht nur als Privatpersonen, sondern auch „als substantielle Personen wirklich“ (GPR, § 264) sein. Indem Hegel dies als Prozess ausdrückt, wird deutlich, dass die Praktizierung des Allgemeinen durch die Einzelnen erst entwickelt werden muss; sie stehen also nicht an sich immer schon auf diesem Standpunkt. Der Ursprung dieser Art des Tätigseins liegt in den Korporationen: „Dieß macht die Schwierigkeit einer Verfassung aus, wo dies Glied fehlt, das Allgemeine soll den Einzelnen nichts angehen, dieß ist in anderen Händen, er soll nur seinen Zweck vor Augen haben, nur Beiträge geben für das Allgemeine, damit begnügen sich aber die Individuen nicht, sie machen auch Anspruch auf das Allgemeine. In jener Mitte, der Gemeinde, Corporation, da ist das Bedürfniß des Geistes für das Allgemeine thätig zu sein ihnen gestattet.“ (GSGPR, § 251, S. 620 f.)
Hegel bringt nochmals das Ungenügende einer rein äußerlich auftretenden Allgemeinheit zum Ausdruck, die den Individuen gegenübersteht, ohne von diesen geistig affirmiert und praktisch selbst betätigt zu werden: Sie haben ihm zufolge „Triebe für das Allgemeine“ (GSGPR § 251, S. 621) und geben sich nicht mit einer bloß passiven Aktivität wie dem Zahlen von Steuern zufrieden. Vielmehr wollen sie das Konkurrenzsubjekt-Sein auch bei ihrem Tun verlassen, was zuerst auf dem Felde der Korporation gelingt. Wie analysiert wurde, verlässt der Bourgeois hier seinen bornierten Standpunkt des eigenen Wohls und übernimmt geistig und praktisch Verantwortung für die anderen Mitglieder seines Berufsstandes. So existiert also das Allgemeine „auch wesentlich in der Form der Besonderheit“ (GSGPR, § 255, S. 628) – wenn auch zunächst nur in dem zuvor herausgearbeiteten limitierten Sinne. Hegels hier vorgenommene Verortung ist auch deswegen hervorzuheben, weil im Bereich des Praktisch-Werdens also offensichtlich der Versuch einer Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat vorgenommen wird: In der Sphäre der ersteren findet Hegel die rudimentären Ursprünge der Praxis als Citoyen, zu der sich das Konkurrenzsubjekt emporarbeitet. Hegels Deutung zufolge wirkt die Aufhebung in diesem höheren Standpunkt auf den ursprünglich eingenommenen des Bourgeois zurück.
98 Trotz der Emphase auf die politische Gesinnung entgeht es Hösles Deutung, dass die gelebte Praxis ein notwendiges Moment der Gesinnung ist (Hösle 1988, S. 561 f.).
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Ablehnung eines allgemeinen Wahlrechts Wie gestaltet sich die gelebte Gesinnung im genuinen Feld des Politischen? Die „Frage, die am meisten besprochen worden, ist, in welchem Sinne die Teilnahme der Privatpersonen an den Staatsangelegenheiten zu fassen sei“ (Enz. III, § 544, Anm.), so führt Hegel zu dieser Thematik aus. Anders formuliert geht es um die oben als Rückführung auf das Allgemeine gekennzeichnete Tätigkeit, deren konkrete Ausgestaltung noch entwickelt werden muss. Als erste Bestimmung dieser Staatstätigkeit der Bürger muss eine Negation festgehalten werden: Der Philosoph scheint ein demokratisches Wahlrecht, sowohl für die Bestimmung der Abgeordneten der beiden Kammern als auch des Fürsten, abzulehnen; „das Wahlrecht [ist, I. S.] die schlechteste der Institutionen“ (GSGPR, § 281, S. 680), so führt er unmissverständlich in den Vorlesungen aus. Was als Kernstück der politischen Partizipation begriffen wird, ist in Hegels Staat nicht vorgesehen – weswegen lehnt er dieses Herzstück des heutigen Demokratieverständnisses ab und welche alternative Beteiligungsform setzt er diesem entgegen?99 Wählen ist Hegel zufolge „entweder überhaupt etwas Überflüssiges oder reduziert sich auf ein geringes Spiel der Meinung und der Willkür“ (GPR, § 311). Über den Staatsabschnitt der Rechtsphilosophie verstreut, lassen sich insgesamt drei Begründungen mit jeweils unterschiedlichem Bezugspunkt für diese These finden: Erstens verdankt sich diese Ablehnung einer Skepsis gegenüber dem Standpunkt des Bourgeois. Die Schwierigkeit, wie eine staatliche Gesinnung und Handlung kultiviert werden kann, stellt dem Philosophen zufolge deswegen eine große Herausforderung dar, weil die Individuen stets das „gedoppelte Moment“ (GPR, § 308, Anm.) in sich tragen, nämlich einerseits Privatperson sind und andererseits auch als Citoyen denken und agieren sollen.100 Hegel befürchtet, dass diese im Wahlakt nicht als Populus, sondern als Vulgus tätig werden (vgl. Enz. III, § 544, Anm.), sprich also der Wahlakt „von dem Willen als Belieben, Meinung und Willkür der Vielen“ ausgeht (GPR, § 281, Anm.). Als „atomistische Einheit“ (Rawls 2002, S. 459) soll der Einzelne jedoch nicht an der Sphäre der Politik partizipieren. Diese Art der Staatsorganisation würde implizieren, dass die Inhaber der höchsten Ämter und das
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Diese Fragen zu beantworten, ist auch deswegen von zentraler Bedeutung, weil sich die Kritiker Hegels auf diesen Punkt kaprizieren, um ihm eine antidemokratische und autoritäre Gesinnung vorzuwerfen (vgl. Kiesewetter 1982, S. 110 f.).
100 „Hier müssen wir einsehen, dass Hegel mit seinem geplanten Stimmrecht den Zweck verfolgt, die Konkurrenzverhältnisse der Marktwirtschaft und die von den gewerbetreibenden Schichten angestrebte Beeinflussung des politischen Prozesses im Zaum zu halten und eine öffentliche Politik zu gewährleisten, die dem allgemeinen Interesse – dem Allgemeinwohl des Staats insgesamt – nützt“ (Rawls 2002, S. 460).
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Volk ein kontraktualistisches Verhältnis eingehen; dies ist dem Philosophen zufolge zwar angemessen für die bürgerliche Gesellschaft, aber aufgrund des unterstellten Gegensatzes (vgl. Kapitel 3.1) allen sittlichen Beziehungen und damit natürlich vor allem auch denen des Staates unwürdig (vgl. GPR, § 281, Anm.). Das Tauschverhältnis – in diesem Fall zwischen den abgegebenen Stimmen und den Ämtern – ist zwar gültige ökonomische Verkehrsform, entspricht jedoch nicht den Beziehungen, die die privaten Nutzenkalkulationen hinter sich lassen sollen. Auch wegen der Folge, die das Wahlrecht mit sich bringt, muss es abgelehnt werden: „Die Verfassung wird nämlich in einem Wahlreich durch die Natur des Verhältnisses, daß in ihm der partikulare Wille zum letzten Entscheidenden gemacht ist, zu einer Wahlkapitulation, d.h. zu einer Ergebung der Staatsgewalt auf die Diskretion des partikularen Willens, woraus die Verwandlung der besonderen Staatsgewalten in Privateigentum, die Schwächung und der Verlust der Souveränität des Staates und damit seine innere Auflösung und äußere Zertrümmerung hervorgeht.“ (GPR, § 281, Anm.)
Auch Hubert Kiesewetter zitiert diese Textstelle, setzt dabei den von Hegel sogenannten „partikularen Willen“ mit dem Wähler gleich und identifiziert sie mit dem nationalsozialistischen Schlagwort „Autorität, nicht Majorität“ (vgl. Kiesewetter 1995, S. 111). Beide Ausführungen des Kritikers sind meines Erachtens nicht zutreffend: Den partikularen Willen schlicht mit dem Wählerwillen an sich gleichzusetzen, ist zu unspezifisch, um Hegels Argumentation nachvollziehen zu können; aus dieser könnte auch kaum der Schluss gezogen werden, dass der Staat zum Privateigentum wird. Gedacht ist hier vielmehr an den Inhalt des Willens der Bürger als Bourgeois: Lässt man das Volk wählen, so fürchtet der Philosoph, würde es sich im Wahlakt als Vertreter ihrer jeweiligen (partikularen) Privatinteressen betätigen und so schließlich auch den Staat beschädigen. Dieser würde zu „Privateigentum“ in dem Sinn, dass er als Verfügungsmasse ökonomischer Interessen behandelt, also in der Wahlentscheidung auch nicht maßgenommen wird an seinen Notwendigkeiten; in letzter Konsequenz könne dies sogar zu einer Beschädigung oder gar zum Verlust der Staatssouveränität führen, wenn dieser als Folge der Ämterbesetzung nach einer entsprechenden Wahl gänzlich von den (ökonomischen) Erfordernissen der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt wird. Der Sorgegegenstand Hegels liegt nicht einfach in der inhaltslosen Autorität des Staates, der sich die Bürger subsumieren sollen, wie Kiesewetter dies suggeriert; vielmehr ist es ihm darum zu tun, den Staat in seiner Allgemeinheit zu erhalten, der gerade nicht rein ökonomischen Interessen verpflichtet ist. Während die Wirtschaft von Konkurrenz bestimmt ist, zeichnet sich das Gemeinwesen dardurch aus, eine unabhängige, über allen stehende Gewalt zu sein, die außerdem – anders als die Wirtschaftssubjekte – nicht die
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private Bereicherung zum Zweck hat; nur, wenn ersteres garantiert ist, kann sie das Allgemeinwohl durchsetzen.101 Der zweite Grund ist pragmatischer Natur und lässt sich zusammenfassen als Skepsis gegenüber der Zufälligkeit des Wahlausgangs bzw. dem Versuch der Sicherstellung, dass bestimmte Gruppen im Staat repräsentiert sind (vgl. GPR, § 311): Es soll an dieser Stelle nicht dem vorgegriffen werden, wie sich Hegel eine Partizipation bzw. die Repräsentation durch Abgeordnete konkret vorstellt; hier sei nur das Moment hervorgehoben, dass er statt einer Wahl eine direkte „Abordnung“ (ebd.) präferiert, bei der von bestimmten Gruppen eine Anzahl von Repräsentanten entsandt wird. Hegel begründet dieses Verfahren damit, dass „sich von selbst das Interesse dar[bietet, I. S.] daß unter den Abgeordneten sich für jeden besonderen großen Zweig der Gesellschaft, z. B. für den Handel, für die Fabriken usf. Individuen befinden, die ihn gründlich kennen und ihm selbst angehören“ (GPR, § 311, Anm.); das gleiche Recht auf Repräsentation all dieser Zweige ist aber der Zufälligkeit anheimgestellt, wenn es eine völlig offene Wahl gibt (vgl. ebd.). Nicht nur sieht Hegel hierbei die Gefahr, dass einige Gruppen gar nicht in den politischen Institutionen des Staates repräsentiert sind, sondern auch ein Problem hinsichtlich dessen, was die jeweiligen Abgeordneten repräsentieren: In letzterem Fall wären sie Vertreter „von Einzelnen, von einer Menge“ (ebd.), wobei die konkrete Bestimmung dessen in die Partikularität des wählenden Willens fällt (siehe oben), während die Abgeordneten in Hegels Staat „Repräsentanten einer der wesentlichen Sphären der Gesellschaft, Repräsentanten ihrer großen Interessen“ (ebd.) sein sollen.102 An
101 Aus heutiger Perspektive könnte man Hegels Bedenken verwerfen: Trotz des allgemeinen Wahlrechts ist der Staat zumindest in den entwickelten Demokratien nicht zum Privateigentum verkommen und es ist fraglich, ob sich die Bürger in der Wahl tatsächlich allein von ihren ökonomischen Interessen lenken lassen. Dennoch scheint mir Hegels Skepsis nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein: Auch in der heutigen Welt existieren immer wieder Skandale über direkten oder indirekten – also durch den Einfluss bestimmter Gruppen – Stimmenkauf und auch die Befürchtung, dass populistische Parteien Bürger mit ihren monetären Versprechungen „verführen“, scheint nicht auszusterben. Insofern bringt Hegel hier also eine Sorge im Extremen zum Ausdruck, die in abgeschwächter Form durchaus aktuell bleibt. 102 Auch dieses Argument scheint nichts von seiner Aktualität eingebüßt zu haben: Zum einen existiert dasselbe Interesse an der Einbindung von wichtigen gesellschaftlichen Gruppen in Form des Lobbyismus, sodass also für das identische Anliegen unterschiedliche Verfahrenskonsequenzen gezogen wurden. Zum anderen gibt es auch heutzutage Diskussionen darüber, ob in den Parlamenten tatsächlich alle relevanten Gruppen vertreten sind oder nicht einige wenige zu Lasten anderer Berufsstände etc. massiv unter-
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dieser Stelle wird deutlich, dass das Problem der fehlenden Korporationszugehörigkeit auch für Hegel selbst zum Problem werden müsste: Er sorgt sich darum, ob auch tatsächlich alle maßgeblichen Gruppen der bürgerlichen Gesellschaft im Staat als Parlamentarier vertreten sind, scheint dabei jedoch die Arbeitslosen völlig zu vergessen oder selbstverständlich von deren Nicht-Repräsentation auszugehen. Die von mir aufgestellte These der Perpetuierung des ökonomischen Problems der Armut in der Sphäre der Politik wird also auch hier bestätigt. Die von materieller Deprivation Betroffenen sind in ihrem Gemeinwesen zumindest in Form von eigenen Abgeordneten nicht vertreten – eine politische Stimmenlosigkeit, die sich auf die Beschlüsse der Legislative inhaltlich auswirken dürfte. Den dritten Grund für die Ablehnung eines Wahlrechts verortet Hegel bei den Wählern selbst, woraus sich in einem zweiten Schritt Konsequenzen für den Staat ergeben: Er warnt vor Wahlmüdigkeit bzw. der „Gleichgültigkeit gegen das Geben seiner Stimme, als die in der Menge eine unbedeutende Wirkung hat“ (GPR, § 311, Anm.). Weil der einzelne Wähler seine Stimme als wenig einflussreich erachtet, würden Hegel zufolge immer mehr Menschen den Urnen fern bleiben, was zunächst unmittelbar eine Folge für das Sein als Staatsbürger hat: Wenn ihnen dieser Weg der Partizipation gewiesen wird, sie diesen aber als ineffektiv erachten, könnte diese Erfahrung eine allgemeinere Politikverdrossenheit verursachen – eine Konsequenz, die Hegels Bemühen, das Allgemeine im Bewusstsein und der Handlung der Bürger in Existenz zu bringen, zuwiderläuft. Dem möchte er entgegentreten, indem durch das Ausbleiben der Implementierung eines Wahlrechts gleich gar keine Hoffnung auf Einflussnahme über dieses Instrument bei den Bürgern entstehen kann. Ermöglicht der Staat von vornherein nur die Partizipationsmöglichkeiten, durch die sie auch tatsächlich politische Wirksamkeit registrieren, erspart man den Bürgern Desillusionierung, die sich negativ auf die politische Gesinnung im Allgemeinen auswirken könnte. Das Fernbleiben ganzer Wählerschichten hätte ferner die der Wahlidee gegenläufige Konsequenz, dass „die Wahl in die Gewalt Weniger, einer Partei, somit des besonderen, zufälligen Interesses fällt, die gerade neutralisiert werden sollte“ (ebd.). Ohne die Fixierung der jeweiligen Gruppenrepräsentation könnte die Staatsgewalt also zum Privateigentum derer verkommen, die es vermögen, ihre Klientel für die Wahl zu mobilisieren. Insgesamt kann also festgehalten werden, dass der Philosoph zweifelsohne nicht mit dem heutigen Demokratieverständnis übereinstimmt, es jedoch verfehlt wäre, ihn deswegen als antidemokratischen Machtapologeten zu verwerfen, der dem Individuum selbst das elementarste Staatsbürgerrecht aus Sorge um die Autorität des Staates verwehrt. Wie deutlich wurde, verwirft Hegel das Wahlrecht keineswegs
repräsentiert sind. Dass sich letzteres entsprechend auf den Gesetzgebungsprozess auswirken könnte, ist dabei evident.
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deswegen, weil er eine absolute Herrschaft ohne Rückbindung an das Volk installieren möchte; vielmehr sieht er einige Gefahren für die Durchsetzung des Allgemeinwohls durch den Staat, wenn die Auswahl von dessen Repräsentanten direkt in den Händen des Volkes liegt. Das vermeintlich antidemokratische Ressentiment verdankt sich also keineswegs dem Interesse an einem totalitären Staat, sondern der Sorge um die Sicherung des Gemeinwohls gegen partikulare Einflussnahmen, die es letztlich zum Privateigentum einiger weniger Bürger degenerieren würde. Indirekte Partizipation durch ständische Abgeordnete Wie also sollen die Bürger an der Ausgestaltung des Allgemeinen beteiligt werden? Denn dass das Allgemeine als Staat dem Volk nicht einfach gegenüberstehen soll und kann, sondern durch dessen Handeln überhaupt erst zur Existenz gebracht wird und somit auch eine adäquate Betätigungsform finden muss, steht für Hegel nach wie vor fest: „Die Bürger sind im Staate die unverhältnismäßig größere Menge, und eine Menge von solchen, die als Personen anerkannt sind. Die wollende Vernunft stellt daher ihre Existenz in ihnen als Vielheit von Freien oder in einer Reflexions-Allgemeinheit dar, welcher in einem Anteil an der Staatsgewalt ihre Wirklichkeit gewährt wird.“ (Enz. III, § 544, Anm.)
Die Textstelle erinnert an den Ausgangspunkt des objektiven Geistes, nämlich die prinzipielle Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte bzw. Personen. Als solche sind sie der Herrschaft nicht einfach unterworfen, sondern als mit Rechte und Pflichten ausgestattete Freie anerkannt. Sie bejahen den Staat und müssen auch die Möglichkeit bekommen, diese affirmative Gesinnung zu leben. In der Fortführung dieser Passage nähert sich Hegel der Frage des Wie, wobei man hier – diesmal aus der anderen Perspektive – erneut auf die Stände trifft: Wurden sie im Punkt zuvor auf Seiten der Regierenden besprochen, weil sie die Staatsnotwendigkeiten in das Volk tragen sollen, so müssen sie umgekehrt auch betrachtet werden als Mitglieder des Volkes, die sich aus diesem rekrutieren und als normale Bürger mit ökonomischen Interessen einen Platz in den Staatsorganen zugesprochen bekommen. Stände haben in Hegels Staat eine fest institutionalisierte Teilhabe, ihnen wird legitime politische Macht zugesprochen,103 damit die Vermittlung von Wirtschaftsund Staatsinteressen gelingen kann:
103 Wie Rosenzweig diese Bestimmung zutreffend charakterisiert, wurde die bürgerliche Gesellschaft bei Hegel „vom Staate begrifflich getrennt [...], damit das politische Wesen des Staats rein heraustrete. Jetzt erhält sie dennoch wieder eine politische Bedeutung“ (Rosenzweig, in: Riedel 1975, S. 359), weil der Philosoph nach der klaren Ab-
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„Es ist aber bereits als Moment der bürgerlichen Gesellschaft bemerklich gemacht (§ 527, 534), daß die Einzelnen sich aus der äußerlichen in die substantielle Allgemeinheit, nämlich als besondere Gattung, – die Stände, erheben; und es ist nicht in der unorganischen Form von Einzelnen als solchen (auf demokratische Weise des Wählens), sondern als organische Momente, als Stände, daß sie in jenen Anteil eintreten; eine Macht oder Tätigkeit im Staate muß nie in formloser, unorganischer Gestalt, d. i. aus dem Prinzip der Vielheit und der Menge erscheinen und handeln.“ (Enz. III, § 544, Anm.)
Hegel erinnert in der Form der Abgrenzung an seine Kritik der Demokratie, in der seines Erachtens eine uneinheitliche Menge am Staat beteiligt wird, was die zuvor besprochenen Gefahren mit sich bringt. Diesem Prinzip stellt er das ständische gegenüber: Jedes Individuum mit seinen besonderen Privatinteressen ist Teil einer Interessensgemeinschaft und wird so von einem privaten auf einen substantiellen Standpunkt überführt. Diese Kollektive werden ins Staatshandeln eingebunden, um die beiden Sphären der Ökonomie und des Staates miteinander zu vermitteln. Die Einzelnen sollen sich also durch ausgewählte Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppe politisch vertreten lassen und darüber das übergeordnete Allgemeine als ihr eigenes begreifen.104 Adäquat erscheint dem Philosophen in diesem Punkt der Betätigung des Allgemeinen also keine direkte, sondern vielmehr eine vermittelte Praktizierung des Staatsstandpunktes durch den Einzelnen. Er lehnt das Konzept einer umfassenden Partizipation der Bürger ab und vertritt stattdessen das Repräsentationsprinzip (vgl. auch Taylor 1983, S. 534). Dieser Mittlerrolle entsprechend handeln die aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft berufenen Abgeordneten „als das, was sie [die Gesellschaft, I. S.] ist, – somit nicht als in die Einzelnen atomistisch aufgelöst und nur für einen Augenblick ohne weitere Haltung versammelnd, sondern als in ihre ohnehin konstituierten Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen gegliedert, welche auf diese Weise einen politischen Zusammenhang erhalten“ (GPR,
grenzung der Konkurrenzgesellschaft in einem zweiten Schritt um die Integration bzw. Aufhebung dieser im wahrhaft Allgemeinen bemüht ist. 104 Da den Ständen als politische Institution also diese Vermittlungsfunktion zukommt, scheint es wenig plausibel, dass Hösle ausführt, die Stände müssten von Hegel aufgrund ihrer Verankerung in der bürgerlichen Gesellschaft an den Beginn des Staatskapitels gestellt werden (vgl. Hösle 1988, S. 575); sie agieren hier gerade nicht als Vertreter der Partikularinteressen oder sollten das zumindest nicht. Um außerdem die Betonung der Vermittlung zu verstehen, muss zuvor herausgearbeitet werden, welch fundamentalen Stellenwert das Denken und die Praktizierung des Allgemeinen durch die Bürger hat. Dies betrifft auch seine Argumentation bzgl. der Öffentlichkeit (vgl. ebd.) – in keinen der beiden Fällen liegt eine „architektonische Ungeschicklichkeit“ (ebd.) Hegels vor.
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§ 308). Auch die Repräsentanten selbst müssen selbstredend ihren partikularen Willen abstreifen und vertreten bei der Ausübung ihres Mandats allein das Kollektiv, für das sie stehen.105 Als weiteres Kriterium formuliert Hegel eine gewisse Festigkeit des Zusammenschlusses und der Integration in die jeweilige Gruppe als Voraussetzung für eine gelungene Repräsentation, da der Philosoph damit eine intensive Kenntnis der gemeinsamen Belange verbindet (vgl. auch GPR, § 309). Das Anliegen besteht also in der Einbindung der in ihre Extreme verlorenen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft in das Staatsganze, um so die in der Ökonomie verlorene Sittlichkeit in einer höheren Stufe aufzuheben.106
105 Vieweg weist darauf hin, dass Hegel die Grenze der möglichen Kollektive, denen er ein legitimes Mitspracherecht einräumt, schon darüber öffnet, dass er „die Kommune als eigene Korporation versteht. Politische Interessensverbände, Bürgerbewegungen und besonders Parteien [...] können als solche Verbände gelten, in denen sich die Bürger nicht nur aufgrund ihrer besonderen Berufstätigkeit zusammenschließen, sondern z. B. aus gewichtigen und auch die Korporation übergreifenden Gründen“ (Vieweg 2012, S. 437). Es findet sich jedenfalls keine Textstelle, die dieses weite Verständnis ausschließt; andererseits macht Hegel in zahlreichen Passagen deutlich, dass er bei der Behandlung dieser Institution um die Einbindung der Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft bzw. der Menschen als Wirtschaftssubjekt – und nicht einfach der Gesellschaft an sich – bemüht ist. 106 Man kann freilich darüber diskutieren, ob diese Intention durch das Repräsentationsprinzip und näher der Vertretung durch Angehörige desselben Berufes hierfür ein probates Mittel darstellt; weniger plausibel scheint jedoch, dass man Hegel vorwirft, die von ihm selbst begründete Scheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat hier aufzulösen (vgl. Hösle 1988, S. 579). Zum einen unterstellt diese Argumentation, dass die Trennung erstens nicht nur eine analytische ist, die zweitens den Sinn hat, das Treiben der Konkurrenzgesellschaft an sich zu charakterisieren und den vernünftigen Staat als mögliche Antwort auf deren Probleme zu begreifen; vielmehr wird die Separierung in die ökonomische und politische Sphäre als Wert an sich begriffen. Zum anderen bestreitet man damit die wesentlichste Aufgabe, vor der der Staat steht, nämlich die der Integration der Ökonomie in eine positive Allgemeinheit. Die „Verquickung“ von Wirtschaft und Politik ist kein Versehen, das Hegel unterläuft, sondern das Staatskapitel hat den Sorgegegenstand dieser Integration. Und man mag auch einwenden, das Hegels Konzeption der Einflussnahme über die Stände „sonderbar, altmodisch und wenig lehrreich“ (Rawls 2002, S. 460) erscheint; Rawls fragt meines Erachtens mit Blick auf ebendiesen Versuch der institutionalisierten Einbindung von Verbänden zurecht, ob „eine moderne konstitutionelle Gesellschaft wirklich besser da[steht., I. S.] Gewiss nicht die Vereinigten Staaten, in denen die Beeinflussung der Legislative durch ‚Son-
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Auf welche Weise sind die aus der bürgerlichen Gesellschaft rekrutierten und damit aus der Mitte der Bürgerschaft kommenden Stände in den Staat integriert? Hegel spricht ihnen die Aufgabe zu, einen Teil der gesetzgebenden Gewalt neben der Regierungs- und fürstlichen Gewalt inne zu haben (Enz. III, § 544, Anm.), wobei auch dies auf bestimmte Materien eingeschränkt wird: Partizipieren können sie als Zweig der Legislative „an dem Allgemeinen der Interessen, welche nicht das Auftreten und Handeln des Staats als Individuum[] betreffen“ (Enz. III, § 544); bspw. werden Fragen von Krieg und Frieden explizit ausgenommen und der fürstlichen Gewalt überantwortet.107 Letztlich scheint in Argumentationen wie diesen eine generelle Skepsis gegenüber zu viel Einfluss der ständischen Organisationen bzw. der Bürger als Bourgeois
derinteressen‘ zum Alltag gehört“ (ebd.). Insofern sollte man also auch hier versuchen, Hegels Argumentation vorurteilsfrei nachzuvollziehen. 107 Die Rolle des Fürsten wird im nächsten Abschnitt analysiert; fraglich ist, ob das angegebene Kriterium zur Zuordnung der Zuständigkeiten tatsächlich eine solche zu leisten vermag. Es ist meines Erachtens nicht nur zweifelhaft, ob dieses Kriterium inhaltlich sinnvoll ist, sondern auch, ob es überhaupt als ein solches fungieren kann: Haben nicht Fragen, die die allgemeinen Interessen der Mitglieder (eines Teils) der ökonomischen Sphäre betreffen, auch unmittelbar Auswirkungen auf den Staat als Ganzes, sodass sie also auch den Korporationen zugesprochen werden müssten? In seiner Argumentation hat dies jedoch durchaus seine Logik, die sich durch das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft erklären lässt: Höchste nationale Angelegenheiten können nicht Kollektiven überantwortet werden, denen man zwar Staatsaufgaben überträgt und deren Vertreter mit deren Praktizierung auch zunehmend den Standpunkt des Allgemeinen erlangen (vgl. GPR, § 310), aber letztlich dennoch ihre Herkunft aus und ihre Verpflichtung auf die ökonomische Sphäre als sich auswirkendes Merkmal behalten. Seine Argumentation scheint aus einem weiteren Grund plausibel, was am Beispiel seiner Abhandlung der Zuständigkeit in Finanzfragen deutlich wird: Auch heute gilt das Etatrecht als Königsrecht des Parlaments, wobei dem Philosophen zufolge eine „Täuschung“ (Enz. III, § 544, Anm.) vorliegt, wenn man so tut, als würde der Gesetzgeber hier nicht exekutiv tätig werden; auch die Vorstellung der Kontrolle des Regierungshandelns oder gar des „Zwangsmittels“ (ebd.) ist dem Philosophen zufolge unzutreffend, was er auch ausdrücklich begrüßt: schließlich kann man nicht jedes Jahr neu den Bestand des Staates zur Disposition stellen und vor allem unterstellt diese Auffassung ein Vertragsverhältnis, das Regierung und Volk miteinander eingehen (vgl. ebd.). Dies lehnt er bekanntermaßen ab, da es voraussetzt, dass es sich bei beiden um zwei Parteien mit gegensätzlichen Interessen handelt, die in Einklang gebracht werden müssen, statt den Staat und seine Bestandteile, zu dem auch das Volk gehört, als einheitlichen Organismus zu begreifen (vgl. ebd.).
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zum Ausdruck zu kommen; so schreibt er in Bezugnahme auf die allgemeine Tätigkeit dieser Einrichtung als Zweig der Legislative: „Vermöge dieser Teilhabe kann die subjektive Freiheit und Einbindung und deren allgemeine Meinung sich in einer existierenden Wirksamkeit zeigen und die Befriedigung, etwas zu gelten, genießen“ (Enz. III, § 544). Einerseits wird also durchaus davon ausgegangen, dass die institutionalisierten Stände im Staat eine gewisse Macht haben; andererseits ist es auffällig, dass Hegel im letzten Halbsatz gedanklich von einer tatsächlichen Einflussnahme hin zur psychologischen Auffassung der Beteiligten wechselt und den Anschein erweckt, als ginge es allein um den Genuss der Selbstwirksamkeit – also um ein rein individuelles, unpolitisches Anliegen. Selbst wenn dies additiv im Sinne eines zusätzlichen Nutzens gemeint ist, bleibt, dass die Beteiligung der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft am Gesetzgebungsprozess unter starkem Vorbehalt steht. Offen muss an dieser Stelle bleiben, ob der Philosoph seine Ansicht nicht ändern würde, wenn er eine „reife“ Demokratie vor sich hätte, in der ein entsprechendes Staatsbürgerbewusstsein bei den meisten Privatpersonen in der Regel vorhanden ist. Denkt man nicht von den Ständen als politisch legitimierter Beteiligungsform, sondern von den einzelnen Bürgern aus, so stellt sich die Frage, ob allein durch dieses Prinzip der Stellvertretung dem Bedürfnis der Praktizierung der Allgemeinheit Rechnung getragen werden kann. Hegels Idee besteht darin, dass „sich das Individuum nicht einfach unmittelbar auf das Allgemeine [bezieht, I. S.], sondern durch das spezifische Moment der artikulierten Gruppe, zu der es gehört“ (Taylor 1983, S. 584), sodass sich also dieses Problem noch schärfer denjenigen stellt, deren Teilhabe in der ökonomischen Sphäre prekär ist: Wie gezeigt, wird notwendig Armut produziert, die letztlich nur der Sozialstaat zu kompensieren vermag; die dadurch erfolgende Verhinderung der absoluten Armut ist aber nicht gleichbedeutend mit einer vollwertigen (Re-)Integration in die bürgerliche Gesellschaft – wie jedoch werden die Menschen repräsentiert, die keinerlei Stand angehören? Das Problem des Elends tangiert also gerade an dieser Stelle Fragen der politischen Partizipation und Repräsentation. Wie sich die Arbeitslosen und (relativ) Armen politisch Gehör verschaffen können, bleibt völlig offen. Verstärkt wird der Zweifel an der Angemessenheit der staatsbürgerlichen Tätigkeit auch für Standesangehörige dadurch, dass Hegel von der geistigen und praktischen Erlangung des Staatsstandpunktes durchaus auch zu erwarten scheint, dass dies rückwirkend Folgen für das Handeln der Subjekte als Bourgeois zeitigt: Das Werk des Staates besteht nämlich unter anderem darin, „[...] die ganze Gesinnung und Tätigkeit des Einzelnen, als der für sich ein Zentrum zu sein strebt, in das Leben der allgemeinen Substanz zurückzuführen und in diesem Sinne als freie Macht jenen ihr untergeordneten Sphären Abbruch zu tun und sie in substantieller Immanenz zu erhalten.“ (Enz. III, § 537).
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Die Betätigung als Staatsbürger, die dem Einzelnen beim bisherigen Stand der Analyse vermittelt über Repräsentanten seiner Ständeorganisation zukommt, soll also dazu führen, dass er auch die Verfolgung seiner ökonomischen Interessen in das politische Leben eingliedert: Das Anliegen Hegels besteht darin, die Gegenüberstellung von ökonomischer und politischer Handlung aufzuheben, indem erstere zwar ihr Recht zugesprochen bekommt, aber sie dennoch klar ihre Grenzen durch die Rückführung auf das wahrhaft Allgemeine aufgezeigt bekommt. Aufgabe der Stände als politischer Organisation ist es, die „Entfremdung zwischen citoyen und bourgeois aufzuheben“ (Schnädelbach 2000, S. 319). Im Konkreten bedeutet dies, dass die Bürger bei der Wahrnehmung ihres Privatinteresses nicht einfach auf ihrem Recht bestehen, sondern auch in dieser Sphäre fähig sind zur Abstraktion von ihrem unmittelbaren Nutzen und so bereits im ökonomischen Verhältnis den höheren Standpunkt der Allgemeinheit einnehmen. Die wirtschaftliche Sphäre, also das Recht der Besonderheit, wäre so erhalten, wie Hegel ausführt, aber eben als eine in die allgemeine Substanz zurückgeführte: Die Sprengkraft der bürgerlichen Gesellschaft durch ihre in die Extreme verlorene Sittlichkeit wäre gebändigt. Diese Leistung setzt freilich voraus, dass das „Werk des Staates“ nicht so verstanden wird, als würde er sie kraft seiner Gewalt erbringen; auf dieser Stufe der Analyse ist er nicht mehr die Herrschaft, die den Bourgeois durch das Recht vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben und dies gegen die bornierten Privatinteressen durchsetzt. Vielmehr ist es an dieser Stelle der Anspruch Hegels, dass die Bürger sich selbst als Teil eines politischen Zusammenhangs begreifen und diesen auch in der ökonomischen Sphäre leben – sprich also die Rückführung des Privatmaterialismus in das wahrhaft Allgemeine an sich vollziehen. „Die Mitwirkung bei der Gesetzgebung erscheint so selbst als ein Medium der politischen Bildung der in der bürgerlichen Gesellschaft nur auf ihr Privatwohl fixierten Bourgeois-Klasse“ (Schnädelbach 2000, S. 320). Gerade weil damit ein sehr anspruchsvoller Auftrag formuliert ist, wirkt die bislang von Hegel entwickelte Betätigungsform des Allgemeinen durch die Einzelnen bzw. genauer durch deren Repräsentanten ungenügend, um tatsächlich diese praktizierte Staatsgesinnung zu wecken. Selbst Hegel scheint daran seine Zweifel zu haben und formuliert deswegen die Öffentlichkeit der Ständeversammlung (vgl. GPR, § 314) als ein Erfordernis eines vernünftigen Gemeinwesens, um durch die so hergestellte Transparenz dem Interesse der Bürger an den Staatsangelegenheiten ein Stück weit zu befriedigen. Diese öffentlichen Sitzungen sind Teil einer anderen Institution, nämlich der Meinungs- und Pressefreiheit, die ein weiteres Feld der Betätigung des Allgemeinen darstellen. Beteiligung am öffentlichen Diskurs auf Basis der Meinungsfreiheit Die Öffentlichkeit der Ständeversammlung wird von Hegel auf eine bislang von ihm nicht bemühte Weise begründet. Während die institutionelle Einrichtung der
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ständischen Verbände über das Prinzip der Entsendung und die damit erfolgte Ablehnung einer direkten Wahl sich in der Skepsis gegenüber den BourgeoisInteressen begründet, scheint er diese Aversion auch gegenüber den Mitgliedern dieser Institution selbst zu pflegen, wenn auch aus einem anderen Grund: Ihm zufolge gibt es diese Einrichtung nicht deswegen, „weil durch sie die Angelegenheiten des Staats an sich aufs beste beraten und beschlossen werde[n]“ (GPR, § 314), sondern ihre Bestimmung besteht darin, „daß in ihrem Mitwissen, Mitberaten und Mitbeschließen über die allgemeinen Angelegenheiten in Rücksicht der an der Regierung nicht teilhabenden Glieder der bürgerlichen Gesellschaft das Moment der formellen Freiheit sein Recht erlange“ (ebd.). Hier wird nochmals das Anliegen betont, die ökonomische Sphäre in die politische zu integrieren, indem man ihr eine eigene Repräsentation einräumt; hervorzuheben ist jedoch vor allem Hegels Negation: Es sei ein Irrtum, zu meinen, dass sich mit dieser Institution eine besonders gute Kenntnis der Staatsnotwendigkeiten verbinden würde (vgl. auch Rosenzweig, in: Riedel 1975, S. 359). Sie leistet die zuvor bestimmte Vermittlungstätigkeit, aber die Expertise in Fragen des Gemeinwesens ist hier nicht zu verorten. Daraus schließt Hegel darauf, dass „das Moment der allgemeinen Kenntnis durch die Öffentlichkeit der Ständeverhandlungen seine Ausdehnung“ (GPR, § 314) erhält. Die Überlegung besteht also darin, dass die Qualität der Versammlung ein Stück weit auch durch die Öffentlichkeit und damit Teilhabe der anderen Bürger gesichert werden kann. Primär jedoch möchte Hegel dieses Prinzip deswegen in einem Staat verwirklicht wissen, weil er damit zweierlei Nutzen für das Volk sowie den Staat verbindet: Zum einen würden die Bürger über den ihnen gewährten Einblick in die Ständeversammlung die Qualifikation der Staatsbehörden und Beamten erleben und diesen gegenüber auch einen gewissen Respekt ausbilden (vgl. GPR, § 315). Die zweite, wesentliche Funktion besteht darin, dass die Transparenz der Versammlung ein „Bildungsmittel für diese [die Menge, I. S.] und zwar eines der größten“ (GPR, § 315) darstellt.108 Dies ist es insofern, als der „Eigendünkel“ (ebd.) durch die Kenntnis bzw. den Nachvollzug der Diskussion bekämpft wird, sprich also der Bürger unterschiedliche Gesichtspunkte zur Beurteilung einer staatlichen Maßnahme kennenlernt und durch ein pluralistisches Bild eventuell eine zuvor gefasste Meinung relativiert oder ändert. Positiv impliziert dies, dass der Bürger darüber „erst zu wahrhaften Gedanken und zur Einsicht in den Zustand und Begriff des Staates und dessen Angelegenheiten und damit erst zu einer Fähigkeit, darüber
108 In ihrer Bedeutung als Mittel zur Herausbildung einer Staatsgesinnung kann man die Öffentlichkeit im Hegelschen Staat kaum hoch genug einschätzen; der These, dass sie beim Philosophen „keine Wertschätzung“ (Haller, 1988, S. 30) findet und keine „für das Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft, mithin für das Politische irgendwie erwähnenswerte Rolle“ (ebd., S. 31) hat, ist deswegen zweifelsohne zu widersprechen.
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vernünftiger zu urteilen, kommt“ (ebd.). Die indirekte Teilhabe an den Parlamentsdebatten über deren geistigen Nachvollzug gilt dem Philosophen also als entscheidendes Instrument, um auch die breite Masse des Volkes mit den Staatsnotwendigkeiten vertraut zu machen; das Hegelsche Konzept ist „eine starke Aussage zugunsten des Bildungsbeitrags der Politik zur Begünstigung einer lebhaften und informierten öffentlichen Meinung“ (Rawls 2002, S. 461).109 Dies impliziert auch die zuvor angesprochene Abstandnahme von den rein partikularen Interessen, die sich Hegel durch eine Kenntnis sämtlicher Aspekte eines in der Versammlung diskutierten Gesetzes verspricht. Es würde sich, so der Philosoph, „eine ganz andere Lebendigkeit in Beziehung auf den Staat als da, wo die Ständeversammlung fehlt oder nicht öffentlich ist“ (GPR, § 315, Zus.), einstellen – also sich gerade das erfüllen, was die Aufgabenstellung des „Staatskapitels“ darstellt: Die Einzelnen werden in den Debatten mit Staatsgesichtspunkten vertraut gemacht und lernen so, als Staatsbürger zu denken und zu handeln. Gerade wegen des erhofften Nutzens ist es umso wichtiger, dass – was er in expliziter Gegenüberstellung mit dem Repräsentationsprinzip hervorhebt 110 – die öffentliche Meinung das Feld ist, worüber „jedem der Weg offen[steht, I. S.], auch sein subjektives Meinen über das Allgemeine zu äußern und geltend zu machen“ (GPR, § 308, Anm.). Ob die im Zitat angesprochene Praktizierung des Meinungsaustausches auch auf die Plenardebatten im Sinne einer Beteiligung der Bürger an diesen angewandt werden kann, wird von Hegel nicht konkretisiert; deren Öffentlichkeit ist jedenfalls Teil der allgemeiner gefassten Institution des nationalen öffentlichen Diskurses111 bzw. einer Medienlandschaft, deren zentrales Mittel die Presse darstellt (GPR, § 319). Hegels Staat kennt also zweifelsohne das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit, was jedoch an sich noch kein Argument gegen die
109 Hier wird erneut deutlich, dass das Hegelsche Staatskonzept ein sehr anspruchsvolles ist, da die Bürger nicht nur als passive Untertanen verstanden werden. Insofern ist Schnädelbachs Behauptung nicht zutreffend, dass die Leistungen der Individuen für den Staat auf den Kriegsdienst und finanzielle Unterstützungen wie Steuern beschränkt werden (Schnädelbach 2000, S. 319). 110 Hegel begründet das Repräsentationsprinzip auch explizit damit, dass nicht alle Menschen gleichviel von den Staatsangelegenheiten verstehen könnten, insofern wird also auch hier deutlich, dass Hegel von einem unterschiedlichen Grad der geistigen Auseinandersetzung mit Staatsangelegenheiten ausgeht. 111 Wie Bloch richtig ausführt, ist allein diese Bestimmung des Hegelschen Idealstaates – neben der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und anderen Einrichtungen – Ausdruck dessen, dass der Philosoph nicht einfach Preußen als Idealstaat verehrt – dort gab es diese Institutionen schlicht nicht (vgl. Bloch 1972, S. 249; vgl. auch Taylor 1983, S. 558 sowie S. 593).
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Auffassung der Totalitarismus-Kritiker darstellt; schließlich bestreiten Skeptiker wie Stirner oder Schiller nicht, dass diese Institution bei Hegel vorgesehen ist, sondern greifen seine vermeintliche staatsfunktionale Perspektive und abwertende Einstellung an (vgl. Kapitel 1.3.1). Dass ersteres nicht zutreffend ist, wurde bereits deutlich: Es geht dem Philosophen zwar darum, dass den Bürgern Staatsnotwendigkeiten vermittelt werden, sprich er nimmt hier also tatsächlich die Perspektive der Herrschenden ein; jedoch ist dies nicht gleichzusetzen mit einem „funktionale[n] Blick von oben herab“ (Schiller 2006, S. 94), der in „Zynismus“ (ebd.) mündet. Vielmehr ist der Sorgegenstand die Vermittlung, also der Versuch, dass die Citoyens die Maßnahmen des Staates auch aufgrund der Argumente in der Plenardebatte oder der Zeitung nachvollziehen können. Funktional für die Herrschaft ist diese Institution also nur dann, wenn das Staatshandeln auch tatsächlich vernünftig ist; andernfalls hätte die öffentliche Diskussion schlicht den gegenteiligen Effekt der Ablehnung der Regierungsmaßnahmen. Hegel hat hier den mündigen Bürger vor Augen, nicht den Untertanen eines totalitären Regimes. Deswegen gilt das, was in dem jeweiligen Staat herrschendes Recht ist – „in unserer Zeit, wo das Prinzip der subjektiven Freiheit diese Wichtigkeit und Bedeutung hat“ (GPR, § 316, Zus.) – „nicht mehr durch Gewalt, wenig durch Gewohnheit und Sitte, wohl aber durch Einsicht und Gründe“ (ebd.). Der zweite Einwand der Verächtlichkeit gegenüber der öffentlichen Meinung scheint auf den ersten Blick plausibel, da Hegel beispielsweise davon spricht, dass sich Individuen oft „gar vieles gefallen“ (GPR, § 317, Zus.) lassen, wenn sie nur „mitgesprochen“ (ebd.) haben – also auch hier wie bereits bei der Mitgliedschaft in den Ständeversammlungen auf den psychologischen Aspekt des Selbstgenusses rekurriert. An anderer Stelle heißt es, dass die Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung „die erste formelle Bedingung zu etwas Großem und Vernünftigem (in der Wirklichkeit wie in der Wissenschaft)“ (GPR, § 318) sei, was jedoch entgegen den hegelkritischen Deutungen sicherlich auch verstanden werden kann als Aufforderung, sich in seinen Ansichten nicht von dem vorherrschenden Zeitgeist abhängig zu machen.112 So sehr auch weitere Textstellen herangezogen werden können, um Hegels Skepsis gegenüber der Öffentlichkeit zu untermauern, dominiert letztlich deren Wertschätzung als politisches Bildungsmittel: „Die öffentliche Meinung enthält daher in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung
112 Diese Interpretation würde sich auch decken mit der bereits behandelten Auffassung Hegels über die „großen Männer“, die es vermögen, das Allgemeine in Richtung Vernunft fortzuentwickeln, was gerade die Loslösung vom herrschenden Denken und Handeln bzw. der althergebrachten Sitte unterstellt.
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und des allgemeinen Zustandes überhaupt, in Form des gesunden Menschenverstandes, als der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehenden sittlichen Grundlage [...].“ (GPR, § 317)
Als in den Medien vertretener Standpunkt kursiert also durchaus viel Unwahres, aber letztlich ist die Substanz der öffentlichen Meinung Hegel zufolge der Inhalt der Verfassung bzw. die Vernunft. Sie vertritt dies nicht in „Reinform“, also weder in völliger Übereinstimmung mit den Gesetzesparagraphen noch im Sinne einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern in Gestalt des common sense. Diese wird vom Philosophen als adäquate Form verstanden, in der der normale Bürger, der weder Staatsbediensteter noch Wissenschaftler ist, die Staatsaufgaben präsent hat. Der wesentliche Aspekt dieser Einrichtung besteht letztlich in der benannten Möglichkeit, dass sich die Einzelnen mit den Staatsaufgaben vertraut machen und sie beurteilen können; in diesem Sinne sind die Öffentlichkeit und die Meinungsfreiheit ein Beitrag dazu, dass die Bürger eine politische Lebensform pflegen können. Zumindest der Potenz nach bietet sie auch für den ärmeren Teil der Bevölkerung die Möglichkeit, sich mit dem politischen Zeitgeschehen auseinanderzusetzen, da die Barrieren zur Information durch die Medien niederschwellig sind. Hegel weiß jedoch, dass sich Armut oft auch auf die geistigen Interessen und die Bildung auswirkt, sodass er hier nicht allzu optimistisch gewesen sein dürfte. Die Verteidigung des Allgemeinen durch Kriegsdienst Der Militärdienst stellt für Hegel praktizierte Staatsbürgergesinnung dar: Es ist die „substantielle Pflicht“ (GPR, § 324) jedes Einzelnen, „diese [die staatliche, I. S.] substantielle Individualität, die Unabhängigkeit und Souveränität des Staats zu erhalten“ (GPR, § 324; vgl. auch GPR, § 325). Dies, so führt der Philosoph in den Anmerkungen zu diesem Paragraphen aus, ist nicht misszuverstehen in dem Sinne, dass mit der Rettung des Gemeinwesens die der bürgerlichen Gesellschaft und damit letztlich „nur die Sicherung des Lebens und Eigentums der Individuen“ (GPR, § 324, Anm.) gemeint ist. Zum einen wäre diese Argumentation paradox, da im Krieg beides riskiert und eventuell auch tatsächlich zerstört wird; zum anderen geht dies aber auch am Kern der Sache vorbei, weil es im Krieg keinen Kollateralschaden darstellt, sondern vielmehr darauf ankommt, dass all die zeitlichen Dinge negiert oder zumindest aufs Spiel gesetzt werden: „Es ist notwendig, daß das Endliche, Besitz und Leben, als Zufälliges gesetzt werde, weil dies der Begriff des Endlichen ist“ (GPR, § 324, Anm.). Während deren Vergänglichkeit häufig von Naturgewalten exekutiert wird, stellt der Krieg den gleichen Vorgang dar, bei dem jedoch der Staat das Subjekt ist, der „der Natur diese Gewalt abgenommen und die Notwendigkeit zum Werke der Freiheit, einem Sittlichen erhoben“ (GPR, § 324, Anm.) hat. Durch den Krieg wird die unumgängliche Zerstörung also zu einem bewussten
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Akt, in dem die Macht und damit auch die Bürger (vgl. auch Enz. III, § 546)113 im Kriegsdienst diese freiheitlich betreiben und durch dieses Bekenntnis zum „gewollte[n] Vorübergehen“ (GPR, § 324, Anm.) eindeutig das ökonomische Kalkül dem politischen Gemeinwesen opfert. Diese Klarstellung dessen, was Akzidenz und Substanz ist, die im normalen Leben nie praktiziert wird, weil die Menschen in diesem schlicht ihren Alltagsgeschäften nachgehen und den Staat vielleicht geistig als das wahrhaft Allgemeine verstehen, dies aber nicht in ihrem Handeln zum Ausdruck bringen (können), ist der Ursprung der Kriegsapologie Hegels.114 Die Bereitschaft zur Aufopferung stellt für ihn den Beweis dar, dass die Menschen eine staatsbürgerliche Gesinnung haben und deswegen für das vernünftige Allgemeine auch alles andere riskieren. In diesem Sinne ist der Krieg „Wahrheitsmoment“ und der Kriegsdienst die Pflicht eines jeden (vgl. GPR, § 324 sowie vgl. GPR, § 325). Dabei ist aufgrund der für den Soldatenberuf notwendigen Professionalisierung ein eigener Stand nötig (vgl. GPR, § 325) – die Bereitschaft zum Militärdienst jedoch, so kann man Hegels Betonung der Pflicht verstehen, sollte entsprechend der Logik seiner Argumentation jeder haben.115
113 Der Kriegszustand wird gekennzeichnet als derjenige, in dem „die besondere Selbstständigkeit der Einzelnen und der Zustand ihres Versenktseins in das äußerliche Dasein des Besitzes und in das natürliche Leben sich als ein Nichtiges fühlt und welche die Erhaltung der allgemeinen Substanz durch die in der Gesinnung derselben geschehende Aufopferung dieses natürlichen und besonderen Daseins, die Vereitelung des dagegen Eitlen vermittelt.“ (Enz. III, § 546; vgl. auch GPR, § 324) 114 Die Deutung der Hegel-Kritiker ist meinem Verständnis zufolge bei diesem Thema tatsächlich plausibel (vgl. bspw. Schiller 2006, S. 99 f., Popper 2003, S. 82 f., Kiesewetter 1995, S. 131 sowie Topitsch 1981, S. 48). 115 Diejenigen, die den Kriegsdienst zum Beruf machen, stellen den „Stand der Tapferkeit“ (GPR, § 325) dar, wobei sie an ihrer eigenen Person das zuvor bestimmte Verhältnis praktizieren: Tapferkeit ist definiert als „die höchste Abstraktion der Freiheit von allen besonderen Zwecken, Besitzen, Genuß und Leben“ (GPR, § 327); Soldaten sind dadurch bestimmt, dass sie diese Tugend nicht nur im Geiste pflegen, sondern sie durch ihren Dienst auch tatsächlich verwirklichen (vgl. ebd.). Durch ihre Bereitschaft zur Aufopferung für das wahrhaft Allgemeine bringen sie dem Hegelschen Verständnis zufolge „die Idealität an sich selbst zur Existenz“ (GPR, § 327, Zus.). Er frönt hier jedoch keinem Heldenmythos: Dem Philosophen zufolge ist bei Soldaten nicht der „persönliche Mut, sondern die Einordnung in das Allgemeine“ (GPR, § 327, Zus.) die entscheidende Eigenschaft. Die im Krieg zum Ausdruck gebrachte Rangfolge zwischen ökonomischer und politischer Sphäre, die potentiell zumindest Sache eines jeden sein sollte, wird durch die Soldaten jedenfalls gelebte Gesinnung.
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Wie ist dieses Betätigungsfeld nun im Lichte der Perspektive der Praktizierung des Allgemeinen durch die Bürger zu beurteilen? Zunächst findet sich hier erneut die Überlegung wie bei der Ständeversammlung, dass die entsprechende Gesinnung zwar eigentlich allen unterstellt, aber dennoch allein von einer Gruppe stellvertretend für alle anderen praktiziert wird. Wie dies von Seiten des Staates bei der Thematik der Ämter nachvollzogen wurde, so trägt dieses Verfahren auch hier sowohl bei der Ständerepräsentation als auch beim Berufsstand des Militärs einer notwendigen Professionalisierung Rechnung. Als weiterer Punkt fällt im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst auf, dass dieser in gewisser Weise die höchste Form der Praktizierung des Allgemeinen darstellt, weil im Vergleich zu den anderen Betätigungsformen vom ökonomischen Standpunkt nicht nur abstrahiert und also auch ein weiterer, der politische, eingenommen wird, sondern das wirtschaftliche Kalkulieren der Privatsubjekte durch die Bereitschaft zur Aufopferung völlig suspendiert wird.116 Die Bereitschaft zur Opferung des eigenen Lebens für den Staat unterstellt jedenfalls eine bereits gelungene Vermittlung zwischen Staat und Bürger; 117 diese Form der praktizierten politischen Gesinnung stellt also keinen Beitrag zu deren Entwicklung dar. Insgesamt stellt sich also die Frage, ob die von Hegel proklamierte Praktizierung des Allgemeinen durch die Bürger alles in allem ihr angemessenes Betätigungsfeld zugewiesen bekommt. Deutlich wurde sein Bemühen, den ökonomischen
116 Dies offenbart meines Erachtens ein problematisches Verständnis des Politischen, das konträr zu Hegels sonstiger Auffassung liegt: In seiner Kriegstheorie wird das Verfolgen des Privatmaterialismus als im Gegensatz zum Gemeinwesen gedacht. Ich habe bereits an zahlreichen anderen Stellen zu zeigen versucht, dass die ökonomische der politischen Sphäre in Hegels System evident untergeordnet ist – dieses Subordinationsverhältnis ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Entgegensetzung, die in seiner Kriegstheorie zu Tage tritt. Schließlich bedeutet dieses nicht, dass das Verfolgen der wirtschaftlichen Interessen dem Gemeinwesen widerspricht, sondern dieses stellt einen nachgelagerten, aber dennoch einen Teil des Eigentlichen dar. Dieses integrative, wenn auch mit klarer Rangordnung verbundene Verständnis scheint hier sistiert zu sein zugunsten einer konfrontativen Auffassung, in der das Politische vermeintlich „gereinigt“ wird von jeglichem ökonomischen Ansinnen; das Privatinteresse wird als das zu Negierende gesetzt, um das wahrhaft Allgemeine zu praktizieren. Diese Deutung kann eigentlich nur dann ausgeschlossen werden, wenn man Hegels Ausführungen nicht als Rechtfertigung eines Angriffskrieges versteht, sondern als Begründung von solchen zur Verteidigung der eigenen Lebensweise (vgl. Sünkel 1988, S. 244 sowie d’Hondt 1975, S. 415) 117 Zu fragen wäre dann jedoch, inwiefern die bei der Bestimmung des Patriotismus postulierte Interessensidentität tatsächlich gegeben ist.
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Interessen durch die ständischen Verbände einen angemessenen Platz im Staate einzuräumen, was ihm zufolge nicht durch ein allgemeines Wahlrecht, sondern durch ein Repräsentationsprinzip gelingen kann. Auch der Öffentlichkeit kommt in seinem Staatskonzept ein hoher Stellenwert zu, da der Einzelne darin ein Bildungselement seiner politischen Gesinnung findet. Die letzte Partizipationsform, der Kriegsdienst, unterscheidet sich von den zuvor behandelten Tätigkeiten: Während diese von Hegel als Bildungsmittel besprochen werden, also selbst Beitrag zur Erzeugung einer entsprechenden Gesinnung sind, unterstellt die Bereitschaft zur Aufopferung bereits eine entsprechende Einstellung; sie wird im Krieg praktiziert, aber dieser selbst generiert nicht das staatsbürgerliche Denken. Gerade auch angesichts des Stellenwerts, den der Philosoph der Praxis bei der Erzeugung einer staatsbürgerlichen Gesinnung zuspricht, erscheint es im Resümee doch zweifelhaft, ob die hier herausgearbeiteten und von Hegel entwickelten Betätigungsfelder – sowohl in Bezug auf die Bevölkerung im Allgemeinen als auch im Besonderen hinsichtlich der Armen – tatsächlich ausreichend sind, um den von ihm so bezeichneten Trieb, das Allgemeine zu praktizieren, zu befriedigen. Für Hegel, so lässt sich diese spärliche Ausgestaltung der Partizipationsmöglichkeiten wohl deuten, ist das entscheidende Kriterium für die Erzeugung der Bejahung des Staates, dass dieser selbst eine vernünftige Staatsräson hat. Durch Form und Inhalt gelebte Verfassung: die durch Gesetze vollzogene Implementierung der vernünftigen Staatsräson Im Folgenden soll Hegels Argumentation hinsichtlich dessen nachvollzogen werden, worin die Vernunft der Institutionen, die eine politische Gesinnung ihrer Affirmation erzeugt, besteht, denn „[i]hren besonders bestimmten Inhalt nimmt die Gesinnung aus den verschiedenen Seiten des Organismus des Staates“ (GPR, § 269). Der Begriff des vernünftigen Gemeinwesens wird nicht allein durch eine entsprechende Gesinnung erfüllt, sondern es bedarf einer Verankerung des wahrhaft Allgemeinen in den Institutionen, sodass also auch diese in den Blick genommen werden müssen.118 Am Ende des Abschnitts soll eine Antwort darauf gegeben worden sein, inwiefern das allgemeine Ich erst durch sein Leben im Staate zur wahrhaften Allgemeinheit gelangt. Die Leitfrage ist also, wie das Allgemeine auf Seiten der staatlichen Organisationen zur Existenz gebracht wird. Dies zu klären, umfasst den
118 Es „ist Hegel sicher zuzugeben, daß die beste Gesinnung wenig hilft, wenn ihr nicht vernünftige Institutionen zur Seite stehen“ (Hösle 1988, S. 561; vgl. auch Horstmann, in Siep 2005, S. 213 sowie Rawls 2002, S. 429). Im Folgenden wird sich auf die Darstellung derjenigen Institutionen und Rechtsprinzipien beschränkt, denen Relevanz für das behandelte Thema zukommt.
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Nachvollzug dessen, welche Betätigungsform Hegel vorsieht und welchem Inhalt damit Existenz verliehen wird. Die Literatur kapriziert sich zumeist darauf, dass Hegel eine konstitutionelle Monarchie bevorzugt (vgl. bspw. GPR, § 273 sowie ebd. Anm.; vgl. auch Bloch 1972, S. 249) und deutet dies in graduellen Unterschieden als autoritär oder – freilich seltener – als vereinbar mit demokratischen Entwürfen (vgl. Vieweg 2012, S. 434 ff.). Bei all den Diskussionen um die Staatsformen sollte jedoch nicht aus dem Blick verloren werden, dass die Frage danach für Hegel sekundär war: Deren Abhandlung sei eine „ganz müßige Frage“ (GPR, § 273, Anm.), weil es „oberflächlich und töricht“ (Enz. III, § 544, Anm.) sei, sich vorzustellen, dass man zwischen einer demokratischen, aristokratischen oder monarchischen Verfassung wählen könne – es handelt sich dabei vielmehr um „notwendige Gestaltungen in dem Entwicklungsgange, also in der Geschichte des Staats“ (ebd.). Wie erläutert, muss Hegel zufolge das Staats-Bewusstsein in einem Volke wachsen und Verfassungen können dementsprechend nicht in einem einzigen Akt geschaffen werden; ebenso ist es nicht möglich, in Ignoranz gegenüber dem Reifegrad des Volksgeistes eine bestimmte Staatsform zu wählen. Vor allem aber ist die konkrete Staatsform sekundär gegenüber dem materiellen Gehalt bzw. dem Inhalt der Staatsräson: „Der wahre Unterschied dieser Formen [anderer Formen der Monarchie, I. S.] von der wahrhaften Monarchie beruht auf dem Gehalt der geltenden Rechtsprinzipien, die in der Staatsgewalt ihre Wirklichkeit und Garantie haben. Diese Prinzipien sind die in den früheren Sphären entwickelten der Freiheit des Eigentums und ohnehin der persönlichen Freiheit, der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Industrie und der Gemeinden, und der regulierten, von den Gesetzen abhängigen Wirksamkeit der besonderen Behörden.“ (Enz. III, § 544, Anm.)
Die wahre Monarchie, die er als Staatsform präferiert, zeichnet sich also primär durch die in ihr implementierten Rechtsprinzipien aus: Weil und insofern die subjektive Freiheit und andere damit verbundenen Rechte wie das auf ökonomische Betätigung in Rechtsform verbürgt sind, kann ein Staat als „vernünftig“ bezeichnet werden. Dementsprechend soll der Fokus der folgenden Ausführungen primär auf dem Inhalt der Staatsräson liegen, um nachvollziehen zu können, inwiefern mit dem Staat die substantielle Allgemeinheit Wirklichkeit wird. Durch die bisherigen Ausführungen wurde bereits deutlich, dass Hegel keineswegs jeden Staat rechtfertigt, sondern klare Maßstäbe formuliert, die ein solches Gebilde erfüllen muss. Hegels Staatsentwurf ist also normativ: Er beschreibt nicht einfach einen existierenden Staat – geschweige denn das damalige Preußen (vgl. auch Rawls 2002, S. 455) –, sondern entwirft ein Gemeinwesen, das seines Erachtens das Prädikat „vernünftig“ verdient. Insofern ist es also zentral, dass diese un-
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terschiedlichen Ebenen geistig geschieden werden.119 „Dieses ‚Wesen‘ des Staates, wie er es uns in seiner Philosophie des Geistes in der Weise einer sachlogischen Exposition aus dem Begriff des Staates: der Natur der Sache, im einzelnen entfaltet, ist jedoch in der Welt nicht als fertiges Resultat da, sondern stellt sich in der Realisation des Staates in der Weltgeschichte erst nach und nach ‚vollkommen‘ heraus“ (Maihofer 1975, S. 370). Ihn hat es so vielleicht noch nie gegeben, er entwickelt sich und keineswegs ist jede Herrschaft gleichzusetzen mit dem Staat, dessen Existenz Hegel rechtfertigt; schließlich ist „[d]er Staat [...] kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zerfalls und des Irrtums, übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren“ (GPR, § 258, Zus.). Der Philosoph weiß also durchaus zwischen „unvollkommenen Staaten“ (GPR, § 260, Zus.), seiner Staatsidee und solchen, die dieser nahekommen, zu unterscheiden (vgl. auch Rawls 2002, S. 433). Worin liegt nun das Wesen des „eigentlich politische[n] Staat[es] und seine[r] Verfassung“ (GPR, § 267)?120 Gesetze als Institutionalisierungsform der Allgemeinheit Die elementarste Bestimmung bei der Beantwortung der Frage dessen, wie sich die vernünftige Praxis des Staates gestaltet, scheint so selbstverständlich angesichts der heutigen Rechtsordnung, dass sie häufig gar nicht mehr als Charakterisierung gewürdigt wird: Hegels Staat implementiert den Inhalt der Staatsräson in Form von Gesetzen. Wie erwähnt, geht die Verfassung ihm zufolge aus dem Staate hervor und ebendiese Rolle haben die Gesetze inne. Das Fortschreiten in den Bildungsstufen eines Volkes ist, wie unter 3.2.1 deutlich wurde, eine Arbeit von Jahrhunderten und hat nicht den Charakter eines Sprunges, sondern erfolgt auf diese evolutionäre Weise der Anpassung und des Fortschreibens des Rechts. Gegenüber den Bürgern nehmen die Gesetze ein dialektisches Verhältnis ein: „[F]ür das unmittelbare Subjekt, dessen selbstständige Willkür und besonderes Interesse sind sie Schranken. Aber sie sind zweitens absoluter Endzweck und das allgemeine Werk; so werden sie durch die Funktionen der verschiedenen, sich aus der allgemeinen Besonderung weiter vereinzelter Stände und durch alle Tätigkeit und Privatsorge der Einzelnen hervorgebracht; und drittens sind sie die Substanz ihres darin freien Wollens und ihrer Gesinnung und so als geltende Sitte dargestellt.“ (Enz. III, § 538)
119 Dennoch ist Hösle zuzustimmen – der Hegel gegen seine Kritiker in Schutz nimmt –, dass der Philosoph oft „nicht genau genug zwischen der Idee des Staates und einzelnen Staaten unterscheidet“ (Hösle 1988, S. 556). 120 Die Kennzeichnung als politischer Staat bringt die Unterscheidung zum Not- und Verstandesstaat der ökonomischen Sphäre zum Ausdruck.
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Eine Schranke stellen sie insofern dar, als man das Verhältnis von Recht und Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft betrachten, was Hegel durch das Adjektiv „unmittelbar“ und durch die Termini „Willkür“ und „besonderes Interesse“ deutlich zum Ausdruck bringt: Das in seinen ökonomischen Interessen befangene Subjekt nimmt die Gesetze als Begrenzung seines Privatmaterialismus wahr, weil es ebenso all die anderen Konkurrenzteilnehmer ins Recht setzt, deren Eigentum schützt und das eigene Interesse nicht nur lizenziert, sondern dabei zugleich die Reichweite und damit Beschränkung festlegt. Außerdem sind die Gesetze jedoch – weiterhin auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft – zugleich das allgemeine Werk jedes Einzelnen sowie der Korporationen; schließlich implementieren sie durch ihr Handeln eine Konkurrenzordnung, die im vorherigen Kapitel auch unter dem Stichwort der formellen Freiheit behandelt wurde. Die Regeln entwickeln sich also von einer empfundenen Schranke zu einer allgemeinen Ordnung, die von den Bourgeois selbst praktiziert und so in Kraft gesetzt wird. Drittens sind die Gesetze – entsprechend der Analyse des Staates als gewusste Allgemeinheit – Ausdruck der Staatsgesinnung und als solche in Regeln gegossene Sittlichkeit eines Volkes; so heißt es in den Vorlesungen, dass die „vortrefflichsten Gesetze“ diejenigen sind, „die das befehlen, was die Menschen von sich selbst thunm, dieß ist der eigentliche, wahre Sinn der Gesetze, daß nichts vorgeschrieben ist, als was der eigene Verstand, die Vernunft des Menschen thut, eine Regulierung tritt dann nur bei dem Quantum ein“ (GSGPR, § 239, S. 603). Angesichts dieser zentralen Rolle der Gesetze stellt sich trotz der Hegelschen Auffassung, dass sie letztlich nur das bestimmen, was sowieso dem Geiste des Volkes entspricht, die Frage, wer die gesetzgebende Gewalt innehat, sprich also als Gesetzgeber den Inhalt der Verfassung in Form von allgemeinen Regeln ausgestaltet. Wie bereits im Kontext des Stellenwerts der Hegelschen Stände ausgeführt wurde, vertritt Hegel eine Auffassung, die meiner Deutung zunächst zuwiderzulaufen scheint: Ihm zufolge setzt sich die Legislative zusammen aus dem Monarchen, „dem die höchste Entscheidung zukommt“ (GPR, § 300), der Regierung, da diese die beste Kenntnis der Staatsnotwendigkeiten besitzt (vgl. ebd.) sowie den ständischen Institutionen, die im Vergleich zu den anderen beiden ein untergeordnetes Moment darstellen, nämlich insbesondere „beratend[]“ (ebd.) tätig sind. Hier macht sich erneut das Verständnis des Staates als einheitlicher Organismus geltend, dessen Gewalten nur Teile eines Staatswillens darstellen; demzufolge gibt es kein Erfordernis bzw. wäre es sogar kontraproduktiv, wenn die Legislative eine „selbstständige[] Gewalt“ (Enz. III, § 541, Anm.) wäre und nicht alle am Staat beteiligten Kräfte auch bei der Gesetzgebung kooperieren.121
121 Die Kritiker werden erneut den Totalitarismus des Hegelschen Staates wittern, aber zeichnet er damit nicht – natürlich abgesehen von der fürstlichen Gewalt – ein realisti-
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Freilich entsprechen sich Inhalt und Form, sodass man auch bei der Behandlung der Gesetze nicht umhin kommt, wenn auch nicht auf deren Inhalt zu schließen, so doch Gleichheit und Freiheit als den dieser Form adäquaten Inhalt zu erkennen. Hinsichtlich der Gleichheit besteht der Konnex darin, dass Gesetze für alle Bürger gleichermaßen gelten bzw. umgekehrt diese vor dem Gesetz gleich sind, was Hegel als „hohe Wahrheit“, aber zugleich auch als „Tautologie“ (Enz. III, § 539, Anm.) bezeichnet, weil damit „nur der gesetzliche Zustand überhaupt, daß die Gesetze herrschen, ausgesprochen“ (ebd.) sei. Sein Anliegen besteht bei dieser Argumentation keineswegs darin, diese Gleichheit zu verunglimpfen, sondern er präzisiert diese landläufige Vorstellung dahingehend, dass das Gesetz eine Gleichheit der Behandlung der Bürger durch den Staat verbürgt, wo diese faktisch höchstens zufällig gleich, zumeist aber völlig ungleich sind. Wo es um Materien wie „Abgaben, Militärpflichtigkeit, Zulassung zu Staatsdiensten usf.“ (ebd.) geht, kann es durchaus sinnvoll sein, dass das Gesetz die Bürger nur insofern gleich behandelt, als sie Teil einer entsprechenden Gruppe mit Merkmalen sind, die beispielsweise hinsichtlich „des Vermögens, des Alters, der physischen Stärke, des Talents, der Geschicklichkeit usf.“ (ebd.) gleich sind. Insofern, so Hegels Postulat entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, soll also Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden – gerade darüber wird die Gleichheit vor dem Gesetz gewahrt.122 Auch hinsichtlich der Freiheit besteht ein enger Zusammenhang zwischen diesem Prinzip und der Gesetzesform: Hegel zufolge ist „jedes wahrhafte Gesetz eine Freiheit, denn es enthält eine Vernunftbestimmung des objektiven Geistes, einen Inhalt somit der Freiheit“ (Enz. III, § 539, Anm.). Wenn ein Gesetz also im Hegelschen Sinne „wirklich“ ist, sprich seinem Begriff als solches entspricht, dann stellt es inhaltlich eine Ausbuchstabierung der Vernunft und damit eine Freiheitsgewährung dar. Als allgemeinste Bestimmung aller Gesetze lässt sich festhalten, dass diese die Freiheit der Person, sprich die prinzipielle Rechtsfähigkeit eines jeden unterstellen (vgl. ebd.). Welche „Inhaltsbestimmungen“ (Enz. III, § 538) der vom Staat gewährten Freiheit nun in einem vernünftigem Gemeinwesen gelten, lässt sich der Gesetzesform freilich nicht entnehmen; denn so wahr es ist, dass Gleichheit und
scheres Bild von der Gesetzgebungstätigkeit als das die Lehre einer strikten Gewaltentrennung vermag? Schließlich arbeiten auch beispielsweise in Deutschland Bundesregierung und insbesondere die Regierungsfraktion eng in legislativen Fragen zusammen. 122 So führte das Bundesverfassungsgericht exemplarisch in einem Beschluss des ersten Kammer des Senats aus: „Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, unter steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln“ (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 02. Mai 2006-1 BvR 1275/97-Rn. 18).
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Freiheit „die Grundbestimmung und das letzte Ziel und Resultat der Verfassung ausmachen sollte [...], so sehr ist das Mangelhafte dieser Bestimmungen zunächst, daß sie ganz abstrakt sind“ (Enz. III, § 539, Anm.). Um deren konkrete Bedeutung zu erlangen, müssen die Prinzipien der Staatsräson untersucht werden, die durch die Gesetze eine Lebensordnung der Bürger implementieren. Das Recht der Subjektivität, oder: Freiheit als Inhalt der Rechtsform Die „substantielle Allgemeinheit“ (Enz. III, § 534) wird erst im Staat als „Wirklichkeit der Freiheit“ (Enz. III, § 539) erreicht.123 Dessen Verfassung leistet „die Bestimmung der Rechts, d. i. der Freiheiten überhaupt“ (Enz. III, § 539, Anm.), wobei Hegel mit der Verwendung des Plurals bereits andeutet, dass dieses Prinzip für ihn viele Facetten hat. Diese sollen im Folgenden entfaltet werden, um darzustellen, durch welchen konkreten Inhalt bzw. welche Freiheitsrechte der Staat eine vernünftige Praxis betreibt, die die in der Verfassung theoretisch gefasste Allgemeinheit realisiert. In meinem Verständnis, die Freiheit als das Grundmotiv der Räson des Hegelschen Gemeinwesens zu begreifen, folge ich in diesem Punkt also der in Kapitel 1.3.1 dargelegten Deutung Joachim Ritters:124 In den Menschenrechten des Hegelschen Staates wird „die Freiheit des Menschen als Menschen zum Prinzip des Rechts und des Staates [ge]setzt“ (Ritter 1961b, S. 15). Sie ist die Basis, aus der sich alle Bestimmungen des Staates ableiten sollen und dies bedeutet, dass der Mensch als solcher – und damit jedes „Exemplar“ – als Freier anerkannt wird; durch diese Verwirklichung des Begriffs des menschlichen Wesens als Vernünftigem in den Menschenrechten hat das staatliche Recht „die Allgemeinheit der Gattung erreicht“ (Ritter 1956, S. 202). Hegel ist also kein Machtpositivist, der jegliche Herrschaft ohne Maßstab als legitim anerkennt, sondern seine „Staatsverehrung“ ergibt sich daraus bzw. ist umgekehrt auch daran gebunden, dass die jeweilige Herrschaft das Recht der Subjektivität oder die Verwirklichung der Freiheit zum Zwecke hat:125
123 Er ist das „an und für sich Vernünftige [...], in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt“ (GPR, § 258; vgl. auch ebd., Zus.). 124 Meiner Interpretation zufolge verpasst er es jedoch, diesen Inhalt als Verwirklichung der gewussten Allgemeinheit zu deuten. 125 Insofern kennt Hegel also einen Maßstab, an dem das positive Recht gemessen wird, sodass sich die Frage nach seinem Verhältnis zum Naturrecht aufdrängt. Einen ersten Hinweis gibt der Untertitel der Rechtsphilosophie, der „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse“ lautet. Da Hegels Verhältnis zum Naturrecht äußerst kompliziert ist, insofern er es in seiner klassischen Form kritisiert, aber andererseits doch die Idee an sich verteidigt und vertritt und dies im engen Sinne keine Erkenntnis für das hier zu
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„Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“ (GPR, § 260)
Moderne Gemeinwesen sind bei der Ausübung ihrer Herrschaft nicht darauf angewiesen, ihre Untertanen zu unterdrücken, um Stabilität zu erzeugen, sondern sie anerkennen sie als Bürger (vgl. GPR, § 261, Anm.) bzw. gewähren ihnen Freiheiten, ohne dass dies zur Auflösung des Staates führen würde. Vielmehr besteht die Leistung dieser Staaten gerade darin, dass die Freisetzung der Individuen keinen Widerspruch darstellt zu ihrem Dasein als Citoyen: Das Subjekt als Privatperson wird selbst Teil der Allgemeinheit und bringt diese zugleich hervor. Wie dieses Prinzip der freigesetzten Subjektivität konkreter zu fassen ist, soll im Folgenden entwickelt werden. Eine erste Bestimmung des Freiheitsbegriffes ergibt sich über eine Abgrenzung: Diesen negativ zu fassen im Sinne eines Abwehrrechts gegen staatliche Willkür oder andere Bürger sowie als Beschränkung der eigenen mit Blick auf die Freiheit der anderen, lehnt Hegel ab (vgl. Enz. III, § 539, Anm.). Die Vorstellung, sich zurückzunehmen und den Staat als die regulierende Instanz, die die Kollisionen verwaltet, zum Kern des Freiheitsverständnisses zu machen, würde bedeuten, dass man Freiheit „als zufälliges Belieben und Willkür“ (ebd.) definiert. Freiheit ist für ihn also kein beliebiges Wollen, das sich ein Subjekt vornehmen kann, sondern offenbar bereits mit einem bestimmten Inhalt verbunden. Die Elementarbestimmung dessen stellt eine Rückerinnerung an den Ausgangspunkt der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft dar: Hegel geht es um „die abstrakte Subjektivität als Person, die des Eigentums fähig ist“ (Enz. III, § 539, Anm.). Wie dargelegt, stellt es für Hegel ein zentrales Charakteristikum dar, dass der Mensch einen Willen besitzt, also frei ist. Aus diesem Grunddatum schließt er darauf, dass das Leben in einem Staat, der die Freiheit seiner Bürger bzw. sie als Person anerkennt, die dem Menschen adäquate Herrschaftsweise ist; 126 das Rechtsinsti-
untersuchende Thema der Selbstverwirklichung bringt, soll diese Frage nicht weiter erörtert werden (vgl. hierfür bspw. Schnädelbach 2000, S. 172 ff. sowie Bobbio 1975, S. 81-108). 126 Die „berühmt-berüchtigte“ Textstelle, von der meistens leider nur der erste Satz zitiert wird, sagt genau dies aus: „es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft“ (GPR, § 258, Zus.). Der Staat wird also als dem Menschen adäquate politische Einrichtung verstanden: Nach der ersten Stufe – dem Eigentum als Verwirklichung des Willens im Sinne
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tut des Privateigentums stellt dabei die äußere Sphäre der Freiheit einer Person dar. Aus dieser ökonomischen Bestimmung bzw. der mit diesem Recht konstituierten Gesellschaft leitet er die Notwendigkeit einer höheren Ordnung ab, in der die Subjekte nicht nur als Teilnehmer der Konkurrenz, sondern ebenfalls als Bürger, sprich also politisch anerkannt sind; erst dann, so Hegel, leben sie tatsächlich in einer Welt, die es den Menschen erlaubt, ihren Begriff als (freier) Mensch zu verwirklichen. Nachdem dies in den letzten beiden Kapiteln entwickelt wurde, stößt die Analyse hier auf denselben Gegenstand, jedoch an dieser Stelle aus der Perspektive des Staates: Welche Freiheiten muss er wie verbürgen, um den anthropologischen Bestimmungen zu entsprechen? Letztlich stellt der folgende Abschnitt also eine kurze Wiederholung dar, weil nun als Bedingungen der substantiellen Allgemeinheit herauszuarbeiten ist, was zuvor als Zielpunkt der Argumentation aus der Perspektive des um Selbstverwirklichung bemühten Subjekts dargelegt wurde. Die folgende Textstelle bringt komprimiert zum Ausdruck, was er als „Prinzip der Subjektivität“ bezeichnet, das moderne Staaten verwirklichen: „Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen, daß also das Interesse der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft sich zum Staate zusammennehmen muß, daß aber die Allgemeinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten kann. Das Allgemeine muß also betätigt sein, aber die Subjektivität auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden. Nur dadurch, daß beide Momente in ihrer Stärke bestehen, ist der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organisierter anzusehen.“ (GPR, § 260, Zus., vgl. auch Enz. III, § 537)
Die Gewährung der Freiheit des Einzelnen, der in der Familie und in der Ökonomie als Privatsubjekt agieren darf, steht in Hegels Staat nicht länger im Widerspruch dazu, dass das Individuum sich dennoch als Teil des Allgemeinen begreifen soll. Nur, wenn sie sich ihres Seins als allgemeines Ich bewusst sind und sich als solches betätigen, ist der Staat seinem Begriff gemäß; dabei muss er den Subjekten aber ihren Freiheitsraum gewähren. So soll „[d]as besondere Interesse [...] wahrhaft nicht beiseite gesetzt oder gar unterdrückt, sondern mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gebracht werden, wodurch es selbst und das Allgemeine erhalten wird“ (GPR, § 261, Anm.). Sowohl die Existenz als Familienmitglied, die den Beginn der Sittlichkeit darstellt, aber dies noch in unreflektierter Form, sowie die als Bourgeois in der wirtschaftlichen Sphäre, in der sich die Sittlichkeit in ihre Extreme verliert, sind also letztlich notwendige Stufen, die dem Individuum gewährt werden müssen,
einer äußeren Sphäre der Freiheit einer Person – ist der Staat nun die politische Institution, in der der Wille seine höchste Realisationsform in der Welt erhält.
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um im Staatsbürgerbewusstsein als Gesinnung des wahrhaft Allgemeinen aufgehoben zu werden.127 Ohne diese Freilassung, selbstständige Entwicklung und schließlich auch Entzweiung durch den Standpunkt des Privatmaterialismus wäre keine Rückführung des Subjekts ins Allgemeine auf einer höheren, reflektierten Stufe möglich.128 Wie also ist nun genau das Verhältnis von Staat und Familie sowie bürgerlicher Gesellschaft zu kennzeichnen? Diese Frage ist auch deswegen wichtig, weil sich dadurch weitere Facetten der Antwort ergeben, welchen Stellenwert die Individualität bei Hegel hat. Das obige Zitat gibt darüber Auskunft mit der etwas kryptischen Formulierung, dass „das Interesse der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft sich zum Staate zusammennehmen muß“, was an anderer Stelle deutlicher wird: „Gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft ist der Staat einerseits eine äußerliche Notwendigkeit und ihre höhere Macht, deren
127 „Die Familie ist zwar auch sittlich, allein der Zweck ist nicht als gewußter; in der bürgerlichen Gesellschaft dagegen ist die Trennung das Bestimmende.“ (GPR, § 263, Zus.) 128 Hegel verdeutlicht diesen Gedanken im Vergleich mit „unvollkommenen Staaten“ (GPR, § 260, Zus.), solchen „des klassischen Altertums“ (ebd.), dem Platonischen (vgl. GPR, § 262) sowie den orientalischen (ebd.). Erstere bestimmt er als diejenigen, „in denen die Idee des Staates noch eingehüllt ist und wo die besonderen Bestimmungen derselben nicht zu freier Selbstständigkeit gekommen sind“ (GPR, § 260, Zus.). Gerade weil diese der Subjektivität ihr Recht als Mensch mit (freiem) Willen verwehren, hat dies auch Konsequenzen für den Staat selbst; die Untertanen können nicht eine entsprechende Staatsbürgergesinnung ausprägen, wenn dieser keine wahrhafte Allgemeinheit darstellt. Als Folge ist ein solcher Staat, der primär mit Gewalt bzw. Unterdrückung seines Volkes herrschen muss, instabiler als ein seinem Begriff gerecht werdender Staat, den die Bürger in Freiheit affirmieren. In den Gemeinwesen der Griechen „findet sich allerdings schon die Allgemeinheit vor, aber die Partikularität war noch nicht losgebunden und freigelassen und zur Allgemeinheit, d. h. zum allgemeinen Zweck des Ganzen zurückgeführt“ (GPR, § 260, Zus.). Zwar gab es in der Polis eine von den Bürgern geteilte Lebensweise und insofern stellte sie eine wahrhafte Allgemeinheit dar; allerdings waren die Einzelnen völlig in die geteilte Sitte eingebunden und konnten sich insofern kaum individuell entwickeln und betätigen. Vor allem die Liebe, die Hegel mit der Familie neben der bürgerlichen Gesellschaft als die zwei zentralen Orte der Betätigung der Subjektivität nennt, hatte kaum den Stellenwert der Selbstfindung im anderen. Hegels Deutung zufolge besteht der Mangel des Platonischen sowie der orientalischen Staaten darin, dass „die Obrigkeit noch den Individuen die Geschäfte zuweist“ (GPR, § 262, Zus.) und dies in letzteren Staaten qua Geburt geschieht. Beide beschränken also das Recht der Subjektivität in der ökonomischen Sphäre.
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Natur ihre Gesetze sowie ihre Interessen untergeordnet und davon abhängig sind; aber andererseits ist er ihr immanenter Zweck und hat seine Stärke in der Einheit seines allgemeinen Endzwecks und des besonderen Interesses der Individuen, darin, daß sie insofern Pflichten gegen ihn haben, als sie zugleich Rechte haben.“ (GPR, § 261)
Die Bestimmung des Staates als äußerer Notwendigkeit wurde für die Sphäre der Ökonomie bereits erläutert: Er nimmt ein die Privatinteressen regulierendes Verhältnis ein und tritt ihnen auf dieser Ebene zunächst als Zwang gegenüber. Auch hinsichtlich der Institution der Familie ist diese evident abhängig von den Gesetzen des Staates; das Recht kann beispielsweise bestimmten Paarkonstellationen die Möglichkeit der Eheschließung verbieten und sich insofern reglementierend und beschränkend auf das Privatleben seiner Bürger beziehen. Das Gewaltmonopol, das sich alle anderen Sphären der Gesellschaft unterordnet, ist die höhere Macht, deren Recht die Betätigungsformen der Subjektivität formt und somit bestimmt. Andererseits besteht die Besonderheit der modernen Staaten gerade darin, dass es kein einseitiges Subordinationsverhältnis zwischen Einzelnen und Allgemeinen gibt, sondern das besprochene Wechselverhältnis, in dem beide Seiten in unterschiedlicher Weise voneinander abhängig sind. Der Staat als Realisation des Geistigen bzw. der Vernunft ist „ihre [der Familie sowie der bürgerlichen Gesellschaft, I. S.] in sie scheinende objektive Allgemeinheit“ (GPR, § 263), die ihnen nicht von außen oktroyiert wird, die sie vielmehr selbst leben. Beide Seiten stehen sich nicht getrennt gegenüber, sondern sie teilen einen gemeinsamen Zweck: Das Vorhaben des Staates besteht darin, „ihr [das der Personen, I. S.] Wohl, das zunächst jeder für sich besorgt, das aber schlechthin eine allgemeine Seite hat, zu befördern, die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten“ (Enz. III, § 537), sodass die beiden Sphären dem Staat nicht einfach untergeordnet sind, sondern eine Interessensidentität zwischen den beiden Seiten besteht – die sich letztlich kaum sinnvoll als solche, sich gegenüberstehende Seiten bezeichnen lassen.129
129 Während in Fragen des Krieges Hegels Rangordnungsverhältnis eindeutig zugunsten des Staates aufgelöst zu sein scheint, wird hier ein Entsprechungsverhältnis angedeutet, das sich kaum mit seinen Ausführungen zum Krieg widerspruchslos versöhnen lässt: In Kriegszeiten fordert Hegel die Aufopferung der Individuen ohne die Prämisse, dass der Krieg allein ein solcher zum Zwecke der Verteidigung der gemeinsamen vernünftigen Lebensgrundlagen darstellt. Die im Alltäglichen postulierte Interessensidentität zwischen Staat und Bürger wird also in extremen Situationen einseitig aufgelöst in Richtung eines Vorrangs der staatlichen Existenz; das Subjekt als Familienmitglied und Marktteilnehmer bzw. dessen Wohl ist dann nicht länger bestimmendes Moment des Staates. Das Verhältnis von diesen Ausführungen zur Verwirklichung des Rechts auf Subjektivität sowie der geforderten Opferung dieser in Ausnahmestellen stellt meines
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Es gilt nun, sich einem weiteren Aspekt des Freiheitsbegriffes zu widmen. Während beispielsweise Kiesewetter als Gegner Hegels meinen Ausführungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Freiheit insoweit zustimmen dürfte, als er konstatiert, dass Hegel die Freiheit der Bedürfnisbefriedigung in der ökonomischen Sphäre befürwortet, bestreitet er vehement jegliche Form der politischen Freiheit in Hegels Staat (vgl. Kiesewetter 1995, S. 113). Für Ritter hingegen ist, wie deutlich wurde, Hegels Philosophie eine der Freiheit – und zwar sowohl bezüglich der ökonomischen als auch der politischen Rechte des Individuums. An der Stelle, an der Hegel explizit von „politische[r] Freiheit“ (Enz. III, § 539, Anm.) und nicht von deren konkreter Ausgestaltung spricht, wendet er sich keineswegs gegen diese, sondern er beklagt, dass es „zum Teil üblich geworden [ist, I. S.], Verfassung nur die Seite des Staats zu nennen, welche eine solche Teilhabe jener Individuen an den allgemeinen Angelegenheiten betrifft“ (ebd.). Hegels Kritik an dieser Vorstellung lässt sich meines Erachtens so zusammenfassen, dass ihr ein zu enger Begriff von „Verfassung“ zugrunde liegt: Ihm zufolge ist hierunter „die Bestimmung der Rechte, d. i. der Freiheiten überhaupt, und die Organisation der Verwirklichung derselben“ (ebd.) zu verstehen, sodass die politische Seite der Freiheit „auf jeden Fall nur einen Teil derselben ausmachen kann“ (ebd.). Keineswegs liegt hier also ein Verwerfen aller politischen Partizipationsformen vor, sondern seinem Verständnis zufolge sind alle dem Bürger verliehenen Rechte und deren Implementierung ins Staatshandeln Teil der Verfassung; was die unterschiedlichen Aspekte der Freiheit in Hegels Staat freilich keineswegs negiert, sondern vielmehr bekräftigt. Eine gewisse Skepsis gegenüber der Adäquanz von Beteiligungsformen wie ständischen Organisationen und der Institution der Öffentlichkeit haben zwar durchaus ihr Recht – dass Hegel es aber als eine wesentliche Aufgabe ansieht, die Menschen auch durch ihr Handeln in den Staat zu integrieren und entsprechende, ihm offenbar adäquat erscheinende Partizipationsformen entwickelt, lässt sich nicht bestreiten. Das Prinzip des Rechts der Subjektivität bzw. die Freiheit ist das Gestaltungsprinzip des Hegelschen Staates, so sehr man die konkrete Ausgestaltung auch kritisieren mag. Der Fürst: Garant der Verfassung und Kulminationspunkt der einheitlichen Staatspraxis Die Institution des Fürsten soll kurz aufgegriffen werden, da sie den größten Angriffspunkt der Hegel-Kritiker darstellt. Im Folgenden möchte ich die These vertreten, dass Hegel mit dem Fürsten keinesfalls einen besonders ausgeprägten kogniti-
Erachtens eine große Leerstelle in Hegels Theorie der Selbstverwirklichung dar, die auch kaum widerspruchsfrei gefüllt werden kann.
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ven Status dieser Herrscherperson verbindet, sondern primär die Exekution des einheitlichen Staatswillens; nicht das ausgeprägte politische Wissen und Bildung, sondern der Vollzug des Aktes der letzten Entscheidung ist das Kennzeichnende dieser Institution. Insofern rechtfertigt dieses Element also keineswegs den Verdacht des totalitären Staates, in dem die Individuen den Anweisungen des Monarchen untergeordnet sind. In der Tat scheint die Vorstellung einer Monarchie als bestes Regime – und diese als erbliche (vgl. GPR, § 280) – heute veraltet zu sein. Dennoch soll unvoreingenommen überprüft werden, was dem Philosophen zufolge für diese Staatsform spricht, um die Plausibilität seiner Darlegung immanent beurteilen zu können. Wie bereits gesehen, fasst Hegel den Staat als einheitlichen Organismus mit einem Staatswillen, der letztlich auch in den unterschiedlichen Gewalten und Institutionen präsent ist. Die Institution des Fürsten wäre falsch verstanden, würde man seine Person fassen als alleiniges Subjekt, in dem Staatsgesinnung und -praxis verwirklicht werden. Der „Zweck[] des Ganzen“ (GPR, § 278, Anm.) ist nicht allein im Monarchen präsent, sondern auch und zuvörderst in der Gesinnung und dem Handeln aller Staatsagenten. Es existiert also keine Identität zwischen Fürst und Staat im Sinne einer absolutistischen Ausprägung, bei der der Wille des Monarchen im Staat institutionalisiert ist; es scheint eher umgekehrt zu sein: Der Fürst verkörpert den ihm vorgegebenen Staatswillen. Hegel plädiert für eine „konstitutionelle[] Monarchie“ (GPR, § 279, Zus.), in der der Fürst das „Moment der letzten sich selbst bestimmenden Willensentscheidung“ (GPR, § 279, Anm.) darstellt.130 Diese Termini wie „entscheiden“, „beschließen“ (GPR, § 279, Anm.; vgl. auch Enz. III, § 542 sowie ebd. § 544, Anm.) oder die Bezeichnung als „Subjektivität des Entscheidens“ (GPR, § 279, Anm.) finden im Zusammenhang mit dieser Institution ständig Verwendung; tatsächlich wird an keiner Stelle, in der vom Fürsten die Rede ist, positiv auf dessen Wissen Bezug genommen. Dieser Eindruck wird auch dadurch bestätigt, dass Hegel des Monarchen Bildung – sprich also das Bewusstsein von den Staatsnotwendigkeiten, das bei all den anderen Staatsbediensteten von zentralem Stellenwert ist – explizit als gleichgültig erklärt (vgl. GPR, § 280, Zus.).131 Der Fürst
130 Neben dem Begnadigungsrecht, bei dem er die alleinige Entscheidung zu haben scheint (vgl. GPR, § 282), ernennt der Fürst die Regierung (vgl. GPR, § 283), ist entsprechend der von Hegel abgelehnten Vorstellung einer strikten Gewaltenteilung sowohl an der Regierungsgewalt (vgl. Enz. III, § 542) sowie an der gesetzlichen (vgl. Enz. III, § 544 Anm.) beteiligt, im Außenverhältnis Oberbefehlshaber (vgl. GPR, § 329) und zugleich exklusiv dafür zuständig, „Krieg und Frieden und andere Traktate zu schließen“ (GPR, § 329). 131 Klaus Vieweg ist meiner Kenntnis zufolge der einzige Forscher, der diesen Umstand ebenfalls hervorgehoben hat (vgl. Vieweg 2012, S. 422).
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zeichnet sich nicht durch einen besonderen reflexiven Status aus, sondern durch das Verfügen über die letzte Entscheidungsgewalt; dieses politische Element ist also auf der Ebene des Staatshandelns zu verorten, was im Gegensatz zu den anderen Institutionen, die politisches Wissen und Praxis in sich vereinen, als Gegenüberstellung verstanden werden muss. Ein zweites Merkmal dieser Institution besteht darin, dass dieses ihm zugesprochene Entscheiden mancher Materien – zumindest im Regelfall –132 nicht den Cha-
132 Nicht eindeutig ist dies in der Kriegsfrage: Wie deutlich wurde, spricht er dem Fürsten diejenigen Gesetzesmaterien zu, die das „Auftreten und Handeln des Staats als Individuums betreffen“ (Enz. III, § 544), wobei er hier in Klammern „Krieg und Frieden“ (ebd.) erwähnt. Allgemein in Bezug auf die Legislative wurde bereits ausgeführt, dass diese Unterscheidung in dieser Eindeutigkeit in der Praxis kaum je vorzuliegen scheint bzw. die Abgrenzung, dass eine Frage rein den Staat als einheitlichen Willen tangiert, kaum vorzunehmen ist. Was nun speziell seine Zuständigkeit in Kriegsfragen anbelangt, gibt es meines Erachtens zweierlei Aspekte zu berücksichtigen: Zuvörderst muss beachtet werden, dass es nicht eindeutig ist, ob Hegel hier allein von der Unterzeichnung eines entsprechenden Vertrages spricht, ohne ihm dabei eine Entscheidungsbefugnis zuzusprechen, oder ob er tatsächlich auch darüber bestimmt, ob bspw. Frieden oder ein anderer völkerrechtlicher Vertrag („Traktate“) geschlossen wird. Im Sinne des Setzens des I-Punktes wäre die erste Interpretation zutreffend; jedoch schließt er die ständischen Institutionen explizit von einer Zuständigkeit in außenpolitischen Fragen aus und gibt auch an keiner anderen Stelle der Enzyklopädie oder der Rechtsphilosophie Auskunft darüber, wer einen entsprechenden Beschluss fällt, den der Fürst dann allein umzusetzen bzw. zu unterschreiben hätte – diese beiden Punkte lassen meines Erachtens die Deutung einer tatsächlichen inhaltlichen Entscheidungsbefugnis plausibler erscheinen. Wenn dies zutrifft, stellt sich die Frage, ob diese gerechtfertigt werden kann: Weswegen soll einem einzelnen Menschen kraft seines Amtes die Befehlsgewalt über essentielle Fragen von Krieg und Frieden zugesprochen werden? Diese weitreichende Zuschreibung kann man nur dann nachvollziehen, wenn sie letztlich doch zu einer rein formellen Entscheidung darüber wird, dass Hegel von einer Eindeutigkeit der Beantwortung im Lichte der vernünftigen Allgemeinheit ausgeht. Der Fürst als Repräsentation des Staatswillens würde diesem Verständnis zufolge nur deduzieren, was die Staatsräson und damit die Interessen des Gemeinwesens vorgeben. In diesem Sinne wäre der Monarch nicht der Carl Schmittʼsche Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet, sondern eher der Richter Montesquieus, der „en quelque facon nulle“ ist, also keine autonome politische Entscheidungsgewalt besitzt. Fraglich ist freilich, ob diese Klarheit über die Beantwortung solcher Fragen tatsächlich in dem in der Prämisse angenommenen Sinne jemals herrschen kann. Der Fürst wäre dieser Deutung zufolge ein Garant des Staatswohls auch im Ausnahmezustand. Der ideale Fürst könnte mit
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rakter einer Richtlinienkompetenz bzw. einer inhaltlichen Gestaltungsmacht hat, sondern vielmehr formeller Natur ist (vgl. auch Bloch 1972, S. 249). Dies wird deutlich an Hegels Charakterisierung des Aktes des Beschließens sowie an seinen Aussagen über die Person des Monarchen selbst: Die Momente der partikularen Subjektivität bzw. der Persönlichkeit dürfen keinerlei Rolle bei der Ausübung der Staatsgeschäfte spielen; der Monarch soll nicht „willkürlich“ (GPR, § 279, Zus.) handeln, sondern er ist „an den konkreten Inhalt der Beratungen gebunden, und wenn die Konstitution fest ist, so hat er oft nicht mehr zu tun, als seinen Namen zu unterschreiben. Aber dieser Name ist wichtig: es ist die Spitze, über die nicht hinausgegangen werden kann“ (GPR, § 279, Zus.). Der Fürst verkörpert also kraft seines Amtes den einheitlichen Staatswillen, jedoch bestimmt er ihn nicht inhaltlich. Vielmehr stellt er das ausführende Organ der Beschlüsse aller Staatsinstitutionen dar; nur so lässt sich auch erklären, weswegen die Bildung bzw. das Wissen des Monarchen um die Staatsnotwendigkeiten keine Rolle spielen soll. In den Vorlesungen beschreibt Hegel, dass es eines Ministeriums bedarf, dessen Aufgabe in der Information des Fürsten über den Inhalt der Gesetze besteht, da das staatliche Oberhaupt dieses zur Grundlage seiner Entscheidung machen soll und dies gerade nicht „aus sich nehmen“ könne (vgl. GSGPR, § 283 Anm., S. 685). Seine Funktion ist also eine Art Garant der Verfassung, denn wenn die Staatsräson gefestigt ist, oder – wie es an anderer Stelle heißt – „bei einer vollendeten Organisation“ (vgl. GPR, § 280, Zus.) beschränkt sich sein Amt darauf, „den Punkt auf das I“ (GPR, § 280, Zus.) zu setzen, wie es an der berühmten Stelle heißt.133
seiner alleinigen Entscheidungsbefugnis tatsächlich eher als manch andere Staatsinstitutionen, die ihrer Bestimmung nach immer auch andere Gesichtspunkte in ihrem Handeln berücksichtigen müssen, für die alleinige Ausrichtung der Entscheidung an der Verfassung bürgen. Ökonomische Interessen werden mit dieser Kompetenzzuschreibung als Kriterium der Beantwortung der Kriegsfrage evident ausgeschlossen. Dem Fürsten die alleinige Entscheidung zuzusprechen, ist auch keineswegs damit zu verwechseln, dass dieser Staat leichtfertig Krieg führt am Beispiel Englands führt Hegel aus, dass häufig „ganze Nationen noch mehr wie ihre Fürsten enthusiasmiert und in Leidenschaft gesetzt werden können“ (GPR, § 329, Zus.), sodass das Volk das entscheidende Organ zum Krieg drängt (vgl. ebd.). Gegen einen solchen Einfluss scheint der Monarch Hegels Ansicht zufolge eher gefeit zu sein. 133 Diese Deutung stützt eine Passage, in der Hegel den Inhalt des monarchischen Gewissens mit der Verfassung und den Gesetzen gleichzusetzen scheint: Das „an und für sich Allgemeine [besteht, I. S.] in subjektiver Rücksicht in dem Gewissen des Monarchen, in objektiver Rücksicht im Ganzen der Verfassung und in den Gesetzen“ (GPR, § 285). „Einen Konflikt zwischen dem Willen des Monarchen und dem Verfassungsganzen hält Hegel offenbar für undenkbar“ (Schnädelbach 2000, S. 315): Der ideale Fürst hat
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Die innere und äußere Symbiose von Staat und Religion und die Pluralität der Gemeinden auf Basis der Religionsfreiheit Für Hegel macht sich die vernünftige Praxis des idealen Staates noch an einem weiteren Moment fest, das von den Vertretern der Machtapologie-These erstaunlicherweise kaum aufgegriffen wurde:134 dem Verhältnis der Hoheit zur Religion.135 Die Frage nach der Bestimmung dessen wirft der Philosoph wie folgt auf: „Der Staat ist die wahrhafte Weise der Wirklichkeit; in ihm kommt der wahrhafte, sittliche Wille zur Wirklichkeit und lebt der Geist in seiner Wahrhaftigkeit. Die Religion ist das göttliche Wissen, das Wissen des Menschen von Gott und Wissen seiner in Gott. Dies ist die göttliche Weisheit und das Feld der absoluten Wahrheit. Nun gibt es eine zweite Weisheit, die Weisheit der Welt, und um deren Verhältnis zu jener göttlichen Weisheit fragt es sich.“ (VPhR, S. 236)
Diese genauere Fassung ist insofern aufschlussreich, als Hegel beide Momente des Verhältnisses definiert und so zugleich Auskunft darüber gibt, welche Bestimmun-
in seinem innersten Empfinden die Regelungen des Staates und agiert keinesfalls als besonderes Individuum. Auf die Partikularität des Monarchen kommt es nur dann an, wenn der Staat „noch kein völlig ausgebildeter oder kein wohl konstruierter“ (vgl. GPR, § 280, Zus.) ist. „In einer wohlgeordneten Monarchie kommt dem Gesetz allein die objektive Seite zu“ (GPR, § 280, Zus.), sodass der Monarch tatsächlich nur „die Spitze formellen Entscheidens“ (GPR, § 280, Zus.) darstellt. Letztlich verbürgt er in seiner Person durch die Unterzeichnung der staatlichen Beschlüsse deren Vernünftigkeit bzw. Übereinstimmung mit der Verfassung – und scheint in funktionierenden Staatswesen nicht weit von der Rolle des Bundespräsidenten entfernt zu sein. 134 Postuliert man einen solch engen Konnex zwischen Staat und Religion, drängt sich unmittelbar die Frage nach staatlichem „Tugendterror“ auf, wie sie in diesem Punkt auch diskutiert wird. Dass hier zumindest die Gefahr besteht, eine staatlich verordnete Gesinnung den Individuen vorzuschreiben – auch wenn diese, wie zu zeigen sein wird, bei Hegel abgewehrt wird – und/oder die Religion sich in den Dienst des Staates zu stellen hat, wird von den behandelten Kritikern allein von Kiesewetter bemerkt (vgl. Kiesewetter 1995, S. 124 ff.). 135 Ich habe mich dafür entschieden, die Religion hier abzuhandeln und sie im Kapitel über den absoluten Geist nochmals gemeinsam mit der Kunst aufzugreifen, ohne ihr jedoch dort einen eigenen Abschnitt zu widmen. Da das Verhältnis von Staat und Religion eminent wichtig für seine Staats- und Sittlichkeitskonzeption ist und sie in der Weise, wie sie in dieser Arbeit unter der Perspektive des absoluten Geistes interessiert, zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der Kunst aufweist, scheint dies gerechtfertigt.
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gen an den beiden Polen seines Erachtens aufeinander bezogen werden müssen: Sowohl die Religion als auch der Staat werden hier nach ihrem epistemischen Zustand charakterisiert, wobei das Entscheidende darin zu sehen ist, dass beide als Wahrheit verstanden werden. Hinsichtlich des Staates ist dieses Verständnis bereits bekannt: Die ideale Macht ist für Hegel die Verwirklichung der Vernunft; in ihm vollendet sich die Sittlichkeit, die in der Familie ihren Ausgangspunkt hat, sich in der bürgerlichen Gesellschaft verliert und einer Rückführung in einer diese Sphäre begrenzenden Hoheit bedarf. Auch die Religion wird von Hegel mit den Termini der Wahrheit und des Wissens charakterisiert, was zunächst frappiert, da man intuitiv vor allem die Form des Glaubens und der Empfindung der Religion zuordnen würde. Tatsächlich spricht er auch an anderer Stelle davon, dass das religiöse Bewusstsein durch „Gefühl, Anschauung, Vorstellung“ (Enz. III, § 552, Anm.; vgl. auch Enz. III, § 564 sowie GPR § 270, Anm.) gekennzeichnet ist, was jedoch keinen Widerspruch zu der zitierten und zahlreichen anderen Stellen, in denen er die Wahrheit und das Wissen hervorhebt, darstellt: Erstens sind für den Philosophen Zustände wie Gefühl und Anschauung – analog zur Aristotelischen Stufenleiter des Wissens – kein Gegensatz zum Wissen; es soll, so Hegel, „Glaube dem Wissen nicht entgegengesetzt“ (Enz. III, § 554) werden, denn Glaube sei „eine besondere Form“ von Wissen, die sich dann im „begreifenden Denken“ (Enz. III, § 564 Anm.; vgl. auch VPhR, S. 116) bzw. in der Philosophie vollendet.136 Dies stellt nämlich die zweite Seite der Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs dar: Dass es sich bei der Religion um das Wissen des Menschen von Gott und um die absolute Wahrheit handelt, ist meinem Verständnis zufolge eine Aussage Hegels aus der Perspektive der Philosophie: Möchte man bestimmen, welchen Status die Religion objektiv hat, so ist sie als ebendiese epistemische Stufe zu kennzeichnen; dies stellt jedoch keinen Gegensatz dazu dar, dass sie, die Hegel zufolge wahr ist, empirisch in der Form des Gefühls, der Anschauung und der Vorstellung auftritt.137 Glaube
136 Es ist deswegen auch nicht zutreffend, wie Bloch ausführt (vgl. Bloch 1972, S. 315), dass Hegel gegen das religiöse Gefühl an sich polemisiert; der höchste epistemische Zustand ist zweifelsohne der des Wissens, aber die Empfindung ist der Religion durchaus angemessen – und schließlich auch die Form, in der sie von der breiten Masse gelebt wird (vgl. Erläuterungen im ff. sowie Kapitel 4). Dass er den „frommen Irrationalismus“ (Bloch 1972, S. 316) ablehnt, ist hingegen evident zutreffend. 137 „Die Menschen haben über ihn [den Zusammenhang zwischen Staat und Religion, I. S.] ein Bewußtsein, aber nicht wie er der absolute Zusammenhang ist und in der Philosophie gewußt wird, sondern sie wissen ihn überhaupt und stellen ihn sich vor.“ (VPhR, S. 237)
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bedeutet die Annahme, dass Gott wahr ist und die Philosophie, so Hegel, weiß dies.138 Die Frage nach dem Verhältnis ist nun also näher zu fassen nach der zwischen weltlicher und göttlicher Wahrheit, wobei hier vor allem zwei Aspekte auszuführen sind. Nach Hegel hat der Staat Religionsfreiheit, also die Pluralität der Glaubensrichtungen, zu gewähren und zweitens sieht er das Verhältnis dadurch charakterisiert, dass der Staat als Verwirklichung der Sittlichkeit mit dem Inhalt der Religion identisch ist, sodass also gar nicht zwei einander widersprechende – was schlicht nicht möglich wäre – oder zwei sich ihrem jeweiligen Charakter nach nicht tangierende Wahrheiten zueinander in Beziehung gesetzt werden; wie diese These von der Identität gemeint ist und ob sie nicht im Widerspruch zur Religionsfreiheit steht, muss natürlich erläutert werden. Zunächst also zur ersten, der institutionellen Verhältnisbestimmung, die Hegel zufolge „einfach“ (GPR, § 270, Anm.) zu treffen sei: „Es ist in der Natur der Sache, daß der Staat eine Pflicht erfüllt, der Gemeinde für ihren religiösen Zweck allen Vorschub zu tun und Schutz zu gewähren“ (GPR, § 270, Anm.), sodass also keineswegs allein die Ausübung der Religion rechtlich verbürgt wird, sondern der Staat diese durchaus aktiv fördert. Hierbei bezieht er explizit alle Religionen ein, „denn auf den Inhalt, insofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht, kann sich der Staat nicht einlassen“ (GPR, § 270, Anm.).139
138 Das Verhältnis von Religion und Philosophie bzw. die Aufhebung der Form der ersteren im begreifenden Denken wird im nächsten Kapitel näher betrachtet; hier geht es allein um die Erläuterung dessen, inwiefern aus Hegels Sicht durchaus Religion als Wahrheit und zugleich der Glaube als das Charakterisierende der empirisch auftretenden Religiosität gefasst werden kann. 139 Diese Begründung durch den Verweis auf „das Innere“, auf das sich die Religiosität bezieht, ist keineswegs so banal und selbstverständlich, wie sie vom Philosophen offenbar noch verstanden wurde; schließlich ist es ein wesentlicher Aspekt der Hegelschen Kritiker, dass sie ihm vorwerfen, der totalitäre Staat würde die Individuen bis zu ihrem Gewissen hin in Gänze erfassen. In diesem Nebensatz und an zahlreichen anderen Stellen, auf die im nächsten Unterpunkt eingegangen wird, hebt er das „Recht der Innerlichkeit“ (GPR, § 270, Zus.) hervor, in dem den Bürgern zugestanden wird, in ihrer Moralität und so eben auch in Fragen der Religion einen Freiheitsraum gegenüber dem Staat zu besitzen, auf den er keinerlei Zugriffsrecht hat. Hegel geht sogar soweit, dass sein Staat auch Gemeinden anerkennen soll, die sich aus religiösen Gründen einzelnen Gesetzen widersetzen, wie er am Beispiel der Quäker ausführt (vgl. GPR, § 270, Anm.); angesichts der Bedeutung, die Hegel der Bereitschaft der Untertanen zu Kriegsdiensten zumisst, ist dieses zugestandene Recht durchaus bemerkenswert. Allerdings, so muss eingeschränkt werden, kommt es bei der möglichen Duldung einer solchen Abweichung „freilich auf die Anzahl“ (GPR, § 270, Anm.) an: Verweigern zu viele den
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Während die bisherigen Bestimmungen mit einem heute gängigen Verständnis der Religionsfreiheit übereinstimmen dürften, gibt es ein weiteres Moment, das durchaus problematisch erscheint: Hegel hält es für legitim und sogar für geboten, als Staat „von allen seinen Angehörigen zu fordern, daß sie sich zu einer Kirchengemeinde halten (GPR, § 270, Anm.); eine negative Religionsfreiheit im Sinne eines Bekenntnisses zur Konfessionslosigkeit scheint nicht vorgesehen zu sein. Dies mag zunächst erstaunen: Weswegen präferiert Hegel sogar die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die bei einzelnen Gesetzen den Gehorsam verweigert, gegenüber dem Agnostizismus oder Atheismus? Um hierauf eine Antwort geben zu können, muss meines Erachtens der zweite Aspekt der Verhältnisbestimmung, nämlich die Identität im Inhalt von Religion und Staat untersucht werden; aus dieser wird sich ergeben, dass die Religion – auch wenn sie nicht darin aufgeht (vgl. Schick, in: Arndt u. a. 2009, S. 25 ff. sowie Halbig, in: Brantl u. a. 2009, S. 194)140 – eine nützliche Funktion für den Staat innehat. Zuvor soll jedoch noch ein anderer Aspekt des Instituts der Religionsfreiheit erwähnt werden, der zur bislang besprochenen Anerkennung aller religiöser Gemeinschaften durch den Staat dasselbe Verhältnis von der anderen Seite ausdrückt: Die Gewährung des Schutzes bis hin zur aktiven Förderung der Gemeinschaften impliziert im Umkehrschluss auch, dass die Religion „aus dem Innern in das Weltliche“ (GPR, § 270, Anm.) tritt und sich damit „unmittelbar unter seine [des Staates, I. S.] Gesetze“ (GPR, § 270, Anm.) stellt. Nicht nur die Religion wird durch den Staat anerkannt, sondern umgekehrt erhält eine solche Hoheit auch ihre Legitimation durch die Religion, wenn sie sich auf seinem Gebiet betätigt und somit seinem Gewaltmonopol unterstellt.141 Das zweite Moment der Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Religion besteht in deren Ineinssetzung: „Im allgemeinen ist die Religion und die Grundlage des Staates eins und dasselbe; sie sind an und für sich identisch. [...]. Es ist aber beides auch verschieden [...] (VPhR, S. 238), so führt er scheinbar widersprüchlich aus. In der Enzyklopädie heißt es, dass beides untrennbar ist (vgl. Enz. III, § 552, Anm.) und es eine „törichte Vorstellung [ist, I. S.], ihnen ein getrenntes Gebiet an-
Militärdienst, würde das letztlich die Existenz des Staates gefährden, sodass dieses Recht selbstredend versagt werden müsste. 140 Die Religion wird nicht, wie herauszuarbeiten ist, „zur Dienerin der säkularisierten Staatsinteressen“ (Kiesewetter 1995, S. 127); vielmehr besteht ein Verhältnis der wechselseitigen Angewiesenheit, das sich nicht in eine Richtung hin auflöst. 141 Kiesewetter hat diesen Punkt scharf kritisiert (vgl. Kiesewetter 1995, S. 126), obwohl Hegel hier doch allein eine selbstverständliche Wahrheit auszusprechen scheint: Agiert eine Religionsgemeinschaft auf Basis der ihr verliehenen Rechte durch den Staat und anerkennt den ihr gesteckten Rahmen, so bejaht sie damit die Hoheit, die ihr die Lizenzen verleiht.
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weisen zu wollen“ (ebd.).142 So sehr es „der ungeheure Irrtum unserer Zeiten gewesen [ist, I. S.], diese Untrennbaren als voneinander trennbar, ja selbst als gleichgültig gegeneinander ansehen zu wollen“ (Enz. III, § 552), warnt Hegel jedoch auch vor der falschen Auffassung einer Einheit von Staat und Kirche (vgl. u. a. GPR, § 270, Anm.). Was also ist mit der Behauptung der Identität gemeint? Und wie lässt sich die Einheit von Religion und Staat bzw. die Kennzeichnung als Grundlage richtig fassen bzw. in welcher Form hat Hegel sie abgelehnt? Meinem Verständnis zufolge hängt Hegels Auffassung von der inhaltlichen Übereinstimmung eng mit der These zusammen, dass der Staat eine gewusste Allgemeinheit darstellt, die also nur durch eine entsprechende Gesinnung der Bürger ihrem Begriff adäquat wird. Die behauptete Identität fasst Hegel folgendermaßen zusammen: „Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“ (VPhR, S. 237). In den Ausführungen sowohl der Vorlesungen, der Grundlinien wie der Enzyklopädie bezieht er sich, wie bereits im Eingangszitat, auf einen epistemischen Status, nämlich auf das Wissen und das Bewusstsein vom Begriff der Freiheit und der gelebten Sittlichkeit: „[D]ie Religion ist Wissen der höchsten Wahrheit, und diese Wahrheit näher bestimmt ist der freie Geist. In der Religion ist der Mensch frei vor Gott; indem er seinen Willen dem göttlichen gemäß macht, so ist er dem höchsten Willen nicht entgegen, sondern er hat sich selbst darin; er ist frei, indem er im Kultus das erreicht hat, die Entzweiung aufzuheben. Der Staat ist nur die Freiheit in der Welt, in der Wirklichkeit. Es kommt hier wesentlich auf den Begriff der Freiheit an, den ein Volk in seinem Selbstbewußtsein trägt; denn im Staat wird der Freiheitsbegriff realisiert, und zu dieser Realisation gehört wesentlich das Bewußtsein der an sich seienden Freiheit. Völker, die nicht wissen, daß der Mensch an und für sich frei sei, leben in der Verdumpfung sowohl in Ansehung ihrer Verfassung als ihrer Religion.“ (VPhR, S. 236)
Hegel erläutert hier den Begriff der Freiheit für den Bereich der Religion sowie dem des Staates, um abschließend auf das Verhältnis der beiden Sphären zueinander zu sprechen zu kommen. Auch die Religion wird aus der Perspektive der Philosophie als Wahrheit gekennzeichnet, und zwar näher als freier Geist, wobei beim Verständnis dessen eine andere Textstelle weiterhilft, die verdeutlicht, inwiefern die Religion für Hegel ein „Selbstverhältnis des Geistes“ (Jaeschke 2010, S. 455) in mehrfacher Hinsicht darstellt: In dieser spricht Hegel davon, dass „der Geist [...]
142 „Aber der Form nach, d. i. für das Denken und Wissen – und Religion und Sittlichkeit gehören der Intelligenz an und sind ein Denken und Wissen –, kommt dem religiösen Inhalte, als der reinen an und für sich seienden, also höchsten Wahrheit stehenden Sittlichkeit zu; so ist die Religion für das Selbstbewußtsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates.“ (Enz. III, § 552, Anm.)
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nur Geist [ist, I. S.], insofern er für den Geist ist [...]“ (Enz. III, § 564), sodass also ein Bewusstsein der Menschen von Gott nötig ist, um als freier zu sein. Deswegen wendet sich der Philosoph auch vehement gegen die Vorstellung, dass die Menschen Gott nicht erkennen könnten (vgl. ebd. Anm.). Die Freiheit tritt hier noch in einem weiteren Sinn auf, nämlich in Bezug auf den Gläubigen, der sich selbst durch das Wissen von Gott und den entsprechenden geistigen und praktischen Konsequenzen zu einem Freien bildet – zu glauben, also auch den Worten Gottes zu gehorchen, heißt für Hegel nicht, dass der Mensch seine Vernunftfähigkeit aufgibt, sondern er verwirklicht sich vielmehr durch eigene Willensanstrengung. Durch die Praktizierung seiner Religion in der Gemeinde, dem Kultus, so Hegel, kann der Einzelne die Entzweiung aufheben; er erkennt sich als freies Vernunftwesen und weiß sich als solches als Teil der Welt und geht fort „zum Sichwissen des Menschen in Gott“ (Enz. III, § 564, Anm.).143 Hinsichtlich der Freiheit und des Staats nun wiederholt Hegel die Gedanken zur politischen Gesinnung: Gegenüber der Religion, der Sphäre des absoluten Geistes im Sinne einer Selbstreferenz der Vernunft, ist die Macht „nur“ die Verwirklichung der Freiheit in der Welt. Ein Staat stellt diese aber nicht immer schon in actu dar, sondern er muss seinen Begriff als freier erst verwirklichen, wobei die Herrschaft hier auf ein entsprechendes Bewusstsein der Einzelnen verwiesen ist; nur, wenn diese ein Wissen von sich als Freie haben, wird auch das Allgemeine zu einem gewussten und substantiellen. Fehlt diese politische Gesinnung, sind weder die Menschen als Bürger frei, noch ist der Staat seinem Begriff gemäß. Während dieser Konnex bereits nachvollzogen wurde, geht Hegel hier noch einen Schritt weiter und verknüpft die Notwendigkeit des Wissens von der Freiheit für dessen Realisation auch mit der Religion, die in ihrer „Fortschrittlichkeit“ dem epistemischen Zustand eines Volkes und/bzw. dem des Staates identisch sei (vgl. auch Enz. III, § 552, Anm.).144 Hier nimmt Hegel ein Wechselverhältnis in beide Richtungen an, sprich eine bestimmte Religion bedingt einen entsprechenden Staat
143 „Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott.“ (Enz. III, § 564, Anm.) 144 „Mit dem Bedürfnisse des Rechtes und der Sittlichkeit und der Einsicht in die freie Natur des Geistes tritt der Zwist derselben gegen die Religion der Unfreiheit ein. Es hülfe nichts, daß die Gesetze und die Staatsordnung zur vernünftigen Rechtsorganisation umgeschaffen würden, wenn nicht in der Religion das Prinzip der Unfreiheit aufgegeben wird. Beides ist unverträglich miteinander; es ist eine törichte Vorstellung, ihnen ein getrenntes Gebiet anweisen zu wollen, in der Meinung, ihre Verschiedenheit werde sich gegenseitig ruhig verhalten und nicht zum Widerspruch und Kampf ausschlagen.“ (Enz. III, § 552, Anm.)
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und umgekehrt. Für Hegel kann es eben „nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben.“ (Enz. III, § 552, Anm.), sodass ein Volk ihm zufolge nicht nur eine Staatsverfassung hat, die seinem Bewusstsein entspricht, sondern auch die diesem adäquate Religion. Weswegen für Hegel die Religion die Grundlage des Staates ist – um das Zitat zu Beginn dieses Punktes nochmals aufzugreifen – und weswegen beides untrennbar ist, lässt sich meiner Interpretation zufolge also nur verstehen, wenn man die Bedeutung der politischen Gesinnung der Bürger bereits für den Staatsbegriff herausstellt. Der Hegelsche Staat bedarf einer Bejahung durch seine Bürger, um zu einem sittlichen zu werden; dies kann nicht unbewusst oder durch bloße Gewöhnung bzw. das zufällige Leben auf einem Gebiet vonstattengehen, sondern erfordert ein entsprechendes Bewusstsein. Auf dieser epistemischen Ebene ist also der Zusammenhang zur Religion zu verorten. „Der Staat beruht nach diesem Verhältnis auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen“ (Enz. III, § 552, Anm.),145 wobei – entsprechend der in bestimmter Weise anzunehmenden Einheit – die Grundlage auch umgekehrt ausgedrückt werden kann: „Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor und ist die denkende, d. i. der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit“ (Enz. III, § 552, Anm.), sodass also nicht nur der Staat auf ein religiöses Bewusstsein, sondern umgekehrt auch die Religion auf ein solches und auch auf den Staat selbst verwiesen ist. Da die Religion, sofern sie nicht aus der Perspektive der Philosophie betrachtet wird, primär in der Form des Gefühls und der Vorstellung auftritt, kann sie diese Leistung auch besonders gut erfüllen: Analog dazu, dass die politische Gesinnung bzw. der Patriotismus bei allen Bürgern vorhanden sein sollte, damit der Staat tatsächlich ein wahrhaft Allgemeines sein kann, sollte auch das religiöse Bewusstsein entsprechend seiner Identität zur Sittlichkeit bei allen ausgeprägt sein; gerade dies ermöglicht die Bewusstseinsform der Religion im Gegensatz zur Philosophie: Zwar ist „der Inhalt der Philosophie und der Religion derselbe“ (Enz. III, § 573, Anm.); „[a]ber die Religion ist die Wahrheit für alle Menschen [...]“ (ebd.). Hier deutet sich erneut an, was bereits an anderen Stellen zum Ausdruck kam: Der Philosoph der Selbstverwirklichung differenziert durchaus hinsichtlich des epistemischen Status, den er den Subjekten zubilligt; nicht jeder verwirklicht sich durch ein Bewusstsein
145 „[...] die Substantialität aber der Sittlichkeit selbst und des Staats die Religion ist“ (Enz. III, § 552, Anm.) – hier ist meines Erachtens auch die Antwort zu verorten, weswegen Hegel jegliche religiöse Gesinnung gegenüber der Konfessionslosigkeit bevorzugt: Er schätzt an der Religion die entsprechende Einstellung, auch wenn deren Wertschätzung freilich nicht in dieser staatsnützlichen Funktion aufgeht; Religiosität hat für Hegel vielmehr als absolute Wahrheit an sich einen Wert.
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der an-und-für-sich-seienden Vernunft, sondern für eine große Masse wird offenbar die religiöse Empfindung als die adäquate Realisierung des sittlichen Bewusstseins und damit der eigenen Verwirklichung angesehen.146 Man könnte – eine These, die auch Taylor diskutiert, aber letztlich verwirft147 – „in der Religion eine Art Philosophie-Surrogat für die Armen und Ungebildeten“ (Taylor 1983, S. 638) sehen. Davon ausgehend, muss nun das „Armutsproblem“ nochmals aufgegriffen werden: Die Bedeutung dessen, dass einigen die Möglichkeit der Herausbildung ihrer Vernunft durch das Fehlen materieller Mittel erschwert oder gar verunmöglicht wird, wird so für Hegel geringer, da der Philosoph nicht für jeden die beschwerliche geistige „Arbeit gegen sich selbst“ bis zur höchsten Vernunft vorsieht. Andererseits kommt es hier auch zu einer Verschärfung des Problems, erinnert man sich an die Stellen, an denen er auf die Verhinderung der Ausbildung eines religiösen Gewissens durch großes Elend verweist. Dies begründet Hegel nicht allein mit einer gewissen Verwahrlosung der materiell Ausgeschlossenen, sondern auch mit dem Verhalten der Kirchenrepräsentanten, deren Türen teilweise nicht für die Armen offenstehen würden. Angesichts des nun herausgearbeiteten Stellenwerts, den das Religiöse für den Staat hat, markiert die drohende Exklusion auf diesem Felde also eine weitere Facette des politischen Problems, das die Armut darstellt. Letztlich scheint
146 Viewegs Pathos hinsichtlich der durch Religion und Staat gegebenen „substantiellen Weisen der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung der Menschen“ (Vieweg, S. 466) blendet aus, dass der epistemische Zustand des Wissens bzw. die Form der Wahrheit für die Religion allein aus Sicht des Philosophen zutreffend ist, während die meisten zwar ein religiöses Bewusstsein pflegen, dies jedoch als Empfindung und nicht als gewusstes Verhältnis des Geistes zu sich. 147 Taylors Negation der von ihm aufgestellten These begründet sich zweifach: Erstens lehnt er – wie dies auch mit meiner Deutung (s. o.) übereinstimmt – eine funktionalistische Fassung der Religion, die allein die „Ergebenheit“ (Taylor 1983, S. 638) der Masse gegenüber dem Staat sichert, ab; die Notwendigkeit der Religion sei vielmehr in sich selbst und nicht in der „Minderwertigkeit der Massen begründet, in ihrer Unfähigkeit, die Rationalitäts-Standards einer Elite zu erreichen“ (ebd., S. 639). Das zweite Argument gibt aber ebendieser Bestimmung des Volkes recht: Taylor führt aus, dass in dieser hochkomplexen Gesellschaft eine Spezialisierung nötig ist, also auch nur wenige zu Philosophen werden können (vgl. ebd.). Ihm zufolge ist das keineswegs negativ zu werten, auch die Philosophen seien – wie auch umgekehrt – auf die Gesellschaft angewiesen (vgl. ebd., S. 639 f.). Im nächsten Kapitel soll diese Argumentation nochmals aufgegriffen werden; hier sei nur konstatiert, dass Taylor die Bestimmung der meisten Menschen als zu geringen „Rationalitäts-Standards“ fähig teilt und dies nicht in Zusammenhang mit einem möglicherweise sich ergebenden Problem hinsichtlich deren Selbstverwirklichung bringt.
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die Religion also ambivalent bestimmt zu sein: Einerseits droht auch den von Not Betroffenen der Ausschluss von dieser Form der Sittlichkeit, wenn – wie Hegel beides für möglich hält – sie selbst eine Gesinnung der Bösartigkeit in Gestalt des Pöbels entwickeln oder von manchen Kirchenvertretern ausgeschlossen werden. Andererseits kommt gerade dem Glauben eine große Integrationskraft zu, da er im Gegensatz zur Philosophie aufgrund des ihm eigenen epistemischen Status besonders zugänglich ist. Welches Moment letztlich überwiegt, hat Hegel in seinen Schriften meines Erachtens nicht entschieden. Es gilt nun noch, die Antwort auf die zweite Frage zu präzisieren, nämlich inwiefern Staat und Religion eine Einheit sind, aber andererseits doch zu unterscheiden sind und auch unterschieden werden müssen. Hegel weist hier mehrere Fassungen dessen zurück, dass die Religion die Grundlage des Staates sei, von denen im Folgenden vier kurz aufgegriffen werden sollen, da sie Relevanz für unser Verständnis von Staat und Individuum bzw. speziell der entsprechenden Sittlichkeit haben:148 Erstens ist die Identität nicht so zu verstehen, dass alles Staatliche allein darüber legitimiert wird, dass es Gottes Werk ist; zweitens ist nicht das weltliche Leben an sich zu verwerfen und die religiöse als im Gegensatz zur politischen Gesinnung zu begreifen; drittens ist im Allgemeinen nicht die Gesinnung das Herrschende im Staat und viertens ist jedoch auch die umgekehrte Annahme, dass diese völlig gleichgültig sei, zu verwerfen. Das erste Verständnis ist laut Hegel dasjenige, das am häufigsten in der Vorstellung der Gläubigen präsent ist: die Annahme, „daß die Gesetze, die Obrigkeit, die Staatsverfassung von Gott stammen“ (VPhR, S. 237) bzw. „daß man Gott gehorcht, indem man den Gesetzen und der Obrigkeit folgt“ (ebd., S. 138). Diese Auffassung möchte er nicht in Gänze verwerfen, sie sei „einerseits richtig“ (ebd.), jedoch sind auch zwei Gefahren damit verbunden, weswegen sie nicht in dieser Abstraktion als abschließende Verhältnisbestimmung verstanden werden dürfe. Eine Konsequenz dieser Sichtweise ist evident: Fasst man die Herkunft aller Taten des Staates in dieser Abstraktion als Werk Gottes, so wird schlicht jedes Handeln einer Obrigkeit legitimiert; „der Willkür, der Tyrannei und der Unterdrückung [ist, I. S.] offener Spielraum gegeben“ (VPhR, S. 238), so Hegels Warnung vor einem Unrechtsstaat, dessen Rechtfertigung ihm seine Kritiker stets zuschreiben möchten. Zumeist ist diese Vorstellung damit verbunden, dass sich Gott allein dem Herrscher offenbart,
148 An den angegebenen Stellen – also insbesondere Enz. III, § 552, Anm., GPR, § 270, § 270, Anm. und § 270, Zus. sowie VPhR, S. 236 ff. – entwickelt Hegel eine ausführliche Argumentation gegen bestimmte Vorstellungen und für seine eigene, die sich zum Teil wechselseitig ergänzen; im Folgenden werden hier die wichtigsten für unser Thema herausgegriffen, also keineswegs eine Vollständigkeit der Ausführungen beansprucht.
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sodass damit im Umkehrschluss alle ihm Widersprechenden per se ins Unrecht gesetzt werden. Da aber die vernünftigen Gesetze gerade mit dem Inhalt der Religion zusammenfallen, hält der Philosoph dies für widersinnig; vielmehr ist es Hegel zufolge eminent wichtig, dass auch das Volk den göttlichen Willen erkennt: „[D]ies ist nichts Partikulares, sondern kommt allen zu“ (VPhR, S. 239). Damit, so kann abschließend festgehalten werden, diese Ansicht also richtig ist, muss die Abstraktion, jegliches staatliches Handeln sei Gottes Werk, überwunden und zu der Einsicht fortentwickelt werden, dass dies nur dann der Fall ist, wenn sie im Inhalt – dem Prinzip der Freiheit – identisch sind. In diesem Fall bezieht der Staat jedoch seine Legitimität nicht ausschließlich aus der Religion, sondern ist auch selbstständig ohne diesen Rückbezug gerechtfertigt. Die zweite Überlegung zur Verhältnisbestimmung – der „religiöse Fanatismus“ (GPR, § 270 Anm.) – radikalisiert die Geltung der Religion, verwirft also alles Irdische als Sünde und möchte stattdessen den „Himmel auf Erden, d. h. die Abstraktion des Geistes gegen das Substantielle der Wirklichkeit“ (VPhR, S. 240) realisieren (vgl. auch Halbig, in: Arndt 2009, S. 194). Hegel listet in diesem Kontext die Ehelosigkeit, den Verzicht auf den Erwerb bzw. die Verteuflung der bürgerlichen Gesellschaft und die Kultivierung der Selbstlosigkeit als zentrale Beispiele für diese religiösen Ideale auf (vgl. VPhR, S. 240 f. sowie GPR, § 270, Anm.). Vehement werden diese zurückgewiesen, da damit die Vernunft der Religion und diejenige der Welt einander entgegengesetzt bzw. letztere bestritten wird (vgl. VPhR, S. 241) und weil sie für ihn gleichbedeutend sind mit der Forderung, dass der Mensch „aller Freiheit entsage“ (VPhR, S. 241) – ein unmögliches Ansinnen für einen Philosophen, für den das Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit den Grund für die Affirmation der Welt darstellt. Die Auseinandersetzung mit der dritten Vorstellung ist deswegen bedeutsam, weil nach den bisherigen Ausführungen über die wichtige Rolle der politischen sowie der religiösen Gesinnung die Vorstellung einer Art „Tugendterror“ durch den Hegelschen Staat entstehen könnte. Hegel stellt an dieser Stelle zwei Systeme einander gegenüber, um schließlich in einem zweiten Schritt diese strikte Separierung zu kritisieren, wobei man sich an dieser Stelle bereits in der Auseinandersetzung mit der vierten Auffassung befindet: Das „moderne System“ ist dadurch gekennzeichnet, dass „die Bestimmungen der Freiheit und der ganze Bau derselben auf formelle Weise aufrechterhalten werden, ohne die Gesinnung zu beachten“ (VPhR, S. 244), wobei das andere „das der Gesinnung“ (ebd.) ist, wofür er das Beispiel des Platonischen Staates nennt. Meines Erachtens zieht der Philosoph den scharfen Trennungsstrich zwischen einem „Gesinnungsstaat“ und demjenigen, in dem das Recht herrscht und die Gesinnung als eine private Angelegenheit der Bürger behandelt wird, um die Abgrenzung seines Staatsentwurfes von ersterem deutlich zu machen. So sehr die Religion als Gesinnung der Sittlichkeit und der Patriotismus als geistige Affirmation des Gemeinwesens unabdingbarer Teil seines Konzeptes sind,
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stellt es ebenso ein konstituierendes Moment dar, dass in diesem Staat ein Recht auf Innerlichkeit herrscht. Zum einen ist dies an sich bzw. aus Prinzip erforderlich, da es Bestandteil der Freiheit ist, die Hegel in all ihren Facetten implementieren möchte. Zum anderen scheint es, pragmatisch gedacht, auch schlicht unmöglich, den Bürgern durch Gesetz und/oder Gewalt eine gewünschte Einstellung vorzuschreiben; auf das Denken gibt es letztlich keinen direkten, unmittelbar von außen kontrollierbaren Zugriff – und sollte dieser durch perfide Mittel doch gelingen, stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Wert einer durch Zwang erzeugten Anschauung. Diese Deutung – dass die scharfe Abgrenzung also allein der Abwehr der Vorstellung eines Staates des Tugendterrors dient – stützt auch der Fortgang des Textes, in dem die strikte Trennung in einem zweiten Schritt aufgehoben wird. Wie Hegel ausführt, so ist die Nicht-Beachtung der Gesinnung durch den Staat nicht dahingehend missverstehen, dass diese völlig gleichgültig ist: „Beide Seiten, die Gesinnung und jene formelle Konstitution, sind unzertrennlich und können sich gegenseitig nicht entbehren“ (VPhR, S. 244 f.). Heutzutage, so der Philosoph, herrsche jedoch nach beiden Seiten hin „Einseitigkeit“ (VPhR, S. 245) hinsichtlich dieses Konnexes vor: Entweder bestreitet man jegliche Bedeutung der Innerlichkeit für den modernen Staat oder aber man erklärt diese zum Bestimmenden mit entsprechenden Konsequenzen für das Staatshandeln in diesem Bereich (vgl. ebd.). Hegel argumentiert gegen die erste Sichtweise mit dem Hinweis darauf, dass im modernen System zwar das Gesetz herrschen solle, dieses jedoch nur vermittelt über Menschen bzw. im engeren Sinn über Richter gelingt; letztlich formuliert das Recht abstrakt-allgemeine Regeln, unter die der Einzelfall subsumiert werden muss, wobei es hier „auf ihre [der Richter, I. S.] Rechtlichkeit sowie auf ihre Einsicht“ (VPhR, S. 245) ankommt. Dasselbe gilt für das Volk: „[E]s ist nur eine abstrakte, leere Vorstellung, sich als möglich vorzuspiegeln, daß die Individuen nur nach dem Sinne oder Buchstaben der Gesetzgebung und nicht nach dem Geiste ihrer Religion, in der ihr innerstes Gewissen und höchste Verpflichtung liegt, handeln“ (Enz. III, § 552, Anm.). Sich das Recht als eine Art äußere Hülle zu imaginieren, die sich gewaltsam über das Leben der Menschen legt, wie das auf der Ebene des Not- und Verstandesstaates der Fall war, ist also für Hegel undenkbar; es bedarf letztlich einer entsprechenden Einstellung, die sie nicht allein zur Befolgung zwingt, sondern sie davon auch überzeugt sein lässt. Fehlt in einem Gemeinwesen diese Gesinnung – auf Seiten der Staatsdiener als auch der Bürger – ist das positive Recht nicht ausreichend, um die Buchstaben des Gesetzes zum Leben zu erwecken und kann letztlich das ganze Gebilde nicht funktionieren; so ist der Verweis auf die formelle Weise der Herrschaft in modernen Systemen also kein Einwand gegen die zentrale Rolle einer entsprechenden Einstellung im Volk und Staat. Gegen die Herrschaft der Gesinnung spricht, dass diese nicht ausreichend und eindeutig genug ist, um darauf einen Staat zu bauen; die Innerlichkeit „entwickelt
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sich nicht zu Gründen und gibt sich keine Rechenschaft“ (GPR, § 270, Zus.), sodass sie als Fundament des Staates bzw. als be- und gewusste Affirmation untauglich ist. Die Gesetze als Verwirklichung der Vernunft können, sollen sie gerecht herrschen, nicht der reinen Willkür entspringen, was jedoch Hegel zufolge der Fall wäre, wenn man das subjektive Gefühl zum leitenden Moment machen würde (vgl. ebd.). Außerdem droht hier eine Entzweiung von (Teilen eines) Volk(es) und Führung, wenn die verordnete Gesinnung nicht die allgemein tatsächlich geteilte darstellt (vgl. VPhR, S. 246) – die Widersprüche einer verordneten Geisteshaltung wurden oben bereits ausgeführt. Auch bei dieser Vereinseitigung ist dem Philosophen zufolge also anzunehmen, dass eine solche Macht keinen dauerhaften Bestand haben könnte; das positive Recht könnte sich nicht durchsetzen: „So scheitern solche Gesetze, wenn ihr Inhalt auch der wahrhafte wäre, an dem Gewissen, dessen Geist verschieden von dem Geiste der Gesetze ist und diese nicht sanktioniert“ (Enz. III, § 552, Anm.). Resümierend kann also festgehalten werden, dass in Hegels Staat weder Religion noch formelles Staatssystem verabsolutiert werden und weder rein das unpersönliche Recht noch die politische und religiöse Gesinnung herrschen sollen. Jedem ist vielmehr das Recht auf Innerlichkeit gegeben; er kann frei seine Religion wählen149
149 Die formulierte Bedingung der Übereinstimmung des Inhalts, der von Hegel als Prinzip der Freiheit benannt wurde, verweist in einem zweiten Schritt – nach dem ersten der Gewährung der Pluralität der Konfessionen – darauf, dass paradoxerweise gerade aufgrund der Institutionalisierung der Religionsfreiheit allein das Christentum und näher der Protestantismus als Primus inter Pares dazu geeignet ist, diese Symbiose in einem Gemeinwesen zu verwirklichen. „Die christliche Religion aber ist die Religion der Freiheit“ (GPR, § 270, Zus.), weil nur in ihr gilt, was der Staat mit dem Recht der Innerlichkeit als Verfassungsprinzip garantieren soll: „[D]enn der Protestantismus fordert, daß der Mensch nur glaube, was er wisse, daß sein Gewissen als ein Heiliges unantastbar sein solle; in der göttlichen Gnade ist der Mensch nichts Passives; er ist mit seiner subjektiven Freiheit wesentlich dabei, und in seinem Wissen, Wollen, Glauben ist das Moment der subjektiven Freiheit ausdrücklich gefordert“ (VPhR, S. 242). Es bedarf also einer Religion, die das Prinzip der subjektiven Freiheit in zweierlei Hinsicht anerkennt: Der Mensch soll nicht zum rechten Glauben durch den Staat oder durch sonstigen Zwang verpflichtet werden, sondern sich aus freien Stücken zu diesem entschließen – in den Worten der Vorlesung die Forderung, „daß keine Authorität statt findet“ (GSGPR, § 270, S. 650); und die Praktizierung dessen darf nicht im bloßen Gehorsam bestehen, sondern der Gläubige muss mit seiner Vernunftfähigkeit weiterhin Subjekt des „richtigen“ Weges sein. In den Worten Ritters wird in der christlichen Freiheit geltend gemacht, dass „die Freiheit als Freiheit des einzelnen in seiner Subjektivität, religiös in seinem Verhältnis zu Gott, ethisch in seinem Gewissen, allgemein in
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und der Staat hat aufgrund der Ausbildung einer religiösen Sittlichkeit in Übereinstimmung zur weltlichen in Ehe, Familie und Staat sogar ein Interesse an der Religiosität seiner Bürger. Die von ihm präferierte Symbiose ohne einer der geschilderten Einseitigkeiten erläutert Hegel wie folgt: „Der Eid, das Sittliche überhaupt, wie das Verhältnis der Ehe führen zwar die innere Durchdringung und die Erhebung der Gesinnung mit sich, welche durch die Religion ihre tiefste Vergewisserung erhält; indem die sittlichen Verhältnisse wesentlich Verhältnisse der wirklichen Vernünftigkeit sind, so sind es die Rechte dieser, welche darin zuerst zu behaupten sind und zu welchen die kirchliche Vergewisserung als die nur innere, abstrakte Seite hinzutritt“ (GPR, § 270, Anm.). In einem Staat, der die Freiheit in all ihren Aspekten verwirklicht, gibt es beispielsweise das Recht auf Eheschließung, ein formelles Gesetz, womit der Philosoph eine entsprechende weltliche und religiöse Gesinnung verbindet: Entscheidet sich ein Paar zur Eheschließung, geht es sowohl ein weltlichsittliches Verhältnis ein, weil man sich gegenüber dem anderen und vermittelt über das Recht auch gegenüber dem Staat verpflichtet und schließlich offensichtlich auch ein religiös-sittliches, da man den Bund der Ehe vor Gott schließt. Die Sittlichkeit ist jedoch nur das Hinzutretende, das die positiven Gesetze vollendet, wenn und solange diese in einem Staat vernünftig sind. Unterstellt man also die inhaltliche Übereinstimmung von Religion und Staat, dann ergänzen sich Rechtsordnung und weltliche sowie politische Gesinnung. Recht auf Moralität bzw. Gewissensfreiheit als innere Freiheitssphäre des Willens, oder: Von der „subjektiven Allgemeinheit“ (GPR, § 114) zur sittlichen Die religiöse Seite des „Recht[s] der Innerlichkeit“ (GPR, § 270, Zus.) ist Teil eines umfassenden Rechts auf geistige Betätigung des Willens, das auch die Moralität der Bürger einschließt. Hegel macht an zahlreichen Stellen deutlich, dass ein vernünftiger Staat die innere Freiheitssphäre des Willens nicht nur den Bürgern einräumen, sondern sich aus dieser auch völlig heraushalten muss.150 Die Innerlichkeit macht
seinem in der Innerlichkeit des Selbst gegründeten Sein zum Prinzip des Rechts und des Staates wird“ (Ritter 1961b, S. 21). Dies sieht Hegel im Protestantismus verwirklicht, weswegen er diesem eine herausgehobene Stellung gegenüber den anderen Religionen zuweist (gegenteilig vgl. Vieweg, S. 469), die jedoch gerade keinen Widerspruch zur religiösen Neutralität des Staates darstellt, sondern sie umgekehrt sogar verbürgt. 150 Blochs Feststellung, dass Hegel „die gesamte Innerlichkeit [...] fremd“ (Bloch 1972, S. 256) ist und er von dem Menschen in seiner Moralphilosophie „am liebsten als einem geäußerten, als einem vor die Tür gegangenen“ (ebd., S. 257) spricht, ist meines
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„als solche nicht das Gebiet des Staates aus[]“ (GPR, § 270, Anm.) und er lässt auch keinen Zweifel daran, dass dies nicht nur ein unbedeutendes Moment, sondern das Prinzip darstellt, an dem sich die Herrschaften unterscheiden lassen: „[D]as Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit“ (GPR, § 124, Anm.); es zum herrschenden Moment in der Wirklichkeit zu machen, war und ist gleichbedeutend damit, eine „neue[] Form der Welt“ (ebd.) zu errichten. Wie bereits für die Religion herausgearbeitet, so gilt die Unmöglichkeit einer erzwungenen Gesinnung auch für den Bereich der Moral: „In diese Überzeugung des Menschen in sich kann man nicht einbrechen; ihr kann keine Gewalt geschehen, und der moralische Wille ist daher unzugänglich“ (GPR, § 106, Zus.), so Hegel unmissverständlich zum Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat. Während das äußere Recht als „Zwangsrecht“ (GPR, § 94) dem Individuum den Rahmen seines Handelns und damit ein Stück weit dieses selbst vorzuschreiben vermögen, können sich die Gesetze „auf die Gesinnung nicht erstrecken wollen, denn im Moralischen bin ich für mich selbst, und die Gewalt hat hier keinen Sinn“ (GPR, § 94 Zus.). Angesichts dieser Eindeutigkeit des Rechts auf „innere Freiheit“ (Enz. III, § 539 Anm.) stellt sich natürlich die Frage, wie dieses Thema überhaupt zu einem der umstrittensten in der Hegelschen Philosophie werden konnte151 – um nachzuvollziehen, dass eine gewisse Skepsis durchaus angebracht ist, auch wenn sie sich letztlich, so die einzulösende Behauptung dieses Abschnitts, nicht halten lässt, muss genauer behandelt werden, was Hegel unter Moral versteht. Zunächst ist die Ebene zu kennzeichnen: Moral bezeichnet die Sphäre des „innerliche[n] Verhalten[s] des Willens zu sich selbst“ (GPR, § 112, Zus.),152 also des
Erachtens gerade auf diese Zurückhaltung, die er dem Staat auferlegen möchte, zurückzuführen. 151 Die wohl prominenteste Abhandlung über Hegels Moral in kritischer Absicht stammt von Ernst Tugendhat. Da sich seine Argumentation in die der MachtapologieTheoretiker einordnen lässt, scheint es gerechtfertigt, seine Position nicht weiter zu entwickeln, sondern sich nur implizit mit ihr auseinanderzusetzen. Er beschäftigt sich in einer Vorlesung zugleich mit Hegel und der Ritterschule, nennt deren Moralitätsverständnis „reaktionär (Tugendhat 1993, S. 199) und „antiaufklärerisch“ (ebd., S. 200), geht davon aus, dass sich die Einzelnen einer „supraindividuellen Entität (ebd., S. 203) unterordnen sollen und spricht von einer „Vorgegebenheit der Normen“ (ebd., S. 205) und zugleich von einer „völlige[n] inhaltliche[n] Entleerung des Moralischen“ in Hegels Konzept. 152 In den Begriffszitaten ist diese Ebene als Wesen der Moral deutlich gekennzeichnet; zwar ist es richtig, dass sie auch eine „Handlungstheorie“ (Hebing 2012, S. 155) umfasst, wie das einige Forscher betonen, da er unter anderem Fragen von Vorsatz und
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reflexiven Bezugs des Subjekts auf sich.153 Dabei scheint sie für Hegel nicht einen fertigen Standpunkt, sondern vielmehr einen Prozess darzustellen, der sich im Innern eines Individuums ergeben kann. Als Begriff der Moralität, sprich letztlich im Resultat existiert ein Subjekt, das als „besonderer subjektiver Wille das Allgemeine als solches wolle“ (GPR, § 103), wobei hier betont werden muss, dass diese Identität eine durch einen Bewusstseinsprozess zu erzeugende darstellt: Der Einzelne hat nicht immer schon für sich einen Willen, der das an-sich-Vernünftige affirmiert, sondern da die Moral die Sphäre der „für sich seiende[n] Freiheit“ (GPR, § 106, Zus.) ist, muss das Emporarbeiten zum Standpunkt des Allgemeinen als geistiger Vorgang verstanden werden, der einige Arbeit des Subjekts erfordert. „[D]er Prozeß dieser Sphäre ist, den zunächst nur für sich seienden Willen, der unmittelbar nur an sich identisch ist mit dem an sich seienden oder allgemeinen Willen, nach diesem Unterschiede, in welchem er sich in sich vertieft, aufzuheben und ihn für sich als identisch mit dem an sich seienden Willen zu setzen“ (GPR, § 106 Anm.). Es wäre also ein Missverständnis, davon auszugehen, dass Moral schlicht bedeutet, dass das Subjekt in sich bewusst aufnimmt, was das Allgemeine des Gegebenen ist, sondern dies erfordert zahlreiche Schritte, die – wie zu zeigen sein wird – auch und in einem Fall legitimerweise zu einem gegenteiligen Resultat kommen können; insofern ist es richtig, im Ergebnis von „moralische[m] Wissen“ (Rawls 2002, S. 431) bei Hegel zu sprechen. Im Ausgangspunkt jedenfalls ist der Wille „abstrakt, beschränkt und formell“ (GPR, § 108) und die Moralität stellt den „Standpunkt des Verhältnisses und des Sollens oder der Forderung“ (GPR, § 108) dar: Das Individuum soll sich zu einem an-und-für-sich Vernünftigen bilden, aber er kann auch aus unterschiedlichen Gründen zu dem Ergebnis gelangen, dass der (vermeintlich) allgemeine Wille zu verwerfen ist. Was am Ende des Prozesses auch steht: Überhaupt ein Bewusstsein davon zu entwickeln, dass man sich selbst zum Subjekt seiner Praxis in dem Sinne machen möchte, dass man diese auch geistig bejaht und bewusst hinter all seinen
Absicht in dem Kapitel behandelt. Zum einen ist diese aber meines Erachtens keineswegs „primär“ (ebd.) der Gegenstand seiner Moralphilosophie und zum anderen kann deren hier vorgenommene Ausblendung auch dadurch gerechtfertigt werden, dass der dahinter liegende, geistige Standpunkt analysiert wird, der sich in einer Handlung äußert. Hegels Moral zeichnet sich nämlich gerade dadurch aus, dass sie für ihn nur als praktizierte Sinn macht, und die Frage danach, ob es bislang je zu einer moralischen Handlung in der Welt kam, eindeutig beantwortet wird. 153 Dass die Moral für Hegel „die Bedeutung einer Willensbestimmtheit, insofern sie im Innern des Willens überhaupt ist“ (Enz. III, § 503, Anm.), hat, bedeutet auch, dass der Gegensatz dazu nicht das moralisch Böse darstellt – das vielmehr Teil des Begriffs ist (vgl. ebd.) – sondern das Äußerliche des Rechts.
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Handlungen steht, stellt eine keineswegs selbstverständlich erfüllte Bedingung für Moralität dar: „Der ungebildete Mensch läßt sich von der Gewalt der Stärke und von Naturbestimmtheiten alles auferlegen, die Kinder haben keinen moralischen Willen, sondern lassen sich von ihren Eltern bestimmen; aber der gebildete, innerlich werdende Mensch will, daß er selbst in allem sei, was er tut“ (GPR, § 107, Zus.). Der Einzelne muss sich also zunächst davon befreien, dass eine äußere Macht – sei es unmittelbar Gewalt, Natur oder die Weisung von Autoritätspersonen – Befehl über das eigene Tun ausübt und den Willen entwickeln, sich selbst zum Maßstab dessen zu machen. Der Mensch soll nicht von Äußerem – sei es gewaltsam oder nicht – Orientierung bekommen, sondern allein aus seiner Reflexion heraus, so das erste Moment der Moral.154 Auf den Gang der Rechtsphilosophie bezogen, markiert dies den Übergang von der Sphäre des Rechts bzw. dem Not- und Verstandesstaat zur Moralität – oder, am Menschen ausgedrückt, vom Person-Sein zum Subjekt: „Zur Wahrheit gehört, daß der Begriff sei und daß dieses Dasein demselben entspreche. Im Recht hat der Wille sein Dasein in einem Äußerlichen; das Weitere ist aber, daß der Wille dasselbe in ihm selbst, in einem Innerlichen habe; er muß für sich selbst, Subjektivität sein und sich sich selbst gegenüber haben“ (GPR, § 104 Zus.; vgl. auch Enz. III, § 503, Anm.). Während im Recht also lediglich eine äußere Allgemeinheit entsteht, indem der Person vorgeschrieben wird, was sie tun soll, entwickelt sich nun eine „subjektive[] Allgemeinheit“ (GPR, § 114), in der das Vernünftige dem Einzelnen nicht nur von außen gegenübertritt, sondern dieses autonom „als die seinigen gesetzt und von ihm gewollt werden“ (Enz. III, § 503). Diese Selbstgesetzgebung ist synonym damit, dass sich der Einzelne zum wahrhaftigen Subjekt bildet; „[d]iese Reflexion des Willens in sich und seine für sich seiende Identität gegen das Ansichsein und die Unmittelbarkeit und die darin sich entwickelnden Bestimmtheiten bestimmt die Person zum Subjekt“ (GPR, § 105; vgl. auch Enz. III, § 503). Das, was an sich ist, wird nun nicht mehr einfach nur hingenommen, sondern das Individuum bezieht dazu bewusst Stellung, sodass die Unmittelbarkeit bzw. das Hinnehmen des Gegebenen als scheinbar natürliche Lebensverhältnisse aufgehoben wird. Dieser Vorgang stellt eine notwendige Bedingung dafür dar, dass Freiheit überhaupt zum Herrschenden in der Welt werden kann; „[n]ur im Willen, als subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein“ (GPR, § 206), denn schließlich sind die Menschen die einzigen Wesen mit Vernunft, die dieses Prinzip erkennen und dadurch verwirklichen können. Diese Entzweiung kann verstanden werden
154 Dass die Moral für Hegel „die Bedeutung einer Willensbestimmtheit, insofern sie im Innern des Willens überhaupt ist“ (Enz. III, § 503, Anm.), hat, bedeutet auch, dass der Gegensatz dazu nicht das moralisch Böse darstellt – das vielmehr Teil des Begriffs ist (vgl. ebd.) – sondern das Äußerliche des Rechts.
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„als die Form der modernen Welt und ihres Bewußtseins“ (Ritter 1956, S. 214). Entsprechend der Deutung des Allgemeinen als Wechselverhältnis kann Freiheit bzw. Vernunft nur Wirklichkeit werden, wenn die Einzelnen das an-sich-Seiende für sich erkennen und einen entsprechenden Willen entwickeln – eine Bestimmung, an der abermals die Bedeutung des Individuums und seiner Bildung zur Vernunft für Hegel deutlich werden. Die Herausbildung des Standpunkts der Moralität ist für ihn also gleichbedeutend damit, dass sich „für die Freiheit ein höherer Boden bestimmt“ (GPR, § 106) hat, weil das nicht begriffene und möglicherweise durch Gewalt hingenommene Gegebene nun im Willen aufgehoben wird. Jedoch – und dies zweite ist dem ersten Moment der Entwicklung des Willens zum und des Sich-selbst-Begreifens als Selbstgesetzgeber inhärent – ist dieser Prozess nicht so zu verstehen, dass eine automatische Abbildung des äußerlich Gegebenen ins innere Wollen des Subjekts stattfindet; in diesem Fall wäre dieser ein reiner Formalismus, der sich in die bewusste Bejahung der Gegebenheiten auflöst und somit letztlich kaum als Selbstbestimmung bzw. Subjektwerdung zu bezeichnen wäre. Der Vorgang der Bewusstwerdung des äußerlich Gesetzten und dessen Verinnerlichung impliziert freilich die Prüfung des Gegebenen und enthält somit die Möglichkeit der Entzweiung, wenn und weil es – ob berechtigt oder nicht, sei hier noch ausgeblendet – als unvernünftig aufgefasst wird; Hegel deutet dies im Fortgang des ersten Paragraphen des Moralitäts-Abschnittes bereits an: „Damit, daß die Willensbestimmtheit so im Innern gesetzt ist, ist der Wille zugleich als ein besonderer und es treten die weiteren Besonderungen desselben und deren Beziehungen aufeinander ein“ (Enz. III, § 503). Der Wille des Subjekts als partikularer muss bei seinem Reflexionsprozess nicht notwendig zu dem Ergebnis kommen, dass die Welt, in der er lebt, vernünftig ist. „Dies Prinzip der Besonderheit ist nun allerdings ein Moment des Gegensatzes und zunächst wenigstens ebensowohl identisch mit dem Allgemeinen als unterschieden von ihm“ (GPR, § 124, Anm.). Einerseits ist der Wille mit dem Allgemeinen identisch, weil er an-und-für-sich als Vernünftiger bestimmt ist; andererseits ist ihm diese Übereinstimmung mit der Vernunft nicht einfach gegeben; es kennzeichnet gerade den Menschen als Wesen mit Willensfreiheit, dass er sich zum Allgemeinen emporarbeiten oder aber auch einen anderen Weg wählen kann. Zum Gegensatz bzw. einer Entzweiung kann es aus zwei Gründen kommen: Entweder hat das Individuum eine Vorstellung vom Guten, die dem Guten an sich widerspricht, wobei dies, wie zu zeigen sein wird, zu zweierlei Konsequenzen führen kann; oder jedoch es hat für sich einen adäquaten Begriff des Guten, kommt jedoch zu dem Schluss, dass das Gegebene schlicht nicht als vernünftig bezeichnet werden kann. Beide Möglichkeiten – auch wenn letztere von den Theoretikern der Machtapologie-These fast durchweg überlesen oder bewusst übergangen wird – werden von Hegel eingeräumt und behandelt. Worin also besteht der Begriff des Guten als Inhalt einer verwirklichten Moral?
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Wie dargelegt, kommt erst mit dem Menschen Freiheit und damit die Möglichkeit des Scheiterns von Selbstverwirklichung in die Welt. Diese wird bei der hier behandelten Thematik besonders virulent: „[...] nur der Mensch, und zwar insofern er auch böse sein kann, ist gut“ (GPR, § 139, Zus.). Sich moralisch auszuzeichnen, unterstellt also eine bewusste Entscheidung für das Gute bzw. umgekehrt die Alternative, auch böse handeln zu können. „[D]er Wille ist in seinem Begriffe sowohl gut als böse“ (GPR, § 139, Zus.); es gibt keine Determination qua Geburt, sondern der moralische Wert einer Person hängt alleine an ihrer konkreten Vernunftbetätigung. Dem Philosophen zufolge sind also das Gute und das Böse „untrennbar“ (GPR, § 139, Zus.), auch wenn sie freilich inhaltlich gänzlich Konträres bedeuten: „Der böse Wille will ein der Allgemeinheit des Willens Entgegengesetztes, der gute dagegen verhält sich seinem wahrhaften Begriffe gemäß“ (GPR, § 139, Zus.), was jedoch nichts daran ändert, dass letzteres nur vor der Möglichkeit des anderen zum Guten wird. Mit dieser Betonung der Notwendigkeit einer Reflexion des Subjekts bzw. dessen Entscheidung wird auch deutlich, dass für Hegel der unmittelbar gegebene, natürliche Wille gerade nicht den unschuldigen, quasi von der Welt noch nicht verdorbenen darstellt, sondern dieser steht vielmehr „dem Inhalte der Freiheit gegenüber“ (GPR, § 139, Zus.); „wenn man vom Guten redet, so meint man das Wissen desselben“ (ebd.), sodass gut zu sein nicht ohne ein Bewusstsein davon gelebt werden kann: „Das Gute ist überhaupt das Wesen des Willens in seiner Substantialität und Allgemeinheit – der Wille in seiner Wahrheit; – es ist deswegen schlechthin nur im Denken und durch das Denken“ (GPR, § 132, Anm.). Es ist das Sich-selbst-Begreifen des Einzelnen als Teilhaber des Allgemeinen, was natürlich das Erfordernis einschließt, dass dem Subjekt die Möglichkeit der Erkenntnis dessen gegeben ist; deswegen polemisiert Hegel gegen die Vorstellung, dass der Mensch nur Erscheinungen und nicht die Dinge an sich erkennen könne (vgl. ebd.). Der Mensch muss also das Gute erkennen, um sich als moralisches Wesen zu verwirklichen und umgekehrt ist auch das Gute auf das Gelingen ebendieses individuellen Prozesses verwiesen, damit es Realität wird.155 Bereits bei diesem Stand der Analyse wird also deutlich, dass Hegel einen hohen epistemischen Anspruch an das moralische Denken stellt; eine gewisse Bildung ist hierfür unabdingbar. Die epistemische Form, in der der Mensch des Guten gewahr werden kann, ist das Wissen. Inhaltlich nun definiert es Hegel wie folgt:
155 Dass die Moral für Hegel „die Bedeutung einer Willensbestimmtheit, insofern sie im Innern des Willens überhaupt ist“ (Enz. III, § 503, Anm.), hat, bedeutet auch, dass der Gegensatz dazu nicht das moralisch Böse darstellt – das vielmehr Teil des Begriffs ist (vgl. ebd.) – sondern das Äußerliche des Rechts.
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„Das Gute ist die Idee, als Einheit des Begriffs des Willens und des besonderen Willens, in welcher das abstrakte Recht, wie das Wohl und die Subjektivität des Wissens und die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins, als für sich selbstständig aufgehoben, damit aber ihrem Wesen nach darin enthalten und erhalten sind, – die realisierte Freiheit, der absolute Endzweck der Welt.“ (GPR, § 129)
Gut zu sein bedeutet, dass der Einzelne mit seinem besonderen Willen die Differenz zwischen seinem natürlichen Willen – der an sich zwar ein menschlicher bzw. vernünftiger ist, jedoch für sich diese Eigenschaft noch nicht in actu verwirklicht hat – und dem Willen wie er seinem Begriff nach als freier bestimmt ist, aufhebt und so das Wesen seiner Gattung als Vernünftige realisiert. Worin der Mensch durch seine Geburt gesetzt wird – in bestimmte Rechtsstrukturen mit einem definierten Allgemeinwohl – wird in dieser Unmittelbarkeit und Zufälligkeit negiert und durch die Reflexion dieser Verhältnisse auf einer höheren Stufe als gewusste und bewusst affirmierte im Denken des Subjekts zurückgewonnen. Damit wird auch deutlich, weswegen die Freiheit für Hegel einen, wie er das nennt, höheren Boden erhält: Das einzelne Individuum entwickelt sich durch diesen Bildungsprozess, weil es die rein durch Kontingenz vorgegebene Lebensweise in bestimmten Verhältnissen durch das Durchdenken und eine bewusste Bejahung dieser aufhebt; die das Subjekt umgebenden Institutionen und Gewohnheiten haben nun nicht länger den Status von zufälligen Gegebenheiten, in die es qua Geburt gesetzt ist. Darüber wiederum wird die Freiheit nicht nur individuell, sondern auch die der gesamten Gemeinschaft inklusive ihrer gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen in einer höheren Stufe aufgehoben: Werden die Institutionen von den Bürgern bejaht, verlieren diese den Charakter einer äußeren Vorgabe und werden stattdessen von einer Bürgergesinnung getragen und mit Leben erfüllt. „Nur da, wo sie [die Haltung, I. S.] gegeben ist, werden auch die Institutionen auf gute Weise bestehen; sie werden zu toten Gehäusen, wenn sich in ihnen das Leben der Individuen nicht mehr zu finden und zu verwirklichen vermag“ (Ritter 1966, S. 304).156 Gelingt dieser Prozess in dem nun beschriebenen Sinne, dass der besondere Wille die Differenz zum allgemeinen aufhebt, dann wird das Postulat der Moralität bzw. das Sollen zu einem Sein (vgl.
156 Rawls bringt denselben Gedanken wie folgt zum Ausdruck: „Es ist entscheidend wichtig zu betonen, daß die soziale Welt nur dadurch zu ihrer vollen Substantialität gebracht wird, daß die Individuen über sich selbst reflektieren, mit ihrer (rationalen) sozialen Welt versöhnt sind, diese Welt zu Recht als rationale sehen und ihr Leben dementsprechend führen“ (Rawls 2002, S. 431).
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auch Enz. III, § 512).157 Diese zweifache Erlangung der Freiheit schildert Hegel wie folgt: „Die Person aber weiß als denkende Intelligenz jene Substanz als ihr eigenes Wesen, hört in dieser Gesinnung auf, Akzidenz derselben zu sein, schaut sie als ihren absoluten Endzweck in der Wirklichkeit sowohl als erreichtes Diesseits an, als sie denselben durch ihre Tätigkeit hervorbringt, aber als etwas, das vielmehr schlechthin ist.“ (Enz. III, § 514)
Der geschilderte Fortschritt wird in dem Zitat auch auf das Wechselverhältnis von Subjekt und Allgemeinheit bezogen, wodurch zugleich eine zuvor nur implizit benannte Bestimmung der realisierten Moral deutlich wird: Gelingt der Prozess der Aufhebung der Differenz zwischen Willen für und Willen an sich, kann dies als Übergang von der Moral in die Sittlichkeit bezeichnet werden. Während Moralität für Hegel „als die reine Unruhe und Tätigkeit zu denken [ist, I. S.], die noch zu keinem was ist kommen kann (GPR, § 133) definiert ist, erreicht dieses produktive Treiben im Zustand der Sittlichkeit sein Telos, in dem das Gute an sich „das Wesentliche seines [des Subjekts, I. S.] Willens“ (GPR, § 133) ist158 und Moral in der Sittlichkeit aufgehoben wird.159 Der moralische Standpunkt eines Subjekts muss dem Philosophen zufolge also immer als im Wechselverhältnis mit der es umgebenden politisch-gesellschaftlichen Welt gedacht und kann nicht abstrahiert davon verwirklicht werden.160 Im „Geist eines Volkes“ hat „das absolute Sollen ebensosehr
157 Hier setzt Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie ein: So sehr er den Begriff der Pflicht, den Kant in den Mittelpunkt stellte, für eine große Erkenntnis hält, kritisiert er den Königsberger Philosophen zugleich dafür, bei diesem stehengeblieben zu sein. Für Hegel muss die Moral zu einer in der Sittlichkeit gelebten werden, dann jedoch wird die an den Willen herantretende Pflicht zu einer gewollten und in der realen Welt gelebten (vgl. u. a. GPR, § 135 Anm.; vgl. hierzu auch Ritter 1961b, S. 34 sowie ders. 1966, S. 288). 158 Aufgrund dieser Verflechtung des Begriffes des Guten mit dem des Sittlichen erscheint es nicht plausibel, Sittlichkeit als „funktional, ja wertfrei“ (Schnädelbach 2000, S. 298) zu charakterisieren. 159 Natürlich ist „Aufhebung“ hier im Hegelschen Sinne zu verstehen: „Es ist aber nicht so, als wäre die Moral verdrängt worden: die moralische Subjektivität ist wesentlicher Bestandteil des „Rechts der subjektiven Freiheit‘, die ihrerseits wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil der modernen Sittlichkeit ist“ (Losurdo 2000, S. 314). 160 Insofern erstaunt Joachim Ritters Gegenüberstellung: „Wo Hegel daher von der ‚Subjektivität‘ des einzelnen [...] spricht, da geht es ihm nicht um die äußeren Verhältnisse, um die Umstände und die Welt, darin das Individuum lebt, sondern um sein ‚Beisich-
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Sein“ (Enz. III, § 514), was sich wiederum aufgliedern lässt in die einzelnen Personen, die auf dem Standpunkt der verwirklichten Moral einer Vereinigung von subjektiver und substantieller Allgemeinheit erreicht haben. Die Gesinnung bzw. deren wesentliche Bedeutung ist auf dieser höheren Stufe keineswegs aufgehoben, sondern der Einzelne hört auf, Akzidenz zu sein,161 da er sich selbst als Teil der bestehenden vernünftigen Allgemeinheit begreift und selbst zur Bedingung dessen wird, dass diese stetig neu hervorgebracht wird. „Es ist die Agora, der Markt, es ist Res publica, die öffentliche Sache, an denen Hegels [...] Ethik erst lebhaft wird“ (Bloch 1972, S. 257), so Bloch über diesen fundamentalen Konnex zwischen der individuellen Moral und der das Individuum umgebenden Sitte. „Das Aufheben des Standpunktes der Moralität hat so die Form, daß Hegel zu Sitte, Gewohnheit und den politischen und gesellschaftlichen Institutionen übergeht, um diese als ‚sittliche‘ Wirklichkeit des in der Moralität gesetzten subjektiven Willens und seines Guten zu begreifen“ (Ritter 1966, S. 292). Das Individuum verwirklicht sich, indem nun auch in actu gilt, dass „das Subjekt als Einzelnes und Allgemeines an sich eine Identität ist“ (Enz. III, § 509). Diesen Standpunkt kennzeichnet der Philosoph als „wahrhafte, sittliche Gesinnung“ (Enz. III, § 515). Die Realisierung des Begriffs des allgemeinen Ich erfordert also die Herausbildung eines moralischen Standpunkts, da nur dann die im Äußeren verankerte Allgemeinheit zu einer subjektiven und damit auch substantiellen wird. Als Resultat des Prozesses wird die Sittlichkeit an sich durch die Einstellung des Subjekts zu einer an-und-für-sichseienden: „Das Sittliche ist subjektive Gesinnung, aber des an sich seienden Rechts“, was gleichbedeutend ist mit der „Wahrheit des Freiheitsbegriffes“ (GPR, § 141, Anm.). Erst an diesem Punkt der durch die Bürger realisierten Bedingung der Versubjektivierung des Rechts ist nun also die staatliche Allgemeinheit zu einer wahrhaft gewussten und dadurch auch substantiellen geworden. Nun wurde diese Entwicklung vom vollendeten Telos aus gedacht; freilich kann diese aber auch scheitern bzw. die Aufhebung der Differenz zwischen dem an sich und dem für sich nicht gelingen: Erstens kann sich das Subjekt in seiner Partikularität verlieren, a) entweder in dem Sinne, dass es etwas als sein subjektiv Gutes setzt, was dem objektiven widerspricht, also moralisch Böse ist, oder b) indem es sein
selbstsein‘ in seiner ‚Innerlichkeit‘ [...]“ (Ritter 1961b, S. 11). In einem anderen Aufsatz hebt er diese Trennung freilich selbst auf (vgl. Ritter 1966). 161 Insofern entgeht Hegels Kritiker, die immer wieder darauf hinweisen, dass das Individuum nur als Akzidenz verstanden werde (vgl. bspw. Schiller 2006, S. 100), dass dies nicht den Endstand der Analyse darstellt. Es ist also Rawls zuzustimmen, der ausführt, dass man sich „von Hegels Gebrauch der Substanz/Akzidenz-Terminologie nicht irremachen lassen [sollte], obwohl sie nicht ganz einwandfrei ist und zu Fehldeutungen Anlaß geben kann“ (Rawls 2002, S. 430).
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rein partikulares Gutes in seiner Innerlichkeit, als eitles Gewissen ausbildet.162 Die zweite Variante besteht darin, dass es zu keiner Aufhebung der Differenz auf höherer Stufe kommen kann, weil das Subjekt schlicht konstatieren muss, dass die Realität nicht vernünftig ist und diese auch tatsächlich der an-sich-seienden Vernunft widerspricht.163 Die erste der beiden Möglichkeiten mit ihren zwei unterschiedlichen Zweigen derselben Sache soll hier nur kurz dargelegt werden, da sich ihre Bestimmungen aus dem bisher ausgeführten logisch erschließen. Grundlage hierfür ist – wie für das verwirklichte Gute auch – die Freiheit des Menschen: „Das Gute ist so als ein Zufälliges für das Subjekt gesetzt, welches sich hiernach zu einem dem Guten Entgegengesetzten entschließen, böse sein kann“ (Enz. III, § 509, Anm.). Weil die Herausbildung eines Willens zum an-sich Guten keine Zwangsläufigkeit darstellt, sondern der Mensch auch immer durch die Betätigung seiner Vernunft zu einer entgegengesetzten Entscheidung kommen kann, tritt das eitle Gewissen sowie das Böse als „Hybris des Besonderen über das Allgemeine“ (Hebing 2012, S. 172) notwendig in die Welt. Was also einerseits den Wert der Sphäre der Innerlichkeit ausmacht – dass sich das Individuum in Freiheit entscheidet und so die „subjektive[] Allgemeinheit“ (GPR, § 114) zur Einheit mit der substantiellen bringen kann – wird andererseits zum Mangel, wenn die Aufhebung der Entzweiung164 misslingt. Hegels
162 Wenn Bloch konstatiert, dass in der von Hegel entwickelten Ethik „Selbstentzweiung, der Selbsthaß, die innere Kasuistik, die gewissensüberfüllte Skrupelhaftigkeit [...], die Verführungen des Trotzes, die (doch erzdialektischen) Konflikte der Pflichten“ (Bloch 1972, S. 258) und vieles mehr, das sich auf die inneren Kämpfe eines Subjekts bezieht, unberücksichtigt bleibt, so hat er einerseits durchaus recht: Hegel bemüht sich nicht um Anschauungen und auch kaum um die Kasuistik als Methode (vgl. auch Losurdo 2000, S. 317). Zugleich ist es jedoch nicht richtig, dass diese Phänomene in seiner Welt nicht existieren würden; dem Verständnis des Philosophen zufolge führt er sie auf ihren Grund zurück, indem er sie innerhalb dieser fundamentalen Alternativen des Guten an sich, des abstrakt Guten sowie des Bösen verortet. 163 Hieraus wird deutlich, dass der Begriff des Guten zwar „bloß abstrakt und formal“ (Hebing 2012, S. 161) im Sinne einer Übereinstimmung von subjektivem Wollen und Willen an sich bestimmt wird, aber diese Kennzeichnung stellt der Sache nach natürlich alles andere als einen bloßen Formalismus dar: Das einzelne Subjekt bezieht sich bejahend auf die ihn umgebene Welt, wobei dies nur dann eine Verwirklichung der Moral bedeutet, wenn diese selbst vernünftig eingerichtet ist – das kann aber freilich nicht anders als am „Inhalt“ bzw. den herrschenden Prinzipien und vorhandenen Institutionen entschieden werden. 164 Dass die Entzweiung notwendig ist, da nur so der höhere Boden der Freiheit erlangt werden kann, daran lässt Hegel keinen Zweifel. An dieser Stelle ordnet sich auch Hegels Behauptung ein, dass die Griechen kein Gewissen gehabt hätten (vgl. GPR, § 147,
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Postulat der „gemeinschaftliche[n] Wurzel“ (GPR, § 139, Anm.) des abstrakt Guten sowie des Bösen irritiert zunächst; an deren im Wesen bestehende Identität lässt er jedoch keinen Zweifel: „Diese sich auf ihre Spitze stellende reine Gewißheit seiner selbst erscheint in den zwei unmittelbar ineinander übergehenden Formen des Gewissens und des Bösen“ (Enz. III, § 511).165 In beiden weiß sich das einzelne Subjekt losgelöst von der politisch-gesellschaftlichen Substanz als Richter über das Gebotene. Im ersten Fall ist es „der Wille des Guten, welches aber in dieser reinen Subjektivität das nicht Objektive, nicht Allgemeine, das Unsagbare ist und über welches das Subjekt sich in seiner Einzelheit entscheidend weiß“ (Enz. III, § 511) bzw. – in den vorherigen Worten der gelungenen Moral beschrieben – bildet das Subjekt für sich einen Willen aus, der nicht mit dem an sich Vernünftigen übereinstimmt. Diese Bestimmung teilt das moralisch Böse, geht aber insofern darüber hinaus, dass es „nicht in dieser Abstraktion bleibt, sondern gegen das Gute sich den Inhalt eines subjektiven Interesses gibt“ (Enz. III, § 511). Es bleibt nicht stehen bei der Herausbildung eines individuellen Ideals, sondern schreitet zur Praxis, die ein konkretes Interesse des Individuums zu realisieren versucht. Das moralisch Böse ist „die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein“ (GPR, § 139). Das abstrakt Gute markiert den Ort, an dem die Gewissensfreiheit bzw. das Recht der Innerlichkeit in ein für Hegel Negatives umschlägt, das sich der Vernunft versperrt: „Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjekts, aber durch seine subjektive Bestimmung zugleich formell, und das Recht des Vernünftigen als des Objektiven an das Subjekt bleibt dagegen fest bestehen“ (GPR, § 132, Anm.). Der Philosoph hat einerseits höchste Achtung vor dem Gewissen: es sei eine „Majestät“ (GPR, § 137, Zus.), ein „Heiligtum, welches anzutasten Frevel wäre“ (GPR, § 137, Anm.), gerade weil das Gege-
Notizen): Sie lebten seiner Deutung zufolge in der Sitte ohne den Prozess des individuellen Emporarbeitens zur Einsicht in der Vernünftigkeit der Verhältnisse. Deswegen ist es meines Erachtens nicht zutreffend, dass Hegel ein „antikes Einheitsideal von Mensch-Sein und Bürger-Sein“ (Bloch 1972, S. 270) vertreten hat: Es bedarf der Entzweiung; der empirische Wille muss erst durch Prüfung zu einem bejahenden Dasein als Citoyen gelangen; andernfalls praktiziert man eine „unreflektierte Lebensform“ (Rawls 2002, S. 445). 165 „Das Böse als die innerste Reflexion der Subjektivität in sich gegen das Objektive und Allgemeine, das ihr nur Schein ist, ist dasselbe, was die gute Gesinnung des abstrakten Guten, welche der Subjektivität die Bestimmung desselben vorbehält; – das ganz abstrakte Scheinen, das unmittelbare Verkehren und Vernichten seiner selbst.“ (Vgl. Enz. III, § 512)
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bene daraufhin überprüft werden können muss, ob es auch einsichtig ist. 166 Andererseits wendet er sich vehement gegen den Willen in seiner „absoluten Eitelkeit – einem nicht-objektiven, sondern nur seiner selbst gewissen Gutsein und einer Gewißheit seiner selbst in der Nichtigkeit des Allgemeinen“ (Enz. III, § 512; vgl. auch GPR, § 137);167 ein solcher „verflüchtigt [sich, I. S.], sinkt unmittelbar in sich zusammen“ (Enz. III, § 512). Auf der Ebene des Sollens zu bleiben, hier in dem Sinne, dass man sich als Idealist ein individuell Gutes setzt, das gegen die Welt festgehalten wird, kann für ihn also keinen Bestand haben – eine Behauptung, die durchaus kritisch zu sehen ist, da schließlich die Tatsache der Gesetztheit gesellschaftlich-politischer Verhältnisse, die allemal auch durch eine übergeordnete Gewalt gesichert sind, als Argument begriffen wird; die faktische Ohnmacht des Subjekts firmiert hier als Grund für dessen Unrecht. Das ausgedachte Gute hat sich dem Gegebenen auch ohne bewusste Affirmation zu fügen. Andererseits hat seine Polemik gegen das „formelle Gewissen“ (GPR, § 137, Anm.) auch eine gewisse Plausibilität: Ihm zufolge liegt der Fehler einer Verteidigung dessen darin, dass von jeglichem Inhalt abstrahiert und die bloße Form zum Argument gemacht wird (vgl. GPR, § 126, Anm.). In der Tat stellt sich die Frage, inwiefern das Gewissen allein deswegen zum höchsten Gut erklärt werden soll, weil es im Innersten des Subjekts ist, unabhängig davon, was dieses zum Inhalt hat. Das „besondere Eigentum eines Individuums“ (GPR, § 137, Anm.), zu dem der Inhalt des Gewissens auf diesem Stand der Analyse verkommt, beharrt auf seiner Besonderheit gegen die vernünftige Sitte, in die es eingebunden ist, was zweifelsohne in einigen Fällen zur Eitelkeit verkommen kann. 168 Eine umfassende
166 „Der Mensch ist als Gewissen von den Zwecken der Besonderheit nicht mehr gefesselt, und dieses ist somit ein hoher Standpunkt, ein Standpunkt der modernen Welt, welche erst zu diesem Bewußtsein, zu diesem Untergange in sich gekommen ist. Die vorangegangenen sinnlicheren Zeiten haben ein Äußerliches und Gegebenes vor sich, sei es Religion oder Recht; aber das Gewissen weiß sich selbst als das Denken, und daß dieses mein Denken das allein für mich Verpflichtende ist.“ (GPR, § 136) 167 Über das Innere „spottet Hegel mit Recht: der vermeintlich Einzelne, der nur in Beziehung zu sich selbst zu stehen glaubt, ist nicht reicher als der allzu Allgemeine und nach außen Gewendete, der nur noch aus zwischenmenschlichen Beziehungen besteht.“ (Bloch 1972, S. 489) 168 Entgegen undifferenzierter Auslegungen von einigen Hegel-Kritikern erkennt Schiller, dass Hegel mit seiner Kritik einen Aspekt argumentativ getroffen hat, dem er auch und gerade für die heutige Zeit „bestürzende Aktualität“ (Schiller 2006, S. 96) zuspricht: „Hegels Bestiarium der verselbstständigten und hybriden, maßlosen Subjektivität ist auch heute noch beeindruckend und mitunter von bestürzender Aktualität. Wegweisend bleibt die Einsicht, dass nicht im abstrakten, notwendig beliebigen Geltendmachen des
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Ablehnung der Gewissensfreiheit wird aus dieser Kritik jedoch nicht, wie aus dem zuvor herausgearbeiteten Stellenwert dessen für den höheren Boden der Freiheit deutlich wurde; auch terminologisch lässt sich dies begründen: Das formelle Gewissen wird auf der Stufe der Sittlichkeit bzw. der verwirklichten Moral zu einem „wahrhaften“ (vgl. GPR, § 137, Anm.) und hat damit seinen inhaltlichen Makel des bloß besonderen Eigentums durch ein allgemeines aufgehoben. Der zweite Grund, der eine Aufhebung der Differenz auf höherer Stufe verhindert, ist für ein Verständnis der Hegelschen Konzeption von Subjekt und staatlicher Allgemeinheit von größter Bedeutung: Das Individuum kann berechtigterweise zu der Einschätzung kommen, dass die Welt nicht als Vernünftige einzusehen ist, da in ihr das an sich Gute nicht verwirklicht ist. In diesem Fall hat der Einzelne also seinen Willen dem Begriff der Vernunft gemäß gemacht, es kommt jedoch zu einer „Entgegensetzung der Subjektivität und Objektivität“ (GPR, § 109), weil letztere nicht freiheitlich ist. In diesem Fall gilt keineswegs die oben aufgestellte Forderung Hegels, dass sich das Subjekt dem Gegebenen unterzuordnen hat; es ist vielmehr im Recht: „Das Gute hiermit, als die Notwendigkeit, wirklich zu sein durch den besonderen Willen und zugleich als die Substanz desselben, hat das absolute Recht gegen das abstrakte Recht des Eigentums und die besonderen Zwecke des Wohls. Jedes dieser Momente, insofern es von dem Guten unterschieden wird, hat nur Gültigkeit, insofern es ihm gemäß und ihm untergeordnet ist.“ (GPR, § 130)
Das zweite Moment – das Recht des Guten gegenüber den „besonderen Zwecken“ des Individuums – beschreibt die bereits behandelte erste Möglichkeit des Auseinanderfallens; hier steht das Gute an sich gegen die Partikularität des Einzelnen. Der erste hier von Hegel ausgeführte Fall ist von den Theoretikern der Machtapologie-These offenbar konsequent ausgeblendet worden: Auch das Recht des Eigentums und überhaupt die ganze von Menschen geschaffene gesellschaftlichpolitische Welt (vgl. Enz. III, § 510) werden am Guten an sich gemessen, was unterstellt, dass nicht schlicht jede Realität als vernünftig verstanden wird. Macht ist nicht per se im Recht, wie das Popper ausführt (vgl. Popper 2003, S. 50 sowie ebd., S. 78 f.), sondern sie ist es nur relativ dazu, dass Freiheit bzw. Vernunft ihren Zweck darstellt. Hegel, dem nicht nur von Popper, sondern der Sache nach von sämtlichen Kritikern ein ethischer und juridischer Positivismus vorgeworfen wurde,
Individuums und in der unablässigen Beschäftigung mit sich selbst – die freilich nicht mit der Fähigkeit zur Reflexion und Innerlichkeit schlechthin verwechselt werden darf – Selbstverwirklichung gelingen kann, sondern nur in der Auseinandersetzung mit den Objektivitäten von Gesellschaft und Natur.“ (Schiller 2006, S. 96)
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macht hier unmissverständlich deutlich, dass es eine Instanz über dem staatlichen Recht gibt, von der dessen Legitimität abhängt. Die Realität soll – dies die zweite Bedeutung des vom Guten aufgestellten Postulat des Sollens – dem an sich Vernünftigen entsprechen, dies ist jedoch evident nicht immer der Fall: „Die äußere Objektivität, gleichfalls nach dem eingetretenen Unterschiede des subjektiven Willens (§ 503), macht gegen die innerlichen Bestimmungen des Willens das andere selbstständige Extrem, eine eigentümliche Welt für sich aus. Es ist daher zufällig, ob sie mit den subjektiven Zwecken zusammenstimmt, ob das Gute sich in ihr realisiert und das Böse, der an und für sich nichtige Zweck, in ihr nichtig ist; – ferner ob das Subjekt sein Wohl in ihr findet, und näher ob das gute Subjekt in ihr glücklich und das böse unglücklich wird. Zugleich aber soll die Welt das Wesentliche, die gute Handlung in sich ausführen lassen, wie dem guten Subjekte die Befriedigung seines besonderen Interesses gewähren, dem bösen aber versagen sowie das Böse selbst zunichte machen.“ (Enz. III, § 510)
Wie analysiert wurde, ist der Prozess der Verinnerlichung des äußeren Rechts nicht als Automatismus zu verstehen, sondern es findet vielmehr eine Prüfung169 dessen statt, ob die Realität auch tatsächlich ihrem Begriff gemäß ist. Dies wird von Hegel keineswegs immer vorausgesetzt, was er durch die Kennzeichnung als Zufall deutlich herausstellt. Die Entwicklung des moralischen Standpunkts bedeutet die (freie) Betätigung der Vernunftfähigkeit des Subjekts und so kann dieses natürlich auch zu einem negativen Resultat kommen; das unmittelbar Gegebene wird in diesem Fall170 nicht als affirmiertes an und für sich gewonnen, sondern als falsches erkannt. Dieser Verstoß der Objektivität gegen die Vernunft heißt für das in dieser lebende Individuum, dass es sich in den Verhältnissen nicht verwirklichen kann; es selbst steht auf dem Standpunkt der wahrhaften Moral bzw. der Sittlichkeit, aber die Allgemeinheit ist keine substantielle. Hier wird gerade nicht „alle persönliche Moral und das Gewissen völlig zur Seite“ (Popper 2003, S. 40) geschoben, sondern sie
169 „Das Recht des subjektiven Willens ist, daß das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde [...]“ (GPR, § 132), wobei dies eben nicht bedeutet, dass er immer zu diesem Ergebnis kommen muss. 170 So wichtig es ist, diesen Fall aufgrund der erläuterten Kritik der Vertreter der Machtapologie-These hervorzuheben, muss doch konstatiert werden, dass dies eine mögliche Erscheinungsform der Moral darstellt, aber keinesfalls deren Begriff ist bzw. diese sich immer „in Gegensatz befindet zu dem, was ist“ (Taylor 1983, S. 493), wie Taylor das fälschlicherweise anzunehmen scheint.
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sind gegenüber der unvernünftigen Realität im Recht. Das Subjekt muss in der Entzweiung leben, also unglücklich sein.171 Sokrates ist die Figur, die dieses Spannungsverhältnis repräsentiert: Hegel zufolge haben die Griechen noch nicht „den höheren Punkt der Wahrheit" erreicht, da Sitte und Gewohnheit, „die Form [...], in welcher das Rechte gewollte und getan wird, [...] den Feind der Unmittelbarkeit, die Reflexion und Subjektivität des Willens noch nicht in sich" (VPG, S. 308) hatten. Erst Sokrates, „der Erfinder der Moral“ (ebd., S. 329), brachte den Griechen durch seine Gespräche zu Bewusstsein, „daß sie nicht wissen, was das Rechte sei" (ebd.). Er steht also erstens dafür, dass es, um zu einem höheren Punkt der Wahrheit zu gelangen, zunächst nötig ist, das Gegebene zu hinterfragen, zur Entzweiung zu kommen, um diese zu überwinden und das wahrhaft Allgemeine als gewusstes zurückzuerhalten. Das Subjekt, das unhinterfragt im Einklang mit der Sitte lebt und sich nicht selbst durch geistige Anstrengungen zur Vernunft emporarbeitet, ist für Hegel letztlich ohne Moral und kann den Standpunkt der Sittlichkeit trotz des Lebens in dieser nicht erreichen. Wenn diese Entzweiung nicht überwunden werden kann – dies die zweite Bestimmung der Moral, die in Sokrates versinnbildlicht ist –, weil das Gegebene unvernünftig ist, dann hat das individuelle Gewissen, das zugleich aufhört, ein rein partikulares zu sein, das Recht auf seiner Seite: „Nur in Zeiten, wo die Wirklichkeit eine hohle geist- und haltungslose Existenz ist, mag es dem Individuum gestattet sein, aus der wirklichen in die innerliche Lebendigkeit zurückzufliehen. Sokrates stand in der Zeit des Verderbens der athenischen Demokratie auf: er verflüchtigte das Daseiende und floh in sich zurück, um dort das Rechte und Gute zu suchen“ (GPR, § 138). Die Welt wird negiert und das Individuum zieht sich allein in sein Inneres zurück, in dem das Gute an sich noch lebt – während dieser Standpunkt einer Art inneren Emigration aufs Schärfste verurteilt wird, wenn die Wirklichkeit ihrem Begriff gemäß ist, wird er hier zum einzig möglichen, um als Subjekt moralisch zu sein. Auch durch diese Argumentation bestätigt sich nochmals, dass Hegels Polemik gegen die Hochschätzung der Form des Gewissens sich allein auf das Formelle in Abstraktion vom Inhalt dessen bezieht und keineswegs auf das Gewissen selbst. Sich in falschen Verhältnissen allein nach innen zu richten, stellt für Hegel nicht nur in Bezug auf Sokrates bzw. das damalige Athen, sondern allgemein den richtigen Weg in einem solchen Fall dar: „in Epochen, wo das, was als das Rechte und Gute in der Wirklichkeit und Sitte gilt, den besseren Willen nicht befriedigen kann; wenn die vorhandene Welt der Freiheit ihm ungetreu geworden, findet er sich in
171 Insofern ist Taylors Aussage richtig, dass die davon Betroffenen sich in diesem Fall trotz ihrer Weisheit nicht verwirklichen können, weil sie hierfür in vernünftigen Verhältnissen leben müssten (vgl. Taylor 1983, S. 494).
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den geltenden Pflichten nicht mehr und muß die in der Wirklichkeit verlorene Harmonie nur in der ideellen Innerlichkeit zu gewinnen suchen“ (GPR, § 138, Anm.).172 Folgendes Zitat fasst den Prozess, den die Herausbildung des wahrhaft moralischen Standpunkts bzw. der Sittlichkeit darstellt, abschließend zusammen: „Die Einseitigkeit von diesem ist, teils seine Freiheit unmittelbar in der Realität, daher im Äußeren, der Sache, teils in dem Guten als einem abstrakt Allgemeinen zu haben; die Einseitigkeit des subjektiven Geistes ist, gleichfalls abstrakt gegen das Allgemeine in seiner innerlichen Einzelheit selbstbestimmend zu sein. Diese Einseitigkeiten aufgehoben, so ist die subjektive Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille, der in dem Bewußtsein der einzelnen Subjektivität sein Wissen von sich und die Gesinnung wie seine Betätigung und unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, – die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden.“ (Enz. III, § 513)
Die Freiheit erreicht durch die realisierte Moralität einen höheren Boden, weil sowohl die Unmittelbarkeit des bloß Gegebenen als auch das eitle Gewissen, das seine Partikularität gegen das Allgemeine pflegt, aufgehoben sind im Wissen des Subjekts um die Vernünftigkeit der Welt. In diesem ist die Entzweiung zwischen dem ungebildeten Willen, der an sich zugleich bereits der vernünftige ist, und dem Willen an sich überwunden: Der Einzelne erkennt sich in der vernünftigen Sitte und verwirklicht so seinen Begriff als an-und-für-sich Vernünftiger bzw. als allgemeines Ich. Dies meint Hegel mit der Formulierung, dass dem Subjekt die Freiheit zur Natur geworden ist: Das, was der Mensch seiner Bestimmung nach immer schon ist, hat er durch die Entwicklung der gewussten Identität zwischen Einzelnem und Allgemeinheit nun auch in actu erlangt; er verwirklicht so seine freiheitliche Natur, die zwar in ihm als Menschen angelegt ist, aber seine Vernunft erfordert, um mehr als bloße Potenz zu sein.
172 Ein Recht auf Widerstand als mögliche Konsequenz aus einer solchen Haltung formuliert Hegel jedoch nicht (anders hingegen Vieweg 2012, S. 451; vgl. auch ders., S. 208). Meines Erachtens ist dies jedoch kaum verwunderlich, da der Ausgangspunkt des diskutierten Falls gerade darin liegt, dass der Staat, in dem das wahrhaft moralische Individuum seine Zustimmung verweigert, ein seinen Begriff verfehlender ist. Eine Art Tyrannis wird ihren Untertanen wohl kaum das Recht auf Widerstand einräumen, sodass es also nicht an Hegels vermeintlichem Totalitarismus liegt, dass sich ein solches hier nicht findet, sondern an dem unvernünftigen Staat, in dem das vernünftige Individuum zum Leben in der Entzweiung gezwungen ist.
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3.3 ZWISCHENFAZIT UND ÜBERLEITUNG Welche Bestimmungen für das Hegelsche Konzept der Selbstverwirklichung haben sich nun in diesem Abschnitt des objektiven Geistes ergeben? Dies soll im Folgenden resümiert werden, um die Vorstellung vom Begriff des allgemeinen Ich zu präzisieren. „Objektivität“, so wurde einleitend festgehalten, umfasst erstens, dass sich das Subjekt das Allgemeine zum Zweck setzt – also der Willensinhalt objektiv ist im Sinne einer Identität mit der Vernunft – und zweitens, dass die Wirklichkeit ihrem Begriff gemäß ist, also Freiheit das herrschende Prinzip der Welt darstellt. Beide Momente stellen sich auf den behandelten Stufen unterschiedlich dar. Die ökonomische Sphäre ist wesentlich durch das Institut des Eigentums konstituiert. Dieses stellt die äußere Sphäre der Freiheit einer Person dar: Während zuvor der Blick allein auf den Bildungsauftrag des Subjekts gerichtet wurde, kommt in der Ökonomie das Eigentum als materielle Seite bzw. als Voraussetzung für die Bildung als ideeller Seite der Selbstverwirklichung in den Fokus. Durch das Eigentum kann der Einzelne seinem Willen Existenz verleihen. Jedoch wurde deutlich, dass die vermeintliche Gleichung von Eigentum und Bedürfnisbefriedigung so nicht gilt; Hegel macht die Vernünftigkeit dieser Institution nicht an dem sich dadurch einstellendem materiellen Wohl fest, sondern spricht vom Eigentum als Zweck an sich. Wie deutlich wurde, bringt das Eigentum als erste Bestimmung der Objektivität in der bürgerlichen Welt auf mehreren Ebenen Schwierigkeiten mit sich. Eine zweifache ergibt sich hinsichtlich der Form der Allgemeinheit, die auf dieser Ebene konstituiert wird. Hegel verzichtet aus gutem Grund darauf, eine eigene attributive Konstruktion zu verwenden, weil die Eigentümer hier allein ihre eigenen Interessen verfolgen und diese derart beschaffen sind, dass sich ein rein negatives gesellschaftliches Verhältnis konstituiert: Bei der Verfolgung ihres Nutzens möchten die Warenbesitzer sich jeweils möglichst viel vom anderen aneignen bzw. wenig vom eigenen Eigentum abgeben; der andere ist lediglich Mittel der eigenen Nutzenmaximierung. Deswegen bedarf es an dieser Stelle des Eingreifens des Not- und Verstandesstaates in Form einer Garantiemacht der durch die Eigentümer geschlossenen Verträge, deren Einhaltung notfalls durch die Justiz erzwungen werden kann. Die Allgemeinheit ist auf dieser Stufe also weder im Denken noch im Handeln der Individuen – außer durch Zufälligkeit des Inhalts des gemeinsamen Willens –, sondern allein durch den Zwang des Staates präsent. Nicht nur hinsichtlich des Allgemeinen, sondern auch hinsichtlich der Selbstverwirklichung des Einzelnen hat sich ein im Wesen des Eigentums begründetes Problem ergeben, das letztlich ein bleibender Mangel des Hegelschen Entwurfes zu sein scheint: Dem Philosophen zufolge ist diese Institution nötig, weil sich nur so der Wille des Menschen Wirklichkeit geben kann; die Zwecke der Individuen erhalten am Eigentum die stoffliche Möglichkeit ihrer Realisierung. Damit, so Hegel,
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entspricht die Existenz des Eigentums dem Begriff des Menschen als Freien, der diese seine Freiheit in der Welt geltend machen möchte. Das Eigentum hat seinen Zweck ausschließlich darin, das Person-sein der Menschen zu garantieren, was einschließt, dass es gleichgültig ist gegenüber der Bedürfnisbefriedigung des einzelnen Individuums. Diese Gleichgültigkeit markiert den Beginn des Armutsproblems und es ist Hegels großes Verdienst, die Ursache der Armut klar verortet zu haben. Die Institution Eigentum ist gleichgültig gegenüber der Qualität und Quantität des Besitzes, das ein Subjekt sein Eigen nennen kann; entscheidend ist einzig, dass die Person erhalten bzw. der Möglichkeit nach Eigentümer bleibt. Wenn das gewährleistet ist, dann erfüllt das Recht seinen Daseinsgrund, der im (freien) Willen des Menschen liegt. Diese Bestimmungen haben weitreichende Konsequenzen für das Thema der Selbstverwirklichung, weil es einer materiellen Grundlage bedarf, um sich als Subjekt zu entfalten. Auch die geistigen, politischen und sittlichen Bereiche bleiben – wie Hegel auch selbst wusste –, nicht unberührt von materieller Armut. Das ökonomische Problem wird also auch zu einem politischen, das Dasein als Bourgeois lässt das als Citoyen nicht unberührt – gerade dann, wenn ersteres scheitert. Der Philosoph selbst bringt zum Ausdruck, dass das Problem des materiellen Auskommens auf der Ebene des abstrakten Rechts durch die Einführung von Gemeineigentum nicht gelöst werden kann und stattdessen in einer sie überschreitenden Sphäre behandelt werden muss. Im Abschnitt über die bürgerliche Gesellschaft ist die stoffliche Seite der Reproduktion Gegenstand der Betrachtung, während auf der Stufe des Eigentums bzw. des Vertrags allein die Rechtsform analysiert wurde. Die bürgerliche Gesellschaft ist Hegel zufolge Teil der Sittlichkeit und bedroht diese zugleich, was auch durch die Kennzeichnung als formeller und äußerlicher Allgemeinheit zum Ausdruck gebracht wird. Gegenstand hier sind nach wie vor die materiellen Bedürfnisse der Menschen, die – soweit der Fortschritt dieses gesellschaftlichen Verhältnisses gegenüber allen anderen der Vergangenheit – mit ihren Interessen ins Recht gesetzt werden. Verfolgt der Einzelne seinen Privatmaterialismus, so Hegel, wird darüber gleichsam eine Form der Allgemeinheit generiert, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Individuen diese nicht zum Zweck haben, sie also eine ungeplantanarchische ist. Die explizit bewusstlose Weise der Konstituierung dieser Allgemeinheit wirft einige Probleme des Nachvollzugs der Analyse auf, war das Denken doch bislang stets Conditio sine qua non für die Möglichkeit der Allgemeinheit: Wie kann es überhaupt entstehen, wenn keiner der Marktteilnehmer es zum Zweck hat, und sie sich allein instrumentell aufeinander beziehen? Die Arbeit des Eigentümers stellt die Tätigkeit dar, durch die der Einzelne die Möglichkeit erhält, als Warenbesitzer auf dem Markt aufzutreten und sich die Güter der anderen – vermittelt über das durch eigene Waren verdiente Geld – anzueignen. Neben der Bedeutung der Arbeit als formelles Bildungsinstrument, durch die der Einzelne praktische Qualifikationen ausbildet, ist sie also primär deswegen bedeu-
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tend, weil das Individuum durch die erzeugten Produkte zu einem Marktteilnehmer wird, der mit anderen in ein kontraktualistisches Verhältnis treten kann. Den Ansatzpunkt für die Entstehung eines positiven intersubjektiven Bezugs innerhalb der Konkurrenzordnung sieht Hegel genau darin: Wie erläutert, sind die Eigentümer praktisch aufeinander verwiesen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Gemäß dem Prinzip „Do ut des“ treten sie im Vertrag zueinander ins Verhältnis und obwohl sie dabei jeweils nur sich selbst zum Zweck haben, erfüllen sie dabei im Tauschvorgang immer auch das Anliegen des anderen. Dass die Interessen des Käufers dabei – trotz der Entwicklung eines gemeinsamen Willens in einem Punkt – gegensätzlich im Verhältnis zu denjenigen des Verkäufers bleiben, der sich möglichst viel Geld für sein Produkt aneignen möchte, stellt für Hegel offenbar kein Gegenargument dar. Für ihn ist allein entscheidend, dass es eine praktische Notwendigkeit gibt, sich zueinander in rechtlicher Form als Eigentümer ins Benehmen zu setzen. Diese Art des Verhaltens bringt eine Gemeinsamkeit der sich anerkennenden Eigentümer hervor, die Hegel zufolge auf diese Weise trotz des grundlegenden Antagonismus doch eine Allgemeinheit hervorbringen. Es entsteht ein überindividueller Zusammenhang der Marktteilnehmer, die den Stoffwechsel der gesamten Gesellschaft in der allgemeinen Form des Rechts abwickeln. Durch diesen ungeplanten Mechanismus der Vermittlung der gesellschaftlichen Reproduktion bzw. der unsichtbaren Hand des Marktes, so Hegel, wird die Gegensätzlichkeit der Konkurrenzordnung zu einer positiven Intersubjektivität versöhnt. Mehr als überindividuelle Strukturen durch die Weise des Bezugs der Marktteilnehmer aufeinander vermag sich als Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft jedoch kaum herauszubilden – sie ist, wie der Philosoph selbst betont, reine Notwendigkeit. Und auch die von Hegel behandelten Konsequenzen, die er als Ausschweifung, Armut und Verlust der Sittlichkeit kennzeichnet, kann diese allgemeine Form des gesellschaftlichen Bezugs auf dem Markt nicht ausgleichen: Zwar stellt sich zweifelsohne ein gesellschaftlicher Stoffwechsel durch die Marktmechanismen heraus; gemäß der im abstrakten Recht gegebenen Bestimmung der Zufälligkeit der Bedürfnisbefriedigung bürgt diese anarchische Vermittlung der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion jedoch nicht für die materielle Saturierung des Einzelnen. Schließlich stellt sich das benannte „Können“ des Auftretens als Marktteilnehmer zugleich als „Müssen“ dar, weil jedes Gesellschaftsmitglied durch den nunmehr erreichten Stand der Spezifizierung bzw. der Teilung der Arbeit auf die Waren der anderen verwiesen ist. Diese darüber generierte Abhängigkeit gewinnt vor allem im Konnex mit der Ignoranz des Eigentums gegenüber der gelungenen Bedürfnisbefriedigung an Brisanz: Erstens ist damit gegeben, dass Vermögensunterschiede zwischen den ökonomischen Subjekten für die Erfüllung der Funktion des Eigentums gleichgültig sind und zweitens ist dadurch entschieden, dass ein (relativ) Eigentumsloser den Markt nicht für sich zu nutzen vermag. Zwar wird dies durchaus von Hegel als Problem konstatiert, was sich an seiner ausführlichen Diskussion der Ge-
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genmaßnahmen zeigt; im Wesentlichen jedoch akzeptiert er das Resultat der Konkurrenzordnung und möchte allein in einem zweiten Schritt regulierend und kompensierend eingreifen. Dabei wird deutlich, dass Armut als soziale Frage bzw. aus der Perspektive des Staates betrachtet wird; wie analysiert wurde, macht sich diese Verwandlung sowohl in der Problemdiagnose als auch in der Beurteilung der Gegenmaßnahmen bemerkbar. Die von ihm diskutierten Lösungen für das Armutsproblem zielen vor allem auf die Beseitigung der absoluten Armut, was eine gewisse Folgerichtigkeit beanspruchen kann: Der Einzelne soll als Rechtsperson erhalten bleiben, sodass jegliches existenzgefährdende Niveau von Elend auszuschließen ist. Dieser Grundsatz hat für Hegel solch eine Bedeutung, dass er sogar den ausnahmsweisen Verstoß gegen das Eigentumsrecht durch den Hungernden als legitim erachtet, um ihn als Mensch zu erhalten. In diese Perspektive fügt sich schließlich auch seine Theorie des Sozialstaates, die Hegel entwickelt: Die systematisch produzierte Armut soll durch den Staat, wenn schon nicht beseitigt, so doch zumindest kompensiert werden. Die systematische Verhinderung von absoluter Armut durch die über der Konkurrenzgesellschaft stehende Hoheit ist die Weise, wie mit der Linderung der Not zugleich auch ein Grund gestiftet wird, der die Staatsaffirmation der Besitzlosen hervorbringen kann. Die Existenz eines Pöbels, der durch das subjektive Moment der staatsskeptischen Gesinnung gekennzeichnet ist, kann damit nicht ausgeschlossen werden, da Menschen keinem Determinismus unterliegen. Es ist jedoch zumindest wahrscheinlich, dass nur eine Minderheit diesen Weg wählt, während die Mehrheit der Armen im Sozialstaat die helfende Instanz und damit das Gemeinwesen als ein solches ansieht. Damit besteht auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft ein Unterschied in der Staatsauffassung zwischen den Besitzenden und den Armen, der im folgenden Kapitel beim Nachvollzug des Patriotismus vertieft wurde. Unter einem anderen Aspekt als dem Begriff des Eigentums betrachtet, sind die Hegelschen Überlegungen jedoch als immanent inkonsequent zu bezeichnen: Der Philosoph, dessen Denken unermüdlich den Bildungsauftrag des Menschen betont, weiß um die geistige Deprivation oder zumindest Einschränkung, die mit einer fehlenden materiellen Grundlage einhergehen kann und akzeptiert dennoch auch ganz explizit damit verbundene Differenzen in den Bildungsmöglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder. Wenn, wie bei Hegel der Fall, Selbstverwirklichung verstanden wird als Realisierung der Vernunftfähigkeit des Menschen, dann bedeutet diese Einschränkung, dass seinem Konzept unterschiedliche Grade von Verwirklichungsmöglichkeit inhärent sind. Das arme Leben bleibt sowohl in geistiger, politischer, sittlicher, ja sogar religiöser Hinsicht hinter den in Potenz angelegten Fähigkeiten zurück; der Begriff des Menschen als an-und-für-sich-Vernünftiger kann hier nur in geringerem Maße verwirklicht werden. Diese Auswirkung, die die ökonomische Not auf sämtliche andere Lebensbereiche hat, wird von Hegel erkannt und in
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seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft untersucht. Angesichts seines anspruchsvollen Staatskonzeptes erhält der Konnex von materieller und geistiger Deprivation eine verschärfte Bedeutung: Vor dem Hintergrund, dass auch Religion und Moral für Hegel bestimmte Formen des Wissens darstellen, scheint der graduelle Ausschluss der bildungsfernen Schichten nahezu alle Dimensionen des Geistes zu betreffen. Insofern ist Ritters und Losurdos Emphase hinsichtlich des anthropologischen Realismus, der Hegel – in dem einen Fall implizit, im anderen explizit – zugeschrieben wird, mit Skepsis zu begegnen. Zwar ist es zutreffend, dass es zweifelsohne sein Verdienst ist, die Identität der Menschen hinsichtlich ihres Willens bzw. ihrer Fähigkeit zur Freiheit – unabhängig von Nation, Religion, Hautfarbe etc. – herausgearbeitet zu haben; zugleich ist er hier jedoch „realistisch“ in dem Sinne zu nennen, dass der Übergang von der Potenz zur Aktualität der Vernunft nicht allen zuerkannt wird. Und dies ist nicht aufgrund einer Geringschätzung der natürlichen Ausstattung einiger Menschen der Fall: Es finden sich an keiner Stelle seines Werkes biologistische Argumentationsmuster, die mit vermeintlich schlechten Anlagen ökonomischen und daraus folgend weitere Dimensionen betreffenden Ausschluss rechtfertigen.173 Dieser ist bei ihm allein in der rechtlich-politischen Einrichtung der Gesellschaft begründet. So muss im Resultat also Taylor mit seiner dargelegten Auffassung, dass Hegels Konzept letztlich ein exklusives ist, Recht gegeben werden. Im Übergang von der Sphäre der Ökonomie zum Staat bleiben also im Wesentlichen zwei Schwierigkeiten bestehen, die Hegel zufolge allein durch die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft gelöst werden können und die insofern von einem vordergründig ökonomischen zu einem eminent politischen Problem werden: Wie dargelegt, erfordert der Einbruch der Armut in die Marktgesellschaft das Eingreifen des Not- und Verstandesstaates in Form der Polizei, die die elementare Daseinsfürsorge leistet. Sie ist im weitestem Sinne als Sozialstaat tätig und hat ihren Zweck in der Verhinderung der absoluten Armut. Das zweite Problem betrifft die Erscheinungsweise der Allgemeinheit, die in ihrer mangelhaften Form aufgehoben werden muss. Innerhalb der Konkurrenzgesellschaft ist die im zweifachen Sinne rein äußerlich: Sie wird gewaltsam durch den Not- und Verstandesstaat in Form der Justiz geltend gemacht, wenn die Wirtschaftssubjekte in ihrem Treiben gegen das Gesetz verstoßen. Die Allgemeinheit manifestiert sich also in konkreten staatlichen Institutionen, die ein rechtmäßiges gesellschaftliches Verhalten sicherstellen sollen. Und sie ist insofern rein äußerlich, als sie im Denken der Individuen nicht präsent
173 Wie im folgenden Teil herausgearbeitet wird, ist lediglich die Lebensform des Künstlers aufgrund des hierfür benötigten „Genies“ nicht allen durch ihr Mensch-Sein zugänglich. Materielle Unterschieden werden jedoch nicht mit Verweis auf unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten o. Ä. gerechtfertigt.
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ist und dementsprechend nicht bewusst gelebt wird. Während Polizei und Justiz also das Allgemeine praktisch durch latenten und manifesten Zwang zu implementieren versuchen, stellt sich die Frage, wie es dazu kommen kann, dass sie von den Bürgern auch aus eigenem Antrieb heraus gelebt wird. Der Ort dieses politischen Bewusstseins ist zweifelsohne das den Not- und Verstandesstaat überwindende wahre Gemeinwesen. Das Erwachen der entsprechenden Einstellung lokalisiert der Philosoph bereits in der Ökonomie bzw. näher in den Korporationen. Hier bildet sich immerhin ein relativ-allgemeiner Zweck heraus, zunächst insofern sich die Mitglieder des Berufsverbandes umeinander kümmern, also sich nicht länger als Konkurrenten begreifen. Die Korporationen werden zur zweiten Familie, die für den Einzelnen in der Konkurrenzordnung Verantwortung übernehmen und insofern unter anderem auch ein Mittel gegen absolute Armut ihrer Mitglieder darstellen. Damit ist zugleich auch die Grenze dieser Form benannt: Sie bilden zwar ein Kollektiv, das das bornierte Eigeninteresse überwindet, bleiben aber dennoch im Handeln und Denken in ihrer Partikularität verhaftet; der die Konkurrenz überwundene Standpunkt bezieht sich allein auf die Angehörigen der Korporation. In Bezug auf die Gesamtgesellschaft bleibt der negative Zusammenhang, der mit dem Kampf ums Eigentum implementiert ist, nach wie vor das dominierende Prinzip. Hegel leitet die Notwendigkeit des Staates also aus der Sphäre der Ökonomie ab: Wegen der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft ist es nötig, dass es den Staat als Realisation des wahrhaft Allgemeinen gibt, der die Antagonismen der Ökonomie einhegt, sie zum dauerhaften Funktionieren bringt und in dem das Subjekt sich vom Einzelinteresse löst und schließlich das Allgemeine selbst zum Zweck hat. Nun stellt sich die Frage, inwiefern das gelingt: Löst er die herausgearbeiteten Aporien der bürgerlichen Gesellschaft auf, sodass sich das Ich in dieser Sphäre nun als allgemeines verwirklichen kann? Dem Hegelschen Anspruch nach soll die Allgemeinheit des Staates die Konkurrenzordnung im doppelten Sinne aufheben: Sie bewahrt das ökonomische Treiben als Bestandteil dieses Systems und hebt es zugleich auf eine höhere Stufe. Der Staat, so Hegels Intention, stellt sowohl im Denken als auch in der Praxis ein wahrhaft Allgemeines dar, das also als solches von den Bürgern getragen wird. Während die Familie „zwar auch sittlich, allein der Zweck [...] nicht als gewußter“ (GPR, § 263, Zus.) existiert und „in der bürgerlichen Gesellschaft dagegen [...] die Trennung das Bestimmende“ (ebd.) ist, wird die Sittlichkeit im Staat vollendet, da die Vernunft hier „allgemeiner Zweck und gewußter Gegenstand“ (ebd.) ist. Der bloße Zwangscharakter des Not- und Verstandesstaats soll überwunden und so der Staat selbst stabil und seinem Begriff gemäß werden. Aufgrund dieses Auftrags, der sich auch im Begriff der gewussten und substantiellen Allgemeinheit zusammenfassen lässt, ist es in der Analyse nötig, sich primär nicht auf das Institutionengeflecht zu kaprizieren, sondern auf das Denken und die Praxis der Bürger, des Staates sowie auf das Verhältnis der beiden. Den Staat als gewusste Allgemeinheit zu charakterisieren, impliziert schließlich, dass er
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auch im Bewusstsein der Bürger präsent ist, das sich dann in Handeln übersetzt und dementsprechend als von den Citoyens praktizierte Lebensform bezeichnet werden kann. Durch diese wird das Gemeinwesen zum vernünftigen, das es zugleich immer auch schon sein muss, um als Bürger vernünftig leben zu können. Dies wird durch die sogenannte Doppelstruktur von Einzelnem und Allgemeinen zum Ausdruck gebracht und diesen genuinen Zusammenhang kennzeichnet auch das damalige Verständnis von „Verfassung“. Darin – in der Ermöglichung dessen, dass Menschen ihrem Begriff gemäß bzw. in Freiheit leben – begründet sich auch Hegels „Verehrung“ des Staates: Der Mensch an sich ist ein zoon politikon und zwar in dem Sinne, dass ein politisches Zusammenleben eines gemäß der Freiheit bedeutet; insofern ist der Mensch seiner Natur nach auf einen Staat mit entsprechender Raison verwiesen, um sich verwirklichen zu können. Im Staat also vollendet sich schließlich die Sittlichkeit, die in der Familie ihren Anfang nimmt. Soweit also der Anspruch, den Hegel dem Staat durch den Begriff der gewussten und substantiellen Allgemeinheit zuschreibt – Wie stellt sich, herkommend von der bürgerlichen Gesellschaft, dessen Realisierung dar? Die epistemische Seite dieser politischen Lebensform wird mit dem Begriff des Patriotismus bezeichnet: Diese staatsbejahende Gesinnung ist zum einen vornehmlich beim allgemeinen Stand vorhanden: Hegels Staat weiß um die Wichtigkeit einer Klasse professioneller Staatsbediensteter, die dessen Belange als Beruf praktizieren. Bei diesen ist das Wissen um die Notwendigkeiten des Gemeinwesens am ausgeprägtesten, was vor allem durch die Spezialisierung innerhalb der Beamtenschaft gewährleistet ist. Zum anderen wird der Staat freilich auch durch den Patriotismus aller Bürger getragen. Der Einzelne begreift sich als Teil der politischen Allgemeinheit und diese Gesinnung ist keineswegs nur im Gefühl zu verorten, sondern gelangt erst dann zur Existenz, wenn sie vom Subjekt bewusst gelebt wird. Dem Begriff der gewussten Allgemeinheit entsprechend, legt Hegel hier größten Wert auf die Betonung des Wissens und der Wahrheit als adäquater epistemischer Form des Patriotismus. Gefordert ist also keine dumpfe Untertanengesinnung, sondern die bewusste Reflexion und schließlich Affirmation des staatlichen Zusammenhangs, in den man zunächst nur zufällig hineingeboren wurde und in dem man gewohnheitsmäßig lebt. Gerade dieser Schritt der geistigen Aneignung negiert die bloße Kontingenz und führt zu einem engen Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Wie entwickelt der Bourgeois, der höchstens einen relativ-allgemeinen Zweck in Bezug auf die eigene Korporation kennt, einen solchen Standpunkt? Hegel zufolge ist deren Herausbildung an die Bedingung geknüpft, dass der Staat tatsächlich die Verwirklichung der Freiheit zu seinem Inhalt hat, was durchaus folgerichtig ist: Wenn eine patriotische Gesinnung zur Bedingung hat, dass um die Bestimmungen und den Zweck des Staates gewusst wird, impliziert diese Erkenntnis eine vorangegangene Prüfung, die auch in einem negativen Urteil resultieren kann. Eine wahrhaft patriotische Einstellung entsteht also nur, wenn die Bürger zu dem Schluss
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kommen, dass im jeweiligen Gemeinwesen die Freiheit Inhalt der Räson ist. Für die Frage nach der Vermittlung des ökonomischen Standpunkts mit dem politischen ist bemerkenswert, dass der Patriotismus durch die Vernünftigkeit des Staates selbst erzeugt wird, also in Abstraktion von der Sphäre der Ökonomie und dem dort praktizierten Bewusstsein als Konkurrenzsubjekt. Hegel führt hier also einen zweiten Standpunkt des Individuums ein, den es darüber erlangen soll, dass es den Staat und insofern auch das Agieren des Not- und Verstandesstaates als vernünftig erkennt. Wie deutlich wurde, stellt dieser im Verhältnis zum Bourgeois-Interesse unmittelbar eine Beschränkung dar, jedoch kann der Privateigentümer nicht auf diesem Standpunkt stehenbleiben: Sie müssen auch aufgrund ihres Materialismus ein Interesse am Wirken des Staates entwickeln, da die bürgerliche Gesellschaft ohne das regulierende Eingreifen einer übergeordneten Instanz nicht existieren kann. Langfristig gesehen, stellt der Wille zur Beschränkung des eigenen Treibens in der Konkurrenz keinen Widerspruch zum ökonomischen Interesse dar; kurzfristig und unmittelbar ist das staatliche Eingreifen durchaus eine Limitierung. Der Mensch als Citoyen überwindet diese Betrachtungsweise, indem er die Verwirklichung der Freiheit selbst als seinen Zweck erkennt und deswegen den Staat bejaht. An dieser Stelle wird deutlich, wie sich das Armutsproblem perpetuiert; schließlich stellt sich bei denjenigen, die nicht oder kaum fähig sind, an der ökonomischen Sphäre als Marktsubjekt teilzunehmen, die Frage, wie diese zu einem positiven Resultat ihrer Prüfung gelangen können. Hier scheint die Rolle des Sozialstaates abermals entscheidend: Nicht nur in praktischer Hinsicht als Verhinderung der absoluten Armut, sondern auch bezüglich der Gesinnung der Ausgeschlossenen hat er eine integrierende Funktion inne. Schließlich ermöglicht er es, dass auch die erfolglosen Individuen weiterhin in die Gesellschaft eingebunden sind, bietet ihnen also Anlass zur Affirmation des Gemeinwesens, das mit solch einer Einrichtung auch für die scheiternden Marktteilnehmer Verantwortung übernimmt und sorgt durch seine sozialpolitischen Maßnahmen für die Aufrechterhaltung des Willens, wieder regulär an der Konkurrenz partizipieren zu können.174 Hegel jedenfalls unterstellt, dass das Volk aufgrund der Einsicht in die Vernünftigkeit des Staates einen Willen zu ihm entwickelt und geht von dieser Unterstellung bei der Darlegung der Praxis der Staatsbürger aus: Es drängt die Menschen, so Hegel, das substantielle Allgemeine nicht nur geistig zu affirmieren, sondern auch aktiv Anteil zu haben. Deswegen diskutiert der Philosoph in seinem Staatsentwurf
174 Angesichts dessen, dass die Identität der Interessen zwischen Staat und Individuum die wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer patriotischen Gesinnung darstellt, ist dieser Übergang keineswegs schlüssig: Die Armen bejahen damit den Staat, der die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzt und der sie damit auf diese Rolle festlegt.
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mögliche politische Beteiligungsformen, wobei hier stets das Bemühen zu bemerken ist, die Individuen auch in ihrer Eigenschaft als Bourgeois in den Staat zu integrieren. Erfolgt die Bejahung des Staates durch die Abstraktion von unmittelbaren ökonomischen Interessen, soll die Wirtschaft umso mehr keine dem Staat entzogene, ihn womöglich untergrabende autonome Sphäre darstellen, sondern erstens seiner Kontrolle unterliegen und zweitens auch positiv auf das Gemeinwesen bezogen sein. Der Sinn der Hegelschen Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat liegt also nicht in einer strikten Separierung – die allein schon hinsichtlich der Existenzfähigkeit der beiden Sphären nicht möglich wäre –, sondern in der Analyse der jeweiligen Eigenheiten, der Darlegung der Mängel der durch die Wirtschaft konstituierten Gesellschaftlichkeit und schließlich der Aufhebung der Entzweiung durch die Integration im Staat. Diese lässt freilich die Ökonomie als solche bestehen, aber unter der begrenzenden Kontrolle und damit dem übergeordneten Zweck des Staates. Für die individuelle Ebene bedeutet dies, dass durch die unterschiedlichen Formen des politischen Einbezugs rückwirkend eine Veränderung in Bewusstseins und Handeln im ökonomischen Treiben einsetzen soll: Während der Staat innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zunächst als rein negative Macht erscheint, die der eigenen Interessensverfolgung Grenzen setzt, soll diese Limitierung als notwendige Regelung eingesehen werden. Deswegen werden die Subjekte bspw. in Gestalt ihrer Berufsverbände am Gesetzgebungsprozess beteiligt: Sie selbst sollen sich das Anliegen setzen und praktizieren, dass die Konkurrenzsphäre einer Steuerung durch das Recht bedarf. Durch diese Tätigkeit im Sinne des Staates kann wiederum eine Fortentwicklung des Bewusstseins sowie auch des erforderlichen Wissens über die Staatsnotwendigkeiten stattfinden. So soll sich die „empirische Allgemeinheit“ (GSGPR, § 301, S. 706), also die in der bürgerlichen Gesellschaft existierende Menge, zur Allgemeinheit des Staates emporarbeiten,175 um schließlich selbst zu „Staatsmänner[n]“ (GSGPR, § 301, S. 706) zu werden. Dasselbe Bemühen findet sich auf der Seite der Staatsbediensteten, die dem Philosophen zufolge entweder durch eigenes Vermögen oder durch staatliche Alimentierung den privaten Kalkulationen als Wirtschaftssubjekt enthoben sind, um möglichst sicherzustellen, dass sie
175 „Die Hauptsache ist, daß bei dem ständischen Element, die Vielen auch zum Mitsprechen kommen, die empirische Allgemeinheit ihr Recht mitzusprechen erlangt, ‚das‘ Moment der subjektiven Freiheit. Diejenigen müssen jedoch nothwendig dabei die größte Stimme haben, die es am beßten verstehen und die welche sich mit Privatinteressen beschäftigen, ihren Sinn auf den kleinen Kreis der bürgerlichen Gesellschaft beschränken, verstehen nicht so gut was dem Allgemeinen wohl ist, als die welche sich immer damit beschäftigen“ (GSGPR, § 301, S. 706 f.).
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sich nicht von partikularen Interessen leiten oder gar bestechen lassen, sondern allein den Staatsgesichtspunkten verpflichtet sind. Auch dort, wo Partizipationsrechte versagt werden, lässt sich dies durch das Bemühen der Integration der Ökonomie ins Politische erklären. So hat die Verweigerung des allgemeinen Wahlrechts für Hegel den Grund, dass sich die Individuen bei ihrer politischen Betätigung nicht von ihrem unmittelbaren Privatmaterialismus leiten lassen sollen. Der Versuch des Ausschlusses solcher Kalkulationen richtet sich dabei nicht per se auf wirtschaftliche Interessen, sondern auf die Berechnung des nur am kurzfristigen Erfolg orientierten Bourgeois, der weder das Interesse seines Wirtschaftszweiges, geschweige denn das des Staates als Ganzem im Blick hat. Dieser Gefahr möchte der Hegelsche Staatsentwurf entgehen, indem er von vornherein die Betätigung des Einzelnen als Wahlbürger ausschließt und ihm nur vermittelt über seinen Berufsverband eine Stimme gibt. Demselben Anliegen folgt auch die Emphase, die Hegel auf die Notwendigkeit der Öffentlichkeit der Ständeversammlung sowie der Medien- und Pressefreiheit legt: Beides stellt ein Bildungselement dar, das den Menschen die Erfordernisse des Staates näherbringen soll. 176 Auch der Nachvollzug der von Hegel vorgesehenen Praxis der Bürger und des Staates sowie die inhaltliche Ausgestaltung der Staatsraison zeigen die Unhaltbarkeit des Totalitarismus-Vorwurfes. Der Philosoph formuliert klare Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine Herrschaft als legitim bezeichnen zu können. 177 Nur, wenn diese gewährleistet sind, ist ein Staat entsprechend dem Wechselverhältnis von Einzelnem und Allgemeinen überhaupt als solcher in dem anspruchsvollen Sinne zu bezeichnen, dass er nicht nur einen Machtapparat unterhält, sondern seine Institutionen auch tatsächlich von den Bürgern getragen werden. Es ist Teil seines Staatsbegriffs, dass die Bürger ihn bejahen und er so zu einer Lebensform der Menschen wird. Da dies nur dann der Fall ist, wenn die Bürger zu der Ansicht gelangen, dass eine Interessensidentität zwischen Volk und Staat vorherrscht, kann die Vorstellung der Hegelschen Bejahung einer Tyrannis per definitionem ausgeschlossen werden. In ihr wird der Staat zu keinem lebendigen Geist, wie von Hegel gefordert,
176 Führt man sich diesen Grund vor Augen – der nichts mit einer antidemokratischen Einstellung zu tun hat –, kann man sich durchaus vorstellen, dass Hegel dies in einer reifen Demokratie anders gesehen hätte. Schließlich besteht sein Bemühen in der Bildung der Menschen, die als Bürger und nicht als Bourgeois im Staat agieren sollen. Hat dieses Bemühen Erfolg, eröffnet sich die Möglichkeit einer umfassenderen aktiven Beteiligung des Volkes, weil eine kurzfristige Interessens- durch eine Allgemeinwohlorientierung ersetzt wird. 177 Hegel ist „weder Rechts- noch Machtpositivist [...]. Der Staat ist ihm nur als Macht des Rechts (und zwar eines überpositiven, vernünftigen Rechts) die höchste Institution der Sittlichkeit“ (Hösle 1988, S. 559, Hervorh. i. O.).
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weil sie rein auf Unterdrückung beruht, die Bürger also kaum eine affirmative Staatsgesinnung entwickeln werden. Wesentlich nun, um eine Herrschaft als legitim zu charakterisieren, ist zum einen die Form der Gewaltausübung: Der Philosoph plädiert für einen Rechtsstaat, in dem mit Gesetzen regiert wird. Dabei verlieren diese den Charakter als Zwangsinstrumente, wenn sich die Bürger praktisch nach den staatlichen Regelungen betätigen und diese auch geistig affirmieren; der Bürger, der auf dem Standpunkt des wahrhaft Allgemeinen steht, wird nicht länger durch das Recht zu einem bestimmten Handeln gezwungen bzw. beschränkt, sondern die Gesetze bilden den Rahmen einer gesellschaftlichen Praxis, die deren Inhalt entspricht. Da Hegel davon ausgeht, dass es einen einheitlichen Staatswillen geben muss, lehnt er eine strikte Gewaltentrennung ab; dementsprechend sind ihm zufolge sowohl Regierung, Monarch und ständische Verbände Teil der Gesetzgebung. Inhaltlich stellen die Gesetze die in rechtliche Form gegossene Ausbuchstabierung der Verfassung dar, wobei hier der materielle Gehalt entscheidend ist: Nur, wenn die Freiheit in all ihren Facetten Inhalt der Staatsräson ist, soll eine Herrschaft Gefolgschaft für sich beanspruchen können. Das Prinzip der Subjektivität als Leitmotiv der Ordnung umfasst dabei unter anderem, dass alle Menschen als Rechtspersonen anerkannt werden. Gegenüber den vergangenen Gemeinwesen bedeutet dies in mehrfacher Hinsicht einen Fortschritt: Alle werden zu Bürgern, wobei es keinerlei Privilegien mehr gibt, vielmehr Gleichheit vor dem Gesetz herrscht. Sie dürfen und sollen sich außerdem um ihr eigenes Auskommen und das ihrer Familie kümmern. Die private Interessensverfolgung wird also vom modernen Staat erlaubt und stellt nicht länger einen Widerspruch zum Leben als allgemeines Ich dar. Dabei umfasst die dem Individuum zugesprochene Freiheit nicht nur die ökonomische und die politische in Form von Partizipationsmöglichkeiten, sondern auch das Recht auf Privatsphäre. In der Familie findet das Individuum einen vom Staat geschützten Raum, in dem es sich jenseits der Konkurrenz betätigen kann. Zu dieser gehört außerdem das Recht auf Innerlichkeit, das eine Sphäre der freien geistigen Entfaltung bietet: Die Staatsbürger sollen sich mit der Vernünftigkeit ihres Staates auseinandersetzen, diese also frei prüfen können. Die Möglichkeit der Entzweiung, die durch die Lizenzierung des Privatmaterialismus entstehen kann, wenn die Gesetze des Not- und Verstandesstaates als Schranke empfunden werden, ebenso aber auch durch die Gewährung einer innerlichen Freiheitssphäre, wenn die Prüfung der Vernünftigkeit der Herrschaft zu einem negativen Urteil gelangt, begründet die Dignität moderner Staaten; schließlich kann es keine andere und bessere Bestätigung des Charakters als wahrhaft Allgemeines geben, als von freien Bürgern, die sich auch anders entscheiden könnten, bejaht zu werden. Auch wenn die Beurteilung des Hegelschen Entwurfes bereits während des Nachvollzugs seiner Gedanken vorgenommen wurde, soll hier nochmals ein kurzes Resümee gezogen werden. Wie schlüssig erscheint das Hegelsche Konzept von
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Selbstverwirklichung bzw. des Begriffs des allgemeinen Ich nun nach einer Analyse des objektiven Geistes? Löst er die herausgearbeiteten Aporien der bürgerlichen Gesellschaft im Staat auf, sodass sich das Ich in dieser Sphäre nun als allgemeines verwirklichen kann? Und wie steht es um die Einheit von Einzelnem und Allgemeinem, auf die Hegel zufolge im Staate alles ankommt? Wie bereits deutlich gemacht, können diese Fragen meines Erachtens nicht für alle Bürger gleich beantwortet werden. Zum einen gibt es die freie, gebildete Bürgerschaft, von der Vieweg in Bezug auf Hegels Staatskonzept zurecht spricht; sie zeichnet sich in mehrerlei Hinsicht aus: Praktische Bedingung für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ist das erfolgreiche Bestehen in der ökonomischen Konkurrenz; die materielle Absicherung durch eine Behauptung im gesellschaftlichen Kampf der Warenbesitzer ist schlicht unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit einer geistigen Entwicklung und einer politischen Teilhabe im Bewusstsein um das wahrhaft Allgemeine des Staates. Diese beiden Momente stellen die weitere Bestimmung der Citoyen dar: Sie erfüllen den Bildungsauftrag, den Hegels Philosophie dem Menschen an sich zuspricht, in vorzüglicher Weise und sind auch in Bezug auf das Politische privilegierte Vertreter der gewussten Allgemeinheit, wenn auch nicht im Sinn eines Vorrechts, sondern aufgrund ihrer besonderen ökonomischen Voraussetzungen. Dies liegt darin begründet, dass der Grund für den Patriotismus in der Interessensidentität von Staat und Bürgern liegt, was freilich vor allem für die Schichten des Volkes zutrifft, die auch materiell ihre Heimat in dem Staat finden. Für diese trifft die Charakterisierung zu, dass „die einzelne Vernunft in diesen Institutionen [des Staates, I. S.] nur die Wirklichkeit ihres eigenen Wesens [erkennt, I. S.] und geht, wenn sie diesen Gesetzen gehorcht, nicht mit dem ihrer Fremden, sondern nur mit ihrem Eigenen zusammen.“ (VÄ I, S. 136) Durch die Ausbildung der Staatsbürgergesinnung wiederum sind sie nicht nur aufgrund ihres ökonomischen Status, sondern auch durch ihren epistemischen Zustand besonders dafür geeignet, das substantielle Allgemeine nicht nur zu denken, sondern auch aktiv zu praktizieren. So ist dieser Teil der Bürger aufgrund seines Vermögens prädestiniert für die Übernahme von Staatsämtern, da die Gefahr der Korruption bei Personen mit saturierten Bourgeois-Interessen geringer ist. Weil auch die Möglichkeit der Alimentierung von Beamten vorgesehen ist, um sie der ökonomischen Konkurrenzsphäre zu entheben, ist die Ausübung solcher Posten bei der Erfüllung der Voraussetzung einer besonders ausgeprägten Bildung auch für die heute wohl so genannte Mittelschicht möglich – Angehöriger der wirklich vermögenden Klasse zu sein, stellt also keineswegs eine Bedingung für die Übernahme eines Staatsamtes dar. Es sind also die Beamten als der allgemeine Stand sowie die Schichten des Volkes mit einer gelingenden Reproduktion, die durch ihren Patriotismus und ihre politische Tätigkeit – sei es auf Seiten des Staates selbst oder als Bürger – ihr Gemeinwesen konstituieren. In diesem Sinne ist es zutreffend, dass der Staat bestimmt ist
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„als ,Bürger-Sein oder ‚Bürgerschaft‘“ (Vieweg S. 350) und Hegel eine „Wissensund Bildungsdemokratie“ (Vieweg 2012, S. 434) entwirft. Der Philosoph vertritt ein anspruchsvolles Konzept des Politischen, das dem Menschen als zoon politikon eine Lebensweise zuspricht, die sich durch ein Bewusstsein von ihrem Staat als gewusstes Allgemeines sowie durch eine politische Tätigkeit, durch die die substantielle Allgemeinheit zu einer solchen wird, auszeichnet. Immanent besteht der Mangel der Hegelschen Philosophie hier allein in den vermutlich zu gering ausgeprägten Partizipationsmöglichkeiten, die Hegel den Bürgern aufgrund seiner Skepsis gegenüber dem ökonomischen Standpunkt einräumt. Wie bemerkt, würde sich diese Einschätzung Hegels in der heutigen reifen Demokratie ändern; er selbst geht aus von einer Fortentwicklung der politischen Gesinnung, unter anderem durch die Institution der Öffentlichkeit, und es scheint seiner Intention zu entsprechen, daraufhin die Möglichkeiten, das Allgemeine zu praktizieren, weiterzuentwickeln. Diese Erweiterung der politischen Rechte bietet sich immanent in der Hegelschen Logik nicht bei denjenigen an, die gedanklich und praktisch vom Kampf um ihre Reproduktion eingenommen sind und sich somit kaum oder zumindest nur schwer von ihrem Standpunkt als Bourgeois in ihrem politischen Handeln lösen können. In diesem Sinne ist das aus der Ökonomie herrührende Problem der Armut ein genuin politisches. Die freie Bürgerschaft, die eine politische Lebensform durch Bildung und entsprechende Betätigung praktiziert, umschließt aufgrund der Wirkweisen der bürgerlichen Gesellschaft nicht alle Mitglieder eines Volkes. Zwar ist es einer der großen Fortschritte des modernen Staates, dass er alle Menschen unabhängig von Religion, Stand etc. als rechtsfähige Personen und damit als seine Bürger anerkennt. Die Gleichheit ist jedoch eine formale, garantiert also weder Ergebnisgleichheit noch – wie die Notwendigkeit des Eingreifens des Staates als sozialer zeigt – die Fähigkeit aller Eigentümer, ihre Reproduktion aus eigenen Kräften zu bestreiten. Auch wenn der Staat tätig wird, um absolute Armut zu verhindern – sprich die Rechtsfähigkeit seiner Bürger zu erhalten –, kann der zahlreiche Bereiche des Lebens umfassende Zustand der Deprivation nicht beseitigt werden, was Hegel selbst eindrücklich herausarbeitet und wovor er, vor allem hinsichtlich des Entstehens des Pöbels, auch warnt. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass er auch sittlich verarmt, also kein Zutrauen mehr in das Gemeinwesen aufzubringen vermag. Insofern stellt der Pöbel das Extrem der Untergrabung der von Hegel anvisierten politischen Lebensform dar, die bei den Armen in milderer Ausprägung bereits existiert. Die materielle Verarmung kann zu einer solchen auf geistiger, politischer, sittlicher und schließlich auch religiöser Ebene führen. Für das betroffene Individuum bedeutet dies eine Einschränkung der Verwirklichungsmöglichkeiten, auch und vor allem in politischer Hinsicht, was vor allem fatal ist, wenn das Politische anthropologisch bestimmt wird, wie das bei Hegel der Fall ist: Was die Seite des Denkens des Allgemeinen anbelangt, so ergibt sich die erste Schwierigkeit bereits hinsichtlich der Möglichkeit der Herausbildung einer
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patriotischen Gesinnung, scheint den Armen doch die Interessensidentität zum Staat zu fehlen. Diese Basis für das Handeln als Citoyen muss ihnen, so kann mit Hegel argumentiert werden, jedoch aufgrund des Eingreifens des Sozialstaates nicht verwehrt bleiben: Sie können die von ihm implementierte Ökonomie zwar kaum als vernünftig begreifen, sich aber dennoch aufgrund seines sozialen Netzes in ihm beheimatet wissen. Dennoch ergeben sich Einschränkungen auf epistemischer und praktischer Ebene. Wie erläutert, ist das Wissen um die Staatsnotwendigkeiten primär im allgemeinen Stand präsent; der Zugang hierzu ist für sie jedoch mindestens stark eingeschränkt, da ihnen das nötige Vermögen zur Emanzipation von Korruptionsanfälligkeit fehlt. Die Alimentierung der Beamtenschaft, die Hegels Staat vorsieht, könnte hierfür immerhin Ersatz bieten. Vom Gesetzgebungsprozess scheinen sie eindeutig ausgeschlossen zu sein: Das Substitut für das allgemeine Wahlrecht, das Hegel in der Repräsentation des Einzelnen über seinen Berufsverband vorsieht, greift bei den Arbeitslosen und dem „Vierten Stand“ nicht. Selbst wenn man ihnen also den Willen zur Praktizierung des Allgemeinen unterstellt, sind sie von politischer Exklusion betroffen. Man muss sich die Bedeutung dessen vor dem Hintergrund vor Augen führen, dass Hegel anthropologisch argumentiert, also die nun entfaltete Struktur ein Grundgerüst für die Entfaltung des Begriffs des Menschen bzw. – individuell ausgedrückt – für Selbstverwirklichung überhaupt darstellt. Hegel zeichnet die Linien vor, die seiner begründeten Ansicht nach für jedes vernunftbegabte Wesen gelten, weil dessen Fähigkeit zur Vernunft etwas Überindividuelles, die ganze Gattung Umgreifendes darstellt. Von diesem Anspruch herkommend, muss er selbst feststellen, dass die tatsächliche Möglichkeit, die in Potenz angelegte Bestimmung zu realisieren, nicht für alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft im gleichen Maße aufgehen kann. Dass sich die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft nicht auflösen, sondern in die staatliche Sphäre übertragen werden und dort neue politische Bestimmungen erhalten, hat nicht nur Implikationen für Hegels Konzept der Selbstverwirklichung, sondern ebenso für den Staat: Gehört es doch dem Philosophen zufolge zum Begriff eines modernen Gemeinwesens, gewusste Allgemeinheit zu sein, werden die mangelnden materiellen und geistigen Verwirklichungsmöglichkeiten eines Teils der Bevölkerung natürlich zum Problem für das Sein des Staates an-undfür-sich. Dessen Realität stellt keine (vollständige) Verwirklichung seines Begriffes dar, wenn die Einheit von Einzelnem und Allgemeinen, auf die laut Hegel alles ankommt, für einige brüchig ist. Die eingangs aufgestellten Thesen, die im Laufe der Argumentation entfaltet wurden, müssen nun also um ihr Verhältnis zueinander bzw. die entwickelten Schlüsse ergänzt werden: Die Ökonomie stellt für Hegel eine „formelle“ (Enz. III, § 517) bzw. „äußerliche“ (Enz. III, § 534) Allgemeinheit dar. Dies ist darin begründet, dass
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a) das Eigentumsrecht ignorant gegenüber der Bedürfnisbefriedigung ist und mit ihm ein negativer gesellschaftlicher Zusammenhang etabliert ist, der im Vertragsrecht zum Ausdruck kommt. b) durch das Prinzip der Konkurrenz und des anarchisch-ungeplanten Zusammenhangs in der bürgerlichen Gesellschaft notwendigerweise Verlierer produziert werden. Damit liegt bereits auf der Ebene des abstrakten Rechts das Phänomen der Armut begründet, das sich in den verschiedenen Sphären perpetuieren wird: c) das Eingreifen des „Not- und Verstandesstaat[es]“ (GPR, § 183) von den Wirtschaftssubjekten in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft als äußerer Zwang gegen ihren Willen begriffen wird, ihrem Denken und Handeln also nicht immanent ist. Der Mensch als genuin politisches Wesen bedarf der staatlichen Gemeinschaft, um sich zu verwirklichen. Der Staat stellt für Hegel eine „gewußte“ (Enz. III, § 535) und „substantielle“ (Enz. III, § 534) Allgemeinheit dar. Dies impliziert a) ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bürger und Staat: beide können ihren Begriff nicht ohne den anderen verwirklichen. b) zwei Ebenen der Verwirklichung: eine epistemische und eine praktische. c) Gelingt die Entwicklung dieses Verhältnisses, handelt es sich um eine vermittelte Einheit in einer politischen Lebensform. Die Möglichkeit der Selbstverwirklichung bzw. der Realisierung des Begriffs des allgemeinen Ich teilt sich in der Sphäre des objektiven Geistes auf: I. Individuen, die erfolgreich an der ökonomischen Konkurrenz teilnehmen, a) haben die materiellen Bedingungen, um den dem Menschen an sich zukommenden Bildungsauftrag zu erfüllen. b) haben wegen der Interessensidentität zum Staat Grund zur Entwicklung einer patriotischen Gesinnung, die den Staat zur gewussten Allgemeinheit werden lässt. c) leben ihre Staatsgesinnung vermittelt über die Korporationen und sind aufgrund ihres Vermögens prädestiniert für das politische Tätigsein im allgemeinen Stand. Sie können also durch ihr staatsbürgerliches Denken und Tätigsein ihre Natur als zoon politikon und dadurch zugleich den Begriff des Staates als gewusste und substantielle Allgemeinheit verwirklichen. II. Individuen, die es nicht vermögen, selbst für ihre Subsistenz zu sorgen, a) haben zwar als Menschen Teil an der überindividuellen Vernunft, jedoch ermangelt es ihnen an den Voraussetzungen zur Entwicklung eines allge-
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meinen Willens, sodass die Realisierung des Bildungsauftrages nicht oder nur bedingt erfüllt werden kann. b) werden den Staat nicht oder nur bedingt als wahrhafte Allgemeinheit erkennen können, sodass die ökonomische Deprivation eine politische Bedeutung erhält. c) können ihre politische Gesinnung – selbst, wenn diese vorhanden ist – kaum praktizieren, da sie von den Korporationen ausgeschlossen sind und eine besondere Eignung für den allgemeinen Stand – abgesehen vom fehlenden Vermögen, das durch Alimentierung ersetzt werden kann – durch politische Bildung in geringerem Maße gegeben ist. Ihre Fähigkeit zur Verwirklichung ihrer politischen Dimension des MenschSeins ist bei ihnen graduell eingeschränkt, sodass neben der individuellen Deprivation auch der Staat als gelebte Bürgergesinnung nicht auf diesem Teil seines Volkes beruht und sich daraus gemäß dem Wechselverhältnis ein Mangel für diesen anund-für-sich ergibt. Zwar stellt es das Verdienst Hegels dar, das Armutsproblem bei der Institution des Eigentums verortet zu haben; seinem eigenen Anspruch wird er meiner Interpretation zufolge aufgrund der Perpetuierung der Armut von der ökonomischen in die politische Sphäre nicht gerecht. Das Resultat, das Hegel zum Abschluss des Kapitels über den objektiven Geist formuliert, trifft nicht auf alle Bürger zu: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.“ (GPR, § 142)
Das hier nochmals zum Ausdruck gebrachte Wechselverhältnis zwischen dem Bewusstsein und dem Handeln der Bürger sowie der Verwirklichung der Sittlichkeit bleibt zumindest für den exkludierten Teil ein uneingelöstes Postulat, wodurch zwar nicht der Hegelsche Entwurf als Ganzes verworfen, aber zumindest eingeschränkt werden muss. Obwohl er selbst das Drama der Armut als solches erkennt und um dessen Lösung ringt, unterlässt Hegel jedenfalls eine rückwirkende Reflexion der Resultate auf die von ihm selbst aufgedeckte Notwendigkeit der Armut. Wie dargelegt, ist dies meines Erachtens darin begründet, dass der Philosoph selbst davon ausgeht, dass das Armutsproblem gelöst oder zumindest entschärft wird, indem der Sozialstaat durch seine kompensatorische Tätigkeit die Form der absoluten Armut verhindert. Ich habe dafür argumentiert, dass sich nicht bei seiner Staatskonzeption als solcher, sondern bei seinem Armutsbegriff eine unbegründete Affirmation der politökonomischen Verhältnisse verorten lässt:
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Der Sozialstaat stellt für Hegel eine adäquate Antwort auf die „quälende“ (GPR, § 244, Zus.) Frage der Armut dar, die dieser die Brisanz nimmt, da a) er durch Kompensation zwar nicht materielle Deprivation, jedoch die absolute Form der Armut beseitigt. b) eigentlicher Sorgegenstand also nicht die Not an sich, sondern die Erhaltung des Person-Seins der davon Betroffenen sowie die Entstehung eines „Pöbels“ (GPR, § 244) ist. Schließlich stellt die materielle und geistige Deprivation der relativ Armen im Staats-Kapitel für ihn keinen Analysegegenstand mehr dar. c) die relativ Armen nicht nur materielle Hilfe finden, sondern auch einen Grund, um den Staat trotz ihrer ökonomischen Situation zu affirmieren. Die Lösung der Armut als soziale Frage bzw. deren Betrachtung aus der Perspektive des Staates begründet also, weswegen sich Hegels Selbsteinschätzung zufolge aus dem ökonomischen kein politisches Problem entwickelt, das bei der Analyse des Staates explizit zu behandeln ist. Vergegenwärtigt man sich, dass er nicht differenziert zwischen Individuen, denen die Bestreitung der eigenen Subsistenz gelingt und den Konkurrenzverlierern, also sich in seinem Selbstverständnis der „Gegensatz von Subjektivem und Objektivem, von innerer Freiheit und äußerlich vorhandener Notwendigkeit in freier Weise“ (VÄ I, S. 136) für alle auflöst, stellt sich eine weitere Frage: Worin besteht Hegel zufolge nun noch ein Mangel, weswegen es eines Übergangs in den absoluten Geist bedarf? Schließlich läuft seine gesamte Argumentation bislang auf den Nachweis hinaus, dass dem freien Menschen das Leben in einem freiheitlichen Staat gemäß ist, das allgemeine Ich also sein genuin auf die Allgemeinheit bezogenes Wesen in politischer Form verwirklicht. Schon allein an der Existenz des Übergangs bzw. einer Sphäre über dem objektiven Geist, so führt auch Bloch zutreffend aus (vgl. Bloch 1972, S. 255), zeigt sich, dass für den Philosophen der Staat nicht den Höchstwert verkörpert. Für die hier vorliegende Arbeit ist dies deswegen zentral, weil die bisherige Bestimmung des allgemeinen Ich als politisch-geistiges Wesen eine Konkretion durch Hierarchisierung erfährt: Das Geistige steht evident über der politischen Substanz des Menschen. Kunst, Religion und Philosophie sind höherrangig als das politische Gemeinwesen, das seinen Begriff als gewusste und substantielle Allgemeinheit verwirklicht. Hegel selbst leitet dementsprechend in der Enzyklopädie von der Behandlung des Verhältnisses von Staat und Religion zum absoluten Geist über: Im letzten Paragraphen des Staats-Kapitels heißt es zur Ausführung des Mangels der Stufe des objektiven Geistes: „Der Volksgeist enthält Naturnotwendigkeiten und steht in äußerlichem Dasein (§ 483); die in sich unendliche sittliche Substanz ist für sich eine besondere und beschränkte (§ 549 u. 550) und ihre subjektive Seite mit Zufälligkeit behaftet“ [...].“ (Enz. III, § 552)
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Der Volksgeist als konkrete, geschichtliche Form des Weltgeistes gilt Hegel als beschränkte Erscheinungsweise,178 weil er sich nicht von kontingenten Bedingungen der Natur löst, sondern als historisch existenter in diesen auftritt und somit auch von ihnen abhängig ist. Was einen Fortschritt des objektiven Geistes gegenüber dem subjektiven darstellt – seine Existenz in der realen Welt, die das bloße Dasein der Vernunft im Individuum überwindet –, gilt ihm nun als Mangel, da der Geist sich hierdurch von zufälligen Besonderheiten des Ortes und der Zeit abhängig macht und nur eine relative, bestimmte Stufe innerhalb der Geschichte der Vernunft darstellt. Diese als in der Welt seiende (vgl. Enz. III, § 553) ist damit gemäß ihrem Begriff als bedingt durch das Wissen der Individuen auch darüber eine beschränkte: Für das Denken der Einzelnen bzw. für das, was sie als Sittlichkeit bewusst anerkennen, gelten dieselben Bestimmungen wie für das Allgemeine des Volksgeistes; Inhalt ihrer Sittlichkeit ist „zeitlich Vorhandene[s] und im Verhältnisse gegen eine äußerliche Natur und Welt“ (Enz. III, § 552).179 Der „in Endlichkeit verstrickte Mensch (VÄ I, S. 137) bleibt als solcher gefangen im „Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit, von Geist und Natur, von Wissen und Gegenstand, Gesetz und Trieb, der Gegensatz und Widerspruch überhaupt, welche Form er auch annehmen möge“ (ebd.); er ist, wie in Kapitel 2.1 herausgearbeitet, ein Wesen mit Körper und Geist, in der Welt stehend und damit auch den besonderen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, den Bedürfnissen des Körpers und den Anforderungen der Natur ausgesetzt. Dies ist der Mensch und dies bleibt er – wenn es auch eine von Hegel hier anvisierte Weise der Betätigung gibt, die diese „Verstrickung“ vorübergehend aufhebt. Es wird schnell deutlich, woran Hegel sowohl das einzelne Individuum als auch die konkrete Erscheinungsweise der Vernunft als Volksgeist misst, um zu diesen Mängelbeschreibungen zu gelangen: Der Mensch als in der Welt Stehender ist kein reines Vernunftwesen, das sich frei von allen weltlichen
178 Auch wenn der Übergang in den absoluten Geist also mit Unzulänglichkeiten der Sphäre des objektiven Geistes begründet wird, ist es meines Erachtens nicht zutreffend, dass Kunst, Religion und Philosophie eine „kompensatorische Funktion“ (Fetscher 1970, S. 77, Hervorh. i. O.) zukommt: Die Betätigung der Bewusstseinsformen des absoluten Geistes hat nicht die funktionale Bestimmung, Trost für die Unzulänglichkeiten des Lebens als Staatsbürger zu spenden, sondern ist Selbstzweck. 179 „Es ist nur die vernünftige Freiheit des Willens, welche darin sich expliziert; es ist nur der Staat, und wiederum nur dieser einzelne Staat, und dadurch selbst wieder eine besondere Sphäre des Daseins und deren vereinzelte Realität, in welcher die Freiheit wirklich wird. So fühlt der Mensch auch, daß die Rechte und Verpflichtungen in diesen Gebieten und ihrer weltlichen und selbst wieder endlichen Weise des Daseins nicht ausreichend sind; daß sie in ihrer Objektivität wie in Beziehung auf das Subjekt noch einer höheren Bewährung und Sanktionierung bedürfen.“ (VÄ I, S. 137)
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Einflüssen dem Denken widmet und ebenso ist die historisch existente Erscheinung einer gewussten und substantiellen Allgemeinheit trotz ihrer Vernünftigkeit eben nur eine Stufe, ein Teil der Geschichte der Vernunft und damit nicht die Vernunft an und für sich, die nicht abhängig ist von einer äußeren Gestalt, sondern nur das als Manifestation in der Welt anerkennt, was vernünftig ist und diese Geschichte denkend nachvollzieht.180
180 „Der Inhalt aber dieser Freiheit und Befriedigung bleibt dennoch beschränkt, und so behält auch die Freiheit und das Sichselbstgenügen eine Seite der Endlichkeit. Wo aber Endlichkeit ist, da bricht auch der Gegensatz und Widerspruch stets wieder von neuem durch, und die Befriedigung kommt über das Relative nicht hinaus.“ (VÄ I, S. 137)
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Der absolute Geist: Aufhebung der geistigsittlichen Entzweiung durch die Rückführung der Armen in das Allgemeine?
„Der Mensch ist das reine Denken seiner selbst, und nur denkend ist der Mensch diese Kraft, sich Allgemeinheit zu geben [...].“ (GPR, § 5, Zus.)
Wie im Übergang gesehen, sind sowohl der in Endlichkeit verstrickte Mensch als geistiges und körperliches Wesen, in einer politisch-gesellschaftlichen sowie natürlichen Umwelt Lebender sowie auch der Volksgeist als in der Äußerlichkeit stehender mangelhaft gemessen am Denken an sich. Der Mensch sucht „die Region einer höheren, substantielleren Wahrheit, in welcher alle Gegensätze und Widersprüche des Endlichen ihre letzte Lösung und die Freiheit ihre volle Befriedigung finden können“ (VÄ I, S. 137). Das allgemeine Ich möchte sich in einer Form betätigen, die das Partikulare der gewussten und substantiellen Allgemeinheit in Gestalt des in ihm lebenden Staates abstreift und so seine Substanz als vernünftiges Wesen verwirklichen. Meinem Verständnis zufolge unterscheidet Hegel zwei Stufen dieses den partikularen, subjektiven wie objektiven Geist überschreitenden Prozesses, wobei sich die erste auf den Einzelnen als Vernünftigen, die zweite auf Gott als Vernunft an sich bezieht: „Aber es ist der in der Sittlichkeit denkende Geist, welcher die Endlichkeit, die er als Volksgeist in seinem Staate und dessen zeitlichen Interessen, dem Systeme der Gesetze und der Sitten hat, in sich aufhebt und sich zum Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit erhebt, ein Wissen, das jedoch selbst die immanente Beschränktheit des Volksgeistes hat. Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift, erfaßt seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahr-
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heit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist und die Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind.“ (Enz. III, § 552)
Der von mir in das Zitat eingefügte Absatz markiert die beiden Stufen: Die erste Überwindung ist darin zu sehen, dass ein Subjekt die Vernünftigkeit der eigenen historischen Stufe und dabei auch das über dieses Hinausgehende, sprich also die Stufe selbst als eine solche erkennt. Er weiß von der Geschichte der Vernunft und zwar in der Form, dass er deren bisheriges Erscheinen in der Welt inklusive derjenigen, in der er selbst lebt, nachvollziehen kann und sie gegebenenfalls auch für seine Zeit fortschreibt. Insofern hat er den Geist in seiner Wesentlichkeit erfasst, aber er bleibt natürlich selbst Teil eines bestimmten Volksgeistes und kann über diese seine Stufe nicht hinaus. Die zweite Überwindungsform streift jegliche Endlichkeit ab und ist als Denken der (vernünftigen) Weltgeschichte meiner Deutung zufolge überpersonell: Kein einzelnes Subjekt kann diesen Standpunkt erreichen, sondern es ist die Geschichte der Vernunft selbst, die Hegel hier zum Subjekt bestimmt.1 Diesen Standpunkt erreicht allein das Denken in Form der Geschichte der Philosophie – also dem Nachvollzug dessen, was andere als partikulare Teile der Vernunftentwicklung hervorgebracht haben. Es ist das Aristotelische Denken des Denkens (nóēsis noḗseōs, vgl. Met. VII 9, 1075a34)2 – Hegel selbst verortet, ohne Aristoteles explizit zu erwähnen, den Beginn der Philosophie dort, wo dies hervortritt (vgl. VGP, S. 115) –, das die Realität nicht verwirft, sondern Natur und Geschichte zu Teilen seines Denkens macht, sprich nur das als Teil seiner selbst begreift, was an dieser Materialisierung in der Welt auch (vernünftige) Wirklichkeit ist. Diese zweifache Form der Überwindung bringt Hegel im ersten Paragraphen des Abschnitts über den absoluten Geist in der Enzyklopädie zum Ausdruck: „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste. Daß diese in der Identität mit jenem als das Wissen der absoluten Idee sei, hierin ist die notwendige Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu
1
An anderer Stelle polemisiert er explizit gegen die Vorstellung, dass die menschliche Vernunft eine andere als die göttliche sei (vgl. VGP, S. 86). Insofern ist es für ein Verständnis Hegels zentral zu begreifen, dass er die „Idee einer radikalen Andersheit Gottes“ zurückweist: „Das Selbstbewußtsein des Geistes ist das langfristig gesehene kollektive Selbstbewußtsein der Menschheit – das Selbstbewußtsein, wie es im Rahmen verschiedener menschlicher Lebensformen in der Kultur, insbesondere in Kunst, Religion und Philosophie zum Ausdruck kommt.“ (Rawls 2002, S. 477)
2
Diesen Gottesbegriff bedenkend, klärt sich auch, weswegen Hegel das Philosophieren als einen „im Dienste der Wahrheit fortdauernde[n] Gottesdienst“ (VÄ I, S. 139) bezeichnet.
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sein. Der subjektive und der objektive Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet.“ (Enz. III, § 553)
Wie erläutert, sind Natur und menschliche Geschichte „Gefäße“ der Vernunft und analog hierzu sind die Individuen als Teilhaber an der Vernunft Mittler des überpersonellen Geistes. Wie auch Theunissen ausführt, wird in diesem Zitat eine „Forderung, die an den menschlichen Geist ergeht“ (Theunissen 1970, S. 104) zum Ausdruck gebracht, die identisch ist mit dem Eingangszitat und -postulat der Enzyklopädie sowie dieser Arbeit (Enz III, § 377): Der Mensch soll sich selbst erkennen und zwar nicht im Sinne einer Erkenntnis seiner Zufälligkeiten, sondern seiner Substanz als vernünftiges Wesen. Durch dieses Bewusstsein seiner allgemeinen Bestimmung als Mensch, die nicht für sich gegeben ist, sondern eine Entwicklung darstellt,3 verwirklicht der Mensch sich; er wird zu einem an-und-für-sich Vernünftigen und zugleich stellt dies den Weg dar, durch den auch der absolute Geist verwirklicht wird.4 Einerseits ist dieser „ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität“ (Enz. III, § 554), wie dies in der Logik als abstrakte Bestimmung des Allgemeinen gefasst wurde. Andererseits ist auch er „ebensosehr als vom Subjekte ausgehend und in demselben sich befindend als objektiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten“ (ebd.). Der hier formulierte Zirkel bringt zum Ausdruck, dass keines der beiden Momente nach einer Seite hin aufgelöst werden kann: Das Subjekt muss die ihm vorgegebene Substanz seines Daseins realisieren und zugleich wird die an-sich-seiende Vernunft dadurch erst in die Welt gebracht.5
3
„Das subjektive Bewußtsein des absoluten Geistes ist wesentlich in sich Prozeß [...].“ (Enz. III, § 555)
4
„Der Begriff des Geistes, der im letzten Grund absoluter Geist ist, hat seine Realität im endlichen, und zwar des näheren im subjektiven Geist.“ (Theunissen 1970, S. 105). Für das heutige Verständnis mag dies merkwürdig oder gar „mystisch“ (Fetscher 1970, S. 229) erscheinen, da Gott intuitiv vermutlich als dem Menschen gegenüberstehend gedacht wird, was Hegel zufolge jedoch ein einseitiges Verständnis wäre (vgl. ebd.). Wie Fetscher ausführt, erscheinen uns, die wir die Feuerbachsche Religionskritik kennen, einige Erläuterungen Hegels wie eine „‚dialogische Entlarvung‘ der Religion, der Reduzierung des Religiösen auf rein menschliche Akte“ (ebd., S. 231), dies ist bei Hegel jedoch selbstredend nicht intendiert.
5
„Nach Hegel kommt der Geist in Religion, Kunst und Philosophie nur insofern zum höchsten Selbstbewußtsein, als es den Menschen gelingt, religiös, künstlerisch und philosophisch tätig zu werden“ (Rawls 2002, S. 476). Das mag sich banal anhören, aber darin wird zum Ausdruck gebracht, dass auch die absoluten Formen des Geistes nicht einfach an sich existieren, sondern durch das Denken der Subjekte verwirklicht werden müssen.
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Vom Resultat her gesprochen geschieht dies dadurch, dass der Einzelne „statt auf seine partikulare Subjektivität zu starren, das gar nicht mehr subjektive, sondern an und für sich seiende Wesen des Geistes oder den an und für sich seienden Geist als sein eigenes Wesen erkennen solle“ (Theunissen 1970, S. 104). Gemeint ist die Ausbildung eines Bewusstseins dessen, dass man als mit Vernunft begabter Mensch eine überindividuelle, näher Gattungseigenschaft besitzt, sodass also auch der Inhalt der Allgemeinheit, auf die das Subjekt seinem Begriff als allgemeines Ich nach bezogen ist, diesen überindividuellen Charakter im Sinne einer Geschichte der Vernunft besitzt. Das Wesentliche ist hier nicht allein der epistemische Status, sondern auch Form und Inhalt dessen: Der bereits zu Beginn angesprochene Bildungsauftrag kulminiert nun in Kunst, Religion und Philosophie als konkrete Betätigungsweisen der Vernunft. In diesen lebt der Mensch seine Bestimmung als allgemeines Ich, wobei, wie nachzuvollziehen sein wird, das Tätigsein als Philosoph Hegel zufolge die höchste Weise dessen darstellt, was sich darin ausdrückt, dass er das Allgemeine der Philosophie als das „Absolut-Allgemeine“ (Enz. III, § 577) bezeichnet.6 Festgehalten werden muss vorab, dass sich der Bildungsauftrag, wie in Kapitel 2 deutlich wurde, auf alle Menschen qua ihrer Gattungseigenschaft bezieht, und Hegel selbst hier zunächst völlig von dem von ihm theoretisch hervorgebrachten Resultat der unvermeidlichen Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich abstrahiert. Ich möchte dafür argumentieren, dass diese jedoch in den Formen des absoluten Geistes erneut eine Rolle spielt und noch weitere Ausdifferenzierungen innerhalb der Gesellschaft hinzutreten. Bemerkenswerterweise nimmt Hegel hier im Unterschied zu seiner Abhandlung über den Staat selbst auf das Drama der Armut Bezug. Wie gezeigt wurde, hat der Philosoph ein Bewusstsein davon, dass sich materielle Deprivation häufig auf die Bildung der Menschen auswirkt, sodass sich also auch ihm die Frage stellt, inwiefern die von Armut Betroffenen an den Erkenntnissen der Menschheit partizipieren können. Es soll dafür argumentiert werden, dass Hegel diesem Wissen um die geistigen Konsequenzen Rechnung trägt, was anhand seiner Bestimmungen der Kunst sowie – in Erinnerung an die Abhandlung im Staats-Kapitel – der Religion deutlich wird. Folgende Thesen sollen im folgenden Abschnitt dargelegt werden:
6
Von den beiden erwähnten Stufen der Überwindung der beschränkten Formen des subjektiven und objektiven Geistes wird im Folgenden nur die dem Menschen Mögliche besprochen. Die Seite des Theologischen bzw. des Hegelschen Gottes-Begriffes wird ausgeblendet, da für diese Arbeit nur relevant ist, dass er ein noetisches Gottes-Verständnis hat.
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Das Künstlerleben a) stellt eine Form der Selbstverwirklichung dar, die jedoch aufgrund der erforderlichen „Naturanlage und Naturtrieb[es]“ (VÄ, S. 63) keine des allgemeinen Ich ist. Es markiert die Emergenz der Pluralität der Lebensweisen, die bislang dem Begriff nach nicht intendiert war. b) ist trotz des ihm zukommenden „Genie[s]“ (Enz. III, § 560) keine reine Frage der Subjektivität: Inhaltlich stellt das Kunstwerk eine Manifestation der Vernunft dar und ist damit frei von „Manier“ (VÄ I, S. 385). c) Diese Allgemeinheit des Inhalts ist durch das spezifische Medium der Kunst, das sich an die Sinne des Rezipienten richtet, allen Subjekten zugänglich. So erfüllt die Kunst ihre Aufgabe als „Lehrerin der Völker“ (VGP I, S. 90) bzw. Vermittlerin der Sittlichkeit. Der von Hegel postulierten fehlenden Allgemeinheit dieser Lebensform kommt trotz ihrer Exklusivität keine Sprengkraft zu, da sie kompensiert wird durch die Allgemeinheit des Inhalts, die in Form der Anschauung (Enz. III, § 556) allen zugänglich ist. Die Kunst enthält neben der Religion dadurch die staatsnützliche Funktion der Abwehr einer drohenden sittlichen Verwahrlosung in Folge von materieller Armut. Das Leben des Philosophen a) stellt eine Form der Selbstverwirklichung dar, die jedoch aufgrund der erforderlichen „Naturanlage und Naturtrieb[es]“ (VÄ, S. 63) keine des allgemeinen Ich ist. Es markiert die Emergenz der Pluralität der Lebensweisen, die bislang dem Begriff nach nicht intendiert war. b) stellt die höchste Form der Selbstverwirklichung dar, weil in ihm die differentia specifica des Menschen zur höchsten Entwicklung kommt: Der Mensch wird zum an-und-für-sich Vernünftigen, das allgemeine Ich bringt mit dem Standpunkt der Philosophie das „Absolut-Allgemeine“ (Enz. III, § 577) zur Existenz. c) ist beim Praktizieren dieses Standpunkts also frei von jeglicher Partikularität, sodass der Philosoph als besonderes Individuum gänzlich aus dem Denkprozess und -resultat verschwindet; seine Ontogenese dient, bringt in Existenz und entwickelt den allgemeinen Geist bzw. die Vernunft. Zur Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft in Arm und Reich tritt nun eine weitere in Philosophen und Nicht-Philosophen hinzu. Da nur Letztere das absolute Gebot der Selbstverwirklichung als allgemeines Ich in Gänze verwirklichen, stellt diese Scheidung eine Provokation für den Rest der Gesellschaft dar. Entgegen der ersten Spaltung lässt sich diese Differenzierung hegelimmanent jedoch legitimieren, da
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| Armut als Unrecht a) sie – bei gleichen Voraussetzungen bzw. der Aufhebung der ökonomischen Spaltung – rein eine Frage des Willens der Subjekte darstellt, deren Freiheit also nicht negiert wird. b) sich das philosophierende Individuum durch die Abstraktion von jeglicher Besonderheit und die Verwirklichung des Allgemeinen auszeichnet, damit also keine normative Erhebung des Einzelnen über die anderen Gesellschaftsmitglieder verbunden ist. c) dem Philosophen und insbesondere dem politischen Philosophen analog zur Kunst die Rolle des Lehrers der Völker zukommt, der zu einer Verallgemeinerung der Vernunft im Volk und damit auch zu einem Begreifen des Staates als gewusster Allgemeinheit beiträgt.
4.1 DIE KUNST ALS „LEHRERIN DER VÖLKER“: VERMITTLERIN DER SITTLICHKEIT IN FORM DES SINNLICHEN UND DAMIT ZENTRALES BILDUNGSELEMENT FÜR BILDUNGSFERNE SCHICHTEN Im folgenden Kapitel müssen mehrere Fragen beantwortet werden, die für das Thema der Arbeit relevant sind: Wie ist die Lebensform des Künstlers bestimmt? Inwiefern findet das Individuum hier den Ort seiner Selbstverwirklichung? Wie macht sich auf dieser Ebene die im vorherigen Teil herausgearbeitete gesellschaftliche Spaltung bemerkbar? Um diese Fragen beantworten zu können, muss – von der anderen Seite her betrachtet – geklärt werden, was der Inhalt der Kunst ist: Inwiefern ist diese Teil des absoluten Geistes? Was bedeutet Kunst als Lebensform? Dabei wird abschließend an das Resultat des vorherigen Teils angeschlossen, indem die Spezifika des Mediums der Kunst in Hinblick auf die zwei entwickelten gesellschaftlichen Schichten untersucht werden; hierbei wird sich eine wesentliche Rolle der Ästhetik hinsichtlich der politischen und sittlichen Integration der Armen herauskristallisieren.7
7
Es geht dabei abermals nicht darum, einen Gegenstand bzw. die Hegelschen Bestimmungen dessen erschöpfend zu erläutern, sondern allein die für diese Arbeit relevanten Momente herauszuarbeiten; für das Thema der Kunst bedeutet dies unter anderem, dass die unterschiedlichen Epochen und Formen ausgeblendet werden (vgl. hierfür Hösle, S. 611 ff.).
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4.1.1 Die Kunst: Darstellung des Allgemeinen in Form des allgemein-zugänglichen Sinnlichen – der Künstler: Form der Selbstverwirklichung ohne Allgemeinheit Was also ist Kunst8 und inwiefern ist sie eine Ausdrucksweise des absoluten Geistes? „Die Gestalt dieses Wissens ist als unmittelbar (das Moment der Endlichkeit der Kunst) einerseits ein Zerfallen in ein Werk von äußerlichem gemeinen Dasein, in das dasselbe produzierende und in das anschauende und verehrende Subjekt; andererseits ist sie die konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes als des Ideals, – der aus dem subjektiven Geiste geborenen konkreten Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur Zeichen der Idee, zu deren Ausdruck so durch den einbildenden Geist verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt; – die Gestalt der Schönheit.“ (Enz. III, § 556)
Die Momente dieses Begriffs-Zitats, mit dem Hegel den Abschnitt über die Kunst einleitet, sollen im Laufe des Kapitels entwickelt werden. Zunächst gilt es, folgende Bestimmungen festzuhalten: Sie selbst umfasst neben dem Kunstwerk den es hervorbringenden Künstler sowie die Rezipienten, sodass die in dem Kapitel notwendig vorgenommene Trennung in diese drei Momente eine rein analytische darstellt – sie sind für Hegel die Konstituenzien der Kunst. Hier soll zunächst das Kunstwerk betrachtet werden, dessen erstes Merkmal darin besteht, dass es eine Form des Wissens ist, also die höchste epistemische Stufe darstellt. Zugleich – was nochmals aufzugreifen sein wird –, ist es ein Attribut dieses Wissens, sich unmittelbar einzustellen, was ein Widerspruch zu sein scheint: Wie kann das Wissen um etwas die „Form der Unmittelbarkeit“ (Enz. III, § 557; vgl. auch VÄ I, S. 139) annehmen, wo doch mit diesem Wort gerade zum Ausdruck gebracht wird, dass sich das Individuum ein etwas ihm zunächst Äußerliches durch einen Erkenntnisprozess aneignet? Ist eine unmittelbare Erkenntnis möglich, wo sich diese doch eindeutig auf den Verstand und nicht (allein) auf die Empfindung bezieht? Hegel jedenfalls verdeutlicht durch die eingeführte Klammer, die diese Unmittelbarkeit zugleich als End-
8
Die Kunst, die in diesem Abschnitt Gegenstand sein soll, ist nicht diejenige, die „dem Vergnügen und der Unterhaltung“ (VÄ I, S. 20) dient oder die Verschönerung der Umgebung (vgl. ebd.) bezweckt. Eine solche bezeichnet Hegel als „dienende Kunst“ (ebd.), von der er die „freie Kunst“ (ebd.) abgrenzt: Diese erhebt sich „in freier Selbstständigkeit zur Wahrheit“ (ebd.). Die Möglichkeit, auch profanen Zwecken zu dienen und/oder nur Mittel zu sein, kennzeichnet jedoch nicht das Spezifikum der Kunst: Genauso gibt es auch in den Wissenschaften einen „dienstbare[n] Verstand“ (ebd.), der von der freien Wissenschaft unterschieden werden muss.
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lichkeit der Kunst bezeichnet, dass er darin auch den Mangel der Kunst sieht; insofern ist also an dieser Stelle bereits klar, dass diese Bestimmung auf der Ebene der Philosophie aufgehoben werden muss. Die Unmittelbarkeit ist das Spezifikum der Kunst, nämlich Ausdruck der Vernunft in veräußerter Form zu sein. Es bedarf eines „äußerlichen gegebenen Materials“ (Enz. III, § 558), in dem der Künstler das Zeichen der „allgemeinen Gegenstände“ (VGP I, S. 82) materialisiert und das dem Publikum somit verobjektiviert gegenübertritt. Die Benennung dessen als Zeichen ist ein Hinweis darauf, dass das in Bild, Ton oder Wort etc. gegossene Kunstwerk nicht einfach ein Abbild des Inhalts darstellt, sondern ein Auseinandertreten zwischen der Verobjektivierung der „höchsten Idee“ (VGP I, S. 82) und dieser selbst unterstellt ist: Einerseits sind beide identisch, da ein gelungenes Kunstwerk die im weitesten Sinne Verbildlichung von etwas darstellt; andererseits kann die Darstellung nicht eine Kopie des „wahrhaft Allgemeine[n]“ (Enz. III, § 456, Zus.) sein, sondern die Aufgabe des Künstlers besteht darin, dieses adäquat in Form eines äußeren Materials zu „übersetzen“: „[D]as Innere scheint im Äußeren und gibt durch dasselbe sich zu erkennen, indem das Äußere von sich hinweg auf das Innere hinweist“ (VÄ, S. 37). Der Kunst ist es also eigen, dass es „das Wahre, den Geist zu ihrem eigentlichen Gegenstande hat“ (VÄ I, S. 140) und diesen eine äußere Daseinsweise verleiht, wobei das nicht so zu verstehen ist, dass sie damit einfach mit der äußeren Welt als andere Form der Materialisierung gleichzusetzen ist: Während in dieser das Wesentliche zwar erscheint, „jedoch in Gestalt eines Chaos von Zufälligkeiten, verkümmert durch die Unmittelbarkeit des Sinnlichen und durch die Willkür in Zuständen, Begebenheiten, Charakteren usf.“ (VÄ I, S. 22), stellt das Kunstwerk dieser gegenüber eine „höhere, geistgeborene Wirklichkeit“ (ebd.) dar. Als Aufgabe an den Künstler ausgedrückt, bedeutet dies, dass er das Durcheinander der empirischen Wirklichkeit geistig ordnen, also sie auch begrifflich erfassen muss – „das Sinnliche mit Geist durchdringt“ (VÄ, S. 27) –, um ein seinem Begriff gemäßes Kunstwerk schaffen zu können. Die Ungeordnetheit der Welt, die sich als Sammelsurium von Zufällen und Bedingungen darstellt, wird durch die Kunst überwunden, indem der Künstler – durchaus dem Wissenschaftler ähnlich – geistige Struktur in die Empirie bringt und die ideelle Aneignung in einem zweiten Schritt in das Material einformt. Insofern gehört das Kunstwerk, obwohl es sein Material aus dem Sinnlichen erhält und sich in einem Objekt vergegenständlicht, „zum Bereich des begreifenden Denkens“ (VÄ, S. 28; vgl. auch ebd., S. 127).9 Es bleibt jedoch zugleich in der Form der Veräußerung, nicht des reinen Denkens, sodass dem Kunstwerk letztlich die Stellung der „Mitte zwischen der unmittelbaren Sinnlichkeit und dem ideellen Ge-
9
Dieser Bestimmung entsprechend beziehen sich Kunstwerke „nur auf die beiden theoretischen Sinne des Gesichts und Gehörs.“ (VÄ I, S. 61)
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danken“ (VÄ, S. 60) zukommt. Darin liegt, wie zu zeigen sein wird, sowohl begründet, inwiefern die Kunst eine zentrale Rolle bei der Vermittlung der Vernunft einnimmt, aber zugleich defizitär gegenüber der Philosophie als höchster Weise des begreifenden Denkens ist. Mit der Kennzeichnung als geistgeborener Wirklichkeit bzw. im obigen Zitat als Zeichen der Idee ist zugleich deutlich, inwiefern Kunst Darstellungsweise und Teil des absoluten Geistes ist: Mit der Verbildlichung der allgemeinen Gegenstände sowie der höchsten Ideen ist der Zweck der Kunst identisch mit denjenigen der Religion und Philosophie: Alle drei Formen des Geistes haben dasselbe Objekt, nämlich das „Allgemeine“ (VÄ I, S. 230), das „Absolute“ (VÄ I, S. 139) und teilen die Aufgabe, dieses, „das Göttliche, die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen“ (VÄ I, S. 21; vgl. auch VÄ I, S. 28, S. 82, S. 131, sowie S. 139; vgl. VPhR, S. 135). Inhaltlich stellt ein gelungenes Kunstwerk also eine „sinnlich vereinzelt[e]“ (VÄ I, S. 77) Allgemeinheit dar und soll diese den Rezipienten durch die äußere Gestalt vermitteln. Während Aufgabe und Inhalt dieser drei Formen identisch sind (vgl. VÄ I, S. 139), liegt das Spezifikum der Kunst darin, dass sie durch die Materialisierung in äußerem Material „auch das Höchste sinnlich darstellt und es damit der Erscheinungsweise der Natur, den Sinnen und der Empfindung näherbringt“ (VÄ I, S. 21). Die Differenz liegt diesen Ausführungen zufolge – sie bleiben nicht Hegels letzte Bestimmung – allein in der Form, derer sich der jeweils identische Inhalt bedient. Im Begriffs-Zitat wird dies durch die Erwähnung der Anschauung sowie der Vorstellung zum Ausdruck gebracht: Dass das Kunstwerk eine äußere Gestalt ist, in der eine Idee nicht etwa rein als Gedanken gefasst, sondern als Zeichen versinnbildlicht ist, bedeutet für den „Konsumenten“ der Kunst, dass er beim geistigen Prozess der Betrachtung nicht philosophisch, sondern anschauend tätig wird, worauf bei der Erläuterung der Rolle des Publikums noch näher einzugehen sein wird. Wie bestimmt Hegel nun genauer das zweite Moment der Kunst, den Künstler als den die versinnbildlichte Gestalt der Vernunft Hervorbringenden? Aus den bisherigen Charakteristika der Kunst lässt sich bereits ableiten, dass er eines Wissens um das Allgemeine bedarf, um diese in äußerem Material zu verobjektivieren. Hier tritt jedoch ein weiteres Moment hinzu, das die differentia specifica dieser Lebensform bezeichnet und in einem Spannungsverhältnis zur ersten Bestimmung zu stehen scheint: Während er sich einerseits um Einsicht in das Allgemeine, also um Objektivität bemühen muss, bedarf es andererseits im besonderen Maße der Phantasie und vor allem des Genies, das ihm als Naturanlage gegeben sein muss; aufgehoben wird dieses dialektische Verhältnis begrifflich in der „wahren Originalität“ (VÄ I, S. 363), die der Künstler als subjektiver Geist hervorbringt. Die Momente im Einzelnen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Dem ersten Moment, der Phantasie, rechnet Hegel das „Auffassen der Wirklichkeit [...] sowie das aufbewahrende Gedächtnis“ (VÄ I, S. 363) zu, wobei es bei diesem Anfang der Kunst vor al-
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lem darum geht, die äußere und innere Realität der Welt und der Menschen in all ihren Facetten zu kennen und dieses erste Aufnehmen in einem zweiten Schritt in ein tieferes Wissen um die Allgemeinheit zu verwandeln. Wie bereits erwähnt, stellt die Kunst für Hegel eine Form des Wissens dar und dementsprechend befindet sich der Künstler selbst im Medium des Nachdenkens, wenn er dabei auch das Wahre nicht im Modus der Philosophie begreift (vgl. VÄ I, S. 365). Seine Art des Auffassens ist dieser epistemischen Form am Maßstab des Wissens untergeordnet, was jedoch nicht als Defizit missverstanden werden darf: Ihr Spezifikum besteht gerade in der versinnbildlichten Anschauung, sodass der Künstler sein Metier verfehlen würde, wenn er das Höchste in Gestalt des reinen Denkens zum Ausdruck bringt; er würde damit „ein der Kunst in betreff auf die Form des Wissens gerade entgegengesetztes Geschäft treiben“. Der „schöpferischen Subjektivität“ (VÄ I, S. 362) kann ihr Metier nur dann gelingen, wenn sie von der Fülle des Lebens weiß, diese in sich aufsaugt und die unterschiedlichsten Erfahrungen auch geistig durchdringt; man müsse sich „hüten, die Phantasie mit der bloß passiven Einbildungskraft zu verwechseln. Die Phantasie ist schaffend“ (VÄ I, S. 363) und dementsprechend ist Hegel zufolge die Vorstellung irrig, dass gediegene Werke im Schlaf geschaffen werden (vgl. VÄ I, S. 365): Diesem Kunstbegriff nach, der eine Symbiose aus Sinnlichkeit und Intellekt darstellt, kann ein Künstler nicht ein geniales Produkt aus dem Nichts schaffen, es bedarf vielmehr der Reflexion, die die Wirklichkeit durchdringt. Dennoch bleibt ein Unterschied zur Wissenschaft, der darin zu verorten ist, dass er beim Prozess der geistigen Aneignung immer auch als besonderes Subjekt gefragt ist, das empfindet: „Durch diese Empfindung nämlich, die das Ganze durchdringt und beseelt, hat der Künstler seinen Stoff und dessen Gestaltung als sein eigenstes Selbst, als innerstes Eigentum seiner als Subjekt" (VÄ I, S. 366). Das geistige Durchdringen der unterschiedlichsten Erfahrungen ist also trotz der Identität durchaus auf einer anderen Ebene als beim Philosophieren: Einerseits erfolgt die geistige Aneignung vermittelt des Verstandes, um tatsächlich den allgemeinen Inhalt von Kunst verobjektivieren zu können, andererseits bedarf es dabei auch der „Tiefe des Gemüts und der beseelenden Empfindung“ (VÄ I, S. 365); die Vereinigung dieser Momente leistet das gediegene Kunstwerk.10
10 „Man bildet sich oft ein, der Dichter, wie der Künstler überhaupt, müsse bloß anschauend verfahren. Dies ist durchaus nicht der Fall. Ein echter Dichter muß vielmehr vor und während der Ausführung seines Werkes nachsinnen und nachdenken; nur auf diesem Wege kann er hoffen, daß er das Herz oder die Seele der Sache aus allen sie verhüllenden Äußerlichkeiten herausheben und eben dadurch seine Anschauung organisch entwickeln werde.“ (Enz. III, § 449, Zus.)
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Es ist nun ebendiese Bestimmung – die Fähigkeit, das Erlebte geistig zu verarbeiten und dabei in besonderer Weise in die Empfindung einzuarbeiten –, die den wahrhaften Künstler auszeichnet; diese Fähigkeit „kommt dem Genie als diesem besonderen Subjekte zu“ (Enz. III, § 560), weswegen „der Künstler der Meister des Gottes“ (ebd.) ist. Hier ist also das Spezifikum der Kunst zu verorten, das sich darstellt als eine Anforderung an den einzelnen Künstler, die nicht willentlich, sondern allein durch Naturanlage (vgl. VÄ I, S. 46; ebd., S. 63) erfüllt werden kann. Dieses Einbilden in sich aus einem Zusammenspiel von Geistigem und der Empfindung ist seine Art der Anschauung und Verarbeitung, die er „mühelos als das eigentliche ihm angemessene Organ in sich findet“ (VÄ I, S. 369). Während bislang beim Nachvollzug des Hegelschen Konzepts von Selbstverwirklichung keine Differenzen der Lebensformen dem Begriff nach intendiert sind, weil sie sich auf den Menschen als an-und-für-sich Vernünftigen und damit auf alle beziehen, stellt sich dies für die künstlerische Lebensweise nun anders dar: Dass der Mensch ein mit freiem Willen ausgestatteter Eigentümer ist, der sich um seine Reproduktion selbst kümmert und dabei in einem Staat lebt, der ihm dies ermöglicht, ihn darin anerkennt und so Bürger sein lässt, stellt bei Hegel eine anthropologische Aussage dar und umfasst damit per definitionem alle Menschen.11 Es wurde zwar deutlich, dass dieser Entwurf aufgrund der Unmöglichkeit einer gelingenden Reproduktion aller Konkurrenzsubjekte brüchig ist, jedoch nimmt dieses potentielle Scheitern nichts von dem Ausgangspunkt zurück, der eindeutig inklusiv verstanden werden muss. Bei der künstlerischen Lebensform ändert sich dies nun: Es bedarf hierfür einer natürlichen Gabe, sodass diese Weise der Selbstverwirklichung a priori nur wenigen Auserwählten vorenthalten bleibt. Anders betont: Die Kunst markiert die Stelle, an der zum ersten Mal eine individuelle Differenzierung der Lebensformen intendiert ist; die Unterschiede durch ökonomische und daraus folgende politische Ungleichheit in bestimmten (nicht-rechtlichen) Facetten entsprechen nicht dem Begriff, während hier eine der Konzeption entsprechende Pluralität der Lebensformen in Erscheinung tritt. Dabei stellt dies keine von mir herangetragene Deutung dar, Hegel selbst betont vielmehr an zahlreichen Stellen diese Besonderheit der künstlerischen Sphäre und grenzt sie explizit von anderen ab:
11 Weswegen Taylor das Leben im Staate als „höchste Form menschlichen Lebens“ (Taylor 1983, S. 607) bei Hegel bezeichnet und zugleich einräumt, dass dieser „nicht die höchste Realisation des Geistes“ (ebd.) darstellt, bleibt unklar; schließlich sind selbstverständlich auch Kunst, Religion und Philosophie als höchste Verwirklichungsformen nicht zu denken ohne menschliche Subjekte, die sie mit Leben füllen.
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„[...] der Mensch als Mensch ist auch zur Religion z. B., zum Denken, zur Wissenschaft geboren, d. h. er hat als Mensch die Fähigkeit, ein Bewußtsein von Gott zu erhalten und zur denkenden Erkenntnis zu kommen. Es braucht dazu nichts als der Geburt überhaupt und der Erziehung, Bildung, des Fleißes. Mit der Kunst verhält es sich anders; sie fordert eine spezifische Anlage, in welche auch ein natürliches Moment als wesentlich hineinspielt.“ (VÄ I, S. 367)
Die Bestimmung, an sich vernünftig zu sein, kommt allen zu: Jeder trägt diese Potenz in sich und sollte sie zu einer an-und-für-sich-seienden bilden, was für Hegel gleichbedeutend damit ist, dass er sich denkend und religiös betätigt. Er geht hier sogar so weit – und dies wird für das folgende Kapitel von entscheidender Bedeutung sein – jedem Menschen die Fähigkeit eines Wissenschaftlers zuzusprechen: Als mit Vernunft „Begabter“ ist es jedem möglich, sich zu dieser emporzuarbeiten und sie auch in der hohen epistemischen Form der Wissenschaft zu praktizieren. Zum Dasein als Künstler gehört hingegen eine gewisse Veranlagung, die nur manchen gegeben ist, sodass die Verwirklichung des Allgemeinen in dieser Lebensform von vornherein nur für einige wenige möglich ist. Die Potenz hierfür stellt keine allgemeine Bestimmung des Menschen dar, sondern fällt in die Natürlichkeit des Subjekts, wobei Hegel hier zum ersten und einzigen Mal mit der natürlichen Anlage als „wesentlicher“ Bestimmung argumentiert. „Man spricht zwar ebensosehr von wissenschaftlichen Talenten, aber die Wissenschaften setzen nur die allgemeine Befähigung zum Denken voraus, welches, statt sich zugleich auf natürliche Weise wie die Phantasie zu verhalten, gerade von aller Naturtätigkeit abstrahiert, und so kann man richtiger sagen, es gebe kein spezifisches wissenschaftliches Talent im Sinne einer bloßen Naturgabe“ (VÄ, S. 63) während die Phantasie hingegen „subjektiv im Künstler als Naturanlage und Naturtrieb vorhandensein und als bewußtloses Wirken auch der Naturseite des Menschen angehören muß.“ (Ebd.) Es wäre dennoch verfehlt, Hegel eine Art Geniekult vorzuwerfen, was sich bereits den bisherigen Bestimmungen entnehmen lässt: Angesichts der Charakterisierung der Empfindung, wie sie in dieser Arbeit zum ersten Mal in Kapitel 2.1.1 vorgenommen wurde, wird schnell deutlich, dass der Künstler zwar etwas bedarf, was ihn qualitativ auszeichnet, weil es ihm als besonderem Individuum zukommt, dem jedoch zugleich als Fähigkeit an sich nicht höchste Dignität zukommt. Schließlich kennzeichnet Hegel die Empfindung als „das, was der Mensch mit dem Tiere gemein hat“ (VPhR, S. 129). Sie ist die differentia specifica des animalischen Organismus, die aufgrund der fehlenden Differenzierungsfähigkeit zwischen sich und dem Gefühl eine niedrige Betätigungsform des subjektiven Geistes darstellt; aufgrund der „Form natürlicher Unmittelbarkeit“ (Enz. III, § 560) ist die Tatsache, „[d]aß ein Inhalt im Gefühl ist, [...] für ihn selbst nichts Vortreffliches“ (VPhR, S. 128). Freilich bedarf es auch des Nachdenkens durch den Künstler, sodass er auf dieser Ebene nicht stehenbleibt; die Empfindung als wesentliches Element der
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künstlerischen Tätigkeit verdeutlicht jedoch, dass Hegel keinen besonderen Pathos intendiert, wenn er das Genie des Künstlers hervorhebt. Dieser wird vielmehr als „unfrei[]“ (Enz. III, § 560) gekennzeichnet, da das Moment des Natur-Talents dem Hegelschen Begriff der Natur entsprechend keineswegs als besondere Auszeichnung aufzufassen ist: „[A]lles Geistige ist besser als jedes Naturerzeugnis“ (VÄ I, S. 49), weil es die subjektive Vernunft, das „Göttliche im Menschen“ (ebd.) bewusst gestaltet hat. Tatsächlich ist auch nicht einsehbar, weswegen gerade im Wirken von Naturmächten, die das Individuum in einen seiner Kontrolle entzogenen Zustand versetzen, häufig das Auszeichnende dieser Betätigung gesehen wird. Außerdem wird dieser Begriff falsch verstanden, wenn man sich die hervorbringende Tätigkeit des Genies als eine Art rauschhaften Zustand vorstellt, in dem sich unbekannte Mächte des Individuums, das so zum „Traumwandler“ (Taylor 1983, S. 619) wird, bemächtigen: Auch das Genie bedarf „dennoch wesentlich der Bildung durch den Gedanken, der Reflexion auf die Weise seiner Hervorbringung sowie der Übung und Fertigkeit im Produzieren“ (ebd.). Die benötigte Naturanlage bildet also nur die Basis des künstlerischen Schaffens, die zum einen durch handwerkliche Praxis, die auch Übergänge in „mechanische Arbeit“ (VÄ, S. 62; vgl. auch ebd., S. 44) aufweist, und zum anderen durch geistige Bildung ausgeformt werden muss – nur so kann schließlich der Zweck der Kunst, „das an und für sich Vernünftige“ zu verobjektivieren, erfüllt werden. Um sich also als Künstler zu betätigen, der dem Begriff der Kunst gerecht wird, hilft „keine Begeisterung, sondern nur Reflexion, Fleiß und Übung“ (VÄ I, S. 47), wie Hegel in Anspielung auf den auch heute noch verbreiteten Geniekult ausführt. In diesem Sinne ist das Genie „das Formelle der Tätigkeit und das Kunstwerk nur dann Ausdruck des Gottes, wenn kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin, sondern der Gehalt des innewohnenden Geistes sich ohne Beimischung und von deren Zufälligkeit unbefleckt empfangen und herausgeboren hat“ (Enz. III, § 560).12 Weil der Inhalt eines gediegenen Kunstwerkes in der Allgemeinheit besteht, ist, so Hegels dialektische Erläuterung, gerade derjenige ein Meister seines Faches, der es aus seinem individuellen Talent heraus vermag, im Endresultat jede Manier ab-
12 Diesem Verständnis entsprechend kritisiert Hegel in der Phänomenologie die Vorstellung und Gestalt der „schönen Seele“: Ihr wirft er vor, auf der Ebene des Partikularen bzw., in den Begrifflichkeiten des Staatskapitels, bei der individuellen Moral stehenzubleiben und diese nicht in eine allgemeine bzw. auf die Stufe der Sittlichkeit fortzuentwickeln (vgl. hierzu Well 1986, S. 77 ff.).
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zustreifen und allein die Vernunft darzustellen.13 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der Künstler zur „objektive[n] Vernunft“ (VÄ I, S. 385) emporarbeiten muss und zugleich auch „sich selbst in seiner wahrsten Subjektivität [gibt, I. S.], die nur der lebendige Durchgangspunkt für das in sich selber abgeschlossene Kunstwerk sein will“ (ebd.). Der wahrhafte Künstler bildet in sein Empfinden die Objektivität ein und verleiht der Vernunft durch sein nur ihm als Genie zukommender Fähigkeit die sinnliche Gestalt, die keine Spur dieser individuellen Besonderheit aufweist. So vermitteln sich Genie und begreifendes Denken und in diesem Sinne gilt: „Keine Manier zu haben, war von jeher die einzig große Manier“ (VÄ I, S. 385). 4.1.2 Die Verallgemeinerung der sittlichen Vernunft durch das spezifische Medium der Ästhetik Beurteilt man die bisherigen Ausführungen zur Kunst als nur wenigen zukommende Lebensform, so stellt sich die Frage, ob sich aus der entwickelten Exklusivität eine Schwierigkeit für das Konzept der Selbstverwirklichung ergibt: Ist es zu rechtfertigen, dass die Möglichkeit des Lebens als Künstler a priori auf wenige auserwählte Individuen beschränkt bleibt? Während im vorherigen Teil dafür argumentiert wurde, dass der Verlust an Entfaltungsmöglichkeiten auf der ökonomischen Ebene zu einem politischen Problem wird, weil es für ein an sich seiendes zoon politikon ein Leben der Deprivation bedeutet, soll hier die These vertreten werden, dass dies in der Sphäre der Kunst nicht zutrifft. Zwar unterstellt das Hervorbringen von Werken Besonderheiten, die es auf einen kleinen Kreis der Schaffenden beschränken, Inhalt und Aufgabe der Kunst bringen es jedoch mit sich, dass sie keineswegs nur diesen zugänglich ist bzw. sein sollte: Wie dargelegt, drücken sich in einem Werk höchste Wahrheiten aus und diese sind durch das spezifische Medium, nämlich in einem äußeren Material vergegenständlicht zu sein, für breite Teile der Bevölkerung in Form der Anschauung erfassbar. Während also die Lebensform des Künstlers durch das benötigte angeborene Talent durch höchste Exklusivität gekennzeichnet ist, sind die Erkenntnisse der Kunst durchaus allgemein zugänglich. Das Genießen der Kunst ist – ebenso wie das der Religion – aufgrund ihrer epistemischen Form allen Menschen möglich: „Denn die Kunstschönheit stellt sich dem Sinne, der Empfindung, Anschauung, Einbildungskraft dar, sie hat ein anderes Gebiet als der Gedanke, und die Auffassung ihrer Tätigkeit und ihrer Produkte erfordert ein anderes Organ als das wissenschaftliche Denken“ (VÄ I, S. 18). Wie im Begriffs-Zitat ausge-
13 „Die Originalität ist deshalb identisch mit der wahren Objektivität und schließt das Subjektive und Sachliche der Darstellung in der Weise zusammen, daß beide Seiten nichts Fremdes mehr gegeneinander behalten.“ (VÄ I, S. 380)
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führt, sind die Rezipienten selbst Teil der Kunst: Das Kunstwerk, erzeugt von einem Künstler, richtet sich an ein Publikum, das dieses laut Hegel betrachtet und verehrt. In diesem Sinne ist „jedes Kunstwerk ein Zweigespräch mit jedem, welcher davorsteht“ (VÄ I, S. 341): Der Konsument tritt durch seine Auseinandersetzung mit dem Objekt in einen Dialog sowohl mit dem Künstler als auch mit dessen Erzeugnis. Weil die Funktion der Kunst in der Vermittlung und Verallgemeinerung der sittlichen Vernunft liegt, sollte das Dargestellte „für jeden verständlich“ (VÄ I, S. 342) sein – nur dann vermag sie ihre Aufgabe zu erfüllen. Bevor näher darauf eingegangen wird, wie sie dies vermag, soll zunächst die Aufgabe selbst genauer betrachtet werden, da dies für das zu untersuchenden Thema von höchster Relevanz ist: Im letzten Abschnitt hat sich gezeigt, dass der Staat als gewusste Allgemeinheit wesentlich auf der politischen Gesinnung der Bürger beruht. Für deren Entwicklung spielt die Gewohnheit eine entscheidende Rolle, die wiederum auf einer bewussten Entscheidung für die Anerkennung des Staates aufgrund einer konstatierten Interessensidentität beruht. Der Stand des Volksgeistes gerinnt in der Verfassung, die allein durch einen kontinuierlichen Prozess fortentwickelt werden kann. Hier sind vor allem welthistorische Individuen zu nennen, die die Allgemeinheit durch ihre Erkenntnisse und Taten zunächst individuell fortbilden und so im Laufe der Jahre einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit eines Volkes bewirken. Meines Erachtens ist an dieser Stelle auch die zentrale Funktion der Kunst zu verorten, die Hegel an zwei Stellen als „Lehrerin der Völker“ (VGP I S. 90, VÄ, S. 76) bezeichnet: Sie leistet eine Verallgemeinerung der Vernunft und trägt auch zu deren Weiterentwicklung14 bei. Lehrerin der Völker15 wird sie, indem Werke „erhaltene und vorgefundene verworrene Vorstellungen und Traditionen,
14 Auf die weit verbreitete Deutung eines vermeintlichen Endes der Kunst – vertreten bspw. durch Hösle, (vgl. Hösle 1998, S. 589 ff.; dagegen Gethmann-Siefert 2000, S. 372, Jaeschke 2010, S. 445 ff. sowie Bloch 1972, S. 288 f.) –, das Hegel ihr attestiert habe, kann hier nicht näher eingegangen werden; gemäß der ihr durch den Philosophen zugesprochenen Funktion der Hervorbringung und Entwicklung des Volksgeistes wäre es jedenfalls nicht schlüssig, von einem Absterben dieses zentralen Mittlers der Vernunft auszugehen. Ein weiteres Argument gegen diese Vorstellung ist zweifelsohne darin zu sehen, dass Hegel das „absolute Bedürfnis“ (VÄ I, S. 50) nach Kunst als anthropologische, also nicht vergängliche Bestimmung betrachtet (vgl. VÄ I, S. 50 ff.). 15 Erstaunlicherweise wurde der Hegelsche Kunstbegriff von keinem der von mir studierten Kritiker behandelt, müsste sie deren Logik eines dem Allgemeinen völlig ausgelieferten Individuums zufolge doch als Teil des vermeintlichen Unterdrückungsapparates identifiziert werden. Lediglich Bloch scheint diese Sichtweise implizit anzusprechen und zu verneinen, wenn er davon spricht, dass Hegels Kunstbegriff „nirgends Opium“ (Bloch 1972, S. 290) sei.
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dem Geist ihres Volkes entsprechend, zu bestimmten Bildern und Vorstellungen erhoben und gefestigt haben“ (VGP I, S. 90). So trägt die Kunst also zur Entwicklung des Volksgeistes bei, wenn noch unklare Ideen und Erkenntnisse treffend versinnbildlicht werden sowie sie auch bereits verallgemeinertes, gefestigtes Wissen bestätigt und pflegt (vgl. ebd.). Hegel verdeutlicht dies an zahlreichen Beispielen wie den Marmorbildern der Griechen, die deren Götter dargestellt und so zu einer Verallgemeinerung und Festigung des Glaubens in breiten Teilen der Bevölkerung geführt haben (vgl. VGP I, S. 92). Besonders die Form der Architektur ist im Kontext der Volksbildung hervorzuheben: „Man kann in dieser Hinsicht sagen, daß ganze Nationen sich ihrer Religion, ihre tiefsten Bedürfnisse nicht anders als bauend oder doch vornehmlich architektonisch auszusprechen gewußt haben“ (VÄ II, S. 274). In diesem Sinne kann man Kunst als eine „Orientierungsmacht“ (Gethmann-Siefert 2000, S. 369) verstehen,16 die das implizite Wissen eines Volkes verobjektiviert und umgekehrt darüber auch zu einer Ausbildung dessen beiträgt. Die Werke bieten „allgemeine Anschauungen, in welchen die Individuen und Völker einen inneren Halt, einen Einheitspunkt ihres Bewusstseins haben. So ist denn der nächste Zweck solcher für sich selbstständigen Bauten auch nur der, ein Werk zu errichten, welches eine Vereinigung sei der Nation oder Nationen, ein Ort, um den her sie sich sammeln“ (VÄ II, S. 275). Der Patriotismus, auf dem ein moderner Staat beruht, findet seine sinnliche Ausdrucksweise in den nationalen Bauten, wobei die Architektur auch den ein Gemeinwesen einenden spezifischen Inhalt auszudrücken vermag; so können gediegene nationale Bauwerke „durch die Gestaltungsweise selbst dar[]tun, was überhaupt das Vereinigende der Menschen sei: die religiösen Vorstellungen der Völker, wodurch dergleichen Werke dann zugleich einen bestimmteren Inhalt für ihren symbolischen Ausdruck erhalten“ (VÄ II, S. 275). Auch wenn Hegel selbst bei seiner Abhandlung des Staates dies nicht erwähnt, so kann aus dieser Funktionsbestimmung der Kunst sicherlich zu Recht abgeleitet werden, dass „die Beschäftigung mit und die Pflege der Kunst neben Religion und Wissenschaft im Staat institutionalisiert werden“ (Gethmann-Siefert 2000, S. 372) soll: Für eine moderne Hoheit, die nicht allein auf Ge-
16 Den folgenden Ausführungen Gethmann-Sieferts muss jedoch widersprochen werden: Ihrer Ansicht nach „entwickelt die Kunst keine eindeutige Orientierung der Sittlichkeit einer Gemeinschaft, sondern lediglich eine Vielheit möglicher und unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit vertretbarer Weltanschauungsvorschläge“ (Gethmann-Siefert 2000, S. 369; vgl. auch ebd., S. 370). Die hier behauptete Pluralität widerspricht dem von Hegel postulierten objektiven Inhalt eines Kunstwerkes sowie seinen vor allem im letzten Teil nachvollzogenen Ausführungen zu einer dezidiert auch inhaltlich bestimmten Sittlichkeit, die nicht beliebig mit sämtlichen „Weltanschauungen“ gedanklich und praktisch gefüllt werden kann.
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walt, sondern auf der Bejahung ihrer Bürger beruht, ist der Stellenwert der Kunst als Vermittlerin der Sittlichkeit nicht hoch genug einzuschätzen. Nun ist die geforderte Zugänglichkeit der Kunstwerke für ein großes Publikum in mehrerlei Hinsicht nicht selbstverständlich: Da das Kunstwerk Zeichen eines Gegenstandes und/oder einer Botschaft ist, jedoch Dargestelltes und Verobjektivierung dessen nicht unmittelbar identisch sind, wird vom Betrachter in der Regel eine Interpretationsleistung gefordert. Der Künstler ist außerdem Kind seiner Zeit (vgl. VÄ I, S. 342) und bringt so zwar einerseits Allgemeines und Nicht-Vergängliches zum Ausdruck, bleibt aber der Möglichkeit nach in unterschiedlicher Hinsicht wie beispielsweise der angewandten Formen oder auch in seinen Vorstellungen selbst einer bestimmten zeitlich-begrifflichen Stufe der Entfaltung des Geistes verhaftet. Um die Zugänglichkeit zu gewährleisten, ist die Anschauung als primäre epistemische Weise des individuellen Aneignens von Kunstwerken zentral, durch die sie ihre staatsnützliche Funktion erfüllt; weil die Kunst das Höchste in sinnliche Form bringt und es also angeschaut werden kann, ist weder ein „Studium“ (VÄ I, S. 353) noch „Gelehrsamkeit“ (ebd.) nötig, sondern es kann und sollte „unmittelbar durch sich selbst verständlich und genießbar sein“ (ebd.). Was bedeutet es also, ein Kunstwerk anzuschauen? Zunächst ist festzuhalten, dass die Anschauung zweifelsohne die Weise ist, die Hegel vornehmlich der Kunst zuspricht; zugleich gibt es freilich Übergänge von der Empfindung, in der die Anschauung wurzelt, zur Religion, deren vornehmliches Element die Vorstellung darstellt (vgl. bspw. VGP, S. 82). Dennoch bleibt die Zuordnung eindeutig, vor allem, weil sich alle drei genannten Stufen epistemisch auf derselben Ebene des subjektiven Geistes befinden, die dadurch allgemein charakterisiert werden kann. Hegel verortet Anschauung und Empfindung im theoretischen Geist, die nächsthöhere Stufe stellt das Denken dar. Dies ist auch deswegen folgerichtig, weil Kunst und Religion als Teil des absoluten Geistes, wie im BegriffsZitat angesprochen, Formen des Wissens darstellen. Freilich muss dies spezifiziert werden: Wie herausgearbeitet, findet beim Schaffen eines Kunstwerkes eine Symbiose von Empfindung und Nachdenken statt und auch bei der Betrachtung dessen ist man offensichtlich nicht im Medium des Begriffes, wie dies für die Philosophie als reinem Denken zweifelsohne zutrifft. Der Ausgangspunkt der Anschauung ist Hegel zufolge die Empfindung, also die Ebene des Gefühls. In der Empfindung nun ist „der Mensch der Gewalt seiner Affektionen unterwürfig“ (Enz. III, § 448, Zus.), während er sich dieser entzieht, „wenn er seine Empfindungen sich zur Anschauung zu bringen vermag“ (ebd.). Einerseits handelt es sich also um dieselbe Stufe, andererseits wird die Begrenztheit der Empfindung ein Stück weit überwunden, indem sich das Individuum von der unmittelbaren Ergriffenheit distanziert, diese selbst zum Gegenstand der Betrach-
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tung macht17 und sich so zum Subjekt über das Gefühl erhebt. Bei der Betrachtung oder dem Lesen stellt sich beim Rezipienten eine bestimmte Empfindung ein, von der er in seinem Gemütszustand völlig erfüllt wird; zugleich vermag er es jedoch, diese von sich zu trennen und sie so zu einem „Äußerlichwerdende[n]“ (ebd.) zu machen. Hegel bezieht sich bei dieser abstrakten Abhandlung auf der Ebene des subjektiven Geistes in der Enzyklopädie in seinen Beispielen selbst auf die Kunst: So habe sich Johann Wolfgang von Goethe durch das Schreiben seines Romans „Die Leiden des jungen Werther“ von seinen Gefühlen distanzieren können, indem er ihnen eine äußere Gestalt verleiht, während er seine Leser ebendiesen unterworfen habe (vgl. ebd.). Die Überwindung der Empfindung durch die Anschauung besteht, so lassen sich die Ausführungen zusammenfassen, also allein in dem „Wegrücken der Empfindung von uns“ (ebd.), während der Inhalt derselbe bleibt; insofern wird der Einzelne auch nur in einer sehr formellen Weise zum Subjekt dieses Prozesses. Weswegen bezeichnet Hegel die Kunst dann überhaupt als „Wissen“ und inwiefern ist die Anschauung dem „theoretischen Geist“ zuzuordnen? Erklären lässt sich dies mit der bereits erläuterten Ablehnung Hegels, ein dichotomes Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl anzunehmen. Wie der Philosoph ausführt, so ist die Anschauung „ein von der Gewißheit der Vernunft erfülltes Bewußtsein [...], dessen Gegenstand die Bestimmung hat, ein Vernünftiges, folglich nicht ein in verschiedene Seiten auseinandergerissenes Einzelnes“ (ebd.) zu sein. Bei der Rezeption durch das Publikum kommt es also nicht (nur) darauf an, dass Details eines Werkes, sondern primär dessen Wesen erfasst wird; es gilt zu ergründen, wofür das „Zeichen“ seiner Substanz nach steht. Dieser Bestimmung entsprechend spricht Hegel mit Schelling zustimmend von „intellektueller Anschauung“ (ebd.). Vom Subjekt her ausgedrückt bedeutet dies, dass die „gediegene Substanz des Gegenstandes“ (ebd.) nicht von dem Menschen als Gefühlswesen, sondern vom Menschen „mit Geist, mit Herz und Gemüt, kurz in seiner Ganzheit“ (ebd.) angeschaut wird. Dies ist auch folgerichtig, ist die Kunst schließlich dem absoluten Geist zuzuordnen. Wenn sie also auch die erste und damit „unterste“ Form darstellt, ist die Kunst dennoch Teil der höchsten Darstellungsweisen der Vernunft und damit von dieser nicht zu trennen. Seinen abstrakten Ausführungen zur Anschauung entspricht in Bezug auf die Kunst auch der Stellenwert, den er dem „Kenner“ bzw. Experten einräumt: Die Kunst ist Hegel zufolge „nicht für einen kleinen abgeschlossenen Kreis weniger vorzugsweise Gebildeter, sondern für die Nation im großen und ganzen da“ (VÄ I, S. 353). Gerade weil durch sie eine Verallgemeinerung der Vernunft bzw. eine Bil-
17 Dies meint Hegel mit der Kennzeichnung, dass auf dieser Ebene der „Unterschied des Subjektiven und des Objektiven“ (Enz. III, § 448, Zus.) überwiegen würde.
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dung des Volksgeistes erfolgen soll, muss ein Kunstwerk „auch ohne breite Gelehrsamkeit klar und erfaßbar sein, so daß wir darin heimisch zu werden vermögen“ (ebd.). Ihrer Aufgabe als Vermittlerin der Sittlichkeit kommt sie vorzüglich dadurch nach, dass sie die höchsten Wahrheiten „den Sinnen und der Empfindung“ (VÄ I, S. 21) näherbringt und damit leichter und unmittelbarer für breite Teile der Bevölkerung zu erschließen ist als die Philosophie mit dem ihr spezifischen Denken (s. u.). Hegel argumentiert hier als „Lokalpatriot der Kultur“ (Bloch 1972, S. 278), der zwar einerseits die Kennerschaft anerkennt, jedoch auch davor warnt, sich in Details und damit die Substanz des Werkes aus dem Auge zu verlieren (vgl. VÄ I, S. 55 ff.). Umgekehrt sieht er jedoch auch die Gefahr einer zu oberflächlichen Betrachtung; „die bloß sinnliche Auffassung“ (VÄ I, S. 57) kann zwar eine gute Unterhaltung sein, ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem gediegenen Kunst-Genuss. Die Kunst ist also prinzipiell offen für das breite Publikum und dieser Zugänglichkeit schreibt Hegel eine essentielle Funktion im modernen Staat zu. Letztlich deutet sich in der besonderen Hervorhebung der Geeignetheit der Kunst als Mittler der Sittlichkeit an, dass Hegel von unterschiedlich ausgebildeten Graden des Intellekts ausgeht, denen er Rechnung trägt, indem die Anschauung und nicht das höchste Denken als primäres Medium der Volksbildung gilt. Er bemüht sich also um Inklusivität hinsichtlich der Möglichkeit der Verallgemeinerung der Vernunft, wo der Ausgangspunkt gerade in der konstatierten Differenz liegt, mit der ein realistischer Umgang gefunden wird. Bezieht man dies auf den bisherigen Stand der Analyse des Armutsproblems, so kommt der Kunst die entscheidende Rolle bei der Pflege des Volksgeistes zu, wenn die Adressaten aufgrund von materiellem Ausschluss eine geringere formale Bildung aufweisen und dieser durch längerfristige negative Folgen der Verarmung auch kaum mehr zugänglich sind: Kunst mit ihrem spezifischen Medium der Sinnlichkeit, das sich an die Anschauung richtet, kann für die Armen zum Ersatz für die höhere Bildung werden. Der Staat möchte mit der Förderung der Kunst sicherstellen, dass eine patriotische Gesinnung auch da entwickelt bzw. gepflegt wird, wo der Zugang zur höheren Bildung allgemein und zur höchsten der Philosophie ohnehin fehlt. In diesem Sinne kommt der Kunst dann letztlich doch, was zuvor von mir abgelehnt wurde (vgl. Fußnote 178 in Kapitel 3), eine kompensatorische Funktion zu – nicht für das irdische Leben im Gesamten und nicht als so intendierte begriffliche Konzeption, sondern für diejenigen Armen, denen Hegel die Gefahr der intellektuellen und sittlichen Verwahrlosung attestiert. Diese beiden Einschränkungen bzw. die Konkretisierung ihrer kompensatorischen Funktion sind entscheidend: Die Bedeutung der Kunst geht keineswegs darin auf, Lehrerin der breiten Volksmassen zu sein und diese Aufgabe wäre auch falsch verstanden, wenn man sie doch als eine Art „Opium“ fasst, wie dies auch von Bloch explizit abgelehnt wird (s. Fußnote 15 in Kapitel 4). Der Staat verfolgt nicht den Zweck, den unteren Schichten Opium zu geben, um sie gedanklich für eine sie schädigende Sache einzunehmen. Diese Auffassung würde unterstellen, dass ein Gemeinwesen in Ge-
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stalt ihrer Vertreter eine bewusste Täuschungsabsicht hat, wovon im Hegelschen Sinne keineswegs ausgegangen werden kann; sie stellen vielmehr den Stand des privilegierten Zugangs zur gewussten und substantiellen Allgemeinheit dar und verabreichen durch Kunst und Ähnliches selbstredend ihrem Verständnis nach keineswegs Opium.18 Die nicht zum Pöbel werdenden Besitzlosen, die ihre Anerkennung des Staates auf den Sozialstaat gründen, können in der Kunst das Mittel ihrer sittlichen Bildung finden. Obwohl die Kunst also als Vermittlerin prädestiniert ist – auch hier ist Hegel abermals realistisch –, konstatiert er selbst in der Art des Umgangs mit Werken bzw. der Form der Anschauung Unterschiede, die sich aus dem allgemeinen Bildungsgrad der Menschen – nicht speziell aus der Bildung in Fragen der Ästhetik – ergeben: Intellektuelle sind eher fähig, das Zeichen eines Werkes richtig zu deuten, also die Substanz dessen zu erfassen, so lassen sich seine Ausführungen über die Anschauung allgemein auf den Kunstgenuss übertragen (vgl. Enz. III, § 449, Zus.). Auch im Gefühl selbst und dem Umgang damit gibt es Differenzen: „Der Gebildete fühlt – da er das Empfundene nach allen sich dabei darbietenden Gesichtspunkten betrachtet – tiefer als der Ungebildete, ist diesem aber zugleich in der Herrschaft über das Gefühl überlegen, weil er sich vorzugsweise in dem über die Beschränktheit der Empfindung erhabenen Elemente des vernünftigen Denkens bewegt“ (Enz. III, § 448, Zus.). Neben der tieferen Empfindung durch eine gediegene Betrachtung unterscheidet sich also auch der Grad dessen, wie sehr man die sich unmittelbar einstellende Ergriffenheit von sich abtrennen kann: Der beschriebene Vorgang der Anschauung, sich ein Stück weit zum Subjekt zu machen, indem man die sich unmittelbar einstellende Empfindung zum Objekt macht und sich dadurch von der reflexionslosen Erzeugung eines Zustandes zu distanzieren, ist abhängig vom Grad der Ausbildung des Intellekts. 4.1.3 Der Mangel von Kunst und Religion gemessen an der höchsten Form des Wissens – Zwischenfazit und Übergang zur Philosophie Das Spezifikum der Kunst, die Idee in sinnlicher Gestalt darzustellen und sich damit an die Anschauung zu richten, hat also eine staatsnützliche Funktion, deren Erfüllung wesentlich für die Verwirklichung des Hegelschen Staates als gewusster Allgemeinheit ist. Umso bemerkenswerter ist nun der Fortgang seiner Argumentati-
18 Meines Erachtens ist es zutreffend, dass es im Staat keinen Willen gibt, bestimmte Bevölkerungsteile durch Kunst etc. bewusst zu täuschen. Objektiv jedoch ist es gegen die Interessen der Armen, wenn sie sich für die Nation durch die staatliche Pflege der Sittlichkeit einnehmen lassen.
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on, in der der Mangel der Kunst und die Notwendigkeit eines Übergangs aus dieser Form des absoluten Geistes begründet werden: Gerade in ihrem Medium, das Grund für die allgemeine Zugänglichkeit ist, liegt zugleich auch das Defizit der Kunst, das es zu überwinden gilt: dass das Absolute in einem äußeren Objekt manifestiert wird. „Aber die schöne Kunst ist nur eine Befreiungsstufe, nicht die höchste Befreiung selbst. – Die wahrhafte Objektivität, welche nur im Elemente des Gedankens ist, dem Elemente, in welchem allein der reine Geist für den Geist, die Befreiung zugleich mit der Ehrfurcht ist, mangelt auch in dem Sinnlich-Schönen des Kunstwerks, noch mehr in jener äußerlichen, unschönen Sinnlichkeit“ (Enz. III, § 562). Selbst ein gediegenes Werk, das seinen Zweck verwirklicht, ist also mangelhaft aufgrund seiner Sinnlichkeit und es ist dies gemessen an der höchsten Form des absoluten Geistes: Die Kunst „unterliegt dem beständigen Vergleich mit der ‚höchsten Form‘ des Wissens, der ‚Philosophie‘“ (Well 1986, S. 121), sodass zumindest in dieser direkten Gegenüberstellung ihr wesentliches Charakteristikum „ihr ‚noch-nicht‘“ (Well 1986, S. 121) ist. Gerade was sie prädestiniert für die Erfüllung der Aufgabe, Vernunft im Volksgeist zu verankern, ist für Hegel zugleich defizitär gemessen am reinen Gedanken. Dieses Mangelhafte19 kann auch an der epistemischen Form ausgedrückt werden: Die Anschauung als primäre Auffassungsweise der Kunst ist nur der „Beginn des Erkennens“ (Enz. III, § 449, Zus.), und das, was sich bei der Betrachtung eines Kunstwerks einstellt, ist zunächst lediglich die „unmittelbare Anschauung“ (ebd.) – eine Stufe, die erst durch den Nachvollzug philosophischer Gedanken in der „vollkommen bestimmte[n] wahrhafte[n] Anschauung“ (ebd.) aufgehoben ist. Hegels Aussage aus der Enzyklopädie über das Defizit der Form muss jedoch noch präzisiert werden, denn bislang ist unklar, weswegen die Tatsache der Veräußerlichung des Absoluten an sich einen Mangel darstellen sollte; schließlich könnte argumentiert werden, dass entscheidend ist, den höchsten Ideen eine Form zu geben, unabhängig davon, welche.20 Diese Trennung von Form und Inhalt ist jedoch nicht haltbar:
19 Ihr Defizit bleibt bestehen und zwar unabhängig von den bestimmten Epochen: Das Kunstwerk ist in dem einzelnen sowie durch die verschiedenen Epochen hindurch mal mehr oder weniger seinem Begriff gerecht, es kann seinen Mangel als „zeitunabhängige[] Strukturdefizienz“ (Jaeschke 2010, S. 447) selbst in der größtmöglichen Verwirklichung seines Begriffs – wie dies für die Periode der Klassik der Fall war (vgl. VÄ, S. 111) – nicht abstreifen. 20 Meinem Verständnis zufolge entwickelt er in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion eine andere Argumentation für die Mangelhaftigkeit der Form: Das Werk selbst, in das das wahrhaft Allgemeine versinnbildlicht ist, ist ein Gegenstand ohne Bewusstsein, weiß sich selbst also nicht (vgl. VPhR, S. 137). Einerseits ist unmittelbar plausibel, dass
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„Wenn wir nun aber der Kunst einerseits diese hohe Stellung geben, so ist andererseits ebensosehr daran zu erinnern, daß die Kunst dennoch weder dem Inhalte noch der Form nach die höchste und absolute Weise sei, dem Geist seine wahrhaften Interessen zum Bewußtsein zu bringen. Denn eben ihrer Form wegen ist die Kunst auch auf einen bestimmten Inhalt beschränkt. Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden.“ (VÄ I, S. 23; vgl. auch VPhR, S. 140)
Hegel trägt hier – entgegen der Vorstellung Hösles (vgl. Hösle 1998, S. 596) – dem in seiner Logik postulierten engen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt Rechnung, was jedoch einer gewissen Rücknahme der bisherigen Argumentation gleichkommt: Während der Philosoph an zahlreichen Stellen hervorhebt, dass keinerlei Differenz zwischen Kunst, Religion und Philosophie hinsichtlich des Inhalts existiert und dieser allein in der Form liegt, wird nun aus der bestimmten Form auf die Andersartigkeit und in diesem Fall auf das Defizitäre des Inhalts geschlossen: Weil die Vernunft die Gestalt eines Baus, eines Bildes oder eines Stücks Literatur erhält, sind auch die Wahrheiten, die in dieser Gestalt vermittelt werden können, a priori begrenzt. Wie dargelegt, ist es beispielsweise möglich, dass eine Nation ihrer Einheit in einem Bauwerk Ausdruck verleiht; selbst beim Versuch, den nationalen Zusammenhalt in diesem jedoch mit Inhalt zu füllen, stößt das Medium der Kunst evident schnell an seine Grenzen. Zurückgenommen ist also nicht, dass höchste Ideen – in dem konkreten Fall die Einheit des Gemeinwesens – versinnbildlicht werden, jedoch wäre die Kunst mit zu hohen Erwartungen überfrachtet, würde man von ihr die Möglichkeit verlangen, sämtliche Wahrheiten in all ihren Facetten darzulegen. 21 An dieser Stelle sollen ein paar bereits herausgearbeitete Momente der Religion rekapituliert werden, die sich in die Funktionsbestimmung der Kunst fügen und damit auch denselben Mangel begründen, deren Aufhebung die Philosophie leistet. Die Rolle der Religion als Vermittler der Sittlichkeit wird von Hegel selbst viel
dieses Defizit nicht auftreten kann, wenn es keine Verobjektivierung gibt; mit Blick auf die Möglichkeit, philosophische Gedanken auch in Büchern darzulegen, die sich auch nicht selbst denken können und dennoch die höchste Form des – nun geronnenen – Wissens darstellen, kann diese Begründung nicht überzeugen. 21 Hösle argumentiert schlüssig dafür, dass die Kunst „gar nicht denselben Wahrheitsanspruch erhebt wie die Philosophie, sondern eine ihr eigentümliche Wirksphäre hat“ (Hösle 1998, S. 600), was man dem entnehmen könne, dass ein Kunstwerk einem anderen nicht notwendigerweise widerspricht: Hätte es denselben Wahrheitsanspruch wie Religion und Philosophie, so müssten sie aber ebenso in ausschließendem Verhältnis zueinander stehen wie zwei unterschiedliche Philosophien (vgl. ebd., S. 600 f.). Fraglich ist jedoch, ob Hegel diese Argumentation teilen würde, da es, wie zu zeigen sein wird, seiner Ansicht nach nur eine Philosophie gibt.
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deutlicher herausgearbeitet als diejenige der Kunst, der zwar diese Funktion auch explizit zugeschrieben wird, jedoch nicht in seiner Abhandlung des Staates. Wie dargelegt wurde, teilen dem Philosophen zufolge Staat und Religion dieselbe Wahrheit und bedingen sich in ihrer Existenz wechselseitig. Ihr enges Verhältnis liegt darin begründet – wie das auch für die Kunst analysiert wurde –, dass der moderne Staat als gewusste Allgemeinheit auf der politischen Gesinnung seiner Bürger beruht. Diese Sittlichkeit nun ist für Hegel identisch mit einem religiösen Bewusstsein; es kann, so seine Argumentation, nicht zweierlei Gewissen, also eine Spaltung der Überzeugungen des Menschen geben. Dementsprechend postuliert Hegel auch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Stand des religiösen Bewusstseins und der Fortschrittlichkeit der Verfassung, die sich ein Volk gibt. Diese Identität ist jedoch keine staatlich erzeugte – eine wahrhafte Gesinnung kann nicht durch Gewalt geschaffen werden. Deswegen ist es umso bedeutender – was den Fortschritt des modernen Staates darstellt –, dass es einen inneren Freiheitsraum des Menschen gibt, aus dem sich der Staat gänzlich heraushält. Er lizenziert diesen und implementiert durch die Verleihung der Freiheitsrechte die Basis, auf deren Boden sich die politische und religiöse Einstellung entwickeln und betätigen kann. Ihren Nutzen für den Staat – auch wenn diese nicht ihren Zweck ausmacht (siehe unten sowie Kapitel 3.2.2) – kann sie analog zur Kunst umso besser erfüllen, als ihre primäre epistemische Form die der Vorstellung ist. Diese wird im subjektiven Geist nach der Anschauung verortet, befindet sich also ebenfalls auf der Ebene des Gefühls, hebt jedoch den Mangel der Anschauung in einer Hinsicht auf: Während sich das Subjekt bei seinem Kunstgenuss auf ein Objekt bezieht, kann die religiöse Vorstellung auch ohne das Vorhandensein dessen betätigt werden (vgl. Enz. III, § 452, Zus.). Eine höhere Weise der Betrachtung stellt dies insofern dar, als ein Bild eine „unendliche Menge des Einzelnen“ (VPhR, S. 139), eben eine Sache in all ihren Details darstellt, während es einem die Imagination ermöglicht, die „eine Grundbestimmung, welche das Wesen des Gegenstandes ausmacht“ (ebd.) festzuhalten. Dies markiert den Fortschritt dieser Weise der Betrachtung, stellt aber freilich keine strikt zu separierende Stufe dar, sondern hat vielmehr Übergänge in beide Richtungen: So führt Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion aus, dass diese in der Empfindung ihren Ausgangspunkt nimmt, auch in Form der Anschauung auftreten kann und letztlich über die Vorstellung hinaus im Denken aufgehoben werden muss (VPhR, S. 114 ff.). So ist schließlich auch die Vorstellung noch nicht gänzlich vom Sinnlichen befreit (vgl. VPhR, S. 141) und bedient sich der Bilder wie beispielsweise dem vom „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ (VPhR, S. 142). Die Vorstellung als wesentliches Bewusstsein der Religiosität hat analog zur Anschauung einen wesentlichen Vorteil, nämlich ihre allgemeine Zugänglichkeit: Wie erläutert, ist die Religion die Wahrheit für alle Menschen (vgl. Enz. III, § 573, Anm. sowie Kapitel 3.2.2) und damit prädestiniert für die Bildung des Volksgeistes. Damit teilt sie die Funktion und zugleich den Mangel
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der Kunst, sodass die im Folgenden zu ziehenden Schlüsse für beide gleichermaßen zutreffen. „Der absolute Geist kann nicht in solcher Einzelheit des Gestaltens expliziert werden; der Geist der schönen Kunst ist darum ein beschränkter Volksgeist [...]“ (Enz. III, § 559), der, wie Hegels Formulierung bei der Überleitung zum absoluten Geist lautet, letztlich in die Endlichkeit verstrickt bleibt. Die Absolutheit dieser Aussage, dass sich die Vernunft nicht in einem einzelnen Werk darstellen kann, wirkt dabei nahezu wie eine Rücknahme der von ihm selbst vorgenommenen Verortung der Kunst als Darstellungsweise des absoluten Geistes. Ich möchte jedoch dafür argumentieren, dass Hegels Herausstellung des Mangels der Kunst sowie auch die von ihm gegebene Begründung, dass religiöse Vorstellung notwendigerweise in Denken übergehen muss, keinen Widerspruch innerhalb seiner Konzeption darstellen, sondern sich dies mit der zuvor herausgearbeiteten Funktion erklären lassen. In der Forschung wird oft in die Richtung argumentiert, dass Religion und Kunst „ein Opfer [sind, I. S.], das aufgeopfert wird am Altar des Gottes ,Begriff‘“ (Csikós 2000, S. 46).22 So sieht beispielsweise auch Hösle Religion und Kunst nicht nur im Hegelschen Sinne, sondern „auch real aufgehoben“ (Hösle, S. 594 f.) in der Philosophie. Meines Erachtens muss man hier zwei Ebenen unterscheiden, wodurch sich der vermeintliche Widerspruch, Kunst und Religion dem absoluten Geist zuzuordnen und sie dann doch als mangelhaft gemessen an der Philosophie zu erklären, auflöst: Aus Sicht der Philosophie bzw. des höchsten Wissens sind sowohl Kunst als auch Religion defizitär; gemessen am Zweck des absoluten Geistes gilt tatsächlich, „daß das, was Kunst und Religion wollen, in der Philosophie auf bessere und angemessenere Weise erreicht ist“ (Hösle, S. 594 f.) und sie somit beide Formen „absorbiert“ (ebd., S. 595). Dass Hegel selbst sie aber dennoch dem absoluten Geist zuordnet und nirgendwo von der vermeintlichen realen Aufhebung bzw. der Überflüssigkeit dieser Darstellungsformen spricht, deutet darauf hin, dass er Kunst und Religion eine Funktion jenseits des Ausdrucks des Absoluten in höchster Gestalt zuschreibt. Sie werden nicht überflüssig durch die Tatsache, dass die Philosophie alle Wahrheiten in viel angemessener Weise darlegen kann, weil sie noch eine weitere Aufgabe haben, die im vorherigen Punkt herausgearbeitet wurde: Kunst und Religion sind das Medium, durch das die Sittlichkeit eines Volkes herausgebildet und fortentwickelt werden kann. Wegen dieser staatsnützlichen Funktion der Volksbildung stellt es keinen Einwand gegen die Existenz und Hochschätzung dieser beiden Formen dar, dass die Philosophie eine andere Aufgabe besser erfüllt. Insofern muss bei Hegels Ausfüh-
22 Csikós bezieht sich dabei allein auf die Kunst; zumeist und auch der Logik der Argumentation entsprechend, wird sowohl von dem Absterben der Religion als auch der Kunst gesprochen (vgl. im Folgenden die Bezugnahme auf die Deutung Hösles).
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rungen also erstens zwischen dem Zweck des absoluten Geistes und dessen Erfüllung durch die drei Darstellungsweisen sowie zweitens hinsichtlich deren „Existenzrecht“ in Bezug auf einen weiteren Nutzen unterschieden werden. Deswegen ist es nicht bzw. nur für die erste Ebene der Argumentation zutreffend, dass „die Religion nur als Surrogat oder als historische Vorgestalt der Philosophie ein eigenes Existenzrecht“ (Hösle, S. 595) hat.23 Für breite Bevölkerungsteile und vor allem für die von Armut Betroffenen sind Kunst und Religion durch ihr je spezifisches Medium ein adäquater Ersatz für eine Bildung in Form des reinen Gedankens und gerade wegen dieser Leistung für die Pflege des Volksgeistes unabdingbarer Bestandteil des Gemeinwesens.24 Bezieht man diese Erkenntnisse auf das Thema der Selbstverwirklichung, ergibt sich nun folgendes Bild: Das von Hegel aufgestellte Gebot, sich selbst zu erkennen, stellt ein Postulat dar, das sich an alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Vernunftwesen richtet. Sie sollen ihre Vernunftpotenz verwirklichen, indem sie sich in beschwerlicher Arbeit gegen sich selbst zur absoluten Erkenntnis emporarbeiten. Dies stellt die Grundstruktur seines Konzepts der Selbstverwirklichung dar, wobei dieser Anforderung an den Geist des Menschen solche der Objektivität zur Seite gestellt werden: Das Subjekt kann dem nur dann nachkommen, wenn er in Verhältnissen lebt, die diese Vernunftausbildung zulassen. Unabdingbar ist für Hegel hier ein Staat, der die Untertanen als Personen und damit als Wirtschaftssubjekte anerkennt und sie dadurch zu Bürgern macht, die sich als solche verstehen und betätigen sollen. Nun hat sich gezeigt, dass diese politische Lebensform, die Hegel in der Anth-
23 Hösle spricht selbst davon, dass die Religion „die Philosophie nur für diejenigen [ist, I. S.], die des reinen Denkens nicht fähig sind“ (Hösle, S. 595) und vertritt dennoch die „These vom Ende der Religion“ (ebd.) sowie der Kunst, da er die beiden Ebenen der Argumentation bzw. Zweckbestimmungen nicht unterscheidet: Erfüllen sie nicht den Zweck der Philosophie so gut wie diese selbst, so die Logik, werden sie überflüssig. 24 Wie im Staats-Kapitel im Abschnitt über die Religion (Fußnote 147 in Kapitel 3) dargelegt, diskutiert auch Taylor die These, dass die Religion Philosophie-Ersatz für die Armen und Ungebildeten ist, verwirft dies mit dem Hinweis auf den Fehler, Religion in ihre Funktionalität aufzulösen und gibt ihr anschließend ungewollt doch recht, indem er auf die Notwendigkeit der Spezialisierung in komplexen Gesellschaften und auf die unterschiedlichen Rationalitätsstandards verweist. Meines Erachtens steht beides in keinem Widerspruch zueinander, sondern bestätigt vielmehr die Argumentation für eine Trennung der beiden Ebenen: Die Religion als Darstellungsweise des absoluten Geistes geht nicht in ihrer staatsnützlichen Funktion auf, hat vielmehr einen davon getrennten Zweck. Diesen erfüllt sie jedoch mangelhaft gemessen an der Philosophie, was sie jedoch aufgrund ihres Nutzens, den gerade diese defizitäre Erfüllung ihres Zwecks generiert, nicht überflüssig macht.
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ropologie des Menschen verankert, von einem aus der Ökonomie herrührenden Problem bedroht wird: Weil das Eigentumsrecht als äußere Freiheitssphäre einen gesellschaftlichen Zusammenhang konstituiert, der nicht allen Mitgliedern ihre Reproduktion sichert, ergeben sich Unterschiede in der Fähigkeit, sich als zoon politikon zu begreifen, zu bilden und dies zu praktizieren. Damit ist ein Teil der Menschen also in ihren Selbstverwirklichungsmöglichkeiten eingeschränkt, was unmittelbar die Frage nach potentiellen Maßnahmen gegen Armut aufwirft. Diese wird auch deswegen so virulent, weil dieses Problem nicht nur eines für die Betroffenen selbst darstellt, sondern ebenso für den Hegelschen Begriff des Staates und damit für seinen ganzen Entwurf: Die moderne Hoheit als gewusste Allgemeinheit beruht auf der patriotischen Gesinnung ihrer Bürger; ohne deren Bejahung wird also auch der Staat seinem Begriff nicht gerecht. Trotz der auch von Hegel gesehenen Dringlichkeit des Problems scheitern letztlich alle Versuche, das Elend zu beenden; als wirkungsvollste Maßnahme begreift der Philosoph schließlich die Institutionalisierung sozialstaatlicher Elemente, die zumindest die absolute Armut beseitigen. Während der materiellen Deprivation also keine endgültige Abhilfe verschafft werden kann, gelingt eine Linderung der Auswirkungen auf sittlicher Ebene: Der Sozialstaat bietet den materiell Exkludierten einen Grund für eine staatsbejahende Gesinnung, und Kunst sowie Religion haben die Besonderheit, sich durch ihre spezifische Form an die Anschauung und Vorstellung der Menschen zu richten, sodass eine Vermittlung der Sittlichkeit auch dann möglich ist, wenn Bildung im Medium des reinen Denkens nicht gelingt. Sie sind also das Surrogat, durch das auch diejenigen eine Ausbildung und Pflege ihres Patriotismus erfahren, die aus materiellen Gründen von einer höheren Bildung ausgeschlossen sind. Dies ändert natürlich nichts daran, dass die Entfaltungsmöglichkeiten der Armen limitiert bleiben; ihnen wird eine Lebensform zugestanden, die mit materiellen, sittlichen und geistigen Einschränkungen verbunden ist. Diese Unterschiede in den Graden der Selbstverwirklichung werden letztlich als „eingehegte“ legitimiert; Kunst und Religion bilden das sittliche Bildungsmittel für diejenigen, die aufgrund ihrer materiellen Lage nur selten eine philosophische Bildung genießen können. Indem die Kunst beispielsweise in einem Bauwerk die Größe der Nation versinnbildlicht und Gottesdienste geistig allen zugänglich sind, werden auch diese Volksteile integriert. Diese Ausführungen Hegels über die Vermittlung der Sittlichkeit bzw. die Lehrerin der Völker, die die Wahrheit in allen zugänglicher Form transportiert, stützt meine These von Hegels Verständnis der Entschärfung des Armutsproblems durch dessen Begrenzung auf die relative, weniger staatsgefährdende Form. Er trägt den unterschiedlichen Bildungsgraden und -möglichkeiten Rechnung und überlegt sich, auf welchem Wege auch die geistig Ausgeschlossenen Zugang zur Vernunft erhalten können. Während die Bejahung des Staates an dessen kompensatorische Tätigkeit gebunden ist, findet er in Kunst und Religion die Antwort für die höhere, von materiellen Kalkulationen losgelöste Sphäre. Auch hier gilt natürlich wieder, dass
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es völlig vom Einzelnen abhängt, wie er sich zu diesem Angebot stellt – der Potenz nach existieren mit diesen beiden Formen der Vermittlung der Vernunft jedenfalls Bildungsmöglichkeiten, die nicht nur der Bevölkerung im Allgemeinen, sondern auch den bildungsfernen Schichten zugänglich sind. Es bleibt nun noch nachzuvollziehen, inwiefern die Philosophie die höchstmögliche Lebensform des allgemeinen Ich bzw. – auch im Vergleich zu Kunst und Religion – die höchste Form des absoluten Geistes darstellt.
4.2 DAS „ABSOLUT-ALLGEMEINE“ DER PHILOSOPHIE: DER BILDUNGSPROZESS ZUM PHILOSOPHEN ALS HÖCHSTE FORM DER SELBSTVERWIRKLICHUNG „das Vernünftige, das instinktmäßig in ihm [dem Menschen, I. S.] ist, und die Reflexion, die sich darauf richtet, führt ihn zum Allgemeinen.“ (Enz. III, KRL, S. 407)
Auf der Ebene der Philosophie als der höchsten Stufe des absoluten Geistes vollendet sich die Vernunft an sich und damit auch das individuelle Subjekt als Träger dieser überindividuellen Eigenschaft.25 Der Bildungsauftrag, der in Kapitel 2 als Anforderung an die Verwirklichung der Bestimmung des Menschen formuliert wurde, realisiert sich im Standpunkt der Philosophie. Im Folgenden gilt es nun darzulegen, weswegen dieser Hegel zufolge die höchste Form der Selbstverwirklichung des allgemeinen Ich und damit sowohl des individuellen Subjekts als auch der Allgemeinheit darstellt. Zu diesem Zwecke ist es nötig, einige Bestimmungen der Philosophie zu erarbeiten: Inwiefern ist sie das „Absolut-Allgemeine“ (Enz. III, § 577)? Dabei werden diese jedoch nur insoweit entwickelt, als es für das Thema relevant ist;26 betrachtet wird sie allein aus der Perspektive der Lebensform, die in
25 „Erst indem [das], was der Mensch so an sich ist, für ihn wird, also die Vernunft für sich, hat dann der Mensch Wirklichkeit nach irgendeiner Seite, – ist wirklich vernünftig und nun für die Vernunft“ (VGP, S. 40). Auf die Überwindung dieser Differenz bzw. die Fortentwicklung des Einzelnen zu einem An-und-für-sich-seienden Vernünftigen „kommt der ganze Unterschied in der Weltgeschichte an“ (VGP, S. 40). 26 Unter anderem werden die von Hegel genannten Bedingungen der Möglichkeit, sich auf einen philosophischen Standpunkt zu stellen, ausgeblendet; Hegel nennt hier unter anderem das Bewusstsein des Individuums, kein Sklave zu sein (vgl. VGP, S. 120 ff.). Auch
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der Forschungsliteratur kaum eingenommen wird: Was bedeutet es für das Individuum, sich auf den Standpunkt der Philosophie zu stellen? Und was impliziert dies für all die anderen Gesellschaftsmitglieder, die keine Philosophen sind? Diese Frage drängt sich selbstredend auf, wenn eine graduelle Unterscheidung in der Fähigkeit, den Begriff des Menschen zu verwirklichen, eingeführt wird. 4.2.1 Vom „formellen“ zum „reinen Denken“: höchste Form der Verwirklichung des allgemeinen Ich sowie des „Absolut- Allgemeinen“ „Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein –, ist es, was ich mir vorgesetzt“ (PdG, S. 14), so Hegel programmatisch in der Vorrede der Phänomenologie. Zweierlei kann diesem Zitat entnommen werden: Das Ziel der Philosophie liegt Hegel zufolge im wirklichen Wissen bzw. ihre Aufgabe besteht darin, „die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit“ (Enz. III, § 574, vgl. auch GPR, Vorrede, S. 23; vgl. auch VGP, S. 24) zu erfassen. Hierbei stellt sich unmittelbar die Frage, was der Gegenpart zum wirklichen Wissen ist und von welcher Wahrheit die wissende abgegrenzt wird. Der Nachvollzug dessen – dies ist das zweite Moment des Zitats – entspricht selbstredend nicht allein einer Analyse dessen, was Hegel sich als Individuum vorgenommen hat; seiner Philosophie zufolge muss dieses Projekt verstanden werden als eines der ganzen Menschheit, da sich in der Philosophie die differentia specifica, denken zu können, im höchsten Maße vollendet. Das Eingangspostulat der Selbsterkenntnis als absolutem Gebot eines jeden enthält das Doppelte, nämlich „Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich“ (Enz. III, § 377), sodass also nicht nur ein Begreifen von sich selbst als Vernunftwesen, sondern auch der Vernunft in der Welt einem jeden als Aufgabe gestellt wird. Der Mensch ist zwar an sich vernünftig, was jedoch nicht damit zu verwechseln ist, dass ihm deswegen die Erkenntnis aller Dinge „in die Wiege gelegt“ wird: „Aber wie es wahrhaft ist, stellt es sich nur der denkenden Vernunft dar; was ist, ist an sich vernünftig, aber darum noch nicht für den Menschen, für das Bewußtsein; – erst durch die Tätigkeit und Bewegung des Denkens wird das Vernünftige das, was wahrhaft ist, für ihn [...]“ (KRL, S. 405 f.). In der Welt das Allgemeine zu erkennen, muss sich das Individuum also selbst zur Aufgabe setzen und sich in geistiger Arbeit darum bemühen. Diese soll im Folgenden nachvollzogen werden aus der Perspektive der epistemischen Form: Was bedeutet es, philosophisch zu denken? Wovon ist dies abzugren-
wissenschaftstheoretische Konsequenzen, bspw. hinsichtlich der Erkenntnistheorie, können nicht entwickelt werden.
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zen? Und wie ist die Formulierung zu verstehen, dass der Philosoph im Idealfall „die sich wissende Vernunft, das Absolut-Allgemeine“ (Enz. III, § 577) hervorbringt? An zahlreichen Stellen dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass Hegel keine strikte Trennung zwischen Empfindung und Denken vornimmt und für ihn Kunst und Religion als Formen des absoluten Geistes nicht im Gegensatz zum Denken stehen. Hier ist nun der Punkt, an dem die Bedeutung seines „inklusiven Begriff[s] des Denkens“ (Schnädelbach 2000, S. 27) in Gänze erfasst werden kann. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Denken, weswegen ihm Hegel zufolge ein Bildungsauftrag zukommt. Dabei differenziert er jedoch verschiedene Weisen dieser Betätigung, sodass also der Mensch, der sich nicht zum Standpunkt der Philosophie emporarbeitet, keineswegs auf den des animalischen Organismus zurückfällt. „Das Denken macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste, und die Philosophie ist nur ein Bewußtsein über jenen Inhalt, den Geist und seine Wahrheit, auch in der Gestalt und Weise jener seiner, ihn vom Tier unterscheidenden und der Religion fähig machenden Wesenheit“ (Enz. I, Vorrede zweite Ausgabe, S. 25). Zu behaupten, dass die differentia specifica des Menschen im Denken liegt und der Philosoph allein diese Tätigkeit vollendet, lässt die Masse der Nichtphilosophen nicht auf ein tierisches Dasein zurückfallen, wenn unterschiedliche Formen der Betätigung dieses Vermögens anerkannt werden. Dass er von deren Existenz ausgeht, macht er an zahlreichen Stellen deutlich. So spricht Hegel beispielsweise davon, dass seine „philosophischen Bemühungen“ (Enz. I, Vorrede zur zweiten Ausgabe, S. 14) sich darauf richten, „die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit“ (ebd.) zu leisten. Es wird also differenziert zwischen unterschiedlichen Erkenntnisformen; eine solche Aussage unterstellt, dass es eine andere Weise des Begreifens der Wahrheit gibt. Er grenzt sich sogar ausdrücklich von der Behauptung ab, nur durch „Bildung, durch Philosophie“ (Enz. III, § 482, Anm.) frei sein zu können. Selbstredend wird dies von Hegel nicht in dieser funktionalistischen Weise gedacht; er hat vielmehr die verschiedenen Weisen des Denkens herausgearbeitet, die diesen Schluss zulassen. Die Vernunftfähigkeit, die allen qua ihres Menschseins zukommt, wird also nicht nur ausschließlich von Philosophen betätigt; vielmehr führt Hegel graduelle Unterschiede in den epistemischen Formen ein, wobei dies die qualitative Differenz nicht negieren soll: Der Philosoph verwirklicht durch seine Art des Denkens das absolute Gebot in vollendeter Weise und somit gelingt ihm die Verwirklichung als allgemeines Ich vollkommener als der Masse. Terminologisch fasst er diese Differenzierung in unterschiedlichen Worten; so heißt es in einer Textpassage: „Es ist jedoch wohl zu unterscheiden, ob wir nur denkend sind oder ob wir uns als denkende auch wissen. Das erstere sind wir unter allen Umständen; das letztere hingegen findet auf
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vollkommene Weise nur statt, wenn wir uns zum freien Denken erhoben haben. Dieses erkennt, daß es selber allein und nicht die Empfindung oder die Vorstellung, imstande ist, die Wahrheit der Dinge zu erfassen.“ (Enz. III, § 465, Zus.)
Das philosophische Denken wird hier als freies bezeichnet; an anderer Stelle spricht er vom „konkreten Denken“ (Enz. III, § 465 Zus.), vom „begreifenden Erkennen“ (Enz. III, § 465, Zus.) und dem „eigentliche[n] Begreifen“ (Enz. III, § 467, Zus.). Während also das Denken an sich bzw. das „abstrakte[], formelle[] Denken“ (ebd.) eine Tatsache des menschlichen Seins ist, gibt es eine qualifiziertere Form dieser Betätigung, die im Zitat näher bestimmt wird: Diese unterstellt, dass Menschen sich als mit dieser Fähigkeit begabte Wesen wissen, also einen selbstreflexiven Bezug darauf, dass sie ebendiese Eigenschaft auszeichnet. Wenn man dies begreift, so Hegels Ausführung, fällt das zusammen mit einer Erkenntnis dessen, dass diese dem Menschen exklusiv zukommende epistemische Form zugleich über den anderen steht: Überwindet man die Mängel der Empfindung und Vorstellung, werden diese rückwirkend als defizitäre Weisen der Erfassung der Wahrheit begriffen. Die Analyse, dass es auch andere Stufen des Denkens gibt, widerspricht also keineswegs einer Hierarchisierung: Analog zur Aristotelischen Untersuchung in der Metaphysik (vgl. Met. I 1-2, 980a20-983a25) entwickelt Hegel eine epistemische Stufenleiter, an dessen Ende das freie, weil sich selbst reflektierende Denken steht, das aus seiner Position heraus alle vorherigen Weisen der Erkenntnis als mangelhaft begreift. Bemerkenswert ist an dem Zitat, dass Hegel hier eindeutig davon spricht, dass das vollkommene Denken erkennt, dass doch nur es allein die Wahrheit zu erfassen vermag – und zwar im absoluten Sinne, also ohne eine Abstufung der unterschiedlichen Wahrheitsarten und -grade.27 Dies erinnert an seine Ausführungen zur Kunst und Religion, wo er einerseits häufig darauf verweist, dass diese sich nur durch die Form und nicht durch den Inhalt von der Philosophie unterscheiden und schließlich an einer Stelle seiner Analyse des Zusammenhangs von Form und Inhalt doch darauf zu sprechen kommt, dass sich die spezifische Form der Darstellung des Absoluten auf den Inhalt – und zwar im Falle der Kunst und Religion als Beschränkung – auswirkt. Letztlich bedarf es also doch des reinen Denkens der Philosophie bzw. der höchsten Form, um auch den höchsten Inhalt adäquat begreifen zu können. Wie lässt sich das philosophische Denken näher charakterisieren? Hegel zufolge wird auf dieser epistemischen Stufe „der Begriff als solcher erkannt“ (Enz. III, § 467, Zus.), was er wie folgt erläutert: „Die Philosophie hat es mit Ideen und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt, zu tun, sie zeigt vielmehr deren Einseitigkeit und Unwahrheit auf, sowie daß der 27 Eine detaillierte und erkenntnisreiche Erläuterung der Hegelschen Wahrheitstheorie findet sich bei Halbig 2002, S. 181 ff.
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Begriff (nicht das, was man oft so nennen hört, aber nur eine abstrakte Verstandesbestimmung ist) allein es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich diese selbst gibt. Alles, was nicht durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf. Die Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt, ist zur Erkenntnis des Begriffes selbst das andere, von der Form, nur als Begriff zu sein, unterschiedene wesentliche Moment seiner Idee.“ (GPR, § 1, Anm.)
Das Zitat nähert sich dem Gegenstand und der spezifischen Weise von dessen Erfassung durch die Philosophie auf dem Wege der Abgrenzung an, die im Folgenden nachvollzogen werden sollen. Das philosophische Nachdenken befindet sich erstens nicht in der Sphäre der „bloßen Begriffe“ im Sinne einer Konstruktion des nachdenkenden Subjekts, der jeder Bezug zur Empirie fehlt. „Abstrakt“ (VGP I, S. 43), so Hegel, ist der Inhalt der Philosophie „nur der Form, dem Elemente nach“ (ebd.), was bedeutet, dass sie zwar die Allgemeinheit der Dinge erfasst, aber eben der konkreten Dinge, anders ausgedrückt sich „wesentlich im Elemente der Allgemeinheit [...], die das Besondere in sich schließt“ (PdG, S. 11) befindet. Das Ausmalen von „leeren Allgemeinheiten“ (VGP I, S. 43), also eine Weltabgewandtheit des Philosophen durch abstrakte Begriffsbildungen wird von Hegel deswegen vehement zurückgewiesen, weil er im Gegebenen das Wirkliche bzw. das Vernünftige fassen und so gerade diese als bereits realisiert bzw. sich permanent realisierend erkennen möchte. Gleichzeitig – so die zweite Abgrenzung – wäre dies falsch verstanden, wenn damit sämtliche existierende Gegenstände in den Bereich der Philosophie einbezogen werden: Hegels Unterscheidung der Wirklichkeit vom Gegebenen (vgl. ebd. sowie Fußnote 18) weist darauf hin, dass sich der Philosoph in der Mannigfaltigkeit der Welt nicht alle Phänomene zum Gegenstand machen sollte, sondern Wesentliches von Akzidentiellem zu unterscheiden hat.28 Der Philosoph steht vor der Aufgabe, bei zu untersuchenden Gegenständen und Erscheinungen die Substanz der Sache zu ergründen, dabei nichts Sachfremdes im Sinne einer rein subjektiven Idee an die Dinge heranzutragen und sich auch nicht im „unendlichen Material“ (GPR, Vorrede S. 25) zu verlieren. So führt er Platons Rat über das Stillen von Kindern
28 „Wenn umgekehrt die Idee für das gilt, was nur so eine Idee, eine Vorstellung in einem Meinen ist, so gewährt hingegen die Philosophie die Einsicht, daß nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. Denn das Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor“ (GPR, Vorrede, S. 25).
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oder Fichtes Ausführungen über die Passpolizei als Beispiele an (vgl. ebd.), in denen sich die Philosophie in außerhalb ihres Gegenstandsbereichs liegende Dinge einmischt und darüber selbst aufhört, Philosophie zu sein. Dieser vermeintlichen „Ultraweisheit“ (ebd.), so Hegel, sollte sie sich entsagen, weil die Handhabung dieser Dinge in den Bereich der Willkür fallen, weswegen sich die Wissenschaft dazu „am liberalsten“ (ebd.) verhalten sollte. Neben der Unterscheidung zwischen rein Zufälligem und dem Substantiellen soll sich die Philosophie dabei, so kann man den beiden Beispielen entnehmen, auch jeglicher Partikularität entledigen: Wenn ein gegebener Rat allein aus subjektiven Besonderheiten erfolgt und sich nicht objektiv aus der Analyse ergibt, hat man die Sphäre der Philosophie verlassen. Wie in dem ausführlichen Zitat angesprochen, ist „Meinung“ nicht das Element dieses Denkens – andernfalls wäre sie eine „überflüssige und langweilige Wissenschaft“ (VGP I, S. 30). Aus diesem „Gegensatz zwischen Meinung und Wahrheit“ (VGP I, S. 32), den Hegel hier postuliert, ergeben sich zahlreiche wissenschaftstheoretische Konsequenzen, wie ein klarer Antipluralismus (vgl. auch Schnädelbach 2000, S. 25 sowie Siep 1992b, S. 270). Relevant ist für das Thema dieser Arbeit eine hieraus zu ziehende Folgerung, die in den nächsten Punkten näher beleuchtet werden soll: Das konkrete philosophierende Individuum spielt als solches in dieser Sphäre keine Rolle bzw. muss sogar schärfer formuliert werden, dass jemand nur dann zum wahrhaften Philosophen wird, wenn er es vermag, bei dieser Betätigung jegliche subjektive Besonderheit abzustreifen. Implizit ist damit bereits eine dritte Abgrenzung des philosophischen Denkens benannt, die Hegel an zahlreichen anderen Stellen explizit ausführt: Deren Aufgabe besteht im „Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen [...], das Gott weiß wo sein sollte – oder von dem man in der Tat wohl zu sagen weiß, wo es ist, nämlich in dem Irrtum eines einseitigen, leeren Räsonierens“ (GPR, Vorrede, S. 24). Dass der Philosoph sich in seiner Besonderheit ganz aus der Wissenschaft herausnehmen soll, bedeutet auch, dass er keine „Welt, wie sie sein soll“ (GPR, Vorrede, S. 26) entwirft, da dies schließlich allein seinem Postulat entspringen würde. Bar jeglicher Objektivität fällt es in das Belieben des Subjekts, welche Kriterien es zur Beurteilung einer Sache anlegt, wodurch dieses Denken zu einer weiteren Spielart der Weltabgewandtheit wird. Nicht Werte oder ein ausgedachter Idealzustand, sondern allein die Vernunft bzw. der jeweilige Begriff einer Sache darf Hegel zufolge zum Maßstab werden. Am Beispiel der Philosophie ausgedrückt bedeutet dies, dass es kein leeres Sollen ist, von ihr die Erfüllung der drei soeben analysierten Kriterien einzufordern, da sie dabei nicht an etwas ihr Äu-
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ßerlichem gemessen wird; vielmehr wird sie ihrem an-sich-seienden Begriff nur gerecht, wenn sie diese ihr immanenten Bestimmungen erfüllt.29 Nach der Analyse der von Hegel gegebenen Abgrenzungen bleibt nun noch, das philosophische Denken positiv zu fassen. In der ausführlich zitierten Textstelle kennzeichnet Hegel die Idee als Aufgabe und Gegenstand der Philosophie und führt dies näher aus: „Die Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt, ist zur Erkenntnis des Begriffes selbst das andere, von der Form, nur als Begriff zu sein, unterschiedene wesentliche Moment seiner Idee“ (GPR, § 1, Anm.). Auch an anderer Stelle spricht er von der Erkenntnis der „allgemeine[n] Idee“ (GPR, § 216, Zus.), die „dennoch immer weiter spezialisiert werden kann“ (ebd.). Was ist unter dem Terminus „Idee“ zu verstehen und wie ist dessen Verhältnis zum Begriff? Da diese Thematik zu einer der komplexesten der Hegelschen Theorie zählt, kann dies freilich nur angedeutet und verfolgt werden, insoweit dies für ein Begreifen des Hegelschen Philosophie-Verständnisses relevant ist.30 Ich möchte mich ihr zunächst anhand eines Beispiels widmen, bevor die kryptisch erscheinende Formulierung aus dem Begriffszitat aufgegriffen wird: Zum Beginn der Rechtsphilosophie führt Hegel aus, dass sich diese mit der „Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung“ (GPR, § 1) beschäftigt. Die nähere Charakterisierung ist aufschlussreich: „Idee“ umfasst bei Hegel also sowohl die wissenschaftliche Bestimmung einer Sache – als dessen Momente in der Logik die Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit gekennzeichnet werden (vgl. WdL II, S. 273) – als auch dessen Existenz in der Welt. Während die Negation der Vorstellung, bei einer Idee handele es sich um einen abstrakten, ausgedachten Begriff, bereits geleistet wurde, besteht der Fortschritt in der Bestimmung nun darin, dass das Auftreten des Begriffs der Sache in der Realität selbst als Element der Idee gefasst wird. Die Idee, so führt Hegel an anderer Stelle übereinstimmend aus, ist „die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität“ (Enz. I, § 213). Wenn also die „Einheit des Daseins und des Begriffs“ (GPR, § 1 Zus.) die Idee ist, dann bedeutet dies am Beispiel der Untersuchung des Rechts, dessen Idee Hegel zufolge die Freiheit ist (vgl. ebd.), dass man in der Realität des
29 Die von Hegel vorgenommene Kritik an verschiedensten Gegenständen müsste seiner Auffassung entsprechend also stets diesem Muster folgen: In der Realität werden Momente von Vernunft gefunden, in denen sie bereits Wirklichkeit ist; ein Ungenügen an einer Sache wäre dieser Logik zufolge stets ein „Noch-Nicht“, nämlich eine noch unvollendete Verwirklichung des eigenen Begriffs. 30 Auf den Begriff der Idee in der Logik geht Schäfer ausführlich ein (vgl. ders., in: Koch u. a. 2002, S. 243-264); das Verhältnis der beiden Bestimmungen und eine detaillierte Kritik an dem Abgleiten der Logik in Metaphysik demonstriert am Begriff der Idee findet sich bei Schick 1994, S. 265 ff.
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Rechts ebendiese erfassen muss (vgl. ebd.). Diese Auffassung unterstellt, dass die Gegenstände von etwas Höherem beseelt sind, das ihr eigentliches Wesen ausmacht, wozu sie also auch streben, wenn sie dieses noch nicht in Gänze verwirklicht haben. Dieses Höhere, das Hegel in einer anderen denn der rein logischen Bedeutung des Wortes auch als Begriff bezeichnet, ist dabei nicht nur Telos, sondern zugleich überhaupt deren Hervorbringendes; dies erhellt, weswegen Hegel in der aufgeführten Textpassage den Begriff selbst zum Subjekt macht (vgl. auch Enz. I, § 213), der eine Gestalt der Dinge hervorbringt. Als Aufgabe des Philosophen ausgedrückt, bedeutet dies also, dass dieser in den Formen, die sich der Begriff gibt, 31 dessen ihn durchwaltendes Prinzip erkennt, wodurch eingelöst ist, inwiefern das philosophische Denken das Absolute bzw. die allgemeine Idee in ihren Spezifikationen zu erfassen habe. Hegels Theorie der Philosophie ist keine der Welt abgewandte, weil sie fordert, dass die Vernunft in den existierenden Dingen selbst gefunden werde; durch dieses Postulat wird sie zugleich dennoch zu einer solchen, weil sie sich nicht einfach den Gegenständen vorurteilslos zuwendet, sondern von der Prämisse eines höheren Zwecks ausgeht, den sie in diesen suchen und finden möchte.32 Durch diese analysierten Momente – das Ablehnen einer abstrakten Begriffsbestimmung, dem Verlieren im empirischen Material sowie dem Aufstellen eines leeren Sollens und dem Verständnis von „Idee“ – ergibt sich nun ein Bild davon, wie Hegel seine eigene politische Philosophie versteht; um die analysierten Elemente zu veranschaulichen, soll dies kurz dargelegt werden. Wenn er seine Rechtsphilosophie als Versuch beschreibt, „den Staat als ein in sich vernünftiges zu begreifen und darzustellen“ (GPR, Vorrede, S. 26), so ist dies in genau dem benannten Sinne zu verstehen: Hegels Philosophie ist nicht in dem Sinne apologetisch, dass jedes staatliche Phänomen legitimiert wird, sondern in deren Erscheinungsformen wird das
31 Hegel denkt dabei keineswegs nur an scheinbar höhere Dinge, in denen sich der Begriff vergegenständlicht: „Auch der endliche oder subjektive Geist – nicht bloß der absolute – muß als eine Verwirklichung der Idee gefaßt werden.“ (Enz. III, § 377, Zus.) 32 Tatsächlich scheint in dieser Denkfigur der apologetische Charakter der Hegelschen Philosophie zu liegen, die die Kritiker zumeist erst bei der Behandlung des Staates registrieren; wie dieser und andere Phänomene der Realphilosophie gefasst werden, ist als Konsequenz aus ebendieser Verbindung von logischen Kategorien und Metaphysik zu begreifen, denn: „Das Vernünftige gilt ihm [Hegel, I. S.] als immer schon wirkliches Sollen. Nach Hegels Meinung steht das Wirkliche, insofern es begriffen werden kann, unter dem Signum des Wahren, d. h. es tritt in ein Entsprechungsverhältnis zum Begriff des Begriffs. Der rückt damit ein in den Rang des seine Geltung selbst tätigenden Maßstabs der wirklichen, einzelnen Sache: Ihre allgemeine logische Struktur steht ihr als ihr inhärentes, objektives Sollen gegenüber.“ (Schick 1994, S. 277)
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herausgearbeitet, was dem Begriff des Staates (bereits) entspricht. Insofern ist nicht alles Gegebene per se vernünftig; es kann ein Auseinanderfallen geben. Aufgabe der politischen Philosophie ist es dabei, die existierenden Momente des Vernünftigen im Gegebenen darzustellen. Seine eigentliche Apologie liegt in der a priori feststehenden Unterstellung, dass die Vernunft darin zu finden ist: in dieser Prämisse, dass der Begriff als metaphysisches Subjekt in den Dingen herausgearbeitet werden muss und jedes nicht zu billigende Moment lediglich ein „Noch nicht“ darstellt. Bei diesem Vorgehen wird die Realität aber nicht schlicht an einem ausgedachten Ideal über den Staat gemessen, was schließlich dazu führen kann, dass der Wissenschaftler einen willkürlichen, womöglich sachfremden Maßstab an die Wirklichkeit anlegt. Beim durchgeführten Vergleich würden sich letztlich nur Negativaussagen über die zu ergründende Sache ergeben und das bereits existierende Vernünftige in der Wirklichkeit nicht erfasst werden, weswegen er sich vehement gegen das Entwerfen eines Idealstaats richtet (vgl. GPR, Vorrede, S. 26). Sein Ideal besteht nicht in einem einzelnen Sollen der jeweiligen zu untersuchenden Sache; vielmehr ist es das umfassende Ideal der Vernunft, die als Idee Subjekt, Prinzip und Telos aller Gegenstände ist. Damit wird auch deutlicher, inwiefern das Individuum sich im Philosophieren zum freien Denken erhebt und die Philosophie die sich wissende Vernunft bzw. das Absolut-Allgemeine ist, erkennt und damit hervorbringt. Hegel geht davon aus, dass die Vernunft selbst Subjekt ist und näher ein solches, das in den von den Menschen gemachten Gegenständen der Welt waltet. Wenn die Vernunft als Gattungseigenschaft, die dem einzelnen Menschen zukommt, in ihrer philosophischen Form betätigt wird, begreift sie in den Dingen dieses Prinzip – anders ausgedrückt erkennt das Denken sich dabei selbst: „Alles Tun des Geistes ist deshalb nur ein Erfassen seiner selbst, und der Zweck aller wahrhaften Wissenschaft ist nur der, daß der Geist in allem, was im Himmel und auf Erden ist, sich selbst erkenne“ (Enz. III, § 377, Zus.).33 Dabei ist dieser Prozess als Wechselverhältnis zu verstehen, denn einerseits existiert das Absolut-Allgemeine und ist die Vernunft das die Welt bestimmende Prinzip; andererseits kann es seinem eigenen Begriff nicht gerecht werden, wenn dieses nicht auch von den vernunftbegabten Menschen erkannt wird bzw. diese ihren Begriff verfehlen: „[A]lles, was das menschliche Leben zusammenhält, was Wert hat und gilt, ist geistiger Natur; und dies Reich des Geistes existiert allein durch das Bewußtsein von Wahrheit und Recht, durch das Erfassen der Idee“ (KRL,
33 „Das Denken hat folglich auf diesem Standpunkte keinen anderen Inhalt als sich selber, [...]; es sucht und findet im Gegenstande nur sich selbst. Der Gegenstand ist daher hier vom Denken nur dadurch unterschieden, daß er die Form des Seins, des Fürsichbestehens hat. Somit steht das Denken hier zum Objekt in einem vollkommen freien Verhältnisse.“ (Enz. III, § 467, Zus.)
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S. 404). Damit sind auch die beiden Bestimmungen des freien Denkens im Eingangszitat eingelöst, demzufolge sich Menschen erst in dieser epistemischen Form auch als Denkende wissen und erkennen, dass nur das freie Denken die Wahrheit der Dinge erkennen kann: In der Empfindung sowie der Vorstellung, die Hegel diesem gegenüberstellt, kann zwar ebenfalls gedacht werden. Wie deutlich wurde, ist es sogar möglich, dass diese mentalen Formen auf dem Wissen um die Sache beruhen; der wahrhafte Patriotismus besteht beispielsweise darin, dass das Wesen des Staates von den Menschen erkannt und deswegen in ihrer Empfindung affirmiert wird. Dennoch hat diese Form noch einen Mangel, weil sie nicht begreifen kann, dass sich im Staat selbst die Vernunft materialisiert; erst das freie Denken erkennt die Wahrheit bzw. in den Dingen sich selbst. Das Denken als das Allgemeine ist nun bei sich selbst, sodass jede Attribuierung dieses Allgemeinen einer seinem Begriff unangemessenen Einschränkung gleichkäme; einzig, es als das Absolute im Wortsinne als „rein aus sich bestehendes und in sich ruhendes Sein“ (Dudenredaktion o. J.) zu kennzeichnen, bringt seine Qualität adäquat zum Ausdruck: In der wahrhaften Wissenschaft erkennt der Geist, dass letztlich nichts existiert, was ihm äußerlich ist; „[d]as Denken, als der freie Begriff, ist nun auch dem Inhalte nach frei“ (Enz. III, § 468), weil es in den Gegenständen nur sich selbst findet (vgl. Enz. III, § 467, Zus.). Die Vernunft erkennt sich in den Sachen wieder und somit die Welt an sich als davon durchdrungene: „So ist das begreifende Erkennen im Gegenstande absolut bei sich selber“ (Enz. III, § 468, Zus.). Die Vernunft als das Allgemeine vergegenständlicht sich in der Welt, wobei das freie Denken dies erkennt und so seine Materiatur als solche begreift: „Hier wird das Allgemeine als sich selber besondernd und aus der Besonderung zur Einzelheit zusammennehmend erkannt oder, was dasselbe ist, das Besondere aus seiner Selbstständigkeit zu einem Momente des Begriffs herabgesetzt. Demnach ist das Allgemeine nicht mehr eine dem Inhalt äußerliche, sondern die wahrhafte, aus sich selber den Inhalt hervorbringende Form, – der sich selber entwickelnde Begriff der Sache.“ (Enz. III, § 467, Zus.)
Die Freiheit, die Zweck des modernen Gemeinwesens und damit Grund für Hegels Staats-Verehrung ist, vollendet sich erst hier, da sie auf der Stufe des objektiven Geistes noch ihrer materialisierten Form bedarf, die im philosophischen Denken zumindest ideell aufgehoben ist. „Nur dies ist Freiheit; frei ist, was nicht auf ein Anderes sich bezieht, nicht von ihm abhängig ist [...] Nur hier tritt wahrhaftes Eigentum, nur hier wahrhafte eigene Überzeugung ein. In allem anderen als Denken kommt der Geist nicht zu dieser Freiheit“ (VGP, S. 42). Die Entzweiung des Menschen, der sich in seinem Innern als auch in der Konfrontation mit der äußeren Welt entfremdet wähnt, wird auf dieser Stufe endgültig aufgehoben: Weil er die Welt ge-
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danklich zu erfassen vermag, so Hegels Deutung, muss diese eine vom Gedanken selbst durchwaltete sein;34 so erkennt der Geist sich selbst in den Gegenständen.35 Durch diese Vollendung der Freiheit, die in der Erkenntnis der Wirklichkeit als vernünftige liegt, versöhnen sich Realität und individueller sowie absoluter Geist: „Nur in dem Prinzipe des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien und in der Tätigkeit seines Befreiens seine Wirklichkeit habenden Geistes ist die absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in eins zusammenfallen, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geiste, des Staats mit dem religiösen Gewissen, ingleichen dem philosophischen Wissen sich vollbringt. Indem die fürsichseiende Subjektivität absolut identisch ist mit der substantiellen Allgemeinheit, enthält die Religion als solche wie der Staat als solcher, als Formen, in denen das Prinzip existiert, in ihnen die absolute Wahrheit, so daß diese, indem sie als Philosophie ist, selbst nur in einer ihrer Formen ist.“ (Enz. III, § 552, Anm.)
In der Form des philosophischen Denkens, in denen der Geist bei sich ist – und erst hier –, vollenden sich Staat und Religion. Das Nachdenken über Religion – und auch der Kunst, wie er an anderer Stelle erläutert (Enz. III, § 572) – erfasst deren Spezifika und hebt deren Mängel zugleich auf, weil der Philosoph auch die Notwendigkeiten von deren besonderen epistemischen Formen erfasst. „Dies Wissen ist damit der denkend erkannte Begriff der Kunst und Religion“ (Enz. III, § 572). Der Philosoph weiß, dass sie Formen der absoluten Wahrheit sind und hebt sie dadurch, dass sie selbst Gegenstand seiner Betrachtung werden, auf die Ebene der Philosophie. Analog hierzu sind Hegels Ausführungen zum Staat zu verstehen: Das Gemeinwesen wird erkannt als notwendige Form, die sich die Freiheit in der Welt gibt, und erst durch dieses Wissen wird es zur tatsächlichen Verkörperung dessen, was es zu sein beansprucht. Reflektiert man diese beiden Bestimmungen nun auf die Ausführungen zuvor, wirft das hinsichtlich des Staates als gewusster Allgemeinheit Fragen auf: Hinsicht-
34 „Das gewöhnliche Bewußtsein dagegen kommt über diesen Gegensatz nicht hinaus und verzweifelt entweder in dem Widerspruch oder wirft ihn fort und hilft sich sonst auf andere Weise. Die Philosophie aber tritt mitten in die sich widersprechenden Bestimmungen hinein, erkennt sie ihrem Begriff nach, d. h. als in ihrer Einseitigkeit nicht absolut, sondern sich auflösend, und setzt sie in die Harmonie und Einheit, welche die Wahrheit ist.“ (VÄ I, S. 137) 35 Hier nun „erreicht die Intelligenz ihre Vollendung, ihr Ziel“: sie ist „die sich wissende Wahrheit, die sich selbst erkennende Vernunft. Das Wissen macht jetzt die Subjektivität der Vernunft aus, und die objektive Vernunft ist als Wissen gesetzt.“ (Enz. III, § 467, Zus.)
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lich Religion und Kunst hat Hegel keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich hierbei um Zugangsweisen zum Absoluten handelt, die epistemisch eine abgestufte Form darstellen, was zwar einerseits deren Mangel begründet, andererseits aber auch notwendig ist, da sie den Bedürfnissen der breiten Masse entsprechen. Beim Staat hingegen existiert in Hegels Philosophie keine solche Unterscheidung zwischen den Menschen, sondern vielmehr ist es sein Anspruch, dass jeder sein wahres Wesen erkennt, um Bürger zu sein und den Staat als gewusste Allgemeinheit hervorzubringen. Offenbar, so lässt sich nun aus dieser Textstelle rückwirkend entnehmen, muss jedoch nochmals differenziert werden zwischen einer Erkenntnis des Wesens des Staates, die zu dessen Affirmation führt und die im Patriotismus vom breiten Volk gelebt wird, und der politischen Philosophie, in der der Staat zum Gegenstand des philosophischen Nachdenkens wird. Den Staat als Garanten meiner und der Freiheit an sich zu begreifen, ist also zu unterscheiden davon, die Grundlinien der Philosophie des Rechts zu schreiben oder deren Gedanken studierend nachzuvollziehen. Dass es sich hierbei um zwei Dinge von unterschiedlicher wissenschaftlicher Dignität handelt, kann kaum bestritten werden; die Konsequenzen scheinen dennoch nicht unproblematisch: So wird schließlich dem Philosophen auch im Bereich des Politischen die höchste Erkenntnis zugesprochen; politische Phänomene geistig zu erfassen, kommt letztlich, so Hegels Überlegungen, nur ihm im vollständigen Maße zu.36 Und da der Staat in seinem System gewusste Allgemeinheit zu sein beansprucht, vollendet sich mit der philosophischen Betrachtungsweise nicht nur die Selbstverwirklichung des philosophierenden Individuums, sondern auch die des Staates. Wie Hegel in der Textstelle ausführt, so werden in der Philosophie fürsichseiende Subjektivität und substantielle Allgemeinheit identisch, in anderen Worten: Im freien Denken des Philosophen wird das allgemeine Ich in Gänze verwirklicht. Das Subjekt an sich hat sich nun zu einem an-und-für-sichseienden gebildet, indem es die Vernunft als Prinzip der Welt erkennt. „Dies gegenseitige Sichdurchdringen der denkenden Subjektivität und der objektiven Vernunft“ (Enz. III, § 467, Zus.) markiert das Telos des an-sich vernünftigen Menschen, das im Philosophen realisiert wird. Nun ist der Philosoph jedoch kein Gott, der außerhalb der Zeit steht, und auch die Vernunft ist kein starres Prinzip, das man durch einmalige Erkenntnis dingfest
36 Insofern scheinen mir Fetschers Ausführungen hierzu nicht zutreffend zu sein: In der Unterscheidung zwischen Philosoph und Nichtphilosoph spiegelt sich seiner Ansicht nach „die Hegelsche Zweiteilung der Bevölkerung in gebildetes Beamtentum (und Bürgertum) auf der einen Seite und bloß passiv zustimmende Mehrheit auf der anderen“ (Fetscher 1970, S. 86). Weder sind Philosophen gleichzusetzen mit Beamten oder Menschen in ihrer Rolle als Bürger, noch sollte in Hegels Verständnis die große Mehrheit politisch unbeteiligt sein.
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machen und den Erkenntnisprozess abschließen könnte. Die Idee entwickelt sich in der Zeit und ist also „wesentlich Prozeß“ (Enz. I, § 215).37 In diesem Sinne, so muss eingeschränkt werden, verwirklicht sich die Vernunft im freien Denken zwar in der höchsten Form, jedoch in der höchsten dem Menschen möglichen Form. Das philosophierende Individuum vermag zwar, wie eben beschrieben, die waltende Vernunft in den Gegenständen zu erkennen – tatsächlich übersteigt das Begreifen des Absoluten in seiner Entwicklung jedoch ein einzelnes Menschenleben. Der Einzelne vermag in unterschiedlichem Maße am Geistigen zu partizipieren (vgl. Jaeschke 2010, S. 481), das Philosophieren ist jedoch als Geschichte der Vernunft zu fassen, die sich über Generationen entwickelt und die dementsprechend auch nur in und durch die Kontinuität der Geschichte der Philosophie erfasst werden kann. Sie stellt sich dar als „eine Fortschreitung, die nicht das Denken eines Individuums durchläuft und sich in einem einzelnen Bewußtsein darstellt, sondern der als in dem Reichtum seiner Gestaltung, in der Weltgeschichte sich darstellende allgemeine Geist“ (VGP I, S. 52). Der Einzelne kann Teil des allgemeinen Geistes werden, indem er sich aneignet und fortentwickelt, was andere vor ihm erschlossen haben. „Der Besitz an selbstbewußter Vernünftigkeit, welcher uns, der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern es ist dies wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein“ (VGP, S. 21). Dieses Verständnis hat natürlich Folgen für die Bedeutung des einzelnen Philosophen: Er zeichnet sich durch das freie Denken aus, das in seiner Bedeutung für das Hegelsche System nicht überschätzt werden kann; zugleich besteht der Inhalt dessen gerade nicht in seiner besonderen Individualität, sondern darin, dass er das der Gattung Allgemeine in vorzüglicher Weise ausbildet und sich dabei in das Kontinuum der Entwicklung der Vernunft einordnet. Wie sich die Stellung des Einzelnen, der sich vom formellen zum freien Denken erhebt, zu beurteilen ist, soll im Folgenden Gegenstand der Betrachtung werden. 4.2.2 Der Philosoph als Vermittler des Allgemeinen, oder: unterschiedliche Grade der Verwirklichung der differentia specifica des Menschen durch Philosoph und Nicht-Philosoph Nachdem erläutert wurde, inwiefern die Betätigung als Philosoph individuell die höchste Form der Selbsterkenntnis darstellt, die zugleich auch die vollendete Ausprägung des Allgemeinen hervorbringt, stellt sich nun in zweifacher Hinsicht die
37 Begrifflich wäre hier die Dialektik als Methode der Durchsetzung abzuhandeln (vgl. hierzu Kapitel 1.2.1).
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Frage, ob alle Menschen dieses Vermögen erbringen können: zunächst schlicht deswegen, da die Selbsterkenntnis als absolutes Gebot für jeden Menschen als vernunftbegabten gilt und schließlich auch aufgrund des Resultats der vorangegangenen Analyse, dass die bürgerliche Gesellschaft systematisch eine Schicht der Armen hervorbringt. Hegels Antwort ist kein Rätsel: Wie die meisten, so geht natürlich auch er davon aus, dass nicht jeder Mensch Philosoph wird und werden kann, sondern dass es eine kleine Gruppe gibt – ein „eigener Stand“ (KRL, S. 413) –, der ebendiese Tätigkeit ausübt. Es soll in diesem Abschnitt zunächst wiederholend dargelegt werden, inwiefern diese Scheidung auch Hegel-immanent problematisch scheint, seine Begründungen für die Hierarchisierung nachvollzogen und schließlich untersucht werden, ob und wenn ja, wie sich diese in einem zweiten Schritt rechtfertigen lässt. Wie zu Beginn der Arbeit deutlich wurde, besteht die differentia specifica des Menschen im Denken, und insofern ist dies auch jedem als Bedürfnis eigen: „[A]ber im allgemeinen ist das, was dem eigentlichen Bedürfnis der Philosophie zugrunde liegt, bei jedem (denkenden) Menschen vorauszusetzen“ (KRL, S. 406; vgl. auch ebd., S. 408). Der Philosoph, der sich zum freien Denken emporarbeitet, verwirklicht am vollkommensten die uns allen zukommende Gattungseigenschaft. Indem er sich die Geschichte der Vernunft geistig aneignet, macht er eine Erbschaft, die dem Wesen nach diejenige der Menschen als Teilhaber der Vernunft ist; „der Verlauf der Geschichte ist es, welcher uns nicht das Werden fremder Dinge, sondern dies unser Werden, das Werden unserer Wissenschaft darstellt“ (VGP, S. 22). In ihm ist das Vernünftige (KRL, S. 407) angelegt, was sich auch folgerichtig aus den bisherigen Bestimmungen ergib: Der Mensch weiß und empfindet sich zunächst als entzweit, was sein Streben nach der Aufhebung dieser Spaltung bzw. nach Versöhnung begründet (vgl. KRL, S. 407). Wenn diese allein dem freien Denken möglich ist, weil nur dort die Entzweiung durch die Selbsterkenntnis der Vernunft aufgehoben werden kann, strebt der Mensch qua definitionem danach. Durch die Philosophie als „Sonntag des Lebens“ (KRL, S. 412) wird der Mensch „seiner Ewigkeit, Göttlichkeit seines Wesens sich bewußt“ (ebd.) und erkennt, dass es allein der „Standpunkt der Philosophie“ (KRL, S. 411) ist, der ihm wirkliche Freiheit bzw. Erkenntnis und damit Befriedigung zu erbringen vermag: „Es ist die höchste Weise der Existenz und Tätigkeit des Geistes, sein Leben in seiner Freiheit. Alle anderen Weisen haben nicht diese Freiheit. Weise der Existenz – Essen und Trinken, Schlafen, Bequemlichkeit des Lebens, Reichtum, Genuß. Geistigere Arten – Recht verteilen, Vaterland verteidigen, Staatsleben – in diesem großen Ganzen der Wirklichkeit. Dort ein beschränkter Zweck, hier allgemein geistige. Aber die Gegenstände der Rechtsverwaltung sind selbst beschränkte Zwecke des Eigentums – Staatsleben treibt sich ebenso in zufälligen, gegebenen Einzelheiten; – Religion wie Philosophie [hat] zum Gegenstande den höchsten [Zweck].“ (KRL, S. 411 f.)
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Der Mensch als Doppelwesen, das sowohl Geist als auch Körper hat, ist qua Natur in die Endlichkeit verstrickt; banale Dinge wie Essen und Schlafen sind für ihn existenznotwendig und insofern ist er darin unfrei. Auch die „geistigeren Arten“, also alle Weisen der Betätigung in dieser Welt, in denen durchaus das Denken und damit die Freiheit betätigt werden, haben für Hegel einen geringeren Stellenwert. Die Begründung hierfür wurde bei der Überleitung zum absoluten Geist nachvollzogen: Tatsächlich sind auch Rechtsprechung, das Soldatenhandwerk sowie die Betätigung als Bürger im Allgemeinen defizitär gemessen an Kunst, Religion und Philosophie, weil sie einen beschränkten Zweck zum Gegenstand haben und dabei abhängig sind von kontingenten Umständen. Der Mensch als Citoyen kann dazu beitragen, die Freiheit in der Welt zu verankern und zu entwickeln und dabei seine eigene Selbstverwirklichung befördern, selbst die (geistdurchdrungene) Wirklichkeit ist jedoch mangelhaft aufgrund der Notwendigkeit der Materialisation in ihr. Sie ist damit dem Zufall unterworfen, wie er im Zitat verdeutlicht, und somit nicht absolut frei. Letztlich werden für Hegel also alle Betätigungsformen zu einem „NochNicht“, sofern das Denken nicht rein bei sich selbst ist. Aus diesem ergibt sich auch, dass die Wissenschaft der Logik seiner Auffassung nach die „Königsdisziplin“ darstellt, da in dieser das Denken durch die Beschäftigung mit seinen eigenen Formen im höchstmöglichen Maße bei sich selbst ist; zugleich soll jedoch die Vernunft in der Welt gefunden werden, weswegen es aus der Logik doch des Übergangs in die Realphilosophie bedarf. Der Philosoph, der die Vernunft in der Welt erkennt, erhebt sich in seinem reinen Denken über die Beschränkungen, denen er als Doppelwesen seiner Natur nach unterliegt, hebt die Entzweiung auf und ist in diesem Moment dadurch frei:38 Er befindet sich in der „Region, in der der Mensch sein Belieben und seine besonderen Zwecke aufzugeben hat, nicht mehr sich, das Seine sucht, sondern sich dadurch ehrt, dessen teilhaftig zu sein, als eines von ihm Unabhängigen, Selbstbestehenden“ (KRL, S. 412). Während also laut Hegel „mehr oder weniger in jedem Menschen, in dem das Denken, Selbstbewußtsein erwacht ist“ (KRL, S. 408) das Bedürfnis besteht, „Wahrheit in diesem allgemeinen Gewirre zu suchen“ (ebd.), hält er dennoch eindeutig fest: „das denkende Bewußtsein ist nicht die äußerlich allgemeine Form für alle Menschen“ (VGP, S. 102). So steht auf der einen Seite also die Bestimmung, dass der Mensch als Geist „sich selbst des Höchsten würdig achten“ (VGP, S. 13) soll und darf, auf der anderen Seite jedoch eine Einschränkung der Verwirklichung
38 „Was wir hingegen brauchen, ist die Versöhnung mit der realen sozialen Welt durch Einsicht in ihre wahre Natur als rationale Welt. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, brauchen wir eine philosophische Erklärung dieser Welt und zu guter Letzt eine philosophische Auffassung der Welt als ganzer, einschließlich einer Philosophie der Geschichte.“ (Rawls 2002, S. 431)
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dessen auf einen bestimmten Stand. Während in der zitierten Stelle Religion und Philosophie gleichrangig genannt werden, zeigte sich bei genauerer Betrachtung, dass er diese Formen des absoluten Geistes durchaus differenziert und auch hierarchisiert. Für all diejenigen nun, die das freie Denken nicht verwirklichen, ist „die Auflösung in der Religion vorhanden, im Glauben, in der Lehre – Gefühl, Verstand – dem Unendlichen näher gebracht – Lehren ganz in abstrakter Allgemeinheit gehalten – Glauben an die Harmonie – Formen der sinnlichen Vorstellung“ (KRL, S. 408; vgl. auch VGP, S. 102). Kunst und Religion sind für Hegel die Weisen, „in welchen die höchste Idee für das nicht philosophische, fürs empfindende, anschauende, vorstellende Bewußtsein vorhanden ist“ (VGP, S. 82). Damit ist implizit bereits zum Ausdruck gebracht, dass diese ihre Vernunft nicht in der höchsten Form zu betätigen vermögen und damit auch weitere graduelle oder gar qualitative Unterschiede in der Möglichkeit der Selbstverwirklichung eingeführt sind. Bemerkenswert scheint dennoch, mit welch drastischen Worten Hegel hier selbst anhand der mentalen Form den Konnex zum animalischen Organismus offen zur Sprache bringt: Die Empfindung – also die Regung des subjektiven Geistes, die durch die Religion primär angesprochen wird – „ist die tierische Form des vernünftigen Selbstbewußtseins“ (KRL, S. 411); durch diese finden sich lediglich „Menschen und Stände von ungebildetem Verstande mit unbestimmten Vorstellungen befriedigt“ (Enz. III, § 573, Anm.). Wie lässt sich das emphatische und allgemeine Postulat der Selbsterkenntnis mit dieser Einschränkung zusammenbringen? Hegel selbst wirft an einer Stelle die Frage auf, „was es mit der Erscheinung für eine Bewandtnis habe, daß die Philosophie, wenn sie die Lehre der absoluten Wahrheit [sei], sich auf eine im ganzen geringe Anzahl von Individuen, auf besondere Völker, auf besondere Zeitperioden beschränkt gezeigt habe“ (VGP, S. 26). Bemerkenswerterweise vertagt er diese mit dem Hinweis, dass deren Beantwortung zur „äußerliche[n] Geschichte“ (VGP, S. 26) gehöre – mir ist keine Stelle bekannt, an der sie explizit wieder aufgegriffen wird. Eine Lösung dieses scheinbaren immanenten Widerspruchs seiner Philosophie muss also aus seinem Gedankengang rekonstruiert werden; eine unmittelbare Antwort hierauf liegt nicht vor. Warum gibt es diese Unterschiede zwischen den Menschen hinsichtlich ihrer geistigen Vervollkommnung? Der erste, banale Grund liegt darin, dass die Praktizierung der Philosophie materielle Unterstellungen hat: Wie bereits für die Bildung und Sittlichkeit im Allgemeinen deutlich wurde, so gilt für die höchste Form des Theorietreibens im Besonderen, dass die materielle Versorgung Bedingung dessen ist; die „kleinen Interessen der Gemeinheit des alltäglichen Lebens“ (VGP, S. 11) müssen praktisch und geistig zurückgestellt werden können, wenn man philosophieren möchte. Gesamtgesellschaftlich ausgedrückt bedeutet dies, dass – wie Hegel Aristoteles zustimmend zitiert – „die Not des Lebens gesichert“ (VGP, S. 70) sein muss: Die Produktivkräfte der Gesellschaft müssen ein Niveau erreicht haben, das ihr erlaubt, einige aus dem unmittelbaren Prozess des
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Produzierens der lebensnotwendigen Güter freizustellen und sie materiell mit zu versorgen. In diesem Sinne nennt Hegel die Philosophie „Luxus“ (ebd.): Sie ist entbehrlich, um leben zu können. Einerseits Luxus, ist sie andererseits vom Standpunkt des Geistes selbstredend „das Notwendigste“ (VGP, S. 70) überhaupt, eben notwendig relativ zum Begriff des Menschen: Der „Zwang“ zur Philosophie gründet in dem Sein des Menschen als Vernünftigen; insofern wettert Hegel gegen Tendenzen der damaligen Zeit, sie als ein rein „zufälliges, subjektives Bedürfnis“ (Enz. I, Vorrede zur dritten Ausgabe, S. 37) aufzufassen, wo ihrem Betreiben doch tatsächlich eine „Nötigung“ (ebd.) zukommt, sofern man das Vernünftige an sich zu einer verwirklichten Eigenschaft machen möchte: „Wenn, wie Aristoteles sagt, die Theorie das Seligste und unter dem Guten das Beste ist, so wissen die, welche dieses Genusses teilhaftig sind, was sie daran haben, die Befriedigung der Notwendigkeit ihrer geistigen Natur“ (Enz. I, Vorrede zur dritten Ausgabe, S. 38). In diesem zweiten Sinne der Notwendigkeit ist der Ausschluss der Masse durch fehlende materielle Voraussetzungen durchaus problematisch. Ihnen wird versagt, dem nachzukommen, was ihre Bestimmung als Mensch eigentlich von ihnen verlangen würde – und zwar durch Zufälle, die außerhalb ihres Bestimmungsbereiches liegen. Bei diesen Menschen ist es keine Frage ihres Willens, also ihrer Freiheit, ob sie sich zum freien Denken erheben können, sondern sie sind über politisch-ökonomische Bedingungen dadurch ausgeschlossen. So reproduziert sich hier also die aus der Ökonomie herrührende Spaltung der Gesellschaft, die nicht nur politische Konsequenzen hat, sondern auch in der Sphäre des absoluten Geistes erneut Folgen zeitigt. Im Sinne Hegels, der stets die Freiheit zum Prüfkriterium erhebt, kann die Verunmöglichung der höchsten Entfaltung eines Menschen durch Armut, also durch externe Gründe, nicht gerechtfertigt werden. Anders stellt sich dies hinsichtlich der zweiten Ursache dar, die das freie Denken auf den Kreis einiger weniger beschränkt. Sich hierzu zu erheben, ist zwar der Fähigkeit nach allen möglich, aber es erfordert in mehrerlei Hinsicht erhebliche Anstrengung, weswegen schlicht nicht alle Menschen den Willen hierfür aufbringen.39 Dieser Punkt soll im Folgenden erläutert werden, wobei die These vertreten wird, dass die damit begründete Begrenzung auf einen besonderen Stand entgegen des materiellen Grundes unproblematisch ist: Sie beruht nicht auf mangelnder geistiger
39 Zwar ist das Denken an sich allen als Gattungseigenschaft gegeben, dies ist Hegel zufolge jedoch nicht damit zu verwechseln, dass deswegen auch alle Philosophen seien. So wendet er sich vehement gegen eine Auffassung, die er in dem Spruch „Den Seinen gibt Erʼs schlafend“ (GPR, Vorrede, S. 18) polemisch zusammenfasst. Die Philosophie erfordert vielmehr „lange und schwere Arbeit“ (Enz. I, Vorrede zur dritten Ausgabe, S. 38), schließlich besteht sie aus „mehrtausendjähriger Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes“ (GPR, Vorrede, S. 19), die es zu erfassen gilt.
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Potenz, also einer (fehlenden) Naturausstattung, sondern auf der Entscheidung des Subjekts gegen diese Lebensform, sodass die Freiheit also nicht negiert wird. Inwiefern erfordert es „lange und schwere Arbeit“ (Enz. I, Vorrede zur dritten Ausgabe, S. 38), sich auf den „Standpunkt der Philosophie“ (KRL, S. 411) zu stellen? Die Vernunft ist, so Hegel, beim Philosophieren ganz bei sich selbst – aus dieser Bestimmung lassen sich einige Erfordernisse an das Subjekt ableiten. Es handelt sich beim freien Denken um ein „interesselose[s], freie[s] Geschäft“ (KRL, S. 413), bei dem der Einzelne nicht mehr in die Endlichkeit verstrickt ist. Dies macht deutlich, weswegen es sich im Idealfall um einen eigenen Stand handelt, der seine ganze Existenz dem Denken widmen kann und allen Alltagssorgen enthoben ist. Neben der Freistellung von materiellen Sorgen erfordert dies auch, dass der Einzelne sich ganz den Gedanken widmet, ohne damit unmittelbar ein Interesse oder einen Nutzen zu verbinden. Dass diese Tätigkeit „interesselos“ ist, bedeutet eben, sich zunächst dem Aristotelischen Staunen hinzugeben, ohne dies instrumentell zu betreiben. Zusätzlich zum Standpunkt, sich ohne jeglichem praktischen oder Erkenntnisinteresse ganz den Dingen zu widmen, gibt es eine zweite Anforderung: Die philosophische Auseinandersetzung erfordert neben dem interesselosen Schauen auch das Loslösen vom vermeintlich „gesunde[n] Menschenverstand“ (KRL, S. 415 f., vgl. auch GPR, Vorrede, S. 17), vom natürlichen Bewusstsein,40 was vom Individuum zunächst „als unnötig scheinende Gewalt“ (PdG, S. 30) empfunden wird: „Die Wissenschaft sei an ihr selbst, was sie will; im Verhältnisse zum unmittelbaren Selbstbewußtsein stellt sie sich als ein Verkehrtes gegen dieses dar“ (PdG, S. 30). Natürlich stellt sie gegenüber dem Individuum keine Gewalt dar, denn die Philosophie ist nichts äußerlich an das Subjekt Herangetragenes – nichtsdestotrotz erscheint es diesem zunächst so, da es sich von all seinen Vorurteilen und vermeintlichen Gewissheiten lösen muss, also „alle diese Stützpunkte, diese Gewohnheiten auf[geben muss, I. S.] – die gewohnten Anschauungen der Welt, an was er sich im Leben und Denken sonst hält, seinen Begriff vom Wahren, vom Recht, von Gott“ (KRL, S. 416). Weil das Erkennen der Wahrheit verlangt ist, muss der Einzelne jegliche partikularen Besonderheiten beiseite stellen und sich allein den zu untersuchenden Gegenständen widmen. Dabei praktiziert er die Vernunft als überindividuelle, gattungsübergreifende Eigenschaft und verfälscht den Prozess des Begreifens nicht durch irgendeine Art von vermeintlicher Selbstverständlichkeit, die er sich als Meinung zugelegt hat. Deswegen polemisiert er an dieser Stelle auch gegen Prediger, Dichter und Denker, die das Anknüpfen an das Gewöhnliche der Philosophie als
40 Zurückzuweisen ist „die Manier des unmittelbaren Bewußtseins und Gefühls“ (GPR, § 2, Zus.), die „die Subjektivität, Zufälligkeit und Willkür des Wissens zum Prinzip“ (ebd.) macht.
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Auftrag geben möchten (vgl. ebd., S. 416): Der Philosoph hat sich von all den althergebrachten Gewissheiten zu lösen, die Dinge vorurteilslos zu verstehen, sodass „das Denken [...] einsam bei sich selbst“ (ebd.) ist. Dies stellt wegen der menschlichen Eitelkeit, die sich die eigene Meinung zugute hält und diese über das Interesse an Wahrheit stellt, eine durchaus hohe Hürde dar: „Was der Philosophie entgegensteht, ist einerseits das Versenktsein des Geistes in die Interessen der Not und des Tages, andererseits aber die Eitelkeit der Meinungen; das Gemüt, von ihr eingenommen, läßt der Vernunft, als welche nicht das Eigene sucht, keinen Raum in sich. Diese Eitelkeit muß sich in ihrem Nichts verflüchtigen, wenn es dem Menschen zur Notwendigkeit geworden, sich um substantiellen Gehalt zu bemühen, wenn es so weit gediehen, daß nur ein solcher sich geltend machen kann.“ (KRL, S. 401)
Das bloße Meinen ist nicht das Medium der Philosophie, denn „eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke. Die Philosophie aber enthält keine Meinungen; es gibt keine philosophischen Meinungen. [...]. Die Philosophie ist objektive Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, begreifendes Erkennen“ (VGP, S. 30). Allein dem Wesen der Dinge nachzugehen, schließt neben der Abstraktion vom eigenen Gefühl (vgl. VGP, S. 114 f.) auch das Aufgeben jeglicher Autorität wie beispielsweise der Kirchenlehre (vgl. VGP, S. 112 f.) ein; das Denken ist ganz bei sich selbst und damit allein auf sich gestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alles Subjektive negiert werden soll: Philosophen haben durchaus ihre Überzeugung, aber diese dürfen nicht allein auf Gefühl beruhen, sondern auf „Einsicht in den Begriff und die Natur der Sache“ (VGP, S. 32). Sie sind also Ergebnis des freien Denkens und als solche keineswegs außerwissenschaftlich, sondern Teil des philosophischen Wissens. 41 Die von der Philosophie geforderte „Mühe des Denkens“ (VGP, S. 33) besteht, positiv gesprochen, also darin, dass ihre Aufgabe in der Erkenntnis der Wahrheit liegt, was erfordert, dass sich das Subjekt von allen internen und externen Einflussfaktoren löst und sich allein dem zu untersuchenden Gegenstand widmet. Insofern ist also Hegels erkenntnistheoretische Auffassung, dass die Welt, weil sie eine vom Geist durchwaltete ist,42 vom individuellen Geist objektiv erkannt werden kann,43
41 Wie Schnädelbach zutreffend ausführt, ist der Begriff des reinen Denkens – wie Hegel das freie auch nennt – nicht so misszuverstehen, dass dieses von allen Gefühlen etc. gereinigt ist; die Attribuierung zielt vielmehr darauf ab, dass es „nichts enthält, was nicht Denken wäre“ (Schnädelbach 2000, S. 32; vgl. demgegenüber Taylor 1983, S. 674). 42 „Die Welt ist aus dem gleichen Stoff wie der im Menschen erkennende Geist, also ist infolge dieser metaphysischen Einheit zwischen Objekt und Subjekt nicht nur kein Hiatus,
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zentral für das Verständnis seines exklusiven Konzepts des Philosophierens. Daraus ergibt sich eine Konsequenz für die Bedeutung des philosophierenden Individuums und zugleich ein erster Grund dafür, weswegen sich die von Hegel eingeführte epistemische Differenzierung rechtfertigen lässt: Sich zum freien Denken zu erheben, indem die Gattungseigenschaft am vorzüglichsten ausgeübt wird, heißt nicht nur, sich von allen liebgewonnen Meinungen und von sämtlichen Interessen zu lösen, vielmehr kürzt sich die Partikularität des philosophierenden Subjekts völlig aus diesem Prozess heraus (vgl. PdG, S. 66 f.).44 Gelingendes philosophisches Denken besteht darin, die Idee der analysierten Dinge in dem im Punkt zuvor ausgeführten Sinne zu erfassen und dabei jegliche Differenz zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben. Der Einzelne eignet sich den Begriff im logischen und metaphysischen Sinn einer Sache an und bildet diese dadurch in sich ab; Bedingung des geglückten Prozesses ist also, dass er dabei nichts am Gegenstand durch seine Besonderheit verändert:45 „Was die Geschichte der Philosophie uns darstellt, ist die Reihe der edlen Geister, die Galerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind und uns den höchsten Schatz, den Schatz der Vernunfterkenntnis erarbeitet haben. Die Begebenheiten und Handlungen dieser Geschichte sind deswegen zugleich von der Art, daß in deren Inhalt und Gehalt nicht sowohl die Persönlichkeit und der individuelle Charakter eingeht – wie dagegen in der
sondern das Erkennbare leistet dem Erkennenden auch garkeinen irgendwo nur substantiellen Widerstand.“ (Bloch 1972, S. 195) 43 Dem Denken und damit auch der Philosophie abzusprechen, dass es die Wahrheit erkennen könne, hätte und hat drastische Konsequenzen: „Denn indem jenes sich so nennende Philosophieren die Erkenntnis der Wahrheit für einen törichten Versuch erklärt hat, hat es [...] Kenntnis und Unwissenheit gleichgemacht [...], alle Gedanken und alle Stoffe nivelliert, – so daß die Begriffe des Wahren, die Gesetze des Sittichen auch weiter nichts sind als Meinungen und subjektive Überzeugungen und die verbrecherischsten Grundsätze als Überzeugungen mit jenen Gesetzen in gleiche Würde gestellt sind, und daß ebenso jede noch so kahlen und partikularen Objekte und noch so strohernen Materien in gleiche Würde gestellt sind mit dem, was das Interesse aller denkenden Menschen und die Bänder der sittlichen Welt ausmacht.“ (GPR, Vorrede, S. 23) 44 „Aber Hegel abstrahiert doch gerade von seinem Ich, er beschrieb, der Absicht nach, den Gang seiner Kategorien so objektiv wie ein Forscher, der die Wanderungen der Wale aufzeichnet.“ (Bloch 1972, S. 442) 45 Jeglicher Konstruktivismus würde von Hegel also sicherlich strikt abgelehnt werden. Der Mensch ist fähig, die Dinge an sich zu erkennen bzw. ist dieses Vorhaben gescheitert, wenn er sie durch subjektive Zutat modifiziert.
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politischen Geschichte das Individuum nach der Besonderheit seines Naturells, Genies, seiner Leidenschaften, der Energie oder Schwäche seines Charakters, überhaupt nach dem, wodurch es dieses Individuum ist, das Subjekt der Taten und Begebenheiten ist –, als hier vielmehr die Hervorbringungen um so vortrefflicher sind, je weniger auf das besondere Individuum die Zurechnung und das Verdienst fällt, je mehr sie dagegen dem freien Denken, dem allgemeinen Charakter des Menschen als Menschen angehören, je mehr dies eigentümlichkeitslose Denken selbst das produzierende Subjekt ist.“ (VGP, S. 20)
Der Politiker zeichnet sich, so Hegel, durch seine Besonderheiten aus; dass er Großes vollbringt, hängt tatsächlich an den Spezifika seiner Person. Der Philosoph hingegen wird dadurch zu einem der „edlen Geister“, dass er die allgemeine Eigenschaft aller Menschen am vorzüglichsten entwickelt. Insofern ist es also seine Übereinstimmung mit dem Allgemeinen, die seine Besonderheit ausmacht. Die ihn auszeichnende Bestimmung besteht in der Aufhebung des rein Individuellen bzw. jeglicher Partikularität, die den besonderen Erfahrungen, Charakteristika etc. dieses Menschen entspringt (vgl. auch Jaeschke 2010, S. 481). Diesem Gedanken entsprechend spielt auch das Talent keine große Rolle; es ist „auch nicht höher zu schätzen als die durch ihre eigene Tätigkeit zur Erkenntnis ihres Begriffs gekommene Vernunft, – als das absolut freie Denken und Wollen. In der Philosophie führt das bloße Genie nicht weit; da muß sich dasselbe der strengen Zucht des logischen Denkens unterwerfen; nur durch diese Unterwerfung gelangt dort das Genie zu seiner vollkommenen Freiheit“ (Enz. III, § 395, Zus., S. 71). Während in der Sphäre der Kunst eine besondere Befähigung erforderlich ist, die dem Einzelnen qua Geburt und damit Zufall zukommt, um ein wahrhaftes Kunstwerk hervorzubringen, kann es beim Philosophen zwar eine solche geben – sie ist letztlich jedoch irrelevant (vgl. Schnädelbach 2000, S. 23). Notwendig ist vielmehr, sich „der strengen Zucht des logischen Denkens“ zu unterwerfen, also erstens an sich selbst als Philosoph kontinuierlich zu arbeiten und zweitens seinem Verständnis dieser Tätigkeit entsprechend nicht willkürlich vorzugehen, sondern die Gesetze der Erkenntniserlangung anzuwenden. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Kunst als abhängig von rein Kontingenten noch unfrei zu nennen ist; erst das Denken des Philosophen befreit sich auch davon. Ein weiterer Grund, der dafür spricht, dass trotz der Scheidung in Philosoph und Nicht-Philosoph die Selbstverwirklichung der letzteren nicht in unzulässiger Weise eingeschränkt wird, findet sich in der letzten Textstelle, die die geistige Hervorbringung einer Stufe der Idee im Volk verortet: Hegel zieht die Trennlinie zwischen den beiden Lebensformen nicht so absolut, wie dies zunächst den Anschein hat. Einerseits ist es zweifelsohne so, dass der Philosoph die allen zukommende VernunftBefähigung am vollkommensten verwirklicht und insofern in epistemischer Hinsicht über allen anderen in der Gesellschaft steht. Zum anderen muss dabei auch gesehen werden, dass Hegel darauf bedacht ist, dass die Vernunft keine Sache einiger
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weniger ist, sondern Teil des Volkes wird. Wie bei seinen Ausführungen über den Staat und die welthistorischen Individuen deutlich wurde, ist seine theoretische Hervorhebung der Philosophen keineswegs so zu verstehen, dass es sich bei der Philosophie um eine Art Geheimwissenschaft handelt und die Masse von jeglicher Einsicht ausgeschlossen ist. Ihm zufolge bedarf es einer Verallgemeinerung der Vernunft, was durchaus einschließt, dass philosophische Erkenntnisse breiteren Teilen der Bevölkerung zugänglich gemacht werden.46 So sehr er es also als Errungenschaft für die Philosophie an sich ansieht, dass es hierfür einen extra Stand gibt, betont er ebenso, dass die „völlige Ausscheidung“ (KRL, S. 413) der Philosophen nur „partiell“ sein kann: „die Vernunft fordert zu ihrer Existenz eine ausgebreitetere, weiter sich verzweigende Wirklichkeit“ (ebd.). Also nicht nur aufgrund der differentia specifica des Menschen und damit dessen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, sondern auch aufgrund der Bestimmung der Vernunft ist es nötig, dass diese nicht allein von einigen Privilegierten gelebt wird. An der Figur des Sokrates wurde dieser Gedanke bereits nachvollzogen: Zunächst gewinnt ein welthistorisches Individuum neue Erkenntnisse, die Volk und Politik fremd, wenn nicht gar feindlich erscheinen. Erst im Laufe der Jahre oder Jahrzehnte verbreitern sie sich schließlich und finden Eingang in das allgemeine Selbstverständnis eines Volkes. So wird die von Sokrates eingeführte Scheidung von Moral und Sittlichkeit durch das Erwachen einer Innerlichkeit, die sich gegen das bloß Gegebene wendet, heute selbstverständlich gelebt. Neue Einsichten, die von Philosophen gewonnen werden, entbehren also zunächst einer „allgemeinen Verständlichkeit“ (PdG, S. 19) und haben „den Schein, ein esoterisches Besitztum einiger Einzelner zu sein; – ein esoterisches Besitztum: denn sie ist nur erst in ihrem Begriffe oder ihr Inneres vorhanden; einiger Einzelner: denn ihre unausgebreitete Erscheinung macht ihr Dasein zum Einzelnen“ (PdG, S. 20). Solange sie in diesem Stadium sind, hat sich der Fortschritt in der Menschheitsgeschichte noch nicht verallgemeinert und ist insofern defizitär. Den Mangel zu überwinden, bedeutet, Erkenntnisse zum geistigen Eigentum breiter Volksteile zu machen: „Erst was vollkommen bestimmt ist, ist zugleich exoterisch, begreiflich und fähig, gelernt und das Eigentum aller zu sein. Die verständige Form der Wissenschaft ist der allen dargebotene und für alle gleichgemachte Weg zu ihr, und durch den Verstand zum vernünftigen Wesen zu gelangen, ist die gerechte Forderung des Bewußtseins, das zur Wissenschaft hinzutritt; denn der Verstand ist das Denken, das reine Ich überhaupt; und das Verständige ist das schon Be-
46 Insofern trifft Blochs Polemik Hegel nicht; es ist nicht zutreffend, dass Hegel ein Bild zeichnet, „als hätten sie [die Denker, I. S.] lediglich untereinander Kommunikation gehabt, die Kommunikation: nacheinander Preisfragen einer himmlisch-unsichtbaren Akademie im elfenbeinernen Turm beantwortet zu haben.“ (Bloch 1972, S. 352)
Versuch der Aufhebung der Entzweiung
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kannte und das Gemeinschaftliche der Wissenschaft und das unwissenschaftlichen Bewußtseins, wodurch dieses unmittelbar in jene einzutreten vermag.“ (PdG, S. 20)
Wesentlich ist hier auch, dass Hegel die Fähigkeit des Lernens hervorhebt: Den Einzelnen, in denen eine Einsicht reift, kommt die Aufgabe zu, diese auch lehren zu können – was natürlich unterstellt, dass sie die Sache tatsächlich gänzlich durchdrungen haben. So wird die fortentwickelte Vernunft vom Besitztum einiger weniger zum Wissen des Volkes und schließlich erst dadurch Teil der Geschichte der Vernunft, die gerade keine der von der Gesellschaft abgesonderten Philosophen darstellt. Freilich bedeutet dies nicht, dass in einem zweiten Schritt doch alle als Philosophen bestimmt werden. Hegel zufolge muss unterschieden werden zwischen der Philosophie und „allgemeiner Bildung“ (VGP, S. 78): Dass auch in breiten Teilen des Volkes zu manchen Zeiten allgemeine Bestimmungen von unterschiedlichen Dingen bekannt sind, kann nicht damit gleichgesetzt werden, dass sich der Standpunkt der Philosophie verallgemeinert; sie erfordert, wie gesehen, eine spezifische Form des Verstandesgebrauchs, das nicht mit Denken an sich gleichgesetzt werden kann (vgl. ebd.). Für manche Erkenntnisse gilt aber durchaus, dass sie sich im Laufe der Generationen verallgemeinern und hinsichtlich dieses spezifischen Gegenstandes kein Unterschied mehr zwischen dem Wissen des Philosophen und den anderen Menschen mehr existiert; „so sehen wir in Ansehung der Kenntnisse das, was in früheren Zeitaltern den reifen Geist der Männer beschäftigte, zu Kenntnissen, Übungen und selbst Spielen des Knabenalters herabgesunken und werden in dem pädagogischen Fortschreiten die wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der Bildung der Welt erkennen“ (PdG, S. 32). Hegel bringt das Verhältnis wie folgt auf den Punkt: „[D]ies höhere Selbstbewußtsein [der Philosophie, I. S.] macht die Grundlage und Substanz der übrigen, in die Endlichkeiten ausgehenden Lebensbreite aus, – das seine Wurzel, Erleuchtung, Gewährung und Bekräftigung, Heiligung darin findet“ (KRL, S. 413). Die Philosophie ist und bleibt der Bezugs- und Orientierungspunkt und letztlich auch der urteilende Richter über alle Erscheinungen der Welt und damit auch über das in die Endlichkeit verstrickte Leben; in ihr findet dieses seine Bestimmung und Versöhnung, insofern es in allem das Denken erkennt. Die „Lebensbreite“ bekommt damit jedoch keinen strikt von der Philosophie und deren Dignität separierten Platz zugewiesen, vielmehr können sich auch die NichtPhilosophen die vom allgemeinen Geist bereits erschlossenen Erkenntnisse aneignen und so letztlich daran teilhaben. Angewandt auf die politische Philosophie bedeutet dies, dass die Aufgabe des Philosophen darin besteht, den Menschen in ihrer Rolle als Bürger den Staat als gewusste Allgemeinheit begreiflich zu machen. Sie sollen verstehen, dass der moderne Staat Bedingung und Garant ihrer Freiheit ist – die Vermittlung dieser Erkenntnis kommt Hegels Staatsabhandlung zu (vgl. auch Rawls 2002, S. 428). Insofern hat der Philosoph zwar privilegierte Einsicht in die
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Natur der politischen Phänomene, aber er wirkt als Vermittler und ermöglicht dadurch auch den anderen Bürgern die Versöhnung mit der Wirklichkeit. Als Resümee zur Frage der Rechtfertigung der hier eingeführten Spaltung in philosophische und nicht-philosophische Lebensform lassen sich zwei Punkte festhalten: Die Problematik bleibt bestehen, dass der armen Schicht der Bevölkerung das Philosophieren zwar nicht qua Recht oder anderem formalen Ausschluss, aber doch faktisch unmöglich gemacht wird. Wo die Zuordnung eines Individuums zu einer bestimmten Lebensform diesen materiellen Grund hat, lässt sie sich – auch und vor allem Hegel-immanent gedacht – nicht rechtfertigen: Er stellt eine Verletzung von dessen Freiheit dar, die ihm die Möglichkeit der Entfaltung seiner Bestimmung als allgemeines Ich nimmt. Zweitens lässt sich analog zur exklusiven Lebensweise der Künstler die Spaltung legitimieren – sofern man vom Ausschluss durch materielle Armut absieht –, weil Hegel zufolge zunächst allen Menschen nicht nur die Bestimmung, sondern auch die Fähigkeit zur Verwirklichung dieser Potenz zukommt. Dass diese dann nicht bei allen zur Aktualität gebracht wird, liegt an ihrem fehlenden Willen, sich bis zu der höchsten Realisierungsweise der Vernunft emporzuarbeiten. Dabei wird, wie gesehen, die Freiheit nicht negiert und außerdem keine absolute Scheidung zwischen Philosoph und Nicht-Philosoph eingeführt. Letztere können zu Teilhabern am allgemeinen Geist werden und dies entspricht im Interesse der Verallgemeinerung der Vernunft durchaus Hegels Intention.
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Synthese der empirischen und politikphilosophischen Betrachtungsweise: die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung – Angst vor Hegels Pöbel und Populisten heute
Seit 2000 legt die jeweilige Bundesregierung aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages in jeder Legislaturperiode einen Bericht über Armut in Deutschland vor. Bislang sind fünf solcher Berichte erschienen, die die „Lebenslagen in Deutschland“ – so der offizielle Titel – detailliert darlegen. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht (5. ARB) ist unter der Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) entstanden und wurde im April 2017 veröffentlicht. Er soll hier, zusammen mit einigen vom BMAS in Auftrag gegebenen Begleitstudien, beispielhaft für die empirisch-quantitativ ausgerichtete Armutsforschung und die regierungsamtliche Position im öffentlichen Armutsdiskurs stehen und zu Hegels Analyse und Erkenntnissen über Armut in Beziehung gesetzt werden. Dass die Wahl auf diesen Bericht fiel, verdankt sich folgenden Überlegungen: Zwar kommt ihm die Besonderheit zu, dass es sich um ein regierungsoffizielles Dokument handelt. Dennoch spricht dies aus drei Gründen nicht gegen die Wahl dieses Dokuments, das meines Erachtens im Gegenteil ein geeignetes Beispiel für die moderne Armutsforschung darstellt: Erstens werden Wissenschaftler in die Erstellung des Berichts eingebunden; sie beraten das Ministerium und erstellen Begleitgutachten (vgl. BMAS 2017b). Zwar gibt es durchaus häufig den Vorwurf, dass die ARB geschönt werden und tatsächlich unterliegen sie nach Fertigstellung durch die Forscher einer politisch begründeten Redaktion. Jedoch wurde ihnen meines Wissens noch nie grundsätzlich die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Insofern scheint es gerechtfertigt, den 5. ARB als repräsentativ für die empirische Armutsforschung heute zu betrachten. Zweitens ist gerade die Tatsache, dass es sich um einen Bericht der Bundesregierung handelt, besonders gut dafür geeignet, um zu einem Hinterfra-
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gen der zwischen Hegel und der Bundesregierung zum Teil identischen Perspektive auf Armut anzuregen; schließlich wird die Verwandlung, Armut als soziale Frage zu betrachten, auch von den Armutsforschern nicht an der offiziellen Berichterstattung kritisiert. Drittens hat die Studie einen keiner anderen wissenschaftlichen Arbeit über dieses Thema zukommenden Bekanntheitsgrad und ein entsprechendes mediales Echo, was auch aus pragmatischen Gründen für eine Untersuchung dieses Berichts spricht: Durch dessen Analyse als wesentlicher Bezugs- und Kristallisationspunkt der empirisch ausgerichteten Forschung kann der mögliche Erkenntnisgewinn durch die politische Theorie aufgezeigt werden. Gezeigt werden soll, dass es frappierende Gemeinsamkeiten in der grundlegenden Betrachtung von materieller Deprivation gibt, die in ihrer Selbstverständlichkeit von der Armutsforschung allgemein kaum hinterfragt werden. Das Kapitel soll einen Beitrag zu dieser Reflexion leisten und außerdem zeigen, dass sowohl die empirisch-quantitative1 als auch die politikphilosophische Betrachtungsweise isoliert Mängel offenbaren, die die Wissenschaft heute durch eine Vereinigung der beiden Richtungen aufheben kann. Folgende Thesen sollen in diesem Teil entwickelt werden: Sowohl Hegel als auch der ARB gehen davon aus, dass es einen engen Zusammenhang zwischen fehlenden Selbstverwirklichungsmöglichkeiten und Armut gibt. a) Während Selbstverwirklichung bei Hegel als politikphilosophischer Bildungsauftrag verstanden wird, steht im ARB die Ermöglichung von Teilhabechancen im sozialen Leben und demokratischen Staat im Fokus der Betrachtung. b) Auf dieser gemeinsamen Basis eines unterschiedlichen Konzeptes von Selbstverwirklichung nehmen sie die identische Perspektive ein: Armut wird verstanden als soziale Frage. c) Daraus ergibt sich, dass absolute Armut aufgrund des darin enthaltenen Selbstwiderspruchs der bürgerlichen Prinzipien sowie einer hiervon ausgehenden Gefahr für das Gemeinwesen zu beseitigen ist, während ihre relative Form eine Verwaltung durch den Sozialstaat erfährt und als solche also existent bleibt.
1
Der Begriff „empirisch-quantitativ“ soll Identität und Differenz zur politikphilosophischen Betrachtungsweise zum Ausdruck bringen: Auch Hegel arbeitet empirisch in dem Sinne, dass er Phänomene aus dem Alltag und der Erfahrung aufgreift und diese zu erklären versucht; quantitativ durch die Messung von Variablen und deren Zusammenhängen geht er jedoch nicht vor.
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Neben diesen Identitäten existieren zwischen Hegels Analyse und der des ARB jedoch auch Differenzen, die die Mängel und Grenzen der jeweiligen isolierten Betrachtungsweise als empirisch-quantitatives bzw. politikphilosophisches Problem verdeutlichen: a) Der ARB verliert in der detaillierten Ausarbeitung und Messung der verschiedenen Facetten der Armut die Ursache und damit das Prinzip dieses Phänomens aus dem Blick. Während Hegel sie auf ihren Grund zurückführt, fehlt dieses Bewusstsein im ARB durch die Auflösung des Prinzips der Armut in unterschiedlichste Erscheinungen in Lebensphasen, Lebenslagen und Risikofaktoren. b) Hegel verkennt, dass es sich bei dem in Freiheit gesetzten Eigentümer um eine Abstraktion handelt, die als wahrgemachte nicht nur sozialstaatliche Kompensation nach verlorener Konkurrenz erforderlich macht. Weil die Menschen hinsichtlich ihrer Mittel und Voraussetzungen ungleich sind, stellt die Betreuung der Armut eine – vor allem auch hinsichtlich der politischen Dimension – zahlreiche Politikfelder umfassende Aufgabe für den Staat dar. Für die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zeigt sich: Der Kampf um die ökonomische Freiheit als bloße Grundlage für Selbstverwirklichung wird zunehmend zum eigentlichen Inhalt des Lebens, der alle anderen Dimensionen des Menschen, insbesondere die politische, degradiert. Die Armutsforschung kann die herausgearbeiteten theoretischen Mängel aufheben, indem sie die empirisch-quantitative, also die Lebenswelt beschreibende Betrachtungsweise mit der politiktheoretischen verbindet. Erforderlich ist außerdem eine theoretische Neujustierung im Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politikberatung.
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5.1 DIE IDENTISCHE PERSPEKTIVE: ARMUT ALS PROBLEM FÜR EINE POLITIKPHILOSOPHISCH BZW. DEMOKRATISCH VERSTANDENE SELBSTVERWIRKLICHUNG UND ALS SOZIALE FRAGE 5.1.1 Verständnis von Selbstverwirklichung Hegel begründet Selbstverwirklichung anthropologisch: Weil der Mensch ein mit Wille und Vernunft begabtes Wesen ist, kommt ihm ein Bildungsauftrag zu. 2 Er soll sich zu der Einsicht emporarbeiten, dass er Teilhaber an der allgemeinen Vernunft ist und diese in den Einrichtungen der Welt wiederfinden. Das ausführlich in dieser Arbeit dargestellte Verständnis von Selbstverwirklichung unterscheidet sich sowohl hinsichtlich der Begründung als auch des Inhalts von dem heutigen.3 Entfaltungsund Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen, wird in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung nicht mit der Natur des Menschen, sondern vor allem mit dem Selbstverständnis der Demokratie begründet: Allen freien und gleichen Bürgern sollen Möglichkeiten ihrer eigenen Verwirklichung gegeben werden; „Verwirklichungschancen“ (ebd., S. 27) auf eine Bevölkerungsgruppe zu beschränken, gilt als diskriminierend und damit nicht im Einklang mit demokratischen Werten (vgl. u. a. BMAS 2016, S. 12). Dieser Auffassung zufolge ist es die Pflicht einer Regierung, Politik nicht nur für bestimmte Schichten, sondern für alle Teile des Volkes zu machen und umgekehrt sollen sich auch alle Bürger an der Gestaltung der Politik beteiligen können (vgl. u. a. BMAS 2017, S. 165; BMAS 2016, S. 12).4 Neben der unterschiedlichen Verankerung existiert auch eine deutliche Differenz im Inhalt der Selbstverwirklichung: Wie im Laufe dieser Arbeit herausgearbeitet, stellt der von Hegel postulierte Bildungsauftrag des Menschen keine rein formelle Vorgabe dar, sondern dieser ist auch inhaltlich bestimmt. Weil die Vernunft nicht beliebig zu füllen ist, sondern bereits einen Inhalt hat, ist es nicht in die Willkür des Menschen gestellt, wie er die Selbstverwirklichung ausgestaltet. Vielmehr
2
Da Hegels Theorie in dieser Arbeit entwickelt wurde, beschränkt sich dieser Abschnitt auf eine skizzenhafte Wiedergabe seiner Thesen; die Verweise auf die jeweilige Textstelle finden sich in der ausführlichen Darlegung in den Kapiteln selbst.
3
Natürlich gilt dies nicht für jegliches zeitgenössische Konzept von Selbstverwirklichung. Als Vergleichspunkt zur Hegelschen Auffassung dienen im Folgenden allein die Ausführungen im ARB, die Rückschlüsse auf die zugrundeliegende Vorstellung von gelungenen Verwirklichungsmöglichkeiten eines Menschen heute erlauben.
4
Aufgrund dessen benennt die Bundesregierung den Zusammenhang von Armut, geringerer politischer Partizipation und abgenommener (gefühlter) Repräsentation als ernstzunehmendes Problem (vgl. BMAS 2017, S. XLII sowie Ausführungen in diesem Kapitel).
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zeichnet Hegel mehrere Dimensionen vor, die Kern der menschlichen Praxis und seiner Geistestätigkeit sind. Ein wesentliches Moment stellt hierbei die politische Dimension dar: Das Individuum ist ein zoon politikon, das eines Staates und der politischen Tätigkeit zur eigenen Selbstverwirklichung bedarf. Zu einer aktiven Teilhabe am Gemeinwesen gehört hierbei auch die geistige Einbindung; der Mensch soll auf Basis des Wissens um die Bestimmungen des Staates eine patriotische Gesinnung ausbilden. Teil der inhaltlichen Vorgabe der Selbstverwirklichung ist also auch das sittliche Moment, das das Individuum durch Kunst, Religion und Philosophie, aber auch durch das Familienleben pflegt. Der zentrale Unterschied zum ARB liegt darin, dass die Dimensionen der Verwirklichung in diesem nicht teleologisch begründet und damit nicht verbindlich für eine gelungene Selbstrealisierung vorgegeben werden: Hegel zufolge liegt es im An-Sich-Sein des Menschen, dass er sich politisch betätigt; ein Leben ohne diese Dimension verfehlt die Selbstverwirklichung. Der ARB hingegen formuliert völlig offen, dass jedem eine individuelle Entfaltung ermöglicht werden soll, ohne dabei inhaltliche Vorgaben zu machen. So wird als Ziel benannt, „zu einem selbstbestimmten Leben [zu, I. S.] befähigen und dabei [zu, I. S.] helfen, gleiche Chancen für alle zu schaffen“ (ebd., S. I). Wie die eröffnete Selbstbestimmung gestaltet wird und welche Chancen wie wahrgenommen werden, obliegt gänzlich der individuellen Entscheidung. Von der Politik wird allein die Ermöglichung dessen und dementsprechend die Förderung der hierfür nötigen Bedingungen in den Blick genommen. Zugleich sind uns die von Hegel genannten Aspekte der Selbstrealisierung heute nicht fremd. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, verbinden sich mit der Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens zum Beispiel politische Partizipationsmöglichkeiten. Und auch der 5. ARB benennt Momente, die denjenigen Hegels gleichen: Die materielle Ausstattung eines Menschen geht „vielfältige Wechselbeziehungen ein mit den Chancen auf Teilhabe an Bildung und Arbeitsleben, aber auch mit dem gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben“ (ebd., S. 27). Zur Entfaltungsmöglichkeit gehört also, so lässt sich daraus rückschließen, dass sich das Individuum in diesen Sphären des Lebens selbstbestimmt betätigen kann. Selbst bei Einbezug des Inhalts der Verwirklichungsmöglichkeit relativiert sich also die Differenz zu Hegels Verständnis von Selbstverwirklichung. Dass die Bundesregierung von einem solchen Konzept der individuellen Verwirklichung als gesellschaftlich angemessene Teilhabe ausgeht, wird auch deutlich an ihrem weiten Verständnis von Armut: Dem Bericht zufolge ist es nicht ausreichend, allein die Dimension der Einkommensarmut zu betrachten;5 für diesen wei-
5
Einschlägig als Maße sind hierfür die Armutsrisikoquote sowie die Mindestsicherungsquote (vgl. ebd., S. VI ff.).
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teren Blick ist das Konzept der „materiellen Deprivation“ geeignet, bei dem „individuelle[] Mangelsituationen“ (ebd., S. VIII) in den Blick genommen werden. Bei diesem gibt es einen „festgelegten Katalog von Gütern und Aktivitäten [...], die den durchschnittlichen Lebensstandard kennzeichnen“ (ebd.). Genannt werden in dem Bericht unter anderem Einschränkungen bei Urlaubsreisen (vgl. ebd.), also Bereiche, in denen es den von Armut Betroffenen nicht möglich ist, ihr Leben gemäß ihren Interessen auszugestalten. Auf Basis dieses gemeinsamen wertebasierten Ausgangspunktes der – unterschiedlich verstandenen – Entfaltungsmöglichkeit der Individualität gerät das Phänomen der Armut in den Blick. Wie Hegel ausführt, ist Armut ein Zustand, der dem Menschen zunächst die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft lässt, insofern er weiterhin auf den Weg der Befriedigung – sprich auf Eigentum – verwiesen ist und zweitens, da er als Kind dieser Gesellschaft die Möglichkeiten und den Reichtum, von dem er ausgeschlossen ist, kennt. Zugleich verlieren die Armen jegliche Vorteile, die die Gesellschaft für ihre Mitglieder hat, sodass sie also relativ zu den anderen einen in vielerlei Hinsicht geringeren Lebensstandard haben. Der Bedeutung nach identisch definiert der Bericht das Phänomen der Armut: „Armut wird dabei im Wesentlichen als ein Mangel an Mitteln und Möglichkeiten verstanden, das Leben so zu gestalten, wie es in unserer Gesellschaft üblicherweise auf Basis des historisch erreichten Wohlstandsniveaus möglich ist. Reichtum ist im Gegensatz dazu eine Lebenslage, in der die Betroffenen weit überdurchschnittliche Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten haben.“ (Ebd., S. IV)6
Sowohl für Hegel als auch für die Bundesregierung stellen die jeweilige Gesellschaft, in der man lebt, und damit deren Produktivitätsniveau den Bezugspunkt dar. Arme befinden sich in einer mangelhaften Situation relativ zu den materiellen Möglichkeiten und zwar, so die genauere Bestimmung, derjenigen des gesellschaftlichen Durchschnitts.7 Insofern wird Armut als Abweichung von der Normalität definiert. Eine von den Eltern nicht bezahlbare Klassenfahrt stellt hierfür ein gutes Beispiel
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Armut und Reichtum sind „relationale Begriffe [...], die nach dem jeweiligen Wohlfahrtsniveau einer Gesellschaft zu untersuchen und zu bewerten sind“ (ebd., S. 101). Die Bundesregierung teilt hierbei die 1984 vom Europäischen Rat beschlossene Definition, die Menschen als arm einstuft, „wenn sie ,über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.“ (Ebd., Zitat i. O. von BMAS 2001, S. 28)
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Dieser Bezugspunkt ist auch in der Wissenschaft weitestgehend Konsens (vgl. bspw. Willke 2011, S. 32, Butterwegge 2009, S. 13 sowie Groh-Samberg 2009, S. 118).
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dar: Ein von Deprivation gekennzeichnetes Leben liegt heutzutage nicht erst dann vor, wenn die Reproduktion gefährdet ist, sondern auch der Ausschluss von den normalen „Sitten“ in der Lebensweise einer Bevölkerung durch zu geringe Mittel wird als Armut anerkannt.8 Wie wird das Phänomen der Armut, das zunächst in beiden Konzepten eine durch Mängel gekennzeichnete Lage für das betroffene Individuum bedeutet, im Folgenden wahrgenommen? 5.1.2 Die eingenommene Perspektive: Armut als soziale Frage Auf der Grundlage des geteilten Ausgangspunktes bei Hegel und der Bundesregierung, das Phänomen der Armut als Beschränkung der Verwirklichungsmöglichkeiten zu begreifen, nehmen beide in ihrer Analyse eine entscheidende theoretische Verschiebung vor. Während zunächst das Individuum und seine Entfaltung im Mittelpunkt stehen, wird die materielle Entbehrung in einem zweiten Schritt als soziale Frage besprochen. Für Hegels Analyse wurde bereits dargelegt, was diese Verwandlung impliziert. Armut bedeutet für die einzelne Person allemal eine von Deprivation gekennzeichnete Lebenslage. Dies scheint nun jedoch lediglich Basis des eigentlichen Problems zu sein, nämlich für die Folgen, die die Armut für Gesellschaft und Staat tatsächlich oder der Potenz nach haben. An dem materiellen Ausschluss offenbart sich ein Verstoß der bürgerlichen Gesellschaft gegen ihr eigenes Prinzip: Dem freien Eigentümer wird nicht ermöglicht, sich um seine eigene Subsistenz zu kümmern, wodurch die Untergrabung der Rechtsfähigkeit der von Armut Betroffenen droht. Dadurch wird nicht nur das Person-Sein als wesentliche Grundlage der Gesellschaft gefährdet, sondern es besteht außerdem die Möglichkeit, dass unter den Armen ein Pöbel entsteht, der sich durch eine staatsskeptische bis
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Der zitierte Maßstab für Armut, der beispielsweise auch in der Bezugnahme auf „60 Prozent des Medians aller Nettoäquivalenzeinkommen“ (ebd., S. 103) als Armutsrisikoquote seinen Ausdruck findet, wird hinsichtlich dessen problematisiert, ob es sich hierbei nicht eigentlich eher um „Ungleichheit“ als um Armut handelt: Nicht Armut an sich, sondern das Ausmaß der Ungleichverteilung von Einkommen“ (ebd., S. 103) werde durch den relationalen Begriff gemessen. Tatsächlich wird dadurch die genannte Anerkennung von Armut bei der Gewährleistung der Existenz, jedoch der überdurchschnittlichen Einschränkung in anderen Lebenslagen, ein Stück weit zurückgenommen. Da dies jedoch auch die Bundesregierung nicht zum Anlass nimmt, Armut zu bestreiten und fortan nur noch von „Ungleichheit“ zu sprechen und die Problematisierung des Armutsbegriffes keine Rolle für die hier darzulegende Analyse spielt, kann dieser Aspekt ausgeblendet werden. Auch in der Politik (s. bspw. Frankfurt Allgemeine vom 27.3.2015, o. S.), der Öffentlichkeit (s. bspw. SZ vom 03.03.2017) sowie der Armutsforschung (s. bspw. Willke 2011, S. 39, hingegen Lepenies 2017, S. 119 ff.) besteht hierzu kein Konsens.
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-ablehnende Gesinnung auszeichnet. Armut als soziale Frage zu betrachten, bedeutet also die Einnahme einer übergeordneten Makro-Perspektive auf die Betroffenen: Sie wird verstanden als Problem für den Staat und die sittliche Ordnung als Ganzes. Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass die in dieser Arbeit ausführlich gekennzeichnete Verschiebung des Blickwinkels, die bei Hegel beobachtet werden kann, auch im 5. ARB als selbstverständliche Betrachtungsweise eingenommen wird. Zwei zentrale Ziele benennt die Bundesregierung, die sich als roter Faden durch das Vorwort ziehen: Sie definiert ihr eigenes Tun als „eine Politik, die den sozialen Zusammenhalt in Deutschland stärken und Leistungsgerechtigkeit sicherstellen will“ (ebd. S. III., S. XI). In beiderlei Hinsicht sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf, da der Glauben an die Möglichkeit des Aufstiegs und an einen gerechten Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie in manchen Teilen der Bevölkerung erodiert sind: „In einer Gesellschaft wie der unsrigen, die stark vom Gedanken der Leistungsgerechtigkeit geprägt ist, sind persönliche Zufriedenheit und sozialer Zusammenhalt sehr eng damit verbunden, ob Leistung sich lohnt, die Verteilung der Einkommen, soziale Teilhabe- und Aufstiegschancen und die soziale Sicherung alles in allem als ,gerecht‘ empfunden werden. Gerade weniger privilegierte Bürgerinnen und Bürger empfinden ihre Anstrengungen vielfach als nicht ausreichend respektiert.“ (Ebd., S. II)
Neben der Wahrnehmung eines Leistungsgerechtigkeitsdefizits denken 44 Prozent einer zitierten Umfrage zufolge, dass die Spreizung zwischen Arm und Reich in den vergangenen fünf Jahren signifikant zugenommen hat, obwohl dies laut Bundesregierung objektiv nicht der Fall ist (vgl. ebd., S 111). Aus dem konstatierten wachsenden Gefühl der Ungerechtigkeit und der Zunahme von Armut ziehen die Autoren des Berichts nicht zwei Schlüsse, die diese Ergebnisse durchaus zulassen würden: Weder zweifeln sie an den Daten, auf denen ihre Erkenntnisse beruhen, noch hinterfragen sie ihr – in der empirischen Forschung inzwischen durchgesetztes – Armutsmaß, das per definitionem alle Einkommen über 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens als nicht vom Armutsrisiko betroffen festlegt. Stattdessen nimmt sich die Bundesregierung vor, „konkrete Lebenslagen sowie subjektive Einschätzungen stärker in den Blick zu nehmen“ (BMAS 2017, S. II, S. 111 ff.). Dieser Stoßrichtung lässt sich entnehmen, dass die Wahrnehmung der Bürger als größtenteils ungerechtfertigt verstanden wird; die Politik schreibt sich folgerichtig die Aufgabe zu, die tatsächlichen Lebenslagen in Deutschland besser zu vermitteln, damit die Auffassung der Menschen und die Realität nicht länger im Gefühl von wachsender Ungerechtigkeit auseinanderklaffen. Die „subjektive Wahrnehmung“ muss durch adäquate Maßnahmen verändert werden: „Denn Personen handeln auf Basis der von ihnen als real wahrgenommenen individuellen Einschätzungen und ver-
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meintlichen Bedrohungen, unabhängig davon, wie realistisch diese sind“ (ebd., S. 111). Diese aus Sicht der Bundesregierung nicht mit der Wirklichkeit korrespondierende Wahrnehmung von ungerechten Verhältnissen führt in breiten Teilen der Bevölkerung zu „Verunsicherung“ (ebd., S. II) sowie zu „Sorgen über das ‚Mitkommen‘“ (ebd., S. II). Zwar wird die Zustimmung zu populistischen Parteien wie der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und Bewegungen wie „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) an dieser Stelle nicht ausdrücklich erwähnt,9 die Bezugnahme auf Verunsicherungen und Sorgen scheint jedoch eindeutig: Die in letzter Zeit häufige Mahnung von Politikern und Öffentlichkeit, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen (vgl. bspw. Unionsfraktion 2017) klingt auch in diesen Zeilen deutlich an.10 Viele Menschen würden eine „Konkurrenz mit Geflüchteten um Arbeitsplätze, soziale Leistungen und Wohnraum“ (BMAS 2017, S. II) fürchten. Auch die „Abstiegsängste und Abschottungstendenzen der Mittelschichten“ (ebd., S. 115) darf die Politik nicht aus dem Blick verlieren. „Sorgen dieser Schicht um die eigene Konkurrenzfähigkeit“ (ebd., S. 120) schlagen sich in einer allgemeinen Unzufriedenheit nieder, die aus der Perspektive der Politik vor allem deswegen so gefährlich ist, weil sie nicht nur die auch vom Bericht als arm Bezeichneten betreffen, sondern Eingang in die Mitte der Gesellschaft gefunden haben. Es droht, in Hegels Terminologie, die Entstehung eines Pöbels, der aus Sicht der Regierung entgegen deren Selbsteinschätzung nicht durch das objektive Moment, nämlich Armut, bestimmt ist, und dennoch das subjektive Moment der Skepsis gegenüber den Prinzipien dieser Gesellschaft entwickelt. Insofern stellt es für die Politik eine wesentliche Aufgabe dar, dieser Wahrnehmung entgegenzuwirken. Hierzu gehört nicht nur die Frage, inwiefern die Armen ihre eigene Situation als gerecht empfinden, sondern auch die Einschätzung, ob Reichtum auf Leistung beruht: Wird dieser „als überwiegend leistungslos erworben empfunden, so kann dies die Akzeptanz der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verringern“ (ebd., S. IV).11
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Die Begleitstudie „Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998-2015“, auf der die Ergebnisse des 5. ARB unter anderem beruhen, verweist hingegen gleich im ersten Absatz der Einleitung auf Pegida (vgl. S. 12).
10 Auch diesen Blickwinkel auf die Armen kennt die Armutsforschung, wofür exemplarisch Milanović zitiert sei: Es droht „eine Rebellion der unteren Klassen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in Populismus und Nativismus münden wird“ (Milanović 2016, S. 202), weswegen er die Frage untersuchen möchte, ob die Ungleichheit „eine Bedrohung für den westlichen demokratischen Kapitalismus“ (ebd.) darstellt. 11 Wichtige Indikatoren in diesem Zusammenhang sind der Anteil an Erbschaften und Schenkungen als Grund für hohes Vermögen (vgl. ebd., S. X, S. 141).
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Zentral ist, dass es sich dabei um eine besondere Sicht auf die vom Abstieg bedrohte Mittelschicht und die Armen handelt, die identisch mit derjenigen Hegels ist: Inwiefern führt eine bestimmte Wahrnehmung der eigenen Lage dazu, dass sich Teile der Bevölkerung hier nicht länger aufgehoben fühlen? Ihre Situation gerät in den Blick unter einer übergeordneten gesellschaftlichen und politischen Perspektive: Drohen die Armen – und im Fall der unberechtigten Ängste sogar Teile der verunsicherten Mittelschicht – für unser Gemeinwesen verloren zu gehen, weil sie nicht länger an das Versprechen der lohnenden Leistung glauben? Deutlich wird diese Perspektive auch anhand der von der Regierung genannten Sorge um den „soziale[n] Zusammenhalt“ 12 (BMAS 2017, u.a. S. II, S. III). Die Lage der Armen, die selbst die Last ihres mangelhaften Lebensniveaus zu tragen haben, wird besprochen als eine schlechte Bedingung für die Stabilität der Gesellschaft.13 Innerhalb dieser Gemeinsamkeit mit Hegels Befürchtung gibt es jedoch eine wesentliche Differenz: Die Bundesregierung bezieht sich auf eine nicht näher spezifizierte Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, während sich die Schwierigkeit für Hegel neben einer allgemeinen Befürchtung über den Sprengsatz der Armut vor allem aus seinem anspruchsvollen Politikkonzept ergibt. Wie erläutert wurde, beruht ein seinem Begriff gemäßer Staat auf dem Wollen und damit dem Wissen seiner Bürger über ihr Gemeinwesen. Sind sie politisch apathisch, weil sie sich bewusst von ihm abwenden, oder wird ihnen die praktische und geistige politische Teilhabe auch nur aufgrund ihrer materiellen Situation erschwert, tangiert dies auch die Qualität des jeweiligen Staates.14
12 Auch hieran wird deutlich, dass es gerechtfertigt ist, einen regierungsoffiziellen Bericht als repräsentativ für breite Teile der Armutsforschung heranzuziehen: In unterschiedlichen Betonungen haben auch zahlreiche Wissenschaftler diesen Sorgegegenstand. „Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie?“, so fragen zum Beispiel Fluck und Werner im Titel ihres Sammelbandes (Fluck/Werner 2013; vgl. auch Fratzscher 2016, S. 80 ff.). Atkinson ist einer der wenigen Wissenschaftler, die den Maßstab, unter dem die Betrachtung der Armut subsumiert wird, kritisieren: Ihm zufolge würden beispielsweise Stiglitz mit seinem Werk „Der Preis der Ungleichheit“ oder Pickett und Wilkinson mit „Gleichheit ist Glück“ lediglich „instrumentelle Gründe“ (Atkinson 2016, S. 20) für die Auseinandersetzung mit Armut nennen. 13 Fragen der „Besteuerung und Umverteilung“ (ebd., S. XL) werden ebenfalls unter dem Gesichtspunkt möglicher Akzeptanzprobleme für die Ordnung besprochen. In diesem Kontext nennt die Bundesregierung auch ihre Bemühungen zur „Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Eindämmung von Steuervermeidung“ (ebd., S. XLI). 14 Auch wenn sich diese Argumentation nicht explizit findet, kann argumentiert werden, dass sich diese Schwierigkeit nicht nur für Hegels Konzept, sondern ebenso für die Bundesregierung aufgrund der demokratischen Verfasstheit unseres Staates ergibt.
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Neben Akzeptanzproblemen, die den sozialen Frieden stören könnten, ergibt sich noch ein weiteres Problem durch die Armen, das vom identischen Sorgegenstand getragen ist. Dauerhafte Armut und fehlende soziale Mobilität müssen als Verlust von Ressourcen für das Gemeinwesen begriffen werden: „Nur wenn alle Menschen ihre Potentiale nutzen können und das Beste aus ihren Fähigkeiten machen und ihnen dadurch Aufstiegsmöglichkeiten offenstehen, wird eine Gesellschaft ihr produktives Potential ausschöpfen“ (ebd., S. 27).15 Zwar findet sich dieser Aspekt bei Hegel nicht explizit, er liegt jedoch durchaus in der Logik dieses Blickwinkels: Die von Armut Betroffenen leiden nicht nur selbst unter ihrer Lage, sondern sie verursachen damit auch die Verhinderung eines größeren volkswirtschaftlichen Nutzens, den man beim Einsatz ihrer Potenziale aus ihnen schöpfen könnte. Dies stellt einen weiteren Schritt weg von materieller Deprivation als Problem für die Betroffenen zu einem Problem, das sie dem Gemeinwesen zu bereiten drohen, hin zu einem Verlust, den dieses durch die Existenz von Armut hat: Nicht nur als potentielle Störenfriede, sondern auch als entgangener Beitrag zum Volkseinkommen geraten sie in den Blick. Diese Perspektive findet sich auch in einem Kapitel, das einen Literaturüberblick16 gibt über die „Wechselwirkungen zwischen Ungleichheit und Wachstum“ (ebd., S. 47). Darin wird besprochen, inwieweit durch die Forschung nachgewiesen werden kann, dass Volkswirtschaften Produktivitätsverluste durch (zu große) Ungleichheit entstehen. Umgekehrt bedeutet dies, dass durch das politische Bemühen um die Kompensation der Armut, beispielsweise indem Chancengleichheit gefördert wird, letztlich „die gesamte Volkswirtschaft“ (ebd., S. III) profitieren könnte. Konsequent subsumieren also nicht nur die Problemdiagnose, sondern auch die Lösungsmöglichkeiten die Armut unter diese übergeordnete Perspektive. 5.1.3 Absolute und relative Armut und die Rolle des Sozialstaats Natürlich wird Armut von der Bundesregierung nicht nur als Frage der (falschen) Wahrnehmung begriffen; anerkanntermaßen gibt es dem Bericht zufolge Armut in Deutschland bzw. gelingt nur durch das Handeln des Sozialstaates eine Verhinderung von existenzgefährdender Armut. Aus diesem Grund nennt die Bundesregierung als eine von fünf zentralen Aufgaben die Sicherung der Grundversorgung: In unserer Gesellschaft muss laut Bundesregierung „neben einem verlässlichen System der sozialen Sicherung auch der Zugang zu weiteren gesellschaftlich notwendigen
15 Damit kommt der Bericht zur identischen Diagnose wie zahlreiche andere Forscher, die Armut und Ungleichheit als Wachstumshemmnis begreifen (vgl. bspw. Fratzscher 2016, S. 80). 16 Auch durch die in dem Kapitel genannten wissenschaftlichen Bezüge bestätigt sich, dass der ARB durchaus repräsentativ ist für die Perspektive der Armutsforschung allgemein.
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Gütern und Dienstleistungen sichergestellt sein“ (ebd., S. III). Als Beispiel werden „medizinische Versorgung, bezahlbarer Wohnraum und eine leistungsfähige Infrastruktur“ (ebd., vgl. auch S. XXVII) genannt. Es gibt also – völlig identisch zur Argumentation Hegels – Güter und Dienstleistungen, die für jedes Individuum zugänglich sein müssen; auch die inhaltlich genannten entsprechen den Überlegungen Hegels, der unter anderem ein allgemeines Gesundheitssystem vorgesehen hat. Ziel ist es dem Bericht zufolge, das „soziokulturelle Existenzminimum zu sichern“ (ebd., S. 101), sodass auch hier abermals die für Hegels Theorie entwickelte Argumentation trägt: Unterschieden werden kann begrifflich zwischen absoluter und relativer Armut (vgl. Kapitel 3.1.3), wobei sich aus der genannten Problemstellung des drohenden Verstoßes gegen die eigenen Prinzipien sowie der Entstehung eines Pöbels bzw. der drohenden Instabilität der Gesellschaft unterschiedliche politische Umgangsweisen mit der jeweiligen Armutsform ergeben. Es muss durch staatliches Handeln dafür Sorge getragen werden, dass niemand von den elementaren Mitteln der Subsistenz ausgeschlossen ist bzw. absolute Armut verhindert werden. Wie auch Hegel deutlich macht, muss dem Menschen weiterhin ermöglicht werden, an der bürgerlichen Gesellschaft teilzuhaben, indem er als Person erhalten bleibt. Er bedarf des vertragsfähigen Willens, auf den sich die anderen Gesellschaftsmitglieder in Form des Vertragsschlusses beziehen können. Die Aufrechterhaltung dieser elementaren Fähigkeit ist unter anderem von einem Zugang zum Gesundheitssystem und anderen unerlässlichen Lebensbedingungen abhängig. Die Bundesregierung differenziert – wie das auch für Hegels Analyse dargelegt wurde – zwischen einer absoluten Form der Armut, die unbedingt zu bekämpfen ist,17 sowie einer relativen, um die sich die Politik kompensierend kümmern muss. Diese Stellung zur relativen Armut macht auch der Finanzierungsvorbehalt deutlich: Im Vorwort zur Langfassung des Berichts wird darauf hingewiesen, dass die Untersuchung der Lebenslagen auch dem Evaluieren neuer politischer Vorhaben dient, wobei in einer Fußnote darauf verwiesen wird, dass „[m]it der Erwägung von Maßnahmen im Bericht [...] nicht automatisch eine Zustimmung der Bundesregierung hierzu verbunden [ist, I. S.]. Alle etwaigen Maßnahmen müssen den Rahmen der gegebenen verfügbaren Mittel einhalten“ (ebd., S. 27).
17 Dass die Vermeidung von absoluter Armut ein Kriterium der Bundesregierung ist, wird auch an der Mindestsicherungsquote deutlich, die eine der Indikatoren für ein Armutsrisiko darstellt: Sie misst, wie viele Menschen ohne unterschiedliche Formen der staatlichen Unterstützung nicht das soziokulturelle Existenzminimum erreichen können (vgl. ebd., S. VII). Deutlich wird dies beispielsweise auch in dem Kapitel über Wohnungslosigkeit: Dass diese laut Statistik in den letzten Jahren zugenommen hat, gibt vor dem Hintergrund des Kriteriums der Vermeidung von absoluter Armut Anlass zur Sorge (vgl. ebd., S. XXXVI).
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Die Betreuung der relativen Armut stellt im Selbstverständnis der Regierung eine zentrale Herausforderung dar: „So würde eine Betrachtung, die nur auf die Bekämpfung absoluter Armut, also den Erhalt der bloßen physischen Existenz ausgerichtet ist, dem Problem nicht gerecht werden“ (ebd., S. 101), was sich meinem Verständnis zufolge aus zwei Gründen ergibt. Wie dargelegt wurde, bezieht Armut in einer reichen Gesellschaft nicht mehr nur die absolute Existenznot ein, sondern nimmt Maß am durchschnittlichen Lebensstandard. Insofern heißt Armutsbekämpfung nicht nur Ausschluss von Elend, sondern beim heutigen Wohlstandsniveau muss darüber hinaus an der Ermöglichung eines durchschnittlichen Lebensstandards – beispielsweise also einer Urlaubsreise, der Klassenfahrt der Kinder, einem Kino- und Theaterbesuch etc. – Maß genommen werden; das soziokulturelle Existenzminimum schließt eben mehr ein als die Gewährleistung der Existenz. 18 Außerdem liegt diese selbstgestellte Aufgabe der Politik darin begründet, dass sich der demokratische Staat allen seinen Bürgern verpflichtet weiß und sich insofern also auch den problematischen Lebenslagen der relativ Ausgeschlossenen annehmen muss. Schließlich gilt es, die zitierten Ängste und Sorgen der Bürger begründet zurückweisen zu können. Dieser Logik folgt die Behandlung der verschiedenen Handlungsfelder der Armutspolitik in der Kurzversion: Nach einer Darlegung des Status Quo listet der Bericht auf, was bereits staatlicherseits unternommen wurde, um das Problem zu entschärfen und was aus Sicht der Politik zukünftig getan werden muss (vgl. bspw. S. XIII f.). Die einzelnen Maßnahmen, die der 5. ARB nennt, zeugen von der wesentlichen Bedeutung des Sozialstaates, die diesem aus der genannten Aufgabenstellung erwächst. Bereits im Vorwort wird mehrmals Bezug auf ihn genommen: „Steuer- und Sozialtransfers“ (BMAS 2017, S. I) reduzieren das Armutsrisiko, „soziale Leistungsverbesserungen“ (ebd.) konnten durch die gute ökonomische Lage Deutschlands erbracht werden, die Rolle der „gesetzliche[n] Krankenversicherung“ (ebd., S. XXXIV) ist entscheidend im Kontext von „Gesundheit und Pflege“ (ebd., S. XXXIII), was von der Bundesregierung als eigenes Themenfeld aufgegriffen wird. Wie schon bei Hegel muss die Einrichtung des Sozialstaates dafür Sorge tragen, dass die absolute Armut möglichst verhindert und die relative kompensiert wird – wobei sich aus der veränderten sozialen Realität neue Aufgaben nicht nur für den Sozialstaat, sondern beispielsweise auch für die Arbeitsmarktpolitik ergeben (vgl. ebd., S. 64 ff.), die der Philosoph noch nicht kennen kann. Der Bericht nennt
18 Dieser Ansatz liegt dementsprechend auch der Berechnung von Arbeitslosengeld II zugrunde: In dem Leistungssatz werden beispielsweise Kosten für Schulausflüge und der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben berücksichtigt (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2017, S. 55 f.). Die Kritik an der Höhe der hierfür veranschlagten Beträge nimmt von der prinzipiellen Berücksichtigung dieser Aspekte durch die Politik nichts zurück.
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unter anderem den 2015 eingeführten gesetzlichen Mindestlohn (vgl. u. a. ebd., S. XI) der den Versuch darstellt, eine Untergrenze des Lohnes zu ziehen, damit nicht noch mehr Menschen ohne staatliche Zusatzhilfe in absolute Armut abrutschen. Dass es inzwischen in ganzen Branchen des sogenannten Niedriglohnsektors (vgl. ebd., S. 66) fraglich ist, ob man sich als Erwerbsperson reproduzieren kann oder der Lohn hierfür nicht zu gering ausfällt, wird von der Politik aufgrund der benannten Logik ebenfalls als Problem betrachtet. In den Blick kommen deswegen Instrumente wie die Stärkung der Tarifbindung (vgl. u. a. ebd., S. XII). Diese soll dazu führen, dass es Erwerbspersonen wieder möglich ist, sich und die eigene Familie zu versorgen, wenn sie eine Stelle haben. Die Existenz von „working poor“, wie das Schlagwort in der Öffentlichkeit hierzu heißt, kann mit Hegel tatsächlich als ein Verstoß der freien Eigentümergesellschaft gegen ihre Prinzipien verstanden werden, da dem freien Marktteilnehmer trotz Teilnahme an der Ökonomie und damit auch trotz seines Beitrages zu ihr ein selbstständiges Leben nicht möglich ist. Unabhängig davon, ob Hegel die Maßnahmen und Politikfelder, die sich aus dem Drama der Armut ergeben, kennt oder nennt, lässt sich an ihnen also die skizzierte Logik analysieren. Ein weiterer Punkt, der dieser Betrachtungsweise zugrunde liegt, muss meines Erachtens kritisch hervorgehoben werden. Wie dargelegt, wird innerhalb eines jeden Aufgabenfeldes erläutert, was die Politik bereits unternimmt, um Armut auf dem jeweiligen Gebiet zu entschärfen und welche Maßnahmen sie für die Zukunft diskutiert oder plant. Die Politik empfiehlt sich dadurch als Adressat der sozialen Probleme im Land und möchte damit dem Eindruck der von Armut Bedrohten und Betroffenen entgegenwirken, hier nicht mehr aufgehoben zu sein. Aus dieser einseitigen Zuständigkeitserklärung ergibt sich durch eine Vereinseitigung jedoch das Problem, dass die Politik andere Akteure kaum erwähnt bzw. diese auch nicht als Mitzuständige für Armutsbekämpfung ansieht.19 Wie auch bei Hegel spielen gesellschaftliche Gruppen kaum eine bis keine Rolle. Hegel legt dar, dass die Armutsbekämpfung durch die Zivilgesellschaft nur eingeschränkt wirksam ist und somit die von ihm so bezeichnete private Mildtätigkeit der Notwendigkeit der Armut nicht Herr wird. Da sie systematische Gründe hat, so die durchaus schlüssige Argumentation, kann es nicht ausreichen, ihre Abschaffung oder Kompensation in die Zufälligkeit des Handelns Einzelner zu legen.
19 Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man nicht allein den ARB heranzieht: In einer Rede auf dem Vierten Symposium zum 5. ARB weist die ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles darauf hin, dass die Bekämpfung der Armut eine Aufgabe ist, „die die Bundesregierung allein nicht bewältigen kann. Dafür brauchen wir eine starke und wachsame Zivilgesellschaft, genauso wie engagierte Landesregierungen, Kommunen und Kirchen“ (Symposium 2017, S. 12).
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Auch, wenn dies zutreffend ist, ergibt sich hieraus jedoch kaum, dass die Politik von Hegel exklusiv in die Verantwortung genommen werden sollte. Soziale Akteure wie Nichtregierungsorganisationen, private Initiativen und Stiftungen sowie Gewerkschaften können zumindest einen Beitrag zur Armutsbekämpfung und vor allem auch – was in Hegels Sinn sein müsste – zur Schaffung eines Bewusstseins von diesem allgemeinen Problem beitragen. Nicht zuletzt kann dadurch also auch die vom Philosophen so hochgeschätzte Staatsbürgergesinnung ein Betätigungsfeld finden. Auch die Bundesregierung jedenfalls sieht andere Akteure kaum als Zuständige.20 Bemerkenswerterweise bezieht sie sich auf diese im Zusammenhang mit der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls: Den Zusammenhalt der Gesellschaft zu erhalten, könne nur gelingen, wenn dabei auch breite Teile der Bevölkerung einbezogen werden. Es muss „politischen Akteuren, Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft gelingen, die Teilhabe und die Akzeptanz demokratischer Werte in unserem Land zu erhalten und für neue Herausforderungen zu stärken“ (ebd., S. III). Diese Aufgabe ist keineswegs unwichtig, sie wird sogar als eines von fünf Hauptbetätigungsfeldern im Vorwort genannt. Nichtsdestotrotz geraten die anderen Gruppen des Gemeinwesens jedenfalls nicht hinsichtlich eines Beitrags zur Armutsbekämpfung im engen Sinne, sondern lediglich zu dem des Akzeptanzproblems in den Blick.
5.2 GRENZEN UND MÄNGEL DES 5. ARBS SOWIE VON HEGELS ANALYSE Neben diesen zentralen Identitäten zwischen der theoretischen Behandlung der Armut durch den Philosophen und die Bundesregierung gibt es auch Differenzen, die zugleich auf Mängel einer vereinseitigten rein empirischen bzw. politikphilosophischen Betrachtungsweise hinweisen. 5.2.1 Das „umfassendere[] Bild der Armutsrisiken in Deutschland“: Lebenslagen, Lebensphasen und Risikofaktoren – Auflösung der Ursache von Armut Ich möchte im Folgenden für die These argumentieren, dass der 5. ARB in der detaillierten empirisch-quantitativen Ausarbeitung der verschiedenen Facetten der
20 Diese Argumentation ist nicht damit zu verwechseln, dass die Politik aus der Verantwortung genommen werden soll. Im Gegenteil muss diese Tendenz des Rückzugs des Staates, der das Kümmern um die Armen wie beispielsweise bei der Tafel privaten Initiativen überlässt, äußerst kritisch beurteilt werden.
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Armut die Ursache und damit das Prinzip dieses Phänomens aus dem Blick verliert. Während Hegel sie auf ihren Grund zurückführt, fehlt dieses Bewusstsein im ARB durch die Auflösung der Armut21 in unterschiedlichste Erscheinungen in Lebensphasen, Lebenslagen und Risikofaktoren. Der Bericht wird zunächst nach Lebensphasen gegliedert, die durch „Lebenslagen wie Einkommen, Bildung, Erwerbstätigkeit, Gesundheit und Wohnen“ (ebd., S. 28) ergänzt werden. Unter anderem behandelt werden Kinderarmut (vgl. ebd., S. XXI ff.), dabei besonders auch das Thema Bildung (vgl. ebd., S. XXIV), Altersarmut (vgl. ebd., S. XXIX ff.), Menschen mit Behinderung (vgl. ebd., S. XXXI ff., S. 473 ff.), Geflüchtete (ebd., S. XXXVII), Wohnungslose (vgl. ebd., S. XXXVI, S. 482 ff.), Straffällige (ebd., S. 497 ff.) sowie mögliche Ereignisse wie Krankheit (vgl. ebd., S. 477) und verschiedene Übergänge, die man als freier Eigentümer im Laufe seiner Bildungs- und Erwerbsbiographie meistern muss. Einen Eindruck davon vermittelt Abbildung 1. Abbildung 1: Bildungs- und Erwerbsbiographie freier Eigentümer
Quelle: BMAS 2017, S. 32
Wie die Graphik veranschaulicht, scheint es kaum übertrieben, das ganze Leben in der modernen Gesellschaft zu begreifen als eine Ansammlung von zu meisternden Übergängen, die einerseits eine Chance darstellen, bei denen andererseits jedoch die Gefahr des Abrutschens in Armut besteht. Dabei wird zwar auch erwähnt, dass das Bewähren des Menschen auf dem Arbeitsmarkt entscheidend für seine materielle Ausstattung ist, zugleich erscheint dies jedoch nur ein Aspekt unter vielen anderen
21 Aufgelöst wird auch der Begriff der Armut selbst. Zwar wird er einerseits in Bezug auf 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens klar definiert. Zugleich jedoch werden die Messung und der Begriff an sich durch den Hinweis auf Einkommensungleichheit ständig problematisiert (vgl. u. a. BMAS 2017, S. IV). Dieser Aspekt kann hier jedoch ausgeblendet werden; zur Kritik vgl. Schildbach 2017.
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Chancen und „Risikofaktoren“ (ebd., S. 27) zu sein (vgl. ebd., S. VI sowie S. 53). Das Bemühen des Berichts „um ein umfassenderes Bild der Armutsrisiken in Deutschland“ (ebd., S. VII) führt letztlich dazu, dass die Ursache von Armut in vermeintlich besondere Fälle des Lebens aufgelöst wird. Zugleich treten diese massenhaft auf und sind – wie etwa Arbeitslosigkeit oder Krankheit – insofern keineswegs das Einzelschicksal von Individuen. Weder einen Migrationshintergrund oder Kinder zu haben, Miete zu zahlen oder vorübergehend arbeitslos zu werden, stellen (heutzutage) Ausnahmefälle dar. Das Sammelsurium an Lebenslagen und -phasen vermittelt jedoch den Eindruck, dass es sich dabei um außergewöhnliche Ereignisse handelt, hinter denen kein einendes Prinzip mehr erkannt werden kann. Ich möchte mit Hegel dafür argumentieren, dass es sich bei den multiplen „Risikofaktoren“ lediglich um mögliche Anlässe für Armut handelt und sie nach wie vor auf das beim Philosophen analysierte Prinzip zurückgeführt werden kann. Für sich genommen, begründen bspw. weder der Kinderreichtum in einer Familie noch eine Scheidung die Entstehung von Armut. Hätte Hegel heute den Bericht der Bundesregierung vor Augen, so könnte er hinter den Lebenslagen, den Lebensphasen und Risikofaktoren, die auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium an besonderen Bedingungen wirken, das gemeinsame Band entdecken: Der Mensch muss sich mangels Eigentum als freier Eigentümer seiner Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bewähren, kann dies aus den unterschiedlichsten Gründen sowohl individueller als auch systemischer Natur jedoch nicht immer. Die bei einem einzelnen Individuum aus verschiedenen Gründen auftretenden besonderen Lebensumstände unterstellen bereits in Potenz die Armut aufgrund seiner Einkommensquelle, wenn sie durch einen eintretenden Risikofaktor ausgelöst werden kann.22 Aus der einheitlichen Ursache ergibt sich auch, dass der Anlass für Armut so vielfältig sein kann wie die Bewährungsproben, die dem Einzelnen gesetzt sind:23 Arbeitslosigkeit kann durch einen zurückgegangenen Bedarf der Wirtschaft nach
22 Unmittelbar deutlich wird dies daran, dass das jeweilige auslösende Moment keineswegs bei allen Menschen zu Armut führt. Weder Kinderreichtum, Krankheit o. ä. können an sich also den Grund der Armut darstellen. 23 Es handelt sich hierbei nicht um eine terminologische Ungenauigkeit des Berichts, sondern die verschiedenen Risikofaktoren in den unterschiedlichen Lebenslagen und-phasen gelten den Autoren als Grund und nicht nur als auslösendes Moment. Auch eine der Begleitstudien, die in der Bevölkerung nach den Ursachen von Armut fragt, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Dieser zufolge wird beispielsweise an erster Stelle „der falsche Umgang mit Geld“ und an zweiter „die Tatsache, dass man Kinder erziehen oder Personen pflegen muss“ (BMAS 2015, S. 43) genannt. Das Alltagsbewusstsein verlagert den Grund also in diesen Beispielen in ein persönliches Fehlverhalten bzw. das Faktum der Erziehung und Pflege.
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Arbeitskräften entstehen, die den Einzelnen zufällig oder durch die fehlende Nachfrage nach seiner Qualifikation trifft. (Fehlende) Bildung wird von den Autoren des Berichts als einer der zentralen Risikofaktoren (ebd., S. XXIV) verstanden, wenn sie die Frage stellen: Ist es dem Menschen möglich, vor allem im Kinder-24 und Jugendalter – aber auch darüber hinaus – durch die Ausbildung von entsprechenden Kompetenzen und Qualifikationen für gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen?25 In diesem Zusammenhang hat sich vor allem das „lebenslange Lernen“ (ebd., S. 402) zu einem wichtigen Feld der Bildungspolitik entwickelt. Auch Unfälle und Krankheiten können dazu führen, dass eine Person dem Arbeitsmarkt nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Kinder alleine erziehen zu müssen, führt zumeist zu einer nur eingeschränkten, weniger flexiblen Verfügbarkeit für den Arbeitgeber. Auch dass Geflüchtete überproportional zu den Armutsgefährdeten dieser Gesellschaft gehören, lässt sich durch Hegels Ursachenangabe erklären: Im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung haben sie mit besonderen Hürden für eine normale „Arbeitsmarktintegration“ (ebd., S. XXXVII) zu kämpfen, wie beispielsweise mit der Nichtanerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen sowie fehlenden oder geringeren Sprachkenntnissen. Die Liste von Risikofaktoren ließe sich beliebig erweitern. So bespricht der Bericht beispielsweise die Schwierigkeiten, die bei der Vereinbarung von Erwerbs- und privater Pflegetätigkeit auftreten: Familiäre Pflegeverpflichtungen können mit Einbußen beim Gehalt einhergehen, weil die betreffenden Personen dem Arbeitsmarkt nur eingeschränkt oder gar nicht mehr zur Verfügung stehen (vgl. ebd., S. 383). Altersarmut stellt ein großes Problem dar, da sich die zur Verfügung stehenden Mittel kaum noch durch die Bewährung in der Konkurrenz verändern lassen; die materielle Lage ist vielmehr „ein Resultat des bis dahin gelebten Lebens, sodass sich die vorherigen Marktchancen – auch und gerade auf dem Arbeitsmarkt – in der Höhe der Alterseinkommen widerspiegeln“ (ebd., S. 427). Wer als Arbeitnehmer auf dem Markt also nur einen geringen Lohn erhalten hat, ist auch im Alter mit Armut konfrontiert. Deutlich wird die Logik von Anlass und Grund auch am Beispiel bei der Lebenslage „Überschuldung“ (ebd., S. 488): Diese ist bereits Ausdruck von Armut und nicht ihre Ursache.
24 „Die Chancen für berufliche Aufstiege entscheiden sich bereits sehr früh im Lebenslauf.“ (Ebd., S. 61) 25 Der Bericht bestätigt hierbei den von Hegel angenommenen Zusammenhang zwischen Armut und einer schlechteren Bildung. Die Unterschiede in der Wahl der Schulart nach der fünften Klasse zwischen armutsgefährdeten und nicht armutsgefährdeten Haushalten beispielsweise sind „signifikant“ (ebd., S. 232) und perpetuieren sich im Laufe der Bildungsbiographie (vgl. u. a. ebd., S. 238), sodass der so genannte „Teufelskreis der Armut“ entsteht.
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Zusammenfassend lässt sich an all diesen Beispielen des Berichts festhalten, dass sich der materielle Status eines Menschen an seiner Fähigkeit, sich am Markt mit seiner Eigenlogik zu bewähren, entscheidet: Der Eigentümer hat die Freiheit, jedoch damit auch die Pflicht, in Konkurrenz zu den anderen für die Befriedigung seiner ökonomischen Interessen zu sorgen. Ob ihm dies gelingt oder nicht, ist abhängig von den unterschiedlichsten Faktoren, die er teilweise zu beeinflussen vermag, denen er zu einem anderen Teil auch ausgesetzt ist. Individuelle Voraussetzungen wie Bildung, Alter, Sprachkenntnisse, Gesundheit etc. können sich negativ für einen Menschen auswirken, wenn sie sich störend hinsichtlich seiner Arbeitsfähigkeit auswirken. Sie können sich jedoch genauso als Chance im Sinne einer besseren Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt geltend machen und so dem einzelnen Eigentümer bspw. eine individuelle Vorsorge gegen die Wechselfälle des Lebens wie Krankheit, Altersarmut etc. ermöglichen. Wie in der Analyse der Hegelschen Argumentation dargelegt, hat der Einzelne jedoch selbst diese Chancen nicht in der Hand, weil er – wie bspw. bei der Bildung – darauf verwiesen ist, dass seine Qualifikation nachgefragt wird. Ob die Bewährung auf dem Markt wirklich gelingt, stellt sich erst ex post heraus. 5.2.2 Kritik an Hegels Analyse: die wahrgemachte Abstraktion vom freien und gleichen Eigentümer – permanente politische Brisanz der Armutsfrage trotz Sozialstaat „[...] und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.“ (VGP III, S. 331)
Hegels Analyse führt Armut auf ihren Grund zurück und kann deswegen auch für die heutige Armutsforschung fruchtbar gemacht werden. Jedoch weist auch seine Argumentation Mängel auf, die sich an der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung offenbaren. Wie in dieser Arbeit ausführlich erläutert, stellt der Sozialstaat für Hegel eine adäquate Antwort auf die quälende Frage der Armut dar, die dieser ihre Brisanz nimmt. Seiner Einschätzung zufolge entwickelt sich aus dem ökonomischen Problem kein politisches, da der Sozialstaat praktisch absolute Not verhindert und auf geistiger Ebene den von relativem Ausschluss Betroffenen einen Grund für eine patriotische Gesinnung stiftet. Seinen Ausdruck findet diese Einschätzung unter anderem darin, dass Armut in seiner Betrachtung der Bestimmungen des Staates keine Rolle mehr spielt. Ich habe in meiner Untersuchung dafür argumentiert, dass Hegels Urteil nicht zutreffend ist: Tatsächlich wird das ökonomische zu einem politischen Problem, dem allein mit sozialstaatlichen Maßnahmen keineswegs die Bedeutung genommen wird.
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Im Folgenden möchte ich darlegen, dass dies durch den 5. ARB bestätigt wird. Es zeigt sich, dass Hegel als euphorischer Vertreter des Prinzips der Freiheit kaum ein Bewusstsein davon hat, dass es sich bei dem in Freiheit gesetzten Eigentümer, der im modernen Staat seinen Interessen nachgehen darf, um eine Abstraktion handelt, die als wahrgemachte zahlreiche staatliche Aufgaben impliziert: Weil die Menschen hinsichtlich ihrer Mittel ungleich sind und der Staat diese problematischen Mittel handhabbar machen will, muss er sich um Voraussetzungen kümmern, die nicht in der Gewährleistung einer Grundversorgung aufgehen. Die Betreuung der relativen Armut stellt – vor allem auch hinsichtlich der politischen Dimension – eine zahlreiche Politikfelder umfassende Aufgabe des Staates dar, der trotz des Sozialstaates entgegen der Hegelschen Annahme nicht die Brisanz genommen ist. Dabei hat Hegels Ignoranz gegenüber den vielfältigen Bedürfnissen und damit auch den politischen Handlungsbedarfen zwei Momente. Das erste lässt sich zusammenfassend als Verwaltungsbedarf der Armut in seiner ökonomischen Dimension kennzeichnen. Wie deutlich wurde, ergibt sich dem 5. ARB zufolge eine umfassende Notwendigkeit, die von Armut Betroffenen in verschiedenen Lebensphasen und -situationen zu betreuen. Hegel hat erkannt, dass die Armut eines der wesentlichen Probleme moderner Gesellschaften ist und als Antwort hierauf die Idee eines Sozialstaates entwickelt. Neben der Vorsorge für Infrastruktur sollte ihm zufolge unter anderem der Zugang zum Gesundheitssystem, zum Justizapparat sowie die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse gewährleistet werden. Seine Analyse ist nun nicht in der Hinsicht defizient, dass die Polizei – wie er den Sozialstaat unter anderem bezeichnet – nur mit rudimentären Aufgaben belegt wird, insofern er einige Bereiche, die man heute als selbstverständliche Elemente des Sozialstaates begreifen würde, nicht nennt. Sicherlich kann seine Auflistung ergänzt werden, berücksichtigt man den Grund, den Hegel für die Notwendigkeit des staatlichen Handels sieht. Der Mangel besteht vielmehr in dem begrenzten Bezugspunkt der Maßnahmen, den Hegel wählt: Die Identität dieser besteht darin, dass sie sich alle darum bemühen, dem in der Konkurrenz gescheiterten Eigentümer eine Subsistenz zu ermöglichen, obwohl er sich auf dem Markt nicht bewähren konnte. Geleistet wird dadurch also eine nachträglich eintretende Kompensation, die durch politisches Handeln herstellt, was die freie Person nicht aus eigenen Kräften zu erbringen vermag. Dabei verkennt Hegel jedoch, dass das rechtliche Prinzip des gleichen und freien Eigentümers, zu dem der Staat die Menschen bestimmt, eine Abstraktion darstellt, die einen weit umfassenderen Radius des politischen Handelns erforderlich macht. Wie gezeigt wurde, bedeutet dieses Prinzip, dass sich jeder Mensch um sein eigenes Fortkommen kümmern darf und dabei gänzlich auf seine Mittel und Möglichkeiten verwiesen ist. In dieser praktisch wahrgemachten Definition besteht die Identität aller Marktteilnehmer, die sich in Konkurrenz zueinander in der Form des Vertrages (Arbeits-, Kauf-, Mietvertrag etc.) aufeinander beziehen. Eine Abstraktion liegt in-
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sofern vor, als die Menschen als Eigentümer nicht gleich sind: Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer ökonomischen Mittel, der physischen Konstitution, der Bildung, ihrer Erfahrungen etc. Hegel hat diese Tatsache teilweise sogar selbst angesprochen, indem er beispielsweise auf das ungleiche Vermögen und die ungleiche Verteilung von Geschick hinweist. Dennoch hält er an dieser Abstraktion fest und sieht den Handlungsbedarf erst ex post bei den hergestellten Konkurrenzergebnissen. Wie der empirischen Lagebeschreibung der Verhältnisse in Deutschland 2017 zu entnehmen ist, greift diese Betrachtungsweise und der für ihn daraus folgende politische Handlungsauftrag zu kurz: Es reicht nicht aus, den Konkurrenzverlierern durch ein Existenzminimum den Erhalt des Person-Seins und damit der Marktteilnahme zu garantieren. Vielmehr folgt aus dem benannten Prinzip ein umfassenderer Betreuungsbedarf, der bereits bei den Konkurrenzbedingungen, mit denen die Eigentümer auf dem Markt treten, sowie auch während der Betätigung der Arbeitskraft ansetzt. So muss sich der Staat zum Beispiel nicht erst im Nachhinein, sondern bereits a priori darum kümmern, dass die gesetzlich als freie und gleiche Eigentümer Definierten sich auch tatsächlich mit gleichen Chancen in die Konkurrenz begeben können. Dabei spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle, die einen Vergleich allein am Maßstab der (potentiellen) Leistung des Einzelnen für die Ökonomie bzw. die formelle Allgemeinheit verhindern: An der im Bericht besprochenen Kinderarmut und deren Auswirkung auf die Bildung zeigt sich exemplarisch, dass bei einigen Menschen bereits vorentschieden zu sein scheint, dass sie auf dem Markt schlechte Chancen haben werden. Der Staat muss also bereits eingreifen, bevor Personen ihre Arbeitskraft in Konkurrenz zu den anderen Eigentümern anbieten. Geflüchtete bedürfen „[i]ntegrationspolitische[r] Maßnahmen“ (ebd., S. XXXVIII), die „einen wesentlichen Beitrag zu Spracherwerb, Bildung, Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit“ (ebd.) leiten können; bei ihnen ist also während der Phase des (potentiellen) Erwerbslebens eine Zusatzbetreuung nötig, derer das normale Wirtschaftssubjekt nicht bedarf. Diese vielen Gesichter der Armutsanlässe und dementsprechend den politischen Betreuungsbedarf, der daraus entspringt, reflektiert Hegel nicht. Auch anhand von Menschen mit Behinderung (vgl. ebd., S. XXXI ff.) wird deutlich, dass sich ein moderner Staat nicht darauf beschränken kann, Menschen als Eigentümer zu definieren und erst im Nachhinein bei eingetreten Schäden durch die ökonomische Konkurrenz einzugreifen. Behinderte Menschen sind zwar als Personen anerkannt, haben jedoch in vielen Fällen nicht die Möglichkeit, in Freiheit ihr ökonomisches Interesse zu betätigen, sodass dies vielfältigen politischen Handlungsbedarf hervorruft. Die aus dem 5. ARB übernommene Graphik veranschaulicht dies: Das Risiko, in Armut abzugleiten, droht in jedem Lebensalter und durch unterschiedlichste Ereignisse, die überwiegend für die meisten keinen großen Ausnahmefall darstellen.
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Es bedarf also nicht nur der Gewährleistung einer Grundversorgung, um die Abstraktion vom freien Eigentümer „gangbar“ zu machen, sondern unter anderem auch der Bildungs-, Integrations- sowie der Arbeitsmarktpolitik. Obwohl Hegel also das Prinzip der Armut und seine Konsequenzen erkennt und analysiert, entgehen ihm die umfassenden politischen Aufgabenfelder, die sich letztlich aus der Definition der Gesellschaft als eine von freien Rechtspersonen ergeben. Das Konkurrenzsubjekt mit seinen je spezifischen ökonomischen Mitteln bedarf vom Vorschulalter bis ins Alter26 einer vielfältigen politischen Betreuung, um ihm seine Bewährung auf dem Markt und um damit auch die Prinzipien der bürgerliche Gesellschaft zu ermöglichen. Das zweite Moment, das Hegels Analyse vernachlässigt und das ebenfalls dem 5. ARB zu entnehmen ist, betrifft den politischen Handlungsbedarf bzw. die Einsicht, dass der Armut in politischer Hinsicht durch die Einrichtung des Sozialstaates keineswegs die Brisanz genommen ist. Hegel zielt darauf, dass alle Bürger eine Staatsgesinnung entwickeln und diese auch durch politisches Engagement praktizieren können.27 Auch die Bundesregierung hat diese Annahme mit Verweis auf das Demokratieprinzip zum Ausgangspunkt: „Eine der wesentlichen Grundlagen von Demokratien ist es, dass jede Bürgerin und jeder Bürger über die gleichen Möglichkeiten verfügt, sich in die Gestaltung des Gemeinwesens einzubringen“ (BMAS 2017, S. 165). Wie ausführlich dargelegt, nimmt Hegel an, dass es zwar weiterhin die Gefahr der Entstehung eines Pöbels gibt, dass diese jedoch im Großen und Ganzen durch den Sozialstaat entschärft ist, da dieser praktisch die materielle Lage der Armen verbessert und ihnen in geistiger Hinsicht einen Grund gibt, sich in diesem Staat aufgehoben zu wissen. Ihm zufolge müssen die Auswirkungen der Armut in
26 Hier ist jedoch zu unterscheiden zwischen Maßnahmen, die Hegel durchaus aus dem von ihm analysierten Prinzip ableiten kann, von denjenigen, wo dies aufgrund des noch nicht existierenden Phänomens nicht möglich ist. Als Beispiele für letzteres sind die Altersarmut (vgl. ebd., S. XXIX ff.) sowie die Betreuung des Niedriglohnsektors (vgl. ebd., S. 66) zu nennen: Da Hegel davon ausgeht, dass die Entlohnung des Eigentümers die Reproduktion gewährleistet, kann er diesen Handlungsbedarf nicht theoretisch vorwegnehmen. 27 Beim Nachvollzug der Hegelschen Argumentation wurde deutlich, dass er zwar für eine Praktizierung des Allgemeinen durch die Staatsbürger plädiert, jedoch eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Bourgeois in jedem Menschen hegt. Hieraus ergibt sich eine Zurückhaltung gegenüber politischen Beteiligungsformen, von der, wie dargelegt, die ärmeren Schichten im besonderen Maße betroffen sind. Insofern muss, wie in dieser Arbeit dargelegt, diese allgemeine Zurückhaltung bei der Beurteilung der Partizipationsmöglichkeiten für die Armen berücksichtigt werden. Argumentiert wurde außerdem dafür, dass sich diese Sichtweise Hegels in einer reifen Demokratie ändern könnte.
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seiner Abhandlung des staatlichen Institutionengefüges deswegen nicht diskutiert werden. Er berücksichtigt die Armen als Bevölkerungsschicht, die eine besondere Betreuung durch die Politik benötigt, erst wieder auf der Ebene des absoluten Geistes. Religion und Kunst stellen hier die Weisen dar, wie breite Teile des Volkes und dabei insbesondere die von materieller Exklusion Betroffenen gebildet und ihnen die Sittlichkeit des Gemeinwesens vermittelt werden kann. Ich argumentiere in dieser Arbeit hingegen dafür, dass das ökonomische zu einem genuin politischen Problem wird, da der Sozialstaat zwar in praktischer und geistiger Hinsicht die von Hegel besprochenen Leistungen erbringt, sich dennoch zahlreiche Fragen bezüglich der politischen Betätigungsform in beiderlei Hinsicht sowie der Repräsentation und damit der tatsächlichen Berücksichtigung der Armen im Staat stellen. Als Problem zeigt sich hier unter anderem, dass sie zwar die Parlamentsdebatten verfolgen können, weil diese Hegel zufolge wegen der Erzeugung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins öffentlich sein sollen. Auch das von ihm vorgesehene Pressewesen ist ein Bildungsmedium für alle Schichten der Bevölkerung. Was jedoch die tatsächliche Repräsentation im Parlament und damit die Partizipation an der Legislative anbelangt, muss ein klares Defizit verzeichnet werden: Die Armen gehören keiner Berufsgruppe an oder sind zwar eventuell nach wie vor Teil der Kooperationen, jedoch in der Bürgerversammlung nicht als materiell Ausgeschlossene mit besonderem Berücksichtigungsbedarf, sondern höchstens als Teil ihres vorigen Berufsstandes vertreten. Für Hegel stellt sich diese Schwierigkeit wegen des Sozialstaates dennoch nicht. Die detaillierte Darlegung der Lebenslagen der Armen in Deutschland 2017 scheint meine Argumentation zu bestätigen. Trotz Hegels Hellsichtigkeit hinsichtlich der Brisanz der Armutsfrage unterschätzt er sie in ihrer politischen Dimension. Die Bundesregierung hingegen erkennt, dass Armut als ökonomisches Problem zu einem politischen wird, das als solches permanenten praktischen und geistigen Betreuungsbedarf hervorruft.28 Der 5. ARB legt einige Statistiken dar, die den Zusammenhang von Einkommensarmut und politischem Interesse und Betätigung im weitesten Sinne aufzeigen: Armut befördert politische Apathie. 29 So schätzen 2015 58,8 Prozent der Personen mit einem hohen Nettoäquivalenzeinkommen ihr politi-
28 Auch im medialen Echo, das der Bericht auslöste, haben die Ergebnisse bezüglich der politischen Dimension von Armut wohl am meisten Beachtung gefunden (vgl. bspw. FAZ online vom 23.03.2017: „Ärmere Menschen gehen seltener wählen“ sowie Deutschlandfunk vom 23.03.2017: „Schwindendes Vertrauen in die Demokratie“). 29 In der Presse wird dieses Phänomen immer wieder thematisiert, unter anderem in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, in dem eine Betroffene ihren Standpunkt auf den Punkt bringt: „Ich habe dem Staat gekündigt“ (SZ vom 29.09.2016).
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sches Interesse als stark ein, während dies bei denjenigen mit mittlerem Einkommen 37,4 Prozent und bei einem geringen lediglich auf 29,9 Prozent der Befragten zutrifft (vgl. ebd., S. 543). Spiegelbildlich hierzu haben laut Selbstauskunft lediglich 5,1 Prozent der Personen mit hohem, 14,8 Prozent der mit mittleren und 26,9 Prozent mit niedrigem Einkommen ein geringes politisches Interesse (ebd., S. 544). Bezüglich der praktischen Dimension sind die Ergebnisse ähnlich: Menschen mit sehr guten Einkommensverhältnissen sind zu 50,0 Prozent freiwillig engagiert, bei mittleren Einkommen sind es 43,3 und bei sehr schlechten Einkommensverhältnissen 26,9 Prozent (vgl. ebd., S. 546). Auch hinsichtlich der Wahlbeteiligung ergibt sich ein ähnliches Bild: 84,5 Prozent aller Personen mit hohem Einkommen, 86,7 mit mittlerem und nur 71,4 Prozent mit geringem Einkommen haben bei der letzten Bundestagswahl ihre Stimme abgegeben. Aufgrund dieser Zahlen kommt auch der ARB zu dem Urteil, dass die Wahlbeteiligung „stark sozial segregiert“ (ebd., S. 165) ist. Aus diesen Befunden ergibt sich die Frage, inwiefern das geringe politische Interesse und die schwache politische Beteiligung Auswirkungen auf die tatsächliche Einflussnahme und Repräsentation der Armen auf die Gesetzgebung haben. Untersucht wurde unter anderem, inwiefern eine Maßnahme dann eine größere Chance auf Umsetzung durch die Politik hat, wenn sie vor allem von den Personen mit hohem Einkommen befürwortet wird (vgl. u. a. BMAS 2016, S. 32). Die Studie stellt im Ergebnis eine „Verzerrung zugunsten oberer Einkommensschichten“ (vgl. ebd., S. 34) fest. Tatsächlich sind diese Folgerungen umstritten, da nicht zu belegen ist, wie die Wirkungskette verstanden werden muss: Üben Reiche mehr Einfluss auf die Politik aus, weil die Repräsentanten beispielsweise selbst selten aus den ärmeren Schichten kommen (vgl. BMAS 2016, S. 16), oder aufgrund von starken Lobbygruppen (vgl. ebd.), oder weil die Armen seltener ihre Interessensvertreter wählen (vgl. ebd.) oder weil die Politik immanente Gründe hat, um primär Vermögende zu fördern?30 Und kann man an den einzelnen Maßnahmen überhaupt festmachen, dass sie zu einer Bevorzugung der reichen Schichten führen? Beim untersuchten Thema der außenpolitischen Einstellungen ist dies beispielsweise nicht der Fall, 31 sodass der statistisch konstatierte Zusammenhang zwischen der Schichtzugehörigkeit und dem konstatierten Einfluss auch rein zufällig sein kann, sich also anderen Faktoren verdanken kann.
30 „Welches dieser Argumente die größte Erklärungskraft besitzt, bleibt bislang ungeklärt“ (BMAS 2016, S. 16). Insofern sind die ermittelten Zusammenhänge als Korrelationen und nicht als Kausalitäten einzuordnen. 31 Hinzu kommt, dass es „viele Themen bzw. Fragen [gibt, I. S.], bei denen die Meinung zwischen verschiedenen Einkommensgruppen nicht weit auseinanderliegt.“ (BMAS 2016, S. 34)
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In anderer Hinsicht jedenfalls kann der Konnex zweifelsfrei hergestellt werden: In dem Maß, in dem die Armen seltener zur Wahl gehen, nehmen sie sich selbst diese Einflussmöglichkeit und sind damit in der aus dem Wahlergebnis resultierenden Parlamentszusammensetzung – unabhängig von der tatsächlichen, umstrittenen Auswirkung dessen – weniger repräsentiert. Der 5. ARB resümiert diesbezüglich: „In der Summe bedeutet dies, dass die unteren Einkommensgruppen erheblich weniger über die Angelegenheiten des Gemeinwesens mitbestimmen, obwohl sie diese Angelegenheiten mindestens ebenso sehr wie die einkommensstärkeren Gruppen betreffen“ (ebd., S. 169). Auch die Begleitstudie warnt davor, dass die geringere Partizipation der einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten dazu führen könnte, dass sich diese nicht länger von der Politik repräsentiert fühlen (vgl. BMAS 2016, S. 43 ff.). Angesichts dieser Ergebnisse nennt der Bericht die Aufgabe „[d]emokratische Teilhabe und Akzeptanz demokratischer Werte stärken“ (BMAS 2017, S. XLII) als wesentliches Handlungsfeld der Zukunft. Obwohl die Politik die politische Dimension des Problems der Armut also erkennt, erscheint die Antwort jedoch unzureichend. Was wurde bislang getan und was wird die Politik in Zukunft unternehmen? Genannt wird der Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“, den die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode durchgeführt hat, um mit den Menschen des Landes über ihre Anliegen ins Gespräch zu kommen (vgl. ebd., S. XLII). Neben dem sogenannten „Dialogprozess ,Arbeiten 4.0‘“ (ebd.) führen die Autoren den „intensive[n] Dialog mit Wissenschaft und Verbänden sowie Armutsbetroffenen“ (ebd.) zur Erstellung des 5. ARB auf. Dass diese Maßnahmen kaum dazu geeignet scheinen, um diesem strukturellen und sich offenbar sogar verschärfendem32 Problem beizukommen, kann kaum bezweifelt werden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Kurzfassung des Berichts das ansonsten übliche Muster der Behandlung der Schwierigkeiten verlässt: Ausgerechnet bei diesem Politikfeld erfolgt keine Auflistung dessen – eben mit Ausnahme der Erwähnung der Dialogprozesse –, was bereits alles getan wurde und vor allem auch kein Ausblick darauf, was die Politik in Zukunft zu tun gedenkt (vgl. ebd., S. XLII). Insofern scheint die Politik diesem Problem gegenüber weitestgehend ratlos zu sein. Gegenüber Hegel besteht der Fortschritt in dieser Hinsicht also fraglos darin, die politische Brisanz der Armuts-Frage erkannt zu haben, zugleich jedoch eine adäquate Antwort hierauf bislang schuldig zu bleiben.
32 Die zitierten Statistiken im Bericht zum Zusammenhang zwischen Einkommen und politischem Interesse sowie Betätigung zeichnen im Bericht ein detailliertes Bild von dessen zeitlicher Entwicklung; demnach ist beispielsweise die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl bei den Personen mit geringem Einkommen in den letzten Jahren signifikant zurückgegangen (vgl. ebd., S. 165).
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5.3 RESÜMIERENDE SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE MÖGLICHKEIT DER SELBSTVERWIRKLICHUNG UND DIE ARMUTSFORSCHUNG Aus der vergleichenden Analyse des 5. ARB mit Hilfe der Hegelschen Argumentation lassen sich Schlussfolgerungen sowohl für das Konzept der Selbstverwirklichung als auch für die Armutsforschung ziehen. In Bezug auf ersteres möchte ich dafür argumentieren, dass sich durch die Beschreibung und Analyse der Lebenslagen in Deutschland der von Armut Betroffenen Erkenntnisse gewinnen lassen, um die Hegels Ausführungen ergänzt bzw. korrigiert werden müssen. Zunächst wird die ökonomische Freiheit als bloßer Grundlage für Selbstverwirklichung für die Armen zum eigentlichen Inhalt des Lebens, die alle anderen Dimensionen des Menschen, insbesondere die politische, degradiert: Die theoretischen und praktischen Sorgen um die Lebensnotwendigkeiten beherrschen den Alltag. Hegel erkennt, dass der Bourgeois auf den Standpunkt des Kampfes gestellt ist, jedoch geht er davon aus, dass sich dieser auf die ökonomische Sphäre begrenzt und auch einhegen lässt. Der Eigentümer muss sich unter anderem auf dem Arbeitsmarkt bewähren, um seine eigene Reproduktion sowie die seiner Familie zu sichern. Der 5. ARB zeigt jedoch, dass diese „Einhegung“ des Standpunktes auf einen Bereich des Lebens nicht gelingt, wenn das Sich-Kümmern um die eigenen Mittel prekär ist. Das Leben gerät so zu einer permanenten Bewährungsprobe, bei der es darauf ankommt, die Chancen für die eigene Bildungs- und Arbeitsbiographie wahrzunehmen. Die aus dem Bericht übernommene Graphik in Abschnitt 5.2.1 zeigt, dass das Individuum heute vom Übertritt in die Grundschule bis zum Rentenalter prekäre Übergänge zu meistern hat, die eine permanente Unsicherheit in der Existenz bedeuten. Bei den armen Schichten spitzt sich dies zu: Die Sorge um die materielle Existenz überlagert alles andere. Dies hat die Konsequenz, dass man praktisch und geistig mit dem Kümmern um ein möglichst gutes Auskommen bzw. um eine Verbesserung der eigenen Lage beschäftigt ist. Alle anderen Sphären des Lebens wie die politische – was vor allem mit Blick auf Hegels Verständnis vom zoon politikon besonders fatal ist – geraten dadurch in den Hintergrund. Dem Philosophen entgeht also, so lässt sich rückschließen, dass sich aus all den Schwierigkeiten für den Eigentümer bei der Bewährung auf dem Markt eine Konsequenz für die Selbstverwirklichung des Menschen ergibt. Ist das Materielle eigentlich nur die Basis für die Erfüllung des politischen und sittlichen Bildungsauftrages, wird die Bewältigung des Kampfes in der Sphäre der Ökonomie bei den Armen zum dominierenden Inhalt des Lebens. Die von Hegel vorgenommene Einordnung der Ökonomie als bloße Grundlage für die Verwirklichung des Eigentlichen der menschlichen Natur ist damit nicht haltbar. Der Standpunkt des Kampfes, auf dem man in der bürgerlichen Gesellschaft Hegel zufolge gestellt ist, wird zum
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das ganze Leben beherrschenden Prinzip mit fatalen Konsequenzen für die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten und damit auch für das politische Gemeinwesen. Aus den herausgearbeiteten Mängeln sowohl der empirischen Betrachtung des 5. ARB als auch der Hegelschen Analyse lassen sich außerdem Folgerungen für die Armutsforschung gewinnen, die in diesem Kapitel nur angedeutet werden können. Wie herausgearbeitet, können die jeweiligen Defizite aufgehoben werden, indem die Wissenschaft die empirisch-quantitative, also die Lebenswelt darstellende Betrachtungsweise, mit der politikphilosophischen verbindet. So verliert der 5. ARB durch die detaillierte Beschreibung der einzelnen Lebenslagen, -phasen, Übergänge und damit Risikofaktoren, die sich im Laufe eines Lebens ergeben können, den Grund für die Armut aus dem Blick. Hegels Analyse ermöglicht eine Bestimmung der Armutsursache, indem er sich von dem vielfältigen Material geistig distanziert und das einigende Band ergründet. Zugleich jedoch entgehen ihm dadurch die praktischen Auswirkungen des Prinzips auf das betroffene Individuum. Weder sieht er den umfassenden politischen Betreuungsbedarf, der sich nicht allein auf den Sozialstaat beschränkt, sondern unter anderem bildungs-, arbeitsmarkt-, und integrationspolitische Maßnahmen erfordert. Auch hat er kein Bewusstsein von der politischen Brisanz der Armutsfrage, die nicht durch eine Begrenzung auf ihre relative Form entschärft werden kann. Die Verbindung der beiden wissenschaftlichen Perspektiven, wie sie hier angedeutet wurde, kann diese Defizite theoretisch überwinden. Neben der hier angedeuteten Synthese lässt sich eine weitere Erkenntnis gewinnen, die für die Armutsforschung nicht die Verbindung der beiden Betrachtungsweisen bedeutet, um deren jeweilige Mängel aufzuheben, sondern eine Distanzierung von beiden erfordert: Wie herausgearbeitet, ist der Hegelschen Untersuchung und derjenigen des Berichts gemeinsam, dass sie Armut im Ausgangspunkt als Problem für das betroffene Individuum begreifen, jedoch in einem zweiten Schritt eine entscheidende theoretische Verschiebung hin zur Auffassung von Armut als sozialer Frage vornehmen. Während zunächst also die defizitäre Situation des Einzelnen mit den jeweiligen Konsequenzen für seine Selbstverwirklichung im Fokus der Betrachtung steht, geht es in einem zweiten Schritt primär um die Folgen für Staat und Gesellschaft. Materielle Deprivation ist damit einem übergeordneten Gesichtspunkt subsumiert. Sie stellt ein Problem dar, weil ein Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft droht, der soziale Frieden gefährdet werden könnte und dem Gemeinwesen Potenzen für ein größeres Wirtschaftswachstum entgehen. Diese Perspektive auf die Armut ist sowohl bei Hegel als auch bei der Bundesregierung identisch. Sie müsste meines Erachtens von der Armutsforschung hinterfragt werden – mit einer wesentlichen Konsequenz: Der „Doppelcharakter der Armutsberichterstattung, die sowohl Ungleichheitsforschung wie Politikberatung betreibt“ (Groh-Samberg 2009, S. 28), muss reflektiert und letztlich neu justiert werden. An der hier angedeuteten Synthese zeigt sich meines Erachtens, dass die Mehrheit der Wissenschaftler die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der
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Bundesregierung unzulänglich kritisieren, wenn sie sich allein darauf beschränken, bestimmte statistische Ergebnisse, die Vernachlässigung einzelner Lebenslagen oder die vermeintliche politische Entschärfung des Berichts zu diskutieren.33 Dass der Bericht die strukturell begründete Armut in eine Verkettung von Risikofaktoren auflöst, wo die Ursache vielmehr in den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft selbst liegt, entgeht ihr weitestgehend. Dieses Defizit liegt, so möchte ich argumentieren, im fehlenden Hinterfragen der Perspektive, die die Bundesregierung (und Hegel) auf die Armen einnehmen und die im Laufe dieser Arbeit anhand der Argumentation ausführlich gekennzeichnet wurde: Dass nicht ihre Lage an sich ein Problem darstellt, sondern sie als Problem für unser Gemeinwesen betrachtet werden bzw. Armut als soziale Frage besprochen wird, nimmt weder die offizielle Berichterstattung noch die Armutsforschung als Verwandlung des und Distanzierung von ihrem Ausgangspunkt wahr. Insofern gilt es also, den theoretischen Schwerpunkt der Armutsforschung im Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politikberatung in Zukunft neu zu setzen.
33 Vgl. bspw. Butterwegge in Zeit online vom 12.04.2017: „Zensiert und geschönt“.
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Hegel zufolge stellt Selbsterkenntnis und damit Selbstverwirklichung ein absolutes Gebot dar, das der Mensch als „allgemeine[s] Ich“ (Enz. III, § 433, Zus.) seinem Begriff nach zu erfüllen hat. Die Stufen dieses Prozesses nachzuvollziehen, führt notwendigerweise zum Problem der Armut. Zunächst jedoch müssen Hegels anthropologische Bestimmungen analysiert werden. Denken und Wille stellen die Elementarbestimmungen des Menschen dar, aus denen sich ergibt, dass a) sich das menschliche Subjekt im Kontakt mit dem Äußeren nicht verliert, sondern in der Praxis des „absolute[n] Idealismus“ (Enz. II, § 337, Zus.) sich als Träger der Vernunft als überindividueller Eigenschaft erkennt. b) sich das Subjekt aufgrund dieses ihm zukommenden Bildungsauftrags in einem permanenten Prozess der Selbst- und Weltaneignung befindet, in dem es sich selbst und die Umwelt im weitesten Sinn durch „theoretische[s] und praktische[s] Verhalten“ (GPR, § 4, Zus.) aneignet. c) der Mensch zu der Erkenntnis gelangen muss, ein zoon politikon zu sein, das sich Freiheit selbst und damit auch deren Verwirklichung in der Welt zum Willensinhalt setzt. Gelungene Selbsterkenntnis bedeutet gelungene Selbstverwirklichung als zur Freiheit bestimmtes Wesen, das die Differenz zwischen Subjektivität und Objektivität geistig und praktisch aufhebt. Der Wille bedarf des Materials seiner Weltaneignung, was in die Sphäre der Ökonomie überleitet. Die Ökonomie stellt für Hegel eine „formelle“ (Enz. III, § 517) bzw. „äußerliche“ (Enz. III, § 534) Allgemeinheit dar. Dies ist darin begründet, dass a) das Eigentumsrecht ignorant gegenüber der Bedürfnisbefriedigung ist und mit ihm ein negativer gesellschaftlicher Zusammenhang etabliert ist, der im Vertragsrecht zum Ausdruck kommt.
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| Armut als Unrecht b) durch das Prinzip der Konkurrenz und des anarchisch-ungeplanten Zusammenhangs in der bürgerlichen Gesellschaft notwendigerweise Verlierer produziert werden. Damit liegt bereits auf der Ebene des abstrakten Rechts das Phänomen der Armut begründet, das sich in den verschiedenen Sphären perpetuieren wird. c) das Eingreifen des „Not- und Verstandesstaat[es]“ (GPR, § 183) von den Wirtschaftssubjekten in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft als äußerer Zwang gegen ihren Willen begriffen wird, ihrem Denken und Handeln also nicht immanent ist.
Der Sozialstaat stellt für Hegel eine adäquate Antwort auf die „quälende“ (GPR, § 244, Zus.) Frage der Armut dar, die dieser die Brisanz nimmt, da a) er durch Kompensation zwar nicht materielle Deprivation, jedoch die absolute Form der Armut beseitigt. b) eigentlicher Sorgegenstand also nicht die Not an sich, sondern die Erhaltung des Person-Seins der davon Betroffenen sowie die Entstehung eines „Pöbels“ (GPR, § 244) ist. Schließlich stellt die materielle und geistige Deprivation der relativ Armen im Staats-Kapitel für ihn keinen Analysegegenstand mehr dar. c) die relativ Armen nicht nur materielle Hilfe finden, sondern auch einen Grund, um den Staat trotz ihrer ökonomischen Situation zu affirmieren. Die Lösung der Armut als soziale Frage bzw. deren Betrachtung aus der Perspektive des Staates begründet also, weswegen sich Hegels Selbsteinschätzung zufolge aus dem ökonomischen kein politisches Problem entwickelt, das bei der Analyse des Staates explizit zu behandeln ist. Der Mensch als genuin politisches Wesen bedarf der staatlichen Gemeinschaft, um sich zu verwirklichen. Der Staat stellt für Hegel eine „gewußte“ (Enz. III, § 535) und „substantielle“ (Enz. III, § 534) Allgemeinheit dar. Dies impliziert a) ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bürger und Staat: beide können ihren Begriff nicht ohne den anderen verwirklichen. b) zwei Ebenen der Verwirklichung: eine epistemische und eine praktische. c) Gelingt die Entwicklung dieses Verhältnisses, handelt es sich um eine vermittelte Einheit in einer politischen Lebensform. Die Möglichkeit der Selbstverwirklichung bzw. der Realisierung des Begriffs des allgemeinen Ich teilt sich in der Sphäre des objektiven Geistes auf: I. Individuen, die erfolgreich an der ökonomischen Konkurrenz teilnehmen, a) haben die materiellen Bedingungen, um den dem Menschen an sich zukommenden Bildungsauftrag zu erfüllen.
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b) haben wegen der Interessensidentität zum Staat Grund zur Entwicklung einer patriotischen Gesinnung, die den Staat zur gewussten Allgemeinheit werden lässt. c) leben ihre Staatsgesinnung vermittelt über die Korporationen und sind aufgrund ihres Vermögens prädestiniert für das politische Tätigsein im allgemeinen Stand. Sie können also durch ihr staatsbürgerliches Denken und Tätigsein ihre Natur als zoon politikon und dadurch zugleich den Begriff des Staates als gewusste und substantielle Allgemeinheit verwirklichen. II. Individuen, die es nicht vermögen, selbst für ihre Subsistenz zu sorgen, a) haben zwar als Menschen Teil an der überindividuellen Vernunft, jedoch ermangelt es ihnen an den Voraussetzungen zur Entwicklung eines allgemeinen Willens, sodass die Realisierung des Bildungsauftrages nicht oder nur bedingt erfüllt werden kann. b) werden den Staat nicht oder nur bedingt als wahrhafte Allgemeinheit erkennen können, sodass die ökonomische Deprivation eine politische Bedeutung erhält. c) können ihre politische Gesinnung – selbst, wenn diese vorhanden ist – kaum praktizieren, da sie von den Korporationen ausgeschlossen sind und eine besondere Eignung für den allgemeinen Stand – abgesehen vom fehlenden Vermögen, das durch Alimentierung ersetzt werden kann – durch politische Bildung in geringerem Maße gegeben ist. Ihre Fähigkeit zur Verwirklichung ihrer politischen Dimension des MenschSeins ist bei ihnen graduell eingeschränkt, sodass neben der individuellen Deprivation auch der Staat als gelebte Bürgergesinnung nicht auf diesem Teil seines Volkes beruht und sich daraus gemäß dem Wechselverhältnis ein Mangel für diesen anund-für-sich ergibt. Die Sphäre des absoluten Geistes kommt in den Blick unter dem Gesichtspunkt, dass der Mensch in ihr seinen ihm zukommenden Bildungsauftrag verwirklicht. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit an dieser auch die von Armut Betroffenen partizipieren können – erstens aufgrund des anthropologischen Verständnisses des Bildungsauftrags, zweitens vor allem in sittlicher und politischer Hinsicht, da der anspruchsvolle Begriff des Hegelschen Staates eine Erkenntnis seines Wesens von den Bürgern erfordert. Das Künstlerleben a) stellt eine Form der Selbstverwirklichung dar, die jedoch aufgrund der erforderlichen „Naturanlage und Naturtrieb[es]“ (VÄ, S. 63) keine des allge-
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meinen Ich ist. Es markiert die Emergenz der Pluralität der Lebensweisen, die bislang dem Begriff nach nicht intendiert war. b) ist trotz des ihm zukommenden „Genie[s]“ (Enz. III, § 560) keine reine Frage der Subjektivität: Inhaltlich stellt das Kunstwerk eine Manifestation der Vernunft dar und ist damit frei von „Manier“ (VÄ I, S. 385). c) Diese Allgemeinheit des Inhalts ist durch das spezifische Medium der Kunst, das sich an die Sinne des Rezipienten richtet, allen Subjekten zugänglich. So erfüllt die Kunst ihre Aufgabe als „Lehrerin der Völker“ (VGP I, S. 90) bzw. Vermittlerin der Sittlichkeit. Der von Hegel postulierten fehlenden Allgemeinheit dieser Lebensform kommt trotz ihrer Exklusivität keine Sprengkraft zu, da sie kompensiert wird durch die Allgemeinheit des Inhalts, die in Form der Anschauung (Enz. III, § 556) allen zugänglich ist. Die Kunst enthält neben der Religion dadurch die staatsnützliche Funktion der Abwehr einer drohenden sittlichen Verwahrlosung in Folge von materieller Armut. Das Leben des Philosophen a) ist zwar in potentia bei allen Individuen angelegt, wird jedoch aufgrund von fehlenden materiellen Bedingungen und/oder der erforderlichen geistigen Anstrengung durch die spezifischen Anforderungen der Philosophie von nur wenigen verwirklicht. b) stellt die höchste Form der Selbstverwirklichung dar, weil in ihm die differentia specifica des Menschen zur höchsten Entwicklung kommt: Der Mensch wird zum an-und-für-sich Vernünftigen, das allgemeine Ich bringt mit dem Standpunkt der Philosophie das „Absolut-Allgemeine“ (Enz. III, § 577) zur Existenz. c) ist beim Praktizieren dieses Standpunkts also frei von jeglicher Partikularität, sodass der Philosoph als besonderes Individuum gänzlich aus dem Denkprozess und -resultat verschwindet; seine Ontogenese dient, bringt in Existenz und entwickelt den allgemeinen Geist bzw. die Vernunft. Zur Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft in Arm und Reich tritt nun eine weitere in Philosophen und Nicht-Philosophen hinzu. Da nur Letztere das absolute Gebot der Selbstverwirklichung als allgemeines Ich in Gänze verwirklichen, stellt diese Scheidung eine Provokation für den Rest der Gesellschaft dar. Entgegen der ersten Spaltung lässt sich diese Differenzierung hegelimmanent jedoch legitimieren, da a) sie – bei gleichen Voraussetzungen bzw. der Aufhebung der ökonomischen Spaltung – rein eine Frage des Willens der Subjekte darstellt, deren Freiheit also nicht negiert wird.
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b) sich das philosophierende Individuum durch die Abstraktion von jeglicher Besonderheit und die Verwirklichung des Allgemeinen auszeichnet, damit also keine normative Erhebung des Einzelnen über die anderen Gesellschaftsmitglieder verbunden ist. c) dem Philosophen und insbesondere dem politischen Philosophen analog zur Kunst die Rolle des Lehrers der Völker zukommt, der zu einer Verallgemeinerung der Vernunft im Volk und damit auch zu einem Begreifen des Staates als gewusster Allgemeinheit beiträgt. Auf Basis der gewonnen Erkenntnisse über den Hegelschen Begriff von Selbstverwirklichung und Armut erfolgt eine Analyse des empirisch-quantitativ ausgerichteten fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Eine Synthese aus beiden Ansätzen soll eine fruchtbare Perspektive für die aktuelle Armutsforschung aufzeigen. Sowohl Hegel als auch der ARB gehen davon aus, dass es einen engen Zusammenhang zwischen fehlenden Selbstverwirklichungsmöglichkeiten und Armut gibt. a) Während Selbstverwirklichung bei Hegel als politikphilosophischer Bildungsauftrag verstanden wird, steht im ARB die Ermöglichung von Teilhabechancen im sozialen Leben und demokratischen Staat im Fokus der Betrachtung. b) Auf dieser gemeinsamen Basis eines unterschiedlichen Konzeptes von Selbstverwirklichung nehmen sie die identische Perspektive ein: Armut wird verstanden als soziale Frage. c) Daraus ergibt sich, dass absolute Armut aufgrund des darin enthaltenen Selbstwiderspruchs der bürgerlichen Prinzipien sowie einer hiervon ausgehenden Gefahr für das Gemeinwesen zu beseitigen ist, während ihre relative Form eine Verwaltung durch den Sozialstaat erfährt und als solche also existent bleibt. Neben diesen Identitäten existieren zwischen Hegels Analyse und der des ARB jedoch auch Differenzen, die die Mängel und Grenzen der jeweiligen isolierten Betrachtungsweise als empirisch-quantitatives bzw. politikphilosophisches Problem verdeutlichen: a) Der ARB verliert in der detaillierten Ausarbeitung und Messung der verschiedenen Facetten der Armut die Ursache und damit das Prinzip dieses Phänomens aus dem Blick. Während Hegel sie auf ihren Grund zurückführt, fehlt dieses Bewusstsein im ARB durch die Auflösung des Prinzips der Armut in unterschiedlichste Erscheinungen in Lebensphasen, Lebenslagen und Risikofaktoren.
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b) Hegel verkennt, dass es sich bei dem in Freiheit gesetzten Eigentümer um eine Abstraktion handelt, die als wahrgemachte nicht nur sozialstaatliche Kompensation nach verlorener Konkurrenz erforderlich macht. Weil die Menschen hinsichtlich ihrer Mittel und Voraussetzungen ungleich sind, stellt die Betreuung der Armut eine – vor allem auch hinsichtlich der politischen Dimension – zahlreiche Politikfelder umfassende Aufgabe für den Staat dar. Für die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zeigt sich: Der Kampf um die ökonomische Freiheit als bloße Grundlage für Selbstverwirklichung wird zunehmend zum eigentlichen Inhalt des Lebens, der alle anderen Dimensionen des Menschen, insbesondere die politische, degradiert. Die Armutsforschung kann die herausgearbeiteten theoretischen Mängel aufheben, indem sie die empirisch-quantitative, also die Lebenswelt beschreibende Betrachtungsweise mit der politiktheoretischen verbindet. Erforderlich ist außerdem eine theoretische Neujustierung im Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politikberatung.
Literaturverzeichnis
I QUELLEN Die Werke Hegels werden nach folgender Ausgabe zitiert: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1969 ff. Hegel, G.W. Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 810 (Zitiert als Enz. I-III). Hegel, G.W. Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7 (Zitiert als GPR). Hegel, G. W. Friedrich: Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin, in: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 10 (Zitiert als KRL). Hegel, G.W. Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Bd. 3 (Zitiert als PdG). Hegel, G.W. Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd.13-15 (Zitiert als VÄ IIII). Hegel, G.W. Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 1820 (Zitiert als VGP I-III). Hegel, G.W. Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 12 (Zitiert als VPG). Hegel, G.W. Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I-II, Bd. 1617 (Zitiert als VPhR). Hegel, G.W. Friedrich: Wissenschaft der Logik, Bd. 5-6 (Zitiert als WdL I-II). Vorlesungsnachschriften Hegel, G. W. Friedrich: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidel-berg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19), herausgegeben von KarlHeinz Ilting, Stuttgart 1983 (Zitiert als WHGPR).
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