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German Pages [242] Year 2014
V
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525854273 — ISBN E-Book: 9783647854274
Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen Herausgegeben von der Stadt Göttingen Schriftleitung: Ernst Böhme, Stadtarchiv Band 25
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Jürgen Schallmann
Arme und Armut in Göttingen 1860–1914
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Mit 20 Diagrammen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-85427-3 ISBN 978-3-647-85427-4 (E-Book) Umschlagabbildung: »Die Almosenspende« © Foto: Göttingen Tourismus e. V. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Das Umfeld: Göttingen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.1 Sozialstruktur, Verdienste und Kosten in Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.2 Wohnen in Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Die Armen: Wer und was ist arm in Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . 38 2.1 Die neuen Sozialversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.2 Die Göttinger Armen des Jahres 1885 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Gesetze zur Armenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Fürsorgekonzepte im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Gesuche und Armenpfleger: Der Weg zur Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.1 Das Unterstützungsgesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.2 Der Armenpfleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 6. Die städtischen Institutionen der Armenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 6.1 Allgemeine Tendenzen kommunaler Armenpflege im 19. Jahrhundert . 74 6.2 Die Organisation der Göttinger Armenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 6.3 Die Göttinger Armenkasse: Wege der Professionalisierung 1860–1914? 87 6.4 Die Geldunterstützungen der Armenkasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6.5 Das städtische Hospital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
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6
Inhalt
6.6 Die Differenzierung der Armen: Siechenhaus und Geschwister-Reinhold-Stift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6.7 Das Armenarbeitshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 7. Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Wohltätige Vorschuss-Anstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Der Göttinger Frauenverein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Der Verein gegen Verarmung und Bettelei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Die Herberge zur Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die Pestalozzi-Schulstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Der Verein zur Fürsorge für entlassene Gefangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Das Zusammenspiel der Göttinger Wohlfahrtsvereine . . . . . . . . . . . . . . . .
123 126 130 134 147 150 152 153
8. Die Armenpflege der Kirchengemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Innere Mission als Vordenker in der Armenpflege . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Armenpflege der evangelischen Amtskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die Armenpflege der evangelischen Kirchengemeinden in Göttingen . . 8.4 Die Armenpflege der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157 157 162 165 173
9. Universität und Armenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 9.1 Die Frauenklinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 9.2 Das Waisenhaus der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 10. Strategien und Lebensweisen der Armen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Der Fall in tiefe Armut: Henriette und Gottfried Kutscher . . . . . . . . . . . 10.2 Aufstieg aus tiefer Armut: der Trinker Keuffel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Flucht aus Göttingen. Flucht aus der Armut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Die Göttinger Armen und ihre Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Widerstand gegen die Ortsobrigkeit? Beschwerden und Eingaben . . . . 10.6 Ein armes Leben: Carl Wienecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 188 190 191 196 204 207
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Verzeichnis der Diagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
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Vorwort
Es ist mir eine besondere Freude, die Untersuchung von Jürgen Schallmann »Arme und Armut in Göttingen 1860–1914« als Band 25 in den »Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen« publizieren zu können. Diese 1960 von Walter Nissen begründete und dann von Helga-Maria Kühn fortgesetzte Reihe hat es sich zur Aufgabe gesetzt, herausragende Monografien zur Göttinger Stadtgeschichte zu veröffentlichen. Diesem selbstgesetzten Anspruch sind die »Studien« über fast fünfundfünfzig Jahre gerecht geworden. Die vorliegende Arbeit ist zweifellos ein würdiger Jubiläumsband! Entstanden ist die Untersuchung Schallmanns zur Geschichte der Armut und des Armenwesens in Göttingen um 1900 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Es zeichnet diese Arbeit aus, dass der Verfasser methodisch ganz neue Wege gegangen ist – ein Befund, der sich auch in dem Prädikat magna cum laude spiegelt. Bisher wurde das Thema Armut vor allem anhand der Gesetze und Verordnungen bzw. dem Handeln der Behörden untersucht. Die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Armen gelangten dagegen nur ansatzweise in den Blick. Schallmann hingegen gelingt genau dies: Durch intensive Auswertung der in den Akten dokumentierten Einzelschicksale und den Aufbau einer umfassenden Datenbank kommt er den armen Menschen, ihren Lebensläufen und Handlungsweisen ebenso auf die Spur wie denjenigen Personen, die ihnen als Vertreter der Obrigkeit gegenüberstanden. Schallmann ist mit seiner Untersuchung der sozialen Verhältnisse in Göttingen um 1900 eine bemerkenswerte Pionierleistung gelungen, die in der deutschen Sozialgeschichtsforschung sicher weithin Beachtung finden wird. Dr. Ernst Böhme
Göttingen, Februar 2014
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Vorbemerkung
Armut ist kein erfreuliches Thema. Hunger und Kälte, Schmutz und Krankheit sind die typischen Assoziationen. Ein Happy-End gibt es hier nicht, zu oft standen individuelle Probleme und gesellschaftliche Schranken einer dauerhaften Wendung entgegen. Trotzdem hat dieses unerfreuliche Thema von Anfang an Interesse und Unterstützung erfahren hat. Das Ende dieser Arbeit ist auch die Gelegenheit, Danke zu sagen. Zuerst kommt hier meine Familie. Hier muss ich mehr tun, hier muss ich Abbitte leisten für viele Jahre Eskapaden und Geschichten aus dem Archiv. An meinen Kindern konnte ich in Zentimetern sehen, wie die Zeit verfloss, ohne dass die Arbeit wuchs. Dazu übte meine Frau mit dem ihr eigenen Blick für das Wesentliche immer wieder Kritik an meinen Zwischenergebnissen. Während all der Zeit betreute Prof. Dr. Rebekka Habermas geduldig die Arbeit. In ihrem Kolloquium erfuhr ich viele Anregungen und Warnungen vor Irrwegen. Zu Beginn dieser Arbeit standen Prof. Dr. Florian Tennstedt und Dr. Wolfgang Ayaß immer wieder mit Rat und Tat zur Seite. Am Ende drängte Prof. Dr. Peter Lundgreen mit seinem Pragmatismus auf die Fertigstellung der Arbeit. Ganz besonders Dr. Ernst Böhme ermöglichte mir immer wieder Zugang zu den verschiedenen Archivalien. Ihm ist auch die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe »Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen« und die damit verbundende Förderung durch die Stadt Göttingen zu verdanken. Einen ganz besonderen Dank gilt den zahlreichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der zahlreichen Bibliotheken und Archive, die ich in den letzten Jahren immer wieder heimgesucht habe. Danken muss ich auch denen, die am Ende mein Unwissen in Rechtschreibung, Struktur und Geschichte aufgezeigt haben: Roland Kabisch, Burkhard Otte sowie Uwe Ziegler. In all den Jahren sind mir die vergessenen und verachteten Untersuchungsobjekte meiner Arbeit als Menschen näher gekommen. Henriette und Gottfried Kutscher, Carl Wienecke oder Louise Loeser, ihnen allen gilt meine Arbeit. Jürgen Schallmann
Göttingen im Januar 2014
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Einleitung
Am 8. Dezember 1877 wurde der 64-jährige Handarbeiter Georg Simsen nach knapp einem Monat Aufenthalt aus dem Göttinger Armenarbeitshaus entlassen.1
Dieser Einzelfall, dem niemand irgendeine größere Bedeutung zugemessen hat, wirft einige Fragen auf, die letztendlich unser Unwissen über Arme, das Leben in Armut und die Praxis der Armenpflege sowie die Armenpolitik im 19. Jahrhundert zeigen. Im Winter fallen witterungsbedingt Verdienstmöglichkeiten weg. Dafür steigen die Lebenshaltungskosten, ebenso witterungsbedingt. Wie hat also Georg Simsen – mit 64 Jahren auch nicht mehr der leistungsfähigste »Handarbeiter« – diese Herausforderung gemeistert? Er brauchte eine Unterkunft sowie eine Arbeit, um diese Unterkunft zu bezahlen und seinen sonstigen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wieso wurden Menschen aus dem Armenarbeitshaus im Spätherbst entlassen, wenn die äußeren Umstände eigentlich für eine weiter andauernde Unterstützung sprechen sollten? Georg Simsen muss wenigstens Möglichkeiten für ein Überleben außerhalb der Anstalt gesehen haben, sonst wäre er nicht gegangen. Die städtischen Behörden müssen diese Möglichkeiten ebenfalls gesehen haben, sonst hätten sie ihn nicht gehen lassen. Von diesem kleinen Beispiel ausgehend stellen sich die Fragen nach dem Alltag und der Praxis der Armenpflege im 19. Jahrhundert in einer typischen deutschen Klein- oder Mittelstadt, in diesem Falle dem eher speziellen Göttingen mit seiner Universität. Wie waren die Beziehungen zwischen Armen und Obrigkeit, zwischen Unterstützungsbedürftigen/-beziehern und Armenpflegern? Welche Möglichkeiten hatten die Armen, sich mit Hilfe der verschiedenen Institutionen der Armenpflege eine Existenz zu sichern? Konnten diese etwa sogar einzelne Institutionen oder Funktionen dieses Armenpflegesystems entgegen den ursprünglichen Absichten der Armenpfleger für ihre eigenen Interessen nutzen? 1
StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 284.
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Einleitung
Welche Möglichkeiten hatten im Gegenzug aber die kommunalen Obrigkeiten, »die Armut«, die Armen, in ihrem Sinne zu lenken? Wie reagierten die Obrigkeiten auf äußere Einflüsse, seien es Gesetze und Vorschriften oder Diskussionen von einzelnen Aspekten der Armut? 1878 bat die »Wittwe« Charlotte Isenbiel vergeblich um Unterstützung, um verpfändete Kleidungsstücke wieder auszulösen und um aus der Armut wieder herauszukommen. Nach eigener Beschreibung war sie durch den Tod ihres Mannes, eines »Pensionärs«, in diese Notlage gekommen.2
An den geringen materiellen Mitteln der »Wittwe« sollte kein Zweifel bestehen, an den verpfändeten Kleidungsstücken ebenso wenig wie an dem Tod des Mannes. Warum also wurde das Gesuch abgelehnt? Vielleicht hat die »Wittwe« ihre Lage übertrieben dargestellt, war sie nicht arm, sodass die Unterstützung abgelehnt wurde? Vielleicht hat sie aber auch schlicht den richtigen Ton in ihrem Gesuch nicht getroffen oder die falsche Person angesprochen oder das Gesuch zur falschen Zeit, in Zeiten einer (beinahe) leeren Armenkasse, gestellt. Die Frage kann also nicht sein, ob etwas gefehlt hat oder zu welcher Zeit etwas gefehlt hat, um als »arm« und »unterstützungsbedürftig« zu gelten. Im Zweifel wird der Armenpfleger als Kontrolleur der Armen immer ein »Laken« gefunden haben, was er im Gegensatz zum »Armen« als disponibel ansah. Das »Laken« kann dabei durchaus als Synonym für jeden veräußerbaren Gegenstand gelten. Anhand des »Lakens« können vielleicht nicht alle, so doch viele Diskussionen zwischen Armen und Armenpfleger festgemacht werden: Zuerst einmal, welcher materielle Wert wurde dem »Laken« gegeben? Danach: welchen Sinn hatte das »Laken«? Es wäre keine Überraschung, gäbe der Armenpfleger dem materiellen Wert des »Lakens«, dem Verkauf, den Vorrang, um den »Armen« noch einige Zeit von der Armenpflege fern zu halten. Für den »Armen« kann dieses Laken dagegen ganz unterschiedliche Bedeutungen gehabt haben, die die Veräußerung allesamt nicht einfacher machten: etwa als Symbol für einen besseren Status und damit als Erinnerung an eine bessere Vergangenheit. Dies führt zu der Frage, was Armut eigentlich war. Wie groß musste ein Mangel sein, um eine »Armenhilfe« zu bekommen? Was musste fehlen, um die formale Anforderung an eine Art von »Armenunterstützung« zu erfüllen? Eine einheitliche und allgemein akzeptierte Definition zu »Armut« findet sich nicht. Selbst für den modernen Mangel, der heutigen Armut, fehlt eine wissenschaftlich exakte Definition. Als gebräuchlich und in der bürokratischen Anwendung praktisch 2
StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1.
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Einleitung
erweisen sich Definitionen, die sich an der materiellen Lage orientieren. Immaterielle Formen, kulturelle Formen von Armut werden dadurch ausgeschlossen. Der gesellschaftlichen Teilhabe von Personen kann nicht nachgespürt werden. Wie soll z. B. ein Wirtshausbesuch – für das 19. Jahrhundert unverzichtbarer Bestandteil gesellschaftlicher Kommunikation – gewertet werden? Nach dem Ruf des Wirtshauses, nach der Dauer des Aufenthaltes und der Menge der konsumierten Getränke oder der Anzahl der Besuche? Wie soll der Wirtshausbesuch gegenüber anderen Formen wie Theaterbesuch, Tanzvergnügen gewichtet werden? Und nicht zu vergessen: woher sollen die flächendeckenden Informationen dazu kommen? Materielle Formen sind relativ leicht messbar und kontrollierbar. Dabei gilt als »arm«, wer bestimmte, festgelegte Besitz- und Einkommensgrenzen unterschreitet.3 Es gilt also, dem Mangel – dem Nicht-vorhandenen – nachzuspüren: Welcher Einkommensausfall konnte durch nicht vorhandenes Vermögen nicht ausgeglichen werden und zwang zur Armenfürsorge? Zumindest in der historischen Forschung hat der Armutsbegriff eine Erweiterung um die soziale Dimension erfahren: verschiedenste soziale Netzwerke wie Familie, aber auch Zünfte oder Innungen, konnten ihre Mitglieder nicht weiter vor der Armut bewahren und die betroffenen Personen mussten um öffentliche Unterstützung nachsuchen.4 Mit dem Wissen um diese Möglichkeiten müssen die Armendefinition des 19. Jahrhunderts rekonstruiert werden. Schließlich wurden diese angewandt, die zeitgenössische Armut zu bestimmen, zu klassifizieren, zu beschreiben. Armenunterstützungen werden für die Bezieher als eine wenig erstrebenswerte Gabe angesehen. Da sie wenigstens einen Teil des alltäglichen Überlebens absichern konnten, hatten sie aber durchaus erstrebenswerte Momente. Daher darf nicht nur nach den sozialen Netzwerken wie Familien oder Freunden gefragt werden, die ein Abgleiten in die öffentliche Fürsorge verhindern konnten, sondern auch nach den Netzwerken, die eine erstrebenswerte Unterstützung wie weniger diskriminierende Geldgeschenke eines Vereines ermöglichen konnten. Was war aber das Ziel von »Armenunterstützung«? Für die Personen, die die Hilfe beantragt hatten, findet sich die Antwort leicht: sie wollten schlicht ihr Überleben sichern. Für die Unterstützer dagegen lassen sich viele Antworten geben: einige wollten den Armen helfen, andere nur bestimmten Armengruppen; manche hatten ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft, ihrer Stadt oder nur dem Etat ihrer Stadtkasse, aus der die Armenhilfen bezahlt wurden. Gerade diese letzte Gruppe versuchte dann, durch Druck auf die Empfänger Verhaltensänderungen zu erzwingen, die die Armenunterstützung unnötig machen sollten; 3 4
Vgl. Jacobs, Armut, S. 237–268. Zusammenfassend: Bräuer, Ein Quelleninventar zur sächsischen Armenproblematik, S. 45–66.
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Einleitung
sie versuchten die Empfänger zu disziplinieren und zu erziehen. Entsprechend wird Armenpolitik seit Michel Foucaults Studie »Überwachen und Strafen« im Kontext der für die Frühe Neuzeit aufgestellten Sozialdisziplinierungsthese diskutiert. Die beiden Armutsforscher Christoph Sachße und Florian Tennstedt haben bereits in ihren in den 1980er-Jahren vorgelegten Arbeiten Armenpolitik auch unter dieser sozialdisziplinarischen Perspektive betrachtet.5 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept geleistet werden. Grenzen sieht die Forschung vor allem in der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit des Staates. Es wurden z. B. nur die wenigsten Bettelverordnungen auch wirklich durchgesetzt.6 Michel Foucault geht bei den in der Frühen Neuzeit errichteten Armenarbeitshäusern oder Zuchthäusern davon aus, dass die Armen zu Arbeit und zu einem Auskommen ohne Hilfen erzogen werden sollten.7 In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die Kommunen des »Staates« ähnliche Ziele und Probleme bei der Durchsetzung ihrer Vorstellungen gehabt hatten. Zumindest sollte für das gesamte 19. Jahrhundert die Wirksamkeit einer Disziplinierung der Armen kritisch gesehen werden. Der stigmatisierende Charakter sowohl von Armenunterstützung als auch im besonderen Maße von Arbeitsanstalten wird während des gesamten Betrachtungszeitraumes nicht abgenommen haben. Trotzdem hat es für den gesamten Zeitraum mindestens in Form der sogenannten »Wanderarbeiter« genügend Individuen gegeben, die trotz verschiedener (Straf-)Aufenthalte in Arbeitsanstalten und Asylen teils aus Not, teils aber auch freiwillig, das Leben auf der Straße vorzogen. Tatsächlich scheinen die Bedürftigen von den in der Armenpflege tätigen Bürgern zum größten Teil nur als Arbeit und Mühen verursachender Kostenfaktor wahrgenommen worden zu sein. Hier wäre das Ziel der Armenfürsorge – abweichend von Disziplinierungskonzepten – wenigstens in zwei Richtungen zu differenzieren: Bei der ersten Richtung sollten den Bedürftigen des gleichen Standes eine von ihren Standesgenossen akzeptierte Lebensweise ermöglicht werden. Dies betraf aber nur eine winzige Minderheit der »Armen«. Bei der zweiten Richtung sollten die Bedürftigen aus unteren Klassen aus der unmittelbaren Not gebracht werden. Bei der praktizierten Inanspruchnahme und Vergabe von Unterstützungen wären Einblicke in das jeweilige soziale Kapital der Bezieher hilfreich.8 Über 5 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 2, S. 9. 6 Vgl. Breuer, Probleme und Problemverlagerungen, S. 45–69; Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung, S. 5–29; Jütte, »Disziplin zu predigen ist eine Sache, sich ihr zu unterwerfen eine andere«, S. 92–101; Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden, S. 647–663; Landwehr, »Normdurchsetzung« in der Frühen Neuzeit, S. 146–162. 7 Vgl. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 68–98. 8 Vgl. Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, S. 63–70.
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Einleitung
diese könnten Erklärungen gefunden werden, warum z. B. keine Unterstützungsgesuche gestellt wurden oder warum Unterstützte bestimmte oder privilegierte Hilfen bezogen haben.
Erkenntnisinteresse und Fragestellung Aus den kleinen Fragen, die sich aus den Eingangs zitierten alltagspraktischen Beispielen ergeben haben, ergibt sich das übergeordnete Erkenntnisinteresse dieser Arbeit: Wie war die Alltagspraxis der Armenpflege? Ausgehend von anscheinend einfachen Fragen: »Was ist ›Armut‹ im 19. Jahrhundert?« und: »Wer waren überhaupt die Armen des ausgehenden 19. Jahrhunderts?« sollen die Grundlagen geschaffen werden, weitere Fragen zu stellen und – nach Möglichkeit – Ansätze für Antworten zu finden. Letztendlich führen Fragen nach den Strategien der Armen und zu den Beziehungen resp. Verhältnissen zwischen Armen, Armenpflegern und Armenpflegesystem der städtischen Obrigkeit zu der Frage, warum die einen Personen die gewünschten Hilfen erhalten haben und andere Personen nicht. Die Antworten auf diese Fragen lassen sich nur unter Rückgriff auf das Erfahrungswissen der Armen und der Armenpfleger herstellen. Doch wie kann nach mehr als einhundert Jahren dieses Erfahrungswissen um (verstorbene und meist vergessene) Personen und ihre Eigenarten, Institutionen und Vorschriften wieder hergestellt werden? Gesetze und Vorschriften stellen dabei ja kaum große Probleme dar, die konkrete Umsetzung dieser in einer einzelnen Stadt aber schon. Daher müssen die alltäglichen Quellen, das alltäglich anfallende Schrifttum konsultiert werden. Schon das (schriftliche) Gesuch um Unterstützung ist eigentlich ein außergewöhnliches Schriftstück, wurde es doch meist in der außergewöhnlichen Situation des Erstantrages erstellt; ebenso verhält es sich zumeist mit den überlieferten Berichten. Der gleichförmigen Arbeit der Armenverwaltung mit ihren Längen – ja sogar Langeweile – lässt sich am ehesten mit der massenhaften Auswertung der Sitzungsprotokolle, der Rechnungslisten, der Ein- und Ausgangslisten der verschiedenen Anstalten wie Hospital und Arbeitshaus fassen. Eine nach Möglichkeit umfassende Aufnahme und kriteriengestützte Eingabe in eine Datenbank macht es möglich, verschiedene Fragen an das gleiche Material zu stellen: auf der einen Seite kann das Interesse an der Arbeit der Institutionen und Vereine befriedigt werden, auf der anderen Seite können die Wege einzelner Personen durch diese verschiedenen Institutionen und Vereine wieder zusammengefügt werden. Damit kann ein umfassendes Bild über die Funktion und Arbeitsweise der Armenfürsorge entstehen, jenseits der Gesetze, Vorgaben und Fachdiskussionen.
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Einleitung
Gleichzeitig können die Protokolle und Listen Aufschluss über die alltäglichen Diskussionen, die alltägliche Arbeitsweise innerhalb der Armenverwaltung und der einzelnen Einrichtungen geben: Was wurde aufgeschrieben oder berichtet und was fehlt offensichtlich? Die Auswertung gibt auch Aufschluss über das Leben der Armen: Wann hat jemand eine Unterstützung beantragt, wem wurde die Unterstützung gewährt, ja überhaupt erst einmal: was für eine Unterstützung wurde für welchen Zeitraum gewährt, oder wie lange oder zu welchen Zeiten wurden einzelne Arme in verschiedener Weise unterstützt? Durch dieses kleinteilige Vorgehen wird ein Blick auf den Umgang mit Armut im Kaiserreich geworfen. Diese Arbeit kann somit als Baustein genutzt werden, den unterschiedlichen Umgang unterschiedlicher Gesellschaften mit Armut zu untersuchen. Dieser Umgang wirft dann wieder einen Lichtblick auf das Selbstverständnis der jeweiligen Gesellschaft, wirft also ein Licht auf kulturelle Dimensionen von Armut.9
Armenfürsorge in der Forschung Die Entstehung eines Sozial- oder Wohlfahrtsstaates wird sowohl in der soziologischen als auch in der sozialpolitischen Forschung mit den Schlagworten »Kapitalismus« und »Industrialisierung« in Verbindung gebracht. Entsprechend werden die zentral durch das Deutsche Reich eingeführten Arbeiterversicherungsgesetze, resp. deren Ankündigung durch die sog. »Kaiserliche Botschaft« 1881 als Beginn der staatlich organisierten Sozialpolitik gesehen.10 Nach dieser Lesart markierten die Gesetze zur Krankenversicherung (1883), zur Unfallversicherung (1885) und zur Invaliditäts- und Rentenversicherung (1889) den Beginn der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung Deutschlands.11 Hinzu kommt, dass die verschiedenen deutschen Staaten, sei es das Kaiserreich, die Weimarer Republik oder auch die Bundesrepublik Deutschland, sich durch diese Sozialgesetze zumindest teilweise legitimiert haben. Die bisher traditionell der Kommune überlassenen Grundsicherungen gerieten bei diesem Blickwinkel ebenso aus der Sicht wie die verschiedenen Arbeiterschutzgesetze z. B. zur Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit. Diese sind in Preußen teilweise schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und wurden mit der Reichsgründung auf das Reich übertragen. Die 9 Vgl. Schmidt, Religiöse Dimensionen der Armenfürsorge, S. 385–396. 10 Zur Entwicklung der Arbeiterversicherungen im Kaiserreich vgl. Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland. Zur Kritik an den Versicherungen: Machtan (Hg.), Bismarcks Sozialstaat. Siehe auch die verschiedenen Bände der mittlerweile das gesamte Thema weitgehend abdeckenden Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914. 11 Vgl. Lampert u. Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, S. 19 ff.
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Etablierung und Ausweitung der Arbeiterversicherungsgesetze lassen eine entsprechende Auswirkung auf die Armenstatistiken erwarten wie auch die zunehmend anerkannte Schutzbedürftigkeit bestimmter Gruppen, z. B. die der Kinder, Änderungen im Unterstützungsverhalten nahe legen. Die Gründe für diese Dominanz der Sozialversicherungsgesetze in der Forschung sind sicher nicht in der nachrangigen Bedeutung der anderen Gebiete des Sozialstaates zu suchen. Erklären lässt sich dies vielmehr über die zentrale Steuerung der Versicherungsgesetze, mit der damit verbundenen relativ guten vorhandenen Quellenlage und wahrscheinlich auch mit der von den Versicherungsträgern geförderten Erforschung der beinahe durchgängig als »Erfolgsgeschichte« wahrgenommenen Arbeiterversicherungen. So verzichtet die Ausstellung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales »In die Zukunft gedacht – Bilder und Dokumente zur Deutschen Sozialgeschichte – Wanderausstellung« beinahe gänzlich darauf, auf die Rolle der Kommunen hinzuweisen.12 Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung hat umfangreiches didaktisch aufbereitetes Begleitmaterial für Bildungsträger zur ständigen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin herausgegeben.13 Vergleichbare Bemühungen oder Veröffentlichungen etwa des Deutschen Städtetages fehlen. Die jahrhundertelange Linderung von Armut scheint nichts zu sein, mit dem die Städte werben wollten. Ähnlich sieht die Forschung zur kirchlichen Sozialpolitik aus: Auch hier wurde sich auf einige wenige als »positiv« wahrgenommene Personen wie Wichern14 mit der Inneren Mission oder dem katholischen Sozialreformer v. Ketteler konzentriert, wurden vorwiegend Aktionen und Einrichtungen der zentralen und übergeordneten Stellen beachtet.15 Dagegen fällt wieder auf, dass die Basis der Kirchen, die einzelnen Gemeinden, beinahe vollständig fehlen. Es ist unklar, wie sich z. B. die evangelischen Kirchengemeinden in der Bewegung der Inneren Mission posi12 Vgl. Ausstellung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: http://www.bmas.de/portal/ 9966/ausstellungen_in_die_zukunft_gedacht.html (21. 12. 2010). 13 Vgl. Begleitmaterial zur Ständigen Ausstellung »Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen aus zwei Jahrtausenden« des Deutschen Historischen Museums: Sicher arbeiten – 125 Jahre Gesetzliche Unfallversicherung in Deutschland 1885–2010. Auch hier fehlen Hinweise, dass die kommunale Armenfürsorge die Versorgungslücken decken musste oder dass die Versicherungsträger durchaus Interessen hatten, die nicht immer im Sinne der Versicherten waren. Dagegen wird das mittlerweile veraltete Bild von Bismarck als treibende Kraft hinter den Sozialversicherungen gepflegt. 14 Friedrich, Einleitung, S. 10. 15 So z. B. Sellier, Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert; Meuther, Dominikanische Ordensgründerin während der Reichsgründung; Imhof, »Einen besseren als Stöcker finden wir nicht«; Pollmann, Landesherrliches Kirchregiment und Soziale Frage; Kaiser (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Ein Überblick über die katholische Kirche z. B. in: Roos, Entstehung und Entfaltung der modernen Katholischen Soziallehre, S. 103–124.
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tioniert und eingebracht haben. Es ist ebenso unklar, wie eine Armenpflege der Kirchengemeinden in Zeiten staatlicher Durchdringung praktisch ausgesehen hat. Wie haben die Gemeinden überhaupt auf den immer wieder festgestellten Rückzug der Religiosität besonders in den Arbeiterschichten reagiert? Die Geschichte der Armut rückte seit Ende der 1970er-Jahre in den Blickpunkt der historischen Forschung. Dabei wurde meistens anhand von Gesetzestexten, Regierungsberichten und verschiedensten Ego-Dokumenten wie z. B. Tagebüchern oder Briefen versucht, Entwicklungen festzustellen und aufzuzeigen. Die Lebenssituation der Armen blieb ebenso außen vor wie Entwicklungen, die über das quantitative Ausmaß der Armut in der Bevölkerung hinausgingen.16 Und selbst dieses quantitative Ausmaß ist nur ein mutmaßliches Ausmaß: als Basis dienten nur die offiziellen Unterstützungsdaten der verschiedenen Behörden, verborgene Armut und anders unterstützte Arme wurden nicht erfasst. Die Probleme der Armutsforschung sind die relativ dezentrale Quellenlage, die letztendlich vielen verschiedenen Variationsformen der Armut und der entsprechenden Hilfen und eben der Umstand, dass Arme im Gegensatz zu den großen staatlichen Arbeiterversicherungen keine Lobby hatten. Jüngere Untersuchungen zu Armut und Armen in Mittelalter und Früher Neuzeit analysieren materielle Armut.17 In einer Vergleichsstudie kann ein Annäherungsprozess an »die Armen« beobachtet werden, welcher gleichzeitig methodische Erweiterungen aufzeigt: Thomas Fischer hat noch 1979 versucht, sich der Armut unter Verbindung von quantitativen Methoden und normativen Regelungen zu nähern.18 Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Fürsorgesystem der konfessionell verschiedenen Städte Frankfurt am Main und Köln hat Robert Jütte 1984 untersucht.19 Den Wandel im obrigkeitlichen Fürsorgewesen und die Folgen für die Empfänger wurde für Bordeaux 1988 untersucht.20 Für das 19. Jahrhundert fehlen aber noch vergleichbare Untersuchungen. Für das 19. Jahrhundert ist die Geschichte der Armut, der Armenfürsorge, der Wohlfahrt usw. meist als eine Geschichte kommunaler Institutionen und Vereine und/oder den darin tätigen Bürgern und Bürgerinnen einzelner Städte geschrieben worden.21 Der Schwerpunkt liegt auf der Verlagerung von der traditionellen 16 So z. B. Kauffeldt, Elend und Auswege; Doege, Armut in Preußen und Bayern. 17 Unter verschiedenen Disziplinierungskonzepten zusammenfassend: Richter, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Disziplinierung. 18 Fischer, Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert. 19 Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten. 20 Dinges, Stadtarmut in Bordeaux. 21 Die Beiträge im Wesentlichen zusammenfassend: Rudloff, Im Souterrain des Sozialstaates, S. 474– 520. Noch immer als Überblick: Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1. Einzelne Städte haben unter den verschiedenen Blickpunkten untersucht z. B. Brüchert-
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Verwaltung auf eine moderne Verwaltung; von der althergebrachten städtischen Oligarchie hin zum modernen Leistungsbeamten.22 Die Objekte ihrer Fürsorge, die Armen, kommen in diesen Arbeiten nur am Rande vor. Es bleibt in der Regel offen, wie diese Institutionen auf die einzelnen Armen eingewirkt haben und welchen »Erfolg« ihre Bemühungen hatten. Die Objekte der bürgerlichen Fürsorge wurden in den bisher erschienenen Arbeiten allenfalls erwähnt, um die bürgerliche Fürsorgearbeit näher darzustellen. Eine detaillierte Untersuchung, welche Personen(kreise) von den städtischen Behörden als »arm« anerkannt und von ihnen versorgt wurden, existiert für diesen Zeitraum nicht. In Trier wurden in einem DFG-Sonderforschungsbereich Armut (und Fremdheit) unter den Kategorien »Inklusion« und »Exklusion« analysiert. Dabei bildet der sich seit der Antike immer wieder wandelnde Status von verschiedenen Armengruppen (und Fremdengruppen) ein Hauptaugenmerk. Damit wird sich weiter den Armen in der Geschichte angenähert. Und trotzdem stehen hier meistens »Gruppen« im Vordergrund, nicht die Individuen. Die Biographie der Armen, ihr Ruf in der städtischen Gesellschaft, bleibt meistens außen vor. Damit ist ein wesentlicher Grund für eine restriktivere Armenpflege nicht mehr im Bilde. Aus diesem Sonderforschungsbereich sind eine ganze Reihe von Dissertationsschriften, noch mehr Dissertationsprojekte und Sammelbände hervor gegangen.23 Und auch hier wäre zu prüfen, welche Unterschiede sich in der Praxis des 19. Jahrhunderts aufzeigen lassen. Die sogenannten »Wanderarmen« gehörten nicht zur Ortsgemeinschaft. Als »Fremde« sind sie mindestens Arme dritter Klasse. Gab es aber wesentliche Unterschiede zwischen »alteingesessenen« Armen und Armen, die den Unterstützungswohnsitz erst erworben hatten? Hätte die Armenbehörde etwa deutlich machen wollen, dass sich »Armenhilfe« für Zugezogene nicht lohnt? Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Preußen eine neue Freizügigkeitsregelung, die das Heimatrecht, mit der Geburtsgemeinde als Unterstützungsgemeinde, ablöste und den erwerbbaren Unterstützungswohnsitz mit sich brachte. Mit der Ausdehnung Preußens 1866 und Etablierung des Deutschen Reiches 1871 wurden diese Regelungen beinahe auf ganz Deutschland übertragen. Diese Entwicklung ist auf der Makroebene gut erforscht. Die konkreten Auswirkungen für einzelne Kommunen oder gar die Armen selbst sind dagegen weitestSchunk, Städtische Sozialpolitik; Jans, Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege in Ulm; Küster, Alte Armut und neues Bürgertum; Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich. Zur Struktur der bürgerlich geprägten Hilfen noch immer: R. vom Bruch, Bürgerliche Sozialreform im Deutschen Kaiserreich. 22 Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung, S. 1. Zur Kritik an der unreflektierten Nutzung des Begriffes »modern« siehe Skalweit, Der »moderne Staat«. 23 Vgl. Gestrich, Vorwort, S. 9 ff.; Zuletzt: Uerlings u. a. (Hg.), Armut: Perspektiven in Kunst und Gesellschaft.
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gehend unbekannt.24 Ähnliches lässt sich auch für das weit verbreitete Organisationssystem der kommunalen Armenpflege, das Elberfelder System, feststellen: Die Übernahme dieses Systems durch einzelne Kommunen ist bekannt, die Auswirkungen für die freiwilligen Armenpfleger – eventuell Mehrarbeit? – und die Armen aber nicht.25 Auch die verschiedenen Diskussionen zu Einzelaspekten und Entwicklungen der Armut sind weitgehend unbeachtet geblieben.26 Die Auswirkungen der Diskussionen auf die Praxis der Armenpflege bleiben damit ebenso unbekannt wie die Diskussionen, die über die Grenzen der verschiedenen Vereine hinweg geführt wurden. Einzelne Einrichtungen der geschlossenen kommunalen Armenfürsorge wurden bisher kaum untersucht. Lediglich für Schleswig-Holstein lassen sich Untersuchungen zu Arbeits- und Krankenhäusern in verschiedenen Städten finden. Harm-Peer Zimmermann hebt den anfänglichen Disziplinierungscharakter dieser Einrichtungen hervor. Dieser Charakter änderte sich ab den 1870er-Jahren hin zu flexiblen Auffangstationen für die arme Bevölkerung27; eine Entwicklung, die auch für Göttingen anzunehmen ist. Wie aber änderten sich die Funktionen der anderen typischen Einrichtungen wie etwa Waisenhaus oder Hospital? Damit sind viele Entwicklungen und Perspektiven – neue Absicherungen, Gesetze, Organisationsformen, Diskussionen – angeschnitten, die für einen Wandel von »Armut« hätten sorgen können.28 Inwieweit diese aber tatsächlich zu Wandlungen im Umgang mit Armen und Armut geführt haben lässt sich nur in einem kleinteiligen Blick feststellen. Mittlerweile wird in der englischen historischen Armutsforschung der Versuch unternommen, das Bürgertum zu »verlassen« und sich über verschiedene Unterstützungsgesuche einer »new History from Below« anzunähern.29 Deutlich von diesen Ansätzen inspiriert zeigt sich Thomas Kühberger, der die Armutsforschung als eine Perspektive für die »Neue Kulturgeschichte« sieht. Er plädiert dafür, sich sowohl gesellschaftliche, Armut verursachende Strukturen anzusehen 24 Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Sozialpolitik, I. Abt., 7. Bd.: Armengesetzgebung und Freizügigkeit; Sachße/Tennstedt, Sozialpolitik vor dem, S. 205–222. 25 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 214 ff. 26 Auf einer eher theoretischen Ebene führte der Verein für Socialpolitik seine Diskussionen. Die »Praktiker der Armenpflege« waren im Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit organisiert. Die Auswirkungen der Diskussionen dieses Vereins lassen sich aber nur schwer ausmachen. Die Auswirkungen auf neue Gesetze waren eher gering, bei der Ausbreitung des Elberfelder Systems nahm der Verein eine führende Rolle ein. Vgl. hierfür Tennstedt, Fürsorgegeschichte und Vereinsgeschichte, S. 75 ff. 27 Als überblicksartige Darstellung: Zimmermann, Pauperismus und Restauration. 28 Zu den Wandlungen siehe Sokoll, Household and familiy among the poor. 29 Hitchcock, A New History from Below, S. 294–298; Sokoll (Hg.), Essex Pauper Letters.
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als auch die Betroffenen selbst.30 Aber auch er begründet sein Plädoyer »nur« an verschiedenen Ego-Dokumenten. Sokoll betont in diesem Sinne den strategischen Charakter der Unterstützungsgesuche.31 Er sieht in den Briefen eher eine Möglichkeit, die Sichtweise auf und den Umgang der Armen mit dem Armensystem aufzuzeigen.32 Diese Gesuche schildern damit eine Seite der Armut: Sie wurden den Erwartungen der Empfänger sowohl stilistisch als auch inhaltlich angepasst,33 allerdings nur nach dem Wissensstand der Schreiber. Damit haben die Gesuche, so aufschlussreich und detailliert die jeweiligen Schilderungen auch sein mögen, nur eine begrenzte Aussagekraft. Es erscheint notwendig, eine weitere Perspektive über diese Gesuche in Form der Berichte der Armenpfleger und – falls diese nicht in der erwünschten Form vorhanden sind – der bewilligten Unterstützungen heranzuziehen. Dadurch können die verschiedenen Sichtweisen abgeglichen, die Übernahme unterschiedlicher Argumentationsmuster aufgezeigt und damit die Interaktionen und Interaktionsmöglichkeiten zwischen Armen und Pflegern besser herausgestellt werden. Die Armut eines Individuums darf nicht als Dauerzustand verstanden werden. Armut stellt eine Periode im Leben des Individuums dar. Armut kann überwunden werden, aber auch immer wieder zurückkehren. Die Armen wären so in der unmittelbaren Lebensphase in, vor und nach der Armenunterstützung in den untersten gesellschaftlichen Schichtungen oder Klassen anzusiedeln. Sie haben aber immer wieder die Möglichkeit, das »Stigma« des Armen abzuwerfen, bzw. umgekehrt in Armut zu geraten.34 Als Beispielstadt für eine solche Untersuchung soll die in der hannoverschen Provinz gelegene Universitätsstadt Göttingen dienen.35 Diese Stadt bietet eine überschaubare Größe. Das für dieses Jahrhundert charakteristische Bevölkerungs30 31 32 33
Kühberger, Historische Armutsforschung. Sokoll, Selbstverständliche Armut, S. 227–271. Sokoll, Essex Pauper Letters, S. 3 f. Zu Aufbau und Entstehung der Gesuche vgl. Karweick, »Tiefgebeugt von Nahrungssorgen und Gram«, S. 17–88. 34 Vgl. Leisering, Armutspolitik und Lebenslauf, S. 73 f. 35 Zu Armut und Sozialpolitik in Göttingen vgl. Sachse, Göttingen im 18. und 19. Jahrhundert.; Saldern, Vom Einwohner zum Bürger. Als Unterschichten werden hier die von öffentlicher Unterstützung Lebenden aber weitgehend ausgeklammert. Ferner: Mussmann, Kommunale Altersfürsorge in Göttingen, S. 117–153. Siehe auch die Arbeiten von Weber-Reich: Weber-Reich, Frauenverein; Weber-Reich, Pflegen und Heilen. Zur Armenpflege im Göttinger Umland bis 1866 vgl. Titz, Das Armenwesen in den Plessedörfern; Titz-Matuszak, Mobilität der Armut.. Als knappe Zusammenfassung zu Göttingen im 19. Jahrhundert siehe Römling, Göttingen. Auch hier zeigt sich die Konzentration auf die kommunale Obrigkeit. Sogar die Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter – Wohnungsgenossenschaft, Konsumgenossenschaft und Genossenschaftsbank – werden durch die Forschung nur am Rande gestreift oder durch die vorhandenen Jubiläumsschriften oberflächlich behandelt.
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wachstum setzte hier erst ab 1866 ein. Durch den Bedarf der Göttinger Universität war auf der einen Seite überdurchschnittlich viel Dienstpersonal in der Stadt vorhanden, welches von Armut bedroht war.36 Durch die Universitätsprofessoren war aber ein wiederum überdurchschnittlich finanz- und spendenkräftiges Bürgertum vorhanden. Damit bietet Göttingen eine gute Vergleichbarkeit: Von den rein quantitativen Bevölkerungsdaten wäre es eine typische Klein- oder Mittelstadt; von der Bevölkerungsstruktur dagegen kann die Stadt in diesem Punkt mit größeren Städten verglichen werden. Göttingen ist bezüglich seiner Armenpflege durch eine Art »provinzieller Langeweile« geprägt, d. h. seit der Einführung einer Industrieschule37 Ende des 18. Jahrhunderts gab es im kommunalen Armenwesen keine wesentlichen Veränderungen mehr, die von den Zeitgenossen als beachtenswert empfunden wurden. Auf dem Gebiet der Armenfürsorge hatte die Stadt allenfalls noch einen »Mitläuferstatus«. Damit entspricht Göttingen eher einer »Normalität« im Kaiserreich als reform- und experimentierfreudige Großstädte wie Berlin oder Frankfurt am Main. Das Prinzip der Heimatgemeinde wurde in der Stadt mit der Annexion durch Preußen im Jahr 1866 durch die Übernahme der preußischen Freizügigkeitsregelungen abgelöst. Bis dahin galten die hannoverschen Regelungen. Zusammenfassende Darstellungen zur Fürsorge im Königreich Hannover oder in den Kommunen des Königreichs gibt es nicht. Die entsprechenden Gesetze und Regelungen haben den Rahmen des traditionellen »Heimatwohnsitzes« nicht verlassen. In Göttingen gab es im 19. Jahrhundert insgesamt zwei dem Elberfelder System vergleichbar organisierte Systeme. Das erste Mal lässt sich in Göttingen zwischen 1818 und ca. 1830 ein dichtes Betreuernetz feststellen.38 Damit hatten die Göttinger Armenpfleger und Armen durchaus Erfahrungen mit solchen Netzen. Für den zweiten Zeitraum zwischen 1875 und ca. 1880 könnten sich direkte Auswirkungen wenn nicht schon eines dichten Pflegernetzes, dann doch zumindest einer engagierten Armenpflege zeigen lassen.
Arbeitsweise Um der alltäglichen Arbeitspraxis der Armenpflege nachzuspüren bedarf es des alltäglichen Schriftverkehrs bzw. der Dokumentation des alltäglichen Schriftverkehrs. Dieses Alltägliche findet sich am ehesten in den verschiedenen Protokoll36 Saldern, Vom Einwohner zum Bürger, S. 39; Saldern, Göttingen im Kaiserreich, S. 4. 37 Zur Industrieschule vgl. Marquardt, Geschichte und Strukturanalyse der Industrieschule; Hauenschild/Herrlitz, Die Pastoren Wagemann und die Industrieschule, S. 9–21. 38 Merkel, Erinnerungen.
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büchern und Ein- und Ausgangslisten der Armenverwaltung sowie den Sitzungsprotokollen der verschiedenen Wohltätigkeitsvereine. Diese Protokolle wurden mithilfe einer Microsoft-Access-Datenbank erfasst, sortiert und bearbeitet sowie ausgewertet. Zusammen mit den nicht-alltäglichen Anträgen, Beschwerden und Berichten von Armen und über Arme kann sich so für einige Einzelfälle ein differenziertes Bild der Praxis auftun. Insgesamt sind in der Datenbank ca. 5.000 Personen erfasst. Dabei sind viele mehrfach erfasst, da z. B. die »Wittwe Ahlborn« durchaus die Frau des verstorbenen Schuhmachers Ahlborn und auch Louise Ahlborn gewesen sein kann, ohne dass sich heute der Beweis dafür mit einem vertretbaren Aufwand finden ließe. Diese Benennungen stellen Erfahrungswissen der Armenbehörden dar, welches nicht überliefert wurde. Für ca. dreißig Personen aus diesem »5.000-er-Set« wurde gezielter gesucht und wurden Benennungsunsicherheiten weitgehend beseitigt. Für diese dreißig war teilweise in den Armenakten mehr zu finden, sie machten so einen interessanteren Eindruck. Sie kommunizierten, über sie wurden Berichte geschrieben, sie bezogen auffällig oft Unterstützungen. Für einige wenige wurde aber der umgekehrte Weg gewählt: Bei Personen, die sich nur einmal oder wenige Male finden ließen wurde gezielt gesucht, ob sich diese nicht doch in anderen Institutionen oder unter anderen Namen finden ließen. Damit sollte verhindert werden, dass sich die Betrachtung der Armen und der Armenpflege Göttingens nur an außerordentlich aktiven, streitfreudigen Armen orientiert. Die insgesamt 5.000 Personen haben ca. 16.000 aktive oder passive Veränderungen in ihrer Armenbiographie durchlaufen: sie haben Unterstützung bekommen oder es wurde eine Unterstützung gekürzt, sie wurden in eine Anstalt eingewiesen oder haben diese wieder verlassen und sie sind auch teilweise umgezogen. Nur durch den Vergleich der gemeldeten Adressen lässt sich innerfamiliäre Hilfe etwa bei erwerbsunfähigen Eltern feststellen. Aber auch das Zerbrechen von Familien kann mit dieser Vorgehensweise aufgezeigt werden. Diese Datenbank kann in zwei Richtungen ausgewertet werden: Einmal wie beschrieben in die individuelle Richtung der Personen, die in das Blickfeld der öffentlichen Armenverwaltung gerückt sind, zum anderen in die Richtung der Institutionen. Durch die Auswertung der kleinteiligen Aufnahme können allgemeine Entwicklungen und Arbeitsweisen der Institutionen aufgezeigt werden, die etwa durch die veröffentlichten Jahresberichte nicht deutlich werden. Durch die Kombination beider Richtungen findet eine enge Einbettung der individuellen lebensweltlichen Erfahrung in den Makrokosmos der Göttinger Armenpflege statt.39 Natürlich bietet die Auswertung der Datenbank nur den direkten Blick auf die Arbeitsweise der bürgerlichen Armenpflege wieder. Protokollbücher und 39 Vgl. Kühberger, Historische Armutsforschung, S. 13.
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Ein- und Ausgangslisten entstanden aus einem Kontrollbedürfnis gegenüber den Unterschichten. Über die Vergabe der verschiedenen Arten der Unterstützungen sowie der Unterstützer ergibt sich aber ein komplexes Bild der Armenpflege und darüber indirekt über den Umgang mit Armen und Armut. Die Arbeit in ihrem Aufbau orientiert sich in erster Linie an den Quellen, den jeweiligen Protokollbüchern und Ein- und Ausgangslisten. Dafür gibt es mehrere Gründe: 1. Protokolle sowie Ein- und Ausgangslisten wurden für spezifische Institutionen erstellt. Um diese Listen zu verstehen muss die Institution betrachtet werden. Eine künstliche Trennung von Institution und den dort versorgten Armen wäre dann unsinnig. 2. Es gibt selten nur den einen Grund für die Verarmung. Meist sind es viele verschiedenen Gründe. Der Grund für die aktuelle Verarmung findet sich am ehesten über die gewährten Hilfen. Auch bei dieser individualistischen Betrachtung landet man wieder bei den Institutionen. 3. Erst in einem letzten Schritt – wenn sowohl die Hilfe vergebenden Institutionen als auch die Schritte vom Mangel bis zur Hilfe in der Praxis rekonstruiert worden sind – werden »die Armen« institutionenübergreifend betrachtet. Hier ist dann der Raum, die Handlungsspielräume der Armen gegenüber der städtischen Armenverwaltung als auch gegenüber den Vereinen herauszustellen, aber auch die Handlungsspielräume der Armenverwaltung(en) gegenüber ihren »Armen« herauszuarbeiten. Die Arbeit wird sich damit zwischen der Auswertung von personenbezogenen Massendaten und der Auswertung des städtischen Armenbudgets und einzelner Vereinshaushalte auf der einen Seite sowie individuellen Schicksalen in der Art eines italienischen Müllers oder eines französischen Schuhmachers bewegen.40 Die Menschen haben sich in den vorgegebenen Strukturen bewegt und agiert. Gleichzeitig haben sie diese Strukturen geprägt. Eine Betrachtung des einen ohne das andere wäre von vornherein auf Unvollständigkeit angelegt.41
Die Quellenlage Das Göttinger Stadtarchiv hat durch äußere Einwirkungen keine Verluste erlitten. Aus den Protokollbüchern der Armendeputation, den Ein- und Abgangslisten des Armenarbeitshauses, des städtischem Hospitals und später des Geschwister-Rein40 Ginzburg, Der Käse und die Würme; Corbin, Auf den Spuren eines Unbekannten. 41 Schulze, Einleitung, S. 7.
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hold-Stifts, dem offiziellen Nachfolger des Siechenhauses, sowie aus den Geburten (und Krankheiten) der Frauenklinik, des früheren Accouchierhauses, lassen sich Armenbiographien erstellen und erste Einblicke in einzelne Leben gewinnen. Durch die Hinzuziehung der durch die Wohltätige Vorschuss-Anstalt und den Vereins gegen Verarmung und Bettelei gewährten Kredite können weitere Erkenntnisse über den Auf- oder Abstieg einzelner Personen gewonnen werden. Bei ausgewählten Personen sind die Meldekarten eine nicht zu unterschätzende Quelle, geben diese doch Aufschluss über Wohnung, Häufigkeit der Umzüge und familiäre Situation, teilweise sogar noch über strafbare Vergehen. Die weiteren Akten der mit der Stadt Göttingen kooperierenden Universitätskliniken sind entweder nicht mehr vorhanden oder in einem Zustand, der eine weitere Auswertung derzeit nicht zulässt. Die Beleglisten und bewilligten Hilfen stellen insgesamt zuverlässige Quellen dar. Die entsprechenden Personen werden tatsächlich die angegebenen Zeiträume in den verschiedenen Einrichtungen verweilt haben. Ebenso werden sie, ihre Finanzlage war schließlich angespannt, die bewilligten Hilfsgelder abgeholt haben. Die Listen sind aber nur Beleg für den letzten Akt in der Bewilligung der Unterstützungen: sie stellen die notwendige Armenunterstützung nach Ansicht der Armenpfleger und der Armenbehörde dar. Die biografischen Angaben sollen das gewonnene statistische Material ergänzen. Im Stadtarchiv Göttingen sind die Namen und Umstände der Personen, die um Armenunterstützung nachgesucht haben, zwischen 1824 und 1875, wenn auch mit kleineren Lücken, vorhanden. Zusätzlich sind noch verschiedene Anträge um Armenunterstützung mit Bearbeitungsvermerken für den gesamten Zeitraum vorhanden. Anhand dieser werden die in Göttingen geltenden formalen und inhaltlichen Standards erarbeitet. Damit kann untersucht werden, ob und welche Abweichungen den Erfolg der Gesuche beeinflusst haben. Weder für Zeiten, in denen Arme »kurzfristig« nicht auftauchten oder »flüchtig« waren, noch für irgendwelche private, nicht aktenkundige Zusatzeinkommen können Aussagen getroffen werden. Durch eine möglichst flächendeckende Aufnahme der entsprechenden Überlieferungen von Kommunen, Vereinen, Kirchengemeinden, verschiedenen Landesanstalten und -behörden kann nur versucht werden, diese Lücken systematisch zu verkleinern, ohne sie aber je gänzlich schließen zu können. Allerdings sind hier dann auch die Verluste durch »äußere Einflüsse« zu finden: Die Akten der Landesarbeitsanstalt Moringen als auch die der Landarmenanstalt Wunstorf sollen im Zweiten Weltkrieg verbrannt sein. Am Beispiel der Kirchen, hier besonders der evangelischen Gemeinden, kann die Pflege für einige spezielle Klientel, nämlich der Gemeindemitglieder, und ihre gesamtkommunalen Auswirkungen beobachtet werden. Traditionell waren
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die Kirchgemeinden seit dem Mittelalter in der Armenfürsorge tätig. Die evangelischen Gemeinden haben bis 1866 eine Gemeindearmenpflege durch die Vermittlung von Geldern aus dem hannoverschen Herrscherhaus aufrecht erhalten. Durch die Annexion Preußens sind diese Möglichkeiten weggefallen. Erst auf eine gesamtpreußische Initiative hin wurde in den 1890er-Jahren wieder eine evangelische Kirchengemeindefürsorge aufgebaut.42 In dieser Ausführlichkeit ist dieses für die katholische Gemeinde nicht möglich. Gleichrangige Quellen liegen nicht vor.43 In der Nähe zum katholischen Eichsfeld und zum katholischen Hildesheim, trotzdem aber in der evangelischen »Diaspora« gelegen, hatte der Priester ein starkes Augenmerk auf die »richtige«, die katholische, Erziehung »seiner« Kinder und Jugendlichen. Trotzdem kannte er genau die sozialen Verhältnisse seiner Göttinger Gemeindemitglieder. Zur jüdischen und zur reformierten Gemeinde sind derartige Überlegungen wegen Quellenmangels nicht möglich. Eine Fürsorge der Gemeinde für in Not geratene Mitglieder ist aber anzunehmen. Der Komplex um Arme und Armut wurde im 19. Jahrhundert mit zunehmender Intensität von verschiedenen Seiten untersucht. Durch ein umfangreiches Wissen über die Unterschichten sollte die »Soziale Frage« gelöst und damit den als staats- und gesellschaftszerstörenden empfundenen Tendenzen der Benachteiligten ein Ende gesetzt werden. Die maßgeblichen Diskussionen über Arme und Armut im Gebiet des späteren Deutschen Kaiserreiches lassen sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Fliegenden Blätter des Rauhen Hauses als Organ der Inneren Mission verfolgen. Hier publizierte das wirkungsmächtige sozial eingestellte evangelische Bürgertum, hier lassen sich die mentalen Wandlungen »der Bürger« in ihrer Sicht auf »Armut« finden. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lassen sich die Diskussionen zusätzlich durch die Veröffentlichungen des Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit verfolgen. In diesem Verein waren die verschiedenen praktisch arbeitenden Armenverwaltungsverbände organisiert. Der Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit um Emil Münsterberg war in dieser Hinsicht sehr produktiv und einflussreich. Unter anderen reformierte Münsterberg das Hamburger, später das Berliner Armenwesen und gab Expertisen zur Reform des englischen Armenwesens.44 Ebenfalls den »praktischen« Zugang hatte der Verein für Arbeiterwohlfahrt in seinen Veröffentlichungen. Die Theoretiker 42 Vgl. Rothert, Die innere Mission in Hannover, 1.–3. Auflage. 43 Allgemein zur katholischen Gemeinde: Wehking, »Ein jeder darf sich gleichen Rechts erfreu’n«. 44 Vgl. Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit 1886–1918; Orthband, Der Deutsche Verein. Kritisch dazu: Tennstedt, Fürsorgegeschichte und Vereinsgeschichte; Sachße/Tennstedt, Der Deutsche Verein, S. 17–115. Zu Münsterberg selbst vgl. Tennstedt, Dr. Emil Münsterberg, S. 258–265.
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der Armenpflege und der Armutsforschung im Kaiserreich waren dagegen im bekannten »Verein für Socialpolitik« organisiert. Deren Diskussionen wurden zwar von den »Praktikern« verfolgt, aber dann doch immer wieder verworfen. Für den Zeitraum bis zum ersten Erscheinen dieser Zeitschriften können die Diskussionen um »Armut« über Einzelmonographien erschlossen werden. Eventuelle Lücken können damit von der Jahrhundertmitte bis zum Erscheinen der anderen Zeitschriften geschlossen werden. Neben diesen gibt es eine beinahe unüberschaubare Zahl an Monographien und Aufsätzen unterschiedlichster Herkunft, welche ebenfalls einen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage liefern wollten.45 Besonders für die Stadt Frankfurt am Main gibt es ein breites Literaturangebot.46 Für andere Städte ist eine ähnliche Vielzahl solcher Veröffentlichungen zu finden. Diese können u. a. Hinweise zu den Auswirkungen normativer Vorschriften oder auch zu Institutionen und deren Verknüpfungen untereinander geben.
Aufbau der Arbeit Die Arbeit will sich mit der Praxis der Armenpflege beschäftigen und sich den Armen und Armenpflegern des 19. Jahrhunderts weiter annähern. Insgesamt werden dafür hier vier Schritte begangen. Im ersten Schritt wird das spezifische örtliche Umfeld mit beschrieben. Göttingen hatte beinahe einmalige Voraussetzungen und Bedingungen, in denen die jeweiligen Personen handeln mussten. In einem zweiten Schritt werden die Rahmenbedingungen auf der gesetzlichen und der organisatorischen Ebene untersucht. Schließlich hatten sich die Armen und Armenpfleger auch nach den sich ändernden Gesetzen zu richten und spezifische Vorstellungen einer »guten Armenpflege« zu beachten. Innerhalb dieses Rahmens gestalteten sie aber die Auswirkungen der Gesetze: Verstöße konnten angezeigt oder ignoriert werden, Anzeigen konnte intensiv nachgegangen oder nur oberflächlich untersucht werden. Ein ähnliches Bild ergibt sich entsprechend bei den Vorstellungen der »guten Armenpflege«: allgemein gültige Sichtweisen können sich in der Praxis als unbrauchbar erweisen. In dem dritten und größten Schritt werden die verschiedenen Armenpflegeinstitutionen der Stadt, verschiedener Vereine, der Kirchen und der Universität untersucht. All diese Institutionen machten eine spezifische Entwicklung. Sie alle hatten spezifische Vorschriften und richteten sich an unterschiedliche Armen45 Als kurze Einführung siehe Weber, Armenwesen und Armenfürsorge. 46 Brückner, Die öffentliche und private Fürsorge, Heft 1; Brückner, Die öffentliche und private Fürsorge, Heft 2; Büttel, Die Armenpflege zu Frankfurt am Main; Meidinger, Zur Statistik Frankfurts; Flesch, Beiträge zur Kenntnis des Armenwesens; Steinohrt, Zur Entwicklung des Armenwesens.
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gruppen. Diese Institutionen bildeten das System der kommunalen Armenpflege, in welchem sich die Armen und Armenpfleger der Stadt bewegen mussten. Die Institutionen gaben auch hier den Rahmen vor, welchen die einzelnen Individuen ausgestalteten. Schließlich werden in einem vierten Schritt endlich die Personen, die die Gesetze ausführen und sich an die verschiedenen Vereinsvorschriften halten mussten näher beleuchtet. Über die Beschreibung des Weges von einem Bedürfnis nach Hilfe hin zur konkreten Hilfe werden über die Armenpfleger als zentrale Personen innerhalb der Armenpflege kommen die Armen in das Blickfeld. Welche Bedürfnisse hatten sie, welche Forderungen stellten sie, wie erreichten sie ihre Ziele? Wie lebten die Armen innerhalb des gegebenen Systems der Armenpflege?
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1. Das Umfeld: Göttingen im 19. Jahrhundert
Bis zum Jahr 1866 gehörte Göttingen zum Königreich Hannover. Dieses verfolgte, durch das allgemeine Bevölkerungswachstum des 19. Jahrhunderts gezwungen, wirtschaftlich eine Förderung der Landwirtschaft und eine zentral gelenkte, langsame Industrialisierung. Die Wirtschaft war damit überwiegend agrarisch geprägt. Bis zum Beitritt zum Deutschen Zollverein 1854 wurden Waren entweder in typischen proto- oder hausindustriellen Gewerben oder durch ein ständisch geprägtes, städtisches Handwerk erzeugt. Durch die Bevorzugung der Landwirtschaft, die bis 1867 begrenzte Freizügigkeit und die bis 1869 bestehenden Gewerbebeschränkungen siedelten sich im Land Hannover kaum Industriebetriebe an. Mit dem Beitritt zum Zollverein in der Mitte des 19. Jahrhunderts, später mit der Angliederung als eine Provinz an Preußen im Jahr 1866 begannen sich die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu ändern. Aber gerade eine solche langsame Industrialisierung war eher Regel als die bekannten Industriestandorte an Rhein und Ruhr. Und 1866 fanden sich durchaus überall kleinere bis mittlere Industriebetriebe im Königreich Hannover.1 Trotz (oder gerade wegen) des geringen Industrialisierungsgrades stellte sich die »Soziale Frage« auch im Königreich Hannover und damit in Göttingen. Auch in Göttingen hatte das städtische Handwerk mit den industriell gefertigten Massenprodukten aus dem »Ausland« zu kämpfen. In Göttingen etablierte sich aber ein ausgeprägter mechanischer Zweig als Lieferant von feinmechanischen Werkzeugen und Messinstrumenten für die Universität. Mit dem Ausweiten der Geschäftsfelder entstanden aus den ursprünglichen Werkstätten Fabriken, wie etwa die von Florenz Sartorius mit beinahe 100 Beschäftigten um 1900.2 Zugleich hatte Göttingen den Ruf einer Tuchmacherstadt. So ist es kein Wunder, dass sich hier schon im 18. Jahrhundert Großbetriebe dieser Branche etablieren konnten. Im 19. Jahr1 2
Vgl. Denkschrift über die Gewerbeverhältnisse; Hornung, Entwicklung und Niedergang; Arning, Hannovers Stellung; Sachse, Göttingen im 18. und 19. Jahrhundert; Schubert, Die Veränderung eines Königreichs, S. 374–418; Schubert, Niedersachsen um 1900, S. 480–493. Behrendsen, Die mechanischen Werkstätten, S. 32 ff.
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Das Umfeld: Göttingen im 19. Jahrhundert
hundert waren es dann vor allem die Tuchfabrik Eberwein, später die Anlagen Levins, die der Stadt ein industrielles Gepräge gaben.3 Gerade Levin zeigte ein ausgeprägtes soziales Engagement für seine Arbeiterschaft, welches auch überregional bekannt gemacht wurde.4 Zusammen mit den Arbeitern des Eisenbahnausbesserungswerkes gab es um 1900 dann doch eine größere industrielle Arbeiterschaft in und um Göttingen. Durch die Verwaltungsreform von 1885 erhielten die Städte in Preußen eine weitgehende Selbständigkeit in kommunalpolitischen Fragen.5 Die Stadtverordnetenversammlung, in der Provinz Hannover Bürgervorsteherkollegium genannt, sollte für die Kommunalpolitik die Leitlinien bestimmen und die Verwaltung resp. den Magistrat und den Bürgermeister überwachen. Die ehrenamtlich arbeitenden Stadtverordneten kamen in der Regel aus dem höheren Bürgertum, war doch teilweise der Hausbesitz in der Stadt vorgeschrieben.6 Der Magistrat hatte als Ortsobrigkeit und Gemeindevorstand für die Umsetzung der Leitlinien zu sorgen. Beschlüsse mussten von beiden Gremien verabschiedet werden. Teile der Magistratsmitglieder konnten besoldet sein. In der Provinz Hannover waren die Magistratsmitglieder auf Lebenszeit bestellt, konnten aber auf Antrag in den Ruhestand versetzt werden.7 Die Fäden liefen beim Bürgermeister zusammen, der die städtische Verwaltung zu leiten hatte. Er konnte über die Besetzung der Stellen und deren Ausgestaltung frei entscheiden. Auch der Bürgermeister wurde in der Provinz Hannover auf Lebenszeit gewählt und konnte dort neben seinem Amt keinem weiteren Erwerb nachgehen.8 Auch in der kommunalen Selbstverwaltung kamen die Kommunen im wachsenden Maße nicht ohne professionelles Verwaltungspersonal aus. Das preußische System der Beamtenrekrutierung war ein Patronagesystem, welches große Rücksichten auf soziale Herkunft und Ansichten der Bewerber nahm.9 Damit entstand in Preußen ein sozial gleichförmiges Beamtentum mit relativ homogener Ausrichtung und, daraus resultierend, relativ homogenen Handlungsweisen. Insgesamt ließ die in Preußen praktizierte kommunale Selbstverwaltung den Kommunen viel Spielraum bei der Ausgestaltung ihrer Politik. Letztendlich wurde dieser Spielraum von einzelnen Stadtbürgern mit ihren Vorlieben und Abneigungen ausgenutzt. Damit wäre das persönliche Engagement einzelner Bürger in der 3 4 5 6 7 8 9
Höttemann, Die Göttinger Tuchindustrie, S. 88–101. Kriedte, Die Kehrseite der Wohltätigkeit, S. 85–91. Saldern, Göttingen im Kaiserreich, S. 45. Matthias, Städtische Selbstverwaltung, S. 51 ff. Ebd., S. 93. Ebd., S. 114 ff. Vgl. Fenske, Preussische Beamtenpolitik, S. 339–356.
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Sozialstruktur, Verdienste und Kosten in Göttingen
Stadtpolitik als wirkungsmächtiger und wichtiger einzuordnen als die vorgefundenen Verwaltungsstrukturen und Verwaltungsvorschriften.10 Auch den Unterschichten der Stadt muss diese Situation bewusst gewesen sein. Sie richteten ihre Bitten und Beschwerden an die Person und die Institution oder das Gremium, von dem sie sich am ehesten Hilfe versprachen. So sind ihre Briefe eben an alle möglichen Gremien, aber auch Einzelpersonen adressiert. Hier zeigt sich das Halbwissen der Verfasser dieser Briefe: Die Briefe waren an wichtige Institutionen und Personen der Stadt adressiert, oftmals aber nicht an die richtigen.
1.1 Sozialstruktur, Verdienste und Kosten in Göttingen Das wesentliche Bevölkerungswachstum konzentrierte sich im Gegensatz zur Gesamtentwicklung in Deutschland auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf die preußische Zeit. Von 1870 bis um 1900 verdoppelte sich die Bevölkerung Göttingens.11 Zuwanderungen haben einen Großteil dieser »Bevölkerungsexplosion« ausgemacht. Im Jahr 1903 hatte die Stadt 30.234 Einwohner.12 Traditionell gab es in der Universitäts- und Garnisonsstadt Göttingen sehr viele Soldaten sowie Studenten und Universitätsangehörige. 3.000 2.500
2.000 1.500
1.000 500
0 1800
1810
1820
1830
1840
1850
1860
1870
1880
1890
1900
1910
Diagramm 1: Im Wintersemester eingeschriebene Studenten an der Universität Göttingen 1800– 191513
Die Beziehungen von Universität und Armut werden durch die verschiedenen Störungen im Lehrbetrieb deutlich: so verursachten die Studentenauszüge von 1806 und 1819 sowie die Schließung der Universität 1831 eine spürbare Vermehrung der Armut.14 Im Jahr 1901 schließlich waren in der Stadt 1.952 Soldaten stationiert und ungefähr genauso viele Studenten wurden durch die Universität ange10 11 12 13 14
Vgl. Sokull, Baurecht und kommunale Selbstverwaltung, S. 172. Saldern, Vom Einwohner zum Bürger, S. 39. Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1903. Nach Titze, Hochschulstudium. Knoke, Fünfzig Jahre Göttinger Armenpflege, S. 229.
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zogen. Diese Zahlen schwankten im 19. Jahrhundert nur unwesentlich.15 Erst mit der Jahrhundertwende stiegen die Studentenzahlen stark an. Zusammen mit den Studenten lebten in der Stadt mindestens 4.000 ortsfremde Personen, beinahe alles Männer. Allerdings sind die vorlesungsfreien Zeiten, in denen sich viele Universitätsangehörige nicht in Göttingen aufhielten, zu berücksichtigen. Auch im 19. Jahrhundert konnten dies immerhin einige Wochen sein.16 Diese zum Teil kapitalkräftigen Personen aus Universität und Armee zogen ein ausgeprägtes Dienstleistungswesen wie z. B. die Gaststättenbetriebe oder die von sog. Wäschefrauen angebotenen Serviceleistungen wie Wäschereinigung oder das Aufräumen von Zimmern nach sich. Männer waren dagegen als »Stiefelfüchse« zur Schuhreinigung und für Besorgungen der verschiedensten Art, als Garten- oder Feldwachen oder als Träger und Lastenschlepper gefragt.17 Teilweise waren diese Dienstleistungsgewerbe mehr als doppelt so stark ausgeprägt wie im Reichsdurchschnitt.18 In den von Frauen geprägten Dienstleistungsbranchen ist eine ausgeprägte inoffizielle Prostitution sehr wahrscheinlich. Allerdings, so jedenfalls in der offiziellen Darstellung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wurden in Göttingen von den städtischen Behörden weder Bordelle noch »verdächtige Weibspersonen« geduldet.19 Zu Ende des Jahrhunderts dagegen waren diese »verdächtigen Weibspersonen« durchaus geduldet, wie es zahlreiche Anmerkungen in den Polizei- und Armenakten zeigen. Sie wurden aber polizeilich nach strengen Vorschriften überwacht und einmal wöchentlich im städtischen Hospital auf Krankheiten kontrolliert. Allerdings war es bei der geringen Zahl an Schutzleuten in der Praxis durchaus möglich, den Kontrollen zu entgehen. Die in Göttingen gezahlten Löhne waren geringer und die Lebensmittelpreise vergleichsweise höher. Im Gegensatz zu anderen Städten kamen viele Göttinger Handwerksgesellen aus dem Umland und hatten durch den Weg zur und von der Arbeit weniger reine Arbeitszeit. Entsprechend waren ihre Löhne (noch) niedriger. Dies könnte einen Teil der festgestellten geringeren Entlohnung in Göttingen erklären.20 Im Tagelohn arbeitende Handwerker hatten immer wenigstens einen Nebenverdienst, und es war selbstverständlich, dass die Ehefrau wesentlich zum Familieneinkommen beisteuerte. Die Mischung aus verschiedenen Einkünften bot eine geringere Krisenanfälligkeit in den verschiedenen Notlagen eines Ange15 16 17 18
Vgl. Auszug aus den abgelegten städtischen Rechnungen der Kämmereikasse. Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 15., S. 824. Meinhardt, Bullerjahn, S. 27 ff., S 73 ff., S. 162; Meinhardt, Göttinger Originale, S. 48 ff., S. 82 ff. Vgl. Saldern, Göttingen im Kaiserreich, S. 4. Nach Saldern, Vom Einwohner zum Bürger, S. 42 waren 1895 13,5 % in häuslichen Diensten (6,4 % Reichsweit) und in sonstigen Dienstleistungen 13,8 % (Reichsweit 6,4 %) beschäftigt. 19 Marx, Göttingen in medicinischer, physischer und historischer Hinsicht, S. 322. 20 Vgl. Aßmann, Zustand und Entwicklung des städtischen Handwerks, S. 31, 34 f.
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hörigen der Unterschichten. In »guten« Jahren konnten solche Familien durchaus bis zu 100 Mark bei der Sparkasse sparen, bei wirtschaftlichem Misserfolg oder in wirtschaftlichen Krisenzeiten dagegen drohte Armut.21 Natürlich war eine Ersparnis von 100 Mark so gering, dass sie im Endeffekt keinen wirksamen Schutz vor der öffentlichen Armenfürsorge bot. Ab der Jahrhundertwende vermehrten sich noch einmal die Klagen über teure Lebensmittel; ein Zeichen, dass die Schere zwischen Lohnentwicklung und Ausgaben weiter auseinandergegangen war. Ein Konsumverein wurde in Göttingen 1866 gegründet. Mitglieder konnten in der Geschäftsstelle relativ günstige, qualitativ hochwertige Waren gegen Barzahlung erwerben. Im Gegensatz zu den vielen anderen Geschäften war das Anschreiben offener Rechnungen aber nicht möglich. Innerhalb des Göttinger Bürgertums gab es verschiedene Vorbehalte gegen den Verein. Trotzdem wurde er aber angenommen und durchlief bis zum Ersten Weltkrieg eine aus seiner Sicht positive Entwicklung.22 Die Angehörigen der Unterschichten in Göttingen unterschieden sich untereinander letztendlich unter anderem durch den erlernten und den ausgeübten Beruf, eventuell vorhandenen Haus- und Gartenbesitz, die Lohnhöhe und den Status des Arbeitgebers. Entsprechend diesen Differenzierungen hatten die einzelnen »Unterschichtler« einen unterschiedlichen sozialen Status und konnten bei Lohnausfall durch Krankheiten, Entlassungen usw. ganz verschieden reagieren und die Verluste durch protoindustrielle Arbeiten wie Weben oder im Fall von Gartenbesitz durch eigene landwirtschaftliche Tätigkeit wenigstens teilweise ausgleichen.23 Allerdings war der Gewinn durch protoindustriellen Nebenerwerb oder den Verkauf von Gartenfrüchten im Sinken begriffen.24 Durch diese vielen verschiedenen Möglichkeiten ist auch eine nur schätzungsweise Quantifizierung der Unterschichten nicht möglich. Es kann für Göttingen ein Anteil der Unterschichten an der Gesamtbevölkerung von immerhin 40 bis 50 % angenommen werden.25 Die unterste soziale Schicht Göttingens waren die sog. »Buttcher« aus den »Klein-Paris« genannte Straßenzug, die sich in den Buden und Hütten der heutigen Turmstraße fanden.26 Göttingen zeigte das Bild einer kleinen Stadt mit teilweise noch gewachsenen ständischen Strukturen, in der beinahe jeder jeden kannte. Hierdurch war die 21 22 23 24 25 26
Quantz, Zur Lage des Bauarbeiters. Eggers, Konsum-Vereins Göttingen. Saldern, Vom Einwohner zum Bürger, S. 209 ff. Vgl. Saldern, Göttingen im Kaiserreich, S. 7 f. Vgl. Saldern, Vom Einwohner zum Bürger, S. 16 f. u. S. 85. Meinhardt, Göttinger Originale, S. 67.
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soziale Kontrolle ungleich größer als in anonym empfundenen Großstädten wie Berlin oder wie Elberfeld mit ausgeprägten Armenquartieren. Hier konnte beispielsweise noch eine außerordentliche Volksküche durch Straßengespräche zwischen Armenpflegern und Volksschullehrern, die im direkten Kontakt zu armen Kindern standen, initiiert werden.27
1.2 Wohnen in Göttingen Die Wohnungsprobleme der Unterschichten sind auf Reichsebene durch die verschiedenen Vereine, Organisationen und wissenschaftlichen Abhandlungen in der bürgerlichen Sicht des 19. Jahrhunderts bekannt und entsprechend ausgiebig besprochen. Zwei unterschiedliche Problemfelder der schlechten Wohnungssituation wurden dabei immer wieder thematisiert: die gesundheitliche Gefährdung der Bewohner und die moralische Bedrohung der Bewohner. Diese beiden Themengebiete wurden bestenfalls nebeneinander her diskutiert, aber niemals in Verbindung miteinander.28 Einen Ausgleich in den ansonsten hohen Lebenshaltungskosten in Göttingen sollen die vergleichsweise niedrigeren Mietkosten gebracht haben.29 Die Wohnungssituation stellte sich auf dem Wohnungsmarkt aber alles andere als erfreulich dar. Die Unterschichten Göttingens lebten überwiegend in der Altstadt innerhalb des Stadtwalls. Die Oberschichten verließen allmählich das Zentrum Göttingens, um in die neuen Villen des Ostviertels zu ziehen. Die alten und kleinen Häuser waren zumeist überfüllt und in einem schlechten baulichen Zustand. Sie wurden als »feucht«, »dumpf« und »niedrig« wahrgenommen und beschrieben.30 Die alten Häuser der Oberschicht wurden diesen Verhältnissen angepasst: Vielfach wurden in diese Häuser und Wohnungen zusätzliche Wände eingezogen, um neue, kleine Wohnungen zu schaffen. Für derartige Wohnungen konnten nur geringe Mieten verlangt werden, die für viele Familien der Unterschichten trotzdem noch zu hoch waren.31 Das Abfuhrsystem der Fäkalien war mangelhaft. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es einen regelmäßigen Viehtrieb durch die Straßen und Gassen Göttingens. Gleichzeitig war die Wasserversorgung bis 27 StadtA Gö: AHR I H 25, Nr. 1. 28 So z. B. Auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit 1887: Vgl. Kalle, Wohnungsfrage vom Standpunkt der Armenpflege, S. 69–120, Wohnungsnoth vom Standpunkte der Armenpflege, S. 121–172; Wohnungsverhältnisse des Arbeiters, Sp. 217–221. 29 Saldern, Vom Einwohner zum Bürger, S. 68 ff. 30 Marx, Göttingen in medicinischer, physischer und historischer Hinsicht, S. 20. 31 Göttinger Zeitung (GZ) v. 3. Mai 1887; Bayer, Zwei Versuche zur Hebung der Wohnungsnot, S. 433–451, hier: S. 434 f.
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Wohnen in Göttingen
zum Bau einer neuen Wasserleitung 1871–1877 unzureichend. Das Wasser der bestehenden Brunnen war vielfach verunreinigt. In ihnen wurde eine Ursache für die häufigen Typhusepidemien in Göttingen gesehen.32 Dadurch grassierten in Göttingen häufig Krankheiten, die auf diese unzureichenden hygienischen Bedingungen zurückgeführt wurden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch entsprechend viele Krankheitsursachen auf die Wohnverhältnisse zurückgeführt: kalter Estrichboden mit Strohsäcken als Schlafstätte, niedrige Raumhöhen mit Tabakqualm und Lampendunst und eine unzureichende Raumlüftung wurden erwähnt.33 Durch die beengten Wohnverhältnisse wurde zudem eine »sittliche Gefährdung« der Bewohner befürchtet.34 Diese schlechten Wohnungsverhältnisse änderten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich. So entspann sich im Sommer 1867 in der Göttinger Zeitung eine Diskussion über die Unterbringung obdachloser Armer, über »rechtschaffende« Arbeiter und ihre Wohnungen sowie die Verbesserung der Wohnungssituation für diese Arbeiter.35 Eine nachhaltige Verbesserung brachte diese Diskussion aber nicht. Noch am Ende des Jahrhunderts wurde festgestellt, dass es in Göttingen noch immer »eine Reihe schlechter Wohnungen« gebe, da mit dem Bau von Mietskasernen zu wenig Gewinn erzielt werden würde. Dies ist wohl eine Folge der zahlreichen »gutbürgerlichen« Universitätsbediensteten und Studenten, mit denen sich – angemessener Wohnraum vorausgesetzt – ein weit höherer Gewinn erzielen ließ. Es gab einige wenige private Bestrebungen, die von der Stadt unterstützt wurden, die Wohnungssituation für Arbeiter zu verbessern. So errichteten die in Göttingen einflussreichen Herren Bertheau und Baurath Gerber – beide auch in der Armendeputation tätig – Häuser mit Arbeiterwohnungen. Doch blieben diese Bestrebungen die Ausnahme. Es entstanden zwischen 1861 und 1890 lediglich zwanzig Neubauwohnungen für Arbeiter.36 Auch die Initiative der »Gemeinnützigen Baugesellschaft Göttingen« scheiterte trotz einer publizistischen Offensive in der Göttinger Zeitung 1867. Es erschienen viele Artikel, die die schlechten Wohnverhältnisse in Göttingen beschrieben. Die Arbeiten wurden von Firmen verrichtet, die sich im Besitz von Magistratsmitgliedern befanden. Eine wirkliche Baukontrolle fehlte damit und – beinahe erwartungsgemäß – waren die Bauten recht teuer. Weitere Fehlplanungen kamen hinzu. Dadurch mussten sehr hohe Mieten genommen werden. Auch lagen die Wohnungen außerhalb Göttingens.
32 33 34 35 36
Vgl. Gaidies, Entwicklung der Trinkwasserversorgung. Marx, Göttingen in medicinischer, physischer und historischer Hinsicht, S. 342–345. Vgl. Wever, Die Wohnungsverhältnisse. Vgl. GZ vom 3. Mai 1867, 13. Mai 1867, 16. Mai 1867, 18. Mai 1867, 5. August 1867. Wilhelm, Baugeschäft und die Stadt, S. 338–341.
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Sie waren daher wenig attraktiv.37 So scheint das Gelände der »Gemeinnützigen Baugesellschaft« nie komplett bebaut worden zu sein. Auch wenn es damit keinen wirklichen »sozialen Wohnungsbau« in Göttingen gab, so hielt der Magistrat der Stadt doch Wohnraum für die sozial schwachen Göttinger vor. Dies waren die Buden in Klein-Paris. Diese wurden meist direkt an der alten mittelalterlichen Stadtmauer errichtet. Schon allein damit konnten keine Zustände erreicht werden, die als gesundheitlich unbedenklich angesehen wurden. Entsprechend hatten die Mieter zu unterschreiben, dass bei eben solchen gesundheitlichen Bedenken die Wohnungen geräumt werden mussten. Der Magistrat rechnete also schon im Vorfeld mit solchen Beanstandungen und Problemen. Die Gewährung einer Wohnung in einer solchen Bude wurde als Unterstützung vor oder neben der Armenunterstützung angesehen.38 Damit hatten die Mieter sich den gängigen Normen einer guten Lebensführung zu unterwerfen. Der Bürgermeister oder der Magistrat konnten die Miete im Bedarfsfall senken oder ganz erlassen. Damit konnten einzelne Personen vor der städtischen Armenunterstützung bewahrt werden. Die Mietverträge wurden in der Regel bis zum Lebensende abgeschlossen. Rein juristisch hatten die Erben kein Recht, in eine solche Bude zu ziehen. Dies war aber die gängige Praxis. Die Buden in Klein-Paris wurden zwischen 1882 und 1897 abgerissen. Es wurden vorher nur noch die allernotwendigsten Reparaturen durchgeführt, so dass diese Behausungen zusehend verfielen. Dieser Zustand mag auch zum schlechten Ruf des Viertels beigetragen haben. Waren die Buden erst einmal unrettbar verfallen wurden sie bei Gelegenheit, meist dem Ableben des letzten Bewohners, ersatzlos abgerissen. Mit dem Wegfallen der Buden musste sich der Wohnungsmangel der Unterschichten bis um 1900 schrittweise verschärft haben. Als eine »echte« Lösung des Wohnungsproblems für die Unterschichten Göttingens wurde von der Stadtobrigkeit in der Rückschau der »Spar- und Bauverein« eingeordnet.39 Der Göttinger »Spar- und Bauverein« schwamm damit auf einer allgemeinen »Genossenschaftsgründungswelle« in den 1890-Jahren mit, die durch die Einführung der beschränkten Haftung – die Mitglieder hafteten nur noch mit ihrem Geschäftsanteil und nicht mehr mit ihrem gesamten Besitz – und den Investitionen vornehmlich der neuen Rentenversicherung getragen wurde. Nicht unwesentlich wird auch der veränderte Umgang der Genossenschaft mit ihren Mitgliedern im Gegensatz zu den bürgerlichen Hilfsvereinen beigetragen haben. Die Initiative zur Gründung im Sommer 1891 ging von »einem kleinen 37 Vgl. Wehber, Zwischen Hannover und Preußen, S. 156 ff. 38 StadtA Gö: AHR I B 1 25, Nr. 1. 39 Thiemann, Arbeiter-Wohnungen, S. 7 ff.
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Kreise […] gleichgesinnter jüngerer Männer der sogenannten höheren Stände«40 aus. Dieser Kreis schaffte es, sowohl das durch die vorhergehende Baupleite der Gemeinnützigen Baugesellschaft desillusionierte Bürgertum wie auch die skeptische Arbeiterschaft von ihrem Vorhaben zu überzeugen.41 So fasste der hannoversche Landesrat Liebrecht – der auch der Göttinger Genossenschaft vielfache Hilfestellungen geleistet haben soll – diesen Unterschied zusammen: »[…] mit den Baugenossenschaften [ist] am weitesten zu kommen, und zwar deshalb, weil bei den Bauvereinen der wohlhabenden Klassen die Arbeiter als Objekt betrachtet werden, während sie bei den Genossenschaften Subjekt sind.«42 Diese Wohnungsgenossenschaft vermietete ihre Wohnungen vergleichsweise günstig an ihre Mitglieder. Allerdings mussten die Mitglieder – wie bei Genossenschaften üblich – einen Geschäfts- oder Mitgliedsanteil in Höhe von 200 Mark erwerben. Diese Summe konnte auch in Raten abgezahlt werden.43 Trotzdem stellte diese Erwerbung eine Belastung dar, die nur von Arbeitern oder niederen Beamten und Angestellten mit festen Arbeits- und Lohnverhältnissen getragen werden konnten. Die gesellschaftliche Stellung der Genossenschaft zeigt sich deutlich in der Lage der ersten Häuser: diese befanden sich in der Nähe der verrufenen Neustadt, des verruchten Klein-Paris und in unmittelbarer Nähe des Armenarbeitshauses, waren damit aber auch sehr zentral in der Mitte Göttingens. Mit den ersten Wohnungsprojekten sollte noch ein allgemein verspürter Wohnungsmangel bekämpft werden: Die Wohnungen waren recht klein und es gab keinen kostspieligen Luxus. Auch waren die Häuser für Göttinger Verhältnisse sehr groß, wodurch relativ niedrige Preise pro Wohneinheit genommen werden konnten. Entsprechend konnten die ersten Wohnungen auch preisgünstig angeboten werden. Schon zum Ende des Jahrhunderts hin änderte sich diese Vorgehensweise: es sollten neue Schichten für die Genossenschaft erschlossen werden: Die Wohnungen wurden größer, Toiletten in den Wohnungen sowie Wasser- und Gasanschlüsse wurden Standard. »Diese Häuser [am Kreuzbergweg] können aber mit Rücksicht auf die Bauordnung für den städtischen Außenbezirk nur je 7 Wohnungen enthalten und die Wohnungen werden sowohl aus diesem Grunde, als auch wegen der ganz allgemein gesteigerten Preise kaum zu denselben Preisen, wie die bisherigen Wohnungen, vermiethet werden können […].«44 40 41 42 43
Ruprecht, Der Spar- und Bauverein, S. 96. Ebd., S. 95 ff. Erleichterung der Beschaffung der Geldmittel für die gemeinnützige Bauthätigkeit, S. 202. Vgl. Statut des Göttinger Spar- und Bauvereins von 1891, Abdruck in Wever, Wohnungsverhältnisse. 44 Geschäfts-Bericht des Göttinger Spar- und Bauvereins für das Jahr 1899–1900.
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So erhöhte sich für diese Wohnungen der Mietpreis. In Zeiten einer andauernden Wohnungsnot behinderten kommunale Bauvorschriften den sozialen Wohnungsbau und trugen damit zu einer Verschlimmerung der Wohnungssituation bei. Für die Angehörigen der Unterschichten wurde guter Wohnraum beinahe unerschwinglich teuer.45 Der Verein wuchs bis zum Kriegsausbruch 1914 auf ca. 900 Mitglieder an,46 die in 25 Häusern (1907) lebten. Insgesamt lebten 1914 etwa 3 % der Göttinger in einer Genossenschaftswohnung. Damit entlastete die Genossenschaft zwar den Wohnungsmarkt, eine Lösung für die allgemeine Wohnungsnot war sie aber nicht. Die Entwicklung der Jahre 1905–1907 deutet sogar auf eine Verschärfung der Wohnungsnot hin: entwickelten sich bis dahin Häuserzahl und Mitgliederzahl in etwa gleichförmig, so stieg ab 1905 die Mitgliederzahl stark an, während die Zahl der Häuser (und Wohnungen) nicht in demselben Maße anstieg. Wenn die Menschen nicht aus Spekulationsgründen Mitglieder geworden sind – Mitglieder waren an den Gewinnen der Genossenschaft beteiligt – so erhofften sie sich durch die Mitgliedschaft guten und bezahlbaren Wohnraum. 800
Genossen
Wohnungen
600 400 200
0 1895
1900
1905
1910
Diagramm 2: Entwicklung des Bau- und Sparvereins 1895–1907
Das »typische« genossenschaftliche Wohnen entwickelte sich in Göttingen während des Kaiserreiches aber nicht, nur der Wohnkomplex Liebrechtstraße – ab 1914 errichtet – entsprach diesen Vorstellungen: nach außen abgeschlossen, nach innen in einen großzügigen Innenhof geöffnet. Hier könnte sich das genossenschaftliche Leben in Göttingen in Form eigener Feste und Veranstaltungen, gemeinsamer Kindeserziehung etc. wirklich entfaltet haben.47 Für die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt in den Jahren kurz vor 1914 finden sich trotz der aufgezeigten Entwicklung sogar positive Beschreibungen: Zwischen 1910 und 1914 sollen in Göttingen 864 neue Wohnungen errichtet wor45 Geschäfts-Bericht des Göttinger Spar- und Bauvereins für das Jahr 1897–1907. 46 Behr, Der Wohnungsmarkt, S. 72. 47 Vgl. 25 Jahre Baugenossenschaft, S. 5; Bernet, Kultureinrichtungen der Bau- und Wohnungsgenossenschaften, S. 58 ff.
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Wohnen in Göttingen
den sein,48 so dass es im Jahr 1914 sogar einen Wohnungsüberschuss von 65 Wohnungen gegeben haben.49 Ein Überschuss von 65 Wohnungen deutet aber eher auf eine Mangelsituation hin als auf einen mieterfreundlichen Wohnungsmarkt. Zudem ist nicht angegeben, in welchem Preissegment sich die Wohnungen befanden, so dass davon auszugehen ist, dass bezahlbarer und guter Wohnraum für die Unterschichten noch immer Mangelware war.
48 Behr, Wohnungsmarkt, S. 29. 49 Ebd., S. 13.
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2. Die Armen: Wer und was ist arm in Theorie und Praxis
Eine einheitliche und allgemein akzeptierte Definition von »Armut« gibt es nicht. Selbst Definitionen, nach denen es eine absolute Existenzminimumsgrenze geben soll, sind so nicht verallgemeinerbar. Das Existenzminimum als Bezugsgröße für die Armenhilfe war schon im 19. Jahrhundert in der Diskussion. Die Hilfen sollten diese Grenze nicht überschreiten. So interessant diese Diskussionen sein mögen, über das »Existenzminimum« geben sie keinen konkreten Hinweis, diesbezüglich bleiben sie im Vagen.1 Der Begriff der »Armut« ist damit äußerst flexibel anwendbar. Letztlich berücksichtigt eine Definition des Existenzminimums nur das reine materielle Überleben des Individuums, vernachlässigt also sowohl Aspekte, die zur Überwindung der Armut führen sollen, als auch mentale und kulturelle Formen von Armut. Als gebräuchliche und in der bürokratischen Anwendung praktisch erweisen sich trotzdem Armutsdefinitionen, die sich an der materiellen Lage orientieren. Sie sind relativ leicht messbar und kontrollierbar. Dabei gilt als »arm«, wer bestimmte, festgelegte Besitz- und Einkommensgrenzen unterschreitet. Diese Grenzen sind aber zum größten Teil politisch motivierte Grenzen, die je nach politischer Absicht entsprechend wandelbar sind.2 Zumindest in der historischen Forschung hat der Armutsbegriff eine Erweiterung um die soziale Dimension erfahren: »arm« ist danach, wer durch verschiedenste soziale Netzwerke wie die der Familie, aber auch die Netzwerke der Zünfte oder Innungen gefallen war, und um öffentliche Unterstützung nachsuchen musste.3 Schon im 19. Jahrhundert wurde diskutiert, was überhaupt unter Armut zu verstehen sei. Wenn als Ursachen ganz allgemein »1) zu geringe Production und 2) zu grosse Consumtion«4 ausgemacht wurden, hilft das ebenso wenig weiter wie eine Feststellung, dass Armut aus Mangel an Nahrungsmitteln, Kleidung, Hausrat, 1 2 3 4
So z. B. Schmidt, Existenzminimum in der Armenpflege, S. 78 ff. Zusammenfassend vgl. Jacobs, Armut, S. 237–268; Bräuer, Statt einer Einführung, S. S. 29–38. Zusammenfassend: Bräuer, Ein Quelleninventar zur sächsischen Armenproblematik, S. 45–66. Böhmert, Armenpflege und Armengesetzgebung.
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Die Armen: Wer und was ist arm in Theorie und Praxis
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Möbeln und Wohnung bestehe.5 Wer stellt einen solchen Mangel fest? Wann gibt es einen Mangel, wann nicht? Die Gesetze hierzu schweigen sich aus (s. u.). Selbst in den Fällen, in welchen es eigentlich um die Frage »arm« oder »nicht-arm« gehen sollte – zeitgenössisch: »Hilfsbedürftigkeit im armenrechtlichen Sinne. Prüfung derselben.« – wird sich um die juristisch einwandfreie Klärung zum Erwerb des Unterstützungswohnsitzes gekümmert.6 Für einen offeneren Armutsbegriff trat der Soziologe Georg Simmel ein: Er stellte fest, »daß die Armut sich innerhalb jeder sozialen Schicht zeigt, die einen Standard typischer, für jedes Individuum vorausgesetzter Bedürfnisse ausgebildet hat«.7 So schloss er, der Arme als soziologische Kategorie entstehe »nicht durch ein bestimmtes Maß an Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, daß er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte.«8 Diese Definition ist eine Verlagerung der Bestimmung von »Armut« auf die Unterstützung vergebenden Institutionen. Damit sind alle Personen »arm«, die von einer Unterstützung leben. Ähnlich beschreibt auch der einflussreiche Theoretiker unter den Armenpflegern, Emil Münsterberg, »Armut«: »Als arm ist der zu bezeichnen, der die Mittel entbehrt, die nach Sitte, Gewohnheit und Standesauffassung derjenigen Gemeinschaft, in der er lebt, als notwendig erachteten Bedürfnisse zu befriedigen«.9 Die Bestimmung von vorhandenen Mitteln und Bedürfnissen überlässt auch Münsterberg anderen, die in seinem Fall wohl die Armenpfleger selbst sein sollten. Damit war die Bestimmung von »Armut« eine individuelle Angelegenheit der Armenpfleger: Diese hatten für jeden Einzelfall zu entscheiden, wer denn »arm« (und unterstützungsbedürftig) sei. Dabei ist es unerheblich, ob die Armenpfleger völlig frei in ihren Entscheidungen gewesen waren oder ob es in ihrer jeweiligen Kommune genau fixierte Hilfssätze gegeben hatte. Letztendlich bestimmten sie den Grad der Verarmung und damit die Höhe der Hilfen, bzw. die Differenz zwischen vorhandenen Einkommen und Hilfssatz.10 Es gab nicht nur keine genaue Definition von Armut, sie wurde im 19. Jahrhundert sogar bewusst vermieden. »Was zum nothwendigen Lebensunterhalt erforderlich ist, muß, wie bei allen anderen Definitionen, so auch bei dieser, unerörtert bleiben, weil bei der Verschiedenheit der Bedürfnisse sowohl unter einander, wie bezüglich der einzelnen Personen eine Erläuterung im Rahmen einer Begriffsbe-
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Prince-Smith, Über die Quellen der Massenarmuth, S. 7. Zeitschrift für das Heimathwesen 4 (1899), Sp. 41 f. Simmel, Soziologie, S. 549. Ebd., S. 551. Siehe auch, Coser, Soziologie der Armut, S. 34–48. Münsterberg, Die Armenpflege, S. 10. Vgl. Schmidt, Existenzminimum in der Armenpflege, S. 96 f.
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stimmung unmöglich ist.«11 Nicht nur die verschiedene »Bedürfnisse« einzelner Personen hielten von einer genauen Definition ab, sondern auch regionale Unterschiede: Mietkosten, Lebensmittelkosten etc. Diese Unmöglichkeit der Regelung war den Armenpflegern und Gesetzgebern aber im weitesten Sinne ein Dorn im Auge. Sie versuchten solange »hilfsbedürftig« mit »lebensnotwendigem Unterhalt« zu erklären und umgekehrt »lebensnotwendigen Unterhalt« mit »hilfsbedürftig«, bis aus ihrer Sicht der Zirkelschluss aufgelöst war.12 Das gelang aber trotzdem nur unzureichend. Dieser Dorn konnte den ganzen Zeitraum über nicht entfernt werden. Eine letztlich befriedigende Definition von Armut für das 19. Jahrhundert gibt es, wie gezeigt, nicht. Die Möglichkeit, eine allgemein akzeptierte absolute Armutsgrenze aufzuzeigen, existiert damit nicht. Armut hat sich als abhängig von den gesellschaftlichen Standards gezeigt.13 Die Gesellschaft besteht aber aus Individuen mit verschiedensten Werten und Hintergründen. Damit sind in der Praxis der Armenpflege erhebliche Abweichungen bei der Bestimmung von »Armut« zu erwarten. Von den Armen selber ist nur wenig Schriftgut überliefert. Und dieses wenige Schriftgut war meist strategisch auf die Bedürfnisse und Vorstellungen der Adressaten, der Behörden und bürgerlichen Armenpfleger, ausgerichtet. Der größte Teil der schriftlichen Quellen ist Verwaltungsschriftgut und handelt über die Armen, so dass auch nicht bekannt ist, in welchen Situationen sich jemand als arm gefühlt hat. So kann hier als Grenze für Armut nur die gesellschaftlich anerkannte Unterstützungspflicht gesehen werden. Diese unterlag aber einem historischen Wandel, besonders im 19. Jahrhundert.14 Es wurden immer weitere Personenkreise als bedürftig anerkannt, ebenso wie Leistungen ausgeweitet wurden. Kur- oder Erholungsreisen für arme und kranke Kinder, wie sie für Göttingen ab 1902 nachweisbar sind, wären in Göttingen um 1850 oder selbst in der Gründungszeit des Kaiserreiches unvorstellbar gewesen.15 Ebenso wurden Arbeitsgebiete und Arbeitszeiten für Kinder und Frauen durch Gesetze eingeschränkt und ihnen dadurch Erwerbsmöglichkeiten genommen. Dieser fehlende Verdienst musste ausgeglichen werden, im Zweifel dann wieder durch eine Armenunterstützung. 11 12 13 14 15
Zeitschrift für das Heimathwesen 5 (1900), Sp. 196. So z. B. Zeitschrift für das Heimathwesen 10 (1905), Sp. 88 f. Coser, Soziologie der Armut, S. 35 ff.; Pichaud, Wie mißt man Armut, S. 64 f. Küster, Alte Armut und neues Bürgertum, S. 15 ff. Am 4. April 1902 beschloss die Armendeputation, für sieben Kinder je 35 M für einen Kuraufenthalt im Mai des Jahres in Soden auszugeben. Vgl. StadtA Gö: AHR I H 3, Nr. 14. Hier zeigen sich auch die regionalen Unterschiede in der Armenpflege. Derartige Bestrebungen sind für Hamburg seit 1876 nachweisbar. Vgl. Röstel, Sommerpflege für arme Kinder, S. 137–156.
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Exkurs: Preußische Fabrikgesetzgebung: Kinder und Jugendliche im 19. Jahrhundert Während des 19. Jahrhunderts wurde die Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen »entdeckt«. Zu Anfang des Jahrhunderts war die Kinder- und Jugendarbeit nur durch eine rudimentäre Schulpflicht und die mangelnde Körperkraft der Kinder eingeschränkt. Die Industrialisierung änderte diese Situation maßgeblich. Körperkraft wurde vernachlässigbar, Kinder als billige Arbeitskräfte waren gefragt. Eine erste Einschränkung der Fabrikkinderarbeit fand 1839 mit dem »Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter« statt.16 Dieses Regulativ schränkte die Arbeit von Kindern zwischen 9 und 16 Jahren in Fabriken ein. Landwirtschaft, Hausindustrie oder Arbeiten als Dienstboten waren nicht davon betroffen. Weiter eingeschränkt wurde die Kinderarbeit mit dem »Gesetz, betreffend einige Abänderungen des Regulativs vom 9. März 1839 über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken«. Von nun an mussten Kinder mindestens zwölf Jahre alt sein, um in Fabriken arbeiten zu dürfen.17 In der Regierungszeit Bismarcks ruhte die Arbeiter- und Kinderschutzschutzgesetzgebung weitestgehend. Erst nach Bismarcks Abgang wurde ein »Neuer Kurs« sichtbar.18 Mit einer Änderung der Gewerbeordnung 1891 wurde die Kinderarbeit in Fabriken durch eine Verschärfung der arbeitszeitlichen Vorgaben und Heraufsetzung des Mindestalters weiter reglementiert. 1903 drang der Gesetzgeber aus den Fabriken in die privaten Bereiche der Kinderarbeit vor. Heimarbeit und hausindustrielle Tätigkeiten der Kinder wurden eingeschränkt. Lediglich in der Landwirtschaft war Kinderarbeit nur durch die allgemeine Schulpflicht beschränkt; ein Zustand, der bis nach dem Zweiten Weltkrieg anhalten sollte.19 Ähnlich verlief auch die Entwicklung der gesetzlichen Regelungen bei Frauenarbeit sowie während der Schwangerschaft und des Wochenbettes.
16 Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, Abt. 1, Bd. 3, S. XXII– XXXIX. Abdruck in: Quellensammlung zur deutschen Sozialpolitik, Abt. I., S. 745–746. In der allgemeinen Überlieferung zur Entstehung des Regulativs wird das preußische Militär in seiner Sorge um die Zahl der zukünftigen Rekruten aus den industrialisierten Bezirken als treibende Kraft genannt. Dies ist ein anscheinend unauslöschbarer Mythos der Geschichte: Zwar wurde dieses Gesetz vom preußischen Militär 1827 angestoßen, aber nicht durchgesetzt. Allein die zwölf Jahre zwischen Anstoß und Verkündung sprechen dagegen. Zudem waren genügend Rekruten vorhanden. Auch sind keine wesentlichen Unterschiede in den Rekrutenzahlen von Stadt- und Landbezirken feststellbar. Vgl. Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik, S. 107; Feldenkirchen, Kinderarbeit im 19. Jahrhundert, S. 1–41. S. 13 f., S. 17 f. 17 Quellensammlung zur deutschen Sozialpolitik, I. Abt., S. 747–749. 18 Zur »Neuaufnahme« der Arbeiterschutzgesetze siehe auch Berlepsch, »Neuer Kurs«. 19 Als kurze Aufzählung: Bornholt, Kinder und Jugendliche.
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Eine bisher kaum wahrgenommene Gefahr der Verarmung wurde in der Erwerbsarbeit der Frauen gesehen: Nicht nur, so die vielfache Kritik, dass sich erwerbstätige Frauen nicht ausreichend um das eigene Heim kümmern könnten und dadurch erhöhte Ernährungs- als auch Kleidungsausgaben entstünden. Vielmehr sollen einzelne Männer, so eine Stimme in der Zeitschrift für das Heimatwesen 1903, den Gelderwerb ihrer Frauen als ausreichend angesehen haben. Sie nahmen vom knappen Verdienst ihrer Frauen, um ihre eigenen Bedürfnisse wie z. B. nach Alkohol zu stillen. Diese Männer sollen sich deshalb nicht gezwungen gesehen haben, einer eigenen regelmäßigen Arbeit nachzugehen.20 Diese kuriose einzelne Stimme wurde in der Folge aber nicht weiter beachtet, so dass diese Meinung als interessant und eventuell für einige Einzelfälle als zutreffend bezeichnet werden kann, für die Masse der erwerbstätigen Frauen von den Zeitgenossen aber als nicht zutreffend empfunden wurde. Von Armut konnten, so können die Debatten zusammengefasst werden, alle Personenkreise betroffen werden, die sich selber ihr Existenzminimum nicht verschaffen oder die für ökonomisch angespannte Zeiten keine ausreichenden Vorsorgemaßnahmen treffen konnten, die also kein Geld ansparen konnten. Die »ökonomisch angespannten« Zeiten äußerten sich meistens im Verlust von Verdienstmöglichkeiten. Zum Familieneinkommen beitragende Angehörige konnten aufgrund nachlassender Arbeitskraft, etwa im Alter oder durch Krankheit, oder schlicht durch Kündigung, die auch sehr weitgefächerte Gründe gehabt haben konnte, ihren Arbeitsplatz verlieren. Angehörige konnten aber ebenso die Familie einfach verlassen und dadurch ein Loch in das Familienbudget reißen oder den Angehörigen durch Auflösen der bisherigen Kinderbetreuungsverhältnisse das Arbeiten (und Verdienen) erschweren. Die andere Möglichkeit, in eine »ökonomisch angespannte« Zeit zu geraten, bestand im Wachsen der Schar der zu versorgenden Angehörigen: Eigene Kinder konnten geboren werden, Verwandte konnten sterben und unmündige Kinder hinterlassen, oder die eigenen, altersschwachen Eltern mussten in zunehmenden Maße mitversorgt werden. Dabei stiegen aber weder Einkommen noch Ersparnisse in nennenswerter Weise, so dass bei gleichbleibend knappem Einkommen der »Gürtel noch enger geschnallt werden musste«. Zu den von Armut bedrohten Kreisen gehörten damit v. a. Tagelöhner, Handwerker und Arbeiter. Es konnten aber auch Personen aus bürgerlichen Kreisen, z. B. durch den Tod des Haupternährers, von Armut betroffen sein. Besonders in diesen Kreisen war das Phänomen der »verschämten Armut« zu beobachten. In Erinnerung an ihren bürgerlichen Status trauten sich diese Personenkreise nicht, 20 Eine übersehene Wirkung der Frauenarbeit, in: Zeitschrift für das Heimatwesen 8 (1903), Sp. 169.
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Die neuen Sozialversicherungen
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die öffentliche Armenfürsorge in Anspruch zu nehmen. Diese sollte dann doch nur den Unterschichten vorbehalten bleiben. Zu den wesentlichen Faktoren, Armut zu verhindern, wurde die Rolle der Frau gezählt. Der Mann hatte durch seine Arbeit zwar das notwendige Geld zu verdienen, doch der Frau oblag die gesamte Haushaltsführung. Dazu gehörten nicht nur die Verwaltung der Ausgaben, das Einkaufen oder anderweitiges Beschaffen von Lebensmitteln, Kleidung etc., sondern auch die Kindererziehung und die Ordnung des Haushaltes. Der Frau im Unterschichtenhaushalt oblag nach Meinung der bürgerlichen Armenpflege(r) die Verhinderung einer sichtbaren Verelendung, die wenigstens als Vorbote einer zukünftigen Verarmung wahrgenommen wurde. Diese Sichtweise wurde zwar im 19. Jahrhundert durch die Betrachtung der äußeren Umstände wie die Beschaffenheit der Wohnung und der tatsächlich der Frau zur Verfügung stehenden Geldmittel modifiziert, doch blieb sie im Kern immer bestehen.21
2.1 Die neuen Sozialversicherungen Solange »die Armen« Arbeit hatten und einen geregelten Lohn bekamen, waren sie meistens nicht von Armenunterstützung abhängig. Das Arbeitsleben war aber neben den »normalen« Beschäftigungsrisiken der Tagelöhner und den jederzeit möglichen Kündigungen auch von gesundheitlichen Risiken geprägt, die wenigstens bis zur Einführung der Arbeitersozialgesetze keine Abfederung fanden. So waren die Armen von der Gnade und der Willkür »ihrer« Stadt abhängig, wie es der städtische Feldaufseher Friedrichs erleben musste: Im Alter von 68 Jahren bat er 1869 nach 40 Jahren im städtischen Dienst um die Aufnahme ins Siechenhaus. Ihm wurde in der Folge zwar Armenunterstützung zugesprochen, doch noch ein Jahr später war er noch nicht im Siechenhaus angelangt. Erreicht hat er dieses Ziel dennoch, wurde 1875 von der »Wittwe des im Siechenhaus verstorbenen Feldhüters Friedrichs« berichtet.22
Friedrichs hatte die Hoffnung, aber kein einklagbares Recht, auf eine Rente oder Altershilfe der Stadt. Seine zukünftige Situation im Alter muss sich ihm als vollkommen ungewiss dargestellt haben. Hier ist dann der große Vorteil der Sozialversicherung gegenüber der herkömmlichen Armenpflege zu sehen: es gab bei 21 Vgl. Radomski, Die Frau in der öffentlichen Armenfürsorge,, S. 29, 65; Fischer-Eckert, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen, S. 82–95. 22 StadtA Gö: AHR I H 7, Nr. 3.
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Unglücksfällen oder im Alter Planungssicherheit und Rechte, auf die man sich verlassen und notfalls auch über Gerichte einfordern konnte. Die Armenpflege war willkürlich: Warum musste Friedrichs wenigstens ein Jahr lang trotz Antrags auf die Aufnahme ins Siechenhaus warten? Gab es dort keinen Platz für ihn oder wurde er als nicht genug pflegebedürftig angesehen? Durch die Bismarcksche Sozialversicherungsgesetzgebung kam in den 1880erJahren ausschließlich für die Empfangsberechtigten durch die Versicherungsleistungen bei Krankheit, Invalidität und Alter eine weitere Einkommensquelle hinzu. Zwar gab es schon zuvor einzelne Versicherungen, wie z. B. auf einzelne Orte beschränkte Krankenkassen, doch wurde das Krankenversicherungswesen durch dieses neue Gesetz auf eine breitere Basis gestellt und dadurch leistungsfähiger.23 Die Leistungen aus den Sozialversicherungen waren der Armenpflege vorgelagert.24 Empfangsberechtigt war aber nur, wer in die Vorsorgekassen über einen bestimmten Zeitraum einzahlen durfte und auch eingezahlt hatte. Entsprechend wurden die verschiedenen Sozialversicherungsgesetze für die Auswirkungen auf die Armenpflege unterschiedlich wahrgenommen. Während sich die Wirkungen der neuen Krankenversicherung in den Armenpflegehaushalten schnell zeigten, so zeigte die Alters- und Invalidenversicherung bis vor 1900 kaum Folgen.25 Die Versicherten konnten durch die kurzen Versicherungszeiten keine höheren, den Lebensunterhalt deckende, Leistungen erlangen. Einen ähnlichen Effekt hatte die später eingeführte Unfallversicherung. Zum Teil waren aber gerade hier die Versicherungsleistungen zu niedrig. Die ausgezahlten Gelder konnten die fortlaufenden Lebenshaltungskosten nicht decken und schützten nicht vor dauerhafter Verarmung. Neben den Versicherungsleistungen musste oftmals Armenunterstützung bezogen werden.26 Die Versicherungszahlungen erhöhten aber die Motivation etwa von Familienangehörigen, die Bedürftigen bei sich aufzunehmen. So erhöhte sich das Familieneinkommen, wenn z. B. die altersschwachen (und rentenempfangsberechtigten) Eltern aufgenommen wurden, wenn auch nicht in dem Maße wie die Kosten anstiegen. Trotzdem konnte die Krankenversicherung durch ihre Leistungen – freie ärztliche Behandlung und Heilmittel sowie Krankengeld – den Absturz in die Armut verhindern oder wenigstens aufhalten. Insgesamt entlasteten die Sozialversicherungsgesetze schon vor 1900 die Armenkassen 23 Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik, S. 168 f. 24 Vgl. Retzbach, Leitfaden, S. 313. 25 Freund, Armenpflege und Arbeiterversicherung, S. 1–89, hier: S. 85, 89; Zeitschrift für das Heimathwesen 12 (1907), 97–100, Sp. 113–118. 26 Vgl. Weber, Armenwesen und Armenfürsorge, S. 16; Lass/Zahn, Einrichtung und Wirkung der Deutschen Arbeiterversicherung, S. 230. Zur Kritik an der Vergabepraxis der Versicherungen vgl. Freund, Armenpflege und Arbeiterversicherung; Olshausen/Helling, Verhältnis der Armenverbände zu den Versicherungsanstalten, S. 69–86; Schröder, Subjekt oder Objekt, S. 126–162.
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in einem erheblichen Ausmaß. Und diese Wichtigkeit nahm in den Folgejahren immer weiter zu.27 Um ein genaueres Bild der Auswirkungen zu bekommen forderte der Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit 1893 eine erneute statistische Untersuchung der Armenpflege, wie sie 1885 geschehen war (siehe S. 47).28 Die Zahl der von den Krankenversicherungen erfassten Personen weitete sich aus.29 Waren allein in der Allgemeinen Ortskrankenkasse Göttingen oder in deren Vorgängern 1893 noch 2.173 Personen (1890: 23.748 Einwohner) erfasst, waren es 1913 schon 4.738 Personen (1910: 37.594 Einwohner), davon ca. 2.175 Frauen.30 Allerdings entspricht dies einem Anstieg von nur 3 % auf ca. 12 % der Versicherten dieser Versicherung an der Gesamtbevölkerung Göttingens. Hinzu kamen jeweils noch die mitversicherten Familienangehörigen. Gleichzeitig lässt sich über das Ansteigen der Krankheitsfälle weiblicher Mitglieder das Ansteigen der versicherungspflichtigen Arbeiten für Frauen konstatieren. Auch für die arbeitenden Frauen brachte diese Arbeiterversicherung schnell Vorteile. 100 80 %
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männlich Mitglieder männlich Krankheitsfälle männlich Krankheitstage
weiblich Mitglieder weiblich Krankheitsfälle weiblich Krankheitstage
20 0 1890
1895
1900
1905
1910
1915
Diagramm 3: Mitglieder, Krankheitsfälle und Krankheitstage der AOK Göttingen nach Geschlecht, 1893–1913, in Prozent31
Betrachtet man die von der Göttinger Ortskrankenkasse gelieferten Daten, so zeigt sich das Bild des kranken Mannes: 1913 und 1914 waren etwa 70 % der Krankenkassenmitglieder männlich. Auf diese entfielen etwa 75 % der von der Kasse getragenen Krankheitstage bzw. 80 % der der Kasse gemeldeten Krankheitsfälle. Der Anteil an den bezahlten Krankheitstagen und Krankheitsfällen war größer als der Mitgliedsanteil. Nahmen die Frauen, denen neben ihrer Arbeit traditionell die Haushaltsführung oblag, nicht so schnell Krankheitstage für sich in Anspruch? 27 Freund, Armenpflege und Arbeiterversicherung, S. 83 f.; Brinkmann, Armenpflege in ihren Beziehungen zu den Leistungen der Socialgesetzgebung, S. 30. 28 Mitteilung über den Gang der Arbeiten der Kommission zur Prüfung, S. 13–17. 29 Schröder, Subjekt oder Objekt, S. 127. 30 Gemeinsame Ortskrankenkasse Göttingen, Jahresbericht 1912, 1913, 1914, Adressbuch Göttingen 1890, 1910. 31 Gemeinsame Ortskrankenkasse Göttingen, Jahresbericht 1912, 1913, 1914.
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Die Invaliditäts- und Rentenversicherungsgesetze brachten nicht automatisch Verbesserungen für die Armen oder die kommunale Armenpflege. Oftmals war den potentiellen Antragstellern nicht bekannt, dass sie überhaupt versichert waren.32 Umgekehrt wiederum versuchten einige, Versicherungsleistungen zu erhalten, obwohl sie nicht versichert waren. Ob dies an der mangelnden Kenntnis der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber – die dann ebenfalls keine Zahlungen leisteten – lag, lässt sich aber nur schwer rekonstruieren. Jedenfalls musste die traditionelle kommunale Armenpflege derartiges »Unwissen« sozial auffangen: Am 3. März 1891 wurde das Gesuch des 45-jährigen Schneiders Heinrich Julius Frees auf Altersrente abgelehnt, da dieser die versicherungspflichtige Mindestarbeitszeit nicht aufweisen konnte. 1892 wurde der ansonsten in der Armenverwaltung nicht weiter auffällig gewordene Frees dann in das Siechenhaus aufgenommen und später in das Reinholdstift überführt, wo er 1899 verstarb.33
Frees war als Schneider mit 45 Jahren deutlich ausgezehrt. Mit dem Wissen um seine nachlassende Kraft beantragte er Altersrente. Schließlich wurde er im Siechenhaus – dem Ort für nicht mehr arbeitsfähige Menschen – aufgenommen. 1899 ist er dann verstorben. Hier zeigt sich, wie schnell die bekannten Lebensverhältnisse der Göttinger Unterschichten – schlechte und teilweise mangelnde Nahrung, zugige und kalte, mitunter auch feuchte Behausungen, schwere und intensive Arbeit – einen Körper dauerhaft auslaugen konnten. Kamen nun auch noch Krankheiten hinzu – 1892 wurde Frees wegen eines Darmkatarrhs behandelt und 1896 war er als »Siechenhäusler« im städtischen Hospital34 – konnte das Lebensende schnell erreicht sein, auch trotz der regelmäßigen Beköstigung und Pflege im Siechenhaus. Insgesamt sind die Auswirkungen der Bismarckschen Arbeiterversicherungen unbekannt. Allgemein wurde schon im 19. Jahrhundert eine Entlastung der Armenkasse durch die Versicherungen angenommen, doch inwieweit dies geschah, konnte aufgrund von Bevölkerungswachstum, Leistungsausweitung der Armenpflege und einer allgemeinen Teuerung nicht beziffert werden.35 32 Vgl. Schröder, Subjekt oder Objekt, S. 142. 33 KKA Göttingen: Pfarrarchiv St. Jacobi. Armen- und Krankenfürsorge. 1815–1910. A 362, I; StadtA Gö: B 62 Städt. Alten- und Pflegeheime, Nr. 68. 34 StadtA Gö: AHR I H 8, Nr. 1 Band 2, StadtA Gö: AHR I H 8, Nr. 2. 35 Vgl. Bödiker, Die Arbeiterversicherung in den Europäischen Staaten, S. 23; Reitzenstein, Arbeiterversicherung, Armenpflege und Armenreform, S. 13, 18 f.; Borght, Die soziale Bedeutung, S. 69 ff.; Lass/Zahn, Denkschrift für die Weltausstellung zu Paris, S. 228 ff. Entsprechend sind heute ähnliche Bemühungen unmöglich.
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Die Göttinger Armen des Jahres 1885
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Eine Nebenwirkung der Sozialversicherungen war die Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Die Versicherungen mussten die Zahlungen ihrer Versicherten investieren und entdeckten zur »Freude« der verschiedenen »Armenforscher« den bislang vernachlässigten Wohnungsbau für die Unterschichten.36 Ohne die Gelder der Versicherungen, die als zinsgünstige Kredite an Wohnungsbaugesellschaften gelangten, wäre der genossenschaftliche und soziale »Bauboom« ab den 1890er-Jahren nicht möglich gewesen.
2.2 Die Göttinger Armen des Jahres 1885 Für das Jahr 1885 hat die Armenverwaltung im Rahmen einer reichsweiten statistischen Erhebung sämtliche Arme aufgenommen, die von der Stadt Göttingen in irgendeiner Form unterstützt wurden. Demnach wurden in Göttingen 492 Personen mit 425 Angehörigen unterstützt.37 Diese insgesamt 917 Personen entsprechen ca. 4 % der Göttinger Bevölkerung. In Göttingen gab es auf die Gesamtbevölkerung gerechnet mehr Arme als in den Städten des Regierungsbezirks Hannover oder in den Städten der Provinz Hannover. Insgesamt kann dieses Verhältnis im Vergleich noch als im Rahmen der städtischen Gemeinden bezeichnet werden.38 In der Arbeitsliste der Göttinger Verwaltung für diese Erhebung sind insgesamt 503 Personen erfasst. Die dazu gehörigen Familienangehörigen fehlen in dieser Aufstellung. Es sind also nur Personen erfasst, die einer Familie vorstehen oder allein leben. Dieser Aspekt spielt bei der Altersverteilung eine wichtige Rolle, sind doch Kinder und Ehefrauen, sofern sie in einer Familie lebten, nicht erfasst. Auch fehlen alle Personen, denen ausschließlich von Vereinen, Stiftungen oder Privatpersonen geholfen wurden. Ebenso wichtig erscheint bei der Betrachtung der Altersverteilung die geringe Fallzahl, können zufällige Gruppen von letztendlich wenigen Personen für starke Ausschläge sorgen. Das Diagramm verführt, »Armut« als statischen Dauerzustand anzusehen. Es zeigt aber nur altersspezifische Risiken, die eintreten können, aber nicht müssen. Individuelle Möglichkeiten, mit Mangel umzugehen, individuelle Erkrankungsrisiken, aber auch die Vielfalt der Hilfsmöglichkeiten zeigen »Armut« im 19. Jahrhundert als einen dynamischen Prozess innerhalb eines individuellen Lebens.39
36 37 38 39
Vgl. Zeitschrift für das Heimathwesen 4 (1899), Sp. 87–89. Statistik der öffentlichen Armenpflege, S. 54 f. Ebd., S. 56 f., 120 f., S. 136 f. Vgl. Leisering, Armutspolitik und Lebenslauf, S. 70.
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20 15
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0-4
5-9 10-14 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-84 85-89 90-95
Diagramm 4: In Göttingen 1885 unterstützte Personen nach Alter und Geschlecht40
Bis zum Alter von 14 Jahren – also ungefähr bis zur Konfirmation, bis zur Schulentlassung und zum Beginn einer Arbeit – steigt die Zahl der unterstützten Personen an. Der Grund dafür wurde schon angesprochen: bei Geburt ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass noch die eigenen Eltern oder wenigstens andere Personen sich um das Kind kümmern. Diese Wahrscheinlichkeit nimmt mit steigendem Lebensalter ab. Der starke Anstieg der Jungen in der Altersgruppe 10–14 ist nur auf den ersten Blick eine Verzerrung aufgrund der geringen Fallzahl. Im Gegensatz zu den Mädchen dieses Alters waren die Jungen keine Hilfe im Haushalt oder bei der Arbeit. Die Anreize, Jungen aufzunehmen, waren geringer, bzw. Mädchen wurden bei angespannten finanziellen Verhältnissen länger behalten. (Vgl. Waisenhaus, S. 183 f.) Sowohl in der Altersgruppe zuvor als auch danach sind die Zahlen ungefähr ausgeglichen. Der anschließende starke Abfall in der Grafik ist interessant: Wahrscheinlich bekamen die Jugendlichen eine Anstellung, eine Lehre oder einen anderen Einstieg in das Berufsleben. Sie befanden sich dabei – mit zunehmendem Alter im sinkenden Maße – unter einer Vormundschaft bzw. unter einer direkten Kontrolle. Zudem hatten sie meist noch keine eigenen Kinder. Dies änderte sich dann mit fortschreitendem Alter: Kinder wurden geboren, eigene Wünsche kamen, Unfälle passierten. Kurz: Armutsrisiken wuchsen. Bis zur Altersgruppe der 40–44-jährigen finden sich unter den Unterstützten relativ mehr Männer. Sind hier die für die Armenpfleger berüchtigten Alkoholiker zu finden?41 Dies wäre auch eine Erklärung für den starken Abfall der Männerzahl: der Alko40 StadtA Gö: AHR I H 2 Nr. 2. 41 Vgl. Zeitschrift für das Heimathwesen 8 (1903), Sp. 222–226; Zeitschrift für das Heimatwesen 19 (1914), Sp. 113–117; Roberts, Der Alkoholkonsum deutscher Arbeiter, S. 220–242. Allerdings sank der Alkoholkonsum pro Kopf ab etwa 1900. Trotzdem war Branntwein als Kalorienlieferant für die Unterschichten nicht zu vernachlässigen. Vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 194 f.
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Die Göttinger Armen des Jahres 1885
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holmissbrauch und seine Auswirkungen beendeten das Leben recht schnell. Eine genauere Untersuchung der Männer mit der Verarmungsursache »Trunk« würde das Problem aber eher verschleiern. »Trunk« wurde nur bei Männern angegeben, bei denen der Alkoholmissbrauch als direkte Ursache angesehen wurde. Bei anderen Alkoholkranken, die sich den Lebensunterhalt trotz Alkohols noch sichern konnten, wurde diese Begründung nicht angegeben. Da sich zudem der Alkoholkonsum in diesem Zeitraum verlagert hat: in der »besseren« Arbeiterschaft vom Branntwein zum Bier, von der Arbeitszeit in die arbeitsfreie Zeit und nicht zuletzt unter anderem damit aus der Öffentlichkeit in die Privatheit,42 erhöhen sich die Variationen, jemanden als trunksüchtig anzusehen. Nicht zuletzt galt »Trunksucht« als Ursache für andere Verarmungsgründe. Der »Trunksüchtige« konnte ja durch seinen Alkoholkonsum nicht mehr mit voller Kraft arbeiten und verdienen. Gleichzeitig hatte er durch den regelmäßigen Kauf von großen Mengen Alkohols erhöhte Kosten zu tragen.43 Eine andere Möglichkeit, das »Aussteigen« der Männer aus der Statistik zu erklären, ist in der Arbeitswelt zu finden: sie erledigten die ungesunden und gefährlichen Arbeiten, sie erkrankten oder verletzten sich durch die Arbeitsbedingungen und verstarben letztendlich. Die Männer konnten aber auch einfach Göttingen verlassen und ihre Familien unversorgt zurücklassen. So finden sie sich eben nicht mehr in den Listen der Göttinger Armenpflege, sondern nur noch ihre Frauen und Familien. Einige dieser Männer werden vielleicht in anderen Städten oder Dörfern wieder sesshaft geworden sein. Viele andere dieser Männer werden dagegen auf der Straße gelebt haben. Zumindest eine Rekrutierungsgruppe für die große Schar der Wanderarmen, die von Stadt zu Stadt, von Wanderarbeitsstätte zu Wanderarbeitsstätte ziehen mussten, ist hier zu finden. Hinter den Männern standen oftmals einzelne Frauen oder gar ganze Familien. Mit dem Fortfall der Männer stieg gleichzeitig die Zahl der versorgungsbedürftigen Frauen, bzw. wird diese Zahl erst sichtbar: eventuell waren sie die Frauen der verstorbenen Alkoholiker; auf alle Fälle stiegen ihre Armutsrisiken mit fortschreitendem Alter: hohe Kinderzahl, Krankheiten, Verlust des Mannes. Etwas mehr als die Hälfte der Unterstützungen wurden für Mädchen und Frauen aufgewendet, bzw. an diese ausgezahlt. Versucht man, die Frauen hinter den (Ehe-)Männern herauszubekommen wird Armut zu einem überwiegend weiblichen Problem. Gleichzeitig hatten die Frauen im Gegensatz zu den Männern keinen Beruf, keine Profession erlernt. So konnten sie nur die einfachen und schlecht bezahlten Arbeiten erledigen. Damit hatte die Armut in Göttingen 1885 ein ausgeprägtes weibliches Gesicht, zumal die Männer wie geschildert frühzeitiger aus dem Leben oder aus 42 Spode, Macht der Trunkenheit, S. 255 43 Vgl. Lammers, Trunksucht und Armenpflege, S. 61–68.
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Die Armen: Wer und was ist arm in Theorie und Praxis
der städtischen Gesellschaft und damit aus dieser Statistik schieden. Trotzdem ist es schwierig, sich mit diesem Befund auf die weibliche Seite zu konzentrieren. Beide Geschlechter sollten in der Armutsforschung gleichrangig behandelt werden. Männliche und weibliche Armut waren unterschiedlich: Männer waren die »unwürdigen« Armen, die aufgrund ihres Lebenswandels – aber auch wegen der teilweise ungesunden und gefährlichen Arbeit – eher aus dem Leben schieden. Die Gründe ihres frühen Ablebens sind so meist in ihrer Armut zu finden. Oder die Männer bewegten sich als Wanderarme außerhalb der städtischen Gemeinschaft. Weibliche Armut dagegen war die »würdige« Armut: Frauen wurden mit fortschreitendem Alter und entsprechend nachlassender Kraft und vermehrter Krankheit arm. Die Verteilung der Unterstützungen können als Spiegelung des bürgerlichen Familienmodells gesehen werden: Die Frau wurde als »Opfer von Armut und Elend wahrgenommen«44, entsprechend hatte sie Anspruch auf Hilfe und bekam diese auch gewährt. Im 19. Jahrhundert gab es kein festes Bild (bürgerliches) von Armut. Es musste im Einzelfall immer neu entschieden werden, ob jemand als arm gegolten hat oder nicht. Während des gesamten 19. Jahrhunderts änderten sich zudem die Anforderungen an den Mangel, durch Arbeiterschutzgesetze und Sozialversicherungen weiteten sich die Leistungen und Möglichkeiten für unterstützungsbedürftige Personen. In der Praxis wurden vornehmlich Frauen als arm angesehen. Männer verstarben – auch aufgrund ihrer Armut – viel eher oder verließen Göttingen. Sie hinterließen somit ihre Frauen und Familien.
44 Hüchtker, »Elende Mütter« und »liederliche Weibspersonen«, S. 21.
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3. Gesetze zur Armenpflege
Eine eigene, spezielle Armengesetzgebung gab es im Königreich Hannover nicht. Dies scheint dem allgemeinen Stand in Deutschland entsprochen zu haben, von der großen Ausnahme Preußen abgesehen.1 Traditionell war zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Geburtsgemeinde zur Armenfürsorge verpflichtet, so auch im Königreich Hannover bis zur Annexion durch Preußen. Für Hannoveraner ließ sich allein durch einen Aufnahmeakt in ein anderes Gemeinwesen das Heimatrecht in einer anderen hannoverschen Gemeinde erwerben oder durch einen fünfjährigen Aufenthalt in der neuen Gemeinde »ersitzen«.2 Allein für erkrankte Durchreisende gab es 1838 ein Gesetz, wonach der Erkrankungsort Kosten bis zu einem Taler tragen sollte. Alles, was diese Summe überstieg, sollte die Heimatgemeinde oder die Generalkasse des Königreichs Hannover übernehmen. Insgesamt gab es damit kaum übergeordnete vereinheitlichende Regelungen.3 In Preußen wurde im Jahr 1842 in Folge von Freizügigkeitsregelungen das althergebrachte Heimatprinzip durch das Prinzip des erwerbbaren Unterstützungswohnsitzes abgelöst. Diese Regelung wurde 1866 auf den Norddeutschen Bund und 1871 mit Inkrafttreten des Unterstützungswohnsitzgesetzes auf die größten Teile des Deutschen Reiches ausgedehnt.4 In der 1866 erworbenen Provinz Hannover, und damit auch in Göttingen, war die Zeit bis 1871 von einer gewissen Unsicherheit geprägt. Dass die Übernahme der preußischen Regelungen in Arbeit war, war schon früh seit der Besetzung durch Preußen bekannt.5 Einerseits war das entsprechende Gesetz dann erlassen, andererseits nicht verkündet, d. h. es war nicht in Kraft. Ein Freizügigkeitsgesetz für den Norddeutschen Bund ging 1867 sowohl 1 2 3 4 5
Vgl. die einzelnen Beiträge zu verschiedenen deutschen Staaten bei Emminghaus, Armenwesen und Armengesetzgebung. Grumbrecht, Armengesetzgebung im vormaligen Königreich Hannover, S. 106 Andreae, Landarmenwesen in der Provinz Hannover, S. 139; I. Titz, Armenwesen in den Plessedörfern, S. 188. Abdruck in: Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Sozialpolitik, I. Abteilung, 7. Bd: Armengesetzgebung und Freizügigkeit, S. 263 ff. Vgl. GZ v. 1. Dezember 1866.
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von der Existenz des Unterstützungswohnsitzes als auch von der Existenz des hergebrachten Heimatrechts aus.6 Die Göttinger Armendeputation legte für den Zeitraum von 1867 bis 1869 eine Akte von im Göttinger Stadthospital behandelten ortsfremden Personen an. Nach dem Muster des Unterstützungswohnsitzes sollten wahrscheinlich von anderen Gemeinden resp. Armenverbänden Ausgleichszahlungen eingefordert werden.7 Vielleicht sicherte sich die Stadtverwaltung so für eventuell noch zu führende Prozesse ab. Die offizielle Wirksamkeit scheint das Gesetz in der Provinz Hannover erst ab 1871 erlangt zu haben.8 In Elsass-Lothringen wurde das Gesetz im Jahr 1910 und in Bayern erst im Jahr 1916 eingeführt. Die Übernahme der neuen Regelungen führte in der neuen preußischen Provinz Hannover schnell zu einer bisher unbekannten Mehrarbeit in den Armenbehörden. Es wurden auch recht schnell aus den Stadtverwaltungen – konkret der Harburger – neue Vorschriften für die Provinz gefordert, die Fragen zu Unterstützungswohnsitz und Erstattungsansprüchen klären sollten.9 Nach dem Unterstützungswohnsitzgesetz mussten alle unterstützungsbedürftigen Personen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft unterstützt werden. Das Gesetz konzentrierte sich aber auf Vorschriften für die Organisation der Armenpflege. Es schrieb die Schaffung von Ortsarmenverbänden vor, die sich auf eine Stadt oder mehrere Landgemeinden erstrecken konnten. Den Ortsarmenverbänden waren Landarmenverbände übergeordnet. Für Göttingen war dies der Landarmenverband Hannover. Das Gesetz bestimmte weiter die Erwerbsbedingungen für den Unterstützungswohnsitz. Vorausgesetzt wurde ein zweijähriger Aufenthalt in einem Ortsarmenverband, ohne eine öffentliche Armenhilfe in Anspruch genommen zu haben, Abstammung aus dem Gebiet des Ortsarmenverbandes oder Einheirat (nur für Frauen) in diesen. Personen ohne einen Unterstützungswohnsitz wurden als »landarm« bezeichnet und von den Landarmenverbänden unterstützt. Im Jahrhundert der Industrialisierung, der massenhaften Landflucht, liegt der Vorteil eines erwerbbaren Unterstützungsanspruches auf der Hand: Zum ersten hatte jede Person einen Unterstützungswohnsitz. In der Regel wurde ein alter Unterstützungsanspruch nur aufgegeben, wenn gleichzeitig ein neuer erworben wurde. Zweitens: die Kommune, die von den »wirtschaftlichen Leistungen des Betreffenden«10 profitiert hat, musste diesen unterstützen. Die (ländliche) Hei 6 GZ v. 8. November 1867; GZ v. 23. April 1868. Vgl. auch Sachße/Tennstedt, Sozialpolitik vor dem Sozialstaat, S. 207. 7 Vgl. StadtA Gö Altes Aktenarchiv 296. 8 Ebert, Die Heimaths-, Armen und Gemeinde-Gesetzgebung; Ebert, Die Heimaths-, Armen und Gemeinde-Gesetzgebung, zweite Auflage. 9 Grumbrecht, Armengesetzgebung im vormaligen Königreich Hannover, S. 106 f. 10 Eger, Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz, S. XVII.
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matgemeinde, von welcher der Betreffende in ein industrielles Zentrum abgewandert war, und die nicht von seinen Arbeits- und Steuerleistungen profitiert hatte, blieb auch später vor Versorgungsansprüchen verschont. Ist die Erwerbbarkeit des Unterstützungswohnsitzes Zeichen für eine moderne Regelung, so zeugen die langen Fristen, derer es bis zum Erwerb bedarf, von der nicht ganz vollkommenen Lösung von dem alten Heimatrecht. Folgerichtig wurde 1905/06 eine Novelle des Gesetzes beraten, welches neben verschiedenen Erleichterungen für den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes hauptsächlich die Kürzung der zweijährigen Frist für den Erwerb um ein Jahr vorsah. Dieses wurde aber von allen Verbänden, Vereinen und Parteien, die sich um Armenkassen, Arme, Arbeiter und Wohlfahrt kümmerten, aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt. Lediglich die Sozialdemokraten stimmten dieser Novelle zu, nicht ohne jedoch auf die ihrer Meinung nach grundsätzlichen Fehler bürgerlicher Armenfürsorge aufmerksam zu machen und die »Verbesserung« als nicht weitgehend genug zu kennzeichnen.11 Von dem Unterstützungswohnsitzgesetz waren die sog. Wanderer, Wanderarbeiter oder die Wanderarmen ausgeschlossen. Sie waren nun einmal nicht Mitglieder der jeweiligen Ortsarmenverbände. So wurden diese kurzfristig unterstützt und dann meist schnellstmöglich zum Verlassen des Ortes gezwungen.12 Der Landarmenverband Hannover unterstützte »seine« landarmen Personen zum größten Teil in verschiedenen Anstalten: die Frauen seit 1879 in der Landarmenanstalt Himmelsthür nahe Hildesheim, die Männer seit 1883 in der Anstalt in Wunstorf. Ebenfalls in Wunstorf wurde 1880 ein neues Werkhaus errichtet, um die alte Anstalt in Moringen zu entlasten.13 In Moringen zeigt sich deutlich der stigmatisierende Charakter der Armenpflege durch die räumliche Nähe zu den straffällig gewordenen Personen. Bis um ca. 1900 soll dabei die Belegung der Landarmenanstalt immer weiter zugenommen haben. Erst mit der Jahrhundertwende gingen die Belegungszahlen derart drastisch zurück, dass die Anstalt in Wunstorf geschlossen und mit dem Provinzialwerkhaus Moringen zusammengelegt wurde.14 Trotzdem bot die Landarmenanstalt den Armen einen verlässlichen Rückzugsort, den sie immer aufsuchen konnten, wenn die Probleme »in Freiheit« übermächtig zu werden drohten.15 Nur ein geringer Teil der landarmen Personen wurde außerhalb der Anstalten unterstützt. Die Ortsarmenverbände hatten die Unterstützungen für landarme Personen vorzustrecken. Daher wurden von dem Landarmenverband wahrscheinlich Personen nur übergangsweise bis zur Ein11 12 13 14 15
Kleeis, Die »Verbesserung« der Armenpflege, S. 267–270. Klumker, Mängel, S. 465 f. Koepchen, Korrigendenwesen, S. 155–158, S. 156. Ebd., S. 156. Vgl. Lerche, Alltag und Lebenswelt.
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weisung in die Landarmenanstalt in der offenen Pflege unterstützt. Desweiteren bestimmte das Unterstützungswohnsitzgesetz die Regelungen, Zuständigkeiten und Ansprüche der jeweiligen Verbände untereinander, wenn Personen einem Armenverband zur Unterstützung anfielen, für welche dieser nicht zuständig war. Die Streitfälle aus diesen Ersatzforderungen der Armenverbände untereinander wurden durch das zentral für das Reich eingerichtete Büro für Unterstützungsangelegenheiten geregelt und in anonymisierter Form jährlich veröffentlicht.16 Aber auch diese Entscheidungen waren für die Kontrahenten anscheinend nicht bindend, der Aufwand der Beschwerde war zum Teil größer als der erhoffte Nutzen. Daher sollen Armenunterstützungen bei einem ungeklärten Unterstützungswohnsitz noch schwieriger zu erlangen gewesen sein, als dies ohnehin der Fall war.17 Insgesamt war weder die Art und Weise sowie die Höhe der Unterstützungen noch eine mögliche Organisation der kommunalen Armenfürsorge durch das Unterstützungswohnsitzgesetz geregelt.18 Selbst die Unterstützung von armen Kindern zum Volksschulbesuch durch die Armenkassen war strittig und wurde in den einzelnen Bundesstaaten des Deutschen Reiches unterschiedlich gehandhabt,19 ebenso wie die Anrechnung von Leistungen aus den gesetzlichen Sozialversicherungen zur Armenunterstützung in jeder Stadt unterschiedlich durchgesetzt wurden.20 Derartige »Feinheiten« wurden vom Reichsgesetzgeber den einzelnen Bundesstaaten und den jeweiligen Verbänden, damit letztendlich den Ortsarmenverbänden überlassen. Entsprechend konnte in einem Referat des Vereins gegen Verarmung und Wohltätigkeit 1898 geklagt werden, dass die »Pflegeorgane« noch ein weitgehend freies Ermessen in der Höhe der Unterstützungen hätten.21 Diese (Un-)Regelung hatte dann anscheinend zur Folge, dass vom Gesetzgeber eigentlich vorgesehene Verpflichtungen und Hilfeleistungen nicht gezahlt wurden: Das »Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900«22 stellte umfangreiche Mittel zur Verfügung, von »Verwahrlosung« oder »sittlichem Verderben« bedrohte oder straffällig gewordene Minderjährige einer Fürsorgeerziehung in Heimen oder in Familien zuzuführen. Das Gesetz zielte damit auf die Unterschichten ab. Wurde aber von einem Ortsarmenverband festgestellt, dass ein mittlerweile zugezogener Fürsorgezögling nach diesem Gesetz unterstützungsbedürftig war, so gab es 16 Vgl. Entscheidungen des Bundesamtes für das Heimatwesen 1873–1940. Streitpartner waren die einzelnen Armenverbände. Die Armen selbst blieben dagegen nur die Objekte des Streits. 17 Klumker, Mängel, S. 470 f. 18 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 205–222. 19 Schmidt, Existenzminimum in der Armenpflege, S. 83 ff., Eger, Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz, S. 22 f. 20 Schmidt, Existenzminimum in der Armenpflege, S. 83 ff. 21 Ebd., S. 9 f. 22 Schmitz, Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger.
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keine wirksamen Rechtsmittel, die Gemeinde resp. den ursprünglichen Ortsarmenverband doch noch zur Zahlung von Unterstützung zu verpflichten.23 Auch wenn fortwährend das Unterstützungswohnsitzgesetz weiter entwickelt wurde, mit der Aufnahme Elsass-Lothringens 1908 und Bayerns 1916 der Geltungsbereich weiter abgerundet wurde blieb die organisatorische Unorganisiertheit bestehen. Den organisierten Armenpflegern war dies noch zum Ende des Kaiserreichs hin 1912 ein Dorn im Auge.24 Die Armenunterstützung sollte lediglich zur Deckung des »Existenzminimums« dienen. Einen Anhalt über die Höhe der Armenunterstützung können die Tarifsätze für die tägliche Verpflegung geben, die ein preußischer Armenverband einem anderen preußischen Armenverband für einen »erkrankten oder arbeitsunfähigen Hülfsbedürftigen im Alter von 14 und mehr Jahren« in Rechnung stellen sollte: es waren 60–80 Pfennige.25 Selbst in den Fachdiskussionen gab es aber keine einheitliche Meinung über unterstützungswürdige »Armut«. So wurde um 1900 als unterstützungsbedürftig angesehen, wer weder ausreichende Kräfte oder Gelegenheit hat, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und wer keine weiteren Unterstützungen erhält. In Preußen z. B. wurde dies nach dem alten Allgemeinen Landrecht von 1794 definiert. Tatsächlich, so die Einschränkung der Autoren, entscheiden die den Armenpflegern bekannten Verhältnisse über eine Armenunterstützung. Entsprechend wird sich in dem Fachartikel auf Missbrauch der Armenunterstützung und dem Ersatz von zu viel gewährter Unterstützung konzentriert. »Verschämte Arme«, die aus verschiedenen Gründen ihre Situation verschweigen und deren Situation entsprechend der Armenpflege nicht bekannt war, werden aber nicht beachtet;26 schon allein, da Untersuchungen über Verschwiegenes und Unbekanntes sich schon immer als äußerst mühselige Angelegenheit erwiesen haben. In die Gruppe der verschämten Armen sind prinzipiell auch die Nachwuchswissenschaftler der Göttinger Universität einzurechnen, die für ihre Forschung keinerlei finanzielle Leistungen erhielten. Diese waren dann auf ein Finanzierungsgemisch aus Stiftungen, Auftragsarbeiten, eigenständige literarischschriftstellerische Tätigkeit, Privatunterricht und/oder Hilfen der Familie angewiesen. Zwar wurde ihre Lebenssituation als dürftig angesehen, sie hatten aber noch immer zu viel Geld, um Hilfen aus der Armenkasse zu beziehen. Damit werden diese Universitätsangehörige in der Regel nicht in den verschiedenen Protokoll23 Klumker, Mängel, S. 468 f. 24 Hollander, Gesetzliche Regelung der Aufgaben der öffentlichen. 25 Tarif der von den preußischen Armenverbänden zu erstattenden Armenpflegekosten, nach Eger, Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz, S. 409 f. 26 Zum Begriff der Hülfsbedürftigkeit im Sinne des U.-W.-G., in: Zeitschrift für das Heimatwesen 5 (1900), Sp. 193–196.
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büchern auftauchen, sie bleiben unsichtbar. Eine Möglichkeit, verschämte Arme sichtbar zu machen, ergab sich nach deren Tod bei der Sichtung des Nachlasses, wie es in Göttingen bei dem Botaniker Dr. Schlothauber geschehen war. In der Erinnerung der Göttinger Bürger verdiente er sein Geld mit der Veröffentlichung von Gedichten in der Göttinger Zeitung. Man ahnte seine Armut, trotzdem nahm Schlothauber nicht einmal die Hilfen von Freunden an – in der Erinnerung der Göttinger aus Stolz.27
27 Vgl. Meinhardt, Göttinger Originale, S. 111 ff.
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4. Fürsorgekonzepte im 19. Jahrhundert
»Der Maßstab für die Leistungen der öffentlichen Armenpflege ist das Existenzminimum; die öffentliche Armenpflege kann nur das zur Erhaltung der Existenz, also des Lebens und der Gesundheit, Unentbehrliche gewähren. […] Das Existenzminimum bedeutet somit den Inhalt der Pflichten und Rechte in Bezug auf die Leistungen der öffentlichen Armenpflege.«1 Mit diesen Worten wurde in einem Vortrag des Vereins für Wohltätigkeit und Armenpflege, einem Vernetzungsverein städtischer Armenverwaltungen und Armenpfleger,2 versucht, die Unterstützungshöhe zu beschreiben. Der Autor war sich wohl der Schwierigkeit einer Definition von »Armut« oder »Existenzminimum« bewusst. Die Feststellung des Existenzminimums hatte durch eine individuelle Prüfung zu erfolgen, die auch nicht näher beschrieben ist. Es gab also keine einheitlichen Regelungen über die Art oder die Höhe der zu gewährenden Unterstützungen. Armentarife sollten danach nur als Anhaltspunkte für die Armenpfleger zur Festlegung der Unterstützung dienen.3 Die Höhe der zu gewährenden Unterstützung hing zuerst von der »Bedürftigkeit« der Antragsteller ab. Die gewährte Unterstützung wurde immer sehr knapp bemessen, da die Unterstützten sich nicht an die Hilfen gewöhnen sollten. Sie sollten vielmehr immer wieder ermuntert werden (oder gezwungen sein), sich selbst ein ausreichendes Einkommen zu erwerben.4 Die individuelle Lebensführung der Armen war eine Bemessungsgrundlage vor allem für die Art der zu gewährenden Unterstützung: Geldzahlungen oder Naturalleistungen, Siechenhaus oder Armenarbeitshaus. Sowohl Bedürftigkeit als auch Würdigkeit wurden in den Hausbesuchen und Ermittlungen der Armenpfleger festgestellt.5 Die Bewertung der Lebensführung erfolgte nach den eigenen 1 Schmidt, Existenzminimum in der Armenpflege, S. 84. 2 Zur Bedeutung und Geschichte des Vereins vgl. Tennstedt, Fürsorgegeschichte und Vereinsgeschichte; Sachße/Tennstedt, Der Deutsche Verein bis 1945. 3 Schmidt, Existenzminimum in der Armenpflege, S. 108. 4 Weber, Armenwesen und Armenfürsorge, S. 49 f. 5 Dießenbacher, Der Armenbesucher. S. 209–244.
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bürgerlichen Kriterien der Armenpfleger: Ordnung und Sauberkeit im Haushalt, Ordnung der Kinder, Arbeitsfleiß, Sparsamkeit usw. Bei »vorbildhaften« Armen konnten die Pfleger zusätzliche Unterstützungen durch Legate oder die Hilfe von Vereinen vermitteln. Damit konnte das Existenzminimum (zum Teil) überschritten werden6 oder die als entehrend empfundene öffentliche Armenunterstützung der Kommunen verlassen werden. Die materielle Dürftigkeit der um Hilfe suchenden Personen und Familien steht erst einmal außerhalb der Diskussion: Erstens, weil die um Hilfe Suchenden tatsächlich in einer kaum vorstellbaren Mangelsituation gelebt haben. Zweitens, weil die einzelnen materiellen Punkte heute nicht mehr nachprüfbar sind. Wenn Personen oder Familien in vergleichbaren Mangelsituationen gelebt haben, aber unterschiedliche Hilfen bezogen haben, so können hier »die feinen Unterschiede« eine Rolle spielen: Entsprach das schriftliche Gesuch den Standards? Richteten sich die Antragsteller bei der Prüfung des Gesuchs nach den Erwartungen? Fanden die Armenpfleger dagegen Unordnung und Schmutz im Haushalt, waren die Kinder »frech« oder gingen sie nicht in die Schule, waren die Armen »faul« und bemühten sich nicht um Arbeit, verschwendeten sie gar Geld im Wirtshaus oder waren trunksüchtig, so wurden sie »gemaßregelt«: Gelder konnten durch Naturalien ersetzt, Kinder der Zwangserziehung überwiesen und die Armen selbst in das Armenarbeitshaus geschickt werden, bzw. sie wurden ausschließlich in diesen Einrichtungen unterstützt. Entsprechend gab es verschiedene Formen der Armenpflege. Diese Formen orientierten sich nur zum Teil am Prinzip der Würdigkeit. Sie orientierten sich eher an der »Pflegestufe« und dem Bedürftigkeitsgrad der Armen: In der »offenen Armenpflege« wurden die Armen in ihren eigenen Wohnstätten gelassen, unterlagen also »nur« einer Kontrolle durch die Gesellschaft bzw. durch die Armenpfleger. Sie wurden nicht aus ihrem Umfeld gerissen und konnten durch einfache Maßnahmen wie z. B. Arbeitsvermittlung wieder aus der Armenfürsorge entlassen werden.7 Die »geschlossene Armenpflege« ist prinzipiell in zwei Teile aufzusplitten: Arme konnten durch Alter oder Krankheit dauerhaft pflegebedürftig sein, so dass nur die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt wie Siechenhaus oder Krankenhaus möglich schien.8 Krankenhäuser und Siechenhäuser waren hier als Hilfen gedacht und sollen in den Unterschichten als solche meist auch wahrgenommen worden sein. 6 Schmidt, Existenzminimum in der Armenpflege, S. 90. 7 Buehl, Geschlossenen Armenpflege, S. 8 f. 8 Ebd., S. 1 f.
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Die repressive Art der geschlossenen Armenpflege sah die Einweisung in Arbeitshäuser vor. Nur hier ist die direkte Verbindung zwischen »Würdigkeit« und einer speziellen Form der Armenpflege gegeben. Bei den Armen der Armenarbeitshäuser wurden tiefreichende Armutsgründe wie Arbeitsscheu, Liederlichkeit oder Trunksucht ausgemacht im Gegensatz zu den Armen der offenen Armenpflege. Diese Verhaltensweisen sollten durch das in den Arbeitshäusern herrschende Zwangsreglement abgewöhnt werden. Durch das Zwangsreglement wurde schon im Vorfeld einer Einweisung eine Disziplinierung der Armen erreicht: Diese wollten ihre persönliche Freiheit wenigstens ansatzweise wahren und fügten sich schon im Vorfeld in die Verhaltensvorstellungen der bürgerlichen Armenpfleger ein.9 Allein durch die Androhung des Arbeitshauses sowie die Belohnung der Würdigkeit und die Bestrafung der Unwürdigkeit durch verschiedene Unterstützungsarten und Unterstützungshöhen sollen die Armen versucht haben, sich dem Lebensstil der bürgerlichen Schichten anzupassen. Somit soll schon die Androhung von »Peitsche« und das Versprechen von »Zuckerbrot« zu einer (Selbst-) Disziplinierung geführt haben.10 Eines der »Feindbilder« der organisierten Armenpflege des 19. Jahrhunderts war die unorganisierte Art des Gebens und Schenkens durch Einzelpersonen. Diese Form des Gebens konnte sporadisch und spontan erfolgen, aber auch in ritualisierter Form, etwa in Form von Kuchen für Kinder gegen ein Lied/Gedicht oder der Unterstützung einer bestimmten Person, Familie oder Gruppe. Die unorganisierte Form war alltäglich. Für die Spender konnte diese Art des Gebens eine Art Auflehnung gegen die herrschende Armenpflege sein. Begründet werden konnte diese Haltung durch die mangelnde Vergabepraxis der kommunalen Armenpflege und der verschiedenen Vereine. Für die gutsituierten städtischen Bürger bedeutete das Auftauchen des verwahrlosten Armen aber auch eine Art »Abenteuer« im geordneten Alltag, welches von einigen wenigen anscheinend auch nicht gemisst werden wollte.11 Gerade die Form des unorganisierten Spendens hat sich in den Göttinger Erzählungen erhalten: sei es in dem einzelnen Wurstund Speckgeschenk des Studenten Bräsig12 an ein Mädchen aus Klein-Paris, den Zuckerbrötchen, die der Assessor Reck in großer Zahl an die armen Göttinger Kinder verschenkte,13 oder den Weihnachtsspielzeuggeschenken des Professor
9 Ebd., S. 7, S. 11. 10 Breuer, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen, S. 45–69. 11 Lepsius, Moderne Wohltätigkeit. Lepsius hatte als Malerin eventuell auch Interesse an »markanten« Gesichtern und Erscheinungen der Armen. 12 Meinhardt, Bullerjahn, S. 162. 13 Meinhardt, Göttinger Originale, S. 24 ff., S. 156 ff.
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Klinkerfuess an arme Kinder.14 Die Erzählungen weisen auf ein breites Feld der unorganisierten Hilfen hin. Die organisierte Armenpflege befürchtete, dass durch diese Hilfen sowohl der Bettelei Vorschub geleistet würde als auch dass Personen geholfen werden würde, die in der Stadt ihren Unterstützungswohnsitz noch nicht erlangt hatten. Die Grenzen zwischen »organisierter« und »unorganisierter« Armenhilfe waren in der Praxis fließend. In den Erzählungen über das »alte« Göttingen wurde dem in dürftigen Verhältnissen lebenden »Blumen-Karl« genannten Carl Wienecke (siehe S. 207 ff.) einWinterquartier durch die Obrigkeit – Senator Borheck oder Senator Eberwein– verschafft. »Blumen-Karl« aber verließ dieses Quartier und verschaffte sich seinen Lebensunterhalt durch »unheimliche Bettelei« – also nicht heimlich durchgeführte oder für Bürger mysteriös erfolgreiche Bettelei – und durch Holzverkauf, unter anderem an den Bäckermeister Honig, der auch in der Armenpflege tätig war.15 In den folgenden Betrachtungen kommt diese Form der Armenhilfe nicht vor. Sie ist einfach nicht erfassbar. Diese Form der Armenhilfe muss aber immer als eine Möglichkeit der Hilfe und als eine Möglichkeit der Überlebenssicherung gesehen werden. Im Deutschen Kaiserreich gab es für die kommunale Armenfürsorge und deren Armenpfleger im Wesentlichen zwei verschiedene Organisationssysteme: Seit dem Jahr 1852 bestand das Elberfelder System und im Jahr 1905 wurde das Straßburger System publik gemacht. Während des Kaisereichs wurde das Elberfelder System von dem Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, der Organisation der Armenpfleger, bevorzugt. Es fand auch international – etwa auf den Weltausstellungen in Paris oder St. Louis – Beachtung.16 Nach diesem System wurde das Stadtgebiet in Bezirke aufgeteilt. Jeder Bezirk war wiederum in Quartiere untergliedert, denen jeweils ein ehrenamtlicher Pfleger vorstand. Die Größe der Quartiere richtete sich nach der Zahl der Armen: Auf vier arme Familien sollte im Idealfall ein Armenpfleger kommen. Dadurch sollte es dem ehrenamtlichen Armenpfleger möglich sein, die individuelle Bedürftigkeit aufzuklären und entsprechende Hilfsmaßnahmen zu finden. Die Unterstützungen wurden nur kurzfristig gewährt: nach spätestens 14 Tagen musste über sie neu befunden werden. Durch die Individualisierung und die kurze Bemessungsdauer der Unterstützung war eine umfassende Kontrolle über die Armen möglich. Wollten sie einmal gewährte Unterstützungen erneut bekom14 Ebd., S. 97. 15 Ebd., S. 121. Siehe auch Kap. Das arme Leben des Carl Wienecke. 16 Als kurzer Überblick über die Verbreitung des Systems um 1900 siehe Deimling, 150 Jahre Elberfelder System, S. 716–722.
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men, so hatten sie sich den Vorschlägen und Anweisungen ihres Armenpflegers zu unterwerfen. Die Pfleger eines Bezirks trafen sich alle 14 Tage zu einem Erfahrungsaustausch und zur Beratung über ihre weitere Vorgehensweise. Dadurch sollten für vergleichbare Armenfälle vergleichbare Vorgehensweisen und Unterstützungen in einer Stadt gewährleistet werden.17 Insgesamt kann das Elberfelder System unter vier Schlagworten zusammengefasst werden: Individualisierung der Armenfälle, Dezentralisierung der Armenpflege, Ehrenamtlichkeit der Armenpfleger und Zuständigkeitsvergabe nach räumlichen Kriterien.18 Im Deutschen Reich machte sich im Wesentlichen der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit für seine Verbreitung stark. Er propagierte dieses System noch zu Zeiten, als zumindest die ausschließliche Ehrenamtlichkeit nicht mehr als zeitgemäß galt.19 Die einzelnen Kommunen übernahmen bei einer Neuausrichtung ihres Armensystems meist nur einzelne Teile des Elberfelder Systems. Sie passten dieses System den bei ihnen herrschenden Verhältnissen und Erfordernissen an.20 Damit entstanden zahllose Variationen dieses Systems. Das Straßburger System war eine rationale Erweiterung des eher auf kleinräumige Verhältnisse angelegten Elberfelder Systems.21 Als zentrale Institution gab es ein Armenamt aus besoldeten Beamten. Auch hier war die Stadt wieder in Bezirke aufgeteilt. Jeweils einer der Beamten führte in einer Bezirkskommission den Vorsitz. Die Kommission kümmerte sich um kurzzeitig in Armut geratene Personen. Langzeitarme wurden wieder von ehrenamtlichen Armenpflegern betreut. Dabei kümmerte sich ein Pfleger um maximal drei Bedürftige. Mit dem Straßburger System wurde mit dem Prinzip einer weitestgehenden Ehrenamtlichkeit in der Armenfürsorge gebrochen. Durch die besoldeten Fachbeamten konnte eine höhere Professionalität in der Armenpflege erreicht werden.22 Beide Systeme zeichneten sich durch eine hohe Dichte der Pflegekräfte aus. Dadurch wurde eine umfassende Kontrolle über die Armen ermöglicht. Ziel beider Systeme war es, durch ständige Bedürftigkeits- und Würdigkeitskontrollen die Höhe und Zahl der Unterstützungen möglichst gering zu halten.23 Zudem sollten 17 Weber, Armenwesen und Armenfürsorge, S. 32 f.; Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1, S. 214 ff. 18 Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung, S. 5; Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 39. 19 Tennstedt, Fürsorgegeschichte und Vereinsgeschichte, S. 77. 20 Retzbach, Leitfaden für die soziale Praxis, S. 315; Sachße/Tennstedt, Der Deutsche Verein bis 1945, S. 28. 21 Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 45 ff. 22 Weber, Armenwesen und Armenfürsorge, S. 34 ff.; Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 2, S. 25 f. 23 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1, S. 218 und Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 2, S. 25 ff.
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die knapp bemessenen Mittel die Unterstützten möglichst schnell zu einem eigenen ausreichenden Einkommen zwingen.24 Vergleiche mit den anderen bekannten Armenpflegesystemen – z. B. Hamburger System und Braunschweiger System oder auch dem kaum bekannten Göttinger System der Armenfreunde von 1818 bis ca. 1830 – zeigen, dass es überall die Probleme gleich waren: Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, knappe öffentliche Geldmittel bei einem Bedürfnis bürgerlicher Schichten nach Verantwortungsübernahme und Mitbestimmung. Entsprechend wurden auch sehr ähnliche Lösungen gefunden: ehrenamtlich tätige Bürger, ein dichtes Kontrollnetz und persönliche Betreuung. Durch die wachsende Eingliederung der Armenpflege in die öffentliche Kommunalverwaltung und deren fortschreitende Professionalisierung hatten sich die Armen an gewisse Regeln zu halten: feste Büros mit festen Mitarbeitern, Sprechstunden mit Öffnungs- und Schließzeiten.25 Hier zeigt sich eine Herrschaftsverdichtung der städtischen Honoratioren und der städtischen Verwaltung: Die Armen mussten sich während des 19. Jahrhunderts immer weiter unterordnen und vor einem Schreibtisch, Pult oder Theke ihre Lage in der althergebrachten demütigen Form vorbringen und auf die Anweisungen der Beamten warten. Die herkömmliche Form der Kontrolle, die Hausbesuche der Armenpfleger, wurde im Gegenzug aber nicht abgeschafft. Eine weitere Disziplinierung der Unterschichten wird dadurch nicht zu erreichen gewesen sein, vielmehr aber eine Verlagerung der Auseinandersetzungen zwischen Armenpflege und Armen in das städtische Büro, wie es das Verhalten von Armen in den Wohltätigkeitsbüros der Weimarer Republik – und Göttingen bildete da keine Ausnahme – nahe legen.26 Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der Armenbehörde und den Armen tauchen tatsächlich erst massiv in der Weimarer Republik auf, bzw. fanden Eingang in die Akten. Die von den Armen hervorgebrachten Klagen über zu niedrige Unterstützung oder die schlechte Behandlung seitens der Armenpfleger hat es schon im 19. Jahrhundert gegeben: Anlässlich einer Hochzeit 1843 spendeten zahlreiche Göttinger für die Armen und die Verteilung übernahm Pastor Miede im Siechenhaus. Pastor Miede organisierte zu dieser Zeit maßgeblich die Göttinger Armenpflege. Die Verteilung der Spenden sollte nach einer alphabetisch sortierten Liste der Armen erfolgen, nur standen die Armen eben nicht alphabetisch sortiert im Flur an. Dies führte zu erheblichen Verzögerungen und entsprechend 24 Weber, Armenwesen und Armenfürsorge, S. 49 f. 25 Achinger, Soziologie und Sozialreform, S. 42. 26 Crew, Gewalt »auf dem Amt«, S. 33–41. Diese Entwicklung lässt sich auch für Göttingen aufzeigen. Siehe StadtA Gö: Sozialamt 113.
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Fürsorgekonzepte im 19. Jahrhundert
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auch zu erheblichem Unmut in den Reihen der Armen. Wohlwollend väterlich berichtete Miede über die Situation und die Rechte der Armen: »Als mir aber eine arme Frau zurief: ›Ach heute ist ja Hochzeit, die ist nur einmal im Leben, da muß es lustig sein,‹ begriff ich, daß die Leute in ihrem Rechte und ich im Unrechte war, und ließ es gehen wie es wollte.«27
Hier handelte es sich um zusätzliche Gaben in einem besonderen Rahmen. Daher erkannte wohl Miede, dass die Armen im Recht seien und berichtete in einer paternalistischen Weise über diese Situation. Er war immer Herr der Lage gewesen, er oder die Armendeputation hatten keinen »Gesichtsverlust« gegenüber den Armen gehabt. Klagen und Proteste der Armen wegen unzureichender Unterstützung oder schlechter Behandlung wird es während des gesamten Betrachtungszeitraumes gegeben haben. Sie wurden lediglich nicht verschriftlicht, sei es, weil die Klagen die Ohren der Armenpfleger offiziell nicht erreichten oder sei es, weil die Armenpfleger dieser Zeit Klagen und Proteste der Armen nicht für Wert hielten auf Papier festgehalten zu werden. Lediglich die in der üblichen Form des Bittgesuchs überlieferten Bitten um eine Erhöhung der Unterstützung sind erhalten. Die Armen Göttingens waren während des gesamten Zeitraums »Verfügungsmasse« ihrer Stadtobrigkeit. Eine eigene Meinung, eine eigene Handlungsweise wurde ihnen in sämtlichen Berichten, Artikeln oder auch Geschichten nicht zugestanden. Über sie wurde berichtet, über sie wurde nachgeforscht, sie standen der besseren Schichten Göttingens für ihre teilweise recht derben Späße zur Verfügung.28
27 Göttingensches Unterhaltungsblatt 1843, S. 35. 28 Meinhardt, Bullerjahn, S. 37 f., Meinhardt, Göttinger Originale, S. 224 f.
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5. Gesuche und Armenpfleger: Der Weg zur Hilfe
5.1 Das Unterstützungsgesuch In der geschichtswissenschaftlichen Forschung haben Unterstützungsgesuche einen breiten Raum eingenommen. Historiker waren wohl froh, »Stimmen der Armen« zu vernehmen. Allein: die aufgefundenen Stimmen richteten sich gezielt an eine Behörde, einen Verein oder einen anderen Unterstützungsgeber. Die Armen versuchten damit, eine bestimmte Unterstützung zu erhalten. Die Gesuche waren von Anfang an auf diesen Zweck hin ausgerichtet, es waren strategische Schreiben. Zum einen wird in der Forschung davon ausgegangen, dass die korrekte formale Gestaltung – lesbare Schrift, Anrede, Aufbau – der Unterstützungsgesuche an den unmittelbaren Erfolg geknüpft sei. Zum anderen werden die Gesuche anscheinend als eine absolut vertrauenswürdige Quelle angesehen. Aufgrund der zu befürchtenden Restriktionen soll davon ausgegangen werden können, dass sich die Armen nicht trauen würden, biographische Unwahrheiten in ihre Gesuche zu schreiben.1 Wann aber ist eine »Verschönerung« der eigenen Angaben oder eine »Abmilderung« von selbst gesehenen Armutsursachen gleich eine »Unwahrheit«? Zwischen »Wahrheit« und »Unwahrheit« zeichnet sich ein großer, individuell nutzbarer Spielraum ab. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Armen selber die Umstände ihrer Verarmung in ihren Briefen so dargestellt haben, dass ihre Gesuche höhere Chancen auf Umsetzung hatten, sie z. B. Krankheit oder Teuerungen erwähnten, nicht aber den eigenen Alkoholkonsum. Ein Blick in die Gesuche offenbart noch eine weitere Gemeinsamkeit aller Gesuche, zumindest in Göttingen. Diese wurden zum größten Teil von professionellen Schreibern geschrieben. Der Weg vom Armen mit seiner individuellen Situation hin zum vollendeten Hilfsgesuch scheint sich damit wie folgt abgespielt zu haben: Der Arme beauftragt einen Schreiber und schildert diesem die Situa1 Vgl. Karweick, Tiefgebeugt von Nahrungssorgen; Kühberger, Historische Armutsforschung, S. 50 ff.
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Das Unterstützungsgesuch
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tion und die erhoffte bzw. gewünschte Hilfe. Der Schreiber übersetzt die Schilderungen seines Auftraggebers in das gewünschte »Behördendeutsch« und verfasst einen Brief, der den formalen Anforderungen genügt, und mit Schilderungen, die Aussicht auf Erfolg verheißen. Doch trotz der erfolgten »Umformungen« blieben dies die Gesuche der Armen, mussten sich die Auftraggeber mit dem Produkt der Schreiber weiter identifizieren können.2 Der Weg der Erzählung vom Armen zum Schreiber allein ist schon verstellt: Inwieweit hat der Arme seine Geschichte den verschiedenen Erfordernissen »angepasst«, welche Verhandlungen hat es schon im Vorfeld des Gesuchs zwischen dem Armen und dem Schreiber sowie zwischen dem Armen und der Armenbehörde gegeben? Und dieser Prozess geht weiter: Wie hat der Schreiber das Ergebnis dieser Verhandlungen weiter angepasst, was verschwiegen, welche Punkte stärker betont? Wie war das Verhältnis zwischen den Forderungen des Armen und dem Erfahrungswissen des Schreibers? Welche Filterungen hat das »Endprodukt Armengesuch« auf dem Weg der Erstellung durchgemacht? Erst wenn diese Punkte geklärt sind können weitere Überlegungen zu den Unterstützungsgesuchen gemacht werden.3 So ist es kein Wunder, dass sich die Unterstützungsgesuche im Schriftbild – professionelle Schreiber – und Inhalt – bürokratisch erfahrene Schreiber – sehr ähneln. Die »Stimme der Armen« stellt sich als deutlich verzerrt heraus. Eventuell ist hier aber auch ein typisch göttingisches Problem zu sehen. Zwischen den Unterschichten und den als schreibkundig angesehenen Studenten gab es zahlreiche Berührungspunkte. Es wird sich wahrscheinlich immer ein schreib- und stilkundiger Student zur Erstellung eines in der Form ausreichenden Unterstützungsgesuches gefunden haben, sei es aus reiner Gefälligkeit, sei es gegen ein geringes Entgelt. Insgesamt sollte dem Unterstützungsgesuch keine Bedeutung gegeben werden, welches es tatsächlich nicht hatte. Zumindest in einer Mittelstadt wie Göttingen dominierte der mündliche Antrag.4 Die Armenpfleger waren bekannt und die Trennungen von Unterschichten und Bürgertum waren durchlässig. Die oberen Schichten hatten Dienstpersonal, welches mit im Haus wohnte, sie heuerten regelmäßig Tagelöhner für Schlepp- oder Gartenarbeiten an. Für verschiedene Anlässe wurden Kutschen samt Kutscher benötigt. Selbst die Göttinger Studenten konnten ihre Sachen, etwa bei Umzügen, nicht selber tragen und benötigten dafür Tagelöhner. 2 3 4
Vgl. Sokoll, Introduction, S. 7. Vgl. Sokoll, Old Age in Poverty, S. 134; Kühberger, Historische Armutsforschung, S. 46 f. Vgl. Sokoll, Old age in poverty, S. 127–154, S. 129.
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Gesuche und Armenpfleger: Der Weg zur Hilfe
Der schriftliche Antrag kann aber Anhaltspunkte geben, was generell erwartet wurde: Anerkennung der Hierarchien durch eine entsprechende Anrede, Schilderung der Notlage, Würdigkeit der Antragsteller, eine Schlussformel, die wiederum die gesellschaftliche Stellung von potentiellen Empfängern und Gebern widerspiegelt. Die Bedeutung des Gesuchs ist noch aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Sinn des Gesuchs war, auf die Notlage aufmerksam zu machen und dabei gleich einen positiven Eindruck zu vermitteln. Die Antragsteller verspürten einen besonders großen Mangel. Wurde allein dieser Mangel vorgefunden musste geholfen werden. Es stellte sich nur die Frage nach dem »wie?«. Kirchengemeinden und Vereine konnten Unterstützungssuchende, die nicht in ihre Armenpflegekonzepte passten, an die städtischen Armenpflegeorgane verweisen. Die Stadt musste sich anschließend um diese kümmern. Aber auch die Stadt hatte Differenzierungsmöglichkeiten: Sachleistungen statt Geld, Armenarbeitshaus statt offene Unterstützung. Bei den Lebensumständen der Göttinger Unterschicht ist es wohl kein Wunder, dass die meisten Gesuche eine Unterstützung nach sich zogen. Die Armut der Unterschichten muss allgemein derart groß gewesen sein, dass Armenpfleger oft erschrocken gewesen sein mussten. So resümiert Li Fischer-Eckert die Betrachtung der besseren Teile der Unterschicht Hamborns: »Wenn ich dort gesagt habe, ›die zwar ohne Luxus, aber auch ohne Entbehren leben‹, so sind doch diese Verhältnisse noch weit von dem entfernt, was wir unter dem Begriff ›normale Familienverhältnisse‹ zusammenzufassen pflegen.«5 Hier zeigt sich die Klassengesellschaft des Kaiserreichs und ihre Trennung. Die Armut der Unterschichten muss derart allgemein gewesen sein, dass Armenpfleger in der Regel eine Unterstützung befürworteten. Das zentrale Augenmerk bei diesen Gesuchen wird der Mangel der Armen gewesen sein, nicht aber die korrekte Einhaltung aller Formalia.
5.2 Der Armenpfleger Zentrale Person der personalisierten Armenpflege war der ehrenamtliche Armenpfleger.6 Ihm kam die Mittlerrolle zwischen den Bedürftigen und der Verwaltung zu. Der Armenpfleger des Elberfelder Systems sollte eine enge Bindung zu seinen Schützlingen haben. Bei idealerweise vier zu betreuenden Familien war dies auch weiter kein großes Problem. Da die Armen zudem aus der Umgebung des Pflegers stammen sollten waren sie schon vor dem »Pflegeantritt« dem Pfleger 5 Fischer-Eckert, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen, S. 85. 6 Dies stellte schon Christoph Sachße so fest, ohne aber näher auf die Person des Armenpflegers einzugehen. Vgl. Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung, S. 5.
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Der Armenpfleger
bekannt, oder er konnte sich relativ einfach Informationen über diese beschaffen. Die Göttinger Pfleger hatten sich immer um wesentlich mehr Personen aus den Unterschichten zu kümmern. Die Masse der Unterschichten konzentrierte sich räumlich auf die enge Altstadt und später auf wenige neu errichtete Straßenzüge. Trotz des immensen Bevölkerungswachstums hatte Göttingen ein eher kleinstädtisches Gepräge. Wenn die Armenpfleger nun doch nicht mehr alle potentiellen »Pfleglinge« ihres Bezirkes kannten, so war es ihnen immer noch über ihre persönlichen Netzwerke möglich, schnell die von ihnen benötigten Informationen zu beschaffen. Die idealen Armenpfleger sollten, so der zeitgenössische Armenkenner Emil Münsterberg, »von der Not ihrer Mitmenschen ergriffen« sein, »sich dem Liebeswerke widmen«, »menschliches Interesse den Bedürftigen entgegenbringen« sowie zusätzliche eigene Mittel bereitstellen und die eigenen Familien einbinden.7 Kurz: neben der Regelung des persönlichen Auskommens sollten die Armenpfleger praktisch in ihrem Ehrenamt aufgehen. Tatsächlich fanden sich bei den Armenpflegern Göttingens viele dieser Motive, die sich zudem in unterschiedlichen Ausmaßen überschnitten.8 Zwar kannten die Pfleger meist die persönlichen Verhältnisse »ihrer« Armen schon im Vorfeld recht genau. Schließlich war in der idealtypischen Version des Elberfelder Systems keine wesentliche räumliche Trennung zwischen Armenpfleger und Armenpflege vorgesehen. Doch sollte auch hier der Pflegeaufwand des einzelnen Pflegers nicht unterschätzt werden. Für die späteren »sozialen« Berufsfelder wurden die ideellen Grundlagen durch die (groß)bürgerlich Frau in der Armenpflege gelegt. Neben der Zeit, die anscheinend nur diese Frauen zur Verfügung hatten, wurden als grundlegende Voraussetzungen vor allem die »typisch« weiblichen Attribute, ihre mütterliche Fürsorge, als unabdingbar angesehen.9 Ein repräsentativer Göttinger Armenpfleger war der Volksschullehrer Carl Töpperwien. Er wurde 1848 geboren, war verheiratetet und hatte zwei Kinder.10 Für den Verein gegen Verarmung und Bettelei (S. 134 ff.) sowie für die St. Jacobi Gemeinde (S. 169 ff.) kümmerte er sich um die Armen in seinem Bezirk. Die Armenpflegeämter stärkten sein Ansehen bei seinen Mitbürgern. Dabei kam ihm zugute, dass der Bezirk der Kirchengemeinde beinahe deckungsgleich mit dem des Vereines war. Der Göttinger Magistrat war sich der Wichtigkeit dieses Lehrers für das Schulleben und die Armenpflege bewusst, unterstützte er doch 1907 ein 7 Münsterberg, Ehrenamtliche Armenpflege, S. 38 f. 8 Vgl. Sachße, Public and Private in German Social Welfare, S. 157. 9 Gablentz/Mennicke (Hg.), Deutsche Berufskunde, S. 311–315; Sachße, Mütterlichkeit als Beruf; Kritisch dazu: Iris Schröder. 10 StadtA Gö: Meldekarte Töpperwien.
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Gesuche und Armenpfleger: Der Weg zur Hilfe
vorzeitiges Ruhestandsgesuch. Im Vorfeld hatte der Lehrer verschiedene »Schwächeanfälle« gehabt. 1911 wollte Töpperwien nichtsdestotrotz die Stelle des Küsters der St. Jacobi-Gemeinde antreten.11 Als Volksschullehrer hatte er direkten Kontakt zu den Kindern der Unterschichten. Über deren Schulverhalten: Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und nicht zuletzt Respekt ihm gegenüber hatte er schon von Berufs wegen ein festes Bild der Familien. Über die mitgebrachten Schulfrühstücke der Kinder konnte er zudem noch Einblicke in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familien gewinnen: Wurde das Frühstück der Kinder immer karger, so litt die Familie wahrscheinlich unter wirtschaftlichen Engpässen. Carl Töpperwien besuchte seine kranke Schülerin Hedwig Gieseler im Hinterhaus der Burgstr. 30. Dort stellte er – auch aufgrund der Erkrankung des Kindes – große Not fest und appellierte an den Kirchenvorstand von St. Jacobi, eine Milchunterstützung zu gewähren. Seinen Bericht schloss er »Hinzufügen möchte ich, daß Hedwig Gieseler meine Schülerin ist, die in der Schule sich musterhaft beträgt, u. lege ich für sie ein gutes Wort ein.« Anschließend ging er in das Vorderhaus Burgstr. 30, wo ebenfalls eine Schülerin in Armut lebte, für die er ebenfalls um Milchunterstützung bat. Auch diesen Bericht beendete er: »[…] meine Schülerin Frieda Brüller sich nett beträgt, daß ich eine gute häusliche Erziehung voraussetzen darf. Der Eindruck, den ich von der Mutter heute bekommen habe, hat diese Meinung bei mir gestärkt.«12
In diesem Rahmen beantragte er einen Monat später für die beiden Mädchen wieder ein Milchfrühstück. Im Gegensatz zu rund anderen 100 Kindern ihrer Volksschule waren sie bislang nicht bedacht worden.13 Sein Urteil als Lehrer hat ihn hier nicht getrogen, jedenfalls hat er keinen Trug feststellen können. Seine Rolle als Lehrer hat ihn so an einem Tag zwei Familien aufsuchen lassen, die in Not waren. Die Eigenschaft, als Lehrer des Kindes auftreten zu können, ist sicher von Vorteil gewesen. Es gibt Vorkenntnisse bzw. Vorurteile über die Familie, die Wohnungstür öffnet sich eher ihm als den Armenpflegern, die »lediglich« z. B. »Rentier« waren, und die Eltern sind eventuell eher bereit, über ihre Probleme zu sprechen – schließlich waren ja alle nur am Wohl des Kindes/des Schülers interessiert. Als Pfleger einer Kirchengemeinde und eines Vereins musste sich Carl Töpperwien nicht um jede Niederung menschlichen Lebens kümmern. Sobald er der Meinung war, dass eine Person einen zu schlechten Lebenswandel führte, war diese nicht mehr der Gemeinde- oder Vereinshilfe würdig. Er brauchte sich so nur um 11 StadtA Gö: Personalakte Töpperwien. 12 Kirchenkreisarchiv Göttingen: Pfarrarchiv St. Jacobi Göttingen. Armen- und Krankenfürsorge. 1815–1910. A 362, I. 13 Ebd.
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Der Armenpfleger
die würdigen Armen seines Bezirks kümmern. Doch auch die Armen mit einem »würdigen« Ruf mussten sich der beantragten Hilfe als »würdig« erweisen. Die Recherchen dafür konnten sehr zeitintensiv sein und hatten oft nicht erwartete Ausgänge: Der Fuhrmann Jacob wollte für die Anzahlung eines neuen Pferdes einen Kredit von 50 Mark bei der St. Jacobi-Gemeinde aufnehmen. Zur Überprüfung des Antrages und der Person nahm Töpperwien im August 1903 einen weiten Weg durch die Stadt: In der Hoffnung, der Familie helfen zu können, ging er erst zu Herrn Zumkeller, erfuhr dort, dass der Bittsteller zwar fleißig sei, aber auch Mietschulden habe. Nächste Station des Ganges war der Pferdehändler Katz, der gegen eine Anzahlung bereit war, ein Pferd zu stellen. Von dort ging es weiter zu Herrn Teichmann, der den Kredit auch befürwortete, wenn keine weiteren Schulden vorhanden wären. Weitere Verbindlichkeiten verneinte der Fuhrmann Jacob auf Nachfrage. Zur Überprüfung ging Töpperwien daraufhin zu Kornrumpf und erfuhr dort, dass dieser Jacob ein Pferd überlassen hatte, wegen der ausgebliebenen Bezahlung aber das Gericht zu Hilfe rufen musste. Darauf wandelte sich beinahe augenblicklich die Meinung über den Fuhrmann Jacob: nun sind durch das Fuhrgeschäft »geordnete Verhältnisse für die Familie [nicht] zu erzielen.« Als Trost bleibt Töpperwien nur »das Bewußtsein, daß meine viele Mühe, die ich mir besonders in den Monaten November u. Februar um die Erziehung der Tochter gemacht habe etwas genützt hat und auch nicht ohne Rückwirkung auf Ordnung und Reinlichkeit, Lüftung in der Schlafstube geblieben ist.« Nach dieser Erkenntnis nahm Töpperwien den umgekehrten Weg und machte Pferdehändler Katz und Herrn Zumkeller mit dem neuesten Stand seiner Ermittlung bekannt.14
Töpperwien suchte sich als Gesprächspartner »Fachpersonal« aus: Zumkeller ist als Buchhalter bekannt, Teichmann als Schriftsetzer. Die beiden könnten einen tieferen Einblick in die Finanzen und das Verhalten Jacobs gehabt haben. Kornrumpf war da wie der Pferdehändler Katz der unabhängige Fachmann, der Fuhrwerksbesitzer, der nicht nur Geschäftspartner gewesen sein könnte, sondern auch den zu erwartenden wirtschaftlichen Erfolg beurteilen konnte.15 Nach diesem Weg war die Zukunft von Jacob als Fuhrmann verbaut. Er war nun in seiner geschäftlichen Umgebung als »Betrüger« bekannt. Kredite werden ihm von nun an nur noch mit großen Auflagen bewilligt worden sein. Weiter ist hier auch das räumlich und sozial enge Göttingen zu sehen: den Fuhrmann Jacob und die Not seiner Familie scheint jeder Gesprächspartner Töpperwiens zu kennen. Allerdings sind hier auch die Grenzen des engen Göttingens zu sehen: Niemand hat auf dem Weg 14 Ebd. 15 Vgl. Zur Stellung der Gesprächspartner Töpperwiens siehe: Göttinger Adreßbuch 1903.
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Gesuche und Armenpfleger: Der Weg zur Hilfe
Töpperwiens gefragt, was mit dem letzten Pferd passiert ist, niemand hat anscheinend von dem Gerichtsprozess um das letzte Pferd gehört. Als offensichtlich engagierter Armenpfleger und Lehrer hielt Töpperwien auch Kontakt zu Institutionen, denen er nicht angehörte. So schilderte er dem Waisenhaus der Universität Anfang des Jahres 1900 die Situation des Knaben »Carl Louis Müller«. Die arbeitende Mutter konnte sich kaum um den Jungen kümmern. Zudem sahen er (und andere Bürger) ihn die »falschen Freunde« haben. Bei der Aufnahme in das Waisenhaus wollte sich Töpperwien des Jungen in »seiner« Volksschule besonders annehmen.16 Der Erfolg ist diesmal aber zweifelhaft: Am Heiligabend 1905 wurde der mittlerweile der Volksschulpflicht entwachsene Schulknabe »Karl Müller« in das Armenarbeitshaus aufgenommen.17 Die Einlieferung eines Schulknaben, auch wenn dieser der Volksschulpflicht nicht mehr unterlag, am Heiligabend darf als sicheres Indiz für einen besonderen Unglücksfall oder ein schweres Zerwürfnis gelten. Diese vielfältigen Tätigkeiten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die letztendliche Entscheidungsbefugnis bei der Armendeputation lag, im Göttinger Fall werden diese Entscheidungen dann vom Leiter Senator Borheck getroffen worden sein. Der Armenpfleger konnte lediglich vermitteln, Fürsprache halten, recherchieren und seine Expertise in der Sitzung der Armendeputation wiedergeben. Nur entscheiden durfte er nicht. Die Protokolle der Sitzungen geben keine Auskunft über irgendwelche konträren Diskussionen – und damit Ansichten – über die richtige Hilfe für einzelne Arme. Bei den meisten Unterstützungen wird es wohl auch keinerlei Diskussionsbedarf gegeben haben. Es war einfach klar, dass z. B. die Ehefrau Kutscher (vgl. S. 188 ff.) ausschließlich im Armenarbeitshaus unterstützt wird. In Einzelfällen sollten dann doch aber Diskussionen stattgefunden haben: Wie sollte etwa die Familie Heinrich Dahling unterstützt werden (vgl. S. 95 f.)? Er war ja ein stadtbekannter Alkoholiker. Das vollständige Fehlen derartiger Diskussionen lässt den Verdacht aufkommen, dass die Sitzungen der Armendeputation strikt organisiert waren und eventuell aufkeimende Diskussionen schnell durch die Entscheidung des Leiters beendet wurden. Der Armenpfleger trat als Mittler zwischen seiner eigenen bürgerlichen Welt und der Welt der verrufenen, trotzdem aber interessanten Unterschichten auf. Die vielfältigen Berichte über das Leben auf der Straße oder in den verschiedenen sozialen Einrichtungen geben nicht nur Einblicke in die Lebenswelt der Armen, den Blick der Bürger auf die Armen, sondern sind vor allem Zeugnis für die Neu16 Universitätsarchiv Göttingen: Waisenhaus 78. 17 StadtA Gö: AHR I H 11, Nr. 6.
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Der Armenpfleger
gier, eventuell auch den Grusel vor der Welt der Armen oder die sozialromantischen Vorstellungen der abgesicherten »guten« Bürger.18 Der Armenpfleger war damit eine Person, die ständig die »Grenze« des abgesicherten Bürgertums überschritt und in die eigentlich verbotene Sphäre der Unterschichten, des Schmutzes und der Gewalt hinabstieg. Dabei nahm er nur den Schmutz etc. wahr, ohne sich die Hände selbst schmutzig zu machen. Wurde der vorgefundene »Schmutz« zu groß, richtete sich die »Gewalt« der Unterschichten gegen ihn selbst, kurz: erwies sich der Arme der Hilfe als unwürdig, so rief der ehrenamtliche Armenpfleger die für solche Zwecke bezahlten Personen zu Hilfe: Schutzmänner, Armendiener, die Verwalter der verschiedenen Armeneinrichtungen. Ein anderer Göttinger Armenpfleger war der Bäckermeister Ernst Honig. Auch bei ihm war das städtische Armenpflegeamt (S. 60, S. 81, S. 129) ein ehrenamtliches Amt neben vielen anderen. Neben seiner beruflichen Tätigkeit stand er der Bäckerinnung vor, war im Bürgervorsteherkollegium und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Göttinger Volksbank. In Göttingen hatte er den Ruf eines Heimatschriftstellers. Seine literarischen Bemühungen geben einen Einblick in die Motivation und die Einstellung eines Göttinger Bürgers und Armenpflegers: »[…] un er Krischan ressenirt über de ßogenannten Armen! Da sollte man doch reinewech doll werden: Allerhand Packasche, die in’n Dorfe nicht arbeiten und buben will, zochelt nach der Stadt rein, schlaren sich 2 Jahre mit Achen un Krachen durch, womöglich unterstützt se de Dorf-Gemeinde noch, froh, daß se de Prachers (Bettler) los wird; nachher ßind se hier heimatberechtigt un ßaren denn zur Armenkasse: ›Hier habt’r uns!‹ Ja, ßage ich, noch döller iß, daß weche, die cheschleiert un mit Handschen in Mariehüpp un alle Konzrten ze sehen sind, daß die von der Armenkasse als ›verschämte Arme‹ ’s Geld in’s Haus chebracht kriegen! ›Ja, un machen ßich ne chuten Tag derfor un wir Börjers möttet et betahlen‹ […]«19
Ernst Honig lässt hier Krischan und Schorse Szültenbürger sprechen. Es gibt keine Gegenrede so dass sich doch annehmen lässt, dass diese beiden wenigstens zum Teil die Meinung des Armenpflegers Honig wiedergeben. Der Inhalt dieser Rede ist wenig überraschend. Der Arme von auswärts, der in der Stadt die durch das Unterstützungswohnsitzgesetz gesetzte Frist von zwei Jahren ohne die Armenhilfe überbrückt – hier sogar mit Hilfe der ursprünglichen Heimatgemeinde –, um dann Armenhilfe zu erlangen, ist ebenso in den zeitgenössischen Diskussionen weit besprochen wie der verschwenderische Arme. Kurz: die Armen versuchen 18 Vgl. z. B. die »investigativen« Arbeiten im Milieu der Wanderarmen von Ostwald. Als Überblick: Althammer, Faszination des Elends, S. 215–223. 19 Honig, Vergnügte Geschichten, S. 15 f.
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Gesuche und Armenpfleger: Der Weg zur Hilfe
zu betrügen, wo sie nur können. Die Motivation für den Göttinger Bürger, in der Armenpflege mitzuwirken, hatte damit viele verschiedene Gründe: hier kommt neben die Nächstenliebe das Verantwortungsgefühl für die Stadt, die Stadtkasse und die von ihm zu bezahlenden kommunalen Steuern hinzu. Denn die Bürger decken über ihre Steuern das Budget der Armenkasse. Durch dieses Verantwortungsgefühl wurde Armenpflege in ihren unterschiedlichen Ausformungen zu einer Aufgabe für alle guten Bürger der Stadt und gehörte damit zum bürgerlichen Selbstbild. Armenpflegern, die zudem ehrenamtlich agieren, sind nur schwer Vorschriften zu machen. Eventuell war dies ein Grund für Senator Schlegel, die Armendeputation zu verlassen. Nach den Vorschriften seiner bisherigen Senatorenkollegen handeln zu müssen war unter seiner Würde, entsprach nicht seinem Verständnis eines Göttinger Senators. Anderes Selbstverständnis, bürgerliche Hierarchien, vielleicht auch fehlende Anerkennung behinderten die Arbeit zwischen einer professionell arbeiten wollenden Verwaltung und einem teilweise noch in ständischen Kategorien agierenden Bürgertum. Gerade bei der Zusammenarbeit mit freien Kräften treten die Spannungen deutlich zutage: »Lieber Georg! Also auf Befehl schriftlich: Das zweijährige Kind der Wittwe Gebser (Nicol. Straße 5) ist von der Armendeputation bei Hillebrechts in dem selben Hause in Pflege gethan; für 6 Mark monatlich, die ich durch deine Zusage der Frau Hillebrecht versprochen habe. […] Willst Du so gut sein, Dich noch einmal darum bekümmern, daß die Sache in Ordnung kommt? Das Kind ist seit dem 23. September bei Hillebrechts, die Armencasse hat erst etwa 14 Tage später übernommen. Kann die Bezahlung nicht von Anfang an geleistet werden, so will ich für die ersten Wochen das Geld schussen; bitte dann um Antwort. Mit herzl. Gruß Deine Helene«20
Der Adressat des Schreibens war kein geringerer als der Bürgermeister Georg Merkel. Deutlich tritt hier die Verärgerung der Schreiberin hervor, ihr Anliegen an ihn schriftlich verfassen zu müssen. Die beiden pflegten ansonsten anscheinend ein engeres Verhältnis: Sie duzten sich, sie verabschiedeten sich mit »herzl. Gruß«. Sie, die sich persönlich und finanziell für die »Wittwe« Gebser und ihre Kinder eingesetzt hat, erwartete eher den Dank der Stadtverwaltung als den »Befehl«, ihr Anliegen zu verschriftlichen. »Helene« wird sich bei ähnlich gelagerten Fällen wohl überlegt haben, sich wieder derart einzusetzen. 20 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1.
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Der Armenpfleger
Anders agierte das Fräulein Fedarhausen. Sie machte dem Armenpfleger Töpperwien die Mitteilung, dass die Ehefrau Hesse in bitterster Not lebe. In der Folge kümmerte sich Töpperwien um die Frau, versuchte zuerst beim Kirchenvorstand seiner St. Jacobi-Gemeinde Hilfe zu bekommen, anschließend setzte er den städtischen Armenpfleger Honig von der Not der Frau Hesse in Kenntnis.21 Durch die Meldung an den Armenpfleger hielt sich das Fräulein Fedarhausen an den Instanzenweg. Gleichzeitig vermied sie weitere Arbeiten für sich selbst. Töpperwien als Armenpfleger kümmerte sich um eine entsprechende Hilfe. Der Armenpfleger als zentrale Person des Armenwesens war meistens für mehrere Institutionen der Armenpflege tätig. Er sollte immer die Angebote und Arbeitsgebiete der anderen Institutionen im Blick haben. So konnte er »seinen« Armen schnell und effektiv eine Hilfe zukommen lassen. Er war es mit, der die Armen auf die verschiedenen Institutionen der Stadt, der Vereine, der Kirchengemeinden und der Universität aufteilte.
21 Vgl. Kirchenkreisarchiv Göttingen: Pfarrarchiv St. Jacobi Göttingen. Armen- und Krankenfürsorge. 1815–1910. A 362, I.
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6. Die städtischen Institutionen der Armenpflege
6.1 Allgemeine Tendenzen kommunaler Armenpflege im 19. Jahrhundert Während des 19. Jahrhunderts weiteten die Kommunen die ihnen von den obrigkeitlichen Zentralregierungen belassenen Zuständigkeitsfelder aus. Im Zusammenhang mit der Armenfürsorge wurden dabei immer speziellere Risikofelder der Verarmung »entdeckt«.1 Vor allem in den Großstädten entwickelte sich eine spezielle Gesundheits-, Jugend-, Wohnungs-, und/oder Arbeitslosenfürsorge.2 Die Entwicklung vollzog sich – mitunter mit verschiedenen Abstrichen resp. in verschiedenen Umformungen – auch in den kleineren Städten. Vom Gesetzgeber war im Unterstützungswohnsitzgesetz nur die Pflicht der Kommunen zur Armenfürsorge geregelt, nicht aber die konkrete Ausgestaltung der Armenpflege. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind in Preußen Vereinheitlichungsbestrebungen in der Armenpflege zu beobachten gewesen. Diese Bestrebungen orientierten sich durchweg an der Armenordnung der Stadt Elberfeld. Diese Ordnung wurde von anderen Städten an deren Bedürfnissen und Möglichkeiten angepasst. Zumindest vorläufig hatten die Kommunen mit diesem Elberfelder System Erfolg.3 Die Probleme nahmen mit dem Wachsen der Städte aber weiter zu und wurden dabei komplexer. Die städtische Gesellschaft differenzierte sich weiter aus, was sich auch in den Siedlungsformen widerspiegelte. Es entwickelten sich die sog. Arbeiterviertel oder auch Arbeitervorstädte und gleichzeitig dazu Villenviertel resp. Viertel, die meist dem Bürgertum vorbehalten blieben. Bürger und Arbeiter, Armenpfleger und Arme trennten ihre Wohnbereiche und verloren zunehmend den Kontakt zueinander.4 Durch das Fehlen finanziell abgesicherter Bürger mit den nötigen Orts- und Personenkenntnissen geriet das Prinzip der Ehrenamt1 2 3 4
Für den Bereich der Sozialpolitik vgl. Brüchert-Schunk, Städtische Sozialpolitik. Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung, S. 12. Ebd., S. 4 f. Vgl. Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 306 f.
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Die Organisation der Göttinger Armenpflege
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lichkeit in Gefahr. Es wurden immer weniger Bürger gefunden, die die teilweise recht umfangreichen Arbeiten neben ihrem eigentlichen Broterwerb erledigen konnten und wollten. Diese ehrenamtliche Arbeit wurde so auf als kleinbürgerlich empfundene Personengruppen ausgedehnt, die bisher dafür nicht in Frage kamen, sogar die Ausdehnung auf »Arbeiter« wurde diskutiert. Das Elberfelder System erfuhr eine Reihe von Modifikationen: Armenpflegern wurde die Möglichkeit einer Spezialisierung gegeben und nur noch bestimmte Fälle überwiesen, die Entscheidungskompetenz über Unterstützungsfälle wurde der zentralen Armenverwaltung übergeben oder es wurden professionelle Armenpfleger angestellt.5 Damit versuchten die Armenverwaltungen, den wachsenden Anforderungen mit minimalen Änderungen gerecht zu werden. Schließlich verschaffte die Arbeiterschutzgesetzgebung in den 1880er-Jahren den Armenverwaltungen einen Bürokratisierungsschub: Teilweise hatten Arme durch die Versicherungen Anspruch auf zusätzliche Leistungen. Die Armenverwaltungen hatten nun zu prüfen, inwieweit Versicherungen für die Armen aufzukommen hatten und dadurch wieder Armenmittel eingespart werden konnten.6 Teilweise wussten die Armen von ihren Pflichtversicherungen nichts oder die Leistungen wurden ihnen von den Versicherungen selbst wieder streitig gemacht.7
6.2 Die Organisation der Göttinger Armenpflege In Göttingen beruhte die Armenpflege bis zum Jahr 1872 auf einer Armenordnung aus dem Jahre 1818.8 Diese sah eine »Armendeputation« zur Verwaltung und Organisation der Armenpflege sowie »Armenfreunde« (und –freundinnen), die sich auf ehrenamtlicher Basis um die Armen kümmerten, vor. Kontrolliert wurden sie durch ein übergeordnetes Armenkollegium.9 Ein »Armenfreund« sollte sich hier um eine bis maximal drei arme Familien kümmern.10 Diese Entwicklung wurde außerhalb Göttingens anscheinend nicht zur Kenntnis genommen. So konnte von Göttingern mit Kenntnissen dieses Systems behauptet werden, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in Göttingen das Elberfelder System »ganz eingehend ausgeprägt war.«11 Die Armendeputation hatte zu diesem Zeit 5 Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung, S. 6. 6 Gründer, Kommunale Armenfürsorge im 19. Jahrhundert, S. 59–70, hier: S. 69 f. 7 Schröder, Subjekt oder Objekt der Sozialpolitik, S. 140 ff. 8 Für die Frühzeit vgl. Sachse, Armenfürsorge und Arme in Göttingen, S. 217–239. 9 StadtA Gö AHR I H Fach 1 Nr. 5; GZ v. 15. Februar 1872; Merkel, Erinnerungen, S. 66 f. 10 StadtA Gö AHR I H Fach 28 Nr. 1. 11 Merkel, Erinnerungen, S. 66 f.; Knoke, Fünfzig Jahre Göttinger Armenpflege; »Elberfelder« oder »Göttinger« System, Sp. 182–184. Knoke hatte eine Professur an der Theologischen Fakultät inne und leitete das Waisenhaus der Fakultät (siehe S. 181).
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punkt das letztendliche Entscheidungsrecht in »Armenfragen«.12 Die Institution der Armenfreunde – und damit die enge persönliche Betreuung der Armen – sowie das Armenkollegium überdauerten nur wenige Jahre. Schon 1848 wurde eine Neuorganisation des Armensystems nach den Prinzipien des schottischen Pfarrers Chalmers diskutiert.13 Nach diesen Prinzipien führte die Stadt Elberfeld schließlich »ihr« berühmtes System der Armenpflege ein.14 Damit war Göttingen zur Jahrhundertmitte zwar nicht mehr Vorreiter in der Fortentwicklung des Armenpflegesystems, sondern verfolgte und diskutierte nur noch interessiert die Entwicklungen auf diesem Gebiete. Bei der Betrachtung dieses Systems der Armenfürsorge stellt sich wieder die Frage, inwieweit gleiche Möglichkeiten und Probleme – paternalistisches Bürgertum und Verelendung weiter Bevölkerungskreise unabhängig voneinander – zu gleichen oder ähnlichen Lösungen geführt haben: eine auf enge persönliche Bindungen beruhende Armenpflege. Um 1865 war schließlich nur noch die Armendeputation in der Armenpflege aktiv. Eine organisierte flächendeckende ehrenamtliche Armenpflege scheint es nicht mehr gegeben zu haben. Durch diese chronische Unterbesetzung in der Armenpflege – es fehlten ja nun die »Armenfreunde« oder eine andere Gruppe Armenpfleger – wurde schon ab den 1860er-Jahren die Individualbehandlung der Unterstützungsbedürftigen zugunsten einer »gewisse[n] Schablone in Bezug auf die Höhe der Unterstützung« in den Hintergrund gerückt.15 Die Bedürftigen wurden, so kritische Göttinger Stimmen, zu diesem Zeitpunkt entindividualisiert, in Kategorien eingeordnet und bekamen nach diesen Kategorien ihre Unterstützungen. Es wurden Höchstsätze für Miete, Holz, Brot, Krankengeld und Kleidung aufgestellt, die aber nur die wenigsten Armen erhielten.16 Ende der 1860er-Jahre geriet die Göttinger Armenverwaltung in eine Krise: Durch die Übernahme der preußischen Freizügigkeitsregelungen kamen Bettler in bisher unbekannten Ausmaßen nach Göttingen und stellten Spendenfreudigkeit und Geduld der Göttinger Bürger auf eine harte Probe.17 Es war üblich, dass die Bettler die Bürger aktiv auf den Straßen und sogar in ihren eigenen Häusern um Gaben angingen. Zudem ging das Budget der Armenkasse, zu einem großen Teil aus Spenden und aus den Einkünften der Göttinger Zeitung stammend, zurück.18 12 13 14 15 16 17 18
Nachrichten über die Verwaltung der öffentlichen Armenanstalt, S. 2 ff. Göttingisches Unterhaltungsblatt 1848, S. 365 ff. Vgl. Gerlach, Armenpflege der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Elberfeld, S. 87–92. StadtA Gö AHR I H Fach 1 Nr. 5. Nachrichten über die Verwaltung der öffentlichen Armenanstalt, S. 30. GZ v. 11. Januar 1868, 29. Juni 1868. StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 23, 92; GZ v. 30. Juli 1868.
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Die der Armenfürsorge zugedachten Zuschüsse von 800 Talern jährlich reichten einfach nicht mehr zur Deckung der wachsenden Kosten aus. Die Zuschüsse aus der Kämmereikasse nahmen bislang unbekannte Höhen an. Nachdem es in den Jahrzehnten zuvor nur unwesentliche Schwankungen gegeben hatte, musste die Kämmereikasse ab 1868, anscheinend nur durch den Krieg 1870/71 unterbrochen, den gewohnten Zuschuss beinahe verdoppeln. 4000 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 1850
1860
1870
Diagramm 5: Zuschüsse aus der Kämmereikasse I: 1850–1873, in Taler
Zur Lösung dieser Probleme konnten keine Einsparungen bei den Unterstützungen gemacht werden. Diese beschränkten sich schon auf das allernotwendigste. Nur noch durch Sonderzahlungen der Stadtkämmerei konnte der Haushalt der Armendeputation gedeckt werden. Daher wurde 1869 eine Kommission ins Leben gerufen, die das städtische Armenwesen einer Revision unterziehen sollte.19 Diese Kommission schickte 1871 Anfragen nach Hannover, Osnabrück, Hildesheim, Harburg, Lüneburg, Emden, Celle und Stade (alle wie Göttingen Städte im ehemaligen Königreich Hannover), wie diese Städte ihre Armenordnung an das Unterstützungswohnsitzgesetz anpassen wollten. Lediglich Harburg und Emden teilten mit, Änderungen zu planen. Die übrigen Magistrate sahen keinen akuten Handlungsbedarf.20 Auch in Göttingen selbst beurteilte Kommissionsleiter Bürgermeister Merkel die Situation als relativ entspannt. In seinen Memoiren befand er, dass es in Göttingen nur wenige Arme gäbe und zudem noch eine ausreichende Privatwohltätigkeit.21 Damit spielte Merkel auf den Frauenverein und auf die immer wieder vorkommenden Einzelspenden an. Das Elberfelder System tat er dagegen als eine »Übertreibung der Betheiligung des Publikums« ab.22 So leugnete er die Finanzkrise und sprach sich gegen Änderungsbemühungen in der Armenverwaltung aus. Reformeifer war so nicht von ihm zu erwarten. Die Dis19 20 21 22
StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 23, 92. StadtA Gö: AHR I H, 2, Nr. 1. Merkel, Erinnerungen, S. 66. Ebd.
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kussionen um eine neue Armenordnung gingen an der Öffentlichkeit nicht spurlos vorüber. Am 15. November 1872 brachte die täglich erscheinende Göttinger Zeitung einen Artikel, in dem die Einführung eines neuen Armensystems nach Elberfelder Muster als ohne Alternative dargestellt wurde.23 Eine Woche später, am 22. November 1872, wurde dann für Göttingen eine neue Armenordnung aufgestellt, welche die herrschenden Verhältnisse letztendlich bestätigte. Merkel hatte sich durchgesetzt: Das Göttinger Publikum war weiterhin kaum beteiligt: Demnach blieb die Armendeputation das zentrale Verwaltungsorgan. Sie sollte neben dem Magistratsvorsitzenden aus zwei weiteren Magistratsmitgliedern, zwei Bürgervorstehern, einem Universitätsprofessor, dem städtischen Polizeidirektor, einem Geistlichen und zwei Bürgern bestehen. Durch diese Zusammensetzung war immer ein Teil der Göttinger Stadtautoritäten mit der Armenpflege betraut und mit Polizei, evangelischer Geistlichkeit und Universität waren alle wesentlichen Akteure der Armenpflege eingebunden. Dies konnte die Durchsetzung von Entscheidungen der Armenverwaltung gegenüber den Armen erleichtern. Die Armendeputation sollte zweimal im Monat ordentliche Sitzungen abhalten, in denen über die Armenfälle entschieden werden sollte. Diese Zeitspanne lag im Rahmen der Vorgaben des Elberfelder Systems. Der Behörde oblag weiterhin sowohl die Haushaltsplanung als auch die Verwendung der Gelder bzw. die endgültige Bewilligung von Unterstützungen. Die Armendeputation stellte eigene Verwalter jeweils für das Armenarbeitshaus, das Siechenhaus und das Hospital sowie Armenpfleger, Armendiener und einen Rechnungsführer an. Die Armendeputation bestimmte, wer arm war, wie diese Personen unterstützt wurden und überwachte sie.24 Diese »neue« Ordnung funktionierte, so wiederum Merkel, bis mindestens um 1900 in einem für die Stadtverwaltung »durchaus befriedigend[en]« Maß. Ihm machte die Göttinger Armenverwaltung wenig Arbeit.25 Da es auch in den Folgejahren keine massiven öffentlichen Klagen über das Armensystem gegeben hat, muss es sogar bis zum Kriegsausbruch 1914 für das Göttinger Bürgertum zufriedenstellend funktioniert haben. Die Mitglieder der Armendeputation mussten sich mit den steigenden Ansprüchen an ihre Armenbehörde im wachsenden Maße selbst in der alltäglichen Armenpflegearbeit engagieren. Mehr Personen – Göttinger und Nicht-Göttinger – forderten mehr Hilfen, die nach dem Unterstützungswohnsitzgesetz geprüft werden mussten. Die besoldete Stelle des Armenpflegers wurde aber in die eines Armendieners umgewidmet. Dieser hatte im Wesentlichen verschiedene regelmä23 GZ v. 15. Februar 1872; GZ v. 13. Februar 1872. 24 Armen-Ordnung 1872. 25 Merkel, Erinnerungen, S. 67 f.
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ßige Botengänge für die Armendeputation zu verrichten.26 Gleichzeitig stellte die Umwidmung der besoldeten Stelle des »Armenpflegers« hin zu einem »Armendiener« einen Fortfall von Unterstützung für die ehrenamtlich tätigen Bürger dar: während der Armendiener im wesentlichen »nur« die verschiedenen Botengänge für die Armendeputation zu erledigen hatte, hatten die Armenpfleger zu recherchieren und zu kontrollieren. Anfang 1879 – das neue System war schon sieben Jahre alt – beantragte Senator Tripmacker, der als Vereinsvorsitzender des Vereins gegen Verarmung und Bettelei ein Netz von nahezu 30 Pflegern unterhielt,27 die Umorganisierung der Armenpflege nach dem Elberfelder Muster.28 Tripmacker und seine Vereinsmitglieder sahen in der Organisation und Durchführung der Göttinger Armenpflege – im Gegensatz zu Oberbürgermeister Merkel – wenigstens »Besserungsbedarf«. Das Bürgervorsteherkollegium lehnte diesen Reformvorstoß ab. Das Kollegium befürchtete, dass die dreißig bis vierzig für Göttingen zu verpflichtenden Armenpfleger die Kosten für die Armenpflege steigern würden und eine Armensteuer eingeführt werden müsse.29 Damit war die Einführung eines Elberfelder Systems zum zweiten Mal in Göttingen gescheitert. Es wurden aber Armendistrikte eingeführt, denen Mitglieder der Armendeputation vorstanden.30 Die Armenpfleger arbeiteten dem Vorsitzenden der Deputation zu. Er wies ihnen die Armen in ihren Bezirken zu und die Pfleger prüften, inwieweit eine Bedürftigkeit vorlag und welche Maßnahmen ergriffen werden sollten. Diese wurden anschließend in der Sitzung der Armendeputation vorgetragen und beschlossen. Formal behielt das Gremium der Armendeputation die letztliche Entscheidungshoheit; faktisch wurden diese Entscheidungen von ihrem Vorsitzenden gefällt. Dadurch entstand in Göttingen eine stark abgeschwächte Form des Elberfelder Systems. Senator Tripmacker trat 1880 aus der Armen-Deputation aus, da er die juristische Sachkompetenz innerhalb der Armendeputation erhöhen wollte.31 Für die nächsten zwei Jahre war der Stadtsyndikus Mitglied der Armendeputation. Unterstützungswohnsitzgesetz und Professionalisierung anderer Stadtverwaltungen scheinen einen ersten Tribut gefordert zu haben. Tripmacker scheint die Nichteinführung des Elberfelder Systems in der Göttinger Armenverwaltung als eine persönliche Niederlage gesehen zu haben. Mit dem Verein gegen Verarmung und Bettelei hatte er seit 1875 ein Elberfelder System aufgebaut. 26 27 28 29 30 31
StadtA Gö: AHR I H 3, Nr. 2. Siehe Kap. 7.3: Der Verein gegen Verarmung und Bettelei. GZ v. 10. Januar 1879. GZ v. 22. Januar 1879. StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 24. StadtA Gö AHR I H, 3, Nr. 10. Vier Jahre später zog sich Tripmacker endgültig aus dem kommunalen Leben zurück. Thorsten Wehber vermutet hinter seinem Ausscheiden einen Rücktritt wegen eines Skandals. Vgl. Wehber, Zwischen Hannover und Preußen, S. 92.
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Auch scheint der Rest der Armendeputation um 1880 noch keine Erhöhung der »juristischen Kompetenzen« dieses Gremiums als erforderlich angesehen zu haben, denn sonst wäre dem Stadtsyndikus ein anderer Jurist ins Amt gefolgt. So konnte noch Stadtsekretär Brieke im Jahr 1907, ein Vierteljahrhundert später, über die mangelnde Kenntnis der Armenpfleger in der sozialen Gesetzgebung klagen.32 Zufrieden mit der Organisation der Göttinger Armenpflege schien zu diesem Zeitpunkt keine der beteiligten Personen gewesen zu sein. Das System muss aber soweit funktioniert haben, dass der Aufwand für grundsätzliche Reformen als zu hoch erachtet worden war. Nicht alle Armendeputationsmitglieder konnten sich mit den Tätigkeiten eines Armenpflegers anfreunden. So bat 1880 Senator Schlegel um seinen Austritt aus der Armendeputation, da er sich eingestand, dass »zu dessen Ausübung nicht die geringste Neigung bei mir vorhanden ist.« Senator Schlegel hatte sich zuvor viele Jahre lang um das Armenarbeitshaus gekümmert. Der Bitte wurde stattgegeben und ein Ersatzmann gewählt.33 Damit verlor die Göttinger Armenverwaltung durch die Ausweitung der Aufgaben ein engagiertes Mitglied mit einem erheblichen Erfahrungswissen um die Verhältnisse des Armenarbeitshauses. Spätestens 1905 hatte dann bis auf den Leiter jedes Mitglied der Armendeputation einen eigenen Armenpflegebezirk. Lediglich die 1909 in die Armendeputation aufgenommene Diakonisse Sophie Schwabe durfte – als Frau – nur vertretungsweise einen Bezirk übernehmen. Exkurs: Die Göttinger Armendeputation und die Frauen Mit der Einführung einer neuen Armenordnung 1818 wurden in Göttingen eine Vielzahl sog. Armenfreunde gesucht. Einige dieser fanden sich unter den Frauen der Göttinger Bürger. Mit dem Verschwinden dieser Armenfreunde in den 1830er-Jahren verschwanden dann auch die Frauen wieder aus der Göttinger Armenverwaltung. Eventuell lässt sich hier auch ein Grund für die Gründung eines spezifischen Frauenvereins 1840 finden. (siehe Kap. 7.2: Der Göttinger Frauenverein) Die Männer der Göttinger Armenverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts hatten eine »Abneigung« gegenüber Frauen in »ihrer« Verwaltung. Am 13. April 1899 wohnte mit der Diakonisse Sophie Schwabe erstmalig eine Frau einer Sitzung der Armendeputation bei,34 und ab 1905 lassen sich den männlichen Armenpflegern beigeordnete »Helferinnen« feststellen. Durch diese »Helferinnen« wurden die Betreuungs-
32 StadtA Gö AHR I H Fach 1 Nr. 5. 33 StadtA Gö AHR I H, 3, Nr. 10. 34 StadtA Gö: AHR I H, 3, Nr. 13.
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bzw. die Kontrollverhältnisse zu den Armen wesentlich verbessert. Die Verleihung des bürgerlichen Ehrenamtes der Armenpflegerin hätte dann auch zur Anerkennung als vollwertige Bürgerin führen müssen. Bei den gleichen Pflichten hätte es für die Frauen auch gleiche Rechte gebraucht.35 Diese Anerkennung blieb den Frauen durch den Status als »Helferin« verwehrt. Die Helferinnen kamen aus der Ortsgruppe des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes.36 Sowohl die Diakonisse Schwabe als auch die Helferinnen scheinen aber nie eine eigenverantwortliche Tätigkeit ausgeführt zu haben. Sophie Schwabe wurde erst nach einer zehnjährigen regelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen ab 1909 als offizielles Mitglied der Armendeputation geführt. Bis auf eine vertretungsweise Ausnahme im Jahr 1911 hatte sie als offizielle städtische Armenpflegerin nie einen eigenen Bezirk geführt. Im Jahr 1907 rechnete der von der Armendeputation enttäuschte Armenpfleger Ernst Honig jedoch mit ihrer Vertretung in seinem Armenbezirk. Dies war zu einer Zeit, da Sophie Schwabe nicht einmal als Helferin geführt war.37 Die Namen dieser Helferinnen kursierten nur auf internen Listen der Armendeputation. Bei Veröffentlichungen der Armenpflegebezirke in den Tageszeitungen und Adressbüchern wurden diese nicht ausgewiesen. Hier wird wieder der Konflikt innerhalb der Armendeputation deutlich: die Frauen wurden auf die entsprechenden Listen gesetzt, und Borheck strich sie wieder aus. Für Arme, die noch keinen Einblick in die Göttinger Armenbehörde hatten, war es so nicht möglich, diese Frauen direkt anzusprechen, bzw. war der Wille der amtierenden Männer erkennbar, direktes Ansprechen der Helferinnen zu vermeiden. Allerdings kann hier vermutet werden, dass zumindest ein Teil der Helferinnen in Göttingen als der Armenpflege zugehörig bekannt war. Die Göttinger Armenverwaltung zeigte sich auch sehr »wählerisch« mit der ihnen angebotenen Hilfe von Frauenvereinen. So wollte der Verein »Frauenstudium-Frauenbildung« einige Mitglieder im August 1913 in der öffentlichen Armenverwaltung wissen. Als Arbeitsgebiete gab der Verein neben den üblichen Gebieten wie »Trinkerfürsorge« unter anderem »Bildungsfragen« und »Rechtsschutz« an. Erst im Januar 1914, also vier Monate später, richtete die Armenverwaltung eine ablehnende Antwort an den Vereinsvorstand. In der Zwischenzeit bemühte sich der Verein über das geistliche Mitglied der Armendeputation, Pfarrer Dankwerts, um eine Beteiligung an der städtischen Armenpflege. Dieser wurde aber im November 1913 »dahin verständigt […], dass z. Zt. ein Bedürfnis zur Verstärkung der Armendeputation durch Damen aus dem Verein Frauenbildung-Frauenstudium nicht besteht. Dagegen seien prak-
35 Vgl. Osius/Chuchul, Heranziehung von Frauen zur öffentlichen Armenpflege, S. 1–39; Kraul, Sozialarbeit im 19. Jahrhundert, S. 32. 36 Göttinger Gemeindeblatt 1 (1910). 37 StadtA Gö: AHR I H, 3, Nr. 10.
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tisch erprobte Pflegerinnen jederzeit herzlich willkommen.«38 Dem Pfarrer waren so schon von (Stadt-)Amtswegen die Hände gebunden, und es stellt sich die (eigentlich müßige) Frage, wem er sich eher verbunden gefühlt hat: den Frauen des Vereins oder den Autoritäten der Stadt. Die Armendeputation machte bei der Frauenfrage den Unterschied zwischen den praktisch arbeitenden Diakonissen und den eher theoretisch veranlagten Damen eines Frauenbildungsvereins. Bei den Diakonissen nahmen die Herren der Armenverwaltung wohl an, dass sie sich mit einer Helferrolle zufrieden geben würden, bei den Vereinsmitgliederinnen wurde aber wahrscheinlich befürchtet, dass diese irgendwann gegenüber den Herren der Armendeputation als gleichberechtigte Pflegerinnen auftreten wollten. Oder vielleicht noch schlimmer: über die Arbeitsgebiete »Bildungsfragen« und »Rechtsschutz« würden die Armen merken, dass auch sie gegenüber ihrer Stadtobrigkeit Rechte hatten, ein Teil der Gaben dieser Obrigkeiten auf gesetzlich begründete Pflichten beruhen; kurz: die Armen fangen durch die Vereinsarbeit an, ihre Rechte zu erkennen und stellen Ansprüche, werden »unverschämt«. Als Helferinnen waren Frauen gerne gesehen. Sobald aber Frauen ein weiteres Interesse nach Gleichberechtigung oder gar Mitbestimmung hatten, und bei Mitgliederinnen eines Vereins namens »Frauenbildung-Frauenstudium« lässt sich ein solches vermuten, wurden sie aus der Armenpflege ferngehalten. Trotz der Fürsprache von Frauen in der Armenpflege durch den Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit zeigte die Göttinger Armenverwaltung Frauen gegenüber dieselben kritischen Tendenzen, wie sie auch bei anderen Armenverwaltungen zu finden waren.39
Die Zahl der Pfleger stieg von vier im Jahr 1888 auf acht im Jahr 1914 an. Acht ehrenamtliche Pfleger der Stadt konnten sich aber nicht ausreichend um die Lebenssituation ihrer rund 1.000 (1885) Unterstützten kümmern, auch wenn in den Adressbüchern Göttingens immer wieder auf die zusätzlichen Pfleger des Vereins gegen Verarmung und Bettelei hingewiesen wurde. Verein und Stadt kooperierten auf verschiedenen Ebenen eng miteinander: u. a. betreuten einige städtische Pfleger ihren Stadtbezirk auch für den Verein gegen Verarmung und Bettelei.40 Die Auflösung des Vereins im Jahr 1911 hatte keinen Anstieg der städtischen Pfleger zur Folge. Schon Zeitgenossen bemängelten die ungenügende Zahl der Armenpfleger. Sie sahen, dass die wenigen städtischen Armenpfleger nicht dem »erzieherischen« Aspekt der Armenfürsorge nachkommen könnten und befürchteten, dass die Armenausgaben so nicht gesenkt werden könnten. 38 Ebd. 39 Sachße/Tennstedt, Der Deutsche Verein bis 1945, S. 31; Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. 40 Vgl. Adressbuch Göttingen u. Bericht über die Geschäftsthätigkeit des Vereins gegen Verarmung und Bettelei.
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Die Unterstützungen wurden nach festgelegten Sätzen bewilligt. Die Sätze richteten sich nach Erfahrungswerten, die aber nirgendwo schriftlich niedergelegt waren.41 Eine Witwe mit Kindern bekam nach diesen Erfahrungswerten im Jahr 1883 als monatliche Maximalunterstützung 24 Mark zugestanden.42 Hier ist aber auch offen, wie die Kinderzahl in diese Summe herein gespielt hat; ob Naturalien schon einberechnet waren oder ob dies einfach der maximale Geldbetrag war, zu welcher weitere Unterstützungen hinzugerechnet werden konnten. Ebenso stellt sich bei dieser Summe die Frage nach der Einberechnung weiterer Unterstützungen wie z. B. Hilfen des Frauenvereins oder der Wohltätigen VorschussAnstalt, Zahlungen der von der Stadt verwalteten Stiftungen wie z. B. das PuscherLegat oder die Saxonia-Stiftung. Insgesamt lässt die Summe von »24 Mark« mehr Fragen zu als dass sie Antworten gibt. Bei der Vielzahl an in Göttingen vorkommenden »Wittwen« kann vermutet werden, dass diese Frauen nicht nur durch den Tod von ihren Männern verlassen wurden.43 Die Gruppe der von ihren Männern verlassenen Frauen stellte eine der größten Armengruppen und für die Armendeputation das größte Problem in der Armenpflege dar (vgl. S. 47 ff.).44 Die Festlegungen der Unterstützungen führten aber, so Stadtsekretär Brieke, zu einem Anspruchsdenken der Armen, die sich auf den Erhalt der Unterstützungen verlassen hätten und die sich auch nicht mehr aus der Armut herausarbeiten wollten. Hier hatten seiner Ansicht nach die Armenpfleger einzugreifen und die Armen zurechtzuweisen.45 Gegen diese Feststellung spricht aber der Befund aus den Protokollbüchern der Armendeputation: Unterstützungen wurden während des gesamten Betrachtungszeitraums gestrichen oder gekürzt und kurz darauf, sobald unstrittig klar war, dass die Unterstützung notwendig war, wiederbewilligt. Der Frau des kranken Gasarbeiters Jürgens wurde im September 1866, im Januar 1867 und im Februar 1873 die monatliche Mietunterstützung wiederbewilligt,46 1885 wurde der Witwe Fischer das Krankengeld von 1 Mark wiederbewilligt, und auch der »Wittwe« Siemsen wurde 1891 die wöchentliche Brodunterstützung wiederbewilligt. Am 30. Mai 1902 wurden die Zahlungen von 6 Mark Miete für die »Wittwe« Beinhorn eingestellt, am 25. Juli 1902 Zahlungen in Höhe von 2 Mark wieder zugestanden.47 41 StadtA Gö AHR I H Fach 1 Nr. 5. Jedenfalls konnte bislang keine entsprechende Liste gefunden werden. 42 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1. 43 Weber-Reich, Pflegen und Heilen in Göttingen, S. 86. 44 StadtA Gö: AHR I H 2, Nr. 2. 45 StadtA Gö AHR I H Fach 1 Nr. 5. 46 StadtA Gö: AB Wof 12.10.1. 47 StadtA Gö: AB Wof 12.10.2; AHR I H 3, Nr. 14.
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Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die Forderungen nach Professionalisierung der Armenpflege und Ausweitung des Personals von den Göttinger Stadtoberen weitestgehend ignoriert. Ihre Bestrebungen gingen in eine vollkommen andere Richtung: Die Stelle des Armendieners wurde mit der Pensionierung des amtierenden Armendieners 1895 mit der Stelle des ebenfalls pensionierten Siechenhausverwalters zusammengelegt.48 Dadurch konnten zwar Personalkosten verringert werden, doch hatte sich der Armendiener nun auch explizit um die Verwaltung des Siechenhauses und die Verhältnisse im Siechenhaus zu kümmern! Ebenso wurde die Rechnungsführung der Armenkasse nach Pensionierung des hauptamtlichen Rechnungsführers 1880 dem ehrenamtlich arbeitenden Senator Borheck überantwortet. Hier wurde das Armenwesen entgegen dem Trend im Deutschen Kaiserreich entprofessionalisiert. Die direkt einsparbaren Personalkosten wurden als wichtiger erachtet als die durch »erzieherische Einflüsse« erhofften Einsparungen bei den Unterstützungskosten. Exkurs: Senator Borheck Senator Carl Borheck war eine leitende Persönlichkeit in der Göttinger Stadtverwaltung und der Armenfürsorge. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als »Rentier«. Er war also finanziell abgesichert und hatte genügend Zeit, seinen zahlreichen ehrenamtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Der Senator prägte die Armenverwaltung von 1878 bis zu seinem Tode 1913. Er wurde 1833 geboren und war von seinem 45. Lebensjahr bis in das hohe Alter von 80 Jahren ehrenamtlich für die Armendeputation tätig. 1879 übernahm er selbst ein Armenpflegeamt, welches er 1881 schon wieder abgab. In demselben Jahr wurde er Leiter der Armenkasse und 1893 übernahm er den Vorsitz in der Armendeputation. Gleichzeitig kümmerte er sich für die städtische Verwaltung hauptsächlich noch um das Standesamt, um die Wiederaufforstung des Hainberges, um das Schlachthaus und um den städtischen Friedhof. Nebenbei war er noch in den Vorständen des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, der Pestalozzi-Schulstiftung und des Vereins für entlassene Strafgefangene sowie zeitweilig Kirchenvorstand der St. Johannis-Gemeinde. Bei diesen weitgestreuten Tätigkeiten wurde er in Göttingen als ein Musterbeispiel für einen bürgerlichen Senator angesehen. Dabei galt seine besondere Vorliebe den Armen der Stadt, deren Lebensumstände er zum großen Teil persönlich kannte.49 Borheck wurde von Bürgermeister Merkel ein wesentlicher Anteil an dem weitestgehend reibungslosen Betrieb der Göttinger Armenverwaltung
48 StadtA Gö: AHR I H 3, Nr. 9. 49 StadtA Gö: AHR I A 7, Nr. 22; GT v. 23. Juli 1910; GT v. 18. Juli 1913.
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gegeben.50 Allerdings war er eher der Stadt als den Armen verpflichtet. Er galt als sparsam und soll Bittsteller teilweise recht schroff abgewiesen haben.51 Auch sind die Protokollbücher der Armendeputation während der »Ära Borheck« beinahe vollkommen von Diskussionen befreit. Die Protokolle machen eher den Eindruck, dass während der Sitzungen die (von einer nicht benannten Person) vorgesehenen Unterstützungen für bestimmte arme Personen/Familien bestätigt worden sind.
Um 1900 wurde dann ein Armenbüro eingerichtet, welches ab 1904 als »Büro für Unterstützungsangelegenheiten« geführt wurde.52 Dort kümmerten sich der Stadtsekretär Brieke und ein Stadtschreiber um Fragen zum Unterstützungswohnsitz »ihrer« Armen und um Ersatzansprüche für geleistete Hilfen.53 Das Unterstützungswohnsitzgesetz und die Sozialversicherungsgesetze hatten beinahe dreißig resp. fünfzehn Jahre nach ihrer Verabschiedung in Göttingen für eine Bürokratisierung in der Armenpflege gesorgt: Es musste (weil die Anforderungen durch das Göttinger Bevölkerungswachstum, durch gestiegene bürokratische Anforderungen oder weil sich die Göttinger Verwaltung nicht mehr mit der bisherigen Praxis des »Durchwurstelns« abgeben wollte) ein eigenes Büro eingerichtet werden, in dem geprüft wurde, welche Armenverbände für zugezogene Göttinger (Ersatzansprüche Göttingens an andere Armenverbände) zuständig waren und welche für ausgezogene Göttinger (Ersatzansprüche anderer Armenverbände an Göttingen) oder ob verarmte Göttinger bei einer Versicherung Ansprüche anmelden konnten. Brieke vertrat als Leiter dieses Büros zu verschiedenen Anlässen den Leiter der Armendeputation. Da er den genauesten Einblick in die Amtsführung des Senator Borheck hatte, wurde er nach seinem Tode 1913 zum provisorischen Nachfolger ernannt. Stadtsekretär Brieke hatte aber schon vorher Ambitionen auf diesem Gebiet. Er verfasste im Jahr 1907 einige Verbesserungsvorschläge zur Göttinger Armenpflege. Zu seinen Forderungen zählten eine vorgreifende Armenpflege, die nicht erst einsetzte, wenn ein Zustand vollständiger Verelendung (vgl. Diagramm 7) eingetreten war, und gleichzeitig schärfere Kontrollen der dauerhaft Unterstützten. Um dieses zu gewährleisten, wollte er die Zahl der ehrenamtlichen Armenpfleger um mindestens das Doppelte heraufsetzen. Dabei sollten vor allem Fachbeamte aus der Landesversicherungsanstalt oder einer Krankenkasse in Betracht kommen. Frauen sollten dabei aber wieder nur zur Betreuung von Einzelfällen herangezogen werden können. Zudem sollte, so ein weiterer Vorschlag, ein besoldeter Armenkontrolleur angestellt werden, der 50 51 52 53
Merkel, Erinnerungen, S. 67. Ködderitz, Senator Borheck, Sp. 95 f. Vgl. Adressbuch Göttingen 1900 u. 1904. StadtA Gö AHR I H Fach 1 Nr. 5.
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sich auch in der Sozialgesetzgebung auszukennen hatte. Hier hat Brieke wohl eine Anleihe am »Straßburger System«, der Weiterentwicklung des Elberfelder Systems, genommen. Die weiterhin ehrenamtlichen Armenpfleger sollten einem Verwaltungsausschuss unterstellt werden, der die einzelnen Unterstützungen wieder zu prüfen hatte. Vorsitzender sollte der Leiter der Armendeputation sein. Die Armenpfleger sollten die Unterstützungen bei den Bedürftigen auszahlen. Diese Gelegenheit hatten sie gleich zur Kontrolle der Wohnung und des Lebenswandels zu nutzen. Weiter sah Brieke eine engere Verzahnung des Armenbüros mit den Pflegern vor. Schon im Vorfeld einer Unterstützung sollten etwaige Ansprüche aus verschiedenen Versicherungen geprüft werden.54 Es ist nicht überliefert, auf wessen Initiative hin diese Vorschläge unterbreitet wurden. Die Umsetzung dieser Vorschläge hätte das Göttinger Armensystem wieder auf die Höhe der Zeit gebracht: (Ehrenamtliches) Fachpersonal mit juristischem Sachverstand und eine vorgreifende Armenpflege hätten sowohl zur Professionalisierung des Systems beigetragen als auch die zeitgenössischen Diskussionen berücksichtigt. Veränderungen am System nach diesen Forderungen haben sich aber nicht feststellen lassen. Damit erwies sich die Göttinger Armenverwaltung einmal mehr als reformresistent. Wer sich hier genau gegen Veränderungen ausgesprochen hatte, bleibt – wie so vieles in der »Ära Borheck« – unklar. Insgesamt zeigt sich damit die Göttinger (Armen)Verwaltung als von einigen Personen geprägt, jeweils abhängig von ihrer Arbeitskraft, ihren Sympathien und ihren Ambitionen. Außer dem unbedingten Willen, Kosten einzusparen und Neuerungen zu vermeiden, sind keine Entwicklungslinien erkennbar. Die übergeordneten Instanzen der Armendeputation, an die auch Beschwerden über Unterstützungsbeschlüsse gerichtet werden konnten, bestanden zum einen aus dem städtischen Magistrat, zum anderen aus dem Bezirksausschuss und dem Regierungspräsidenten. Sobald sich der Regierungspräsident in die Göttinger Armenpflege einschaltete wurde eine Untergrabung der städtischen Obrigkeit, repräsentiert durch den Magistrat und in diesem Fall der Armendeputation, befürchtet. Auch wurde angemerkt, dass sowohl der Magistrat und als übergeordnete Bezirksbehörde auch der Regierungspräsident andere Aufgaben hätten und sich nicht um die für eine sachgerechte Bewertung nötige Einzelfallprüfung bemühen könnten.55 Es wird also kaum Beschwerden von einer Gruppe, die die offizielle Schriftsprache nur unzureichend beherrscht hat, an diese Instanzen gegeben haben. Es sind lediglich zwei Beschwerden überliefert. Einmal ging eine solche direkt an den Hof der Kaiserin, und hier reagierte die Armendeputation 54 Ebd. 55 Ebd.
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zumindest verärgert. Ein anderes Mal ging die Beschwerde an das Landesdirektorium, und hier wurde ein Stadtschreiber zum Verfassen der Beschwerde geschickt. In Göttingen hatte sich in der städtischen Armenpflege kein Elberfelder System ausgebildet, bzw. das elberfeldähnliche System der Armenfreunde und Armenfreundinnen ab 1818 wurde schon nach etwas mehr als einem Jahrzehnt in den 1830er-Jahren wieder aufgegeben. In den 1880er- und 1890er- Jahren wurden dann sogar hauptamtliche professionelle Stellen gestrichen bzw. zusammengelegt. Die vorhandenen Armenpfleger reichten kaum aus, um die vorhandenen Armen mit Unterstützungen zu versorgen, geschweige denn, sie durch Ratschläge und Kontrolle aus der Armut zu führen. Eine dauerhafte Kontrolle und Betreuung, wie sie im Elberfelder System prägend war und auch für Göttingen gefordert wurde, konnte es somit nicht geben. Nach Ansicht mindestens des Bürgervorsteherkollegiums war diese Art der Fürsorge für die Stadtkasse günstiger als eine dem Elberfelder System gerecht werdende Armenpflegerzahl. Diese hätten eine insgesamt große Zahl an Unterstützungsfällen auffinden können, die erst einmal für die Stadt kostenintensiv gewesen wäre. Durch die vielen Pfleger hätte aber eine intensive Beratung (und Kontrolle) der Armen erreicht werden können, die diese im Idealfall aus der Armut geführt hätte. Zudem hätten fachkundige Pfleger auch für eine bessere Ausnutzung der neuen Sozialversicherungssysteme ab den 1880er-Jahren sorgen können.
6.3 Die Göttinger Armenkasse: Wege der Professionalisierung 1860–1914? Die finanziellen Leistungen der städtischen Armenfürsorge wurden durch die Armenkasse verwaltet. Diese war bis 1914 unabhängig von der Stadtkämmerei, bezog aber seit den 1870er-Jahren den größten Teil ihrer Einnahmen aus dem Stadthaushalt. Während des gesamten Betrachtungszeitraumes stiegen die Einnahmen und Ausgaben der Kasse sehr stark an. Angesichts dieser Zahlen werden die Ängste der Göttinger Bürger vor dem Wachsen der Ausgaben für die Armenkasse verständlicher. Tatsächlich aber spiegeln diese Ausgaben nur das Bevölkerungswachstum und das generelle Wachsen des städtischen Finanzhaushaltes wider. Zudem machte Bürgermeister Merkel eine »Sentimentalität gegenüber den Armen und Elenden« mit für das Ausgabenwachstum verantwortlich.56 Die fehlende Diskussion um die schnell wachsenden Ausgaben ist aber ein Hinweis, dass Merkel mit dieser Meinung allein stand, der größte Teil des steuerzahlenden Göttinger Bürgertums den Sinn dieser Ausgaben nicht bestritt und entsprechend keinen Anlass sah, dies öffentlich zu diskutieren. 56 Merkel, Erinnerungen, S. 67.
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120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000
0 1855
1860
1865
1870
1875
1880
1885
1890
1895
1900
1905
1910
1915
Diagramm 6: Zuschüsse der Kämmerei II: 1855–1914, in Mark
Gemessen an den öffentlichen Diskussionen um die Armenfürsorge war der von der Stadt aufgewendete Anteil am Gesamtbudget gering. In den 1890er-Jahren verwendete die Stadtkämmerei nur ungefähr 6 % ihres geplanten Gesamthaushalts für die Armenkasse. Da aber die geplanten Einnahmen der Stadt meist deutlich höher ausfielen und die Ausgaben der Armenkasse meistens niedriger waren, ist der tatsächliche Anteil für diesen Zeitraum deutlich niedriger. Auch wurde bis zum Jahr 1900 von der Armenkasse eine Provinzialabgabe über 30.000 Mark getragen und erst ab diesem Zeitpunkt von der Kämmerei direkt gezahlt. Der tatsächliche Anteil der Ausgaben für die Göttinger Armen am Stadthaushalt wird also wie für den Zeitraum nach 1900 zwischen 2,5 % und 4 % betragen haben. Die für Arme verausgabte Summe machte so nur einen geringen Bruchteil des Gesamthaushaltes aus.57 Das Geld ging zum größten Teil in die offene Armenpflege. Diese beinhaltete Unterstützungen in Form von Geldzahlungen hauptsächlich für Miete und Unterhalt, aber auch in Extraleistungen für Ernährung oder Bekleidung. Geldzahlungen waren die Regel. Auch waren Geldzahlungen in Krankheitsfällen üblich. Das Geld wurde vom Vorsitzenden der Deputation in seinem Geschäftszimmer ausgezahlt. Es gab aber auch materielle Hilfe wie in den Wintermonaten z. B. ein Milchfrühstück für Schulkinder, Lebensmittel oder in besonders langen und kalten Wintern die Zuteilung von Heizmaterial.58 Durch die Armenkasse wurden auch die Einrichtungen der geschlossenen Fürsorge verwaltet. Der Kostenanteil der Einrichtungen der geschlossenen Fürsorgeeinrichtungen – Hospital, Siechenhaus und Armenarbeitshaus – sank von ca. 30 % im Jahr 1870 auf ca. 20 % im Jahr 1914. Die Bedeutung dieser Institutio57 Haushaltspläne der Stadt Göttingen 1896–1916. 58 StadtA Gö AHR I H Fach 28 Nr. 1.
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nen in der Armenpflege nahm somit ab, ohne dass die Institutionen an sich obsolet wurden. Sie nahmen weiterhin eine wichtige Funktion innerhalb der Versorgung der Unterschichten und Armen ein. Während für das Siechenhaus und das Hospital die realen Beträge abgerechnet wurden, erhielt das Armenarbeitshaus zumindest bis zum Haushaltsjahr 1896/97 einen Pauschalbetrag. Die Einrichtung der Wanderarbeitsstätte im Jahr 1911 auf dem Gelände des Armenarbeitshauses zog vermehrt Zuschüsse nach sich In den Haushaltsjahren 1893/94 bzw. 1895/96 kamen die Posten »Unterhaltung armer Idioten, Blinden, Taubstummen, Epileptischer« bzw. »Unterhaltung armer Geisteskranken« hinzu. Diese nahmen zusammen den bedeutendsten Posten in der geschlossenen Armenpflege der Stadt Göttingen ein. Allein aus diesen Ausdifferenzierungen in den Haushalten – als »blöd« oder »schwachsinnig« bezeichnete Personen lassen sich regelmäßig in den geschlossenen Einrichtungen der Göttinger Armenpflege nachweisen – zeigt sich, dass es auch im Göttinger Armensystem im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung der Gründe für Armenunterstützungen gegeben hat. Einen geringen Anteil hatte der Haushaltsposten »Verwaltungskosten«. Dieser sank sogar durch eine Stellenneubesetzung 1895/96 von über 1.500 M auf ca. 1.000 M. Erst 1914 lassen sich Verwaltungskosten von annähernd 1.500 M wieder nachweisen.59 Weiterhin wurden durch die Armenkasse verschiedene Stiftungen verwaltet. Die jeweiligen Stifter hatten sich dazu verschiedene, meist würdige, Armengruppen ausersehen, die durch die anfallenden Zinsen unterstützt werden sollten. So konnten z. B. im Jahr 1902 aus der Eggelingstiftung 14 ältere Ehepaare jeweils den einmaligen Betrag von elf Mark empfangen.60 Weitere typische Empfängergruppen konnten kinderreiche Familien, verwahrloste Kinder, Sieche oder allgemein die Armenkasse sein. Die einzelnen Stiftungen konnten auch für bestimmte Zwecke wie der Armenweihnachtsbescherung ausgeschrieben worden seien.61 Insgesamt waren die ausgezahlten Summen eher gering. Sie verschafften den Empfängern aber einen kleinen Geldbetrag, über den sie zusätzlich verfügen konnten. In dem von den Behörden für die Unterschichten als »normal« befundenen Haushaltsjahr 1896/97 hatte die Armenkasse Gesamteinnahmen von 94.688,63 M. Ungefähr zwei Drittel kamen davon aus der Stadtkämmerei. Auch wurden über 10.000 Mark an Armenunterstützung zurückerstattet. Der Rest der Einnahmen setzte sich im Wesentlichen aus Spenden und den Erträgen aus Stiftungen und 59 Vgl. Haushaltspläne der Stadt Göttingen 1892–1916; Auszug aus der revidirten und abgenommenen Rechnung der Armenkasse 1883/84–1896/97. 60 StadtA Gö AHR I H Fach 3 Nr. 13. 61 StadtA Gö Pol Dir XIII Fach 68, Nr. 6.
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angelegten Kapitalien zusammen.62 Die Gesamtausgaben beliefen sich in diesem Jahr auf 94.130,21 Mark. Damit blieb ein geringer Überschuss. Dieser, auch in den Vorjahren vorhandene, geringe Überschuss zeigt, dass die Ausgaben der Göttinger Armenverwaltung sich eher an den Einnahmen orientierten, nicht aber an den tatsächlichen Bedürfnissen der Armen. Der größte Einzelposten in den Ausgaben waren die für den Landarmenverband. Für die Armen der Stadt ging auch in diesem Jahr das meiste Geld in die offene Armenpflege als Geldunterstützung für Miete bzw. Unterhalt oder als Krankengeld. Damit wurden in besagtem Haushaltsjahr 463 Familien bzw. Einzelpersonen unterstützt. Eine Gesamtzahl der unterstützten Personen ist nicht ersichtlich, ging es in der Armenpflege des 19. Jahrhunderts doch zuerst um das Geld, erst danach um die Menschen. Die beiden Gründe für die Unterstützung in der offenen Armenpflegewaren Krankheit sowie Gebrechlichkeit und Altersschwäche.63 Die Armenkasse wurde bis zum Jahr 1880 von dem von der Armendeputation angestellten Rechnungsführer Klause geführt. Er erhielt für seine Tätigkeit als Rechnungsführer zuerst jährlich 100 Taler, später wurde diese Summe auf 500 Mark nach regelmäßig wiederholten Bitten um Gehaltserhöhung aufgestockt. Klause hatte die Arbeit ohne eine finanzielle Entschädigung in seinen Privaträumen zu erledigen und dort auch die Besucher zu empfangen.64 Bürgermeister Merkel wünschte sich einen Nachfolger aus der Armendeputation, woraufhin die Armenkasse ehrenamtlich von Senator Borheck übernommen wurde. Dieser behielt sie bis zu seinem Tod 1913.65 Durch die Übergabe der Armenkasse von einem besoldeten Rechnungsführer an einen ehrenamtlichen Senator wurde allenfalls eine »Entprofessionalisierung« der Verwaltung erreicht. Eine kleine überschaubare Verwaltung, und ebenso die entsprechende politische Elite, wie in Göttingen hatte wohl ein größeres Bedürfnis nach günstiger als nach professioneller Verwaltung. Erst nach dem Ableben Borhecks wurde grundsätzlich offen über die Organisation der Armenkasse nachgedacht. Der Stadtkämmerer Thiemann hatte auf Anordnung des Oberbürgermeisters Calsow zu prüfen, wie die Armenkasse der Kämmerei angegliedert werden könne. Oberstadtsekretär Brieke protestierte gegen diese Vorgehensweise. In einem vertraulichen Schreiben an den Oberbürgermeister Calsow sah er sich und den Magistratssekretär Vollmer persönlich angegriffen. Beide hatten die Armenkasse nach Borhecks Tod übernommen und verwalteten sie. Brieke wies auf die eingespielte Verfahrensweise der Armenkasse hin und betonte die kurzen Verwaltungswege, wenn die Organisation so bestehen 62 63 64 65
Vgl. Auszug aus der Armenkasse vom Etatsjahr 1. April 1896/97. Vgl. Auszug aus der revidirten und abgenommenen Rechnung, 1896/97. StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 59. StadtA Gö: AHR I H, 3, Nr. 11.
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bleiben würde. Für Thiemann waren diese kurzen Wege dagegen ein Grund der Klage: Er verwies darauf, dass ein und dieselbe Person die Einnahmen verbuche, Auszahlungen tätige und auch diese wieder verbuche und abrechne. Für ihn war durch ein solches Vorgehen keine Kontrollmöglichkeit gegeben. Um eine Kontrolle in ausreichendem Maße zu ermöglichen wollte er die Armenkasse seiner Kämmerei unterstellen und dort von seinen Beamten führen lassen. Es wurde der Kompromiss gefunden, dass Sekretär Vollmer die Kasse noch bis zum 1. April 1914 führen konnte und sie erst dann der Kämmerei übergeben musste. Brieke sollte der Kämmerei Vorschläge zur Auszahlung der Unterstützungen zukommen lassen, wobei nicht mit größeren Änderungen der bisherigen Verfahrensweise gerechnet wurde. Auch sollte die Armendeputation ihre Aufsichtsbefugnis über die Armenkasse beibehalten.66 Dadurch konnte die Buchführung der Armenkasse professionalisiert werden, ohne aber etwas an dem Auszahlungsmodus, für dessen Durchführung anscheinend eine große Erfahrung mit dem Göttinger Armenwesen benötigt wurde, zu ändern. Die Neubewilligungen für Armenunterstützungen durchliefen einen gewissen, den Jahreszeiten angepassten Rhythmus. In diesem Rhythmus spiegeln sich die zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben der Unterschichtenhaushalte wider. Bei der Betrachtung der Neubewilligungen wird davon ausgegangen, dass es keine grundsätzlichen Änderungen bei Unterschichtenhaushalten gegeben hat, d. h. im Sommer waren die Lebenshaltungskosten geringer und der Verdienst höher, im Winter dagegen die Kosten höher und der Verdienst geringer. Wetterphänomene wie milde Winter oder Frosteinbrüche im Frühjahr sind nicht berücksichtigt. 20
1870
1885
1902
15
%
10
5
0
Diagramm 7: Verteilung der Neubewilligungen für Armenunterstützung 1870, 1885 und 1902 im Jahresverlauf, in Prozent 66 Ebd.
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Während jeweils im Oktober 1870 ein starker und 1885 noch ein leichter Anstieg an Neubewilligungen und anschließend weniger Neuunterstützungen zu beobachten sind, gibt es den großen Anstieg an Neubewilligungen 1902 erst im Dezember. Eventuell ist hier die beklagte Sparfähigkeit Senator Borhecks zu sehen: 1870 und 1885 griff die Armenpflege schon im Vorfeld einer zu vermutenden Verarmung während der verdienstarmen Monate ein, 1902 musste die Armut schon eklatant gewesen sein, um eine Neuunterstützung zu diesem Zeitpunkt zu erhalten. Die Winterunterstützung wurde erst später bewilligt, anscheinend wenn es absolut keine andere Möglichkeit mehr gab. Ebenso auffällig sind die vermehrten Neubewilligungen 1885 und 1902 im Mai. Eigentlich sollte der Mai für Arme ein guter Monat sein: bis auf Ausnahmen ist es nicht mehr kalt wie im Winter und die Verdienstmöglichkeiten haben durch verschiedene Gärtner- oder Bauarbeiten zugenommen. Trotzdem sind in diesen Jahren viele Neubewilligungen zu verzeichnen. Auch hier kann die Erklärung im Sparwillen der Armenverwaltung liegen: Auch die Verwaltung ging von sinkenden Lebenskosten und vermehrten Verdienstmöglichkeiten aus und strich entsprechend die Unterstützungen zusammen, und zwar schon im Vorfeld, wenn die Verbesserungen noch gar nicht eingetreten waren. Entsprechend wurde im Mai, wenn dann wieder der allerletzte Vorrat aufgebraucht war, um Armenunterstützung gebeten, die auch bewilligt werden musste, wollte man die Menschen nicht verhungern lassen. Die Verteilung der Neubewilligungen über das Jahr hinweg ist ein starkes Indiz, dass die Armenpflege in Göttingen immer sparsamer im Umgang mit den Armen geworden ist. Zwar wurden Leistungen ausgeweitet, doch Leistungen wurden immer schneller entzogen (1885 und 1902) und auch später gegeben (1902).
6.4 Die Geldunterstützungen der Armenkasse Hauptgeldgeber der Armen in Göttingen war die städtische Armendeputation. Die Hilfen der Armendeputation konnten ohne Rücksicht auf Alter, Religionszugehörigkeit, Familienstand etc. beantragt werden. Die Hilfen selbst konnten massiv zur Überwindung eines (kurzzeitigen?) Notstandes, aber auch langfristig angelegt sein. Im Schriftgut der Armenverwaltung sind derartige Differenzierungen nicht direkt erkennbar, dagegen aber die Klagen, dass Unterstützung ohne Rücksicht auf die Verhältnisse gewährt werden würden. In der Vergabepraxis scheinen diese »Rücksichten« dann doch durch. In der Regel verteilte die Armendeputation Mietunterstützungen, Alimente (für Kinder) und Naturalien (Brot und Milch).
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Die Geldunterstützungen der Armenkasse 100
Mietzuschüsse Schulgeld
90
Krankengeld Hospital
Brot (Nahrungsmittel) Siechenhaus
Alimente Armenarbeitshaus
80 70 60 %
50 40 30 20 10
1912 1913 1914
1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896
1870
0
Diagramm 8: Anteile an den Ausgaben der Armendeputation 1870–1914, in Prozent67
Falls die Unterstützungen nicht, wie anfangs kalkuliert, gereicht hatten, wurden sie erhöht. Geld zur freien Verfügung gab es nur sehr eingeschränkt durch verschiedene, von der Armendeputation verwaltete Stiftungen: zum einen betrug die ausgezahlte Summe meist nur 2 Mark, zum anderen wurden maximal 80 Personen von den Stiftungen einmal im Jahr bedacht. Ausgezahlt wurden die Geldunterstützungen nicht unbedingt an die (männlichen) Familienvorstände, sondern oftmals an die Frauen oder auch an einen »Treuhänder«: 1906 erkrankte Adolf Masjeiko an der Hand und war entsprechend in seiner Erwerbstätigkeit gemindert. Das Krankengeld von 2 Mark erhielt ein Herr Kaufmann.68 Alimentenzahlungen in Höhe von 12 Mark sollten 1902 zuerst an den Arbeiter Lechte gehen. Der »Arbeiter« wurde gestrichen, dafür die »Ehefrau« eingesetzt.69
Die Armendeputation befürchtete in beiden Fällen wohl einen Missbrauch des Geldes. Adolf Masjeiko war der Armendeputation bestens bekannt: Er hatte die Vaterschaft für wenigstens zwei uneheliche Kinder anerkannt, war 1887 in Haft gewesen und mehrmals im örtlichen Armenarbeitshaus. Zu diesem Zeitpunkt war es das dritte Mal, dass er Krankengeld zugestanden bekam. Die negativen Vorerfahrungen der Behörde mit diesem Mann werden für diese restriktive Art der 67 Auszug aus der revidirten und abgenommenen Rechnung der Armenkasse zu Göttingen 1870– 1893, Haushaltsplan der Stadt Göttingen 68 StadtA Gö: AHR I H 3, Nr. 14. 69 Ebd.
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Krankengeldauszahlung bestimmend gewesen sein. Der Arbeiter Masjeiko kam aus dem ostpreußischen Königsberg und hatte den Unterstützungswohnsitz in Göttingen erworben. Er war also kein »Einheimischer«. Er wäre eine typische Person, die von der Göttinger Armendeputation mit einer strengeren, exkludierenden Form der Armenpflege hätte bedacht werden können. Allein: vorher bekam er das Krankengeld zwei Mal selbst ausgezahlt. Von einer Exklusion aufgrund Herkunft kann so nicht die Rede sein. Eher muss von einer angepassten Unterstützung aufgrund schlechter Vorerfahrungen ausgegangen werden. Der »Arbeiter Lechte« kann nicht genau zugeordnet werden. Doch sind alle zu der Zeit »aktiven« »Lechtes« ebenfalls nicht gut beleumundet gewesen: Sie waren entweder im Armenarbeitshaus, wurden verwahrlost in das Hospital eingeliefert oder hatten Kredite des Vereins gegen Verarmung und Bettelei nicht zurückgezahlt. 80 70 60 50 40
%
30 20 10 0
1902 1885 1870
männlich
weiblich
unbekannt
Diagramm 9: Verteilung der Unterstützungen nach Geschlecht 1870, 1885 und 1902, in Prozent
Ausgehändigt wurden die städtischen Unterstützungen zum größten Teil an Frauen, wenngleich der Anteil der Auszahlungen an Männer im Steigen begriffen war. Es zeigt sich wieder der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Armut: Während die Männer sich als der Unterstützung »unwürdig« erwiesen haben oder mittlerweile verstorben waren – sie waren damit sozusagen (Mit) verursacher der weiblichen Armut – kümmerten sich meist die Frauen um die Kinderschar, wurden die Frauen älter (und kränker), und erwiesen sich insgesamt als vertrauenswürdiger im Umgang mit dem Haushaltsgeld. Bei einer plötzlich auftretenden Notlage konnte die Armendeputation kurzfristig auch massive Hilfen vergeben:
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Am 29. Juni 1902 verstarb der Schneider Heinrich Dahling und hinterließ Frau und Kind anscheinend völlig mittellos. Heinrich Dahling war den Göttinger Armenpflegern als »notorischer« Alkoholiker bekannt und seine Familie musste öfters im Armenarbeitshaus leben. Entsprechend kannte die Armenbehörde die Verhältnisse der Familie. Am 05. Juli 1902, eine Woche nach dem Tod des Mannes, vermittelte der Armenpfleger Brandes der Witwe einen Kredit des Vereins gegen Verarmung und Bettelei von 10 Mark (welcher nicht zurückgezahlt wurde). Am 11. Juli griff dann die Armendeputation unter Vermittlung desselben Armenpflegers mit einer Alimentenzahlung von 8 Mark ein und am 15. August erhielt sie dann eine (einmalige?) Zulage von 5 Mark. Allerdings wurde eine schon vorher gewährte Milchunterstützung am 29. August wieder eingezogen.70
Hier zeigt sich das Ineinandergreifen von Verein und Behörde in einer Person, hier des Armenpflegers Brandes. Der Kredit des Vereins wurde rasch zur Überbrückung der ersten Not vermittelt; eventuell lagen die Tagungs- und Bewilligungszeiten des Vereins aber auch für diesen Fall schlicht günstiger. Die Armendeputation griff schnellstmöglich mit der Alimentenzahlung ein und gewährte einige Wochen später sogar eine Zulage. Trotzdem zeigt sich auch wieder der unbedingte Sparwille der Armendeputation: Sobald die Versorgung der Familie gesichert schien, wurde eine erste kleine Kürzung vorgenommen. Wäre die Not der Familie durch die Kürzung über Gebühr gestiegen, hätte diese wieder gewährt werden können, wäre die Not nicht wesentlich gestiegen, hätte die Stadt dauerhaft einige Pfennige Armenunterstützung gespart. Dieses Muster des »Probierens und im Zweifel wieder Anhebens« ist für den gesamten Beobachtungszeitraum festzustellen. Diese Kürzungen scheinen das Motivationsmittel der Armendeputation gewesen zu sein, Arme zur Arbeit zu bewegen. Allein die Situation der Göttinger Armen scheint dem widersprochen zu haben. Vielfach waren diese nicht in der Lage, entsprechende Arbeit dauerhaft zu finden oder ausführen zu können. Gemeinhin wurden die Unterstützungsgesuche der Bittsteller durch bezahlte Schreiber verfasst. In Göttingen mit seinen Studenten und einer Reihe schlecht oder gar nicht bezahlter Wissenschaftler war an gut ausgebildeten Schreibern kein Mangel. Sogar der langjährige Armenhäusler und ehemalige Student Adolph Meissner bezeichnete sich selbst als »Schreiber«. Göttingen war damit ein Sonderfall. Andernorts sind zahlreiche von den Armen selbst verfasste Gesuche überliefert. Die verschiedenen »Dienstleister« für die Studenten – Stiefelputzer, Zimmermädchen etc. – vermittelten nicht nur Angehörige als Tagelöhner, sondern 70 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1., StadtA Gö: AB Wof 12.10.2, StadtA Gö: AHR I H 11, Nr. 1, StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. Wohltätige Vorschuss-Anstalt und Verein gegen Verarmung und Bettelei 7, StadtA Gö: AHR I H 3, Nr. 14
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umgekehrt wahrscheinlich auch Studenten als kostengünstige Schreiber für die Bittgesuche ihrer Angehörigen. Sobald sich Arme ihrer mangelnden Sprach-71 oder Rechtschreibkenntnisse bewusst waren, sich gegenüber der Stadtobrigkeit aber keine Blöße geben wollten, oder sie das Gesuch für derart wichtig erachteten, dass sie unbedingt dafür einen Schreiber bezahlen wollten, konnten sie einen Schreiber anheuern, so etwa die »Wittwe« Elise Jürgens:. »Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß ich vor ungefähr einem halben Jahre um eine Unterstützung wegen der langen Dienstzeit meines verstorbenen Mannes auf der Gasanstalt hieselbst und durch dieselbe seinen frühen Tod fand anflehte. Sie waren so freundlich mir mitzutheilen, daß ich mich dieserwegen schriftlich an hochverehrlichen Magistrat wenden sollte und Ihnen die Schrift zusenden sollte. Leider konnte ich wegen Mangel an Verdienst nicht soviel erschwingen eine Bittschrift machen zu lassen, warum ich nicht früher meinen sehnlichsten Wunsch nach Linderung meiner Noth ausführen könnte. – Ich bitte Sie daher flehentlich bei hochverehrlichen Magistrat dahin zu wirken, daß mir wegen meiner notorischen Armuth und Dürftigkeit aus der Casse der Gasanstalt eine Unterstützung dargereicht werde. Mein erstorbener Mann diente nämlich von Anfang als die Anstalt erbaut wurde bis zu seinem Tode derselben. Er hatte das Unglück bei Einrichtung des großen Gaskessels zu stürzen und wurde seit jener Zeit nicht wieder recht gesund, so daß er oft wochenlang nicht arbeiten, sondern zu Bett liegen mußte, bis ihn der Tod von seinem Leiden befreite.«72
Elise Jürgens wollte mit ihrem Gesuch ganz sicher gehen: Erst hat sie ihr Gesuch vorher abgesprochen, dann einen Schreiber angeheuert. Und diese Sorgfalt wurde belohnt. 1873 ist die erste Zahlung aus der Kasse der Gasanstalt an sie nachweisbar, dann im Jahresabstand weitere Zahlungen bis 1886. Der »Ton« eines selbstverfassten Unterstützungsgesuchs konnte sehr variieren. Dabei war es wichtig, welchen Ruf die Unterstützungssteller hatten, bzw. welches Prestige und welche Stellung. Die Argumentation mit der Pflicht der Gemeinde zur Unterstützung war nicht immer erfolgsversprechend: »An den wohllöblichen Magistrat zu Göttingen Ganz ergebenste Bitte, des Arbeiters Friedrich Hichert in Göttingen, Nicolaistraße No 7 wohnhaft um Bewilligung und Ueberweisung einer Unterstützung aus dem Orts Armenverband Durch meinen mehr als zweijährigen Aufenthalt73 am hiesigen Orte habe ich hierselbst den
71 Vgl. Bernstein, Sprachliche Sozialisation, S. 130. 72 StadtA Gö: AHR I H 7, Nr. 3. 73 Randnotiz:?
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Unterstützungswohnsitz erworben, ich richte hiermit an den Orts Armenverband die Bitte, meine Hülfsbedürftigkeit zu prüfen und meine Unterstützung geneigtest veranlassen zu wollen, und bemerke, daß ich 63 Jahre alt, verheiratet, und Vater einer Tochter bin, welche bei einer Herrschaft im Dienste steht, so mir daß ich am 1. Juni d. J. das Unglück hatte den linken Arm zu brechen, und arbeiten nicht kann. Einer gütigen Gewährung meiner ganz gehorsamsten Bitte entgegen sehend, verharret Göttingen, den 10. Juli 1891 Friedrich Hichert Arbeiter«74
Dieses Gesuch wurde sieben Tage später abgelehnt. Zuvor löste es bei den Lesern Irritationen aus: Der »zweijährige Aufenthalt« wurde mit einem Fragezeichen versehen. Auch wenn in diesem Gesuch ansonsten anscheinend alles richtig war: Friedrich Hichert stellte den Magistrat und die Armenbehörde als »gütig« dar, sofern sie ihm helfen würden, er machte auf seine Notlage aufmerksam, so scheint die kurze Anspielung auf den Unterstützungswohnsitz ein gewichtiger Grund der Ablehnung gewesen zu sein. Eine mangelnde Verankerung Hicherts in die Göttinger Gesellschaft wird nicht der Grund für die Ablehnung gewesen sein: Seine Frau – nicht er selbst – bekam im März noch einen Kredit der Wohltätigen Vorschuß-Gesellschaft vermittelt. Im Oktober des Jahres wurde der Kredit dann wieder gewährt. Hier ist dann ein weiteres Indiz für die Ablehnung zu finden: der Familie Hichert wurde im Jahr 1891 noch zugetraut, einen Kredit zurückzuzahlen. Für Armenunterstützung ging es ihr damit noch »zu gut«. Anders gelagert ist der Fall des Kopisten Adolf Hofmann, der auch mit dem Hinweis auf das Unterstützungswohnsitzgesetz um Hilfe bat. Mündliche Hilfsgesuche im März und im Mai 1878 hatten anscheinend nicht den gewünschten Erfolg, so dass er sein Gesuch im August des Jahres schriftlich formulieren musste (vgl. auch S. 206): »[…] Dieser hochlöbliche Magistrat hat nicht die Gewogenheit gehabt, auf meine wiederholten Gesuche um eine Anstellung sich gewährend zu entscheiden, hat vielmehr meiner kranken nur einige, zwar mit Dank anerkannte, aber zur Unterhaltung meiner Familie nicht hinreichende, Almosen gereicht. […] Seit dem Jahre 1843 beschäftigte ich mich nun hier mit Advocaten-Scripturen, mit Abschreiben von gelehrten Arbeiten pp, und gedachte, daß es auch mir gelingen würde, bei meiner Heimathbehörde irgend einen kleinen Dienst zu erhalten. Da dem aber nicht entsprochen ist, so sehe ich mich jetzt gezwungen die hohen Collegien des Magistrats und der Bürgervorsteher um die durch
74 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
das Unterstützungs-Wohnsitz-Gesetz mir zustehende Hülfe zu ersuchen, und dieses geschieht hiermit ganz ergebenst. A. Hofmann. Comp. Chir. a. D. Copist«75
Dieses Gesuch hatte Erfolg: zu der bislang einen Mark Krankenunterstützung, die alle zehn Tage gezahlt wurde, kam eine weitere Mark hinzu. Die Sprache war eine ganz andere als beim Gesuch Friedrich Hicherts. Hier schwang deutlich die Enttäuschung über die ausgebliebenen Aufträge der Stadt, die ein Überleben ohne Armenhilfe ermöglicht hätte, mit, ebenso wie die als zu niedrig empfundene Hilfe mit. Aber Hofmann war eben auch nicht mit einem Arbeiter wie Friedrich Hichert zu vergleichen: Als »Compagnie-Chirurgus a. D.« hatte er ein gewisses Sozialprestige, als Schreiber von Advocaten-Scripturen und gelehrten Arbeiten wird er innerhalb der Stadtverwaltung bekannt gewesen sein. Als solcher konnte er sich wohl diese, den »hochlöblichen Magistrat« angreifende Sprache erlauben. Auch war sein Gesuch äußerlich »formvollendeter«, was eventuell die Höhe der Unterstützung beeinflusst haben könnte.
6.5 Das städtische Hospital Die Verbindungen zwischen »Krankheit« und »Armut« sind vielfältig, waren im 19. Jahrhundert bekannt und wurden entsprechend »behandelt«: In den Armenvereinen gab es oftmals eigene Sparten für Krankenpflege oder es waren gleich eigene Vereine, die sich auf Krankenpflege spezialisiert hatten. In Göttingen kümmerte sich der Frauenverein unter anderem um die Krankenpflege. Die Kirchen entsandten speziell ausgebildete Ordensschwestern bzw. Diakonissen. Besonders für Schwerstkranke, Personen ohne Betreuungsnetzwerke, Personen mit ansteckenden Krankheiten oder intensiven Behandlungsmethoden sowie Sieche mit einem erhöhten Betreuungsaufwand waren die meist kommunalen Hospitäler unverzichtbar.76 Die kommunalen Krankenhäuser befanden sich im 19. Jahrhundert in einigen Zwiespalten: auf der einen Seite medizinische Fortschritte, auf der anderen Seite rigide Sparmaßnahmen; auf der einen Seite fachkundige Pflege, auf der anderen Seite das Stigma als Armenanstalt. Diese Widersprüche lösen sich auf, wenn man die Krankenpflege besserer Kreise betrachtet. Diese ließen nach Möglichkeit Ärzte kommen und sich zu Hause behandeln und pflegen. Entsprechend sahen diese Kreise in modernen und teuren medizinischen Anlagen in den kommunalen Hos75 Ebd. 76 Dross, »Allein der Kranke ist arm«, S. 1–15.
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Das städtische Hospital
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pitälern keinen Sinn und ließen ihren Unmut bei entsprechenden Investitionen, welche über ihre Steuerzahlungen finanziert wurden, freien Lauf.77 In Göttingen wurden erkrankte Arme in das städtische Hospital am Albanitor, später ab 1881/1883 am Waageplatz, eingewiesen. Das Gebäude am Albanitor wurde nach dem Umzug von der Stadt als Dienstwohnung für Angestellte weiter benutzt.78 Im Hospital am Albanitor konnten bis zu zwanzig Personen behandelt werden. Meist waren dies alte Personen, bzw. die Unterbringung dort war auf Dauer angelegt. Die Kranken blieben bis zu ihrem Tode dort. Das Hospital hatte damit den Charakter eines zweiten Siechenhauses. In dem neuen Hospital fanden deutlich mehr Patienten Platz.79 Spätestens mit dem Aufkommen der neuen Krankenversicherung nutzten nun auch mehr Menschen die neuen Räumlichkeiten. Nur Kranke mit interessanten und lehrreichen Krankheiten oder Symptomen, die für die universitäre Lehre von Bedeutung sein könnten, wurden unentgeltlich in die Universitätskliniken aufgenommen. Sobald die Krankheit nicht mehr von Interesse war, wurde der Mensch in das städtische Hospital (zurück)überwiesen oder kostenpflichtig weiterbehandelt. Eine solche Weiterbehandlung war teuer und die Armendeputation war in der Regel nicht bereit, diese Kosten zu übernehmen. So mussten die Kranken in das städtische Hospital zurück wechseln. Hier kam es 1892 zu Konflikten. Einige Kranke wurden zum einen seitens des städtischen Hospitals ohne einen Aufnahmeschein des Magistrats in die Universitätsklinik eingeliefert, zum anderen aber seitens der Universitätskliniken einfach vor der Tür abgesetzt, ohne dem städtischen Hospitalwärter über den Neuzugang auch nur Bescheid zu geben.80 Die Behandlung der Stadtarmen wurde von dem Stadtarzt geleistet. Der Stadtarzt wurde vom Magistrat gegen ein Festgehalt angestellt. Dafür hatten er unter anderem die Kranken in Hospital und Siechenhaus unentgeltlich zu behandeln. Neben den körperlich Kranken hatte er noch die Begutachtung der »Blödsinnigen« und »Irren« zu leisten. Im Hospital wurde auch eine Desinfektionsanstalt untergebracht.81 Zwischen 1889 und 1910 fanden aber nur wenige Personen eine Aufnahme in das Hospital zur Reinigung bzw. wegen Ungeziefers. Es ist davon auszugehen, dass eine Reinigungsbehandlung in der Regel keine Aufnahme in das Hospital zur Folge hatte. So stellt sich die Vermutung, dass das Hospital in Göttingen Anlaufpunkt für eine 77 Zeitschrift für das Heimathwesen 1 (1896), S. 127; Zeitschrift für das Heimathwesen 2 (1897), S. 2 f. 78 Vgl. Adressbuch Göttingen. 79 StadtA Gö: AHR I H, 2, Nr. 2. 80 StadtA Gö: AHR I H, 9, Nr. 2. 81 Brieke, Merkel und seine Zeit, S. 17.
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Vielzahl medizinischer Dienstleistungen war, die stationär aufgenommenen Kranken nur die »Spitze des Eisberges« darstellten. Insgesamt gab es einen Bruch wenigstens in der Buchführung des Hospitals. Zu Beginn des Dokumentationszeitraumes für diesen Bereich im Jahr 1840 waren beinahe ausschließlich Göttinger untergebracht, zum Ende hin war aber eine große Zahl vermutlicher Wanderarbeiter festzustellen. Noch 1881, beim Umzug des Hospitals an den Waageplatz, wurden nur die Göttinger Dauerkranken aufgezählt. Es stellt sich also die Frage, was diese Änderung bewirkt hat. Freizügigkeit kam in Göttingen erst mit der preußischen Besetzung 1866 auf, ab diesem Zeitpunkt ist also mit einer Vielzahl an Wanderern in den offiziellen Statistiken zu rechnen. Dazu passt auch, dass für die Jahre 1866 bis 1869 Abrechnungen für Auswärtige überliefert sind. Die Göttinger Stadtverwaltung schien sich auf das neue Phänomen erst einstellen zu müssen. Allerdings gibt es diese Abrechnungen nicht in einem Umfang, die auf eine annähernd lückenlose Dokumentation schließen lassen. Der große Wandel in der Führung der Ein- und Abgänge scheint somit irgendwann zwischen 1883 und 1889, in einer Zeit ohne Ein- und Ausgangslisten, stattgefunden zu haben; also entweder mit den neuen Räumlichkeiten und deren Möglichkeiten oder mit den persönlichen Vorlieben eines neuen Hospitalverwalters. Erstens würde dies bedeuten, dass sich normative Änderungen im Armenwesen oder in der Armengesetzgebung (Einführung des Unterstützungswohnsitzes) nicht zwangsläufig im Rückblick feststellen lassen werden. Es ist den Verwaltern und der städtischen Aufsichtsbehörde überlassen, wie sie die Bücher führen. Zweitens musste auch erst die Infrastruktur geschaffen werden, den gesetzlichen Vorschriften zu genügen. Die Masse der Wanderarmen hatten wahrscheinlich keine Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen. Die Eröffnung eines neuen Hospitals zehn Jahre nach der Einführung des Unterstützungswohnsitzgesetzes spricht nicht für eine Änderung aufgrund dessen. Die Versorgung der Wanderarmen im Krankenhaus scheint eher durch die neuen, nicht ausgelasteten Räumlichkeiten ermöglicht worden zu sein. Vor der Eröffnung des neuen Hospitals gab es für Wanderarme wahrscheinlich drei Möglichkeiten: Ausweisung trotz Krankheit, ambulante Versorgung oder Versorgung in der Universitätsklinik. Die Insassen des Hospitals unterschieden sich nach regionaler Herkunft in drei Gruppen: zuerst die Göttinger, dann Menschen aus dem Umland, zuletzt durchziehende/wandernde Männer. Auch wenn es über die wechselnde Zusammensetzung Beobachtungen gibt scheint es nicht ratsam, die vorhandenen Befunde zu einer statistischen Auswertung hinzuzuziehen. Menschen mit dem Geburtsort »Dresden« können in Göttingen heimisch geworden sein (und zum immensen Bevölkerungswachstum in dieser Zeit beigetragen haben) oder umgekehrt ursprünglich aus Göttingen stammende Personen in eine andere Heimat- und
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Das städtische Hospital
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schließlich Unterstützungsgemeinde (meist der näheren Umgebung) ziehen bzw. landarm werden. So lassen sich nur »Auffälligkeiten«, strukturell wiederkehrende Phänomene, ausmachen, die nicht quantifiziert werden sollen: In den nasskalten Wintermonaten von Oktober bis etwa April befanden sich viele Menschen von auswärts mit Fußproblemen oder allgemein Rheumatismus im Hospital. Diese sind mehrheitlich den Wanderarmen zuzurechnen. Durch die Witterung, den täglichen Wanderungen sowie die unzureichende oder beschädigte Kleidung traten diese Probleme auf und mussten behandelt werden. Auch einzelne Göttinger mussten sich mit diesen Problemen ins Hospital begeben. Zumindest die wundgelaufenen Füße und die Erfrierungen wurden bei der Entlassung aus dem Hospital immer als »geheilt« betrachtet, die Wanderarmen waren wieder arbeitsfähig. Sie konnten ruhigen Gewissens in andere Städte weitergeschickt werden. Durch die schlechten Verdienstmöglichkeiten, besonders von Tagelöhnern und Wanderarbeitern, in Herbst und Winter war eine verstärkte Bereitschaft, sich in das Hospital bei ausreichender Heizung und Verpflegung zu begeben, wahrscheinlich. Wanderarme mussten sich Ende des Jahrhunderts zuerst bei der Polizeistation einfinden, um weitere Weisungen zu Arbeit und Übernachtung zu empfangen. Dort wurden dann auch schon (die ersten?) Kranken herausgefiltert und in das städtische Hospital überwiesen.82 Im Wechselspiel mit dem Armenarbeitshaus fällt auf, dass viele chronisch kranke Personen, psychisch Kranke oder Personen, die nach einer Krankheit dauerhafte Schädigungen davon getragen haben könnten (Schlaganfallpatienten), zwischen Hospital und Armenarbeitshaus wechselten; und dies durchaus mehrfach. Dieses verstärkt den Eindruck des Armenarbeitshauses als eines »sozialen Zentrums« (siehe S. 118). Personen, die nicht mehr für sich selbst sorgen konnten, für das Hospital aber nicht mehr krank genug waren, wurden im Armenarbeitshaus versorgt, wo sie die notwendige Pflege und teilweise auch Aufsicht fanden, gleichzeitig aber wenigstens für einen Teil ihrer Unterhaltskosten arbeiten mussten. Andersherum ist aber zu fragen, inwieweit die Armenhausinsassen Krankheiten zu einer Flucht aus dem Armenarbeitshaus instrumentalisierten. Brüche und Geschwüre lassen sich ja relativ leicht diagnostizieren, aber wie ist es mit leichteren, trotzdem sehr schmerzhaften Formen von »Rheuma«? Es ist somit offen und kann auch gar nicht erörtert werden, was hier denn nun »Henne« oder »Ei« gewesen war: Waren einige Arme »faul«, haben einige »Wehwehchen« aufgebauscht, um im Hospital einige »gute« Tage zu verleben; haben diese schlicht »krank gemacht« und hatten so ihren »Kredit« bei der Armenverwaltung irgendwann derart verspielt, dass diese sie in das Armenarbeitshaus einge82 StadtA Gö: Pol Dir XIII C, F 68 Nr. 3.
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wiesen hatte, um dort »Strebsamkeit« und »Fleiß« zu erlernen? Oder waren diese Personen durch ihre Krankheiten irgendwann nicht mehr in der Lage, dauerhaft allein ihren Unterhalt zu sichern und brauchten eine gewisse Pflege und Aufsicht? Zum ersten Mal tauchte Henriette Kutscher am 20. Juni 1889 im Armenarbeitshaus auf. Ab 1894 ist sie dann dauerhaft dort untergebracht gewesen, sofern sie nicht versuchte, in anderen Städten einen Lebensunterhalt zu finden. Im November 1902 ist sie dann zum ersten Mal aus dem Armenarbeitshaus mit einer »Lungenentzündung« in das städtische Hospital gewechselt. 1904 kam sie dann das erste Mal mit einer »Bronchitis«, die sie anscheinend bis zu ihrem Tod 1910 nicht mehr los wurde. Insgesamt wechselte sie in diesen sechs Jahren sieben Mal in das Hospital, um anschließend wieder in das Armenarbeitshaus zurückzukehren.83
Frauen finden sich in dem Hospital selten als Patientinnen mit einmaligen Behandlungen (z. B. Brüchen, aber auch Erkältungs- und Lungenkrankheiten), eher als Langzeitpatientinnen mit Alterschwäche oder psychischen Erkrankungen. Kinder finden sich dagegen sehr selten. Da sowohl Frauen als auch Kinder sich auch Brüche zugezogen haben und auch unter »Bronchitis« und »Lungenentzündung« litten, zudem sie ebenso wie die Männer in denselben zugigen und teilweise feuchten Behausungen lebten sowie auch Pflege benötigten, die die Familie oder andere Netzwerke nicht zu leisten imstande war, so stellt sich die Frage, wo die kranken Kinder sind? Ist hier etwa von einer Klassenmedizin bei den Unterschichten auszugehen? Wobei die Frage nach der privilegierten Klasse offen ist: die Hospitalinsassen, weil sie medizinische Pflege bekamen? Oder wurden Frauen und Kinder in der akademischen Klinik bzw. die Kinder im evangelischen Bethlehemstift84 mit der »besseren« Pflege behandelt? Kann es möglich sein, dass nicht die Art und Schwere der Krankheit über die Aufnahme in das Hospital entschieden haben sondern allgemeine »Würdigkeitsvorstellungen«? Frauen und ganz besonders Kinder waren beinahe schon per se würdige Arme, ihnen musste »nur« die Möglichkeit zum materiellen Überleben gegeben werden. Bei Männern im grundsätzlich arbeitsfähigen Zustand aber musste der Krankheitsverlauf überwacht werden. Zwar wollte offen wohl niemand von »Simulanten« sprechen, doch schien der Armenverwaltung hier ein wenig Kontrolle doch angebracht zu sein.
83 StadtA Gö: AHR I H 8, Nr. 3; AHR I H 8, Nr. 4; AHR I H 11, Nr. 1; AHR I H 11, Nr. 6; Meldekarte Henriette Kutscher. 84 Vgl. Weber-Reich, Pflegen und Heilen, S. 63 ff.
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Das städtische Hospital
Das Hospital diente für viele Personen für einige Tage als eine Zwischenstation auf dem Weg entweder in eine Spezialanstalt oder in das nächste Hospital. Eine besondere Gruppe scheint die der Prostituierten gewesen zu sein. Polizeibekannte Prostituierte mussten sich jede Woche einmal im Hospital zu einer genauen Reihenuntersuchung einfinden. Diese sollen sehr ritualisiert und ohne Schwierigkeiten für die Kontrolleure abgelaufen sein.85 Die in den Gesetzen und der zeitgenössischen Literatur aufgemachte strenge Trennung zwischen dieser sittenpolizeilichen Behandlung (und deren Finanzierung) und der Armenpflege scheinen in der Göttinger Praxis nicht vorgekommen zu sein.86 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich aber immer weniger Prostituierte, bzw. auch immer weniger an Syphilis erkrankte Personen. Dies kann mit einem Wechsel der Behandlungsformen und damit auch mit einem Wechsel in das Universitätsklinikum zusammenhängen, aber auch mit einem Sinken der gemeldeten Prostituierten auf drei im Jahr 1907.87 Im Jahr 1916 wurden schließlich die Prostituierten endgültig aus dem Universitätsklinikum ausgewiesen. Da für das städtische Hospital auch eine »Rufschädigung« befürchtet wurde, wurde eine Unterbringung im Armenarbeitshaus überlegt.88 250 männlich
weiblich
200
150 100
1910
1909
1908
1907
1906
1905
1904
1903
1902
1901
1900
1899
1897
1898
1896
1895
1894
1893
1892
1891
1890
0
1889
50
Diagramm 10: Zugänge in das städtische Hospital 1889–1910
85 HSTA Hannover: Hann. 180 Hild. Nr. 942. 86 Vgl. Eger, Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz, S. 33. 87 HSTA Hannover: Hann. 180 Hild. Nr. 942. Dies führt aber für die Universitäts- und Garnisonsstadt Göttingen mit ihrem hohen Männeranteil zu der Frage, ob die Prostitution nicht in weniger kontrollierbare Bereiche abgedrängt worden ist. 88 StadtA Gö: Pol. Dir. VIII J, F. 59 Nr. 11.
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Die Zugänge zeigen eine deutliche männliche Dominanz im Hospital. Einen Großteil zu diesem Umstand tragen die ausschließlich männlichen kranken Wanderarbeiter der Herbst- und Wintermonate bei. Der Ausschlag 1908 findet sich in ähnlicher Version bei den versorgten Wanderarbeitern des Vereins gegen Verarmung und Bettelei (siehe Diagramm 17). Wahrscheinlich kam dieser Anstieg der Wanderarbeiterzahl durch die Kombination einer Wirtschaftskrise und der durch ein neues Gesetz zur Wanderarbeit geschärften Aufmerksamkeit der städtischen Behörden zustande. Gleichzeitig zu den massiven Zugängen der Männer nahm auch die Zahl der Frauen zu. Hier sind natürlich wieder die städtischen Armen zu erwarten, die eventuell aufgrund der Wirtschaftskrise eher zu einem Hospitalaufenthalt bereit waren oder sich dorthin begeben mussten, um unterstützt zu werden. Doch vielleicht verbergen sich hier auch einige der wenigen wanderarmen Frauen? 20 15 10
Zugänge
5 0
Abgänge Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
August
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Diagramm 11: Durchschnittliche Zu- und Abgänge im städtischen Hospital 1889–1910 im Jahresverlauf
Insgesamt hatte das Hospital einen Jahresrhythmus, der sich auch bei anderen Armenpflegeeinrichtungen finden lässt: Im Herbst füllte sich das Haus, die Zugänge waren bis Februar höher als die Abgänge. Im März, mit Anbruch des Frühlings, leerte sich dann das Hospital, um bis zum Herbst bei relativ leeren Räumen und einer relativ geringen Fluktuation zu »übersommern«. Zu den Krankheiten: Im Hospital wurden die Krankheiten behandelt, bei denen sich eine ambulante Behandlung nicht anbot: Eine Bronchitis oder Lungenentzündung etwa bei den häuslichen Verhältnissen der Unterschichten Göttingens heilen zu wollen, zumal in den nasskalten Wintermonaten, dürfte ziemlich illusorisch gewesen sein. Ebenso scheint eine Quecksilberbehandlung zur Syphilisbekämpfung viele Haushalte wegen mangelnden Quecksilbers und wegen mangelnden Fachwissens zur richtigen Anwendung dieser giftigen Substanz schlicht überfordert zu haben. Ebenso finden sich immer wieder Personen, die keine Pfleger hatten, bzw. Personen, deren Pflege die Angehörigen überfordert hätte (wie bei schwerwiegenden psychischen Erkrankungen).
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Die Differenzierung der Armen
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Interessant scheint auch, dass mehrmals Alkoholiker als »geheilt« entlassen wurden. Eventuell ist davon auszugehen, dass es sich um die Heilung der konkreten Auswirkungen des letzten Saufgelages gehandelt hat, also Ausnüchterung und eventuelle Heilung von Verletzungen und akuten Vergiftungen. Im gesamten Beobachtungszeitraum gab es Langzeitpatienten, die über mehrere Jahre im Hospital Aufnahme fanden und meistens dort starben. Diese waren dann altersschwach, hatten psychische Probleme oder meist eine Mischung aus beiden. Diese Personen gaben dem städtischen Hospital den Charakter eines zweiten Siechenhauses. Mitte der 1850er-Jahre sollte wahrscheinlich auf Veranlassung des Verwalters gegen diese Zustände vorgegangen werden. Die betreffenden Personen wurden aus dem Hospital entfernt. Zu diesem Zeitpunkt aber hatten diese Langzeitpatienten den größten Teil der Patienten ausgemacht. Wenn nicht dringende und umfassende Renovierungsarbeiten stattgefunden haben, hat es im Zeitraum von September 1850 bis November 1850 keine Personen gegeben, die stationär im Hospital aufgenommen werden sollten. Das Hospital stand ohne Rücksicht auf mögliche Kranke leer. Erst im November kamen die zuvor entfernten Siechen wieder in ihr Hospital zurück.89 Das städtische Hospital wurde so im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer wichtiger, vor allem als Ort, an dem Kranke behandelt und gepflegt werden konnten. Und hier ist die praktische Bedeutung des Hospitals für die Armen zu sehen. Es nahm immer mehr den Charakter einer Genesungsanstalt an, ohne aber den Ruf der Armenanstalt gänzlich zu verlieren. Hier konnten die Armen ihre Krankheiten heilen lassen.
6.6 Die Differenzierung der Armen: Siechenhaus und Geschwister-Reinhold-Stift Im Siechenhaus sollten arme, arbeitsunfähige Menschen bis zu ihrem Tod gepflegt werden. Dies traf besonders auf die Alten zu, die hier in Ruhe und Würde sterben können sollten. Etwa zwanzig Personen fanden hier Unterkunft. Dem Magistrat war die Behandlung der armen Alten wichtig. Er verpflichtete den Verwalter, die »oft mit Wunderlichkeiten und Eigenheiten behafteten Personen […] an ein friedfertiges und sittliches Leben zu gewöhnen.« Züchtigungen waren ausdrücklich nicht erlaubt, dagegen sollte der Verwalter seine Arbeit mit »Freundlichkeit«, »Wohlwollen« und »Liebe« verrichten.90 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Arme in den anderen Armenpflegeanstalten durchaus gezüchtigt worden 89 Vgl. StadtA Gö: Altes AktenArchiv. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen. 293 Aktenbündel b. 90 KKA Gö: Stadtsuperintendentur Göttingen, Akten Armenfürsorge – Werkhaus, Siechenhaus, Notstand 1847–, 1772–1878, A 362, II
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
sind. Trotzdem musste der Magistrat 1888 den Verwalter wegen seiner gesamten Amtsführung und seines Verhaltens gegenüber seinen Schützlingen tadeln. Konkreter Anlass war die öffentliche Unterstellung eines »Liebesverhältnisses« zweier Siechenhausbewohner. Zudem hatte er die Frau bei dieser Gelegenheit am Arm gefasst. Die Armendeputation gab ihm auf, sich in Zukunft diesen Alten gegenüber besser zu verhalten und besonders seine eigene Frau anzuhalten, sich als eine gute »Hausmutter« zu beweisen. Dem Verwalter wurde die Entlassung bei Nichtbefolgung der Anordnungen angedroht.91 Im Siechenhaus war Reinlichkeit sehr wichtig. Bei den Insassen wurde vor der Aufnahme eine Untersuchung nach Ungeziefer an ihnen selbst, ihrer Kleidung und anderen mitgebrachte Gegenstände durchgeführt. Die Zimmer der Insassen mussten immer aufgeräumt sein und sollten täglich ausreichend gelüftet werden.92 Zur Kostendeckung wurden die Habseligkeiten der verstorbenen Insassen versteigert. Die Verkaufserlöse der wenigen und teilweise sehr verschlissenen Kleidungsstücke und übrigen Gegenstände werden aber nie die angefallenen Kosten gedeckt haben.93 Die Bewohner des Siechenhauses sind 1898 in das neu erbaute Geschwister-Reinhold-Stift umgezogen. Das alte Gebäude des Siechenhauses wurde auch weiterhin von der Armenverwaltung genutzt. Nach Jahresfrist wurden in das nun »Arbeiter-Wohnhaus« genannte Gebäude zum größten Teil »Wittwen« einquartiert94 und das Haus wurde seine Bezeichnung als »Siechenhaus« bis wenigstens zum Ersten Weltkrieg nicht los. Eine Renovierung oder Instandsetzung scheint nicht erfolgt zu sein, wurde es doch 1901 als »alte gebrechliche Baulichkeit« beschrieben.95 In der Weimarer Republik wurde es dann als »Altfrauenhaus« geführt, nun als ausschließliches Altenheim für alleinstehende und arme Frauen. Das 1898 neu erbaute Siechenhaus, oder besser: Altersheim, wurde von den Geschwistern Reinhold der Stadt mit einem Kapitalstock von 200.000 Mark gestiftet. Das Stiftungskapital stieg durch Erbgeschenke ehemaliger Bewohner ab 1909 an.96 Das repräsentative Gebäude lag als einzige Institution der Armenpflege (hier evtl. besser: Fürsorge) außerhalb des mittelalterlichen Stadtwalls an der Reinhäuser Chaussee. Bei seiner Errichtung war es noch »im Grünen«, in einer als »gesund« wahrgenommenen Umgebung. Mit dem Wechsel vom städtischen Siechenhaus 91 StadtA Gö: AHR I H 3, Nr. 4. 92 KKA Gö: Stadtsuperintendentur Göttingen, Akten Armenfürsorge – Werkhaus, Siechenhaus, Notstand 1847–, 1772–1878, A 362, II. 93 StadtA Gö: AHR I H, 10, Nr. 1. 94 Adressbuch Göttingen 1900–1914. 95 Vgl. Bayer, Zwei Versuche zur Hebung der Wohnungsnot, S. 430. 96 Martina Mussmann, Kommunale Altersfürsorge in Göttingen, S. 126.
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Die Differenzierung der Armen
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zum Geschwister-Reinhold-Stift hatte sich die Belegschaft geändert: Es waren nun Personen anwesend, die ihren Unterhalt aus eigener Tasche begleichen konnten oder für die deren Verwandtschaft die Kosten beglich. So brachte z. B. der Göttinger Senator Meyer 1910 seine unverheiratete Schwester gegen ein Jahresentgelt von 300 Mark dort unter. Es fällt weiter auf, dass die Kranken des Reinholdstiftes in das akademische Krankenhaus eingewiesen wurden, nicht in das Städtische Hospital. Sie kamen nicht mehr in eine Armenanstalt. Ausnahmen bildeten lediglich die als »blödsinnig« oder »verrückt« bezeichneten Personen: diese wurden bis zu ihrer »Weitervermittlung« in psychiatrische Anstalten in das städtische Hospital eingewiesen. Es waren nun auch Personen anwesend, die bei ihrem Tod noch kleine Geldsummen zu vererben hatten. Instrumentenmacher und Klavierstimmer Gottfried Theodor Kutscher war von 1908 bis zu seinem Tode 1911 im Reinholdstift untergebracht. Zuvor lebte er bei einer seiner Töchter. Während dieser Zeit pendelte seine Frau insgesamt sieben Jahre lang zwischen Armenarbeitshaus und städtischem Hospital hin- und her. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt und ihr wurde eine unordentliche Haushaltsführung sowie Faulheit vorgeworfen.97
Die Entwicklung des Siechenhauses und des Geschwister-Reinhold-Stifts zeigt vor allem, dass sich die Unterschichten Göttingens immer weiter aufsplitteten und sich auch der Blick der Bürger auf dieArmen immer weiter differenzierte. Die Nähe zu einem anderen Unterschichten- oder Armensegment war immer gegeben und teilweise auch sehr eng; es wurden aber Unterschiede gemacht, die heute zum Teil nicht mehr nachvollziehbar sind. Das Reinholdstift war für das »bessere« Segment vorgesehen, in welches auch die Verwandtschaft des städtischen Honoratiorenbürgertums gehen konnte. Das Armenarbeitshaus und das städtische Hospital dagegen blieben den Armen vorbehalten, mit denen sich die »guten« Bürger Göttingens nicht sehen lassen wollten. Das Siechenhaus und später auch das Geschwister-Reinhold-Stift waren die Orte, in denen »gute« Arme ihren Lebensabend verbringen konnten. Hier erfuhren sie gute Pflege und Zuwendung, was offensichtlich nicht überall der Fall gewesen war.
97 Vgl. StadtA Gö: Meldekarte Gottfried Theodor Kutscher; AHR I H 8, Nr. 4; AHR I H 11, Nr. 6; B 62 Städt. Alten- und Pflegeheime, Nr. 68.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
6.7 Das Armenarbeitshaus Im 19. Jahrhundert wurden die sog. Armenarbeitshäuser in Deutschland in verschiedene Gruppen unterschieden: 1. Strafanstalten zur Verbüßung von Arbeitshausstrafen oder zur Ableistung der sog. »korrektionellen Nachhaft«. 2. Anstalten der Armenpflege, in welchen Arme untergebracht und unterstützt wurden und die sich dafür den dort geltenden Regeln inklusive des Arbeitszwanges zu unterwerfen hatten.98 Beide Arten von Arbeitshäusern sind für dieselben gesellschaftlichen Gruppen, die Unterschichten, eingerichtet worden. Trotzdem muss zwischen beiden Anstaltsarten streng unterschieden werden: die einen sind in erster Linie Strafanstalten, die anderen aber in erster Linie Versorgungsinstitutionen, erst danach Strafanstalten für den kleinen Teil der »unwürdigen« Armen. Im Idealfall wären diese Gruppen zu trennen gewesen, in kleineren Städten waren sie dagegen oft unter einem Dach zu finden.99 Eine wissenschaftliche Betrachtung in neuerer Zeit erfuhren nur die Provinzial- oder Landesarbeitsanstalten – die Strafanstalten – sowie die konfessionellen Arbeitsanstalten (z. B. Bethel).100 Diese größeren Landes- oder Provinzarbeitsanstalten sind es, die in den entsprechenden zeitgenössischen Betrachtungen als auch in der modernen Forschung Berücksichtigung fanden. Diese Anstalten verfügten über professionelles Wach- und Aufsichtspersonal, und in diesen wurden vornehmlich aufgrund ihrer Armut straffällig gewordene Arme untergebracht. Die Insassen hatten meist gegen gesetzliche Bettel- und Prostitutionsvorschriften verstoßen, hatten kleinere Diebstähle begangen oder später gegen ihre gesetzliche Unterhaltspflicht verstoßen. Die für Göttingen »zuständige« Anstalt war das Werkhaus im nahe gelegenen Moringen.101 Den kommunalen Arbeitshäusern ist eine solche Aufmerksamkeit nicht beschieden. Lediglich über die kommunalen Armenarbeitshäuser in Marburg
98 Herder 1854, Bd. 1, S. 232, Art. Arbeitshaus, Pierer 1857, Bd. 1, S. 726, Art. Armenhaus; Meyers 1905, Bd. 1, S. 689, Art. Arbeitshäuser. In der neuesten Literatur dagegen wird diese Trennung nicht mehr gesehen. Vgl. Dorn u. a., Art. Zucht- und Arbeitshaus, S. 68 f. 99 Vgl. Hand, Arbeitshaus, S. 49. 100 Siehe hierfür Wintzingeroda-Knorr, Die deutschen Arbeitshäuser; Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau. 101 Vgl. Koepchen, Korrigendenwesen; Meyer, Das Werkhaus Moringen. Ab 1900 nahmen die Belegungszahlen des Moringer Werkhauses ab.
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Das Armenarbeitshaus
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und in Schleswig-Holstein102 gibt es Untersuchungen. Dabei ist es auffällig, dass diese auch im Vergleich mit dem Göttinger Armenarbeitshaus gemeinsame Probleme als auch gemeinsame Entwicklungen aufzeigen: dem Rückgang straffälliger Personen und das Hinzukommen neuer Gruppen, denen eine »würdige« Art von Armut zugeschrieben worden war.103 Daher werden kommunale Armenarbeitshäuser als eine Gruppe betrachtet werden können. Beide Arten von Arbeitshaus hatten einen erzieherischen Anspruch: in ihnen sollten die Armen regelmäßige Beschäftigung zur Bestreitung des eigenen Unterhalts erlernen, ebenso Sparsamkeit, aber auch Hygiene; oftmals scheint dieser Anspruch aber nur auf eine Art von Brechung des eigenen Willens hinausgelaufen zu sein.104 Den Provinzialanstalten mit ihrem Gefängnischarakter und den letztendlich willkürlich anmutenden Einweisungen wurde eine abschreckende Wirkung zuerkannt: die Richter sprachen in Prozessen wegen Bettelei und Landstreicherei bei Männern oder bei Prostitution bei Frauen eine »Überweisung an die Landespolizeibehörden« aus, die nach Aktenlage bis zu zwei Jahre Arbeitshausunterbringung anordnen konnten.105 Diese abschreckende Wirkung wurde allein durch die Gemeinsamkeit der willkürlichen Einweisung auch auf die kommunalen Arbeitshäuser ausgedehnt. In Göttingen existierte ab 1772 ein Armenarbeitshaus, welches 1826 seinen endgültigen Platz in der Angerstraße 2 fand; mitten zwischen den »berüchtigten« sozialen Brennpunkten von Klein-Paris und Neustadt. Die »guten« Bürger wussten natürlich von dem Haus, kamen in der Regel aber in keinen Kontakt zu den Insassen: diese Personen waren außerhalb ihres Gesichtskreises. Eventuell kamen noch einige Bürger auf ihrem Weg zum Spaziergang auf dem Stadtwall am Armenarbeitshaus vorbei. Die Göttinger Armen dagegen hatten das in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gelegene Armenarbeitshaus immer wieder im Blick, sie wussten, wie es in diesem zuging.
102 Siehe z. B. Kolling, »Theils für Arme, theils für Arbeitsscheue und liederliche Menschen.«; Sievers/ Zimmermann, Das disziplinierte Elend. 103 Ebd., S. 245, 307 f., 328–330. 104 Ostwald, Landstreicher, S. 60. 105 Ayaß, Die »korrektionelle Nachhaft«, S. 184–201. Vgl. auch GZ v. 11. Januar 1868. Dort wird eine Gefängnisstrafe für die bestraften Bettler erst gar nicht erwähnt sondern gleich die Arbeitshausstrafe. Zur Problematik der willkürlichen Einlieferung: Bettschneider, Fürsorge oder Disziplinierung?, S. 143.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
100
90 80
70 60 %
50 40 30
20 10
0
Männer
Trunk
Arbeitsscheu
Gebrechen
Dauernd
Diagramm 12: Gruppen im Göttinger Armenarbeitshaus 1885, in Prozent
Das Göttinger Armenarbeitshaus oder Werkhaus war ein wichtiger Bestandteil im Konzept der städtischen Armenpflege. In ihm wurden in allererster Linie Personen untergebracht, denen »Faulheit« nachgesagt wurde. Ebenso wurden dort Personen untergebracht, welche aus gesundheitlichen Gründen den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien nicht bestreiten konnten, und für die es keine anderweitige Unterbringungsmöglichkeit gab. Beinahe alle Insassen waren dauerhaft im Armenarbeitshaus untergebracht, bzw. ihre Unterstützung dort wurde als dauerhaft angesehen. Ungefähr bei der Hälfte war als Primärursache »Trunk« angegeben, die andere Hälfte teilte sich zu etwa gleichen Teilen auf die Kategorien »Arbeitsscheu« und »Gebrechen« auf. So zählten »Alkoholiker«, »Arbeitsscheue« usw. ebenso zur »Stammbesetzung« des Armenarbeitshauses wie Personen mit »Gebrechen«: Altersschwache sowie psychisch oder körperlich Kranke. Viele Personen werden dabei sowohl gesundheitliche als auch »sittliche« Probleme gehabt haben. Entsprechend wurde in Einzelfällen diskutiert, ob diese Personen nun in das Arbeitshaus oder in das Hospital oder doch in das Siechenhaus kommen sollten, und entschieden wurde nach dem Ruf der Personen und dem Gesundheitszustand. Entsprechend gab es auch immer wieder Diskussionen, Hospital, Siechenhaus und Armenarbeitshaus zusammenzulegen. Doch verliefen diese im Sande.106 Von der Armendeputation wurde die Unterbringung als eine dauernde Unterstützung angesehen. Realismus besaß man in der Armenverwaltung: Wer erst einmal im Armenarbeitshaus war, kam langfristig aus diesem trotz aller Versuche, Bemühungen und Anstrengungen nicht heraus. Insgesamt war der überwiegende Teil der Armenarbeitshäusler männlichen Geschlechts. Der Erwartungsdruck an die Männer, ohne Armenfürsorge auszukommen, war ungleich höher als für Frauen. Männer, die es nicht schafften, ohne öffentliche Unterstützung auszukommen, wurden eher in das Armen106 StadtA Gö: Amtsbücher 12.10.1.
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Das Armenarbeitshaus
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arbeitshaus eingewiesen, während für Frauen eventuell noch andere Möglichkeiten gesucht und gefunden wurden. Die Armenbehörden vergaben die Unterstützungen der Armenarbeitshäusler nur im Armenarbeitshaus; bzw. die Unterbringung in diesem wurde als Unterstützung angesehen. Entsprechend hatte ein Nichteintritt nach Aufforderung den Verlust der weiteren Armenunterstützungen zur Folge; bzw. bei eigenwilligem Verlassen wurde diese Person nicht weiter unterstützt. Letztendlich hatten die Armenbehörden nur das Druckmittel der Unterstützung, um Personen in das Armenarbeitshaus zu zwingen. Dieses Druckmittel allein wurde aber oft als nicht ausreichend angesehen. So beschloss der Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit 1886 in seiner reichsweiten Tagung, dass eine Unterbringung arbeitsfähiger Personen gegen deren Willen im Arbeitshaus auch ohne gerichtliche Prüfung möglich gemacht werden solle.107 Von Anfang an war das Göttinger Armenarbeitshaus darauf ausgelegt, den verschiedenen Gruppen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, ihrem unterschiedlichen Betreuungs- oder Überwachungsgrad, ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit etc. gerecht zu werden. Von Anfang an fungierte das Arbeitshaus aber auch als letzte »soziale Auffangstation« für beinahe alle in Not oder in das Blickfeld der Armenfürsorge geratenen Personen. Das Armenarbeitshaus war das letzte soziale Sicherungsnetz der Armenpflege. Im Armenarbeitshaus fanden alle Berufsgruppen Unterschlupf. Beruflich waren neben der Hauptzahl von Handwerkern und Tagelöhnern (der unspezifische Begriff »Arbeiter« führt hier in die Irre, da alle Personen im Armenarbeitshaus »Arbeiter« waren, unabhängig von ihrer Profession108) auch Musiker oder ein Kandidat der Rechte festzustellen. Das »System Armenarbeitshaus« scheint der Berufsausübung keine Hindernisse in den Weg gelegt zu haben. So konnte der in den 1860er-Jahren immer wieder im Arbeitshause befindliche Musiker Friedrich Knop mehrmals jährlich auf »Kunstreise« gehen, bis er 1866 – nach ca. acht Jahren ständiger Wiederkehr – von einer solchen nicht mehr zurückgekehrt war. Während seiner »Kunstreisen« lebte Knop nicht von den Göttinger Unterstützungen. Die Stadt sparte in dieser Zeit ein wenig Geld ein. Umgekehrt fand Knop nach seinen Reisen im Armenarbeitshaus verlässlich Kost und Logis; allerdings gegen körperliche Arbeit. Es gibt keine Hinweise auf die gezielte Anschaffung von »Anstaltskleidung« in Göttingen; trotzdem muss von recht einheitlicher Kleidung ausgegangen werden, 107 Verhandlungen der siebenten Jahresversammlung des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit, S. 109. 108 Die zunehmende Verwendung des Begriffes »Arbeiter« kann so als Indiz für den gesellschaftlichen Abstieg gelten. Vgl. Marquardt, Sozialer Aufstieg, sozialer Abstieg, hier S. 145.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
da die Anstaltsleitung sehr preisbewusst zumindest die Langzeitinsassen auszustatten hatte und die überhaupt nicht mehr nutzbaren Kleidungsstücke der Kurzzeitinsassen auszuwechseln waren; außerdem musste den Insassen, während ihre herkömmliche Kleidung gereinigt wurde (was bei Ungezieferbefall wohl länger dauern konnte), Wechselwäsche zur Verfügung gestellt werden. Daher ist davon auszugehen, dass – bis auf Einzelfälle – die Insassen massenhaft beschaffte preisgünstige Kleidungsstücke getragen haben, welche sehr stabil waren. Und so reiht sich dann auch die Schenkung von Militärkleidung für die Armen im Jahr 1866 in das Bild relativ einheitlich gekleideter Insassen ein.109 Die Armen des Arbeitshauses werden im Göttinger Stadtbild schon allein an ihrer Kleidung als Arbeitshausinsassen zu identifizieren gewesen sein. Der Arbeitstag im Armenarbeitshaus sollte im Sommer früh um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr beginnen. Es folgte ein streng geregelter Wechsel zwischen Körperreinigungen, Reinigungen des Wohn- und Arbeitsbereiches, Arbeit und Mahlzeiten. Um neun Uhr abends endete der Tag mit der Nachtruhe. Die einzelnen Phasen wurden durch eine Glocke angekündigt, die wahrscheinlich auch außerhalb des Armenarbeitshauses zu hören gewesen war. Die Armenhäusler lebten nach der Glocke, und die Umwelt wusste es. An Sonn- und Feiertagen konnten die Armenhäusler um Ausgang zwischen ein und sieben Uhr nachmittags ersuchen. Dieser wurde allerdings nur Personen gewährt, die sich gut betragen hatten. Ansonsten kamen die Armenhäusler nur noch zu Kirchbesuchen oder zu Arbeitszwecken aus der Anstalt heraus. Ebenso sollten sich Besuche von Verwandten oder Freunden im Arbeitshaus auf die Sonn- und Feiertage beschränken. Diese Vorschriften ließen das Armenarbeitshaus als keinen sozialen Ort, keinen Ort des Austausches zwischen Insassen und ihrer Umwelt, erscheinen. Im Arbeitshaus anwesende Kinder mussten sich ebenfalls der Hausordnung unterwerfen, sofern dies ihre körperliche Entwicklung oder der Schulbesuch zuließen.110 Diese Regelungen sollten vom Verwalter durchgesetzt werden. Ihm waren die Insassen disziplinarisch unterworfen. Der Verwalter hatte auch das Recht, verschiedene Strafen zu verhängen. Als Arbeit gab es im wesentlichen Holz zu zerkleinern (sägen und hacken) und Matten flechten. Die Insassen konnten auch zu Tagelöhnerarbeiten außerhalb des Arbeitshauses »ausgeliehen« werden. Ihr Lohn floss dann dem Etat des Arbeitshauses zu. Durch diese Arbeitserträge der Insassen sollte das Armenarbeitshaus möglichst geringe Kosten verursachen, sich bestenfalls selbst tragen oder gar kleine Gewinne erwirtschaften. Dabei erbrachte vor allem der Verkauf des zerkleinerten 109 StadtA Gö: Amtsbücher 12.10.1. 110 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 258.
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Das Armenarbeitshaus
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Holzes dem Haus einen »erheblichen Ueberschuß«.111 Dieser Überschuss muss als so wichtig erachtet worden sein, dass der Verwalter für die Arbeiter an der 1876 neu eingeführten Bandsäge für die Wintermonate ein warmes Abendessen, welches die Motivation zur Arbeit steigern sollte, beantragen konnte. Dieses wurde dann auch genehmigt.112 Bis 1894 konnte sich der Armenhausverwalter aus dem Arbeitskräftereservoir der Anstalt ohne Zahlung des ortsüblichen Tagelohns für persönliche Zwecke bedienen. Erst ab diesem Zeitpunkt hatte er den Tagelohn in die Kasse des Armenarbeitshauses zu zahlen. Damit hatte der Verwalter eine Lohneinbuße durch den Verlust unbezahlter Arbeitskraft.113 Ebenso wie auf die Arbeit wurde auf »Reinlichkeit« und ein »gutes Betragen« geachtet. Personen sollten erst aufgenommen werden, wenn sie an Körper und Kleidung nach Ungeziefer untersucht worden waren. Dies scheint nicht einfach gewesen zu sein, berichtete doch Verwalter Meyer, dass er größte Mühe habe, die Insassen läusefrei zu halten.114 Auch die Kontrolle der Sauberkeit war ein Problem: 1883 wurden zwei Insassen des Werkhauses aus dem Hospital wieder zurück geschickt. Bei einem wurde festgestellt, dass »die Kleider des Patienten von Ungeziefer wimmelten und auf seiner Haut ein solcher Schmutz haftete, daß eine aerztliche Untersuchung unausführbar war.«115 Da schon 1861 ein Armenarbeitshäusler nach viertägigem Aufenthalt in das Universitätsklinikum wegen erfrorener Füße geschickt worden war,116 scheinen die Eingangsuntersuchungen an sich nicht sehr gründlich gewesen zu sein. Es ist nicht anzunehmen, dass Schuhe, Strümpfe/Fußlappen und Füße dieser Person innerhalb der ersten vier Tage im Armenarbeitshaus derart gelitten hatten, dass eine solche Überweisung nötig wurde. Die Erfrierung muss schon vorher bestanden haben oder die Fußbekleidung dem nasskalten Winterwetter nicht angemessen gewesen sein. So ist die Umsetzung der Armenhausordnung auf diesem Gebiet fraglich. Die Verwalter gaben sich zwar alle Mühe, die Verordnung umzusetzen, doch gab es wahrscheinlich immer Möglichkeiten, durch die den Armenhäuslern unangenehmen Kontrollen zu schlüpfen. Der Verwalter war die zentrale Person im Armenarbeitshaus. Er war hauptamtlich angestellt und hatte dort seinen Wohnsitz. Damit konnte gewährleistet werden, dass dieser Verwalter auch wirklich »rund um die Uhr« im Dienst war.
111 StadtA Gö: AHR I H, 3, Nr. 3. 112 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 211. 113 StadtA Gö: AHR I H, 11, Nr. 3. 114 StadtA Gö: AHR I H, 22, Nr. 1. 115 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 291. 116 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 280.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
Lediglich 1892 ist ein 14-tägiger Urlaub eines Verwalters nachweisbar.117 Der Verwalter bestimmte nicht nur durch seine Aufsicht über Disziplin, Reinlichkeit usw. die Lebensbedingungen im Armenarbeitshaus. Ebenso gewichtig muss seine Rolle als Verwalter der Nahrungsmittel, des Lichts und der Brennstoffe angesehen werden und sein (wahrscheinlich aber vielmehr das seiner Frau) Organisationstalent als Koch mit den dazugehörigen Fähigkeiten, aus den geringen gegebenen Mitteln immer ein als genießbar und womöglich auch als gut angesehenes Essen herzustellen. Ebenso dürfen die wechselnden körperlichen Fähigkeiten des Verwalters nicht außer Acht gelassen werden: Waren sie bei Dienstantritt noch gesunde und leistungsfähige Männer, so konnten sie nach vielen Jahren bei Dienstende nur alte Sieche sein. So erlitt der Verwalter Reinicke 1892 einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. 1893 wurde erst einmal festgestellt, dass er überhaupt Pensionsansprüche hatte und entsprechend konnte er 1894 einen Antrag auf eine Pension zum 1. Oktober des Jahres stellen. Diese wurde ihm zugebilligt – drei Monate später. 1897 verstarb dann der ehemalige Verwalter des Armenarbeitshauses.118 Alte und Kranke Aufsichtspersonen oder Verwalter wirkten sich zum einen auf die Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Armen aus: ein altersschwacher Mensch wird im Zweifelsfalle eher an »die Seite geschoben« als ein kräftiger Mensch. Zudem spürten sie eventuell die Sparfähigkeit der Armendeputation am eigenen Leibe und waren weniger motiviert, auf die genaue Umsetzung der Regeln zu achten. Auch als Produzent der Akten hatte es Auswirkungen: Alte Verwalter waren eher schwerhörig (was die ohnehin vorhandene Bandbreite an Namenschreibweisen vergrößerte) und hatten zum Teil offensichtliche Probleme, mit ruhiger Hand zu schreiben (was die Identifizierbarkeit einzelner Personen erschwert). Auch waren die Insassen nicht immer friedfertig: Verwalter Meyer klagte, dass er die größte Not habe, sie »im Zaume zu halten«.119 Er befürchtete bei einer Zusammenlegung von Arbeitshäuslern und Wanderburschen Schlägereien zwischen beiden Parteien.120 Insgesamt scheint es im Armenarbeitshaus zwischen den Zwangsinsassen eine angespannte Atmosphäre gegeben zu haben, die jederzeit auch in offene Gewalt umschlagen konnte. Sowohl die Reinlichkeitsdisziplin und die entsprechenden Kontrolluntersuchungen als auch der Arbeitszwang waren bei den Insassen nicht beliebt. Hinzu kam das Verbot von Alkohol (Schnaps und Branntwein, nicht aber Bier) bei den oft starken Alkoholikern. So kam es, dass viele Insassen das Arbeitshaus heimlich verließen; ob der Verwalter, der schließlich 117 StadtA Gö: Amtsbücher WOF 12.10.2. 118 StadtA Gö: AHR I H, 3, Nr. 3. 119 StadtA Gö: AHR I H, 22, Nr. 1. 120 Ebd.
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Das Armenarbeitshaus
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mit den Insassen lebte, dieses nicht bemerkte, oder er sich einfach keinen weiteren Ärger mit den Aggressiven unter seinen Insassen einhandeln wollte, ist nicht klar. Die Armen des Armenarbeitshauses waren in der Regel der untersten Gruppe der Armen zuzuordnen: Sie galten vielfach als unwürdig, sie hatten kaum belastbare Familien- oder Freundeskreise, die ihnen in Notlagen helfen konnten. Es lassen sich insgesamt nur zwei Personen einwandfrei identifizieren, die sowohl eine weniger stigmatisierende Hilfe von dem »Verein gegen Verarmung und Bettelei« in Form von Krediten121 bezogen als auch im Armenarbeitshaus gewesen waren. Im Folgenden werden hier spezielle Gruppen von Armen betrachtet: Kinder lassen sich über den gesamten Betrachtungszeitraum im Armenarbeitshaus feststellen. Der erste sicher nachweisbare Knabe war 1859 Fritz Bardeleben. Dieser wurde dann aber schnell von der Pestalozzi-Schulstiftung übernommen.122 Überlegungen, Kinder gezielt mit Beginn der Schulzeit aus dem Armenarbeitshaus zu nehmen und zur Pflege zu geben, lassen sich entgegen anderer Diskussionen nicht feststellen.123 Eventuell war der Arbeitshausaufenthalt als »erzieherische Maßnahme« gedacht, eventuell war die Vermittlung von Kindern mit Arbeitshauserfahrung besonders schwer, eventuell wurde auf die baldige Beendigung dieses Zustandes ohne größere Anstrengungen seitens der Armenpfleger spekuliert. Besonders viele Kinder fanden sich im Göttinger Armenarbeitshaus zu zwei Zeitpunkten: 1899 und 1906. Gründe, Kinder für kurze Zeit in ein Armenarbeitshaus einzuweisen, gab es anscheinend viele: Kinder konnten verwahrlost sein und betteln. Oder Eltern vernachlässigten sie in einer Art und Weise, dass diese aus der Familie genommen werden mussten. Ebenso konnten Eltern die Kinder, sei es aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie eine Gefängnisstrafe antreten mussten oder weil sie die Kinder schlicht verlassen haben, allein lassen. Auch dann mussten diese Kinder schnellstmöglich versorgt werden. Gerade aber zu den »Hochzeiten« der Kinderaufenthalte im Armenarbeitshaus (z. B. 1906, siehe Diagramm 13) lässt sich vermuten, dass die Kinder gezielt von den Eltern ins Armenarbeitshaus zur Entlastung des Familienetats geschickt worden sind oder länger als diese im Armenarbeitshaus verweilen mussten. Spätestens ab Mitte der 1890er-Jahre wurden Kinder als eigene Kategorie aufgenommen. Diese nahmen dann auch in der Gesamtpopulation rasch zu – bis auf die Hälfte der Insassen. Zum einen kamen viele Kinder mit ihren beiden Eltern oder einer Mutter. Dies erklärt dann auch 121 Die Hilfe eines Vereins war nicht öffentlich. So wurde das Bürgerecht der Empfänger nicht eingeschränkt. Auch waren Kredite, da sie in der Regel ja zurückgezahlt werden sollten, ebenso frei von Einschränkungen. 122 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 280. 123 Fliegende Blätter 24 (1867), S. 232 f.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
das Anschnellen der Kinderzahl. Zahlreiche Kinder wurden aber auch ohne ihre Eltern eingewiesen. Langzeitinsassen lassen sich nur schwer feststellen. Durch die Datenlücken kann nie ausgeschlossen werden, dass ein Insasse wirklich die gesamte Zeit im Armenarbeitshaus verbracht hat oder wenigstens kurzfristig »draußen« war. Stundenweise Abwesenheiten wurden generell nicht notiert. Ebenso gehen die Langzeitinsassen durch ihre »Passivität« gegenüber den Kurzzeitinsassen unter: findet sich doch oftmals nur ein Eintrag für die Aufnahme und (Jahre) später ein Eintrag für den Abgang. Auch sind die Gründe für eine dauernde Aufnahme nicht wirklich ersichtlich. Trotzdem haben diese Personen das Alltagsbild des Arbeitshauses und die Meinung über das Arbeitshaus maßgeblich mitbestimmt. Adolph Meissner kam mit ca. 30 Jahren 1866 in das Armenarbeitshaus. Dort blieb er bis zu seinem Wechsel in das städtische Hospital 1892. Aus diesem ist er dann nicht mehr zurückgekehrt. Lediglich bei Krankheiten verließ Meissner ansonsten das Arbeitshaus für längere Zeit. Damit war er über 26 Jahre lang im Armenarbeitshaus. Grund seines langen Aufenthaltes kann seine »Arbeitsscheu« gewesen sein, aber auch die schlechten Erfahrungen, die er in der Welt »draußen« gemacht hat: Nach seiner Aufnahme bedankte er sich bei der Armendeputation schriftlich wegen der guten Behandlung. Eventuell war er aber auch krank, wurde doch 1872 überlegt, ob er in das Siechenhaus aufgenommen werden sollte. Adolph Meissner ist aber auch ein Beispiel, wie berufliche Qualifikationen überliefert und schließlich aberkannt werden: zu Beginn seiner Armenhauslaufbahn wurde er noch als »Copist« oder gar als »Candidat der Rechte« geführt. Noch auf seiner »Meldekarte« (diese wurden ca. 1874 eingeführt) war er als »cand. jur.« geführt. Zum Ende hin war er dann nur noch »Arbeiter«.124
Es gab eine Vielzahl von Personen, die im Armenarbeitshaus einen kurzzeitigen Notstand wie Obdachlosigkeit überbrückt haben. An ihnen wird der Doppelcharakter des kommunalen Armenarbeitshauses als soziale Auffangstation und als repressive Armenarbeitsanstalt besonders deutlich. Diese lassen sich meist nur mit einem oder zwei Aufenthalten feststellen und sind meistens nur wenige Tage geblieben. Eine größere Gruppe von Armen wechselte zwischen Armenarbeitshaus und »draußen«. Hier ist die Gruppe der Arbeitshäusler zu sehen, die als »unwürdigste« wahrgenommen wurde. In Charakterisierungen finden sich Zuschreibungen wie 124 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 283; StadtA Gö: AHR I H 11, Nr. 1; StadtA Gö: Meldekarte; StadtA Gö: AHR I H 2, Nr. 2; StadtA Gö: Amtsbücher 12.10.1. Über ein Studium kann keine Angabe gemacht werden. Zumindest in der Universität Göttingen war Adolph Meissner nicht eingeschrieben.
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Das Armenarbeitshaus
»berüchtigt« oder auch »Trinker«. Zudem waren ganz besonders diese Personen immer wieder im Gefangenenhaus zur Abbüßung verschiedener Vergehen. Mitte des 19. Jahrhunderts scheint die Gruppe der »unwürdigen« männlichen Armen bei weitem in der Überzahl gewesen zu sein. Sie dominierten die Zugänge in das Armenarbeitshaus. Sie verließen die Anstalt, wie es ihnen gerade gefiel, und kamen meist recht schnell wieder zurück. Einige allerdings gingen kurz nach ihrem Eintritt in das Armenarbeitshaus für eine kurze Zeit in ein Gefängnis. Weshalb sie dort eine Strafe zu verbüßen hatten, ist meist unklar. Wahrscheinlich ist aber die verbotene Bettelei ein Grund für die Gefängnisstrafe und für die Einlieferung in das Armenarbeitshaus. Neben diesen »Unwürdigen« finden sich auch immer wieder kranke Personen: »Taube«, »Stumme« und verschiedene »Geisteskranke«. Diese fanden eine Aufnahme, da man sie wahrscheinlich für arbeitsfähig hielt, aber eine Beaufsichtigung für unerlässlich ansah. Eventuell fungierte das Armenarbeitshaus auch als eine Zwischenlösung, bis eine adäquate Unterbringung in einer Irrenanstalt organisiert war. Wahrscheinlich mit der preußischen Armengesetzgebung ab 1866 wandelte sich das Bild. Niemand durfte mehr gegen seinen Willen in ein Armenarbeitshaus, in eine Anstalt der Armenpflege, eingeliefert oder darin festgehalten werden. 50 45
männlich
weiblich
Kinder
1880
1890
40 35 30 25
20 15 10
5 0 1860
1870
1900
1910
Diagramm 13: Zugänge nach Geschlecht und Zugänge von Kindern im Göttinger Armenarbeitshaus 1860–1912
Für kurzfristig unterzubringende Obdachlose waren 1909 im Armenarbeitshaus zwei Räume eingerichtet worden.125 Inwieweit sich diese Obdachlosen dem allgemeinen Reglement zu unterwerfen hatten, ist unbekannt. Sie waren ja »nur« obdachlos und nicht liederlich usw. und hatten zudem noch außerhalb der Anstalt 125 StadtA Gö: AHR I H, 22, Nr. 1.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
Erwerbsarbeit oder andere Verpflichtungen. 1888 waren 37 der 66 im Armenarbeitshaus untergebrachten Personen kurzfristig obdachlos, 1896 waren es 26 der dort untergebrachten 62 Personen.126 Zum Ende des Betrachtungszeitraums – spätestens ab 1900 – wird damit der Charakter eines »Sozialen Zentrums« deutlicher: es wurden immer mehr Frauen oder Familien mit Kindern aufgenommen. Diese sind dann geblieben, bis eine neue Unterkunft organisiert war. Zu diesem Zweck ist dann z. B. der Familienvater einige Tage vorher aus dem Armenarbeitshaus entlassen worden. Der Rest der Familie ist anschließend gefolgt; wahrscheinlich sobald eine neue Unterkunft gefunden und eingerichtet war. Das Zunehmen der Zahl der Kinder und Mütter im Armenarbeitshaus spricht ebenso für eine Verlagerung der Hauptaufgabe des Armenarbeitshauses in Richtung »soziales Zentrum«. In ihm fanden Menschen Aufnahme, die nicht unwürdig für die offene Armenpflege waren, sondern kurzfristige Hilfe wie ein festes Obdach brauchten. Sie lebten dann parallel mit dem immer kleiner werdenden Teil der als unwürdig angesehenen Armen zusammen. Der emeritierte Pastor Voigt teilte am 2. Juli 1883 der Polizeidirektion mit, dass er die in seinem Waschhaus auf Stroh wohnende Familie Ahlborn dort nicht mehr dulden könne. Die Armendeputation nahm sich gleich dieses Falles an und erklärte, dass Frau und Kinder im Armenarbeitshause vorläufig unterkommen könnten, der Mann dagegen in den Räumen der städtischen Nachtwache.127
Auch wenn sich diese Familie zu diesem Zeitpunkt nicht im Armenarbeitshaus nachweisen lässt, so zeigt sich doch wieder die »typische« Vorgehensweise der Armendeputation: Möglichst lange überließ sie den Armen sich selbst, griff erst ein, wenn es unabdingbar war, und dann auch nur mit der Hilfe des geringsten Aufwandes. Da der Mann zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich eine Arbeit hatte sollte er wohl nicht in das Armenarbeitshaus eingewiesen werden. Da der Bezug der Armenunterstützung mit einer »Freiwilligkeit« verbunden war, für die Kommune gleichzeitig aber die Pflicht zur Unterstützung bestand, konnten die Arbeitshäusler praktisch kommen und gehen, ohne gehindert zu werden. Die Bestandslisten werden damit von einigen wechselnden Personen dominiert, die immer wieder kamen und gingen. Es finden sich zudem bis ca. 1904 immer wieder Arme, die das Armenarbeitshaus in irgendeiner Weise eigenmächtig oder »heimlich« verließen. Ein solches Verlassen zog aber anscheinend 126 Auszug aus der revidirte und abgenommenen Rechnung der Armencasse zu Göttingen 1888, 1896. 127 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1.
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Das Armenarbeitshaus
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keine gravierenden Konsequenzen nach sich. Sie wurden »nur« eben nicht weiter unterstützt, konnten aber um Wiederaufnahme in das Armenarbeitshaus nachsuchen. Selbst nach Anstaltsverweisen wurden Personen wieder aufgenommen. Fritz Müller und sein Bruder wurden im Juli 1896 »wegen Ruhestörung und sehr schlechten Betragens aus der Anstalt entlassen«. Anfang Dezember wurde Fritz Müller aber wieder aufgenommen.128
Nach dem Rauswurf war die Bitte um Wiederaufnahme sicherlich für alle beteiligten Parteien mit großen psychologischen Hürden verbunden: verletzter Stolz und Scham auf der Seite des Bittstellers; auf der Seite der Armenbehörde wenigstens Misstrauen, bei dem Verwalter aber unter Umständen auch der verletzte Stolz. In »Freiheit« außerhalb des Armenarbeitshauses fing die ehemaligen Insassen ein Netzwerk aus Familien oder Freunden auf. Allerdings waren diese Netzwerke ökonomisch in keinster Weise belastbar oder flexibel: Der Schwager des Armenhäuslers Ernst Loeser ersuchte mehrmals bei der Armendeputation eine Unterstützung für dessen Aufnahme und Verpflegung bei sich zu bekommen und drohte mit dem Rauswurf, falls die Unterstützung verweigert werden würde.129 Wenn sich die ehemaligen Armenarbeitshäusler nicht selber ernähren konnten und die Armendeputation nicht willens war, diese in der offenen Pflege zu unterstützen, so blieb nur der Weg zurück ins Armenarbeitshaus. Das »Rein und Raus« im Armenarbeitshaus hatte aber nicht nur disziplinarische Ursachen: Insassen wurde der Broterwerb außerhalb der Institution zugestanden. Dies geschah wohl nicht nur aus kurzfristigen Kostengründen, sondern auch in der Hoffnung, dass diese sich dauerhaft draußen ernähren könnten und dann nicht mehr wieder zurückkehren würden. Deutliches Beispiel dafür ist der schon aufgeführte Musiker Friedrich Knop. Dieser war von September 1859 bis zum Januar 1866 regelmäßig im Armenarbeitshaus. In dieser Zeit war er regelmäßig auf »Kunstreisen« und ging dann anschließend in das Armenarbeitshaus »freiwillig« zurück. Anscheinend ging er ohne festen Rückkehrtermin auf Reisen. Nur so lässt sich erklären, dass Knop erst 1½ Jahre nach Beginn seiner letzten Reise nicht mehr als Insasse des Göttinger Armenarbeitshauses betrachtet wurde.130 Im Armenarbeitshaus mussten mittellose Wanderer nach ihrer Übernachtung in der »Herberge zur Heimat« ihrer Arbeitspflicht nachkommen und das von den 128 StadtA Gö: AHR I H 11, Nr. 1. 129 StadtA Gö: AHR I H 7, Nr. 3. 130 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 280; StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 283.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
Armenhäuslern gesägte Holz weiter zerkleinern. Verwalter Meyer beantragte für die Beaufsichtigung dieser von 1900 an bis mindestens 1908 Vergütungen. Zuvor wurden die Wanderer von einem Müller beaufsichtigt, der für die Arbeit jährlich 100 Mark vom Vorstand des Vereins gegen Verarmung und Bettelei bekam. Meyer bekam für dieselbe Arbeit lediglich 50 Mark von der Stadt zugesprochen,131 wieder ein Zeichen des Sparwillens der Stadt. Auf dem Grundstück des Armenarbeitshauses wurde im Jahr 1911 eine Wanderarbeitsstätte errichtet.132 Diese fand ihren ideellen Vorläufer in der »Herberge zur Heimat«. Schon in den Jahren zuvor sollte geprüft werden, inwieweit eine Zusammenlegung von Wanderern und Arbeitshausinsassen möglich sei. Mit der Einrichtung der kommunalen Wanderarbeitsstätte entsprach die Stadtverwaltung den aus einem Wanderarbeitsstättengesetz hervorgegangenen Verpflichtungen. Im ersten Jahr ihres Bestehens wurden in der Wanderarbeitsstätte 3.622 Wanderer verpflegt, von denen 2.983 einen halben Tag lang Holz zu zerkleinern hatten.133 An Sonn- und Feiertagen durfte nicht gearbeitet werden. Dagegen hatten Wanderer ohne Ausweise, die das ordnungsgemäße Wandern belegten, 1½ bis 5½ Tage für die Erlangung solcher Papiere zu arbeiten.134 Das Armenarbeitshaus war als eine Stätte der repressiven Armenpflege eine Einrichtung, die sich während des Betrachtungszeitraums von mehr als vierzig Jahren nur wenig verändert hat. Die Zuordnung der Wanderarbeiter erst zur Arbeit, dann der ganzen Wanderarbeitsstätte zum Armenarbeitshaus, ist nur folgerichtig. Die Auflösung der von einem Verein geführten und von der Stadt bezuschussten »Herberge zur Heimat« und Errichtung einer eigenen Wanderarbeitsstätte deutet auf eine zunehmende Kommunalisierung und Entprivatisierung sozialpolitischer Maßnahmen hin. Allerdings geschah auch diese Entwicklung in Göttingen nur durch äußeren Druck. Disziplinierungskonzepte benötigen verschiedene Konsequenzen bei Nichtbeachtung von Regeln und Bestimmungen. Die Konsequenz für Arme, so die allgemeine Vorstellung, war das Armenarbeitshaus. Allein aber durch die Tatsache, dass die zu disziplinierenden Armen aus den Einrichtungen der Armenpflege praktisch immer gehen konnten, wie sie wollten, und die Fürsorgeinstitutionen rechtlich dagegen nicht vorgehen konnten, zwingt zu einer Betrachtung dieses Konzeptes unter den neuen Vorzeichen. Die Drohung »Armenarbeitshaus« konnte so nur noch für den Kreis der Armen wirken, die bislang noch nichts mit 131 StadtA Gö: AHR I H, 3, Nr. 8. 132 Vgl. Die Wanderarmen und das Wanderarbeitsstättengesetz, Sp. 1–6; 17–23; Zum Wander stättenwesen der Provinz Hannover vgl. Campe, Wanderarbeitsstätten, S. 159–162. 133 StadtA Gö: AHR I H, 22, Nr. 1. 134 StadtA Gö: AHR I H, 22, Nr. 6.
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Das Armenarbeitshaus
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dieser Institution zu tun gehabt hatten. Sie unterwarfen sich den Vorstellungen der Armenpfleger, um als würdig zu gelten und eine Unterstützung außerhalb des Armenarbeitshauses zu bekommen. Für die Insassen des Armenarbeitshauses selbst hatte dagegen das Armenarbeitshaus an Schrecken verloren. Sozial waren sie schon mit dem Stempel »Arbeitshäusler« gebrandmarkt, sie konnten damit praktisch nicht tiefer in der Achtung ihrer Mitmenschen sinken. Ihnen waren aber auch die verschiedenen Entfernungsmöglichkeiten aus der Anstalt bekannt. Die Grenze zwischen disziplinierbaren Armen und undisziplinierbaren Armen muss so zwischen den Arbeitshäuslern und den »Rest-Armen« gezogen werden. Damit war aber der größte Teil der »liederlichen«, »faulen«, »trunksüchtigen« usw., also der nach Ansicht der bürgerlichen Armenpflege zu disziplinierenden Armen schon von vornherein von der Disziplinierung durch die Armenpflege ausgenommen. In den Ausbrüchen aus dem Armenarbeitshaus allerdings einen Akt des Widerstandes gegen die Obrigkeit zu sehen scheint dennoch zu weit zu gehen: Die Gründe für diese Ausbrüche sind wohl eher in den jeweiligen persönlichen Bedürfnissen nach alkoholischen Rauschmitteln und deren ungestörtem Konsum zu sehen. Diese Situation war der örtlichen Armenpflege natürlich bekannt, mit dieser Situation waren die Armenpfleger überall unzufrieden. Entsprechend initiierte der deutschlandweit tätige Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit ein Gesetz, welches den Druck auf die Armen erhöhen sollte. Ab 1912 konnten »säumige Nährpflichtige« in ein Arbeitshaus verwiesen werden. Von diesen Anstalten mit professionellem Personal und ausgeklügeltem Strafverschärfungssystem ging ein weitaus höherer Druck aus als von den kleinen semiprofessionellen kommunalen Häusern. Zwar wurden mit diesem Gesetz vorwiegend Arme getroffen und entsprechend waren vorwiegend Personen aus den Unterschichten in diesen Landesarbeitsanstalten, doch waren sie wegen Gesetzesüberschreitungen dort, nicht wegen ihrer Armut. Hier muss genau unterschieden werden zwischen gerichtlich verurteilten Personen und Personen, die einfach arm waren. Die Hoffnung der Armenpfleger ist klar: »… die Furcht vor dem Arbeitshause manchen Arbeitsscheuen und säumigen Nährpflichtigen wieder zur Besinnung und damit zur Erfüllung seiner Pflichten bringen wird …«135 Hoffnung auf und Wille zur Disziplinierung waren immer da, allein an der Umsetzung mangelte es. Das Armenarbeitshaus hatte damit im Leben der Armen viele Bedeutungen. Hier konnten sie jederzeit Aufnahme finden. Hier finden sich entsprechend Menschen, die aufgrund zahlreicher persönlicher Probleme wie Alkoholismus große 135 Armenrechtlicher Arbeitszwang, Sp. 35–39, hier: Sp. 37; Sachße/Tennstedt, Der Deutsche Verein bis 1945, S. 34 ff.
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Die städtischen Institutionen der Armenpflege
Schwierigkeiten hatten. Hier konnten sie aber auch im Alter Aufnahme finden. Diese Aufnahme war allerdings eine Art zweiter Wahl, da im Armenarbeitshaus gearbeitet werden musste. Die erste Wahl war entsprechend das Siechenhaus. Zunehmend kamen im Armenarbeitshaus aber auch kurzfristig obdachlos gewordenen Familien unter.
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7. Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
Das Konzept der »dualen Wohlfahrtspflege« beschreibt das Zusammenwirken von staatlich-kommunalen und privaten oder freien Organisationen in der Wohlfahrt. Im 19. Jahrhundert war die zweite Stütze neben den kommunalen Behörden die der privaten Verbände, Initiativen und Vereine.1 Vereine waren im 19. Jahrhundert ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft. Durch die Vereine erhoffte sich das städtische Bürgertum u. a. politische Partizipation; diese sollte durch eine intensive Tätigkeit auf sozialen Gebieten wenigstens partiell erarbeitet werden. Wohltätigkeitsvereine wurden dabei als wesentlich zur Lösung der Sozialen Frage angesehen.2 »Ein Verein ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Menschen, die auf diese Weise in ihrer Freizeit (mindestens) ein (nicht-profitorientiertes) Ziel durch gemeinsames Handeln realisieren bzw. verfolgen. Charakteristisch für diese Gruppierung sind relativ intensive persönliche Kontakte (die in der Regel nur auf lokaler Ebene gewährleistet sind) und ein Mindestmaß an formaler Organisation (d. h. auf jeden Fall regelmäßige Veranstaltungen).«3 Solche Wohltätigkeitsvereine konnten vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber der kommunalen Armenfürsorge aber nie eine gleichrangige Rolle spielen.4 Insgesamt stellten die Armutsforscher Christoph Sachße und Florian Tennstedt drei in ihrer Funktion verschiedene Armenvereinstypen fest: –– »Das Funktionssyndrom der diskontinuierlichen, gering organisierten Privatwohltätigkeit mit der öffentlichen Armenpflege konterkarierenden Elementen.« Dies sind Vereine, die ohne eine Absprache mit den Armenbehörden Unterstützungen nach eigenen Vorstellungen verteilten und von den Behörden nicht kontrollierbar waren. Dazu zählten auch die verschiedenen gesellschaftlichen Anlässe wie z. B. eine Tanzveranstaltung zugunsten der Armen, 1 2 3 4
Sachße, Verein, Verband, und Wohlfahrtsstaat, S. 125. Nipperdey, Verein als soziale Struktur, S. 175 f. Foltin, Geschichte und Perspektive, S. 8. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1, S. 222.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
bei denen »Wohltätigkeit« nur der vorgeschobene Grund für den gesellschaftlichen Anlass war. –– »Das Funktionssyndrom der kooperativ-ergänzenden Privatwohltätigkeit mit innovativem Charakter.« Diese Vereine kooperierten mit den städtischen Armenbehörden und ergänzten deren Unterstützungen und Hilfsangebote. Hier finden sich die klassischen Armenvereine des Kaiserreichs wieder. –– »Das Funktionssyndrom der propulsiv-ergänzenden Privatwohltätigkeit mit einer kritisch lobbyistischen Haltung gegenüber der kommunalen Armenfürsorge.« Dahinter standen, sofern von diesen im Kaiserreich überhaupt schon gesprochen werden kann, die sich langsam formierenden überregionalen Hilfsverbände der Kirchen.5 Die verschiedenen Vereine kooperierten wie z. B. in Berlin größtenteils miteinander. Dort besuchten Mitglieder Informations- und Fortbildungsveranstaltungen von anderen Vereinen. Auch wiesen die verschiedenen Vereinsarmenpfleger Bedürftige, die in das Konzept eines anderen Vereins besser passten, diesem zu.6 Dabei hatte Berlin eine Größe, die verschiedene Vereinsspezialisierungen erlaubte. Auch war es für mehrere allgemeiner tätige Wohlfahrtsvereine möglich, parallel nebeneinander Beschäftigung – also Arme – zu finden. Obwohl es Wohltätigkeitsvereine in jeder Stadt gab und diese dort wichtige Beiträge zur Versorgung der Armen lieferten, gibt es vereinzelte Hinweise, dass diese Vereine zum Ende des Kaiserreichs ein Auslaufmodell gewesen sein könnten. Der mit der Kommunalverwaltung verknüpfte Mainzer Verein für Volkswohlfahrt beispielsweise erlebte zwischen 1900 und 1905 seine größten Mitgliederverluste und hatte daraufhin seine Tätigkeiten einzuschränken. Als wichtigster Grund dafür wird die veränderte Beziehung zwischen Unterstützungsgebern und Unterstützungsempfängern aus der Arbeiterschaft genannt. Die Empfänger nahmen die Unterstützungen nicht mehr dankbar und passiv hin, sondern organisierten sich genossenschaftlich und gewerkschaftlich selber, was das Bürgertum wiederum verunsicherte.7 Für die organisierten Industriearbeiter, eine Elite unter den Unterschichten, mag diese Argumentation zutreffen. Für das schon von Karl Marx und Friedrich Engels ausgemachte »Lumpenproletariat«, die vielschichtigen Tagelöhner, die armen Handwerker und auch die Kreise derer, die als »unwürdige Arme« subsumiert wurden, aber nicht.
5 Ebd., S. 242 ff. 6 Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich, S. 209. 7 Uhlendorf, Verein für Volkswohlfahrt in Mainz, S. 847–862.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
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Idealerweise kooperierten Vereine und kommunale Armenverwaltung miteinander. Durch die Arbeit in Vereinen von Personen, die primär für die Stadt tätig waren, und umgekehrt von primären »Vereinsarbeitern« in der kommunalen Armenpflege sollte ein geregelter Meinungsaustausch stattfinden. Diese geforderte Verbindung war dann auch tatsächlich vielfach anzutreffen. Die Bestrebungen der Vereine sollten dabei »gesteuert« werden: die einzelnen Tätigkeitsfelder der Armenfürsorge sollten zusammengefasst werden, so dass es für ein Fürsorgefeld auch nur einen Verein geben sollte.8 Mit diesen Verbindungen sollte gegen die großen Ängste der Armenpfleger vorgegangen werden: dass Arme mithilfe von Vereinshilfen die Zeit bis zur Erlangung des Unterstützungswohnsitzes überbrücken könnten, und dass sie sich durch den Bezug mehrerer, voneinander unabhängiger Unterstützungen ein sorgenfreies Leben machen könnten.9 Eine konkrete Möglichkeit der Kooperation zwischen Stadtverwaltung und den einzelnen Vereinen war der von Christoph Sachße beschriebene »Frankfurter Ansatz«.10 Die Stadtverwaltung unterstützte die Vereine systematisch durch Geldzahlungen und lenkte dafür die Arbeit dieser Vereine in die von ihr gewünschten Bahnen. Strukturelle Kooperationen zwischen Stadtverwaltungen und Vereinen wären so als typisch für die Zeit des Kaiserreichs anzusehen. Zu den Wohltätigkeitsvereinen muss auch die unübersehbar große Zahl an Stiftungen, Legaten etc. gezählt werden.11 Meist einzelne Personen hinterließen oder spendeten Vereinen, Kirchengemeinden oder gleich den Kommunen eine bestimmte Summe Geld für einen festgelegten Zweck. Damit werden sich die Stiftungen den Bereichen der kooperierenden Vereine und den kritisch ergänzenden Bereichen zuordnen lassen. Meist sollten die Zinsen des fest angelegten Geldes der Stiftungen etc. für bestimmte, als würdig empfundene Personengruppen, verwendet werden, z. B. für kranke »Wittwen«, besonders kinderreiche Familien etc. Insgesamt lässt sich eine beinahe unüberschaubar große Zahl an verschiedenen Fürsorgevereinen und Stiftungen ausmachen. In Göttingen wurden für das Jahr 1901 insgesamt 82 verschiedene Vereine, Stiftungen, Anstalten und Vorsorgekassen gezählt,12 die sich über die Jahrzehnte hinweg etabliert hatten. Im Folgenden werden die wichtigsten Wohltätigkeitsvereine der Göttinger Vereinslandschaft beleuchtet.
8 9 10 11 12
Münsterberg, Verbindung der öffentlichen und der privaten Armenpflege, S. 26, S. 28, S. 34. Rothfels, Verbindung der öffentlichen und der privaten Armenpflege, S. 84. Sachße, Traditionslinien bürgerschaftlichen Engagements, S. 3–5. Vgl. Aurich, Stiftungen in Chemnitz, S. 293–308. Veranstaltungen für Wohlthätigkeit und Fürsorge, S. 124 ff.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
7.1 Die Wohltätige Vorschuss-Anstalt Als eines der zentralen Probleme der Unterschichtenhaushalte war schon im 19. Jahrhundert eine immer wiederkehrende und meist kurzzeitige Geldknappheit dieser ausgemacht. Diese Knappheit konnte etwa durch kurzzeitige Verdienstausfälle, durch ungeplante Kosten wie Arzthonorare oder Reparaturen entstehen. Kredite über die kommunale Sparkasse waren keine Alternative, boten die Sparkassen doch zu diesem Zeitpunkt keine Kredite für solche Zwecke an. Auch das kommunale Leihhaus, welches bis 1888 in Betrieb war,13 war keine Alternative für die Unterschichten Göttingens: Vielfach hatten sie kaum etwas zum Versetzen übrig. Ebenso schwierig war das Leihen über Privatpersonen, fand doch nicht jeder einen finanziell potenten Geldgeber, der auch zum Leihen bereit war.14 Der Geldmangel war in jedem Fall ein Risiko für den Haushalt, konnten doch gerade Handwerker keine neuen Arbeitsmaterialien bezahlen und gerieten so immer weiter in einen Abwärtsstrudel oder die Haushalte mussten Kredite zu Wucherzinsen aufnehmen, die auch wieder mit enormen Kosten verbunden waren. Um gegen diese Risiken (und letztendlich die Folgekosten) anzugehen gründeten Göttinger Bürger seit Mitte des 19. Jahrhunderts sogenannte Spar- oder Vorschussvereine. Zum einen sollten diese Vereine das Sparen bei Unterschichten befördern und somit eine Vorsorgemöglichkeit schaffen. Zum anderen sollte die Kreditaufnahme erleichtert werden und dabei gleichzeitig die Risiken des Kredits für die Nehmer eingegrenzt werden. Diese Form des Vereins scheint sich unter den Göttinger Bürgern einer großen Beliebtheit erfreut zu haben. Ein erster solcher Verein ist 1848 nachweisbar. Der Verein muss aber an Organisationsmängeln gelitten haben bzw. die Ausfallsicherheit der Kredite wurde nicht durchdacht. Entsprechend schnell musste er seine Arbeit einstellen. In den 1860er-Jahren wurde eine »Neugründung« unter Vermeidung dieser offensichtlichen Risiken diskutiert. Mit der Gründung des Vereins gegen Verarmung und Bettelei erblickte in Göttingen dann ein zweiter Verein das Licht, welcher auch den Bereich des Sparens und den Bereich der Kleinkredite abdeckte. (s. u.) Die Wohltätige Vorschuss-Anstalt organisierte Kredite für die Unterschichten Göttingens, also eine Gruppe mit hohem Kreditausfallrisiko. Sie versuchte dabei, das Risiko für sich auszulagern: Die Kreditnehmer mussten einen potenten Bürgen aufweisen, der für die Schuld einzustehen hatte. Das Risiko war durchaus ernst zu nehmen, forderte der Verein bei den Bürgen nicht zurückgezahlter Kredite immer wieder Geld ein. 13 Vgl. Thiemann, Göttinger Leihhaus, S. 4 ff. 14 Zörcher, Zwischen Markt und Hierarchie, S. 27, S. 30 f.
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Die Wohltätige Vorschuss-Anstalt
Zwischen 1885 und 1902 nahm die Zahl der von der Wohltätigen VorschussAnstalt ausgegebenen Kredite dramatisch von 398 auf 280 ab. Hier zeigt sich der allgemeine Niedergang der Wohltätigkeitsvereine. Die Höhe des durchschnittlich verliehenen Kredits änderte sich dagegen nur unwesentlich. Es fielen aber die Klein- und Kleinstkredite weg. Um 1900 wurden dann nur noch Kredite in den Höhen 30 Mark, 45 Mark und 60 Mark vergeben. 100
%
80
60
männlich
40
weiblich
20 0
1870
1885
1900
Diagramm 14: Verteilung der Kredite der Wohltätigen Vorschuß-Anstalt nach Geschlecht 1870, 1885 und 1900, in Prozent
Auffällig ist, dass Männer vornehmlich die Kredite empfangen haben. Zwischen 1885 und 1900 hat sich dieses Ungleichgewicht noch verschärft. Der unterschiedliche Rechtsstatus von Mann und Frau im 19. Jahrhundert kann keine Erklärung sein, schließlich bekamen noch immer sehr viele Frauen Kredite. Eine Erklärung kann die Stellung der Kreditempfänger innerhalb der Armenhierarchie sein: Sie hatten noch Bürgen für ihre Kredite, sie waren in der gesellschaftlichen Hierarchie noch nicht ganz »unten« und mussten Armenfürsorge empfangen oder hatten gar Unterkunft im Armenarbeitshaus zu nehmen. Hier funktionierte noch das Vorbild der guten bürgerlichen Familie, in der der Mann Frau und Kindern vorstand. Und als funktionierender Familienvorstand bekam der Mann den Kredit bewilligt. Interessant wäre, das Beziehungsgeflecht zwischen Bürgen und Kreditnehmern zu durchleuchten. Wie fanden Kreditnehmer und Bürge zusammen, welche Sicherheiten musste der Kreditnehmer dem Bürgen gewähren? Und nicht zuletzt: welchen Vorteil konnte ein Bürge aus seiner Bürgschaft ziehen. Am Beispiel: Wieso fand Gottfried Theodor Kutscher in Sartorius 1873 einen Bürgen? Arbeitete »Piano-Stimmer« Kutscher noch immer hauptsächlich als Klavierstimmer und Instrumentenbauer und gewann er durch einen Auftrag für oder an einem Musikinstrument die Aufmerksamkeit Sartorius’? Oder arbeitete Kutscher schlicht als Hersteller für die feinmechanischen Instrumente in Sartorius’ Werk? Welche Vorteile hatte Sartorius aus dieser Bürgschaft? Konnte er einen Mitarbeiter binden, von einem Klavierstimmer sich eine Vorzugsbehandlung erkaufen? Welche Wirkung hatte eine solche Bürgschaft auf die Standesgenossen? Konnte sich Sartorius erfolgreich als »mildtätiger Bürger« darstellen?
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
Die Geldgeschäfte dieses Vereins wurden in den Privaträumen eines Mitglieds getätigt, d. h. die Kreditnehmer hatten die Gelder dort hin zu bringen und wieder abzuholen. Dadurch gewannen die Kreditnehmer gegenüber anderen Formen der Armenfürsorge an Privatheit, wurden sie doch nicht von Vereinsmitgliedern regelmäßig besucht und kontrolliert. Auch dieser Gewinn kann mit der besseren Stellung der Kreditnehmer innerhalb der Unterschichten erklärt werden. In Göttingen lässt sich daneben noch ein weiteres Muster in beiden Vereinen beobachten: Kredite werden aufgenommen, abbezahlt und gleich wieder aufgenommen. Gottfried Theodor Kutscher fing mit der regelmäßigen Kreditaufnahme bei der Wohltätigen Vorschuss-Anstalt im April 1864 an. Im Dezember 1864 nahm er seinen nächsten Kredit auf, dann 1865 im Juli und im Dezember 1865. 1866 pausierte seine Kreditaufnahme anscheinend, 1867 nahm er wieder im Januar und November Kredite auf. Regelmäßig ist er dann wieder ab 1896 zu finden: Im März 1896, Oktober 1896, Februar 1898, Dezember 1898, November 1900 und Juli 1900 nahm er jeweils Kredite in Höhe von 45 M auf.15
Damit haben die Kredite nicht mehr die Funktion, zusätzliches neues Geld in die Kasse zu bringen, um Investitionen tätigen zu können. Das Geld wurde ja gerade aus der Kasse genommen, um einen alten Kredit abzutragen, um wiederum einen neuen Kredit zu bekommen. Die Motivation für einen solchen Vereinskredit musste daher eine andere sein. Es scheint vielmehr um die generelle Kreditwürdigkeit der Unterschichten gegangen zu sein. Wenn ein Verein oder die Vorschuß-Anstalt ihnen einen und wenn auch noch so geringen Kredit gewährte, so waren sie immerhin kreditwürdig. Und diese Würdigkeit könnte bei dem allgemeinen Brauch des Anschreibens in den verschiedenen Läden sehr hilfreich gewesen sein: Sah doch der Kaufmann, dass sein Kunde finanziell potent genug war, seinen (kleinen) Vereinskredit zu bedienen und gab ebenfalls einen (kleinen) Kredit. Diese Kredite hatten damit eher die Funktion, soziales Kapital anzusammeln und die Kreditwürdigkeit zu beweisen.16 Um die Bedeutung der Kredite überhaupt zu überblicken, muss eventuell erst die gesamte »Schuldenökonomie« eines Haushaltes aus den Unterschichten beleuchtet werden: Vielleicht wurde das Geld aus dem Verein direkt zu dem Händler getragen, der am meisten die Begleichung seiner Rechnung einforderte. Anschließend wurden weitere Schulden beglichen, um schlussendlich wieder den Vereinskredit 15 StadtA Gö: AA.Wohlfahrt. Wohltätige Vorschuss-Anstalt und Verein gegen Verarmung und Bettelei 1 (1882–1900). 16 Vgl. Schlumbohm, Einführung, S. 7–14; Lipp, Aspekte der mikrohistorischen und kulturanthropologischen Kreditforschung, S. 15–36; Laufer, Lebenswelten und Lebenswege, S. 233–253.
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Die Wohltätige Vorschuss-Anstalt
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abzuzahlen und wieder einen neuen Kredit zu erhalten, um weiter als kreditwürdig zu gelten. Jeder Person wurde nur ein Kredit gewährt, egal von welchem Verein. Die die Vereine finanzierenden Bürger scheinen sich der anderen Funktion der Kredite bewusst gewesen zu sein und haben diese durch ihre Vergabepraxis unterstützt. Es konnten keine Kreditnehmer gefunden werden, die »Kunden« beider Vereine waren. Kreditbetrug war auf dieser Ebene offensichtlich ausgeschlossen. Die Haushaltskonstruktion der Weiterreichung von Krediten erscheint als äußerst fragil und wenig belastbar. Unvorhergesehene Ereignisse konnten jederzeit diesen Kreislauf zerstören. Und tatsächlich endete die »Kreditkarriere« beim Verein gegen Verarmung und Bettelei meist mit dem Deklarieren des Kredites als Verlust. Und die Wohltätige Vorschuss-Anstalt musste regelmäßig die Bürgen der Kreditnehmer an ihre Pflichten als Bürgen erinnern. Insgesamt konnte ein solcher »Kreditverein« die Sorgen der ärmeren Bevölkerungsschichten lindern, ihnen kleine Kapitalspritzen geben. Doch zur Materialbeschaffung etwa für Handwerker waren die verliehenen Beträge zu gering. So wurde 1897 eine Volksbank gegründet. Gründungsmitglieder waren unter anderem die Armenpfleger Ernst Honig und Carl Quentin. In Anbetracht der Göttinger Verhältnisse, die keine größere Arbeiterschaft hervorbrachte, entwickelte sich die Genossenschaftsbank zwar gut, aber nicht zur Zufriedenheit ihres Vorstandes. So klagte eben dieser 1911: »[…] Die Kasse hat sich aus kleinen Anfängen heraus langsam aber stetig entwickelt und wenn auch die Betheiligung aus den Kreisen des gewerbl. Mittelstandes noch wesentlich besser sein könnte, so müssen wir doch mit Rücksicht darauf, daß Göttingen nennenswerte Industrie nicht hat und noch viele Gewerbetreibende bei ihren alten Bankverbindungen geblieben sind, also den genossenschaftlichen Zusammenschluss noch nicht als nutzbringend und erforderlich erkannt haben, mit den erzielten Resultaten zufrieden sein.«
Trotz der Vorteile der Bank, hier konnten Mitglieder Kredite bis zu 2.000 Mark bekommen, gegen Sicherheiten waren sogar Kredite bis zu 30.000 Mark möglich, erfreute sie sich im Gegensatz zur Wohnungsgenossenschaft nicht des erhofften Zuspruchs.17 Die Vorteile der Wohnungsgenossenschaft waren im Vergleich wohl offensichtlicher. Mit diesen Kreditvereinen hatten Arme die Möglichkeit, kurzfristig an Geld zu kommen, um dringende Rechnungen zu begleichen. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Pfandleihern waren keine Zinsen zu zahlen. Durch die regelmäßige 17 Archiv der Volksbank Göttingen: Berichte über die Generalversammlung 1897 ff.; 75 Jahre Volksbank Göttingen.
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Kreditaufnahme konnten sie zugleich ihre finanzielle Potenz unter Beweis stellen. Wahrscheinlich eröffneten diese Kredite weitere Möglichkeiten, etwa das übliche Anschreiben bei verschiedenen Händlern.
7.2 Der Göttinger Frauenverein Der im Jahr 1840 gegründete Göttinger Frauenverein war zur Zeit des Kaiserreiches der älteste aktive Armenverein Göttingens. Seine lebendigste Phase war zwar um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen,18 während des Kaiserreichs war er aber noch immer einer der bedeutendsten Armenvereine der Stadt. Schon bald nach seiner Gründung hatte er ca. 250 Mitglieder. Diese Zahl soll während des 19. Jahrhunderts nahezu gleich geblieben sein.19 Nach einer Liste aus dem Jahr 1912 zahlten über 330 Personen einen Mitgliedsbeitrag an den Verein.20 In dieser Liste wurde nicht zwischen Spenden und Mitgliedsbeiträgen unterschieden, so dass sich z. B. mit »Prof. D. Karl Knoke« der Dekan der Theologischen Fakultät und Kurator des Waisenhauses (siehe S. 181) findet. Im Besitz des Vereins befand sich ein großes Vereinshaus, in dem er seine Arbeiten zum großen Teil ausführen konnte.21 Er wollte seine Tätigkeiten im »Einklange mit der Armenverwaltung« gestalten. Gleichzeitig versuchte er, unabhängig und selbständig von dieser zu bleiben.22 Angesichts einer chronisch knappen Vereinskasse und einer sich verschärfenden Finanzierungskrise in den 1890er-Jahre mussten aber die Rücklagen des Vereins angegriffen werden. Unter diesem Druck wurden die Anbindungen an die Göttinger Armenverwaltung immer enger. Damit die Arbeit und das Engagement der Frauen nicht an einer mangelhaften finanziellen Situation scheiterte, fand sich die Armendeputation immer öfter bereit, einzelne Zweige des Vereins zu bezuschussen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Unabhängigkeit des Frauenvereins von der Armenverwaltung gewahrt werden konnte, wenn diese die Arbeit immer stärker finanzierte. Der generelle Zuschuss an den Frauenverein betrug in den Jahren 1892 bis 1914 jährlich beinahe durchgängig 600 Mark. Hinzu kamen noch Vergütungen für das Krankenessen. 1892 findet sich in den Haushaltsrechnungen der Stadt noch kein Hinweis darauf; 1912 waren es 1.700 Mark, 1913 und 1914 jeweils 1.500 Mark.23 Trotz dieser Zuschüsse musste der Frauenverein seine Leistungen immer weiter einschränken. 18 19 20 21 22 23
Weber-Reich, »Eine würdige Berufstätigkeit für das weibliche Geschlecht«, S. 616. Ebd., S. 613. StadtA Gö: Depositum 30 Nr. 4. Weber-Reich, Frauenverein, S. 31. Vgl. ebd., S. 20. Auszug aus der revidierten Rechnung 1892; Haushaltsplan der Stadt Göttingen 1913, 1914. WeberReich, Frauenverein, S. 39 f.
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Der Göttinger Frauenverein
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Der Verein war sehr stark durch die Geistlichen der lutherischen Gemeinden Göttingens geprägt. In der Frühphase des Frauenvereins waren zahlreiche Geistliche als Fürsprecher oder im Vorstand für diesen tätig, während ihre Ehefrauen Mitglieder waren.24 Die religiöse Erziehung der Zöglinge des Vereins nahm eine wichtige Stellung ein.25 Der Sekretär oder der Vorstand des Vereins wurde immer von einem Geistlichen der Stadt gestellt. Bis zum Jahr 1876 war dies der Superintendent Hildebrand, zwischen 1878 und 1880 der Superintendent Dankwerts. Beide kümmerten sich auch um die Rechnungsführung des Vereins. Anschließend wurde der Superintendent Steinmetz zum Sekretär des Frauenvereins gewählt.26 Als solcher vertrat er den Verein nach außen hin.27 Es ist bei dieser geistlichen Führung des Vereins nicht weiter erstaunlich, dass er schon kurz nach seiner Gründung im Rahmen der »Inneren Mission« genannt wurde. Bei dieser offiziellen und überregionalen Zuordnung ist es dann mindestens bis 1914 geblieben.28 Ob der Frauenverein in Göttingen auch als ein religiös geprägter Verein der Inneren Mission gesehen wurde, bleibt offen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt säkulare Armenvereine geben konnte, wenn immer wieder die örtliche Geistlichkeit Mitglied in diesen war. Dazu sollte beachtet werden, dass diese Geistlichkeit – durch ein Berufsbild begünstigt, das Zeit für »Mildtätigkeit« lässt – meistens eine gewichtigere Rolle in diesen Vereinen spielten und diese stärker prägen konnten, als es z. B. für Kaufleute möglich war. Eine Verbindung zum Vaterländischen Frauenverein lehnte der Göttinger Frauenverein ab. Ihm schien die Wahrung seiner Autonomie wenigstens gegenüber diesem Verein die sicherste Möglichkeit, seine Ziele effektiv umsetzen zu können.29 Die Beziehungen zu der Anfang des 20. Jahrhunderts in Göttingen ins Leben gerufenen Zweiggruppe des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, der die Helferinnen für die Armenpflege der Armendeputation stellte, sind unklar. Der Göttinger Frauenverein engagierte sich auf vielen verschiedenen Gebieten. Entsprechend hatte er unterschiedliche Vereinszweige, denen jeweils einzelne Frauen vorstanden. Der Verein unterhielt zur Nahrungsmittelversorgung armer und bedürftiger Göttinger einen Speiseverein. Dieser Verein verteilte fertige Mahlzeiten. Der 24 Weber-Reich, »Eine würdige Berufstätigkeit für das weibliche Geschlecht«, S. 611. 25 Weber-Reich, Frauenverein, S. 128. 26 Adressbuch Göttingen 1881–1914; Weber-Reich, Frauenverein, S. 29. Superintendent Dankwerts war der Vater des später in der Armendeputation tätigen gleichnamigen Pfarrers. 27 Superintendent Steinmetz verfasste die Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Vereins und beschrieb diesen zudem noch in Rothert, Die Innere Mission, 3. Auflage, S. 283 ff. 28 Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause 3 (1846), S. 2 ff., Rothert, Die Innere Mission, 1.–3. Auflage. 29 Weber-Reich, Frauenverein, S. 164.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
Bedarf des Speisevereins wurde seit Gründung des Frauenvereins aus der Vereinsküche, die sich in dem Vereinshaus befand, und verschiedenen Privatküchen bis vor den Ersten Weltkrieg gedeckt. Zu dieser Zeit zogen sich die Privatküchen zurück und die dadurch entstandenen Ausfälle mussten durch Zuschüsse des Magistrats aufgefangen werden. In der Vereinsküche halfen auch die Schülerinnen der Dienstbotenschule. Bei allen späteren flächendeckend tätigen städtischen Volksküchen wirkten Frauen des Frauenvereins mit. Nur sie hatten in den städtischen zivilen Institutionen Wissen und Ausrüstung genug für eine solche Unternehmung.30 Der Speiseverein existierte letztendlich bis ca. 1933.31 In der Familienpflege wurden anfangs »würdige« Arme durch materielle Spenden und »moralische« Einwirkungen – Belehrungen in Haushaltsführung, Hygiene und nicht zuletzt Religion – unterstützt. Probleme mit der Stadtverwaltung, die eine Doppelversorgung einzelner Armer befürchtete, zwangen zur Aufgabe dieses Feldes. Von ersten Problemen wird ab Mitte der 1850er-Jahre berichtet, der Verein schränkte seine Arbeit auf einzelne, unter »besonderen Heimsuchungen leidenden und würdigeren Armen ein«32, auf die sich dann aber auch konzentriert wurde. Eines der Probleme in der Familienpflege wurde bei den Frauen selbst ausgemacht: »dieser Beruf fordert […] eine Festigkeit und Beharrlichkeit, wie sie bei weichherzigeren Frauen kaum zu finden ist«33, so der männliche Berichterstatter. 1856 erforderte Armenpflege in Göttingen also einen Mann! Folgerichtig, auch wenn mit leicht veränderten Tenor, wird vom Misserfolg des Frauenvereins 37 Jahre später festgehalten, dass »von Armen selbst die dargebotene Frauenhand vielfach zurückgewiesen wurde. Viele wollten sich den Anforderungen nicht fügen, an welche die Hilfe geknüpft werden mußte, und mußten wieder losgelassen werden. […] Wir können daher nicht wundern, wenn allmählich der große Gedanke einer speziellen Familienpflege aufgegeben und ihrer statt kleinere, aber erreichbare Ziele gesteckt wurde.«34 Demnach hatten die Pflegerinnen des Frauenvereins bei den Armen Durchsetzungsprobleme gehabt, bzw. die Armen Göttingens unterwarfen sich dem Verhaltensideal der bürgerlichen Frauen nicht ohne weiteres. Ob dies daran lag, dass die Frauen besonders weitreichende Forderungen stellten, oder daran, dass diese Forderungen von Frauen gestellt wurden, ist nicht festzustellen. Ab ca. 1866 schränkte sich folglich die Hilfe auf die Krankenpflege würdiger Bedürftiger ein. Dieses »kleinere, aber erreichbare Ziel« konnte bis in das Jahr 1910 verfolgt werden.35 30 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. Armenwesen und Stiftungen 217 u. AHR I H, 25. 31 Vgl. Weber-Reich, Frauenverein, S. 51 ff.; Thiemann, Soziale Fürsorge, S. 22. 32 Fliegende Blätter des Rauhen Hauses 1856, S. 250. 33 Ebd. 34 Steinmetz, Mitteilungen über den Frauenverein, S. 7 f. 35 Vgl. Weber-Reich, Frauenverein, S. 61 ff.; Thiemann, Soziale Fürsorge, S. 23.
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Um bedürftigen Frauen und Familien ein bescheidenes Einkommen zu sichern, richtete der Frauenverein verschiedene protoindustrielle Werkbereiche ein. Die gesamten Arbeitsmaßnahmen litten aber zunehmend unter der Konkurrenz industriell hergestellter Produkte. Die gefertigten Waren hatten gegenüber den industriell gefertigten Produkten keine so hohe Qualität und es konnten nur geringere Mengen produziert werden. Trotz eines Verzichts auf Gewinn hielten sie im wachsenden Maße nicht mehr mit den Marktpreisen mit.36 So war es nur eine Frage der Zeit, wann diese Arbeitsmaßnahmen eingestellt werden würden. Den Produktionszweig für Männer traf es zuerst: Die Leinenweberei musste 1885 aufgegeben werden. Zwei Jahre länger konnte sich die für Frauen gedachte Spinnerei halten.37 Die Existenz einer Strickerei und die einer Weißnäherei, die ebenfalls für Frauen gedacht waren, konnte demgegenüber bis in das Jahr 1930 gewahrt werden.38 Zur Erziehung der Kinder der Göttinger Unterschichten unterhielt der Frauenverein verschiedene Einrichtungen: Die sog. Hugoische Vereinsschule war eine Arbeitsschule für arme Mädchen. Diese wurde 1842 in dem Vereinshaus eingerichtet. Der Verein sah die Bedingungen der aufgrund einer Stiftung gegründeten Vereinsschule 1872 als erfüllt an und stellte ihren Betrieb ein. Handarbeitsunterricht für Mädchen wurde ab diesem Zeitpunkt fest in den Lehrplan der Volksschulen verankert. Bis 1905 wurden aber weiterhin Nähkurse angeboten.39 In einer vereinseigenen Kleinkinder-Bewahranstalt wurde Kindern berufstätiger bedürftiger Mütter eine Ganztagsbetreuung geboten. In diesem wurde die »geistige und körperliche« Pflege der Kinder vorangetrieben. Die KleinkinderBewahranstalt erhielt im Jahr 1877 erstmals einen Zuschuss des Magistrats. Der Kindergarten befand sich in dem Vereinshaus des Frauenvereins.40 In der Dienstbotenschule wurden konfirmierte Mädchen zu Dienstbotinnen für die Göttinger Herrschaften ausgebildet. Diese Schulung fand in dem Vereinshaus statt. Die Schülerinnen konnten gegen »mäßige Gebühr« an Haushaltungen in Göttingen, die sich in Notsituationen befanden, wie Krankheit o. ä. der Hausfrau oder des Dienstpersonals, und deren Frauen möglichst Mitglied im Frauenverein waren, entliehen werden.41 Den Dienstbotenschülerinnen wurden nach ihrer Ausbildungszeit vom Verein Stellen vermittelt. Sie erhielten, wenn sie mehrere Jahre zur Zufriedenheit ihrer Herrschaften an einer Stelle geblieben waren, ein Geldgeschenk von dem Verein. Das Berufsbild der Dienstboten wandelte 36 37 38 39 40 41
Weber-Reich, Frauenverein, S. 94. Vgl. ebd., S. 89 ff., S. 95; Thiemann, Soziale Fürsorge, S. 22. Vgl. Weber-Reich, Frauenverein, S. 99 ff. u. Thiemann, Soziale Fürsorge, S. 23. Vgl. Weber-Reich, Frauenverein, S. 107 ff. u. Thiemann, Soziale Fürsorge, S. 22 f. Vgl. Weber-Reich, Frauenverein, S. 138 ff. u. S. 145. u. Thiemann, Soziale Fürsorge, S. 21. StadtA Gö: Depositum 30 Nr. 4.
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sich aber von der Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem das Dienstbotenstadium ein Abschnitt im Leben der Botinnen war, bis zur Jahrhundertwende, wo es z. B. in Fabriken andere Einkommensmöglichkeiten für Frauen gab, die nicht so schlecht bezahlt waren und derartig stark in das Leben eingriffen. Entsprechend kann die Entwicklung der Dienstbotenschule beschrieben werden: Nach einigen Anfangsproblemen hatte sich diese Schule gut etabliert, bis sie nach der Jahrhundertwende an Zulauf immer mehr verlor. Diese Anstalt des Frauenvereins konnte sich trotzdem bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs halten.42
7.3 Der Verein gegen Verarmung und Bettelei In der Krise der Göttinger Armenpflege 1872 wurde in der täglich erscheinenden Göttinger Zeitung ein Armenverein angeregt, dessen Zweck darin bestehen sollte, »der Verarmung vorzubeugen, an Bedrängte Vorschüsse zu geben, Arbeit nachzuweisen, Rath und Auskunft jeder Art zu ertheilen und auf Beseitigung der Haus- und Straßenbettelei hinzuwirken.«43 Drei Jahre später gründete sich der »Göttinger Verein gegen Verarmung und Bettelei« unter Führung bekannter Anhänger der örtlichen Nationalliberalen Partei,44 der diese Punkte in seine Statuten aufnahm. Trotz einer positiven Berichterstattung in den nächsten Wochen über die Ziele und die geplante Arbeit des Vereins in der »Göttinger Zeitung« konnten sich die städtischen Kirchenvertreter drei Monate nach Vereinsgründung noch keine Meinung über den Verein bilden, »da [ihnen] die Ziele desselben noch nicht klar genug erschienen.«45 Eventuell trennten die Kirchenvertreter die aus den Zeitungen bekannte Theorie der Vereinsarbeit von der Praxis, und eben diese Praxis war nach drei Monaten noch nicht wirklich bekannt. Auch die übrige Bürgerschaft Göttingens war mindestens von zwiespältigen Gefühlen dem Armenverein gegenüber geplagt: viele Bürger befürchteten in den Anfangsmonaten des Vereins, dass die bisher allein an die Armendeputation geflossenen Spenden zwischen Verein und Stadt aufgeteilt werden würden, das Geld für die Deputation nicht mehr ausreichen könnte und daher eine allgemeine Armensteuer eingeführt werden müsse.46 Das Vertrauen in eine – immerhin versprochene – Zusammenarbeit zwischen Verein und Armendeputation und in die 42 Weber-Reich, Frauenverein, S. 125 ff. 43 GZ v. 16. Februar 1872. 44 Vgl. Wehber, S. 144 ff. Ob dieser Verein aber wirklich so »nationalliberal« war ist aber kritisch zu sehen. Bei der Vielzahl der Vereinsmitglieder sind die übergreifenden Gemeinsamkeiten vielleicht doch eher in »männlich«, »Bürger« und »protestantisch-christlich« zu sehen. 45 GZ v. 4. Mai 1875. 46 GZ v. 15. Mai 1875.
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Überprüfungskünste der städtischen Armenpfleger zur Vermeidung doppelter Unterstützungen scheint im Göttinger Bürgertum 1875 nicht sehr groß gewesen zu sein. Die allgemeine Krise in der Armenpflege zu Beginn der 1870er-Jahre wird die Armendeputation, eventuell der Armenpflege insgesamt, viel Vertrauen innerhalb des Bürgertums gekostet haben. Der Vorstand des Vereins gegen Verarmung und Bettelei hatte in seiner Satzung eine doppelte Zielsetzung angegeben: Zum einen wollte er gegen die Armut der Göttinger Bevölkerung angehen, zum anderen die Haus- und Straßenbettelei unterbinden. Die Mittel hierzu waren zum ersten zurückzuzahlende Geldunterstützungen, Geldgeschenke und Ratschläge und zum zweiten eine – später institutionalisierte – Arbeitsvermittlung sowie die konsequente Abweisung von (auswärtigen) Bettlern in eine 1878 eingerichtete Verpflegungsstation. Hierfür kooperierte der Verein gegen Verarmung und Bettelei mit der Herberge zur Heimat. Die Ziele des Vereins sollten in Absprache mit den städtischen Behörden verfolgt werden.47 Die Vereinsstatuten sahen für Arme und Bettler Repressionen wie Kontrollen der Lebensführung nach der Vorstellung des Vereinsvorstandes und ordentliches Betragen in der Verpflegungsstation vor. Dafür gab es Almosen in Form von Geldunterstützungen und Geschenken sowie Verpflegung und Unterkunft in der Verpflegungsstation. Die Vereinsmitglieder waren durch ihre Mitgliedschaft und Mitgliedsbeiträge zumindest auf einer finanziellen Basis sozial engagiert. Durch ihre Mitgliedschaft konnten und mussten sie Bettler abweisen und zur Verpflegungsstation schicken. Auf dieser Grundlage kümmerte sich der Verein gegen Verarmung und Bettelei von seiner Gründung 1875 bis zu seiner Auflösung 1911 um einen Teil der Armen in Göttingen. Der Verein verwaltete und bezuschusste auch andere Stiftungen, wie die Hedwig-Stiftung, die armen Wöchnerinnen ein Geldgeschenk zukommen ließ. Auch kooperierte er mit der 1889 errichteten »Herberge zur Heimath«, eine im Ursprung christliche Verpflegungsstation der Inneren Mission, in der die fremden Reisenden dann betreut wurden.48 Anders als für den Frauenverein finden sich keine Beschreibungen des Göttinger Vereins gegen Verarmung und Bettelei in regionalen oder überregionalen Publikationen, trotzdem Pfarrer in seinen Reihen wirkten und die Vereine gegen Verarmung und Bettelei anderer Städte zur Inneren Mission gezählt wurden. Mitglied des Vereins konnten alle Personen werden, die den Mitgliedsbeitrag in Höhe von mindestens drei Mark jährlich zahlen wollten.49 Die Zahlung von 47 Vgl. Statuten des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, Göttingen 1880. 48 Bericht über die Geschäftsthätigkeit des Vereins gegen Verarmung und Bettelei im Jahre 1884– 1910. 49 Satzung des Vereins gegen Verarmung und Bettelei.
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höheren Beiträgen war üblich. Für das Jahr 1884 ergibt sich ein durchschnittlicher Mitgliedsbeitrag in Höhe von ca. 4,25 M.50 Schon in den ersten Monaten seines Bestehens zählte der Verein 242 Mitglieder.51 Die Mitglieder der ersten Stunde kamen überwiegend aus dem nationalliberalen Spektrum Göttingens. Der Parteivorsitzende der Nationalliberalen Partei Göttingens, Tripmacker, übernahm den Vorsitz. Als zweiter Vorsitzender fand sich der Welfe Bacmeister, und der konservative Kreishauptmann und Polizeidirektor Dieterichs wurde zum Beisitzer gewählt, was dem Verein einen überparteilichen Hauch gab.52 Mit über 400 Mitgliedern in der ersten Hälfte der 1880er-Jahre bot der Verein neben den armenpflegerischen Tätigkeiten für die Mitglieder selbst einen gemeinsamen Bezugspunkt und verband so auf einer breiten Basis unterschiedliche bürgerliche Strömungen. Das Berufsprofil der Vereinsmitglieder zeigt einen gehobenen bürgerlichen Hintergrund. Nur ein kleiner Teil übte eine handwerkliche Betätigung aus. Auffallend an der Mitgliederstruktur ist die hohe Anzahl an Akademikern der Göttinger Universität. In anderen Städten gab es nicht so viele Professoren. Eine weitere große Gruppe ist die der Stadt- und Staatsbediensteten. So gab es zwischen Verein und Stadtverwaltung personelle Überschneidungen. Es waren verschiedene Senatoren und Räte Mitglieder des Vereins. Der erste Vorsitzende des Vereins Tripmacker trat gleich nach seiner Wahl zum Senator in die Armendeputation ein und blieb dort bis 1880.53 Senator Borheck war zum einen ab 1879 bis zu seinem Tod 1913 in der Armendeputation und leitete diese ab 1893, war ab 1880 Verwalter der Armenkasse der Stadt, zum anderen war er aber auch Schriftführer im Vorstand des Vereins. Der langjährige Vorsitzende des Vereins Dieterichs war gleichzeitig in der Polizeidirektion und sein Stellvertreter und Nachfolger war Superintendent Brügmann, u. a. geistliches Mitglied in der Armendeputation. Dieser zog sich 1888 aus der Armendeputation zurück, um sich verstärkt der Herberge zur Heimat widmen zu können.54 Weiterhin hatten alle Pfarrstellen eine Verbindung zu dem Verein, sei es durch eine direkte Mitgliedschaft des Pfarrers oder durch die Mitgliedschaft der Pfarrersfrau. Dies entsprach dem Berufsethos der Geistlichen aller Konfessionen als »christlich-mildtätige« Personen. Frauen spielten in dem Verein anscheinend nur in den Mitgliederlisten eine Rolle. Sie traten weder als eigenständige Pflegerinnen oder untergeordnete Helferinnen eines Bezirkes noch auf irgendeine andere Art bei den Jahresversammlungen auf. Im Vereinsvorstand scheinen dieselben Ansichten über Frauen eine 50 51 52 53 54
Vgl. Bericht über die Geschäftsthätigkeit 1884. GZ v. 17. August 1875. Wehber, Zwischen Hannover und Preußen, S. 147. StadtA Gö: AHR I H 3, Nr. 10. StadtA Gö: AHR I H 24, Nr. 1, Bd. 2.
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Rolle gespielt zu haben wie in der Armendeputation. Schließlich waren die maßgeblichen Herren der Armendeputation zugleich Vereinsmitglieder, meist auch hier maßgeblich im Vorstand tätig. Dies entsprach nicht der allgemeinen Entwicklung im Kaiserreich, in dem sich bürgerliche Frauen auf dem Gebiet der vereinsgetragenen Armenfürsorge ein rollenadäquates Betätigungsfeld gesucht haben.55 Unter Umständen sind in Göttingen Frauen, die in der Vereinsarmenpflege aktiv werden wollten, in den »Frauenverein« eingetreten, eventuell auch in den Verein »Frauenbildung-Frauenstudium«. Auffallend ist auch das völlige Fehlen der Studenten. Die Mitgliedsbeiträge waren nicht so hoch, dass eine Mitgliedschaft aus diesem Grunde nicht in Frage kam. Auch wurden immer wieder neue Mitglieder gesucht. Es scheint vielmehr, dass diese Gruppe den Anschluss an das übrige Göttinger Bürgertum nicht über diesen Verein gesucht hat, sondern, ein Interesse am Göttinger Bürgertum oder an der Armenpflege vorausgesetzt, anderweitige Möglichkeiten hatte. Oder durch das Fehlen eines Berufes oder einer Profession wurden Studenten eben ohne eine Berufs- oder Statusbezeichnung aufgeführt und daher in der statistischen Kategorie »Sonstige« aufgeführt. Sowohl in dem Vorstand als bei den Pflegern und den jährlich neu zu wählenden Revisoren für die Vereinskasse finden sich sowohl (gut gestellte) Handwerker als auch Senatoren.56 Der Verein hatte offiziell ein egalitär-demokratisches Auftreten, zumal er Armen aus der Not helfen wollte. In dem Verein kamen Personen aus verschiedenen Schichten Göttingens zusammen mit dem Ziel, den Armen der Stadt zu helfen. Die Vereinsarbeit kann aber auch der Abgrenzung gegenüber anderen Gesellschaftsschichten geholfen oder schlicht den eigenen Voyeurismus befriedigt haben. Die Protokolle der Vereinssitzungen zeigen dagegen ein geradezu langweiliges Bild vom Vereinsleben: In den Vorstandssitzungen berichteten die Pfleger über einzelne Arme und die für diese vorgesehenen Hilfen, die vom Vorstand bewilligt wurden. Weitere Mitglieder waren anscheinend nur zu den Jahresversammlungen anwesend. Aber selbst direkt nach den Jahresversammlungen zog sich der enge Personenkreis aus Pflegern und Vorstand zur Beratung über die Armen zurück. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn zur Auflösungsversammlung 1911 neben dem Vorstand nur noch 14 Mitglieder anwesend waren.57 Die 55 Vgl. Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt, S. 115 f. Danach wären die Vorstandsposten für die Männer des Vereins vorbehalten gewesen, doch zumindest in den Pflegschaften hätten sich Frauen als Pflegerinnen finden sollen. 56 Vgl. Satzung des Vereins gegen Verarmung und Bettelei und Bericht über die Geschäftsthätigkeit 1884–1910. 57 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. Wohltätige Vorschuß-Anstalt und Verein gegen Verarmung und Bettelei 6.
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eigentliche Vereinsarbeit wurde im Wesentlichen immer von denselben Personen erledigt. Vorstandsmitglieder wechselten nur äußerst selten, und Armenpfleger traten immer wieder als Revisoren der Vereinskasse auf. Auch wechselten die Pfleger nicht oft. Zum Teil waren sie wie z. B. Dr. phil. Carl Plathner über Jahrzehnte als Vereinsarmenpfleger tätig.58 So kristallisierte sich für den Zeitraum von 1875 bis 1911 eine Gruppe von maximal 20 Personen heraus, die den größten Teil der Vereinsarbeit erledigt haben dürfte und den Verein so nach außen hin repräsentierte. Der Verein ist bei seiner Auflösung wahrscheinlich überaltert gewesen und scheint damit das Interesse einer spezifischen Alterskohorte gewesen zu sein. Damit hätte er zunehmend seine Funktion als Integrationsverein verloren. Die Göttinger Bürger waren zwar Mitglieder und bezahlten ihre Beiträge, erledigten aber keine Arbeiten. Die Möglichkeit, Bettler ruhigen Gewissens von sich weiter an den Verein zu verweisen, scheint für die Mehrzahl der Mitglieder sehr attraktiv gewesen zu sein.59 Ein weiteres Zeichen für die Überalterung ist die Entwicklung der Mitgliedsbeiträge: Diese nahmen ab ca. 1884 deutlich ab. Da teilweise höhere Beiträge gezahlt wurden, kann nicht nur auf ein Sinken der Mitgliedszahlen geschlossen werden, sondern auch auf eine sinkende Akzeptanz des Vereins unter den Bürgern. Freiwillig wurden höhere Beiträge seltener gezahlt, da die Göttinger Bevölkerung sich immer weniger mit den Zielen und der Art der Arbeit des Vereins identifizieren konnte. Um diesen Zustand zu beheben, wurde auf die Leistungen des Vereins und die befürchteten Folgen bei seiner ersatzlosen Auflösung aufmerksam gemacht. So wurde vom Verein die Schreckensvision entworfen, dass »unsere Stadt jährlich von ca. 4.000 fremden armen Reisenden besucht wird, und sich den Zehrpfennig durch Betteln, und sich hierbei bietende Gelegenheit in noch anderer Weise zu verschaffen suchen würde, wenn der Verein nicht existierte.«60 Ähnliche, kaum abgewandelte Passagen, die auf die »Gefahren« von Bettelei und Armut für das Göttinger Bürgertum hinweisen und den Verein als Alternative und Lösung des Problems darstellen finden sich beinahe alljährlich in den Geschäftsberichten für die Jahre bis 1910.61 Es ist offen, inwieweit dieses Stereotyp, welches anscheinend nie in der beschriebenen Form eingetreten ist, zur Abstumpfung der Göttinger Bevölkerung und damit letztendlich zum Ende des Vereines geführt hat. Vielleicht haben einige Bürger das Bettelrisiko, welches nach den Vereinszahlen durchschnittlich von zehn bis elf Personen täglich ausging – die sich zudem über die ganze Stadt erstreckten und sich vor der städtischen Polizei hüten mussten – als tragbar empfunden. Oder sie haben den großen Unterschied 58 59 60 61
Vgl. Berichte über die Geschäftsthätigkeit 1884–1910. Vgl. Satzung des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, Göttingen 1875. Bericht über die Geschäftsthätigkeit 1904. Vgl. Bericht über die Geschäftsthätigkeit 1900–1910.
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zwischen Schreckensvision und Alltag nicht erkennen können. Schließlich wurden in den Jahren 1892–1894 immerhin zwischen 3.000 und 4.000 Wanderer und 1901–1903 zwischen 4.000 und knapp 5.000 Wanderer in der Verpflegungsstation durch den Verein unterhalten. Und all diese Männer werden sich nicht immer brav, wie es die Regeln forderten, zur Station begeben und sich ebenso brav aus Göttingen entfernt haben, sondern auf ihren Wegen versucht haben, den einen oder anderen »Zehrpfennig« zu ergattern. Eventuell ist hier ein Indiz zu sehen, dass die Arbeit dieses Vereins gegen Verarmung und Bettelei als ineffizient eingestuft wurde (und dieser daher nicht weiter unterstützt werden brauchte). Um die Eigenvorsorge vor Verarmung zu unterstützen, richtete der Verein im Jahr 1882 eine »Pfennigsparkasse« ein. Diese wurde nach einem furiosen Start wegen mangelnder Nachfrage schon im Jahr 1884 wieder eingestellt. Die Kunden konnten bei dieser Sparform angesparte Pfennigbeträge zu Vereinsmitgliedern bringen. Diese verwalteten das Geld und richteten, sobald mindestens eine Mark angespart war, bei der Göttinger Sparkasse Sparbücher ein. Die Sparbücher wurden den Sparern erst ausgehändigt, wenn dort ein Betrag von mindestens fünf Mark verbucht war. Der Vereinsvorstand nahm an, dass ab einer solchen Summe mit dem Geld gewissenhafter umgegangen und es nicht schnell wieder verausgabt werde. Allein die potentiellen Kunden wollten oder konnten sich dem strengen Reglement dieser Pfennigsparkasse nicht derartig unterziehen, dass sich diese Art zu sparen für sie gelohnt hätte.62 Für das erste Vereinsziel, dem Kampf gegen die Verarmung der Göttinger Bevölkerung, wurde die Stadt von dem Verein weitgehend in Pflegschaften genannte Bezirke eingeteilt, denen jeweils ein Pfleger vorstand. Damit bewegte er sich auf den traditionellen Bahnen der individualisierten Armenpflege. Zumindest teilweise fehlten einschlägige »Armenstraßen« in der Innenstadt Göttingens (z. B. Klein-Paris) bei den Aufzählungen des Vereins. Unter Umständen fanden sich dort nach Ansicht des Vereinsvorstandes schon keine »hoffnungsvollen« Armenfälle mehr. Die Zahl der Armenbezirke unterlag einer immer weitergehenden Reduzierung. Zu Anfang 1875 wurden 31 Pfleger auf zwölf Distrikte verteilt. Um ein vollständiges Elberfelder System aufzubauen wurden 30 Pfleger für das Göttingen dieser Zeit als notwendig erachtet.63 Damit hatte der Verein von der Zahl der Pfleger her das einzige vollwertige Elberfelder System dieser Zeit in Göttingen aufgebaut. Im Jahr 1886 hatte der Verein dagegen für 17 Pfleger einen eigenen Bezirk. Diese Zahl verringerte sich kontinuierlich bis auf neun Pfleger und Pflegschaften 62 Berichte über die Geschäftsthätigkeit 1884, GZ v. 29. April 1882 u. GZ v. 1. Mai 1882. Wehber, Zwischen Preußen und Hannover, S. 152 ff. Dort wird die »Pfennigsparkasse« ausführlich beschrieben. 63 GZ v. 17. August 1875.
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im Jahr 1910. Zusammen mit den Armenpflegern der Stadt und der evangelischen Kirchengemeinden entstand dann doch ein dichteres Netz von Armenpflegern.64 Die wesentlichen Instrumente des Vereins zur Bekämpfung der Armut waren zum einen »Ratschläge« und Stellenvermittlungen, zum anderen Geldzahlungen. Diese Instrumente gliederten sich in die schon vorhandenen und erprobten Formen der Armenpflege ein. Bei dem im Vergleich zum Haushalt der städtischen Armenkasse geringen Vereinsbudget hatte der Verein nach Meinung des Bürgermeisters Merkel aber eine nur geringe Wirksamkeit.65 Gegenüber dem Pyrmonter Bürgermeister hielt er es noch 1880 »für äußerst erwünscht […], daß sich in anderen Städten, wo solche Vereine noch nicht bestehen, solche ebenfalls bilden.«66 Die Erinnerungen des Bürgermeisters a. D. entsprechen nicht dem, was er zur aktiven Zeit dem Pyrmonter Bürgermeister mitteilte. Eventuell zeigt sich hier der Politiker, der auf eine gute Außendarstellung seiner Stadt bedacht war, eventuell haben spätere Ereignisse die Meinung Merkels umgestimmt. Jedenfalls gab er den finanziellen Aspekten der Armenpflege den Vorzug und ignorierte die Möglichkeiten der persönlichen Hilfestellungen. Insgesamt bedeutete diese Erklärung eine Misstrauenserklärung – zumal er sie im Jahr 1897 in seinem Rückblick traf – an den Verein und vielmehr noch eine Absage an die in den zeitgenössischen Fachdiskussionen so oft gepriesenen Vorzüge eines dichten Pflegernetzwerkes. Eventuell griffen bei Georg Merkel – einer Person, die das persönliche Durchregieren in einer als »persönliches Königreich« gesehenen Stadt bevorzugte – persönliche Motive. Eine zweite (modernere?, effektivere?) Armenpflegestruktur, die durch das dichtere Netz an Pflegern in Göttingen auf alle Fälle präsenter war als die tradierten Formen der Armenpflege konnte er nicht hinnehmen. Eventuell hat er den Verein gegen Verarmung und Bettelei nicht nur als Angriff auf seine Autorität als Bürgermeister, sondern auch als Angriff auf seine Person verstanden. Die einheimische unterstützungswürdige Bevölkerung wurde von dem Verein in Ergänzung der kommunalen Armenfürsorge mit Darlehen mit und ohne bestimmten Rückzahlungstermin unterstützt. Dabei konzentrierte sich der Verein auf Unterschichtenkreise, die noch nicht über die kommunale Armenpflege ihren Lebensunterhalt bestritt. Damit sollten Doppelunterstützungen vermieden und die Unterschichtler möglichst lange von den städtischen Kassen ferngehalten 64 Allerdings war dies durch den Rückgang an Vereinspflegern nicht so dicht, dass es eine wirkliche Verbesserung der Armenpflege nach sich gezogen hätte. Vgl. Wehber, Zwischen Hannover und Preußen, S. 154. Wehber stützt sich in diesem Teil seiner Studie sehr stark auf Zeitungsberichte und vernachlässigt weitere, leicht zugängliche Quellen zum Verein gegen Verarmung und Bettelei. 65 Merkel, Erinnerungen, S. 68. 66 StadtA Gö: AHR I H 27: Der Verein gegen Verarmung und Bettelei, auch Arbeiterkolonien und Verpflegungsstationen.
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werden.67 Teilweise wurden Darlehen auch »ohne Rückzahlungstermin« bzw. als »Geschenke« betitelt.68 Auch die geringe durchschnittliche Höhe und die geringe Gesamtsumme sprechen für »Geschenke« (siehe Diagramme 15 und 16). Inwieweit aber wirklich auf eine Rückzahlung verzichtet wurde oder aber inwieweit eine Rückzahlung auf »unbestimmt«, d. h. bis zur Zahlungsfähigkeit der Unterstützten gewartet wurde, bleibt offen. Kredite, die von ihren Empfängern nicht oder nur teilweise zurückgezahlt wurden, wurden nach mehreren Jahren nachträglich noch als Geschenk umgewidmet.69 Zwangseintreibungen von ausstehenden Geldern scheint es nicht gegeben zu haben. Die andere Form der Geldunterstützung war die der Darlehen mit bestimmten Zahlungsterminen. Die Grenzen für die verschiedenen Darlehensarten des Vereins scheinen insgesamt fließend gewesen zu sein. Nachdem der Verein 1884 die von ihm verwaltete Pfennigsparkasse eingestellt hatte schränkte er im Folgejahr auch seine Kredittätigkeit ein. Seitdem vergab er nur noch »hoffnungsvolle« Kredite. Dabei handelte es sich um Kredite, von denen man annahm, dass sie den Empfängern tatsächlich aus der Armut helfen konnten. Von der Mitte der 1880er-Jahre bis zur Mitte der 1890er-Jahre stiegen sowohl Zahl als auch Summe der gewährten Kredite auf ein Maximum an, um bis zur Auflösung 1910 auf ein absolutes Minimum zu fallen. Die Kreditentwicklung erweckt den Eindruck, als habe es tatsächlich keine Armut mehr in Göttingen gegeben. Ebenso könnten aber auch die bisher zu diesem Zwecke vorgesehenen Einnahmen – und mehr Geld als die Einnahmen betragen haben, wurde nicht verausgabt – für anderweitige Vereinszwecke (z. B. für die Herberge zur Heimat) verwendet worden sein. Tatsächlich zeigt das Rechnungsbuch des Vereins für die Jahre vor der Auflösung eine geradezu verheerende Rückzahlungsmoral: Die allerwenigsten Kredite wurden nach Plan zurückgezahlt. Sehr häufig dagegen wurden (Rest-)Schulden erst nach Jahren zurückgezahlt, um – teilweise noch am selben Tag – einen neuen Vereinskredit aufzunehmen. Dieses »Umschuldungsverfahren« oder diese »Dauerkredite« sind ein häufig wiederkehrendes Muster im Rechnungsbuch des Vereins. Meistens wurden solche Schulden später als »Geschenk« umgewidmet und als erledigt angesehen oder bei der Auflösung des Vereins als »Verlust« gebucht. Ähnlich sieht die Entwicklung aus betrachtet man die Entwicklung der durchschnittlichen Kredithöhen. 1875 betrug die durchschnittliche Höhe noch knapp 75 Mark, ein Jahr später noch knapp 60 Mark. Dies kann noch eine Folge der Gründerkrise gewesen sein: Der Verein versuchte, möglichst vielen Personen mit 67 StadtA Gö: AHR I H, 27. 68 Vgl. Berichte über die Geschäftsthätigkeit 1892, 1893 und 1900. 69 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. Wohltätige Vorschuß-Anstalt und Verein gegen Verarmung und Bettelei 7.
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seinen Krediten zu helfen und musste in Anbetracht seiner geringen Möglichkeiten die Summe kürzen oder den mangelhaften Rückzahlungen der Kreditnehmer anpassen.70 In der ersten Hälfte der 1880er-Jahre pendelte sich die Summe dann auf 20–40 Mark ein. Dies ist dann die Angleichung an die Kredithöhen der Wohltätigen Vorschuss-Anstalt und damit wohl auch eine Anpassung an die Verhältnisse und Bedürfnisse der Göttinger Unterschichten. Ein Kredit von 75 Mark, ja auch noch von 60 Mark kann in den Unterschichten noch als Investitionskredit angesehen werden. Mit den niedrigen Kreditsummen dagegen waren echte Investitionen kaum möglich. Es ist anzunehmen, dass die erste Kreditform den Ansinnen der noch idealistischen Vereinsmitglieder entsprach, die zweite Kreditform dagegen den Wünschen der Kreditnehmer. 3.000
mit Rückzahlungstermin
ohne Rückzahlungstermin
2.000 1.000 0 1875
1880
1885
1890
1895
1900
1905
1910
Diagramm 15: Vergebene Kreditsummen des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, 1875–1910 80
mit Rückzahlungstermin
ohne Rückzahlungstermin
60 40 20 0 1875
1880
1885
1890
1895
1900
1905
1910
Diagramm 16: Kredite des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, 1875–1910: durchschnittliche Summen
In seinen Bestrebungen, die Armut der Göttinger Bevölkerung einzudämmen, reagierte der Verein auf Armut verschärfende Situationen: Er verfolgte z. B. die Konjunktur in der Bauwirtschaft, in der viele Tagelöhner und Saisonarbeiter beschäftigt waren. Auch die Witterung wurde beachtet. So wurden in Folge des »langen und drückenden Winters« 1886 für 70 M Kohlen angeschafft. (Allerdings 70 Vgl. Wehber, Zwischen Hannover und Preußen, S. 149. 71 Berichte über die Geschäftsthätigkeit 1884–1910.
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ist unklar, wieviel Kohle welcher Qualität angeschafft worden ist; also ob flächendeckend bedürftige Haushalte mit einer nennenswerten Menge bedacht worden sind oder ob dies lediglich »ein Tropfen auf dem heißen Stein« war und diese Maßnahme mehr der eigenen Gewissensberuhigung diente.) Diese wurden an Bedürftige vergeben, die nicht von der Stadt bedacht wurden. Im Jahr 1891 stellte der Verein heraus, dass das letzte Jahr »wenig günstig für Arme gewesen sei« und er infolgedessen Geldgeschenke gemacht habe. Auch Krankheitswellen wie eine »Influenza-Epidemie« wurden in den Geschäftsberichten erwähnt.72 In diesem Fall sind aber direkte Auswirkungen ausgeblieben. Das zweite Vereinsziel war der Kampf gegen die Bettelei. Mit Bettelei wurden grundsätzlich nur fremde Durchreisende in Verbindung gebracht, die in Göttingen eine Zwischenstation auf ihrer Reise eingelegt hatten und dort Essen und Unterkunft benötigten. Vereinsmitglieder hatten das Recht und auch die Pflicht, Bettler von sich abzuweisen und diese den Institutionen des Vereins zuzuführen. Als Mitglieder konnten sie zudem Schilder mit der Aufschrift »Mitglied im Verein gegen Verarmung und Bettelei« an ihre Haustür anbringen. Der davon versprochene Nutzen war aber nicht immer vorhanden: Das Vereinsmitglied Professor Backhaus beschwerte sich im Jahr 1893 wegen der ihn heimsuchenden Bettler. Diese wagten es immer wieder, trotz entsprechender Schilder und außerhalb seiner ausgeschriebenen täglichen Sprechstunde in sein Haus einzudringen und ihn um Almosen zu ersuchen. Zudem scheinen sich Bettler durch diese Schilder veranlasst gesehen zu haben, dort »Inschriften unanständigen Inhalts« anzubringen. Dem Professor wurde daraufhin seitens der Polizei die Anzeige der betreffenden Personen empfohlen. Zudem sollte ein Polizist vermehrt auf das Haus achten.73 Professor Backhaus werden die vom Verein gezeigten Visionen von 4.000 über die Stadt herfallenden Bettler nicht geschreckt haben; er wurde schon von diesen Massen heimgesucht. Bis zum Jahr 1878, bis sich der Verein gegen Verarmung und Bettelei und die Herberge zur Heimat die Wanderarmen als Arbeitsgebiet erkoren, hatten die Bürger Göttingens vollkommen freie Hand, diesen zu geben oder nicht zu geben. Dies führte bei den Wanderarmen auf der einen Seite zu Hunger, auf der anderen Seite gleichzeitig zu Verhältnissen, die von den Bürgern als Überfluss qualifiziert wurden. Ab 1878 kümmerte sich dann der Verein gegen Verarmung und Bettelei gezielt um diese Personen. Dazu richtete er zuerst eine private »Arbeitsnachweisstelle« ein, in der freie Arbeitsstellen verzeichnet waren und an bedürftige Durch-
72 Berichte über die Geschäftsthätigkeit 1886, 1890, 1891 u. 1892. 73 StadtA Gö: Pol Dir Fach 24 Nr. 1.
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reisende vermittelt werden sollten.74 Die mittellosen Durchreisenden sollten sich das Geld für Essen und Unterkunft selber verdienen. Falls keine Arbeit vermittelt werden konnte, sollten Durchreisende von dem Verein nach einer Prüfung ihrer Lage unterstützt werden. Dazu gehörten Essen und Unterkunft in einer eigenen Herberge zur Heimat. Nur in Ausnahmefällen wurde aber auch die Beförderung aus Göttingen in Form einer Bahnfahrkarte unterstützt.75 Diese Art der Unterstützung wurde anfangs von der Stadt nicht gefördert. Bürgermeister Merkel ließ den Verein gewähren, »da […] von dem Verein keine städtischen Mittel für diesen Theil seiner Arbeit in Anspruch genommen wurden«. Er setzte die Wanderer mit Bettlern gleich und sah in dieser Art der Unterstützung eine Förderung des Bettelwesens.76 Mit dieser Sichtweise war Bettelei eine Handlung, die ausschließlich von Auswärtigen, nicht aber von Göttinger Armen begangen wurde. Anfang 1899, mit einem neuen Bürgermeister, änderte sich schließlich diese Haltung. Der Magistrat richtete eine eigene Arbeitsnachweisstelle ein, in welche die Wanderarmen verwiesen werden sollten. Die Startschwierigkeiten waren dann im Sommer des Jahres behoben: Auf Wunsch der Polizei ordnete der Nachfolger Merkels, Bürgermeister Calsow an, Bescheinigungen über mangelnde Arbeitsgelegenheiten an Einzelpersonen auszustellen. Allerdings ließen neue Schwierigkeiten nicht auf sich warten: Im Frühjahr 1900 gab es zwar freie Arbeitsstellen, aber die Wanderarmen blieben fern.77 Ab wann die Polizeidirektion so in die Arbeit des Vereins gegen die Bettelei mit einbezogen wurde lässt sich nicht mehr feststellen. Mit der Kontrolle durch die Polizei wurden die Wanderer vielleicht nicht gänzlich kriminalisiert, doch zumindest in die Nähe des Kriminellen gerückt. Um die Leistungen der Verpflegungsstation bei verstärkter Nachfrage und sinkenden Mitgliedsbeiträgen aufrecht erhalten zu können, erhielt der Verein ab 1887 einen Zuschuss von 450 M aus der Armenkasse. Die Notwendigkeit der Wanderarmenfürsorge in der Herberge zur Heimat war dann auch von den städtischen Behörden eingesehen worden. Dieser Zuschuss stieg kontinuierlich an, bis er 1909 auf 1.200 M angewachsen war.78 In diesem Vorgehen zeigt sich die Kooperation zwischen städtischen Behörden und privaten Fürsorgeinitiativen nach dem von Sachße aufgezeigten Muster: Die Stadt vergab Zuschüsse für Einrichtungen, die sie selber nicht unterhielt, und der Verein verrichtete dort die anfallenden Arbeiten. Die Kooperation wurde durch die verschiedenen Kontrollen der Polizeibehörde ergänzt. 74 75 76 77 78
StadtA Gö: Pol. Dir. XIII C, F. 68, Nr. 4. GZ v. 23. April 1878; GZ v. 5. Februar 1879. Merkel, Erinnerungen, S. 68. StadtA Gö: Pol. Dir. XIII C, F. 68, Nr. 4; StadtA Gö: Pol. Dir. XIII C, F. 68, Nr. 5. Berichte über die Geschäftsthätigkeit 1887, 1909.
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Der Verein gegen Verarmung und Bettelei
5.000 4.000
Wanderer
Verpflegungskosten
3.000 2.000 1.000 0 1875
1880
1885
1890
1895
1900
1905
1910
Diagramm 17: Verpflegte arme Reisende, 1884–191079
Pro Wanderer wurden ca. 0,50 M vom Verein ausgegeben. Diese Summe änderte sich im Lauf der Zeit nicht wesentlich, auch nicht zu einer »Stoßzeit« wie 1908. Die festen Kosten der Herberge zur Heimat scheinen in den Überlegungen dieses Vereins keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Eventuell lag dies an der Kooperation mit der Herberge zur Heimat: Die direkten Unterstützungskosten für die Wanderer hat der Verein getragen, die festen Kosten der Herberge der Trägerverein der Herberge. Auffallend an der Gesamtentwicklung ist die wellenförmige Entwicklung der verpflegten Reisenden und nachfolgend der Verpflegungskosten. (Vgl. Diagramm 17). Diese entspricht nicht dem allgemeinen Trend des Vereins, dem Niedergang. Die Wirtschaftskrise 1900/01 zeigte sich in den Wandererzahlen damit erst in den Folgejahren, die Krise 1907/08 scheint dagegen gleich voll durchgeschlagen zu haben. Wenigstens für die Entwicklung 1907/08 stehen die verpflegten Wanderer in der Göttinger Wanderarbeitsstätte als beispielhaft für das gesamte Deutsche Reich, sind doch für das nahe gelegene Nordhausen und das fernere Dortmund gleiche Entwicklungen festgestellt worden.80 Der Verein löste sich am 2. Juni 1911 auf. Die im Nachhinein in der Tageszeitung gelieferte offizielle Begründung war, dass der Verein »seinen Zweck erfüllt habe«,81 es also in Göttingen weder Armut noch Bettelei gebe. Dies war offensichtlich aber nur ein vorgeschobenes Argument. Im Rahmen der Errichtung einer städtischen Wanderarbeitsstätte wurde der städtische Zuschuss an den Verein für die Versorgung und Verwaltung der Wanderarmen gestrichen. Es sollten weiter aus Kosten- und Verwaltungsgründen keine weiteren Verträge mit der Herberge zur Heimat geschlossen werden. Diesen Anträgen schloss sich auch der Leiter 79 Berichte über die Geschäftsthätigkeit 1884–1910. 80 Vgl. Kaphengst-Kohlow, Soziale Kolonisation, S. 31 f. 81 Göttinger Tageblatt v. 3. Juni 1911.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
der Armendeputation, das Vereinsvorstandsmitglied Senator Carl Borheck an. In diesem Zusammenhang stellte der Stadtsyndikus die Existenz des Vereins gegen Verarmung und Bettelei in Frage.82 Der Verein stellte entsprechend fest, dass durch die Einrichtung einer städtischen Wanderarbeitsstätte der Verein in dieser Hinsicht unnötig werde. Das andere Arbeitsgebiet, die Bekämpfung der Armut in Göttingen, war danach mit der »wohlgeordneten städtischen Armenpflege« und der »reichlich geübten Vereins- und Privatwohltätigkeit« ebenfalls ausreichend abgedeckt.83 Der Verein stellte in den Vorjahren in beinahe jedem Jahresbericht seine Wichtigkeit heraus und machte auf seine Leistungen und die Gefahren bei seiner Auflösung aufmerksam. Für das Jahr 1909 wurde sogar festgestellt, dass »die Anforderungen jährlich wachsen«, gleichzeitig wurde aber eine »Sommerpause« bei der Unterstützung der Wanderburschen eingelegt.84 Natürlich war der Sommer die Jahreszeit, in der die Wanderer am wenigsten Unterstützung benötigten. Trotzdem bleibt zwischen den Verlautbarungen des Vereins und der ausgeübten Unterstützung – Sommerpause – ein Gegensatz. Für die »reichlich geübte Vereins- und Privatwohltätigkeit« fanden sich keine Anhaltspunkte. Der Verein gegen Verarmung und Bettelei war noch 1911 durch seinen allgemeinen Anspruch, der engen Anbindung an die Stadt und der mangelnden Alternativvereine der wichtigste Wohltätigkeitsverein Göttingens. Die Summe des Geldes, die zur »Bekämpfung« der Armut in Göttingen durch die Mitgliedsbeiträge eingenommen wurde, wies dagegen schon ab 1895 eine abnehmende Tendenz auf. Die Zahlen für die Versorgung fremder Reisender unterlagen einer ständigen Schwankung. Trotzdem scheint auch wegen der noch in den letzten Jahren immer wieder erfolgten Aufrufe zur Unterstützung des Vereins der eigentliche Grund zur Auflösung in der sinkenden Zahl der Pflegschaften und den abnehmenden Mitgliedsbeiträgen, die eine sinkende Zahl an Mitgliedern bzw. auch ein sinkendes öffentliches Interesse an der Arbeit des Vereins verdeutlichen, zu liegen. So wäre ein Vergleich zwischen der durchschnittlichen Spendenhöhe der Mitglieder und der Nicht-Mitglieder an den Verein im Anfangsstadium und im Endstadium von Interesse. Damit könnte sich die Akzeptanz der Arbeitsweise und der Ziele des Vereines innerhalb der Göttinger Bevölkerung zeigen lassen. Falls diese Akzeptanz stark zurückgegangen ist, ließe sich die reibungslose Umsetzung der »Auflösungsanordnung« der Stadt erklären: Der Verein hatte auch in den Augen der Göttinger nach 35 Jahren seine Schuldigkeit getan und wurde nicht mehr benötigt. 82 StadtA Gö: AHR I H, 22, Nr. 1. 83 Ebd. 84 Bericht über die Geschäftsthätigkeit 1909; StadtA Gö: Pol. Dir. XIII C, F. 68, Nr. 4.
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Die Herberge zur Heimat
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7.4 Die Herberge zur Heimat Die unerwünschte und strafbare Bettelei wurde seit der Frühen Neuzeit beinahe generell mit umherziehenden Personen in Verbindung gebracht. Die »üblichen« sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts: Industrialisierung, Wandel des traditionellen Handwerks, Verarmung geben hier die Erklärungsmuster vor. Die »unwürdigen« Bettler vergangener Jahrhunderte – das »fahrende Volk«, die »Zigeuner« – gerieten anscheinend außerhalb des bürgerlichen Blicks, ohne dass aber die Handlungsweisen dieser Gruppen in Vergessenheit gerieten. Nur waren es jetzt die »Handwerksburschen« oder die »Wanderarbeiter«, die eben die verbotene Bettelei durchführten. Auch führte eben dieses neue »fahrende Volk« zu den Diskussionen um die Neuordnung des Göttinger Armenwesens zu Anfang der 1870er-Jahre. Berichte über eine zunehmende Professionalisierung dieser Bettler bestätigten dabei die (Göttinger) bürgerliche Gesellschaft nicht nur in den schon vorhandenen Ressentiments, sondern ebneten den Weg zu weiteren Reglementierungen dieses Wanderwesens.85 Die Bemühungen, die Bettelei der Handwerksburschen und der Wanderarbeiter zu beenden, nahmen von Westfalen her ihren Ausgang. Unter Aufsicht und Mitarbeit Friedrich von Bodelschwinghs wurde hier ein festes Netz von offiziellen Wanderwegen mit Naturalverpflegungsstationen und Unterkunftmöglichkeiten errichtet. Diese Maßnahmen befanden sich während des Kaiserreichs in einem weit akzeptierten Rahmen.86 Die Wanderer hatten ein Wanderbuch oder eine entsprechende Bescheinigung mit sich zu führen, aus der zu ersehen war, dass sie die ihnen vorgeschriebenen Wege nicht verließen und wie sie sich in der letzten Unterkunft betragen hatten. Unterkunft und Verpflegung sollten gegen Geld oder gegen Arbeitsleistung geboten werden. Die Unterkunftmöglichkeiten sollten einen »christlichen« Charakter haben und sich von anderen kommerziellen Herbergen unterscheiden. Für sie etablierte sich die fest stehende Bezeichnung »Herberge zur Heimat«. In diesen wurde die Verpflegung und Unterkunft zum ortsüblichen Preis angeboten. Es gab die Möglichkeit, aber nicht die Pflicht, an verschiedenen Andachten teilzunehmen. Glücksspiel und Branntwein waren in diesen Herbergen grundsätzlich verboten. Damit waren schon zwei große Gefahren für die »Handwerksburschen« gebannt: sie wurden praktisch nicht weiter dem christlichen Glauben entfremdet, und sie kamen nicht mehr so schnell mit 85 Vgl. etwa Ostwald, Landstreicher, S. 22 ff. Dieses Buch ist nur zwei Jahre vor der Verschärfung der Regeln für Wanderarbeiter erschienen. 86 Vgl. z. B. Braun, Die Vagabundenfrage. Der Reichstagsabgeordnete Braun bezog seine Beispiele aus Württemberg.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
dem verrufenen Branntwein oder dem Glücksspiel in Berührung.87 Durch die Umsetzung dieser Bemühungen sah sich v. Bodelschwingh recht schnell als Sieger im »Kampf wider die Vagabundennoth«.88 Trotz der Verlautbarungen Bodelschwinghs war der Kampf aber doch nicht so schnell entschieden wie erhofft. Es lebten weiterhin Menschen auf den Straßen, es bettelten noch immer die Wanderer. Im Jahr 1907 wurde dann nach den Bodelschwing’schen Grundsätzen ein Wanderarbeitsstättenfürsorgegesetz auf Reichsebene erlassen. Der entsprechende Verein in Göttingen wurde schon im Februar 1872 gegründet. Die ersten acht Jahre seines Bestehens verbrachte der Verein mit dem Aufbringen eines Startkapitals und dem Finden und Herrichten eines passenden Hauses. Die Göttinger Herberge zur Heimat wurde dann im Jahr 1880 eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie eine starke Anbindung an die lutherischen Kirchengemeinden, maßgeblicher Vereinsvorstand war der Superintendent Brügmann. Schon in den ersten Wochen nach der Eröffnung herrschte ein starker Andrang, so dass die Bettenzahl von 18 auf 30 aufgestockt werden musste. Dadurch herrschte in dem Haus eine Enge, welche sogleich einen Neubau der soeben neu eröffneten Institution notwendig machte. Dieser Neubau wurde dann 1889 eröffnet.89 Diese massive Fehleinschätzung der benötigten Bettenkapazitäten seitens der Göttinger Bürger zeigt, dass das Problem der Wanderer und Wanderarmen in Göttingen lange Zeit einfach verdrängt wurde. Vielleicht konnte aber angesichts der Verdrängungstaktik der Armendeputation nicht sein, was nicht sein durfte: eine ausreichend große Herberge hätte die Stadtverwaltung vielleicht vorzeitig düpiert. Es zeigt sich aber auch, dass die Wanderer und die Wanderarmen besser waren als ihr Ruf: Sobald ihnen die Möglichkeit gegeben worden war, sich an die bürgerlichen Spielregeln zu halten, hielten sie sich auch daran. Mehr als einmal im Monat durfte die Göttinger Herberge zur Heimat von einem mittellosen Wanderarmen nicht besucht werden. Falls Wanderer dieses doch taten wurden sie dem städtischen Armenbüro und dem Armenarbeitshaus überwiesen. Die Wanderer hatten sich bei der Polizeidirektion zu melden und bekamen in der Herberge zur Heimat Essen und Unterkunft als Entgelt für dreistündiges Holzzerkleinern oder Steine klopfen.90 Bei der Aufnahme von Wanderern sollten in der Herberge – vermutlich aber schon auf der Polizeiwache – Wanderbuch und Wanderschein kontrolliert werden. Damit sollten die Wanderer im Hinblick auf ihren Willen, eine eigene Arbeit zu finden und dieser auch nachzugehen, kontrolliert werden.91 Allerdings 87 88 89 90 91
Perthes, Das Herbergswesen der Handwerksgesellen, S. 27 f., S. 32 ff., S. 38 f. Bodelschwingh, Der Kampf wider die Vagabundennoth, S. 2 f., S. 13. GZ v. 2. Juni 1881; GZ v. 18. November 1889. StadtA Gö: Pol. Dir. XIII C, F. 68 Nr. 4. StadtA Gö: Pol. Dir. XIII C, F. 69 Nr. 1.
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Die Herberge zur Heimat
lassen sich in den Aufnahmebüchern des Göttinger Armenarbeitshauses keine Hinweise auf zwangseingewiesene Wanderer finden. Wegen Übertretung gesetzlicher Bettelordnungen werden sie wahrscheinlich in die Provinzialarbeitsanstalt Moringen gekommen sein. Herberge zur Heimat, Polizei und Stadtverwaltung mussten in einer beinahe einzigartigen Weise miteinander kooperieren. Außerhalb der Stadt unterlagen die Wanderer der Polizeikontrolle, innerhalb der Stadt mussten sie sich selbständig an die örtliche Polizei wenden und wurden in der vereinsgeführten Herberge betreut. Umso stärker das Wandererwesen unter Kontrolle und Aufsicht gebracht werden sollte, desto stärker mussten sich Polizei und Kommunalverwaltung in die Herberge einbringen, bis sie schließlich eine eigene Wanderarbeitsstätte gründeten.92 18.000
Übernachtungen
16.000
Mahlzeiten
14.000 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000
0 1880
1885
1890
1895
1900
1905
1910
1915
Diagramm 18: Übernachtungen und Mahlzeiten in der Herberge zur Heimat 1880–1915
Die Göttinger Herberge zur Heimat kooperierte sehr stark mit dem Verein gegen Verarmung und Bettelei. Dieser sorgte sich um die mittelosen Wanderer. Das Verhältnis zwischen unterstützten Wanderarmen und Selbstzahlern ist nicht klar. Sind die angegebenen Übernachtungen inklusive der von dem Verein gegen Verarmung und Bettelei unterstützten Personen? Die Unterstützungen des Vereins gegen Verarmung und Bettelei sind aber sehr zyklenhaft (vgl. Diagramm 17). Diese Zyklen finden sich hier nicht in demselben Maße wieder. Eventuell lassen sich noch Ansätze dieser Zyklen verfolgen. Zudem wurde eine weitere, kommunale, Wanderarbeitsstätte errichtet. Auch dieses Ereignis spiegelt sich kaum in der Zahl der Übernachtungen und gar nicht in der Zahl der ausgegebenen Mahlzeiten wieder. Daher wird es wahrscheinlich für die mittellosen Wanderer eine besondere Kasse oder Kassenbuch gegeben haben. Diese befanden sich bis zur Errichtung der Wanderarbeitsstätte zusammen mit den zahlenden Wanderern in der Herberge zur Heimat. 92 Ebd.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
Insgesamt zeigt sich trotz der leichten Wellen ein beständiges Bild in den Übernachtungen. In die Herberge zur Heimat kamen nicht nur die vollkommen mittellosen Wanderer, sondern auch die verschiedenen sich auf der Walz befindlichen Handwerksgesellen und Wanderer mit einem festen Reiseziel. Bis kurz vor der Jahrhundertwende wurden in der Herberge zur Heimat mehr Mahlzeiten ausgegeben als Personen übernachtet haben. Dies kann zweierlei bedeuten: Bis zu diesem Zeitpunkt haben viele Gäste der Herberge mehrere Tage dort verbracht und entsprechend dort auch gegessen. So können pro Übernachtung wohl bis zu drei oder vier Mahlzeiten ausgegeben worden sein. Wenn man davon ausgeht, dass ein Übernachtungsgast mit Abendessen und Frühstück wenigstens zwei Mahlzeiten einnehmen sollte ist eine Verschlechterung des Verhältnisses Übernachtung:Mahlzeit doch ein Indiz für eine Verarmung der Wanderarmen. Sie haben auf Mahlzeiten verzichtet oder sich außerhalb der Herberge preisgünstigere oder bessere Möglichkeiten der Ernährung gesucht.
7.5 Die Pestalozzi-Schulstiftung Seit 1855 gab es in Göttingen eine »Pestalozzi-Schulstiftung«. Diese hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Erziehung von Kindern, »deren Erziehung in ihren Familien, sei es durch Verwaisung, durch völlige Verarmung oder durch Unfähigkeit der Angehörigen gefährdet oder bereits vereitelt ist«93, wieder in geordnete(re) Bahnen zu lenken. Dazu wurden diese Kinder aus ihrer bisherigen Umgebung entfernt und vorzugsweise bei in ländlichen Gebieten lebenden Pflegefamilien abgegeben. In Ausnahmefällen konnten diese Familien auch in kleineren Städten wohnen. Schwer erziehbare Kinder sollten in sog. Rettungshäusern untergebracht werden.94 Die Pestalozzi-Stiftung war lange Zeit das ausführende Organ der Kinderzwangserziehung der Göttinger Behörden.95 Die Zahl ihrer Schützlinge bewegte sich dabei zwischen 20 Kindern im Jahre 1879 und 48 Kindern im Jahre 1913. Ein Entwicklungstrend ist nicht festzustellen: in den Jahren 1889 und 1908 wurden jeweils 37 Kinder versorgt, 1905 dagegen waren es »nur« 24. Die Bevorzugung eines Geschlechtes ist ebenfalls nicht erkennbar. Mädchen und Jungen waren anscheinend gleichmäßig der Vereinspflege unterworfen gewesen.96 Die allgemeine Entwicklung und die Entwicklung im Waisenhaus hätten ein Übergewicht an Jungen vermuten lassen. Erziehungsprobleme waren in den Augen des Vereinsvorstands geschlechtsneutral; Mädchen konnten genau wie Jungen »ver93 94 95 96
Fünfundzwanzigster Jahresbericht über die Pestalozzi-Stiftung zu Göttingen. Statut der Pestalozzi-Stiftung in Göttingen. StadtA Gö: AHR I H, 20, Nr. 1. Jahresbericht über die Pestalozzi-Stiftung zu Göttingen 1875–1913.
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Die Pestalozzi-Schulstiftung
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wahrlosen«. Auffällig sind dagegen die Klagen des Vereinsvorstandes über die »Vorurteile, die man seinen Bestrebungen entgegenbrachte«.97 Diese »Vorurteile« sollen in den 1860er- und 1870er-Jahren die Arbeit des Vereines stark behindert haben. 1914 waren diese aber nur noch »in den Erinnerungen« vorhanden. Zu dieser Zeit schien sich die Pestalozzi-Schulstiftung im Gegensatz zum allgemeiner arbeitenden Frauenverein und dem Verein gegen Verarmung und Bettelei in keiner größeren Krise befunden zu haben. Zuschüsse der Armenkasse wurden wahrscheinlich nur zweckgebunden für einzelne Kinder gewährt, die ohnehin von der Armendeputation unterhalten werden mussten. Es konnten bis zu diesem Zeitpunkt keine pauschalen Zahlungen der Stadt an diesen Verein nachgewiesen werden. Auch die Pestalozzi-Schulstiftung arbeitete eng mit den weltlichen und geistlichen Armenbehörden der Stadt zusammen. Mehrere Vertreter der städtischen Armendeputation wie der spätere Oberbürgermeister Merkel, ab 1888 Senator Carl Borheck oder die Herren Wüstefeld und Kauffmann waren gleichzeitig im Vorstand des Vereines. Zum Vereinsvorstand gehörten zudem noch zwei Vertreter der evangelischen Geistlichkeit. Durchgängig war dies Pastor Dankwerts. Dieser stellte ab 1888 die (offizielle?) Verbindung zur Armendeputation her und löste darin den Superintendenten Brügmann ab. Zudem war ab 1888 auch der Superintendent Steinmetz im Vorstand des Vereins vertreten. Diese Verbindungen waren bewusst angelegt und wurden entsprechend gepflegt: Verließ ein Doppel- oder Dreifachmitglied Vereine oder Behörden, so wurde ein anderer Göttinger Bürger in diese »frei« gewordenen Mitgliedschaften gewählt bzw. eingesetzt. Mit genau diesen Überlegungen wurde eben im Jahr 1888 Pfarrer Dankwerts an die Stelle Brügmanns gesetzt.98 Diese personalen Verquickungen mit der Armendeputation verschafften dem Verein einen Überblick über ihre Klientel. Dies erlaubte ihm einen schnellen Zugriff auf die Kinder und wahrscheinlich durch die Autorität und die Macht der städtischen Ämter oder der Honoratioren begründet, eine weitgehend problemlose Unterbringung der Kinder auch gegen den Willen der Eltern. Es stellt sich auch hier die Frage, inwieweit es eine Trennung von Amtsperson und Vereinsperson (und Privatperson) gegeben hatte, bzw., wie eine solche wahrgenommen wurde. Aus der Sicht der Unterschichten könnte es damit ein generelles »die da oben« gewesen sein, egal zu welchem Verein oder zu welcher Behörde die anwesende Person gerade gehörte. Gegenüber den städtischen Behörden konnte der Vorstand der Pestalozzi-Schulstiftung wahrscheinlich damit argumentieren, dass die in Obhut zu nehmenden Kinder wohl bald vollständig 97 Fünfzigster Jahresbericht über die Pestalozzi-Stiftung zu Göttingen. 98 StadtA Gö: AHR I H 24, Nr. 1 Bd. 2.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
der städtischen Armenfürsorge und damit der Armenkasse anheimfallen würden, wenn der Verein nicht mit privaten Mitteln eingriffe.99 Die Pestalozzi-Stiftung hatte 1888 über 389 Mitglieder. Damit bewegte sie sich in der Größenordnung des Vereins gegen Verarmung und Bettelei dieser Zeit. So überrascht es nicht, dass in den Mitgliederlisten viele Personen doppelt auftauchen: auch diese waren nahezu identisch. Ebensolches kann auch über die Vorstände beider Vereine gesagt werden. Damit scheint es in Göttingen ein sozial engagiertes Milieu gegeben zu haben, dessen Kerngruppe Mitglied in beinahe jedem Armenfürsorgeverein war. Im Gegensatz zu dem Verein gegen Verarmung und Bettelei und dem Frauenverein wurde die Arbeit dieses Vereins von der Armendeputation nicht in Frage gestellt. Dies mag mit der besonderen Stellung der Kinder zusammengehangen haben. Bei der besonderen »Würdigkeit« dieser Gruppe und angesichts einer als unzureichend angesehenen Praxis der Armenpflege – zumindest für diese Gruppe – kam anscheinend gar nicht der Gedanke auf, dass dieser Verein zu entbehren sei.
7.6 Der Verein zur Fürsorge für entlassene Gefangene Ein »Verein zur Fürsorge für entlassene Gefangene« wurde in Göttingen erstmalig 1844 erwähnt. Der Verein wollte durch seine Arbeit »den Wiedereintritt von Gefangenen in geordnete redliche Erwerbsverhältnisse« fördern. Dazu wollte er den entlassenen Gefangenen in erster Linie Arbeit verschaffen und in der Anfangszeit Hilfe in Form von Arbeitsgeräten oder Nahrungsmitteln gewähren. Nur in Ausnahmefällen sollte Geld vergeben werden. Der Verein nahm das »Geldgeschenk«, bzw. die »Belohnung« der Gefangenen aus ihrem Arbeitsverdienst während der Haftzeit entgegen und verwendete diese für den Gefangenen oder zahlte sie ihm aus. Ab 1908 wollte sich der Verein auch um die Familienangehörigen der Gefangenen kümmern.100 Mit diesem Vorhaben weitete der Verein seine Tätigkeit auf eine bisher vernachlässigte Gruppe aus. Bis um 1900 lassen sich keine Anzeichen für eine Tätigkeit dieses Vereines finden. Erst ab diesem Zeitpunkt wendet sich der Vereinsvorstand zwecks Mitgliederwerbung an die städtischen Beamten. In einem ersten Versuch 1901 scheint diese Werbung keine überzeugende Wirkung gehabt zu haben. In einem zweiten, nahezu identischen Brief 1908 verweist er auf die schon in diesem Verein tätigen Personen wie den Oberbürgermeister Calsow, den Senator Borheck und auf einen Polizeiinspektor. Gleichzeitig bittet der Vorstand des Vereins die für die Armen 99 StadtA Gö. Altes Akten-Archiv. Wohlfahrt. 1. Armenwesen und Stiftungen 181. 100 StadtA Gö: AHR II A, 13 Nr. 2.
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Das Zusammenspiel der Göttinger Wohlfahrtsvereine
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pflege tätigen städtischen Organe um die Anzeige geeigneter Fälle.101 Auch wenn es bedeutend mehr verwahrloste Kinder für die Pestalozzi-Schulstiftung gegeben hatte als entlassene Strafgefangene, so scheint der Verein weder über eine ausreichende Mitgliederbasis und damit Geldmittel für die Vereinsarbeit verfügt zu haben, noch über eine größere Zahl an entlassenen Strafgefangenen, die sich den Bedingungen des Vereins beugen wollten. Nicht jede Vereinsgründung für Wohlfahrt erwies sich so als erfolgreich.
7.7 Das Zusammenspiel der Göttinger Wohlfahrtsvereine Die betrachteten Göttinger Vereine wirkten ohne Ausnahme mit der Armendeputation zusammen, so wie Emil Münsterberg es in seinem Idealbild entworfen hatte. Sie prägten dabei die Armenfürsorge in unterschiedlicher Weise: Von ihrer Stellung her erwiesen sich der Verein gegen Verarmung und Bettelei und der Frauenverein als beinahe allgegenwärtige Institutionen, die sich bei jeder kommunalen Hilfsanstrengung zu Gunsten der Armen beteiligen konnten. Demgegenüber war die Pestalozzi-Schulstiftung mit ihrer kleineren, speziellen Klientel für die Armenfürsorge unbedeutender, der Verein für entlassene Strafgefangene mit seiner beinahe »exklusiv« zu nennenden Zielgruppe nahezu unbedeutend. Um reisende Arme kümmerte sich die Herberge zur Heimat in enger Zusammenarbeit mit dem Verein gegen Verarmung und Bettelei, der Armendeputation und der Polizei. Insgesamt durchlebten die allgemein arbeitenden Wohltätigkeitsvereine Göttingens im Kaiserreich einen Niedergang: Der im Jahr 1875 gegründete Verein gegen Verarmung und Bettelei löste sich 1911 auf, der Frauenverein stellte nach und nach Aufgabenbereiche ein. Beide Vereine konnten ohne die städtische Armenverwaltung bzw. ohne das Geld der Armenverwaltung nicht auskommen. Der Frauenverein sah sich nach mehreren Jahren gezwungen, städtische Unterstützungen anzunehmen, der Verein gegen Verarmung und Bettelei wurde als ein »Unterstützungsverein« für die Armenverwaltung gegründet. Die Vereine mit festen Zielgruppen innerhalb der Stadt, Pestalozzi-Schulstiftung und Verein für entlassene Strafgefangene, sind von ihrem Wirkungsgrad kaum miteinander zu vergleichen. Es gab zum einen einfach mehr arme Kinder als Strafgefangene, zum anderen wurden Kinder als bedeutend unterstützungswürdiger angesehen als entlassene Zuchthäusler. Auch die Herberge zur Heimat machte diesen Niedergang trotz Ausweitung des Angebots für Wanderarme nicht durch. Die betrachteten Vereine kümmerten sich niemals gleichzeitig um dieselben Armengruppen: Der Verein gegen Verarmung und Bettelei wurde im Vor101 Ebd.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
feld durch Kredite tätig und kümmerte sich um auswärtige Bettler, die Herberge übernahm daneben die Betreuung der Selbstzahler. Der Frauenverein verschaffte armen Frauen ein Zubrot, kümmerte sich bei Krankheit um diese und erzog kleine Kinder und junge Frauen. Die Pestalozzi-Schulstiftung kümmerte sich um die Zwangserziehung von Kindern, der Verein für entlassene Strafgefangene um ebensolche und deren Familien. Diese Vereine scheinen sich untereinander keine Konkurrenz gemacht zu haben, ebenso wenig wie eine offizielle Zusammenarbeit zwischen den Vereinen stattgefunden hat, außer eben dem Verein gegen Verarmung und Bettelei und der Herberge zur Heimat. Auf der inoffiziellen Ebene muss es aber Zusammenarbeit gegeben haben: Das Bild der von Männern dominierten Vereine wurde nur durch einige wenige Personen geprägt: Senator Borheck z. B. war sowohl im Vorstand des Vereins gegen Verarmung und Bettelei als auch im Vorstand der Pestalozzi-Schulstiftung und Mitglied im Verein für entlassene Strafgefangene. Ähnliche Mitgliedschaften lassen sich auch für Superintendent Brügmann und Pastor Dankwerts wie auch für den Leiter der Polizeidirektion, Dietrichs, feststellen. Zudem gab es zahlreiche Doppelmitgliedschaften zwischen dem Verein gegen Verarmung und Bettelei und der Pestalozzi-Schulstiftung. Diese Männer, bzw. die teilweise ebenso engagierten Vereinspfleger, vergaßen ihre Doppelmitgliedschaften bei den einzelnen Armen nicht. Allerdings nutzten sie diese Position nicht aus, um Mehrfachunterstützungen zu vermeiden. Im Gegenteil: Sie organisierten vielmehr für die verschiedenen Fälle verschiedene Hilfen aus den unterschiedlichen Vereinsquellen. Damit ermöglichten sie einzelnen Armen in Notfällen das finanzielle Überleben. In diesem Zusammenhang muss nach der Motivation der einzelnen Personen gefragt werden, sich in vielen verschiedenen Vereinen zu organisieren, dort Mitgliedsbeiträge zu zahlen und für die Arbeit in diesen die eigene Freizeit einzusetzen. Persönliche Neigungen, Vorlieben, Mitleid etc. müssen, da sie mit den betrachteten Quellen nur schwer nachweisbar sind, dabei zunächst einmal ausgeblendet werden. Auffallend ist, dass der für die Armendeputation und die Armenkasse verantwortliche ehrenamtliche Senator in allen drei »Männer«vereinen vertreten war und sich zudem an den städtischen Suppenküchen beteiligte. Diese Tätigkeiten scheinen zu seinem Amtsverständnis gehört zu haben. Zur Führung des Göttinger Armenwesens war dieses Engagement unerlässlich. Weiteres Licht in dieses Dunkel bringt die Auflösung des Vereins gegen Verarmung und Bettelei: Der Verein wurde auf Anregung der Stadtverwaltung und unter Zustimmung des Vereinsvorstands abgeschafft. Die Mitglieder des Vereins könnten aus einem bürgerlichen Pflichtgefühl für »ihre« Stadt und »ihre« Stadtverwaltung Mitglied in den Vereinen gewesen sein. Damit zeigte sich der Verein gegen Verarmung und Bettelei als verlängerter Arm der städtischen Armenverwaltung. Die Mitglie-
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Das Zusammenspiel der Göttinger Wohlfahrtsvereine
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der zahlten in teilweise zwei (und mehr) Vereinen Beiträge, ohne aber ein weitergehendes Interesse zu zeigen. Sie bewiesen damit aber gegenüber den Armen der Stadt ein Verantwortungsgefühl. Gleichzeitig äußerten zumindest die Gründungsmitglieder der Vereine durch ihr privates Engagement der Armendeputation gegenüber eine gewisse Unzufriedenheit: Die Armendeputation hätte die Mitgliedsbeiträge sicherlich gerne in ihrer Kasse verbucht und die Arbeitsleistung der Vereinsmitglieder direkt für ihre Zwecke kanalisiert, sofern keine weiteren Mehrkosten dadurch entstanden wären. Spätere Vereinsgenerationen, sofern es diese überhaupt gegeben hatte, haben sich den vorgefundenen Gegebenheiten »nur« angepasst und sind in die Vereine eingetreten. Durch ihr Pflicht- und Verantwortungsgefühl gegenüber der Stadt konnten und wollten die Vereinsmitglieder Anregungen der »Obrigkeit« entsprechen und befolgten die Anregungen und die Anweisungen der Behörden anscheinend anstandslos. Zum Ende des Kaiserreichs hin waren die Vereine nur noch ein verlängerter Arm der kommunalen Armenverwaltung. Damit lässt sich die widerstandslose Streichung der Zuschüsse an den Verein gegen Verarmung und Bettelei und seine Auflösung erklären. Eventuell war dieses Verhalten ein Generationenphänomen. Eventuell wurde die Not der Unterschichten in den 1870er-Jahren als größer empfunden als in den späteren Jahrzehnten. Jedenfalls konnte der Verein seine Mitgliedsverluste offensichtlich nicht ausgleichen. Möglicherweise war die Einstellung der eingesessenen Mitglieder für potentielle Neuzugänge nicht attraktiv genug, und sie mieden diese Vereine. Die mit der Stadtverwaltung kooperierenden Wohltätigkeitsvereine boten kaum Anreize für das gesellschaftliche Leben ihrer Mitglieder. Falls politische Ideen oder Konzepte über diese Vereine wie bei der versuchten Einführung des Elberfelder Systems 1879 durchgesetzt werden sollten, waren diese Anstrengungen nur punktuell und kurzfristig zu beobachten gewesen. Als Geselligkeitsvereine dienten diese Vereine auch nicht: Die Vereinssitzungen liefen jahrelang anscheinend unter Ausschluss der Mitglieder nach ein und demselben Schema ab. Und auch als Zusammenschluss zwischen (altem) Handwerkerstand, Bildungsbürgern und städtischer Obrigkeit werden die Vereine nicht gelten können, allerhöchstens als Verteidigungsvereine gesellschaftlicher Positionen gegen Unterschichten und ihren Sozialismus.102 Die mit der Stadt kooperierenden Wohltätigkeitsvereine scheinen daher reine Arbeitsvereine gewesen zu sein. Eventuell haben die Unterschichten selbst zum Niedergang der bürgerlichen Fürsorgevereine beigetragen. Sie könnten, ähnlich wie in Mainz, sich dem Hilfsmodell der bürgerlichen Fürsorge verwehrt haben. Arbeitskämpfe und Streiks, die die bürgerlichen Schichten an »Klassenkampf« erinnerten, könnten ebenso 102 Vgl. hierzu Uhlendorf, Im Dienst der bürgerlichen Sozialreform, S. 852.
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Die Wohlfahrtsvereine in Göttingen
dazu beigetragen haben. Warum sollten aus bürgerlicher Sicht den Unterschichten, und dabei wurde nicht zwischen industriellem Facharbeiter und ungelerntem Tagelöhner unterschieden, »Wohltaten« erwiesen werden wenn sich diese undankbar zeigten und streikten? Sowohl der Verein gegen Verarmung und Bettelei als auch der Frauenverein konnten ihre Arbeit nicht ohne die finanzielle Hilfe der Armenverwaltung ausüben. Beide Vereine für sich waren nur ein bedeutender Teil des privaten Zweiges der Armenfürsorge. Sie organisierten als solche nicht quasi im Alleingang die gesamte Göttinger Armenfürsorge. Das Fehlen entsprechender Hinweise in dieser Richtung vor allem bei dem gut erforschten Frauenverein ist bedauerlich. Beide Vereine wurden von dem städtischen Magistrat in ihren Bemühungen nach Kräften vor allem finanziell unterstützt. Beide Vereine verwalteten andere private Gelder, wie z. B. der Verein gegen Verarmung und Bettelei die der HedwigStiftung und der Frauenverein die der Hugo’ische Schulstiftung. Beide Vereine verfügten über personelle Ressourcen, die der Armendeputation nicht zur Verfügung standen. Dafür hatte die Armendeputation das Geld, diese personellen Ressourcen effektiv auszuschöpfen. Trotzdem mussten beide Vereine ihre Arbeit einschränken. Die von ihnen übernommenen Aufgaben mussten von der Kommune übernommen werden. Teilweise war die Stadt Göttingen gezwungen, einmal gegründete Einrichtungen fortzuführen. Teilweise verdrängte sie wie bei der Errichtung einer Wanderarbeitsstätte die Arbeit der Vereine. Die Ausweitungen der kommunalen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Armenfürsorge sind damit teils erzwungen, teils aber freiwilliger Natur gewesen. Während des Kaiserreichs verschob sich die Arbeitsaufteilung zwischen privaten Vereinen und der städtischen Armendeputation zusehends zu(un)gunsten der Kommune.
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8. Die Armenpflege der Kirchengemeinden
Traditionell war Armenpflege eine im Rahmen katholischer Barmherzigkeit und Mildtätigkeit ausgeübte Angelegenheit der Kirchengemeinden. Mit der Einführung der Reformation wandelte sich das offizielle Bild des Armen als von einer von Gott gegebenen Prüfung und als Beweis der eigenen Barmherzigkeit hin zum »faulen Armen«. Gegen diese wurden zahlreiche, von der Masse aber weitgehend ignorierte Bettelverbote verhängt und Armenhäuser mit Zwangsarbeit usw. errichtet. In den wesentlichen Punkten unterschied sich die Armenfürsorge katholischer Länder nicht von der Armenfürsorge evangelischer Länder. Es galten überall die gleichen Normen.1 Während der gesamten Frühen Neuzeit hatten die Kirchengemeinden und mit ihnen die Geistlichen – egal ob katholisch oder evangelisch – einen bedeutenden Anteil an der Armenversorgung. Spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die offizielle Armenpflege aber mehr und mehr von kommunalen, weltlichen, Behörden übernommen.
8.1 Die Innere Mission als Vordenker in der Armenpflege Die Mitglieder der evangelischen Kirche fühlten sich im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung als neue – auch gesellschaftsprägende – Wirtschaftsweise und ihre Folgen mehr und mehr bedroht. Der Liberalismus, dem ein »geistloser Materialismus« nachgesagt wurde, und der Sozialismus, seine ebenfalls geistlos-materialistische Gegenbewegung, wurden hierbei neben einer immer wieder beklagten allgemein verbreiteten Gottlosigkeit als Hauptursachen angesehen.2 Als evangelische Antwort entstand dabei aus der »Erweckungsbewegung« die »Innere Mission« unter ihrem Vordenker Johann Heinrich Wichern. Die Innere Mission 1 2
Schmidt, »Gott wohlgefällig und den Menschen nutzlich«, S. 61–90; Schmidt, Religiöse Dimensionen der Armenfürsorge, S. 392. Fliegende Blätter 41 (1884), S. 233 ff.
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Die Armenpflege der Kirchengemeinden
ist als eine allgemeine evangelische Bewegung zu verstehen, die den evangelischchristlichen Glauben in der Gesellschaft wieder spürbar verbreiten wollte. Durch die weite Verbreitung des Gedankenguts der Inneren Mission kann kaum von einer Spaltung der evangelischen Gesellschaft gesprochen werden. Trotzdem wurde von offiziellen Stellen auf die Trennung zwischen Institutionen der Inneren Mission und der Landeskirchen geachtet. Es ist offen, wie diese Trennungen auf der alltäglichen praktischen Ebene ausgesehen haben. Auch wenn »Diakonie« oder »Sozialer Protestantismus« Mitte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend unbekannte Begriffe waren oder nicht mit dem weiten Feld der Armenfürsorge zusammengebracht wurden, wurden in der Inneren Mission die Grundlagen dafür angelegt.3 Breite, von den evangelischen Kreisen als nicht mehr christlich wahrgenommene Gesellschaftsschichten waren von Armut betroffen; entsprechend widmeten sich die Anhänger der Inneren Mission den Armen und der Besserung ihrer Lage.4 Diese »ungläubigen« Unterschichten orientierten sich aber – so die Ansicht der Inneren Mission – mehr an den sozialistischen Strömungen. Von diesen Strömungen und ihren Vertretern erhofften sie sich eher eine Besserung ihrer Lage als vom Liberalismus oder vom evangelischem Glauben. Entsprechend nahm in der Inneren Mission der Kampf gegen den Sozialismus einen breiteren Raum ein als der gegen den Liberalismus. Durch das Aufzeigen der praktischen »Liebe« der evangelischen Gemeinschaft in Form von verschiedenen Armenhilfen sollten sie wieder zurück in die Glaubens- und Sozialgemeinschaft der evangelischen Kirchen geführt werden. Trotzdem geriet nie der ebenso »unevangelische« Liberalismus gänzlich aus dem Blickfeld. Entsprechend ihrer Auffassung von Armenpflege und dem Wissen um die historische Bedeutung dieser hatten die Vertreter der »Inneren Mission« es anfangs schwer, die städtische, nicht-kirchlich-evangelische Armenpflege überhaupt zu akzeptieren. Es wurde den städtischen Behörden vorgeworfen, aus der falschen Motivation heraus zu arbeiten. Die Armen, so die Kritik, nahmen die Armenpflege zunehmend als Recht wahr und machten dieses Recht geltend. Eine Dankbarkeit der Empfänger für diese Geschenke, wie die Armenhilfe betitelt wurde, sei so nicht mehr zu erkennen. Auch würden lediglich materielle Dinge eine Rolle spielen und so auch Alkoholabhängige oder in wilder Ehe lebende Frauen unterstützt werden.5 Es würde nicht genügend auf die »geistige Versorgung« der Armen, also auf erzieherische Maßnahmen, Wert gelegt werden.6 So würden die unter städtischer Aufsicht lebenden Armen immer weiter »verkommen«, wenn 3 Kaiser, Diakonie als Sozialer Protestantismus, S. 25–34. 4 Ebd. 5 Fliegende Blätter 1 (1844), S. 96. 6 Hashagen, Die kirchliche Armenpflege.
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Die Innere Mission als Vordenker in der Armenpflege
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es keinen kirchlichen Einfluss gäbe. Diese oft wiederholte Behauptung wurde exemplarisch an dem kommunalen Armenhaus in »Bergholzhausen am Ravensberge« deutlich gemacht.7 Die Armen machten sich, so die allgemeine Befürchtung, durch die Armenpflege ein gutes und geruhsames Leben. Dieses gipfelte dann in unrealistischen Beschreibungen wie der von den Armen einer nordamerikanischen Stadt (deren Existenz von Lesern aus Deutschland auch nicht schnell nachgeprüft werden konnte): »Die Armen holten z. B. auf Kosten der Steuerzahler Bananen, Ananas, feinste Mischungen von Java- und Mokkakaffee, eingemachte Aprikosen, Hummer, Lachs, Gelee und Leckereien, die der untersuchenden Commission bisher noch ganz unbekannt waren.«8 Ähnliche Beschreibungen sind, in abgemildert-glaubhafterer Form, für das gesamte 19. Jahrhundert zu finden. Gegen diese Konzentration auf die »moralischen Aspekte« fand sich natürlich (Jahrzehnte später) auch eine Gegenmeinung: »Auch ein ernsthaft religiös gesinnter, fleißiger, tüchtiger Arbeiter muß zugrunde gehen, wenn er infolge der Wohnungsnot wiederholt obdachlos wird, oder wenn durch Krankheit er selbst am Arbeitsverdienst oder seine Frau an der Hauspflege gehindert ist«9 Die Kritik ist überdeutlich, nicht nur an den kapitalistischen Verhältnissen, unter denen die Unterschichten zu leben hatten, sondern auch an einer Konzentration auf die moralische Ebene in der Armenpflege. Die Rahmen- oder Ausgangsbedingungen müssten zuerst stimmen, damit diese religiöse Art der Armenpflege Erfolg haben könne. 1847 erfolgte in Deutschland eine ausführliche Rezeption der Ideen Thomas Chalmers zur kirchlichen Armenpflege, so auch in Göttingen (siehe S. 76). In diesem Jahr kam dessen Werk zu diesem Thema in deutscher Übersetzung heraus.10 Chalmers hatte als Prediger in Glasgow ein Armenpflegesystem, das auf der persönlichen Kenntnis und der intensiven Betreuung der Armen durch Armenpfleger beruhte, aufgebaut. Wenigstens Wichern als führender Kopf der Inneren Mission und Herausgeber der Fliegenden Blätter stand Chalmers, seinem Armenpflegesystem oder beiden zumindest skeptisch gegenüber.11 In der Folge wurden trotzdem in den evangelischen Kirchengemeinden Elberfelds sowohl Chalmers Prinzipien als auch die Prinzipien der Inneren Mission vollzogen: Verbindung von Lebensstil und Umfeld mit den Hilfen und ein engmaschiges Kontrollnetz. Das später weit 7 Fliegende Blätter 7 (1850), S. 196 f. Es gibt die Ortschaft »Borgholzhausen« in der Nähe des westfälischen Ravensbergs. Es ist nicht klar, ob »Bergholzhausen« absichtlich oder zur Anonymisierung unabsichtlich falsch geschrieben wurde. 8 Fliegende Blätter 50 (1893), S. 44 ff. 9 Flesch, Sociale Ausgestaltung der Armenpflege, S. 16. 10 Gerlach, Die kirchliche Armenpflege. 11 Fliegende Blätter 4 (1847), Sp. 209–Sp. 211.
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Die Armenpflege der Kirchengemeinden
verbreitete Elberfelder System hatte, so die »Triumphmeldungen« in den Fliegenden Blättern kurze Zeit nach Wicherns Einwänden, dort seinen Ursprung.12 Am Erfolg dieses Armenpflegemodells wollte man dann doch teilhaben. Während des zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten besonders die »Fliegenden Blätter des Rauhen Hauses« als Zentralblatt der Inneren Mission ein negatives Bild von den Armen: Kaum ein Bericht über einen Verein oder einen Armenbesuch, in dem nicht vor der prinzipiellen Unwürdigkeit, den Betrügereien und den Heucheleien seitens der Armen gewarnt werden. Nach diesen Berichten waren die Armen durch ihre »Faulheit«, »Gottlosigkeit«, »Liederlichkeit« oder »Trunksucht« selbst schuld an ihrer Armut. Selten wurde darauf hingewiesen, dass es viele verschiedene Arten von Armen – auch »gute« und »gottesfürchtige« – gab, dass viele Arme aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Armut »verbittert« seien, oder auch dass die Gründe für ihre Liederlichkeit usw. in einer schlechten Erziehung oder auch z. B. in ungeeignetem Wohnraum bestanden.13 Vereinzelt wurde noch die Verführung zur »Sünde« durch Zeitungsannoncen oder Plakatanschläge in Betracht gezogen. Als »Sünde« wurden »Tänze und Bälle und Lustbarkeiten und Schandbarkeiten« angesehen, »die auf Sonntag angekündigt sind«.14 Diese Veranstaltungen waren in mehrfacher Sicht aus christlicher Sicht zu verurteilen: Die Inhalte waren sicherlich nicht »kirchengerecht«, die Besucher gaben dafür ihr knappes Geld aus, der »geheiligte« Sonntag wurde profanisiert, ein bürgerlich geprägtes Familienleben wurde so verhindert und die Gottesdienste konnten nicht besucht werden. Durch die Verbreitung der Fliegenden Blätter in evangelisch-kirchlichen Kreisen sowie in den Kreisen der Inneren Mission und durch die vermutlich flächendeckende Präsenz von Pfarrern und anderen, die Innere Mission bejahenden Personen in ihren kommunalen Armenpflegeinstitutionen fand dieses Bild eine weite Verbreitung. Durch diese vielen negativen Berichte über Unterschichten und die Armen hatten die meisten Armenpfleger der Kommunen und Vereine eher das Bild der »schlechten« Armen als das der »guten« Armen vor Augen. Entsprechend werden sie zumindest bei Erstkontakten mit Personen aus diesem Umfeld diesen gegenüber eher misstrauisch eingestellt gewesen sein. 1869 wurde in den Fliegenden Blättern des Rauhen Hauses ein Rückblick auf die Anstrengungen in der Armenpflege gemacht: Es wurde dabei festgestellt, dass die Armut (und Gottlosigkeit) noch immer in den altbekannten Ausmaßen vorhanden und nicht zurückgegangen war. Als Konsequenz wurde eine Bündelung 12 Die Armenpflege der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Elberfeld, in: Fliegende Blätter 5 (1848), S. 87–92; Fliegende Blätter 10 (1853), S. 85–86. 13 Die Arbeitslosenstatistik des letzten Winters, in: Fliegende Blätter 50 (1893), S. 210–214; Oldenberg, Arbeitslosigkeit. 14 Auf der Gasse, in: Fliegende Blätter 7 (1850), S. 242–243.
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der kommunalen Armenpflege angedacht.15 Im Jahr 1874 wurde in den Fliegenden Blättern im Zuge der Gründerkrise von »Arbeitsstockungen« berichtet16, die ein Abgleiten vieler Menschen in die Armut zur Folge hatten. Erst ab diesem Zeitpunkt, erst mit dieser Krise, lässt sich eine allmählich verändernde Einstellung zu Armen und Armut beobachten: Es waren nicht mehr mangelnder Fleiß oder Liederlichkeit, sondern mangelnde Arbeitsgelegenheiten, die Armut hervorbrachten. Waren bis in die 1860er-Jahre hinein »andere« Ansichten zu Verarmungsgründen nur vereinzelt zu finden, so fanden zunehmend Gründe wie die beschriebenen »Arbeitsstockungen«, oder auch ungerechte und ungenügende Entlohnungen oder schlechte und überteuerte Wohnverhältnisse Eingang in die Diskussionen. Ebenso wurde auch ein Schwinden des Mittelstandes zugunsten der mittelosen Massen beobachtet.17 Hier fanden die Ängste vor dem eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abstieg einen Raum. Armut wurde zunehmend differenzierter betrachtet. Es wurden Arbeitslosigkeit und schlechte Entlohnungen als Armutsgründe anerkannt und verstärkt auch angeprangert. Der unwürdige und gottlose Betrüger ist aber immer das zu fürchtende und auszustoßende Schreckgespenst der Armenpflege im 19. Jahrhundert geblieben. Als eine der ersten »unschuldigen« Armengruppen wurden wandernde Handwerksburschen ausgemacht. Diese Erkenntnis stellte allerdings einen Widerspruch zu der Praxis der Armenpflege im Kaiserreich dar, wurden doch anscheinend nur diese auswärtigen Wanderer trotz der als ausreichend erachteten Hilfen mit »Bettelei« in Verbindung gebracht. In dieser Gruppe waren all jene zu finden, die aus den verschiedensten Gründen mit oder ohne Ziel von Stadt zu Stadt zogen, um Arbeit zu finden. Darunter waren dann nicht nur Handwerksburschen, sondern alle Arten von Arbeitern zu finden. Für diese Handwerksburschen, Arbeiter, Knechte etc. wurden »Herbergen zur Heimat« eingerichtet. In diesen sollten die Wanderer gegen Geld oder Arbeit eine gute Unterkunft und Essen, aber keinen Schnaps, finden. Diese Herbergen hatten als Institutionen der Inneren Mission einen christlichen Charakter, sollten aber für alle Personen offen sein. Ein religiöser Zwang sollte, nach Diskussionen, nicht ausgeübt werden.18 Die Herbergen waren sowohl in ihrer Ausstattung als auch in der Behandlung ihrer Gäste in etwa vergleichbar. Sobald eine Herberge von diesen Standards stark abwich wurde sie von den Listen und Verzeichnissen der Inneren Mission gestrichen. Dieses widerfuhr 1882 der Hanauer Herberge zur Heimat.19 Ab 1866 lassen sich diese Herber15 16 17 18 19
Über Organisation des Armenwesens, in: Fliegende Blätter 26 (1869), S. 313–320. Was soll geschehen gegen Arbeitsstockung, in: Fliegende Blätter 31 (1874), S. 9–14. Schröder, Armennoth und Armenpflege. Perthes, Über christliche Herbergen für wandernde Handwerksgesellen, S. 257–262. Herbergen zur Heimath, in: Fliegende Blätter 39 (1882), S. 24–25.
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gen zur Heimat flächendeckend im Deutschen Reich feststellen.20 Eine gewichtige Rolle in ihnen spielten die Herbergsväter und ihre Frauen. Sie waren als Verwalter dieser, nicht als Wirte gedacht. Idealerweise sollten sie aus dem Hamburger Rauhen Haus kommen und in allen Dingen des Lebens erfahren sein, so das Mitteilungsblatt der Inneren Mission, welches im Rauhen Haus gedruckt wurde.21 Hier zeigt sich die Rolle der Inneren Mission als Motor in der Professionalisierung der Sozialarbeit: die Brüder des Rauhen Hauses waren ausgebildet, mit den sozialen Randklassen umzugehen. Nebenbei – als nicht unbedeutendes Nebenprodukt – hatten die Brüder die Randklassen wieder dem evangelischen Glauben zuzuführen. Ein weiteres Feld der Inneren Mission findet sich in der sogenannten Fabrikfürsorge, den sozialen Maßnahmen einzelner Fabrikbesitzer. Hier wurden u. a. die sozialen Einrichtungen des Göttinger Woll- und Tuchproduzenten Hermann Levin von der Inneren Mission vorgestellt. Seine vielfältigen Anstrengungen in der Fabrikfürsorge – Krankenversicherung, Familienversicherung, Sparkasse mit Arbeitgeberunterstützung, Weihnachtsgeschenke – wurden als positives Beispiel für die Innere Mission dargestellt. Dafür allerdings wurde von den Arbeitern und Arbeiterinnen unbedingte Loyalität gegenüber Unternehmen und Fabrikherrn erwartet.22
8.2 Die Armenpflege der evangelischen Amtskirche Die evangelischen Landeskirchen erhoben ebenfalls Forderungen nach einer geordneten Armenpflege auf Basis der traditionellen Kirchengemeinden. Diese Forderungen werden sowohl Reaktion auf das Erstarken der Arbeiterbewegungen und der Sozialen Frage gewesen sein, als auch auf das Erstarken der Inneren Mission. In der Öffentlichkeit wurde die Konkurrenz der etablierten Amtskirchen zur populären Basisbewegung nach Möglichkeit nicht thematisiert. Nach der Kirchenvorstands- und Synodalordnung der Landeskirche Hannover war eine Armen- und Krankenpflege auf Basis der einzelnen Kirchengemeinden sogar vorgeschrieben.23 Eine erste »Ansprache des Evangelischen Ober-Kirchenraths« 1879 diesbezüglich scheint folgenlos geblieben zu sein.24 Bis um 1890 hat es aber in der Provinz Hannover keine derartige eigenständige Armenpflege gegeben. Die 20 Herbergen »zur Heimath«, in: Fliegende Blätter 23 (1866), S. 86–88. 21 Nachrichten aus dem Rauhen Hause, in: Fliegende Blätter 29 (1872), S. 86–88, Conferenz der Herbergsväter im Rauhen Hause, in: Fliegende Blätter 37 (1880), S. 269–279. 22 Knoke, Veranstaltungen persönlicher Fürsorge, Knoke, Veranstaltungen persönlicher Fürsorge (zweiter Bericht). Kritisch dazu: P. Kriedte, Die Kehrseiten der Wohltätigkeit. S. 85–91. 23 Kirchliches Amtsblatt Hannover 1890, S. 9 f. 24 Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt 1879, S. 25–35.
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Die Armenpflege der evangelischen Amtskirche
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ursprünglich für die kirchliche Armenpflege vorgesehenen Finanzmittel flossen bis in die 1890er-Jahre hinein überwiegend den städtischen Armenverwaltungen zu. Die Geistlichen wendeten sich der städtischen Armenpflege und den privaten Wohltätigkeitsorganisationen zu. Ab dem Jahr 1890 ist eine Neubelebung der kirchlichen Gemeindearmenpflege in der Provinz Hannover zu beobachten gewesen.25 Trotz der Sozialistengesetze wurden die Sozialdemokraten stärkste Reichstagspartei. Das königliche Landeskonsistorium wollte gegen diese Entwicklung eine Wiederbelebung der kirchlichen Armenpflege erreichen und verlangte eine Übersicht über die laufenden Aktivitäten. Ausschlaggebend für die Wiederbelebung war – so auch in der Provinz Hannover – die »Soziale Frage« gewesen.26 Zwei »Kämpfe« wurden auf diesem Gebiet ausgetragen: »Die Kirche wird siegen, welche zur Lösung der socialen Frage am meisten beiträgt« brachte der Fürsprecher der Inneren Mission in der Kirchenprovinz Hannover, der Abt des Klosters Loccum Gerhard Uhlhorn27, die Konkurrenz zur katholischen Kirche zum Ausdruck.28 Zum anderen war es die Angst vor »den Sozialdemokraten« und den quasi als Synonym dafür wahrgenommenen sittlichen und moralischen Missständen innerhalb der Unterschichten, die die evangelische Kirche zu der konzentrierten Wiederbelebung ihrer Armenpflege veranlasste. Diese Argumentation wird häufig für die sozialen Bestrebungen der Kirche angeführt und scheint damit wirkungsmächtig gewesen zu sein. Die schlimmsten Befürchtungen hatte das evangelische Milieu auch hier um die Auflösung der traditionellen Familien und Gemeinden, was einer »gottlosen Welt« Vorschub leisten würde. Für eine solche Auflösung wurden eben die »Sozialdemokraten« verantwortlich gemacht. Entsprechend war kirchliche Armenpflege als ein Programm zur Stärkung der Familien und Kirchengemeinden gedacht. Die kirchliche Armenpflege der hannoverschen Landeskirche sollte ebenso wie die »bürgerliche«, die weltliche, Armenpflege die individuelle Lage beachten.29 Die Armut wurde als eine von Gott gesandte Prüfung für die einzelne Person gesehen.30 Durch die Almosen sollte die schlimmste individuelle Not gelindert werden. Von Armut bedrohten Schichten sollte dadurch gezeigt werden, dass sich noch andere Institutionen um sie kümmerten und die Lösung der Sozialdemokraten zur Verbesserung der Lage, der Klassenkampf, für sie keine Alternative war. Die kirchliche Armenpflege sollte eine Angelegenheit der gan25 26 27 28 29
Rothert, Die innere Mission in Hannover, 1.–3. Auflage. Kirchliches Amtsblatt Hannover 1890, S. 9 f., S. 57 ff. Zur Person Uhlhorns vgl.: Kaiser, Gerhard Uhlhorn und die evangelische Kirche, S. 117–128. Uhlhorn, Katholicismus und Protestantismus, S. 1. Kirchliches Amtsblatt Hannover 1890, S. 9 f. u. S. 57 ff.; KKA Gö: Stadtsuperintendentur Göttingen. Akten. Liebes- und Fürsorgetätigkeit – Allgemeines –. 1891–1910. A 360. 30 Makowski, Diakonie, S. 41 ff.
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zen Gemeinde sein, wie es durch die Vordenker der Inneren Mission angedacht war. Diese selbstverständliche Einbindung der gesamten Kirchengemeinde in die Armenpflege zeigt den Einfluss der Inneren Mission auf die Landeskirche. Die Zusammenarbeit von Innerer Mission und Amtskirche auf dem sozialen Gebiet war üblich oder konnte wenigstens nicht getrennt werden. Geleitet wurde die kirchliche Armenpflege vom Kirchenvorstand, der für die Armenarbeit Pfleger aus der Gemeinde gewinnen sollte. Diese Pfleger sollten »disciplinirte, tactfeste, der Aufgabe gewachsene, geübte, d. h. mit einem Wort christliche Männer und Frauen« sein.31 Bei dieser Auflistung stellt sich aber die Frage, wie viele (Super) Frauen und (Super)Männer es mit all diesen Eigenschaften überhaupt gegeben hat. Oder anders: wie war die Gewichtung der Eigenschaften; welcher Mangel wurde am ehesten toleriert? Die Almosen wurden von Gemeindemitgliedern an Gemeindemitglieder gereicht, was eine Stärkung der Kirchengemeinde mit sich bringen sollte.32 Allerdings konnten die Rechte der Unterstützten mit dem Erhalt der kirchlichen Armenhilfe beschnitten werden: Ihnen konnte die Teilnahme an den Wahlen zu den Kirchenvorständen verwehrt werden.33 Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 1890 mindestens die Altpreußische Union, die evangelische Landeskirche Preußens in den Grenzen von 1866 sowie die sächsische Landeskirche, durch ihre Regierungen zu Anstrengungen auf dem Gebiet der Arbeiterfürsorge angehalten.34 Diese Aufforderung war einmalig.35 Damit wäre die Anordnung des hannoverschen Landeskonsistoriums nicht aus einer Eigeninitiative heraus entstanden: Es ist anzunehmen, das entsprechende Anweisungen auch an die übrigen Landeskirchen Preußens und des Reiches ergangen waren. Institutionell verortete sich die Armenpflege der evangelischen Kirche um 1890 zwischen der städtischen und der privatbürgerlichen Pflege. Sie wollte die privaten Vereine nicht verdrängen. Gegenüber der kommunalen Armenfürsorge, und speziell gegenüber den Vereinen, erhob die (Amts-)Kirche noch immer den Vorwurf einer unsachgemäßen Armenpflege, die in dem einen Fall zu wenig tut, um in anderen Fällen zu viel zu tun.36 Seitens der Kirchengemeinden sollte erst 31 Fliegende Blätter 10 (1853), S. 49 f. 32 KKA Gö: Stadtsuperintendentur Göttingen. Akten. Liebes- und Fürsorgetätigkeit – Allgemeines –. 1891–1910. A 360. 33 Kirchenvorstands- und Synodalordnung 1864, in: Kirchengesetze der evangelisch-lutherischen Kirche des vormaligen Königreichs Hannover, S. 17, 19. 34 Pollmann, Soziale Frage, Sozialpolitik und evangelische Kirche, S. 43 ff. Graf, Die Organisation der Inneren Mission, S. 309–317; Stedtler, Kirchliche Armenpflege in Leipzig, S. 317–338. 35 Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, S. 294. 36 Uhlhorn, Kirchliche Armenpflege in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, S. 10 ff.; Simons, Kirchliche Armenpflege, S. 1–14.
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eingegriffen werden, wenn die sittliche Einwirkung fehle oder die Vergabe der Hilfsmittel nach festen Grundsätzen ohne Berücksichtigung der individuellen Lage erfolge.37 Sie erhoben den Anspruch, die Arbeit der bürgerlich-weltlichen Armenpflege zu ergänzen. Mehr noch: sie wollte diese von der bislang praktizierten »Armutspflege« zu einer Armenpflege erweitern und die »innere Verkommenheit« der Armen beseitigen.38 In der Zeit von der Jahrhundertmitte an bis um 1890 war ein Wandel im Anspruch und in den Forderungen der evangelischen Kirchen geschehen: Erhoben sie Mitte des 19. Jahrhunderts noch einen Alleinvertretungsanspruch sowohl in der Form als auch in der Ausübung der Armenpflege (den sie allerdings schon zu diesem Zeitpunkt nie verwirklichen konnten), so platzierte sie sich um 1890 zwischen städtischer und Vereinsarmenpflege und kritisierte »lediglich« aus ihrer Sicht die Auswüchse dieser. Die evangelischen Amtskirchen hatten im 19. Jahrhundert durchaus noch den Anspruch auf eine eigene Armenpflege. Dieser wurde bis um 1890 allerdings kaum erfüllt. Die kirchliche Armenpflege hatte einen missionarischen Charakter: Den Armen sollten durch die kirchlichen Hilfen Alternativen zur Sozialdemokratie und dadurch wiederum der Weg zurück in den Schoß der Kirche gezeigt werden.
8.3 Die Armenpflege der evangelischen Kirchengemeinden in Göttingen Das überwiegend lutherisch geprägte Göttingen hatte im Kaiserreich vier lutherische Kirchengemeinden: St. Albani, St. Jacobi, St. Johannis und St. Marien.39 Für diese scheint bis zum Jahr 1866 die kirchengemeindlichen Armenpflege aus der Vermittlung von Geldern aus landesherrlichen Armenfonds oder Armenkassen bestanden zu haben. Nach der Eingliederung Hannovers als Provinz in das preußische Königreich sind diese Kassen anscheinend ersatzlos weggefallen. Allerdings haben einzelne Pfarrer wie die beiden Miede eine gewichtige Rolle in der städtischen Armenpflege oder beim Göttinger Frauenverein und später beim Verein gegen Verarmung und Bettelei gespielt. Auch wenn die Kirchengemeinden als solche keine Rolle gespielt hatten, waren Geistlichkeit und kirchlich geprägtes
37 Kirchenvorstands- und Synodalordnung, S. 43 f. 38 Schuster, Zusammenwirken staatlicher, kirchlicher und freiwilliger Armenpflege, S. 129–131, 137–139, 145–147. 39 Eine Ausweitung der Betrachtung auf die reformierte Gemeinde und die jüdischen Gemeinde hat sich hier nicht angeboten. Diese Gemeinden scheinen eine im Vergleich geringe Bedeutung gehabt zu haben. Zudem sind die Archivalien zur Armenfürsorge der jüdischen Gemeinde weitestgehend zerstört.
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Bürgertum in Vereinen und in der Stadt während des gesamten 19. Jahrhunderts für die Unterschichten tätig. Die einzelnen Kirchengemeinden hatten sich in der Folgezeit nicht vollständig aus der Armenpflege zurückgezogen. Allerdings war die weitere Arbeit im System der kommunalen Armenfürsorge von der – teilweise recht bedeutenden – Privatinitiative ihrer Geistlichen abhängig. Geistliche arbeiteten freiwillig in verschiedenen Armenvereinen oder in der städtischen Armendeputation. Dadurch prägten sie das Bild der städtischen oder der Vereinsarmenpflege Göttingens und wahrscheinlich auch das der engagierten wohltätigen Geistlichen, nicht aber das Bild einer wohltätigen evangelischen Kirchengemeinde. Diese Privatinitiativen geschahen aus dem Berufsethos der Pfarrer, eventuell aus dem Gedankengut der Inneren Mission, auf alle Fälle aber aus ihrem bürgerlichen Selbstverständnis heraus.40 Ebenso waren die bürgerlichen Göttinger Frauen im »Frauenverein« tätig, der weit über die Grenzen der Stadt Berühmtheit erlangte.41 Die Privatinitiativen der Pfarrer in der Armenpflege sind grundsätzlich von der Arbeit der Kirchengemeinden auf diesem Gebiet, die letztendlich wieder auch nur mit den Pfarrern möglich war, institutionell zu trennen; durch den Gedanken der Innere Mission auf personaler Ebene aber gleichzeitig wieder zusammenzuführen. Eine methodisch saubere Trennung ist damit ausgeschlossen. Auf dieser praktischen Ebene werden die Probleme zwischen Amtskirche und Innerer Mission beinahe bis zur Bedeutungslosigkeit verkleinert. Die Arbeit der Göttinger Wohltätigkeitsvereine wurde von den evangelischen Geistlichen Göttingens im Jahr 1887, also drei Jahre bevor sie eine eigene ergänzende Armenpflege einrichten mussten, als die »anerkennenswerteste Thätigkeit« beschrieben.42 Die Pfarrer und viele Gemeindemitglieder waren Mitglied in diesen Vereinen. Eine Kritik an den Göttinger Wohltätigkeitsvereinen hätte auch eine Kritik an ihrer eigenen dort geleisteten Arbeit bedeutet. Die Verdrängung eines Vereins auf kommunaler Ebene durch die kirchliche Armenpflege war damit faktisch unmöglich. Die von der preußischen Landeskirche erhobene Kritik unsachgemäßer Armenpflege kann bei den vielfachen personellen Vernetzungen beinahe nur theoretischer Natur gewesen sein, arbeiteten doch gerade die Pfarrer sowohl in Vereinen, in Kirchengemeinden und in den städtischen Behörden maßgeblich und prägend mit. Allerdings kann die Kritik der Amtskirche ein Hinweis auf die unterschiedliche Praxis der Armenpflege, auf die individuelle Entscheidungsfrei40 Vgl. Janz, Bürger besonderer Art. 41 Grundsätzlich zum Frauenverein: Weber-Reich; zur überregionalen Bedeutung vgl. Arbeiten des Frauenvereins zu Göttingen, in: Fliegende Blätter 3 (1846), S. 2 ff. Durch diese Beschreibungen war der Verein einem überregionalen Publikum bekannt. 42 Mitteilungen über die elfte Bezirkssynode der Stadt Göttingen, S. 21.
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heit der Armenpfleger sein. Und hier verhielten sich die kirchlich-christlichen Armenpfleger, die eher aus einem christlichen Mitleidsgefühlheraus heraus handelten (die Notlage der Menschen in ihrer Umgebung lindern wollten), signifikant anders als die Armenpfleger, die eher aus einem bürgerlichen Verantwortungsgefühl heraus handelten (und sich eher der städtischen Gesellschaft und nicht zuletzt der Stadtkasse gegenüber verantwortlich fühlten). Für die kirchliche Krankenpflege in Göttingen gab es ab 1866 zwei Diakonissen des Henriettenstifts Hannover. Die Diakonissen kümmerten sich um Kranke, ohne dafür eine sonst übliche Bezahlung zu fordern. Im Jahr 1870 erhielten die Diakonissen mit dem Stift Bethlehem eine feste Wirkungsstätte. Das Stift Bethlehem wurde in direkter Konkurrenz zu dem katholischen Stift St. Mariahilf gegründet. Die Zahl der evangelischen Diakonissen wuchs bis zum Jahr 1914 auf zwölf an.43 Die Diakonisse Sophie Schwabe war ab 1909 auch die erste Frau in der Armendeputation Göttingens. Allerdings war sie weder in einem Armenbezirk als hauptamtliche und eigenverantwortliche Pflegerin eingeteilt, noch lässt sie sich als Helferin in einem Armenbezirk nachweisen. Vielfach wurden schon vor der Neuorganisation der kirchlichen Gemeindearmenpflege bürgerliche, d. h. weltliche Vereine zur Inneren Mission gezählt. In Göttingen waren dies der Frauenverein und die vom Verein gegen Verarmung und Bettelei geführte Herberge zur Heimat.44 Da alle Wohltätigkeitsvereine im Sinne der »christlichen Nächstenliebe« wirkten – wie immer diese »Nächstenliebe« sich gezeigt hat – oder in ihren Reihen Geistliche hatten, stellt sich die Frage, inwieweit solche Vereine nicht zur Inneren Mission gezählt haben könnten. So hatte der Verein gegen Verarmung und Bettelei Geistliche unter den Mitgliedern und im Vorstand; ein Teilbereich seiner Aktivitäten, die Wanderarmenfürsorge, wurde als zur Inneren Mission zugehörig angesehen, er selber aber fehlt in den einschlägigen Aufzählungen der Fliegenden Blätter des Rauhen Hauses, wird aber in den Schilderungen zu den Tätigkeiten der Inneren Mission in der Provinz Hannover erwähnt. Sowohl der Rabbiner der jüdischen Gemeinde Göttingens als auch der katholische Priester waren aber Mitglied in diesem Verein. Hier wäre somit die Frage nach der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Innerer Mission und den Würdenträgern anderer Konfessionen in Organisationen der Inneren Mission zu stellen. Ebenso sollten die Bedingungen, die zur Aufnahme (oder Nicht-Aufnahme) eines Vereines in die Innere Mission geführt haben, hinterfragt werden.
43 Weber-Reich, Pflegen und Heilen, S. 55 ff.; GZ v. 18. Juni 1866. 44 Vgl. Arbeiten des Frauenvereins, S. 2; Fliegende Blätter 34 (1877), S. 302.
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Die Armenpflege der Kirchengemeinden
In der städtischen Armendeputation Göttingens sollte laut Statut stets ein Mitglied der Kirche vertreten sein,45 was auch immer der Fall gewesen war. Zwischen 1890 und 1914 waren es insgesamt drei Geistliche: Pfarrer Miede, Superintendent Brügmann und Pfarrer Dankwerts von 1888 an (bis 1916). Insgesamt zeugt das von einer großen Kontinuität in der Armenpflege der Kirchen und in der Zusammenarbeit von Stadt und Kirche. Dankwerts hatte als kirchliches Mitglied in der Armendeputation ab dem Jahr 1895 einen eigenen Armenpflegebezirk. Dieser Bezirk lag innerhalb seiner eigenen Pfarrgemeinde. Zudem war Dankwerts Mitglied im Waisenrat der Stadt, Sekretär der Pestalozzi-Schulstiftung und Mitglied im Verein gegen Verarmung und Bettelei.46 Die Verbindungen zwischen den Kirchengemeinden und der städtischen Verwaltung konnten durch die personalen Überschneidungen nicht vollständig abreißen. Die Kontakte zwischen Kirchengemeinden, überregionaler kirchlicher Verwaltung und städtischer Armendeputation waren aber auch nicht immer die besten. Bei der Neubesetzung der Verwalterstelle des Siechenhauses 1878 beschwerten sich Vertreter der Kirche, dass sie von der Neubesetzung aus der Zeitung erfahren mussten. Sie pochten hierbei vor allem auf eine reibungslose Übertragung der Geschäfte des Hauses. Zudem baten sie bei zukünftigen ähnlichen Angelegenheiten um eine Benachrichtigung. Diesen Wünschen wurde von der Armendeputation dann auch umgehend entsprochen bzw. es erfolgten entsprechende Zusagen.47 Selbst in einer Zeit, in der die Armenpflege der Göttinger Kirchengemeinden praktisch nicht existierte, hatte die evangelische Geistlichkeit ein Verantwortungsgefühl zumindest den würdigen Armen gegenüber. Die Mitglieder der städtischen Armendeputation sahen zu diesem Zeitpunkt aber keine Veranlassung, die Geistlichkeit exklusiv zu informieren oder gar an Entscheidungen teilhaben zu lassen. Für sie spielten die Kirchengemeinden ihrer Stadt, die letztlich ja ihre eigenen Kirchengemeinden waren, in der Armenpflege vor 1890 keine Rolle! In den 1890er-Jahren versuchten die Kirchgemeinden im Rahmen der Neuorganisation ihrer Armenpflege Klingelbeutelgelder und Stiftungsgelder, die mittlerweile an die städtische Armenkasse gingen, zurückzubekommen. Die Zahlungen der Kirche an die Stadt sind im Rahmen eines »Gewohnheitsrechts« getätigt worden. Trotz intensiver Suche konnte die Stadtverwaltung keine Berechtigungsurkunde vorgelegen, noch fanden sich bei den Kirchengemeinden Hinweise auf 45 Vgl. Armenordnung für die Stadt Göttingen; KKA Gö: Pfarrarchiv St. Marien Göttingen. Armenpflege A 2. 1865 –. A 362 I. 46 Göttinger Gemeindeblatt. Monatsblatt für die lutherischen Gemeinden in Stadt und Land Göttingen 1927, S. 16 f. 47 KKA Gö. Stadtsuperintendentur Göttingen, Akten Armenfürsorge – Werkhaus, Siechenhaus, Notstand 1847 –, 1772–1878, A 362, II.
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den juristischen Akt. Die Stadt erklärte aber, auf »die vorstehende Berechtigung nicht verzichten zu können.«48 Die Stadtverwaltung reagierte somit anfangs äußerst zurückhaltend auf diese neuen kirchlichen Bestrebungen, die für die eigene Armenkasse schließlich erst einmal einen Einnahmeverlust für eine »neue« und noch nicht erprobte Sache bedeutete. Bei diesen Verhandlungen ging es um die im Vergleich zum Gesamthaushalt der Armenkasse bescheidene Summe von 100–200 Mark jährlich für alle vier evangelischen Gemeinden zusammen.49 Der Streit um eine im Endeffekt derartig geringe Summe zeigt deutlich, dass die Göttinger Armendeputation nicht nur auf der Ausgabenseite – bei den Armenunterstützungen – auf Sparsamkeit bedacht war, sondern auch auf der Einnahmeseite auf beinahe jeden einzelnen Pfennig achtete. Diese geringe Summe zeigt auch, dass die Armenpflege der Kirchengemeinden der städtischen Seite oder den Vereinen keine Konkurrenz machen konnte. Sie war als eine zusätzliche Hilfe für das spezielle Klientel ihrer »würdigen« Gemeindemitglieder gedacht. In der Folge wurden die gegenseitigen Zahlungen der städtischen und der kirchlichen Stellen immer weiter entworren, gegeneinander aufgerechnet und gegen größere einmalige Zahlungen abgelöst. Der Verwaltungsgang wurde so für beide Institutionen vereinfacht. Die städtischen Behörden versprachen sich letztendlich durch die Einbindung der Kirchengemeinden eine Entlastung ihrer Bemühungen in diesem Bereich.50 Entsprechend machte sie auch das Angebot einer Zusammenarbeit, um Doppelunterstützungen zu vermeiden. Die Zusammenarbeit verlief aber nicht immer zur Zufriedenheit der städtischen Armendeputation. Trotz wiederholter Beschwerden auch an das Landeskonsistorium in Hannover wurden von den Kirchengemeinden Personen unterstützt, die in Göttingen noch nicht den Unterstützungswohnsitz erlangt hatten. Erst nachdem diese die Zeit bis zur Erlangung des Unterstützungswohnsitzes in Göttingen überdauert hatten, sollen sie sich an die städtischen Armenpfleger gewendet haben und mussten anschließend aus der städtischen Armenkasse unterstützt werden. Dieser Disput währte ohne eine Lösung bis in den Weltkrieg hinein. Umgekehrt ging den kirchlichen Armenpfleger ein schriftliches Verzeichnis der städtischen Empfänger von Armenhilfen zu und mündlich wurden sie über die »verschämten« Armen aufgeklärt.51 Die Kirchengemeinden Göttingens unterstützten Arme also ohne die (ohnehin nicht sehr ausgiebigen) Gesetze zu beachten. Sie scheinen sich so vielfach um Perso48 StadtA Gö: AHR I H 5, Nr. 1; KKA Gö: Pfarrarchiv St. Johannis Göttingen. Akten Kollekten, Klingelbeutel, 1814–1949, A 361.1 49 StadtA Gö AHR I H, 5, Nr. 1. 50 KKA Gö, Pfarrarchiv St. Jacobi Göttingen. Armen- und Krankenfürsorge. 1815–1910. A 362, I; Pfarrarchiv St. Johannis Göttingen. Akten Kollekten, Klingelbeutel, 1814–1949, A 361.1. 51 KKA Gö: Stadtsuperintendentur Göttingen, Akten Armenfürsorge, 1562–1916, A 362 I.
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nen gekümmert zu haben, die durch das Netz der städtischen Armenpflege, das Netz des Unterstützungswohnsitzgesetzes, gefallen waren. So erfüllten sie ihren Anspruch, die städtische Armenpflege zu ergänzen – dies allerdings in einer von den städtischen Behörden nicht gewünschten Weise. Bei den vielfältigen personalen Überschneidungen zwischen den Armenpflegern der städtischen Behörden, der Kirchengemeinden und der privaten Vereine ist die individuelle Motivation der Armenpfleger für dieses Verhalten zu problematisieren: In Einzelfällen sind durchaus gelungene Täuschungen durch die Unterstützten anzunehmen, doch rechtfertigen diese wohl kaum die fortgesetzten Beschwerden seitens der städtischen Behörden. Oder waren die städtischen Behörden derart kleinlich? Eine andere Möglichkeit für die kritisierten Unterstützungen könnten die mangelhaften Recherchen der wenigen ehrenamtlichen Pfleger sein. Da aber die gesamte Armenpflege Göttingens auf ehrenamtlicher Basis ruhte, und diese ehrenamtlichen Pfleger oftmals noch andere zeitraubende berufliche Tätigkeiten hatten, wäre dies eher ein allgemeines Problem der Armenpflege im 19. Jahrhundert, was aber so die fortgesetzten Beschwerden an die Kirchenobrigkeit wiederum nicht rechtfertigen würde. Vielmehr scheinen die Armenpfleger die Unterstützungen bewusst vergeben zu haben, was für ein anderes – traditionelleres – Bild von den Armen und der Armenpflege spricht. Durch die persönlichen Überschneidungen der Pfleger in allen Armeninstitutionen ist aber wiederum die Frage nach entsprechenden Konsequenzen, der Rolle des Armenpflegers als Individuum im System der kommunalen Armenpflege und seine Gestaltungsmöglichkeiten zu stellen. In den Gemeinden St. Albani und St. Jacobi etablierte sich für die Armenpflege ein Elberfelder System. Die Größe der Pflegebezirke scheint dabei von Gemeinde zu Gemeinde variiert zu haben, ebenso wie die Zusammensetzung der Armenpfleger. Für die St. Albanigemeinde waren dafür im Jahr 1898 acht Personen zuständig, darunter ein Superintendent und ein Hilfsprediger. In der Gemeinde St. Jacobi dagegen wurde die Kirchenarmenpflege 1904/05 ausschließlich von Laien in fünf Bezirken mit sehr unterschiedlichen Größen betrieben.52 Für die St. Johannisgemeinde ist kein spezielles Armenpflegesystem überliefert. Bei der St. Mariengemeinde ist dagegen nicht einmal ein Beleg für eine kirchengemeindliche Armenpflege im Kaiserreich vorhanden. Der Pfarrer dieser Gemeinde, Dankwerts, war kirchliches Mitglied in der Armendeputation. Unter Umständen ist die kirchliche Armenpflege von Pfarrer Dankwerts bei der Ausübung seiner städtischen Armenpflegearbeiten von ihm gleich miterledigt worden. Da aus den übrigen Kirchengemeinden aber auch keine Klagen über die fehlende Armenpflege einer Gemeinde 52 KKA Gö: Pfarrarchiv St. Albani Göttingen. Armenpflege. 1750–1948. A. 362; KKA Gö: Pfarrarchiv St. Jacobi Göttingen. Armen- und Krankenfürsorge. 1815–1910. A 362, I.
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bekannt sind, ist davon auszugehen, dass es in allen verschiedenen Kirchengemeinden Göttingens eine Armenpflege gegeben hat. Sie war, da sie maßgeblich von verschiedenen Pfarrern mit verschiedenen Arbeitsschwerpunkten organisiert worden ist, eben auch entsprechend verschieden organisiert. Die Hilfen der Kirchengemeinden waren nicht auf bestimmte Gruppen, Unterstützungsfälle oder Gelegenheiten beschränkt. Lediglich die »Würdigkeit« der Armen musste als Bedingung gegeben sein. Die Hilfe variierte zwischen einer »Weihnachtsbescherung« aus Geld- oder Sachleistungen, zur Winterzeit einem Milchfrühstück für die armen Kinder der jeweiligen Gemeinde, und der Unterstützung von »Hausarmen«. Bedürftige Kinder wurden gelegentlich sogar zu Kuren verschickt.53 Den kirchlichen Vertretern war bewusst, dass sie im Vergleich zu den städtischen Organen nur »bescheidene Ziele« verfolgen konnten. Entsprechend wollten und konnten sie nur bei plötzlich auftretenden Notfällen, bei »verschämten Armen« oder Konfirmanden für eine finanzielle Hilfe sorgen.54 Armenfälle, die einer dauernden materiellen Unterstützung bedurften, wurden an die städtischen Armenpfleger weitergemeldet, ohne sie aber zwangsläufig aus der kirchlichen Hilfe zu entlassen.55 Die kirchliche Armenpflege wurde auch bei größeren finanziellen Investitionen um Hilfe gefragt. So liegt ein Antrag eines Fuhrunternehmers an die St. Jacobigemeinde um einen Kredit von 50 Mark als Anzahlung für ein Pferd vor. Ein Armenpfleger der Gemeinde lehnte diesen Antrag nach einer genauen Untersuchung der Würdigkeit ab (vgl. S. 69 f.). Ein anderes Mal (1896) wurde der Superintendent Steinmetz um einen Kredit von 300 Mark zur Ratentilgung für ein Haus von einem Maler mit sieben Kindern gebeten. Der Superintendent, der zugleich im Verein gegen Verarmung und Bettelei war, bewilligte dem Maler 123 Mark.56 Beide Hilfsanträge wurden ohne erkennbare Hinzuziehung anderer städtischer Institutionen und Vereine geprüft und vergeben. Eventuell waren einzelne Pfarrer oder wie in diesem Fall Superintendenten mit ihren anderweitigen Aufgaben und Verpflichtungen derart beschäftigt, dass sie für eine gründliche Überprüfung einzelner Anträge keine Zeit aufbringen konnten oder wollten. Auch hier wird ein großes Problem der ehrenamtlichen Arbeit deutlich: Die ehrenamtlichen Pfleger mussten sich, neben ihren Armen, auch noch um ihren eigentlichen Erwerb kümmern. Und die Erwerbsarbeit der Armenpfleger hatte Vorrang. Dabei scheint im Zweifelsfalle die allseits geforderte »fachgerechte« Versorgung der Armen auf der Strecke geblieben zu sein. 53 KKA Gö, Pfarrarchiv St. Jacobi Göttingen. Armen- und Krankenfürsorge. 1815–1910. A 362, I. 54 Protokoll der siebzehnten ordentlichen Bezirkssynode der Stadt Göttingen vom 21. September 1899, Göttingen o. J., S. 27. 55 KKA Gö, Pfarrarchiv St. Jacobi Göttingen. Armen- und Krankenfürsorge. 1815–1910. A 362, I. 56 Ebd.
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Die kirchliche Armenpflege war trotz aller geleisteten Hilfe nicht an dem tatsächlichen Bedarf der Armen ihrer Gemeinde orientiert. Sie richtete sich nach den für die Armenpflege vorhandenen Mitteln. Sobald z. B. eine Hausarme – wahrscheinlich eine Arme, die zu Hause gelebt hat – verstorben war, musste eine »neue« würdige Hausarme gefunden werden, die dieses Geld bekommen sollte.57 Oder: Erst wenn eine Hausarme verstorben war, konnte eine andere hilfsbedürftige Frau unterstützt werden. Damit arbeitete die kirchliche Armenpflege an dem tatsächlichen Bedarf letztendlich vorbei. Es blieben immer wieder Personen, die vergleichbar arm und vergleichbar würdig waren, ohne eine Hilfe der Gemeinden. Die evangelische Kirche hatte im 19. Jahrhundert noch den traditionellen Anspruch einer Armenpflege auf der alleinigen Basis der Kirchengemeinden. Die maßgeblichen Diskussionen um das Bild der Armut, um Armenpflege und Arme kamen vorwiegend aus den kirchlichen Kreisen und wurden vorwiegend in ihren Publikationsorganen beschrieben. Anderen Institutionen wurde schlicht die Fähigkeit zu einer wirkungsvollen Armenpflege abgesprochen. Allerdings fehlte diesem Anspruch – mit regionalen Unterschieden – bis 1890 beinahe vollständig die Umsetzung. Bis dahin lassen sich nur die vielfältigen Aktivitäten ihrer Geistlichen und der Organisationen der Inneren Mission feststellen. Erst durch die von der Preußischen Regierung angestoßenen Forderungen des Landeskonsistoriums entwickelte sich in der Provinz Hannover, und damit auch in den Göttinger Gemeinden, wieder eine Gemeindearmenpflege. Diese nahm eine eigenständige Rolle zwischen den Wohltätigkeitsvereinen und der städtischen Armenpflege ein. Zur Verfolgung ihrer Ziele hatte sie einen eigenen Etat. Sie war exklusiv nur für Gemeindemitglieder bestimmt, hatte aber einen missionarischen Charakter: Sie zeigte die Kirchengemeinden als einen Zufluchtsort für Notlagen. Damit versuchten die Kirchengemeinden die von ihnen beobachtete Auflösung von Familien und Kirchengemeinden zu stoppen und sozialistische Bestrebungen zurückzudrängen. Die Kirchengemeinden hatten so im System der kommunalen Armenpflege ab 1890 einen festen Platz eingenommen. Sie waren keine Vereine, in die jede Person eintreten konnte. Ein Eintritt in die evangelische Gemeindearmenpflege war immer mit einem Bekenntnis zur evangelischen Kirche verbunden. Für »Ungläubige«, egal welcher Religion oder Konfession, egal ob »Nehmer« oder »Geber« war dort kein Platz. Auch war durch die hierarchische Struktur von Kirchengemeinden, Diözese und Landeskirche ein Aufbau vorgegeben, der gegen eine Einordnung in die Vereine spricht. Im Gegensatz zu der städtischen Armenpflege aber waren die Kirchengemeinden keinem Zwang zur Hilfe unter-
57 Ebd.
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worfen. Für den Zeitraum von ca. 1890 bis 1914 sollte daher von einer »trialen« Wohlfahrtspflege gesprochen werden. Die Bedeutung der evangelischen Kirchengemeinden im System der Armenfürsorge ergab sich nicht aus den von ihr aufgewendeten Mitteln, dazu waren diese zu gering. Die Bedeutung ergab sich vielmehr aus den von ihr geführten Diskussionen um »würdige« und »unwürdige« Arme, um »unterstützenswerte« Arme und Personen, die als nicht »unterstützenswert« angesehen wurden. Diese Diskussionen und Ansichten wurden dann über ihre Mitglieder in die weiteren Kreise der Armenpflege getragen. Für die evangelischen Armen dagegen waren die evangelischen Kirchengemeinden eine erste Anlaufstation. Zur Überbrückung einer kurzzeitigen Not konnten die Gemeinden Hilfe leisten, bei langfristigen Problemen musste dagegen die Stadt eingreifen. Es hat zudem den Anschein, dass die Kirchen »verschämte« Arme unterstützte; Personen, die in großer Not lebten, die Armenfürsorge aber nicht in Anspruch nahmen. Hier zeigen sich die Auswirkungen des dichten Pflegernetzes und des Engagements der Pfleger, schafften sie es doch, diese Personen aufzuspüren.
8.4 Die Armenpflege der katholischen Kirche Ebenso wie die evangelische Innere Mission als eine soziale Bewegung gesehen werden muss, unter deren Mantel sich zahlreiche Vereine und Institutionen gründeten, muss auch die katholische Caritas gesehen werden: Auch hier gab es zahlreiche Vereine für alle möglichen Gruppen und Orden, deren Mitglieder sich auf Pflege Bedürftiger spezialisiert hatten, verschiedene Ausbildungsstätten, die sich aus den traditionellen Klöstern entwickelt hatten sowie Anstalten für Kinder, Kranke usw.58 Allerdings wurde hier die religiöse Seite sehr viel stärker thematisiert als bei der evangelischen Seite. Der zentrale Punkt der Nächstenliebe im katholischen Christentum wird in den Quellen bei der Herleitung des Begriffes »Caritas« und der Erläuterung dieser immer wieder betont.59 Hierbei wird auf die »richtigen« religiösen Komponenten gezielt. Durch die falschen Motive konnten Almosen den falschen »Charakter« bekommen.60 Die Hilfen sollten von jedem Menschen, der Hilfe leisten kann, gegeben werden. Empfänger dieser Hilfen sollen entsprechend auch alle Menschen sein, die Hilfe benötigen. Es wurde bewusst auf die immaterielle Hilfe geblickt: schließlich mussten auch arme Men58 Zur genauen Ausdifferenzierung und Zahl der katholischen Vereine etc. im Kaiserreich vgl. Liese, Wohlfahrtspflege und Caritas. 59 So z. B. Schaub, Caritas, S. 5 f., auch S. 228 f.; Ebenso Liese, Geschichte der Caritas, Bd. 1, S. 1 ff. 60 Schaub, Caritas, S. 12 ff., Liese, Geschichte der Caritas, S. 8
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schen eine Chance zur Rettung ihres Seelenheils haben: »Viel wertvoller als die materielle Gabe ist das persönliche Opfer, die herzliche Liebe, warme Teilnahme, treubesorgte Bemühung.« Trotzdem sollten aber klassische unwürdige Personen wie Bettler nicht einfach an Almosen gelangen können.61 Die Helfenden sollten nicht getrennt vor sich hin arbeiten, sondern sich organisieren und die Hilfen koordinieren.62 Dies erklärt dann auch die unüberschaubar große Zahl an katholischen Vereinen, Gesellschaften, Institutionen und Orden, auf die die evangelischen Propagandisten so neidvoll blickten. Die Konzentration auf die »geistige Pflege« der Armen, auf die Rettung ihrer Seelen, währte in der katholischen Kirche anscheinend während der gesamten Dauer des Kaiserreichs. Zudem zeigt sich ein gewisser Graben innerhalb des Katholizismus: während etwa der Reichstagsabgeordnete Franz Hitze versuchte, die Rahmenbedingungen für die Arbeiter zu ändern, blickten andere kaum über ihren religiösen Tellerrand hinaus. In Göttingen gab es seit Mitte des 18. Jahrhunderts die katholische Gemeinde St. Michael.63 Über eine Gemeindearmenfürsorge oder das besondere Engagement eines Geistlichen auf diesem Gebiet ist nichts weiter überliefert. Aufgrund der besonderen Lage in der evangelischen Diaspora Göttingens und des nahen, katholisch geprägten Eichsfeldes galt ein besonderes Augenmerk der Jugendfürsorge, besonders in gemischt konfessionellen Familien. Wenn in solchen Familien der Mann katholischer Herkunft war, hatte dieser das Recht, die Kinder nach der Konfession seiner Wahl zu erziehen. Und hier achtete die katholische Geistlichkeit sehr darauf, dass es die katholische Konfession war. Gleiches gilt für die unehelichen Kinder katholischer Mütter. Auch diese sollten nach katholischem Ritus getauft werden. Hier beschwerte sich der katholische Priester Pagel kurz vor der Jahrhundertwende 1900 bei der Leitung der Universitäts-Frauenklinik, dass uneheliche katholische Mütter entlassen werden würden, bevor er die Kinder hat (katholisch) taufen können.64 Trotz oder gerade wegen dieser Konzentration auf die Jugend kannte der Geistliche genau die Situation seiner Gemeindemitglieder und ordnete sie nach den allgemein akzeptierten moralischen Mustern ein. Kinder und Jugendliche, die in Verhältnissen aufwuchsen, die diesen Vorstellungen stark widersprachen, konnten 61 Schaub, Caritas, S. 8. 62 Ebd., S. 6 f. 63 Zur Entwicklung der katholischen Kirchengemeinde St. Michael siehe S. Wehking, »Ein jeder darf sich gleichen Rechts erfreu’n«. Wehking orientiert sich in ihrer Beschreibung vornehmlich an den Gesamtbestand des Pfarrarchivs der Gemeinde St. Michael. Vertiefungen einzelner Wirkungsbereiche der Gemeindearbeit sind an die Zufälligkeiten der Überlieferung gebunden, so dass für die einzelnen Epochen zwar die herausragenden Ereignisse bekannt sind, nicht aber die Alltagsgeschäfte wie z. B. die Armenfürsorge. 64 AUFK Gö: W 21.
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Die Armenpflege der katholischen Kirche
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auf Empfehlung des Geistlichen und einer entsprechenden genauen Begutachtung der Verhältnisse (und natürlich mit entsprechender staatlicher Unterstützung) in katholische Kinder- und Jugendheime eingewiesen und dort erzogen werden. Eventuell spielte hier das Fürsorgegesetz von 1900 eine entscheidende Rolle. Eine stärkere Rolle in der städtischen Armenfürsorge spielte die katholische Gemeinde erst mit der Gründung eines Elisabethvereins 1909. Auch wenn dieser von offizieller (städtischer) Seite keine Erwähnung erfuhr, sollte die Neugründung nicht unterschätzt werden: Die Gründung fiel in die Zeit des allgemeinen Niedergangs der bisherigen bürgerlichen Vereine im Fürsorgebereich. Der evangelisch dominierte, trotzdem von allen Konfessionen unterstützte, »Verein gegen Verarmung und Bettelei« befand sich schon in einem deutlichen Rückgang und sollte sich bald darauf endgültig auflösen und auch der Frauenverein war mittlerweile nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Elisabethverein besetzte so die entstehende Lücke und gab Göttinger Bürgern und auch Bürgerinnen ein organisiertes Betätigungsfeld. So wuchs die Mitgliederzahl beständig bis zum Ersten Weltkrieg, in dem der Verein seine Hochphase erlebte, auf rund 150 Personen. Für seine Arbeit orientierte sich der Verein an den städtischen Bezirken, für die er jeweils eigene Pfleger einsetzte; darunter auch eine Frau.65 Damit wäre hier die erste Frau in der Göttinger Armenpflege zu finden, die einen eigenen Bezirk selbständig betreuen darf.
65 Pfarr-Archiv St. Michael III. B. 9.b.
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9. Universität und Armenpflege
Die Göttinger Universität nimmt seit ihrer Gründung 1737 einen bedeutenden Platz in der bürgerlichen Gesellschaft Göttingens ein. Die Göttinger Professoren mit ihren Familien können durchaus als eine Art Vorreiter des Bildungsbürgertums gesehen werden. Zusammen mit den Studenten stellten sie einen vermögenden Teil der Bevölkerung. Studentische Verbindungen wie z. B. die Bremensia oder die Saxonia richteten kleine Stiftungen zugunsten der armen Göttinger ein, Professoren waren in den Vereinen gern gesehen. Aber auch die Universität als Institution war nicht aus den Bemühungen um die Unterschichten heraus zu denken. Die Theologische Fakultät betrieb ein Waisenhaus. Eine weitere derartige Einrichtung gab es in Göttingen nicht. Das Göttinger Klinikum versorgte in Absprache mit der Kommunalverwaltung die Kranken der Stadt stationär in ihren Einrichtungen und auch durch die ambulante Pflege in einer »Poliklinik«.1 Zum Teil erstattete die Stadt den Universitätskliniken die Kosten. Zum Teil wurden Arme von der Universität als Lehr- und Studienobjekte genutzt und dafür unentgeltlich behandelt (und während der Behandlungsdauer in warmen, trockenen Räumen verköstigt). Spätestens mit den Neubauten der Universitätskliniken ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Betreuungsverhältnis der Kranken zwischen dem Göttinger Magistrat und der Universitätsverwaltung auf festere bürokratische Füße gestellt.2 Trotz des Vertrages war diese Vereinbarung nicht ungetrübt. In der Folge häuften sich die gegenseitigen Beschwerden über die Behandlung der Kranken, die Aufnahme von Dienstboten und Lehrlingen sowie über die Höhe der Behandlungskosten.3 1 2
3
Vgl. Nolte, Medizinische Versorgung der Göttinger Stadtarmen, S. 131–157. Bekanntmachung die ärztliche Behandlung und Aufnahme hiesiger kranker Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten; Oesterley, Bekanntmachung über die Bekanntmachung des hiesigen Magistrats vom 23. Dezember d. J. die ärztliche Behandlung und Aufnahme hiesiger kranker Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten in das neue academische Hospital betreffend; StadtA Gö: AHR I H 9 Nr. 2. StadtA Gö: AHR I H 9 Nr. 2.
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Die Frauenklinik
Schon gleich bei der Gründung der Universität richtete man für die armen Studenten Freitische ein. An diesen wurden die unbemittelten Studenten dann verköstigt. Die Freitische wurden durch das Königshaus oder durch einzelne Städte oder Landschaften finanziert. Die Stadt Göttingen hatte zwar zur Gründung das Versprechen einer Freistelle, eines von ihr bezahlten Platzes, gegeben. Doch bis zum Jahr 1893 hatte sie dies noch nicht eingelöst.4
9.1 Die Frauenklinik Die Frauenklinik öffnete 1751 als erste Klinikeinrichtung ihre Pforten für die Göttinger Armen nach dem Prinzip »Anschauungsobjekt gegen Behandlung und Verpflegung«. Zumindest in den ersten 100 Jahren muss es Konflikte zwischen der Klinikleitung und den »Anschauungsobjekten« gegeben haben. Die »Objekte« verweigerten sich nach Möglichkeit den Klinikvorschriften, kamen erst sehr spät, teilweise schon ihre Kinder gebärend in die Klinik, so dass die Klinikleitung keine Möglichkeit mehr hatte, ihre Studenten zu rufen und medizinische Lehre zu betreiben.5 Um 1900 konnten Kinder sowohl in der Frauenklinik als auch in der Poliklinik medizinisch betreut durch Universitätspersonal geboren werden.6 Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich dieses Bild aber nicht mehr zeichnen. Der weitaus größte Teil der Patientinnen verhielt sich so, dass keine Beschwerden über sie überliefert sind. Sie kamen meist einige Tage vor der Geburt, bekamen ihr Kind und blieben einige Tage. Die Dienstleistungen der Göttinger Frauenklinik waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Unterschichten akzeptiert. Freie Kost und Logis scheinen in diesem Zeitraum ein nicht zu unterschätzender Faktor gewesen zu sein. In den Jahren 1853– 1887 wurden aus der aufgenommenen Gruppe der Göttingerinnen zwei Frauen schwanger entlassen, davon hatte eine Syphilis. Sechs weitere aus dieser Gruppe entliefen der Geburtsklinik. Dagegen wurden zwei Frauen des unrechtmäßigen Aufenthalts, der Simulation einer Schwangerschaft oder Krankheit, überführt. Fehlgeburten waren in der Geburtsklinik häufig. Vielleicht ist hier einfach auch die Klinikfunktion der Anstalt in Rechnung zu stellen: hier wurden auch »Risikoschwangerschaften« eingeliefert, die natürlich ein erhöhtes Fehlgeburtsrisiko hatten. Nur einmal wurde eine Anhäufung von Fehlgeburten in den Büchern bei 4 5
Knoke, Freitische an der Georg-Augusts-Universität, S. 160–164. Vgl. Schlumbohm, Die Patientinnen des Entbindungshospitals der Universität Göttingen, S. 324– 344; Schlumbohm, »Die Schwangeren sind der Lehranstalt halber da«, S. 31–62. In diesem Sammelband finden sich auch Hinweise zu den frühneuzeitlichen Geburtskliniken im räumlich nahen Kassel und dem etwas ferneren Braunschweig. 6 Oltrogge, Querlagen.
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Universität und Armenpflege
einer Patientin vermerkt: »abortiert mit einer gewissen Regelmäßigkeit jährlich einmal.«7 Hier hat sich eventuell ein Verdacht auf Abtreibungen geregt. Die meisten Kinder und Frauen überlebten ihren Aufenthalt in der Göttinger Geburtsklinik. Äußerst selten kamen die Mütter während Schwangerschaft oder Geburt ums Leben. Umso tragischer waren die Fälle, in denen solches passierte. So brachte eine Mutter eine Totgeburt zur Welt und verstarb selbst kurz darauf. Der Schreiber ließ es sich nicht nehmen, in das Eingangsbuch zwei Grabhügel mit Blumen zu zeichnen.8 Diese rührende Geste ist keine Selbstverständlichkeit. Dies ist die einzige derartige Zeichnung bei einem Todesfall. Damit kann die Zeichnung als Beleg für eine besondere Beziehung zwischen dem Verwalter und der Frau (und ihrem Kind) gelten. Der Verwalter zeigt hier halböffentlich eine einmalige Gefühlsregung. Mit der verstorbenen Person könnte ihn eine besondere Beziehung – wie immer sich diese gestaltet haben mag – verbunden haben. Ihren Aufenthalt in der Entbindungsklinik hätte er eventuell durch Ausnutzung seiner Spielräume anders gestalten können als bei anderen Patientinnen. Und Spielräume hatte er, gestattete er sich doch eine einmalige Zeichnung in das Aufnahmebuch, die nicht gestattet war und für die er sich eventuell verantworten musste. Insgesamt zeigt sich damit wieder die zentrale Position der Verwalter in den Anstalten. Die Kindsväter waren den Frauen meistens bekannt, bzw. die Frauen wussten, einen Namen anzugeben. Die meisten der angegebenen Väter stammten demnach aus der Göttinger Unterschicht: Handwerker, Tagelöhner, Arbeiter. Es zeigt sich aber auch Göttingen als Garnisonsstadt: niedere Militärränge wie Musketiere und Soldaten als Väter. Eine letzte große Gruppe der Väter stellte die Universität mit ihren Studenten. In seltenen Fällen waren Väter aus der Oberschicht angegeben. Nur in wenigen Fällen wurde Anonymität gewahrt, etwa »Ein Student in Göttingen, den ich auch kenne.«9 Die persönliche Bekanntschaft mit dem Schreiber des Entbindungshospitals verhalf dem Studenten, seinen Namen aus dem Aufnahmebuch herauszuhalten. Aber auch kommunale Prominenz schien zur Wahrung der Anonymität beizutragen: »hier distinguirte Persönlichkeit, soll verschwiegen werden«10 Die Namensnennungen scheinen, jedenfalls sobald der Vater nicht den Unterschichten entstammte, eine gewisse Verlässlichkeit gehabt zu haben, zahlte doch die Mutter eines Studenten Alimente für ihren Enkel (siehe Elise Hillebrecht, S. 198 f.). Bei den Vätern aus den Unterschichten sind aber durchaus noch weitere Erklärungen möglich: Eventuell kann hier die Anerkennung der Vaterschaft auch Ergebnis eines Aushandlungsprozesses für eine Verschleierung der wahren 7 AUFK Gö: Aufnahmebücher des Entbindungshospitals/der Frauenklinik Göttingen 1873–1882. 8 AUFK Gö: Aufnahmebücher des Entbindungshospitals/der Frauenklinik Göttingen 1864–1873. 9 AUFK Gö: Aufnahmebücher des Entbindungshospitals/der Frauenklinik Göttingen 1873–1882. 10 Ebd.
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Die Frauenklinik
Vaterschaft gewesen sein. Motive dafür sind natürlich vielfältig: Mögliche spätere Ehe und Absicherung, verschiedene finanzielle Motive, letztendlich sogar Liebe … Ab den 1880er-Jahren trat eine neue Gruppe in der Frauenklinik zu den Schwangeren hinzu: die Kranken. Wahrscheinlich waren dies Privatpatientinnen. Trotz unterschiedlicher Unterbringung – Privatzimmer versus Krankensaal – bestand nun doch die Gefahr, dass Klassenschranken auf den Krankenhausfluren aufweichen könnten. Mit einem Wechsel in der Leitung der Frauenklinik 1888 verschwanden auch die Privatpatientinnen. Diese waren nun im evangelischen Stift Bethlehem zu finden.11 Von nun an sind nur noch die Schwangeren nachgewiesen (siehe Diagramm). Damit waren die Klassenschranken uneingeschränkt wieder hergestellt, die Frauenklinik war wie zu ihrer Gründung den Unterschichten vorbehalten. Die Gesamtentwicklung der Entbindungen spiegelt das Bevölkerungswachstum Göttingens wieder. Bis in die 1890er-Jahre hinein gab es relativ sicher ca. 100 Geburten im Jahr, mal einige weniger, öfter einige mehr. Damit wurde das um 1800 erreichte Niveau gehalten.12 Ab diesen Jahren aber steigt die Zahl der Entbindungen bis 1896 auf mehr als 150. In einem zweiten Schub steigt die Zahl der Entbindungen dann sogar auf über 300 im Jahr 1902. Der Anstieg der Geburten hängt mit dem allgemeinen Bevölkerungswachstum Göttingens zusammen. Für den zweiten, großen Schub ab 1900 sollte aber eine weitere Komponente in Betracht kommen: die allmähliche Anerkennung der Klinik als Geburtsraum. 350 300
250 200 150
100 50 0 1875
Krank
1880
Schwanger
1885
gesamt
1890
1895
1900
1905
Diagramm 19: Patientinnen in der Göttinger Frauenklinik, 1877–1902
Die Göttinger Frauenklinik hatte ein enormes Einzugsgebiet. Hier entbanden sogar Frauen aus Hannover, Kassel, Braunschweig sowie aus den Dörfern rund um Göttingen. Zumindest bei den Frauen aus den entfernteren Großstädten ist 11 Vgl. Weber-Reich, Pflegen und Heilen, S. 83. 12 Schlumbohm, Die Patientinnen des Entbindungshospitals der Universität Göttingen, S. 327.
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anzunehmen, dass diese keinen Bezug zu Göttingen hatten. In diesen Städten hat es auch Möglichkeiten zu unentgeltlichen Entbindungen gegeben. Hier kann angenommen werden, dass diese Frauen nach Göttingen geschickt worden sind, um Schwangerschaft oder auch entsprechend Vaterschaft in der eigenen Stadt zu verbergen. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass Göttinger Dienstmägde teilweise in anderen Städten entbunden haben, um Schwangerschaft/Vaterschaft in Göttingen möglichst geheim zu halten. Die Universitätsklinik war den »besseren« der armen und kranken Frauen vorbehalten. Streng achtete die Klinikleitung auf den Ruf der Anstalt. Daher geriet sie auch in Aufregung, als 1905 das Gerücht aufkam, dass in unmittelbarer Nähe ein neues größeres städtisches Hospital gebaut werden sollte. Umgehend wurde gegen dieses »Spital, in welchem zweifellos auch infectiöse Kranke, die kranken Prostituirten untergebracht und die Untersuchung der Prostituirten auch abgehalten werden dürften« »mit aller Entschiedenheit« protestiert. Schon am nächsten Tag beeilte sich Oberbürgermeister Calsow zu versichern, dass ein derartiger Bau nicht geplant sei.13 Die Klinikleitung war um eine deutliche Abgrenzung zum städtischen Hospital und zu seinen Insassen bemüht. Das Hospital hatte durch die von der Polizei vorgeschriebene Untersuchung der Prostituierten und gegebenenfalls Behandlung dieser Frauen einen schlechten Ruf. Von Prostituierten und Geschlechtskrankheiten galt es sich deutlich abzugrenzen. Von den Menschen konnte sich die universitäre Klinik nicht abgrenzen. Schwangere als Lehrobjekte wurden gesucht, Kontrolldirnen konnten entbinden. In der Göttinger Frauenklinik begann das Leben vieler Kinder der Unterschichten. Die Mütter waren sich der Vorzüge: Kost, Logis und kostenfreie Spitzenmedizin bewusst und nutzten diese. Meistens verhielten sie sich nach den Wünschen der Klinikleitung, allein um ihren Aufenthalt in der prekären Lage kurz vor oder nach einer Geburt nicht zu gefährden. Die Aufnahmebücher geben aber auch Auskunft über die angegebenen Väter der Kinder und zeichnen damit ein Bild der sexuellen Kontakte, teilweise ein Bild über Untreue in der Ehe, über kurzlebige Beziehungen oder auch über langjährige uneheliche Beziehungen. So erkannte etwa der Arbeiter Masjeiko zwei Kinder 1880 und 1886 die beiden Kinder der Dorette Engel als die seinen an.14 Allein dieser Abstand von sechs Jahren kann Indiz für eine wenigstens lose Beziehung zwischen diesen beiden Menschen gewesen sein.
13 Universitätsarchiv Göttingen: Kur 5470. 14 AUFK Gö: Aufnahmebücher des Entbindungshospitals/der Frauenklinik Göttingen 1873–1882; Aufnahmebücher des Entbindungshospitals/der Frauenklinik Göttingen 1882–1887.
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Das Waisenhaus der Universität
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9.2 Das Waisenhaus der Universität In der Unterbringung von Kindern hatte das Waisenhaus eine nachgelagerte Bedeutung. Zuerst sollte versucht werden, Kinder in Familien unterzubringen.15 Entsprechend versuchten in Göttingen die Armendeputation und die PestalozziSchulstiftung, Kinder in Pflegefamilien zu vermitteln. Das Waisenhaus der Universität ist ein deutliches Zeichen zum Stellenwert der Armen und Armenfürsorge innerhalb der Göttinger Stadtverwaltung. Vergleichbare Städte des Kurfürstentums Hannover unterhielten schon im 18. Jahrhundert kommunale Waisenhäuser. Einzig in Göttingen unterblieb die Gründung einer solchen Anstalt. Diese Lücke füllte schließlich die Theologische Fakultät der Universität. Dieses universitäre Waisenhaus war in Deutschland einzigartig.16 Die Aufsicht im Waisenhaus hatte der Abt der Theologischen Fakultät inne. Zwischen 1900 und 1920 war dies der Professor Karl Knoke (1841–1920). Knoke war seit 1882 in Göttingen, seit 1892 Universitätsprediger. In dieser Zeit erwies er sich nicht nur als engagiert und wichtig für das Waisenhaus, er erwies sich auch als Kenner des Göttinger Armenwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er brachte den Göttingern um 1900 die Ursprünge ihres Systems nahe, und er versuchte über einzelne Veröffentlichungen in den verschiedenen Fachblättern der Inneren Mission oder der Armenpflege auf besondere Merkmale und Begebenheiten in Göttingen aufmerksam zu machen. Zudem spendete er dem Göttinger Frauenverein und war Mitglied des Vereins gegen Verarmung und Bettelei.17 Das Alter machte auch vor ihm keinen Halt: ab 1906 zog er sich langsam aus dem öffentlichen Leben zurück, ab 1911 auch aus dem universitären Lehrbetrieb.18 Die Aufsicht über das Tagesgeschehen im Waisenhaus führte der Waisenhausinspektor mit seiner Frau und dem Personal. Insgesamt herrschte auch hier eine große Kontinuität. Zwischen 1869 und 1926 gab es lediglich zwei Inspektoren.19 Auch im Umgang mit dem Waisenhaus zeigt sich wieder, wie die Stadt Göttingen auf eine nichtstädtische Einrichtung zurückgriff und versuchte, sich diese eigen zu machen. Allein die Verantwortlichen des Waisenhauses bestimmten, welche Kinder aufgenommen wurden und welche nicht. Die Kinder sollten in erster Linie aus dem Umfeld der Universität stammen, konnten aus Göttingen kommen oder, was von der Stadtverwaltung nicht gerne gesehen wurde, aus dem Umland. Auf eine 15 Born, Über den Werth allgemeiner Waisenanstalten, S. 135. 16 Meumann, Universität und Sozialfürsorge, S. 34 ff. 17 StadtA Gö: Depositum. 30; Bericht über die Geschäftsthätigkeit des Vereins gegen Verarmung und Bettelei im Jahre 1889. 18 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Kur. 4295. 19 Meumann, Universität und Sozialfürsorge, S. 60.
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Universität und Armenpflege
Schichtzugehörigkeit wurde nicht geachtet. Natürlich sind keine Kinder angesehener Bürger dort zu finden, vielmehr wurden Kinder aus Problemfamilien in das Waisenhaus gegeben bzw. sollten nach dem Willen der Stadtoberen dort hinkommen. Die Kinder Vogel waren zum ersten Mal 1905 im städtischen Armenarbeitshaus. Anscheinend machte der Vater dann oder nach dem zweiten Armenarbeitshausaufenthalt 1906 Versprechungen, mit dem Trinken aufzuhören und regelmäßig arbeiten zu wollen. Einige Zeit schien dies auch zu halten, doch am 2. Mai 1908 ließ Senator Borheck sondieren, ob die Kinder nicht in das Waisenhaus kommen könnten. Zuerst wird die Aufnahme abgelehnt, im Juni des Jahres dann ein Kind aufgenommen. Auch nach 1908 erlosch das Interesse des Waisenhauses an den Kindern nicht: 1911 wurde einem weiteren Vogel’schen Kind die Aufnahme ermöglicht. Die Aufnahme unterblieb aber.20
Auch diese Episode darf als ein Indiz für den Sparwillen der städtischen Armendeputation unter Carl Borheck gesehen werden. Das Waisenhaus litt im Kaiserreich bis zum Ersten Weltkrieg sicher nicht an Kindermangel. Trotzdem ließ Borheck für insgesamt sechs Kinder anfragen, was erst einmal abgelehnt wurde. Eventuell haben »Nachverhandlungen« zwischen Borheck und dem Kurator des Waisenhauses zu diesem Zeitpunkt, Karl Knoke, dann dazu geführt, dass wenigstens ein Kind aufgenommen wurde. Ein grundlegendes Zerwürfnis zwischen Theologischer Fakultät und der Göttinger Armenverwaltung wurde erst in den letzten Friedensjahren vor 1914 sichtbar: noch während der Verhandlungen für einen Neubau des Waisenhauses 1906/07 versprach die Stadt, eine größere Geldsumme gegen eine Vorzugbehandlung Göttinger Kinder hinzuzugeben. Da die Stadt aber die Mißhandlungsklage eines Waisenhauskindes gegen die Verwalter im Juli 1907 unterstützte und sich nicht, wie anscheinend vom Kurator Knoke erwartet, auf die Seite des Waisenhauses schlug, nahm er das Verhältnis noch 1914/15 als gestört wahr. Weitere Verhandlungen über eine finanzielle Beteiligung der Stadt an dem Neubau scheiterten.21 Trotzdem Waisenhausverwaltung und Armendeputation ja eigentlich an einem Strang zogen gab es bürokratische Hürden. Eventuell sind hier dann auch schon die ersten Zeichen der Verstimmung zwischen den Institutionen oder genauer: den Leitern dieser Institutionen zu sehen: Im Juli 1907 sollte Dora Hichert aufgenommen werden. Allerdings forderte der Leiter der Armendeputation Borheck eine schriftliche Bestätigung, dass das Mädchen aufgenom20 StadtA Gö: AHR I H 11, Nr. 6; Universitätsarchiv Göttingen: Waisenhaus 78. 21 Meumann, Universität und Sozialfürsorge, S. 58 f., 96.
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Das Waisenhaus der Universität
men werden könne, während Knoke eine solche erst nach einem schriftlichen Antrag der Armendeputation ausstellen wollte.22
Borheck und Knoke werden sich irgendwie auf ein Aufnahmeprocedere geeinigt haben. Beide Seiten beharrten aber kleinlich auf ihre wahrscheinlich selbst entworfenen Vorschriften. Bösartig, vielleicht aber nicht ganz falsch formuliert: Zwei alternde Männer tragen hier einen durch persönliche Enttäuschungen hervorgerufenen Kleinkrieg aus. Leidtragende dieses Kompetenzwirrwarrs sind die Bittsteller gewesen, hier: das Mädchen und die Antragstellerin. Eventuell sollte auch die Episode um die Aufnahme der Kinder Vogel in das Waisenhaus unter diesen Vorzeichen gesehen werden. 40
Jungen
35
Mädchen
30
25 20 15 10 5 0 1850
1855
1860
1865
1870
1875
1880
1885
1890
1895
1900
1905
Diagramm 20: Waisenhauskinder nach Geschlecht, 1850–1905
In dem Waisenhaus kamen anfangs ca. 20, Ende des 19. Jahrhunderts ca. 45 Kinder ab sechs Jahren bis zu ihrer Konfirmation unter. Im Waisenhaus waren immer mehr Jungen als Mädchen zugegen (siehe Diagramm). Dies fiel der Waisenhausverwaltung schon 1861/62 auf: »Das Zahlenverhältnis zwischen den Knaben und Mädchen im Waisenhause hat sich in den letzten Jahren nicht ganz günstig gestellt, indem die Zahl der Mädchen im Hause gegenwärtig noch nicht ganz die Hälfte der Knabenzahl beträgt. Die Ursachen dieser Erscheinung sind leicht zu erkennen, indem die verwittweten Mütter, welche um Aufnahme ihrer Kinder in’s Waisenhaus nachsuchen, vorzugsweise ihre Söhne dort untergebracht zu sehen wünschen, weil sie von ihren Töchtern mehr Unterstützung und Hülfe im Hause zu erhalten hoffen. Für das Gedeihen der Anstalt ist es aber durchaus wünschenswerth, eine Änderung in dieser Beziehung herbeigeführt zu sehen, weil bei der im Hause bestehenden Einrichtung, wonach alle für dasselbe erforderlichen weiblichen Arbeiten, als: Stricken, Nähen, 22 Universitätsarchiv Göttingen: Waisenhaus 78.
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Universität und Armenpflege
Flicken, Waschen, Plätten u. s. w., ausschließlich durch das Personal des Hauses selbst, ohne fremde Hülfe, beschafft werden, eine Vermehrung der weiblichen Arbeitskräfte nothwendig erscheint, wenn die Ordnung im Hausstande soll erhalten werden können.«23
Die Waisenhausverwaltung lieferte hier den gleichen Grund für eine Bevorzugung der Mädchen, wie sie den Müttern unterstellte. Mädchen wurden schon früh als Haushaltshilfen genutzt, in dieser Lebensphase waren Mädchen quasi »wertvoller« als Jungen. Die Mütter schoben die somit als »unnütze Esser« angesehenen Jungen ab und behielten die Mädchen. Insgesamt hatten Söhne damit deutlich andere Ausgangsbedingungen im Leben als ihre Schwestern. Bei den Söhnen wurde obrigkeitlich-streng auf Erziehung, Schulbesuch und später auf die Ausbildung geachtet. Sie hatten dann allerdings den Ruf des Waisenhauskindes. Die bei den Müttern verbliebenen Töchtern werden eine weniger gründliche Ausbildung gehabt haben. Unwissen, Unwillen und Unmöglichkeiten werden die als notwendig erachtete Erziehung und den Schulbesuch weniger vollkommen gemacht haben. Der von der Verwaltung anschließend bekundete Wille zur Änderung der Geschlechteranteile der Waisenhauskinder lief allerdings ins Leere (vgl. Diagramm 20) Nach der Konfirmation wurde den Jungen eine Lehrstelle vermittelt. Diese kamen während des 19. Jahrhunderts zwar in eher überbesetzten Handwerkszweigen unter, bzw. in solchen, die einen eher geringen Verdienst versprachen. Die meisten Mädchen wurden noch ein Jahr im Waisenhaus zur Arbeit behalten und erst dann entsprechend ihres Standes und den Vorstellungen des Waisenhausverwalters als »Dienstboten« vermittelt.24 Eventuell waren die Anstrengungen hier nicht so intensiv, da zum einen von einer späteren Heirat ausgegangen wurde und zum anderen es sowieso keine berufliche Lehrausbildung für Mädchen gab. Einzelnen, besonders begabten Jungen wurde dagegen sogar eine Volksschullehrerausbildung ermöglicht, so z. B. 1902 bei Fritz Haase. Nachdem sich die Waisenhausverwaltung die Einverständniserklärung des Vaters besorgt hatte und dieser auch den Verzicht für die weitere Erziehung erklärt hatte wurden aus verschiedenen Quellen die Kosten für den Besuch des Volksschullehrerseminars organisiert. Hier zeigte sich das hohe Engagement Knokes für einzelne Waisenhauszöglinge.25 Das Waisenhaus stellte nicht gleich eine soziale Endstation dar. Die Kinder wurden wenigstens in die Lage versetzt, als Erwachsene ihr Auskommen finden zu können, und einzelnen Kindern wurde sogar die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs gegeben. 23 Nachricht von dem Göttingenschen Waisenhause von 1861 bis 1862, S. 3 f. 24 Meumann, Universität und Sozialfürsorge, S. 81 ff. 25 Universitätsarchiv Göttingen: Waisenhaus 80.
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Das Waisenhaus der Universität
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Der Alltag im Waisenhaus war genau geregelt. Schulische Ausbildung, Erziehung zu Reinlichkeit, Pünktlichkeit und Ordnung sowie die Erledigung der anfallenden Arbeiten waren die Hauptpunkte im Tagesgeschehen. Zu dem Waisenhaus gehörten beispielsweise Gärten, die von den Kindern bewirtschaftet wurden und den Gemüsebedarf des Waisenhauses deckten.26 Die Kosten für das Waisenhaus durften nicht zu hoch ausfallen. Insgesamt zeigt sich die Universität schon allein über die Institutionen fest in dem Göttinger System der Armenpflege verankert. Sie kümmerte sich aber nicht um die unwürdigen Armen, die schon allein durch ihren Ruf das Ansehen der Universität »beschmutzen« könnten. Das selbstauferlegte Aufgabengebiet umfasste im wesentlichen Kranke und (Waisen)kinder. Bei den Kranken handelte die Universität aus Eigeninteresse, benötigte sie doch als Lehr- und Forschungsanstalt »Anschauungsmaterial« in Form von Kranken, die sich als Anschauungsobjekte hergeben mussten, wollten sie gesunden. Allein das Engagement um die Waisenkinder ergab sich nicht aus den direkten Bedürfnissen der Universität. Aber Kinder waren auch per se schützenswerter. Bei den universitären Einrichtungen zeigte sich auch wieder der große Einfluss der Verwalter auf das Innenleben der Institution. In welchem Klima erzogen sie die ihnen anvertrauten Kinder, wie lobten und straften sie? Mit welchem Engagement besorgten sie aber auch anschließend weitere Ausbildungsmöglichkeiten? Ähnliche Fragen stellen sich für die Einrichtungen der Universitätsklinik: wie ließen die Verwalter die Patienten sich erholen, wie wurden Ein- und Abgänge organisiert oder auch nahegelegt. Welche Patienten wurden zusammengelegt, welche durften, welche mussten isoliert sein?
26 Meumann, Universität und Sozialfürsorge, S. 49 f.
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10. Strategien und Lebensweisen der Armen
Allgemeine Regeln, Standards, Verhaltensweisen oder Codes für die Versorgung der Armen gab es in der Göttinger Armenpflege nicht. Die unterschiedliche Auffassung von »Armut« und »Armenhilfen« spiegeln sich in der unterschiedlichen Arbeit von »Stadt«, »Kirchengemeinden« und »Vereinen« wider. Die einzelnen Vorwürfe – in der Regel wurden die städtischen Armenpfleger als zu streng und hartherzig beschrieben, während die Vereine beinahe jede Person ohne Rücksicht auf die Gesetzeslage unterstützt haben sollen – sind allgemein verbreitet, bekannt und auch in Göttingen wiederzufinden. Im Einzelfall hätten »die Armen« bei Vereinen und Kirchengemeinden eine erste Möglichkeit, gezielt um bestimmte Hilfen nachzusuchen und sich durch die Unterstützungslandschaft zu bewegen. In anderer Hinsicht sind die Unterschiede in Göttingen aber sehr viel stärker: Die Pfleger der Kirchengemeinden nahmen im Gegensatz zu den städtischen Pflegern die Initiative selbst in die Hand. Bei ihren Gängen durch die Stadt scheinen sie eher die Armut erkannt zu haben als die städtischen Pfleger. Die städtische Armenverwaltung schritt immer erst ein, wenn es einen Zwang zum Handeln gab: Alimente, Mietbeihilfen etc. gab es erst, wenn die Familie/die Person absolut keine anderen Möglichkeiten mehr besaß und dies auch offiziell bekannt war. Kinder wurden erst aus verschiedenen, eigentlich unhaltbaren Zuständen geholt, wenn diese offiziell bekannt waren und somit ein Handlungszwang bestand. So wurden etwa für das 1902 geborene Kind der unter polizeilicher Aufsicht stehenden Prostituierten Minna L. Alimente bezahlt, es ansonsten aber bei der Mutter belassen, obwohl sich diese auch nach der Geburt ihres Kindes weiterhin prostituierte. Das Kind wurde dabei »Zeuge der gemeinsten unzüchtigsten Handlungen«.1 Und es ist nicht vorstellbar, dass im überschaubaren Göttingen derartige Zustände – Interesse vorausgesetzt – sich hätten verbergen lassen. Die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder in einem 1
So in dem 1913 erstellten Kurzbericht zur Einlieferung des Kindes in ein Erziehungsheim. Vgl. Neukirchner Erziehungsheim.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
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Heim hätte die Verwaltung aber mehr als die so gezahlten Alimente gekostet. Auch hier zeigt sich wieder der unbedingte Sparwille der städtischen Armenverwaltung. Die Anzeige der Not oder des Missstandes musste also in einer Art und Weise geschehen, die die Verwaltung nicht ignorieren konnte und sie wenigstens zu einer Untersuchung zwang. Innerhalb der verschiedenen Behörden Göttingens galt eine unterschiedliche Prioritätensetzung, je nach Aufgabe dieser Behörde. Die Polizeibehörde sorgte sich u. a. um die Umsetzung einer Wohnstellenverordnung, nach der bauliche und hygienische Mindeststandards eingehalten werden sollten. So zeigte Mitte November 1887 ein Polizist die Wohnung eines Tagelöhners beim Magistrat der Stadt an: »Bei Revision des Hofraums auf dem Grundstücke Rheinhäuser-Chaussee No. 12, dem Fräulein von Uslar-Gleichen gehörend, wurde vorgefunden, daß der Wohnraum des Nebengenannten sich in einem Stalle resp. Schuppen befindet, an welchem die Wände verschiedentlich offene Spalten und Löcher haben, so daß ein Schutz gegen die Witterungs-Verhältnisse, besonders den kommenden Winter, in diesem Raume nicht vorhanden ist, auch ist der in dem Raume befindliche Fußboden nur aus Lehm gg. hergestellt.«2
Dieser Anzeige musste nachgegangen werden, hatte sie doch ein Polizist gestellt, wurde von einem Kommissar unterzeichnet und war dem Chef der Göttinger Polizei Dieterich bekannt. Eine besondere Dringlichkeit ergab sich aus einer schon bestehenden Krankheit eines Kindes durch diese Wohnverhältnisse. Trotzdem zog sich dieser Vorgang über einen Monat hin. In diesem drängte die Polizeibehörde auf eine neue Wohnung, der Tagelöhner versuchte mit seinen begrenzten und unsicheren finanziellen Mitteln, eine solche zu finden und die Armendeputation stritt jegliche Verantwortung ab. Letztendlich übernahm sie doch die Miete für eine neue und trockene Wohnung übernahm. Dieses Verhalten eröffnete natürlich zuerst den Armenpflegern zahlreiche Möglichkeiten, ihre eigenen Interessen zu verfolgen: Recherchierten sie eigenständig die Verhältnisse ihrer Klientel, oder nicht? Bevorzugten sie bestimmte Gruppen oder Personen, oder nicht? Aber auch die Armen selbst hatten in diesem »System des Desinteresses« viele Möglichkeiten, ihren »unwürdigen« oder »unmoralischen« Lebenswandel weiterhin zu verfolgen, schlicht, weil dieser kaum sanktioniert wurde.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
10.1 Der Fall in tiefe Armut: Henriette und Gottfried Kutscher »Die Armut« hat sich als ein großes Feld mit weiten, hierarchisch gegliederten Hilfsmaßnahmen erwiesen: Kredite, Geld- und Sachhilfen, aber auch Arbeits- oder Werkhaus. Innerhalb dieser Hilfen hat sich ein »Aufstieg« innerhalb der Armut nicht gezeigt; ein Ausstieg aus der Armut kann sich nicht zeigen. Wie auch? Werden ehemals hilfsbedürftige Personen nicht mehr als hilfsbedürftig wahrgenommen verschwinden sie aus den Listen, aus den Protokollen, letztendlich ganz aus der Sicht der Armenfürsorge. Das Verschwinden kann noch heute rekonstruiert werden, die Gründe dafür sind aber vielfältiger Natur: Umzüge, evtl. Fluchten, aber auch der Tod spielen eine Rolle. Dokumentiert dagegen ist der Abstieg innerhalb der Armut, die Verschärfung der Not. Gleichzeitig mit dem Abstieg sind immer weitere Einblicke in das Leben der Bedürftigen möglich: Sie selber führten weitere Gründe für ihre Armut an, es wird ein ganzes Bündel an selbstwahrgenommenen Armutsgründen sichtbar. Die verschärfte ökonomische Situation ließ Rücksichten auf Familienmitglieder hinfällig werden, die familiäre Solidarität bröckelte und einzelne Familienmitglieder bekamen die Schuld an der prekären Lage zugeschoben. Das unterschiedliche Schicksal von Henriette und Gottfried Kutscher steht dafür Beispiel. Armut im 19. Jahrhundert hatte demnach nicht den einen Grund sondern war vielschichtig. Die wenigen Armenpfleger der Armendeputation arbeiteten sich zunehmend in die Situation ihrer Klientel ein und gaben entsprechend immer detailliertere Berichte. So muss die Situation der Familie des Instrumentenstimmers Kutscher den Armenbehörden 1875 als prekär bekannt gewesen sein: Der Mann hatte bei der Wohltätigen Vorschuss-Anstalt 1861 wiederholt Kredite aufgenommen, die Frau war wegen Krankheit und später mit einer Fehlgeburt im akademischen Universitätshospital. 1875 scheint nun die Ehe am Ende gewesen zu sein. Die Armendeputation überliefert: »Die Ehefrau des Instrumentenstimmers Kutscher, geb. Herwig von hier, 42 Jahr alt, bittet um Unterstützung zur Miethe. Ihr Mann, ebenfalls 42 Jahr hat sich bisher mit einer Person Namens Dorette Meyer gehalten und dieser allen Verdienst zugebracht, befindet sich jetzt aber in Kreiensen und wird bei seiner Rückkehr wahrscheinlich wegen Diebstahls verhaftet werden. Bittstellerin will von ihrem Mann getrennt sein.«3
Das Gesuch wurde anscheinend mündlich vorgetragen und die wesentlichen Punkte dieses Gesprächs: Antrag, Nachfragen und Antworten sind in dieser Form 3
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Der Fall in tiefe Armut: Henriette und Gottfried Kutscher
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des Kurzprotokolls niedergeschrieben worden. Nach diesem Gespräch trägt der Mann die Schuld an der Armut. Er hat sich mit einer anderen Frau eingelassen, betreibt Ehebruch und lässt seinen gesamten Verdienst der neuen Frau zukommen. Weiter wird der Mann als Dieb dargestellt. Der Wunsch nach Trennung scheint verständlich. Das wird wohl das primäre Anliegen Henriette Kutschers gewesen sein: Trennung vom Mann und Finanzierung der Trennung. Erreicht hat sie ihr Anliegen trotz des anscheinend günstigen Berichtes aber nicht. Das Gesuch wurde »vorläufig« ohne ersichtliche Begründung abgelehnt. Irgendein Detail hat für die Gewährung einer Armenhilfe noch gestört. Vielleicht war die Wohnung zu groß, es gab ein »Laken« zum Versetzen oder der Status der gemeinsamen Kinder war ungeklärt. Jedenfalls musste Henriette Kutscher von nun an ohne Hilfe ihres Mannes oder Armenunterstützung ihr Auskommen sichern. Vielleicht haben ihr weitere Verwandtennetzwerke eine Hilfe in Form von Geschenken oder Ausleihen zukommen lassen. Auf alle Fälle hätte sie eine Arbeit suchen müssen. Sobald die Ausgaben höher waren als die Einnahmen, hatte sie noch die Möglichkeit, Stück für Stück ihren Hausstand zu verpfänden oder gleich zu verkaufen. So verarmte sie allmählich, bis sie wieder keine andere Möglichkeit sah, als um Armenunterstützung nachzusuchen. Zwei Jahre später versuchte Henriette Kutscher wieder, eine Mietunterstützung von der Armendeputation zu bekommen: »Die Ehefrau des Clavierstimmers Kutscher, geb. Herwig, 44 Jahr alt, bittet um Unterstützung zur Miethe. Bittstellerin wird von ihrem früheren Hauswirthe nicht gut beleumundet: man sagt sie sei keine gute Hausfrau man sehe sie niemals arbeiten. Sie soll Haushalt und Kinder gänzlich verkommen lassen, weshalb der Mann, der immer fleißig arbeite und viel Geld verdienen soll, es vorgezogen hat seine Frau im Stich zu lassen und mit seinen 3 Kindern nach Heiligenstadt zu ziehen.«4
Wieder wurde das Gesuch wahrscheinlich mündlich vorgetragen und in Form eines Kurzprotokolls festgehalten. Diesmal flossen aber offensichtlich die weiteren Ermittlungen des Armenpflegers ein. Diese ergaben ein vollkommen konträres Bild zu der 1875 protokollierten Situation: nun ist der Mann der ehrbare Mensch, der fleißig arbeite und sich um seine Kinder kümmere, während die Frau »faul« sei und sich nicht um den Haushalt kümmere. Hier wird verständlich, warum der Mann seine Frau verlassen hat. Nun ist sein Verlassen der Frau legitim. Diese Charakterisierung der beiden Eheleute hat dann bis zu ihren beiden Toden Bestand gehabt. Er verstirbt als »guter«, »würdiger« Armer im Geschwis-
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Strategien und Lebensweisen der Armen
ter-Reinhold-Stift. Sie verbringt als »schlechte«, »unwürdige« Arme ihre letzten Lebensjahre in Armenarbeitshaus und städtischen Hospital. Diese beiden Berichte zeigen zudem das Strategische in den Bittgesuchen. Der Grund für die Bedürftigkeit ist klar: die ökonomische Ehegemeinschaft zerbricht. Wirtschaftliche Not kehrt besonders bei der Frau ein. Der Hauptverdiener der Familie verlässt sie, nimmt aber die Kinder mit. Henriette Kutscher versucht, die Schuld ihrem Mann zuzuweisen: Er betreibe Ehebruch und gebe der anderen Frau das ganze Geld. Die Trennung von ihrem Ehemann erscheint mit dieser Argumentation wenn nicht als legitim, dann doch wenigstens als verständlich. Wenn es nicht noch kleinere »Ungereimtheiten« oder »Auffälligkeiten« – das Gesuch wurde ja nur »vorläufig« abgelehnt – gegeben hätte, hätte Henriette Kutscher mit ihrem Gesuch Erfolg gehabt. Erst Jahre später durch weitere Recherchen konnte die Argumentation der Frau entkräftet werden. Wenn sie nicht direkt gelogen hat, so hat sie doch die Situation zu ihren Gunsten beschönigt. Hier zeigen sich auch die Auswirkungen der ungenügenden Zahl an städtischen Armenpflegern. Die Armendeputation kam zwar an die ihnen nötigen Informationen, um die Armen in ihrem Sinne zu klassifizieren. Wenn kein besonderer Verdacht vorlag unterblieb anscheinend eine weitere Recherche oder die Informationen wurden so langsam gesammelt, dass es – wie in diesem Beispiel – Jahre dauern konnte, bis sich ein genaues Bild der Antragsteller abzeichnete. Die Armenbiographie dieser beiden Menschen zeigt auch, dass die Frau nicht in der Lage gewesen war, allein ihren Lebensunterhalt – der Wille dazu wird vorausgesetzt – zu organisieren. Ihr fehlte jede Profession, so dass sie nur in den schlecht bezahlten häuslichen Dienstleistungsgewerben untergekommen wäre. Der Mann mit seinen feinmechanischen Kenntnissen konnte dagegen als Instrumentenbauer oder Klavierstimmer über weite Jahre hinweg seinen und den Lebensunterhalt seiner Kinder ohne Armenhilfen sichern.
10.2 Aufstieg aus tiefer Armut: der Trinker Keuffel Nur einmal hat sich der umgekehrte Weg, der Weg aus der Armut heraus, beobachten lassen. Das Herausarbeiten aus der Armut stellte sich als sehr viel schwieriger dar: das Vertrauen war zum Teil verspielt, Schulden angehäuft oder die Familie zerrüttet. Der Fall des notorischen Trinkers Keuffel ist Beispiel dafür, dass sich dieser Weg trotz all dieser Schwierigkeiten finden lässt. Keuffel kümmerte sich Anfang 1886 nicht um seine Familie und zog sich damit den Unmut der Göttinger Armendeputation zu. Mithilfe der Polizei drohte sie ihm ein Strafverfahren an. Allein diese Drohung half, seinen Lebensstil zu »bessern«. Infolgedessen erschien der Armendeputation »die Einleitung des Strafverfahrens […] unthunlich«. Der
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Mann hatte einen gewünschten Lebenswandel eingeschlagen. Eine Strafe hätte dann aus Sicht der Behörde zu einem Rückfall führen können. Die Armenbehörde hatte mit dieser Einschätzung offenbar Recht: kurz darauf konnte die Armenhilfe eingestellt werden.5 Die bitterste Not in dieser Familie war überwunden. Es wäre vollkommen irrig zu glauben, Keuffel wäre von nun an ohne Alkohol ausgekommen. Der Genuss von Bier war allgemein akzeptiert. Allein das übermäßige Konsumieren von »Branntwein«, und diesen hatte er anscheinend eingestellt, war der bürgerlichen Obrigkeit ein Dorn im Auge. Aber was war ein »übermäßiger« Konsum? Der Schluck Branntwein am Morgen zum Frühstück6 war im akzeptierten Rahmen. Die Grenze ist vielleicht nicht in Literangaben und Promillegrenzen zu suchen. Es scheint, »Trinker« war der Arme, der durch seinen Branntweingenuss seine Verdienstmöglichkeiten verringerte und zugleich die Ausgaben in eine Höhe trieb, dass die Armenfürsorge in irgendeiner Form beispringen musste. Die Bezeichnung »Trinker« beschriebe dann in erster Linie ein soziales Problem, welches durch eine Alkoholabhängigkeit hervorgerufen wurde. Vielleicht hat eine Verlagerung der Ausgaben weg vom Alkohol allein für den Mann hin zu anderen Lebensmitteln die Lage der Familie Keuffel nachhaltig gebessert. Jedenfalls taucht »Keuffel« anschließend nicht mehr bei den Armenhilfen auf. Damit zeigt dieses Beispiel, dass durch eine Verlagerung der Ausgaben weg vom Alkohol sich die Gesamtsituation von Familien entscheidend bessern konnte. Die zahlreichen stereotypen Klagen von Armenpflegern und Armenforschern über den Alkohol- oder Branntweingenuss zeigen sich durch solche Einzelfälle als berechtigt.
10.3 Flucht aus Göttingen. Flucht aus der Armut? Arme in Göttingen hatten im Grunde zwei Probleme: erstens ihre Armut, den materiellen Mangel aus den individuell verschiedenen Gründen und zweitens den »Ruf«, ihre Stellung als Arme innerhalb der städtischen Gesellschaft. Vielfach versuchten die Personen, sich einem Teil ihrer Armutsgründe: Schulden, mangelnde Verdienstmöglichkeiten, zu versorgende Familienangehörige sowie dem stigmatisierenden Ruf durch »Flucht« aus der Stadt zu entziehen. Dieses Problem muss im Deutschen Reich insgesamt solche Ausmaße angenommen haben, dass sogar eine eigene Zeitschrift sich dieses Problems annahm und massenhaft Suchanzeigen der verschiedenen Armenbehörden nach unterhaltspflichtigen Personen abdruckte.
5 StadtA Gö: AHR I H 7, Nr. 3. 6 Vgl. z. B. die verschiedenen Beispiele bei Quantz, Zur Lage des Bauarbeiters.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
Exkurs: Zeitschrift für das Heimathwesen Die Zeitschrift für das Heimathwesen war das Zentralorgan des »Centralbureaus der Landarmenverbände«. Nach der Novelle des Unterstützungswohnsitzgesetzes 1894 wurde sie 1896 ins Leben gerufen. Die Novelle beinhaltete die Verpflichtung der Ortsarmenverbände, die Unterstützungswohnsitze für »Wanderer« ausfindig zu machen, bevor die Kosten an einen übergeordneten Landarmenverband abgewälzt werden konnten. Die Zeitschrift sollte dabei durch die Ansammlung von entsprechenden Daten der Wanderer und Auskunftsgewährung eine Hilfe sein. Insgesamt wurden schon im ersten Jahr Daten von mehr als 2.000 Personen veröffentlicht; in den ersten drei Jahren waren es ca. 17.000. Weiter wurden über Anzeigen der Armenverbände einzelne Personen gesucht, die ihre Familien oder Kinder verlassen hatten und so ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkamen. Dadurch sollten die Kosten für die Armenfürsorge, die nach Ansicht der Herausgeber der Zeitschrift zum größten Teil durch diese sogenannten »Wanderarmen« verursacht wurden, eingeschränkt werden.7 Trotz mehrerer alphabetisch geordneter General-Register scheint die Praktikabilität der Listen fraglich. Welcher Armenbeamte oder Herbergsvater hatte schon den Überblick über mehrere Jahrgänge der Zeitschrift mit den dazugehörigen Listen und über mehrere tausend Arme in ungeordneten Listen? Insgesamt scheint die Arbeitsweise der Zeitschrift aber erfolgreich gewesen zu sein. Immer wieder wurden über die Suchanzeigen Personen ausfindig gemacht und zu entsprechenden Unterhaltszahlungen angehalten. Besonders eindrücklich ist eine Suchanzeige aus Nienburg an der Saale: Die Armenbehörde dort suchte den Unterstützungswohnsitz einer ca. 50-jährigen Frau, trunksüchtig und nicht vernehmungsfähig, die ohne Papiere aufgenommen wurde und nach zwei Tagen verstarb. Über ihre kleine Tochter kamen die Beamten wenigstens an die Aussprache des Namens. Die Redaktion der Zeitschrift für das Heimathwesen fügte direkt den Namen in der richtigen Schreibweise, den Geburtsnamen und Geburtsort sowie den letzten Wohnsitz als auch ihren Status von 1898 als »landarm« an. Die Redaktion bat um Auskunft, wo diese Frau die Zeit zwischen 1898 und 1903 verbracht hat.8 Damit sollte die Frage nach dem Erwerb eines Unterstützungswohnsitzes geklärt werden, und damit die Übernahme der angefallenen Kosten durch den entsprechenden Armenverband. Eine ebenso eindrückliche Anzeige ist die Warnungsanzeige vor einem Wanderer im Raum Erfurt: Dieser zog von Stadt zu Stadt, um sich in den verschiedenen kommunalen Krankenanstalten pflegen zu lassen und sich nach seiner »Genesung« mit
7 Zeitschrift für das Heimathwesen 1 (1896), S. 1 f. 8 Zeitschrift für das Heimathwesen 8 (1903), Sp. 314.
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neuem Schuhwerk erneut auf die Wanderschaft zu begeben.9 Insgesamt wird durch diese Anzeige als auch durch die verschiedenen Praxis- und Erfahrungsberichte das Bild betrügerischer Armer entworfen, welche auf jeden Fall vor einer Unterstützungsvergabe sehr gut kontrolliert werden müssen. Trotz der Behauptung, dass die Zeitschrift für das Heimathwesen durch viele Armenverbände bezogen worden sein soll, gibt es sie heute nur noch in wenigen öffentlichen Bibliotheken. Auch war die Nutzung der Suchanzeigen unterschiedlich: Bei der Durchsicht entsteht der Eindruck, dass besonders die Verbände Leipzig, Halle/Saale, Breslau und Erfurt diese Form genutzt haben; eine Anzeige z. B. aus Göttingen findet sich hingegen nicht. Damit werden nur die an dem System partizipierenden Verbände ihre »Wanderarmen« der Zeitschrift gemeldet haben. So muss der Wirkungsgrad der Zeitschrift regional differenziert werden.
Genau in dieses entworfene Schema der Flucht vor Armut unter Zurücklassung der »Gründe« passt der Fall der Louise Loeser: Schon als zehnjährige ist Louise Loeser 1861 im Armenarbeitshaus als Einzelperson ohne Angehörige nachweisbar. Kurz nach ihrer Unterbringung wurde sie in das Universitätsklinikum wegen »Epilepsie« eingewiesen. Ende November 1874 erschien sie dann im Entbindungshospital der Universität und bekam schon am nächsten Tag ihr Kind. Am 10. Januar 1875 verließ sie mit Kind das Hospital. In der Folge bemühten sich die Stadt und der von ihr eingesetzte Vormund des Kindes um Unterhaltzahlungen des Vaters. Doch schon im Februar verschwand Louise Loeser und setzte ihr Kind in Herbarhausen bei dem Handarbeiter Funke aus.10
Louise Loeser hatte ihren Säugling verlassen. Ohne Kind war das Durchkommen aus ihrer Sicht für sie als Alleinstehende wesentlich einfacher. Da sie selbst schon als zehnjähriges Mädchen die Erfahrung gemacht hat, verlassen zu werden und in das Armenarbeitshaus gebracht zu werden, überträgt sie hier anscheinend die selbst gemachten Erfahrungen. Die selbst gemachte Erfahrung des Verlassens und der Vernachlässigung wird so über die Generationen hinweg weiter vererbt. Die von der Armendeputation bewilligten Alimente11 scheinen keinen Eindruck bei ihr hinterlassen zu haben, bzw. wurden nicht unbedingt als Gewinn gesehen. Die Wiederbewilligungen dieser Alimente versprachen Auseinandersetzungen mit der Armendeputation, die Ausgabe des Geldes versprachen Auseinander 9 Zeitschrift für das Heimathwesen 13 (1908), Anzeige 574. 10 StadtA Gö: AHR I H 7, Nr. 1; StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 280; AUFK Gö: Aufnahmebücher des Entbindungshospitals/der Frauenklinik Göttingen 1873–1882. 11 StadtA Gö: Amtsbücher Wof 12.10.1.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
setzungen mit dem Vormund des Kindes. Streit war also für die nächsten Jahre vorprogrammiert. Auch war Louise Loeser durch den Säugling eher an ihr Heim gebunden, sie konnte also weder jede auswärtige Arbeit annehmen, noch konnte sie jedes (standesgemäße) Freizeitvergnügen besuchen. Zudem hatte durch die Geburt des unehelichen Kindes ihr Ruf innerhalb der städtischen Gesellschaft weiter gelitten. Galt sie der bürgerlichen Gesellschaft wahrscheinlich wegen ihrer Kindheit im Armenarbeitshaus – dem Ort der »Faulen« und Liederlichen« – schon als verdächtig, so werden diese Verdächtigungen durch die Kindsgeburt Bestätigung gefunden haben. Ob hier die Strategie der Flucht Erfolg gehabt hat, lässt sich nicht sagen. Natürlich hatte sie die Verpflichtungen durch das Kind hinter sich gelassen und konnte in einer anderen Stadt relativ unbelastet wieder »von vorne« anfangen. Allerdings wird sie in der anderen Stadt keine sozialen Netzwerke gehabt haben. Sofern sie nicht ein weiteres uneheliches Kind bekommt wird die Flucht für ihr weiteres Arbeitsleben – und nur dafür – wahrscheinlich »Erfolg« gehabt haben. Schließlich konnte sie ohne Kind wieder ungehindert in das Erwerbs- und Beziehungsleben einsteigen. Bemerkenswert ist die Kommunikation über das Kind: Der Vormund weiß genau, wo das Kind im nahen »Herbarhausen« ausgesetzt wurde – woher eigentlich? –, verliert aber kein Wort darüber, wo sich das Kind nun befindet. Bei ihm als Vormund oder in »Herbarhausen« oder an einem dritten Ort, wahrscheinlich bei einer Amme? Die Flucht des Buchbinders Bergmann dagegen wird wahrscheinlich ein weniger gutes Ende genommen haben. Dieses Beispiel ergänzt die Möglichkeiten, die »Fliehende« gehabt hatten: Im April 1866 konnte die Familie des Buchbinders Bergmann nur durch Garantien der Armendeputation eine neue Wohnung finden. Um mehr Geld zu verdienen plante der Buchbinder, Göttingen zu verlassen. Dies tat er dann Ostern 1867, ein Jahr nachdem seine Familie in die neue Wohnung gezogen und von der Armendeputation unterstützt worden ist. Im September 1867 muss die Ehefrau Bergmann ein neues Unterstützungsgesuch stellen. Von ihrem Mann hat sie nichts weiter gehört. Dieser ist nun »bekanntlich ein Trunkenbold und Verschwender«. An dieser Situation ändert sich mindestens die nächsten acht Jahre nichts.12
Zuerst einmal zeigt sich hier wieder der sich verschlechternde Ruf des Buchbinders. Anfangs ist er »ganz arm«, seine spätere Bekundung, »in der Fremde« Arbeit 12 StadtA Gö: AHR I H 7, Nr. 3.
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Flucht aus Göttingen. Flucht aus der Armut?
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zu suchen, wird wenigstens wohlwollend zur Kenntnis genommen worden sein. Nachdem die Familie wenigstens 1½ Jahre ununterbrochen Armenunterstützung bezogen hat, Armendeputation und Armenpfleger also genug Zeit hatten, sich Informationen über die Familie zu beschaffen, ist der verschwundene Mann »bekanntlich (sic!) ein Trunkenbolt und Verschwender«. Zu dieser Erkenntnis mag auch die bröckelnde familiäre Solidarität beigetragen haben. Die Frau und die Kinder fühlten sich nicht mehr verpflichtet, den »würdigen« Ruf des Mannes zu verteidigen. Durch das Verschwinden konnten sie ihn aber auch leichter zum Sündenbock für ihre Misere machen. Der Mann konnte sich nicht weiter wehren. Damit würden Frau und Kinder aus der Sicht der Armenfürsorge besser dastehen. Aus der Sicht der bürgerlichen Armenpfleger kann der Buchbinder durch die Klassifizierung »Trunkenbolt und Verschwender« nicht viel tiefer sinken. Ob es ihm in der Fremde besser ergangen sein wird ist allerdings fraglich. Den »Kostenfaktor Familie« hat er zurückgelassen. Dass der Buchbinder Bergmann erst nach mehr als einem Jahr mit Armenfürsorge als »Trinker und Verschwender« klassifiziert wurde, mag mit seinem Verschwinden zu tun gehabt haben, eventuell auch an seinem Geschick, die Eigenschaften zu verbergen. Die Armendeputation schenkte der Klassifikation Glauben und unterstützte die Familie. Trotzdem wird der Buchbinder diese Eigenschaften nicht einfach ablegen können. Alkoholismus und verschwenderischer Umgang mit den gegebenen Ressourcen werden ihm wahrscheinlich weiter den Weg in ein Leben ohne Armut verbaut haben. Hier wird deutlich, welche Folgen das Verlassen, in diesem Fall auch für den Ruf des Mannes, haben konnte: die zurückbleibende Familie fiel zuerst unwiderruflich der Armenfürsorge anheim. Der Ruf des Buchbinders in seiner Heimat war aber endgültig ruiniert: »Trunkenbold und Verschwender« wurde ja erst nach dem Verlassen als erwähnenswert empfunden. Die Kombination aus »Trunk« und »Familie« scheint eine weitverbreitete Armutsursache gewesen zu sein. Ebenso sind anscheinend gerade diese Personen aus Göttingen, aus ihrer Armut und vor der Armenfürsorge, entflohen. Aber auch hier scheint eine zweite, relativierende Sichtweise angebracht. Dem Alkohol waren viele Personen der Unterschichten ergeben. Alkohol war elementar wichtig in der Nahrungsversorgung der Unterschichten (siehe S. 48 f.). Ebenso zogen Kinder zusätzliche Kosten nach sich und bedeuteten gleichzeitig eine Einschränkung persönlicher Freiheiten und Erwerbsmöglichkeiten. Wenn nun weitere, den Mangel verschärfende oder bewusster machende Faktoren hinzukamen, die Hoffnung auf eine Besserung also schwand, dann können dies die Faktoren gewesen sein, die endgültig den Ausschlag zur Flucht gegeben haben. Die Flucht vor der Göttinger Armut wird aber nur in den seltensten Fällen von Erfolg gekrönt gewesen sein. Ein Teil der Probleme wurde ja mitgenommen, und
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Strategien und Lebensweisen der Armen
in der Fremde waren die Flüchtigen oft ohne soziale Netze. Sie waren so ohne die Netzwerke, die Orientierung geben konnten, Hilfe leisten oder in Krisen letztendlich auffangen konnten.
10.4 Die Göttinger Armen und ihre Kinder Der Blick auf den Umgang der Armen mit ihren Kindern und der Umgang der Armenpfleger mit den Kindern ihrer Armen eröffnet einen weiten Horizont. Für die Armen bedeuteten Kinder nicht nur »freudige Zeiten« sondern Kosten, Betreuung und Zeitaufwand. Wie wurden Kinder in die Familie integriert oder nicht-integriert? Welche Rollen nahmen Kinder bei der Deckung des Familienbudgets ein. Welche Arbeiten und Verdienste wurden erwartet? Für die bürgerlichen Armenpfleger dagegen waren Kinder erst einmal unterstützungswürdig. Trotzdem durften auch hier die Kinder nicht zu hohe Kosten verursachen. Welche Rollen der Kinder sahen die Armenpfleger als unterstützungswürdig an, welche Rollen hatten Kinder abzulegen. Gaben sie dabei der Ausbildung den Vorrang oder dem derzeitigen – eventuell kurzfristigen – Verdienst? Insgesamt eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen Erziehungsansprüchen, Geldhilfen, Kosten und Zeitbudget. Wie gingen also Arme mit ihren Kindern um? Wie gingen die Armenpfleger mit den unterstützungsbedürftigen Kindern und ihren Eltern um? Für Familien aus den Unterschichten bedeuteten Geburten Probleme: Schon allein durch die Geburt fällt die Frau als Mitverdienerin zum Familieneinkommen für einige Tage bis mehrere Wochen aus. Ebenso kann sich diese in der Zeit des Wochenbettes nicht um Haushalt und eventuell schon vorhandene Kinder kümmern. Zuletzt stellte die Geburt ein nicht unerhebliches Risiko dar, welches nicht selten mit dem Tod der Frau endete. Der andere Grund gegen eine Geburt als freudiges Ereignis war, dass sich die Familie um (meist) eine kostspielige und betreuungsintensive Person vergrößerte. Diese Kosten stellten den chronisch angespannten Haushalt der Unterschichtenfamilie vor immense Probleme. Kinder mussten (und müssen) umsorgt werden. Wenn die Eltern nun ganztägig außer Haus waren, sei es wegen Berufstätigkeit oder Haft oder schlicht weil sie vor der Familie geflohen waren, so war es normal, die Kinder in »Fremdbetreuung« zu geben. Um die Kosten dafür zu bestreiten musste trotzdem oftmals ein »Zuschuß« bei der Armendeputation beantragt werden. Kinder, deren »gute« Erziehung aus Sicht der Armenbehörde nicht sichergestellt war, bekamen einen Vormund. Streitigkeiten zwischen Eltern und Vormund scheinen dann alltäglich gewesen zu sein. Über die Alimente hatten die Vormünder ein finanzielles Interesse, welches den Interessen der Eltern und gar der Armendeputation entgegengesetzt waren. Neben den unterschiedlichen finan-
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ziellen Interessen konnten sich die beteiligten Parteien auch noch über die »gute« Erziehung der Kinder streiten. Es gab in den Göttinger Unterschichten aber nicht nur Eltern, die versuchten, ihre Kinder los zu werden oder auszunutzen. Der Handarbeiter Carl Schutz steht für diese. Gleichzeitig gewährt dieses Beispiel einen Blick in die Offenheit des Armenarbeitshauses. Schutz war zum ersten Mal 1871 mit seinen beiden Kindern im Armenarbeitshaus untergebracht.13 Bei den folgenden Aufenthalten des Vaters wurden die Kinder durch die Armendeputation bei Pflegeeltern versorgt. Sie konnten schließlich nicht bei ihrem Vater bleiben. Bei einem dieser Aufenthalte im Armenarbeitshaus hörte er von der schlechten Unterbringung eines seiner Kinder. Eigenmächtig nahm er daraufhin sein Kind aus der Pflege und brachte es bei einer Person seines Vertrauens unter. Die Armendeputation strich daraufhin die Alimente.14 Da er aber die notwendigen finanziellen Mittel für die weitere Versorgung der Kinder nicht besaß musste er bei der Armendeputation um Hilfe nachsuchen. Zuerst schilderte er die Ausgangssituation: »[…] hörte ich erst durch fremde Personen, daß mein Kind nicht seine gehörige Reinlichkeit und Ordnung hätte. Ich überzeugte mich selbst davon und fand, daß es wirklich so war, wie mir gesagt wurde. Ich ersuchte daher Dieterich und dessen Frau doch mehr Sorgfalt und Reinlichkeit für das Kind zu verwenden, denn so könne es nicht mehr fortgehen. Auf diese Aeußerung hin wurde Dieterich so zornig, daß er nach einem Beile griff und wollte mich vor den Kopf schlagen. Bei solchen rohen und gefährlichen Menschen, wo mein Kind selbst keine gute Behandlung hat, konnte ich es aus väterlichen Gefühl und Mitleid nicht länger lassen und trug Herrn Pastor den Uebelstand des Kindes vor. Der gute Herr gab mir zur Antwort, wenn dem so sei, so sollte ich umhören, wo ich das Kind besser unterbringen könnte. Auf dieses hin, wurde von dem Hausbesitzer Lieberum in der Düsteren Straße der Vorschlag gemacht: bei ihm wohne eine unverehelichte Bornemann, welche eine sehr reinliche gute Person, der sollte ich das Kind übergeben. Ich kannte die Person, schenkte dem Hauswirth zutrauen und übergab der Bornemann das Kind. Durch meine eigenmächtige Handlung hinsichtlich des Kindes wurde mir von Seiten der Armendeputation eröffnet: daß ich von nun an mein Kind selbst veralimentieren müßte. Dieses würde ich mit Freuden thun wenn mein Verdienst dazu ausreichte. […]«15
Carl Schutz war sich wohl bewusst, gegen die Interessen der städtischen Obrigkeit gehandelt zu haben. Darum legte er seine Motivation ausführlich dar, darum 13 StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 283. 14 StadtA Gö: Amtsbücher Wof 12.10.1. 15 StadtA Gö: AA Wohlfahrt. 1. Armenwesen und milde Stiftungen 234.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
ist die Sprache besonders devot, darum legte er die Absicherung seiner Handlung über den »Herrn Pastor« offen. Er war sich aber ebenso sicher, im Recht zu sein und rechtens gehandelt zu haben. Allein: dies mussten auch der Magistrat und die Armendeputation einsehen. Und dieses Mal taten es die städtischen Obrigkeiten: Die Alimente wurden im Juni 1872 wiederbewilligt.16 Eventuell haben weitere Recherchen die Darstellung des Armen bestätigt, so dass die anderweite Unterbringung im Nachhinein als richtig erkannt wurde. Eventuell hatte die Armendeputation aber nur ein geringeres Interesse an diesem Fall. Wichtig war ihr, dass sich die Kosten für die Unterbringung des Kindes nicht erhöhten, nicht aber, wo das Kind untergebracht worden war. Solange sich die Kosten für die Armendeputation nicht oder nicht wesentlich erhöhten, hätten Arme damit Chancen gehabt, ihre Interessen ihr gegenüber durchzusetzen. Das Armenarbeitshaus zeigte sich zudem als durchaus offene Institution. Nachrichten und Gerüchte erreichten Carl Schutz, er konnte diesen Gerüchten nachgehen und sogar hinter dem Rücken der Armendeputation vom Armenarbeitshaus aus eine alternative Unterbringung seines Kindes organisieren. Zuguterletzt schaffte er es – immer noch vom Armenarbeitshaus aus – sein Verhalten mithilfe eines sicherlich durch einen Schreiber verfassten Briefes erfolgreich zu verteidigen. Im Gegensatz dazu steht der Streit um die Alimente für das zweite Kind der ledigen Elise Hillebrecht. Dieser Streit zeigt beispielhaft, wie das Kind in den Hintergrund und das Geld dafür in den Vordergrund rückt: Das Kind wurde 1878 im Entbindungshospital der Universität geboren. Kindsvater war ein Student, Vormund ein Schuhmacher. Die Mutter des bald darauf verstorbenen Studenten schickte insgesamt 50 Mark an Alimente an den Vormund. Elise Hillebrecht klagte im Dezember 1879 vor der Armendeputation: »Sie beanspruche weitere Unterstützung zu diesem Zwecke aus der Armencasse nicht, wolle nur bitten daß der Vormund angehalten werde, dieses Geld ihr auszuzahlen.« Am nächsten Tag ließ sich Elise Hillebrecht einen »Proceß-Armenschein« ausstellen, um die 50 Mark einzuklagen. Dabei wurde sie aber gleich vorgewarnt, dass die Armenbehörde das Geld als Ersatz für bislang geleistete Alimente einbehalten würde. Wieder einen Tag später erklärte die Mutter »für sich und im Namen ihrer Mutter, daß sie ferner auf eine Alimentation ihres Kindes wie sie solche mit 4 M 50 Pf. monatlich aus der Armenkasse empfangen habe verzichtet.« Daraufhin wurden die Zahlungen eingestellt. Ferner wurde der Vormund aufgefordert, das von der Mutter des Kindsvaters gezahlte Geld der Armenkasse zur Verfügung zu stellen.17
16 StadtA Gö: Amtsbücher Wof 12.10.1. 17 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1.
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Die Göttinger Armen und ihre Kinder
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Es darf bezweifelt werden, dass Elise Hillebrecht mithilfe der 50 Mark dauerhaft ihr zweites Kind vor der Armenfürsorge hätte bewahren können. Mit einem Rückgriff auf die Ökonomie der Armen, nach der Geld, wenn es da ist, ausgegeben wird, scheint es eher so, als ob Elise Hillebrecht sich mit den 50 Mark einige »gute« Monate gemacht hätte, fern von drängenden Geldsorgen. Hier ist dann auch noch die Rolle ihrer Mutter zu betrachten. Wieso erklärt Elise Hillebrecht den Verzicht auf die Alimente auch im Namen ihrer Mutter? Vielleicht hatte die Großmutter ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber Kind und Kindeskind, vielleicht aber auch nur ein schnödes Interesse an der Teilhabe an dem kleinen »Vermögen« von 50 Mark. Die (falsche) Hoffnung scheint dann doch zu sein, dass die Armenbehörde nur für künftige Zahlungen Ersatz verlangen wird und nicht schon für bereits geleistete Zahlungen. Auch die Rolle des Vormundes ist kritisch zu sehen. Von Gesetzes wegen hätte er die 50 Mark gleich als Ersatz für die gezahlten Alimente an die Armenkasse zahlen müssen. Er behielt das Geld aber als Vorsorge für eventuelle Krankheiten o. ä. Die Rolle der Armenbehörde in diesem Fall ist klar: Sie hat ein Interesse ausschließlich an den 50 Mark als Ersatz für bereits geleistete Armenhilfen. Insgesamt ist hier zu befürchten, dass hier der Beteiligten ein Interesse am Wohl des Kindes gehabt hat. Es ging allein um 50 Mark, für Angehörige der Unterschichten im Kaiserreich eine bedeutende Summe. Größere Feste im Leben der Kinder wie Kommunion oder Konfirmation zwangen den Eltern größere Ausgaben auf. Für die Kirchengemeinden ebenso wie für die Armendeputation war es »normal«, bedürftige Kinder resp. deren Familien dabei in einem begrenzten Umfang zu unterstützen. Das fünfte Kind von Georg Siemsen, Otto, erhielt am 17. März 1905 von der Armendeputation »Konfirmationsstiefel« zugesprochen.18
Die Familie von Georg Siemsen war schon seit vielen Jahren in Göttingen als bedürftig und arm bekannt. Von daher war es wohl nur eine Formsache, die Konfirmationsstiefel zu bekommen. Ob dieses Paar Stiefel allerdings ein zusätzliches Geschenk der Armendeputation war, oder nicht doch mit einer anderen notwendigen »Schuhunterstützung« verrechnet wurde, ist offen. In einem anderen Fall wurde eine Konfirmationsunterstützung allerdings (kommentarlos) verwehrt. Die »Wittwe« des Feldvogtes Back, Minna, ersuchte Ende Februar 1885 um eine Unterstützung:
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Strategien und Lebensweisen der Armen
»Durch die Ostern erfolgte Confirmation meines dritten Sohnes Willy in große Mehrausgaben versetzt, welche meine Kräfte bei weitem übersteigen, wird der hochlöbliche Magistrat bei meiner demselben bekannten traurigen Lage es nicht für unbillig halten, wenn ich mich dem hochlöblichen Magistrate mit der unterthänigsten Bitte nahe: ›Hochderselbe wolle mir zur Bestreitung der Kosten der Confirmation meines Sohnes Willy‹ eine Unterstützung hochgeneigtest bewilligen.«19
Die Ablehnung dieses Gesuches kann mehrere Gründe gehabt haben: Minna Back wurde während des gesamten Jahres 1885 nicht von der Armendeputation unterstützt. Eventuell wurde sie trotz der »bekannten traurigen Lage« einfach als nicht unterstützungsbedürftig angesehen. Eventuell hatte der Magistrat aber auch eine weitere Kasse und Möglichkeit, mit der die »Wittwe« eines Feldvogtes, eines städtischen Angestellten, unterstützt werden konnte. Damit wäre der »Wittwe« die Stigmatisierung als »arm« erspart geblieben. Auffällig ist aber der Zeitpunkt der Antragstellung Ende Februar. Da die Konfirmation »Ostern« erfolgt war, die Kosten also schon mehrere Monate bestanden haben, ist doch die Frage zu stellen, warum erst im Februar und nicht schon vorher das Gesuch gestellt worden war. Die Armendeputation scheint für die »Wittwe« Back die letzte Möglichkeit gewesen sein, an das dringend benötigte Geld zu kommen. Eventuell ist in der langen Zeit zwischen den Ausgaben und dem Antrag ein entscheidender Punkt für die Ablehnung zu sehen: Die Kosten waren schon angefallen (eventuell für eine bei Armen als verschwenderische Konfirmation wahrgenommene Feier), der Kreditgeber drängte immer mehr auf die Bezahlung dieser und eventuell weiterer Kredite und die Armendeputation wollte nicht diese Form der »Verschwendung« nachträglich unterstützen. Vielleicht war auch gar nicht mehr nachvollziehbar, welche Kosten allein für die Konfirmation angefallen waren, und welche Kosten anderweitig. Ebenfalls mit dem Zeitpunkt der Antragstellung hing die Art der Hilfe zusammen. Eine Sachhilfe kam nicht mehr in Frage, nur noch Geld konnte helfen. Dies ist wohl der andere Punkt für die Ablehnung: die Stadtverwaltung wollte sich nicht die Art und Weise der Hilfe aufzwingen lassen. Insgesamt gibt es damit zwei mögliche Gründe, warum die »Wittwe« Back kein Geld aus der Armenkasse bekommen hat: Es gab erstens für die Hinterbliebenen städtischer Angestellter andere Unterstützungsmöglichkeiten. Zweitens wollte die Armendeputation die Konfirmation nicht nachträglich unterstützen, sei es durch eine nicht mehr nachvollziehbare Kostenhöhe oder durch eine als
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Die Göttinger Armen und ihre Kinder
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nicht angemessen angesehene Geldunterstützung. Die Hoffnungen der »Wittwe« Back wurden damit enttäuscht. Wenn die generelle Bedürftigkeit beider Familien während der Konfirmation außer Frage steht zeigt der Vergleich, dass die Armendeputation nicht gewillt war, Kosten im Nachhinein zu übernehmen. Die rechtzeitige Antragstellung für eine Armenhilfe erscheint damit als grundlegend, damit das Gehör eine Chance auf Erfüllung hatte. Die Familien bildeten trotz der eigenen materiellen Not oftmals ein festes Band, um verschiedene Krisen zu überwinden. Es war durchaus üblich, dass sich Großeltern um ihre Enkelkinder kümmerten, wie z. B. die selbst bedürftige Witwe Niemann um ihre fünf und zwölf Jahre alten Enkelkinder. Diese innerfamiliären Hilfen müssen teilweise selbstverständlich gewesen sein. So fand Wilhelm Rathgeber mit spätestens vier Jahren 1875 Unterschlupf bei seinen Großeltern. Während seine Mutter sich zuerst als Amme verdingte, später Arbeit in Hamburg suchte, aber kein Geld schicken konnte, blieb das Kind bei ihren Eltern. Der Vater des Kindes war Marinesoldat, aber auch dieser erübrigte für sein Kind kein Geld. 1883 musste sich die allgemeine Situation verschlimmert haben, der Großvater musste um Hilfe ersuchen: »Bis zu meinem 62 Jahre ist es mir mit Gottes Hülfe gelungen, meine Frau und unsere 7 Kinder zu ernähren. Aber seit fast 2 Jahren bin ich mit dem einen Auge fast ganz erblindet und die Sehkraft des anderen Auges ist so gering geworden, daß ich nun auch nicht niemals mehr Gartenarbeit verrichten, noch Holz sägen und spalten kann. Auf Besserung meiner kranken Augen ist nach Aussage meines Arztes nicht mehr zu hoffen. Meine Frau ist 66 Jahre alt, mit einem Mutterschaden behaftet, darf dieserhalb nur ganz leichte Arbeiten verrichten und kann mich nicht ernähren. Mein elend ist daher unendlich groß, und es ist mir bei den besten Mitteln nicht möglich, noch ferner aus eigenen Mitteln die erforderliche Hausmiethe und das Schulgeld für meinen Großsohn, Wilhelm Rathgeber, der die Volksschule besucht und mich täglich führen muß, aufbringen.«20
In der Rolle des Kindes offenbart sich das strategische in diesem Gesuch: seine Rolle wird als »helfend« dargestellt. Ansonsten wird der »Kostenfaktor Kind« nur im Zusammenhang mit der Schule erwähnt. Rathgeber oder der Schreiber – als »Arbeitsmann« war Rathgeber im Aufsetzen der Gesuche ungeübt; zudem beschreibt er sich als »fast ganz erblindet« – waren sich der problematischen Rolle des Jungen in Göttingen bewusst und spielen sie daher herunter. 20 StadtA Gö: AHR I H, 12, Nr. 1.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
Die Armendeputation zeigte sich in diesem Fall unnachgiebig: Sie lehnte das Gesuch »vorläufig« ab, bis das Kind nach Itzehoe überführt worden war. Offensichtlich sollte hier verhindert werden, dass das Kind der Göttinger Armenkasse zur Last fiel. Der Unterstützungswohnsitz des Kindes war dann wohl der Wohnsitz der Mutter und dieser war dann wahrscheinlich in Itzehoe (oder beide waren landarm, hätten also durch den Landarmenverband Hannover unterstützt werden müssen). Eine nur für die Großeltern bemessene Unterstützung wurde auch nicht vergeben. Es wurde wohl befürchtet, dass mit dieser Hilfe ein »Durchwursteln« der Familie Rathgeber ermöglicht werden könnte. Zusammen mit verschiedenen Möglichkeiten, Geld hinzuzuverdienen, privater Unterstützung seitens einzelner Bürger und Einschränkung der Ausgaben auf das Allernotwendigste hätte der Enkel in Göttingen bleiben können, bis die Stadt für ihn unterstützungspflichtig gewesen wäre. Die familiären Netzwerke waren allgegenwärtig, lassen sich aber nur schwer nachweisen. Fürsprachen durch Freunde, Kinderbetreuung durch Familienangehörige oder Gewährung von Wohnung waren im Sinne der Armendeputation. Sie halfen, Kosten zu verringern. Solange diese Netzwerke so funktioniert haben, fanden sie keine Erwähnung. Sobald aber diese im Gegensatz zu den Ansichten der Armendeputation standen, wie im Falle Rathgeber, finden sie Eingang in die Akten. Ein seltener Sonderfall, Kinder zum Familieneinkommen beitragen zu lassen, war, Mädchen zur Prostitution zu zwingen. Neben der Strafbarkeit dieses Vorgehens ist die moralische Verwerflichkeit besonders hervorzuheben. Allerdings lassen sich nur wenige derartige Fälle nachweisen, die zudem in unterschiedlichen Archiven dokumentiert sind. Dies zeigt noch einmal die untergeordnete Bedeutung der Armen und ihrer Lebensumstände in der Verwaltung der Stadt und der Kirchengemeinden. Die Kinder der Familie Klingebiel wurden der katholischen Zwangsfürsorge überwiesen. Beide Elternteile waren vorbestraft. Nun ließen sie in ihrer Wohnung Prostituierte leben und wurden 1901 erneut wegen Kuppelei verurteilt. In dieser Zeit geriet ihre 15-jährige Tochter in das Umfeld der Prostituierten, es bestand sogar der Verdacht, dass die Eltern diesen Lebenswandel »begünstigt« hatten. So hielt sich der Sohn Heinrich von 1901 bis 1909 in verschiedenen Einrichtungen der katholischen Kirche auf. Nach seiner Entlassung lebte er das Leben seiner Eltern als Straßenreiniger.21
An diesem Beispiel zeigt sich das ganze Elend der Göttinger Bevölkerung. Mögen die Klingebiels in den städtischen Akten keine signifikanten Spuren hinterlassen 21 Pfarr-Archiv St. Michael III.B.7b.
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Die Göttinger Armen und ihre Kinder
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haben, so ist doch die Vermietung oder die Gewährung von Unterschlupf an Prostituierte eher als Notlösung zu werten. Von diesen, in der gesellschaftlichen Hierarchie noch weiter unten stehenden Personen, konnten Vermieter für schlechten Wohnraum gutes Geld nehmen. Das Bestreben, die eigene Lage zu bessern, zumal als von der Armut bedrohte Person, ist verständlich. Allerdings nutzten sie die Notlage von Prostituierten aus. Zudem setzten sie ihre eigenen Kinder ein, das Ansehen ihrer Wohnung bei den Freiern der Prostituierten zu steigern; schlimmer noch: der Verdacht, den Lebenswandel der Tochter »begünstigt« zu haben, wird wahrscheinlich einen wahren Kern gehabt haben. Hier ist auch die zeitliche Einordnung wichtig: Vor dem Ersten Weltkrieg war das Kind als schutzbedürftiges Objekt etabliert, entsprechend folgte die Einweisung zur Zwangserziehung aufgrund eines besonderen, 1901 erlassenen Gesetzes. Waren vorher – wenn überhaupt – schwammige juristische Formulierungen gebraucht worden, drohte das Kind allgemein zu »verwahrlosen«, so waren nun feste Paragrafen vorhanden. Die Armenfürsorge, der Umgang der Fürsorger mit den Armen, wurde wie hier durch äußere Ereignisse von der althergebrachten patriachalen Ebene auf eine juristische Ebene gebracht, kurz: der Umgang miteinander wurde professionalisiert. Dies erforderte dann auch eine Professionalisierung der Armenpfleger: vom Stadtbürger über den interessierten, in der Armenpflege engagierten Bürger hin zum professionellen Fürsorger. Mit zunehmendem Alter ändert sich das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern. Aus den einst umsorgten (und Kosten treibenden) Kindern werden die Umsorger und Aufbringer der Kosten für die alt gewordenen Eltern. Diese Umkehrung war auch bei den Unterschichten Göttingens nicht immer ohne Konflikte, wie das Beispiel des Pedell Bode und seines Vaters zeigt: Der Vater des Pedell im Universitäts-Auditorium Bode sollte 1879 in das Siechenhaus eingeliefert werden. Der Sohn wollte sogar 30 Taler Kostgeld zahlen. Da der Vater aber als »unverbesserlicher Störenfried« beschrieben wurde, wurde er nicht aufgenommen. Erst als der Werdegang des Vaters – der Verkauf von Grundstücken, der anschließende Auswanderungsversuch nach Amerika mit der Tochter, das daran anschließende mehrmalige kostspielige Wechseln zwischen der Familie des Sohnes in Göttingen und der Familie der Tochter in Amerika – und letztendlich das autoritäre Gebaren des alten Bode und die familieninternen Streitigkeiten stärker herausgestellt worden waren, wurde die Aufnahme befürwortet.22
Innerhalb der Familien konnten derartige Streitereien bis zum finanziellen Ruin führen: Die (verdienende) Generation konnte sich zerstreiten und trennen, sei22 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
tens der städtischen Obrigkeit konnte die Fähigkeit für eine geregelte Kindererziehung aberkannt und die Kinder auf Kosten der Eltern im Waisenhaus oder bei Pflegeeltern untergebracht werden. Allerdings stellte auch die Aufnahme in das Siechenhaus gegen Kostgeld eine finanzielle Belastung dar. Hier zeigt sich auch, dass die Universität ihren Angehörigen nicht in jeder Lage einen Rückhalt bieten konnte. Sie war einfach nicht in der Lage – und es war auch nicht ihre Aufgabe – den Vater ihres Pedellen unterzubringen. Insgesamt zeigt der Umgang mit den unterstützungswürdigen Kindern das gesamte zu erwartende Spektrum an Verhaltensweisen. Seitens der Armendeputation standen wieder die zu erwartenden Kosten im Vordergrund. Mehrausgaben oder Überschreitung der inoffiziellen Sätze wurden nicht geduldet. Auch kleinere Vermögen wurden schnellstmöglich eingezogen bzw. verrechnet. Mit der Konzentration auf die zu erwartenden Kosten setzte die Armendeputation das (langfristige) Wohl der Kinder aufs Spiel. Dieses Verhalten wurde dann auch von den bürgerlichen Standes- und Zeitgenossen kritisiert. Nicht umsonst war die Pestalozzi-Schulstiftung bis 1914 im Gegensatz zum allgemein arbeitenden Verein gegen Verarmung und Bettelei arbeitsfähig. Die Göttinger Bürger erachteten die Funktion des Vereins als wichtig und versetzten ihn in die Lage, Hilfen für Kinder vergeben und zusammen mit der Armendeputation Unterbringungskosten übernehmen zu können. Sobald für die Armendeputation keine Mehrausgaben zu erwarten waren, hatten die Armen gegenüber ihrer Behörde viele Freiheiten. Der Armenarbeitshäusler konnte gegen den Willen der Armendeputation die Pflegeperson seines Kindes ändern. Sie verursachte ja keine Mehrkosten. Bei den Armen selbst finden sich alle Verhaltensweisen, von der Fürsorge trotz Armut bis hin zur Ausnutzung der für das Kind bestimmten Gelder oder gar bis zum Verkauf der Kinder. Diese Verhaltensweisen sind individuell abhängig.
10.5 Widerstand gegen die Ortsobrigkeit? Beschwerden und Eingaben Die Armen hatten die Möglichkeit, bei Ablehnung eines Gesuches bei der Armendeputation selbst oder bei höher wahrgenommenen Behörden eine Beschwerde dagegen einzureichen. Diese »höhere Behörde« konnte sogar das Kaiserhaus sein. Der »Wittwe« Benge wurde 1885 eine gewünschte Unterstützung verweigert. Daraufhin wandte sie sich direkt an die Kaiserin mit der Bitte um eine Unterstützung. Aus Berlin wurde diese Bitte wieder an den Magistrat in Göttingen geschickt. Die Armendeputation teilte daraufhin der »Wittwe« mit:
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Widerstand gegen die Ortsobrigkeit?
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»[…] Auf das von Ihnen an S Majestät den Kaiser gerichtete Immediatgesuch vom 7. d. M., welches uns zum weiteren Verfahren überwiesen ist, erwidern wir Ihnen, daß wir nicht in der Lage sind, dasselbe unterstützen zu können, da für den Fall Ihrer Unterstützungsbedürftigkeit Sie sich an die hiesige Armen Deputation zu wenden haben. Wir geben Ihnen daher anheim, etwaige dahin gehende Anträge bei den Armenpfleger ihres Bezirks Herrn Rentier Fincke zu stellen. […]«23
Die Armendeputation und der Magistrat zeigten sich in dieser Situation als sehr verärgert. Sie fühlten sich wohl übergangen und in Berlin – beim kaiserlichen Hof – bloßgestellt. Göttingen sollte nicht den Ruf erhalten, seine »Wittwen« verhungern zu lassen. Und das ist dann auch der Inhalt der Antwort: Die »Wittwe« Benge soll sich wieder an den Instanzenweg, an die städtischen Armenpfleger, halten. Vielleicht hatten die Armen das Recht auf Gesuche bei übergeordneten Behörden, und wenn dieses Recht auch nur ein althergebrachtes feudales Gewohnheitsrecht war. Aber selbst dieses Recht wurde seitens der Göttinger Stadtverwaltung verweigert. Ebenfalls legte Emil Apel 1901 eine Beschwerde gegen seine Überführung in die Landarmenanstalt Wunstorf ein. Er wurde 1843 in Göttingen geboren und hatte zwei gescheiterte Auswanderungsversuche nach Amerika hinter sich gebracht. Über diese Versuche wird er wohl seinen Unterstützungswohnsitz in Göttingen verloren haben. Zum Zeitpunkt der Beschwerde lag er mit einem »Rückenmarksleiden« im städtischen Hospital, womit er dem Landarmenverband Kosten verursachte. Dieser wollte ihn daraufhin in die Landarmenanstalt Wunstorf verlegen. Die Beschwerde Apels wurde von einem Stadtschreiber aufgenommen. »[…] Ich bin in Göttingen geboren, habe auch lange Jahre früher in Göttingen gewohnt. Ich muß es als eine Härte ansehen, daß ich jetzt wo ich krank bin aus meiner Vaterstadt heraus in die Landarmenanstalt Wunstorf versetzt werden soll. Meine Verwandten befinden sich durchweg in angesehenen Stellungen, ich bitte auch […] aus diesem Grunde von meiner Versetzung nach Wunstorf absehen zu wollen. Im Übrigen glaube ich auch eher in Göttingen Heilung zu finden als in Wunstorf. […]«24
Emil Apel sieht es als Ungerechtigkeit an, aus seiner Vaterstadt ausgewiesen zu werden. Ein wesentlicher Punkt seiner Verteidigungsstrategie sind seine Verwandten. Er deutet damit die Möglichkeit an, dass diese ihm eventuell helfen könnten, nach der Genesung wieder ein Auskommen zu finden oder eine Unter23 StadtA Gö: AHR I H 12, Nr. 1. 24 HSta Hannover: Hann 122a.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
stützung durch die Verwandtennetzwerke zu bekommen. Der zweite Punkt seiner Strategie sind die seiner Meinung nach besseren medizinischen Bedingungen in dem städtischen Hospital in Göttingen. Vielleicht hat er aber auch noch die Hoffnung, in die Göttinger Universitätskliniken verlegt zu werden, in welchen dann tatsächlich modernere, bessere Heilmethoden angewandt wurden. Dieser Argumentation konnte sich das Landesdirektorium aber nicht anschließen. Die Verwandtennetzwerke trugen ihn offensichtlich schon während seiner Krankheit nicht, und ob »Heilungschancen« in den Augen einer finanzorientierten Armenbehörde eine Rolle spielten, ist mehr als zweifelhaft. Emil Apel musste in die Landarmenanstalt Wunstorf gehen, und von dort kehrte er zumindest nach Göttingen nicht mehr zurück. Interessant ist, dass ein Stadtschreiber die Beschwerde aufgenommen hat. Emil Apel wird wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen sein, eine den formalen Anforderungen genügende Beschwerde abzufassen und auch nicht das Geld gehabt haben, einen privaten Schreiber zu bezahlen. Wollte sich die Armendeputation gegenüber dem Landesdirektorium keine Blöße geben? Hatte die Armendeputation vielleicht sogar das paternalistische Interesse, diesen Menschen aus Göttingen in ihrer Stadtgemeinde zu halten? Oder war sie schlicht verpflichtet, für solche Anlässe einen Schreiber zu stellen? Eine andere Möglichkeit, gegen eine Ablehnung vorzugehen, war eine erneute Antragstellung. Zum ersten Mal bat der ehemalige »Compagnie-Chirurgus«, nunmehrige Schreiber Adolf Hofmann am 3. März 1878 anscheinend mündlich um eine Unterstützung. Ein zweiter mündlicher Versuch, nun um Arbeit oder Unterstützung zu bekommen, wurde am 18. Mai desselben Jahres gestellt. Zwar bekam seine Frau nun Krankengeld zugestanden, doch war Hofmann noch immer nicht zufrieden. Nun griff Hofmann am 7. August selber zur Feder und verfasste ein Gesuch (siehe S. 98). Dieses Gesuch hatte endlich Erfolg. Es war zwar keine erhoffte Arbeit, doch wurde die Unterstützung auf 2 Mark verdoppelt. Die Hartnäckigkeit Hofmanns hat sich hier offensichtlich bezahlt gemacht. Doch welchen Anteil am »Erfolg« hatte die schriftliche Form des Gesuches? Und wie wirkte sich dann das Sozialprestige des Adolf Hofmann aus? Schließlich war er ja »Compagnie-Chirurgus a. D.« und als Schreiber wohl auch den Stadtbeamten bekannt. Dies könnte die Verdoppelung der Unterstützung erleichtert haben. Von einem zwangsläufigen »Erfolg« bei Beschwerden gegen die Armenbehörde kann nicht ausgegangen werden. Ebenso wenig kann aber von einem kategorischen Beharren durch die Armendeputation auf den einmal getroffenen Entscheidung ausgegangen werden. Solange die Armen sich an die gewünschten Formen und Formeln hielten – und das taten sie in Göttingen im Kaiserreich offensichtlich noch – waren alle Möglichkeiten offen. Selbst nach der Bloßstellung der Armen-
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Ein armes Leben: Carl Wienecke
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deputation am Hof der Kaiserin wird die Entscheidung dem Armenpfleger überlassen. Ausschlaggebend für die Gewährung einer Armenunterstützung war die Anerkennung des Mangels durch die Armendeputation.
10.6 Ein armes Leben: Carl Wienecke Das Leben Carl Wieneckes zeigt, welche Spielräume die städtischen Obrigkeiten im Umgang mit Armut hatten. Gleichzeitig zeigt dieses Leben auf, inwieweit sich Personen der Unterschichten den Obrigkeiten entziehen konnten. Und nicht zuletzt zeugen die Geschichten, die über Carl Wienecke kursierten, beispielhaft vom Umgang der Obrigkeiten mit den Unterschichten. Die Geburt und die Herkunft Carl Wieneckes liegen im Dunkeln. Wurde er im Oktober 1855 oder 1858 geboren? War seine Heimatgemeinde Grone?25 Wenn ja: wieso kümmerte sich die Göttinger Armenverwaltung um ihn? Carl Wienecke tauchte jedenfalls zum ersten Mal im Göttinger Armenarbeitshaus 1868 als Sohn einer unverehelichten Frau allein auf. Diese Unterbringung führte wohl zu Diskussionen innerhalb der Armenverwaltung, musste doch der Aufenthalt im Januar 1868 erneut genehmigt werden. Die Unterbringung des Kindes ohne Mutter im Armenarbeitshaus muss gleichwohl in irgendeiner Form geregelt geschehen sein, wurde doch der Mutter in derselben Sitzung – quasi im Gegenzug – die Armenunterstützung gekürzt. Im Jahr 1869 hatte Wienecke einen Aufenthalt im Universitätsklinikum und wurde 1870 – noch immer als »Kind« geführt – erst einmal aus dem Arbeitshaus entlassen. Eine auswärtige Unterbringung gegen Alimentation schien 1871 gescheitert zu sein. Ebenfalls 1871 bekam er von der Armendeputation ein Bruchband. 1880/1881 war er im Sommer immer wieder im Armenarbeitshaus, aus dem er regelmäßig entwich und wieder eingeliefert wurde. Nach einer dieser Fluchten war er dann 1883 in Hannover wegen »Vagabondage« in Haft, anschließend – oder an Stelle der Haft in Hannover – im Werkhaus zu Moringen. 1885 findet sich ein »Wieneke« wieder im Armenarbeitshaus wegen »Arbeitsscheu«. 1892 und 1893 war er abermals im Göttinger Armenarbeitshaus, aus dem er im Sommer wieder regelmäßig entwich. Im Sommer 1894 verließ er zum letzten Mal das Armenarbeitshaus, diesmal aber nicht in die »Freiheit«, sondern in das städtische Hospital. Dort verstarb er nach sechs Jahren im Jahr 1900 an Schwindsucht.26 Sein Erscheinungsbild blieb den Göttingern aber erhalten. Er
25 Vgl. StadtA Gö: Meldekarte. 26 Vgl. StadtA Gö: AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 283; AA. Wohlfahrt. 1. Armensachen 284; AB Wof 12.10.1; AHR I H 2, Nr. 2; AHR I H 11, Nr. 1; AHR I H 8, Nr. 2.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
stand Motiv für wenigstens eine, eventuell zwei Figuren in den farbenprächtigen Wandgemälden im Saal des alten Göttinger Rathauses.27 Den Göttingern blieb er wenigstens bis in die 1930er-Jahre als »Göttinger Blumenmädchen« oder »Blumen-Karl« – immerhin ca. 35 Jahre nach seinem Verschwinden aus der Öffentlichkeit und 30 Jahre nach seinem Ableben – in Erinnerung. Als solcher verkaufte er in Mariaspring, einem beliebten Ausflugsort nahe Göttingen, selbstgepflückte oder erbettelte Blumen. Wachgerufen wurde die Erinnerung durch den Wiederabdruck eines Tageszeitungsartikels aus dem Jahr 1884 in einer Wochenendbeilage des Jahres 1934. In diesem Tageszeitungsartikel wird von der Verhaftung des aus Halle an der Saale zurückgekehrten Wienecke berichtet. Dieser hatte dort eine schon schwangere Frau gefunden, war mit ihr nach Göttingen zurückgewandert und hatte auf dem Hainberg in einer Bretterbude ein Heim gesucht.28 Interessant ist die Reaktion auf diesen wieder abgedruckten Zeitungsartikel einige Wochen später. In der umbenannten Wochenendbeilage erschien ein längerer Artikel mit drei Fotografien über Carl Wienecke. Dieser Artikel zeigt nicht nur das traurige Leben des Carl Wienecke, sondern auch, was Göttinger Bürger über stadtbekannte Arme wußten und nicht wußten, ihnen zuschrieben, über sie dachten und woran sie sich erinnerten:29 »Das Göttinger Blumenmädchen, wie die Studenten den armen Kerl getauft hatten, war ein geistesschwacher und körperlich zurückgebliebener Mensch namens Karl Wienecke.«
Bemerkenswert erscheint, dass der amtliche Name des Mannes noch bekannt war, bzw. sich eventuell mit Hilfe des Zeitungsartikels rekonstruieren ließ. Die Studenten hatten in der Stadt eine Meinungshoheit, zumindest wenn es um Personen in Gaststätten und Lokalen ging. Carl Wienecke war ihnen in jeder Hinsicht unterlegen. Durch seinen Verkauf von Blumen an »ihrem« Ausflugsort nahmen sie sich die Hoheit über seinen Namen, seine Identität innerhalb des städtischen Gefüges. Und mit der Bezeichnung »Blumenmädchen« nutzten sie ihre Stellung, ihre geistige und körperliche Überlegenheit aus. Sie sprachen ihm seine Männlichkeit ab; nahmen in nicht weiter als »Mann« wahr. Die guten Göttinger Bürger scheinen diese Bezeichnung – und auch diese Deutung – ungefragt übernommen zu haben.
27 Brieke, Georg Merkel und seine Zeit, S. 30. 28 Vgl. GZ 1884; Göttinger Zeitung am Wochenende 1934. 29 Vgl. Göttinger Zeitung am Wochenende 1934.
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Ein armes Leben: Carl Wienecke
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Gerade die Studenten nutzten die Unterlegenheit Carl Wieneckes zum Teil bösartig aus: »Von einem Augenzeugen ist mir einmal berichtet worden, daß die Studenten Karl Wienecke einmal in einen Affenkäfig hineingesteckt haben. Obwohl die Tiere sonst sehr bissig waren haben sie dem ›Kollegen‹ nichts getan.«
Neben der eigentlichen Handlung enthält diese Episode noch die Schilderung der Stellung, die Carl Wienecke aus Sicht des Göttinger Bürgers selbst 34 Jahre nach seinem Tod einnimmt: ein »Kollege« der Affen, quasi ein Mensch auf tierischem Niveau. »Woher er eigentlich stammt, ob er ein geborener Göttinger ist oder ob er zugewandert ist, das weiß ich nicht. Seine Mutter ist uns aber noch bekannt gewesen.«
Die Erinnerungen des Göttinger Bürgers beschränken sich nicht nur auf Carl Wienecke, sondern auch auf seine Mutter. Diese Erinnerungen müssen damit weiter als die genannten 30–35 Jahre zurückreichen. Auch wenn Carl Wienecke und seine Mutter auffällige Personen waren, so sind diese Erinnerungen doch bemerkenswert. Oder erinnerte man sich in einem überschaubaren Gemeinwesen, wie Göttingen es war, doch eher an seine auffälligen Persönlichkeiten? »Wahrscheinlich ist Karl Wienecke, wenn er nicht in Göttingen geboren wurde, doch mit seiner Mutter hierhergekommen. Er wohnte damals im Werkhause, an der Angerstraße, wo sich heute die Wanderarbeitsstätte befindet. Wie in der »Göttinger Zeitung« richtig beschrieben worden ist, hatte Karl Wienecke das Aussehen eines Urmenschen. Er hatte einen ganz primitiven Schädel, so daß man wirklich vor ihm Angst bekommen konnte. Dabei hat er sich, soviel mir bekannt, niemals irgendwelche Gewalttaten zu Schulden kommen lassen.«
Der Göttinger Bürger hat konkretes Wissen über den offiziellen Wohnort Carl Wieneckes in Göttingen. Er wurde aber – so die Zeitungsnachricht 1884 – aus einer Bretterbude am Hainberg geholt. Da er zumindest im Sommer immer wieder außerhalb des Armenarbeitshauses nächtigte, wird er ausreichend Kenntnisse über entsprechende Schlaf- und Wohnplätze in und um Göttingen gehabt haben. Die strikt geregelten Verhältnisse des Armenarbeitshauses scheinen Carl Wienecke zu eng gewesen zu sein. So sind dann auch die regelmäßig überlieferten Fluchten in den 1880er- und 1890er-Jahren zu erklären. Das Aussehen Carl Wieneckes beschreibt der unbekannte Autor als das eines »Urmenschen« mit »ganz primitiven Schädel«. Damit eröffnet sich ihm das Stereotyp eines »lieben Idioten«.
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Strategien und Lebensweisen der Armen
»Mit einem todernsten Gesicht, ich habe ihn eigentlich nie lachen sehen, und mit grotesken Verbeugungen bot er seine Blumen an. Er war in Mariaspring zu einem festen Inventar geworden, bis eines Tages ein neuer Besitzer ihm das Handeln mit Blumen verbot. Seit dem habe ich ihn auch nicht mehr gesehen, und ich vermute, daß er in den 90er Jahren von Göttingen fortgewandert ist.«
Auch dem Göttinger Bürger war natürlich die namenprägende Rolle in Mariaspring bekannt. Das Verschwinden Carl Wieneckes aus dem öffentlichen Leben erklärt er sich aber mit dem Verbot des Blumenverkaufs und der anschließenden vermuteten Abwanderung aus Göttingen. Tatsächlich musste sich Carl Wienecke in das städtische Hospital begeben, in welchem er nach sechs Jahren an der »Schwindsucht«, also an Tuberkulose oder an einem »allgemeinen Dahinschwinden« verstarb. Die Einlieferung in das städtische Hospital darf aber auch nicht als Zeitpunkt des endgültigen Verschwindens gesehen werden. Denn wer sich aus dem Armenarbeitshaus entfernt, ohne einen Akteneintrag zu hinterlassen, dem sollte es auch möglich sein, gleiches aus dem städtischen Hospital zu tun. »Im Winter, wenn es keine Blumen zu verkaufen gab, mußte Karl Wienecke für das Werkhaus arbeiten. Dann war er meistens mit dem Austragen von Holz beschäftigt und sah entsetzlich ungepflegt aus. Wir nannten ihn dann meistens Bruder Straudinger.«
Die Winterarbeit für das Armenarbeitshaus ist im Gedächtnis geblieben. Doch war Carl Wienecke eigentlich auch im Sommer arbeitspflichtig. Das gute Wetter und die verschiedenen ihm eigenen Verdienstmöglichkeiten scheinen ihm aber genug Chancen geboten zu haben, der Arbeitspflicht zu entfliehen. Das schlechte Aussehen kann primär auf die schwere Arbeit in den nassen Straßen Göttingens zurückgeführt werden. Holzsplitter und Dreck, Nässe und Streumaterial können Körper und Kleidung arg zugesetzt haben. Eine andere Deutung für das als schlecht empfundene Aussehen zur Winterzeit liefert ein anderer (späterer) Erzähler Göttinger Geschichten. Demnach hat sich Carl Wienecke die Arbeit als Holzhacker selbst ausgesucht und die von Senator Eberwein beschaffte Stelle im Städtischen Altersheim verlassen. Das schlechte Aussehen kann also auch Zeichen mangelnder Pflegemöglichkeiten von Körper und Kleidung im selbstgewählten Fluchtort sein. »Er liebte das ungebundene Leben […]«30, so die Erklärung für diesen Widerstandsgeist. Insgesamt zeigt das Leben Carl Wieneckes zum einen die Zwänge und Sanktionen des armen Lebens. Hier gab es das Armenarbeitshaus mit seinen star30 Günther Meinhardt, Göttinger Originale, S. 121 f. Siehe auch den Exkurs zu Carl Borheck.
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Ein armes Leben: Carl Wienecke
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ren Regeln. Zum anderen zeigt das Leben Carl Wieneckes die Flexibilität der Armenpflege. Im Sommer, wenn es Verdienstmöglichkeiten selbst für eine Person wie Carl Wienecke gab, konnten die Regeln viel eher gebrochen werden. Im Hauptverdienstort Mariaspring wird auch die städtische Obrigkeit verkehrt haben, und diese hatte dann Carl Wienecke nicht zurückführen lassen oder dort gezielt Armendiener oder gar Polizisten auf ihn angesetzt. Carl Wienecke wollte dem Armenarbeitshaus entfliehen, und man ließ ihn gewähren. Eventuell wollte er eher naturnah leben, fühlte sich dort wohl, eventuell musste er naturnah leben, da er keine andere Unterkunft fand. Im Winter dagegen machten Witterungsbedingungen und mangelnde Verdienstmöglichkeiten das Leben außerhalb des Armenarbeitshauses sehr schwierig. In dieser Zeit musste sich Carl Wienecke den Regeln des Armenarbeitshauses unterwerfen. Aber selbst dies ist ja unklar: War er im Armenarbeitshaus oder in einem der als Altenheime geführten Einrichtungen? Verkaufte er das Holz in Eigenregie oder im Auftrag des Armenarbeitshauses? Inwieweit gab es aber auch hier Mischformen, einmal auf eine einzige Wintersaison betrachtet: am frühen Vormittag die Arbeit im Altenheim, später die Holzarbeit, Mittagessen nach Angebot und nachts zum Schlafen möglichst wieder ins (beheizte und trockene) Altenheim? Um wieviel unmöglicher muss es dann werden, die Lebensweise Carl Wieneckes aus den angehäuften Erinnerungen alter Herren (?) und den unvollständigen Aufzeichnungen anderer Herren zu rekonstruieren? Trotzdem lässt sich aus den Erzählungen heraushören, dass in Göttingen für Personen wie Carl Wienecke besondere Regeln galten, die sich nicht oder nur schwer in das herkömmliche Bild einer Armenpflege einzeichnen lassen. Er war oftmals im Sommer außerhalb seines Wohnsitzes Armenarbeitshaus: die Göttinger Bürger sahen ihn in Mariaspring und auf anderen Ausflügen in das Göttinger Umland. Die Zu- und Abgangslisten zeichnen dagegen ein anderes Bild: es lässt sich demnach sagen, dass Carl Wienecke im Sommer ein »Fluchtbedürfnis« hatte, es lässt sich aber nicht sagen, wie stark dieses war, wie lange diese Fluchten gedauert haben. Auf einen »Zugang« im Jahr 1880 kommen zwei »Abgänge« im Jahr 1881. Hier lässt sich vermuten, dass der Schreiber nur die besonders langen »Ausflüge« nachträglich verbucht hat, dass die Flucht und der Blumenverkauf zum tolerierten Verhalten Carl Wieneckes in Göttingen, und ausschließlich nur in Göttingen, gehört hat. Er arbeitete »in Freiheit« für seinen Lebensunterhalt, er belästigte die Bürger nur in einem geringen Maße, im Gegenteil: diese amüsierten sich über ihn (auf seine Kosten). Nicht tolerabel war für die Göttinger Armenpflege und die Polizei das Wohnen mit einer Schwangeren in einer Bretterbude jenseits der bebauten Stadt. Hier bestand Gefahr für Mutter und ihr ungeborenes Kind, zudem die Mutter in Göttingen keine Unterhaltsansprüche hatte. Natürlich hörten die besonderen Verhältnisse jenseits Göttingens auf. Hier galten die glei-
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Strategien und Lebensweisen der Armen
chen harten Bedingungen für Carl Wienecke wie für alle anderen auf der Straße lebenden Menschen, hier wurde er wegen Vagabundierens eingesperrt. Inwieweit Carl Wienecke sich ausgenutzt gefühlt hat, inwieweit er den Spott und die Häme seiner Mitmenschen gefühlt hat muss offen bleiben. Seine Arbeit bot ja nicht nur die entwürdigenden Momente. Durch seine Arbeit war er Teil einer Gemeinschaft. Gute Bürger unterhielten sich mit ihm. Natürlich waren diese Unterhaltungen, Kontakte und Beziehungen durch das extreme gesellschaftliche und intellektuelle Ungleichgewicht geprägt, doch unterhielten sich eben gute Bürger mit Carl Wienecke. Carl Wienecke war alles andere als ein typischer Armer. Im Gegensatz zu vielen anderen Unterstützten war er psychisch beeinträchtigt. Natürlich raubte ihm diese Beeinträchtigung Möglichkeiten und war wenigstens ein Grund – wenn nicht der Grund – für seine Armut. Durch diese Beeinträchtigung konnte er sich in Göttingen aber Freiheiten herausnehmen, die anderen Armen verwehrt geblieben waren. Gerade diese herausgenommenen und gewährten Freiheiten zeigen die Handlungsmöglichkeiten der Armen, der Armenbehörde und auch der Polizei. Die Bettelei Carl Wieneckes war damit z. B. geduldet, die Bettelei anderer Göttinger oder gar Auswärtiger wurde gleichzeitig verfolgt und bestraft.
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Fazit
Von vornherein war die Arbeit in zwei Teile angelegt, die immer wieder verquickt werden mussten: Struktur und Individuum, Institution und Mensch. Die Menschen haben in den vorgefundenen Strukturen agiert, sie haben sie mit Leben gefüllt. Menschen sind aus dem Armenarbeitshaus ausgebrochen, Menschen haben entschieden, diese Ausbrecher zu verfolgen oder gewähren zu lassen. Menschen finden sich damit sowohl auf der Seite der Armenpflege als auch auf der Seite der Armut. Leitmotiv der bürgerlichen Armenfürsorge über den gesamten Zeitraum war ein unbedingter Sparwille. Die Stadtbürger bezahlten indirekt über ihre Steuern oder direkt als Spende oder Mitgliedsbeitrag eines Vereines die Armenhilfen. Den Bürgern war dies genau bewusst. Sobald anscheinend überhaupt nur der Verdacht aufkam, eine Unterstützung wäre in irgendeiner Art und Weise zu großzügig bemessen, wurde diese gekürzt. Zwischen 1860 und 1914 nahm dieser Sparwille immer weiter zu. Dieses ist bei den folgenden Überlegungen immer zu beachten. Dass dieser Sparwille derart ausgeprägt war, war eine direkte Folge der geltenden Armengesetze: es war genau geregelt, welche Kommune bzw. welcher Ortsarmenverband die Kosten für die Armen übernehmen musste. Sobald die Stadt Göttingen Armenhilfe leisten musste lassen sich keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Zugezogenen erkennen. Der Ausschluss, die Exklusion, aus der Göttinger Gesellschaft fing vor dem Erwerb des Unterstützungswohnsitzes an. Sobald dieser erworben war, war in der Praxis eine weitere Exklusion sowohl von den Gesetzen als auch in der Praxis der Armenpflege offensichtlich nicht möglich. Dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass viele Angehörige der Göttinger Unterschichten vom Bürgertum als nicht gleichberechtigt behandelt wurden. Armut an sich war schon mit einem Stigma behaftet. Nicht geregelt war dagegen die Frage, ab welchem genauen Mangel jemand als »arm« galt und wie hoch die Unterstützungen sein durften. Das Sparen an den Armenhilfen war so immer möglich: es konnte die Verantwortung für einen Armen zurückgewiesen werden oder es konnte ein bestimmter Bedarf negiert werden. Ebenso unge-
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Fazit
regelt war die Organisationsform der Armenpflege. Durch den Gesetzgeber war eine Armenpflege auf kommunaler Basis vorgeschrieben, die weitere Umsetzung dieser Vorschrift blieb den Kommunen überlassen. In Göttingen etablierte sich ein Pflegesystem aus vier verschiedenen Säulen: Die städtische Armenpflege, die Armenpflege der verschiedenen Vereine, die Armenpflege der Kirchengemeinden und – göttingenspezifisch – die Hilfen der Universität. Innerhalb dieses Systems war die Stadt der Hauptakteur. Dazu unterhielt sie unter anderem feste Anstalten: ein multifunktionales Armenarbeitshaus, ein Siechenhaus, später dazu ein Altersheim und ein Hospital. Das Armenarbeitshaus war der Ort für als »unwürdig« empfundene Arme. Diese Personen sind aus dem Armenarbeitshaus aber immer wieder entwichen, bzw. durften gehen. Diese »unwürdigen« Armen haben sich so nicht mehr disziplinieren lassen. Sozialdisziplinierung muss auf einer anderen Ebene stattgefunden haben. Das Armenarbeitshaus kann nur noch Drohung für die »besseren« Armen gewesen sein, sollten sie in unerwünschte Verhaltensweisen abgleiten. Die »unwürdigen« Armen kannten die Verhältnisse des Armenarbeitshauses schon und waren mit dem besonderen Stigma des »Arbeitshäuslers« belegt. Später kamen hier auch verschiedene, kurzzeitig in Obdachlosigkeit geratene Personen, teilweise ganze Familien, hinzu. Damit dürfte die Stigmatisierung von Personen in diesem kommunalen Armenarbeitshaus eher abgenommen haben. Als weitere von der Stadt unterhaltene Institutionen standen das Siechenhaus, das Altersheim Geschwister-Reinholdstift und Hospital für arme Alte, Kranke oder Pflegebedürftige zur Verfügung. Die beiden ersten Institutionen waren dabei den »würdigeren« Armen vorbehalten. Derartige Einrichtungen konnten die Vereine nicht unterhalten. Im Sinne einer Arbeitsteilung innerhalb der Armenpflegeinstitutionen kümmerte sich die Stadt um alle Arme, die durch das Netz der Familien, der Wohltätigkeitsvereine und der Kirchen fielen. Dies waren diejenigen, denen die »besondere« Würdigkeit für Vereins- oder Kirchenhilfe fehlte oder die von ihnen aufgrund der beschränkten finanziellen Mittel nicht berücksichtigt werden konnten. Aus der Armenkasse wurden viele Arbeiten der Vereine finanziell unterstützt und dadurch zum großen Teil erst ermöglicht. Die Armendeputation verdankte ihre Stellung als zentrale Institution zum Teil diesen finanziellen Hilfeleistungen. Dadurch ermöglichte sie in mancher Hinsicht erst die Vereinsarbeit. Als Gegenleistung sicherte sich die Deputation ein Mitspracherecht in der Ausformung der einzelnen Vereinsarbeiten zu. Durch die einzelnen Hilfszahlungen – oder deren Einstellung – konnte sie zudem über das Weiterexistieren einzelner Vereinszweige oder gar eines gesamten Vereins beschließen. Auch mit den Kirchengemeinden und den Institutionen der Universität wurden Absprachen versucht. Damit sollten die befürchteten Doppelunterstützungen einzelner Armer durch verschieden
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Institutionen vermieden werden. Die Armenverwaltung hatte durch ihre Vorgehensweise mehrere Vorteile: Sie konnte die Zahl ihrer Pflegekräfte auf ein Minimum beschränken und sie brauchte nur für Arme sorgen, die durch die Raster der Vereine und der Kirchengemeinden fielen. Allerdings zeigten sich die verschiedenen Strömungen, die in der Armenpflege herrschten, viel deutlicher, sobald das »Druckmittel Geld« wegfiel. Da Universität und Kirchengemeinden nicht auf die städtischen Zuschüsse angewiesen waren konnte sich hier eine Art Widerstand gegen die Armenpflege der Stadt bilden; zwischen diesen unabhängigen Institutionen und ihren jeweiligen Vertretern fanden die verschiedenen Diskussionen, aber auch Zankereien und Streitereien, statt Die Vereine kümmerten sich ausschließlich um in ihrem Sinne »würdige« Arme. Wer »würdig« war hing in starkem Maße von den in den Vereinssatzungen genannten Zielen ab. Allgemein als würdig erachtete Kinder bekamen z. B. vom Verein gegen Verarmung und Bettelei keinerlei Unterstützung. Zum einen waren sie eher dauerhaft zu unterstützen, was die Statuten dieses Vereines nicht vorsahen, zum anderen konnten Kredite ihnen nicht aus ihrer Not helfen. Dagegen wurden allgemein als eher unwürdig angesehene entlassene Strafgefangene von einem besonderen Verein unterstützt. Insgesamt geriet die Vereinsarmenpflege in eine zunehmende Krise. Die Vereine konnten zuerst ihren selbstauferlegten laufenden finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen und mussten daher auf die Hilfen der Armendeputation zurückkommen. Diese verlangte dafür ein Mitspracherecht in der Ausformung der Vereinsarbeit. Zum zweiten konnten sie trotz finanzieller Hilfen ihr Arbeitsangebot nicht mehr im ursprünglichen Umfang aufrechterhalten. Nach und nach stellte der Frauenverein Zweige seiner Arbeit ein und der Verein gegen Verarmung und Bettelei schloss seine Pfennigsparkasse nach wenigen Jahren. Zum dritten verlor der Verein gegen Verarmung und Bettelei an Mitgliedsbeiträgen und damit an Mitgliedern, was für eine tiefergehende Krise der Vereinsarmenpflege spricht. Dieser Verein konnte seine Mitgliederabgänge nicht mehr ausgleichen. Der Verein verlor wahrscheinlich durch die jahrzehntelange Dominanz einiger weniger immer älter werdenden Herren an Attraktivität für jüngere Mitglieder. Der Mitgliederschwund kann aber auch Zeichen eines allgemeineren Mentalitätswandels innerhalb der Gesellschaft sein. Jüngere Bürger waren nicht mehr zu einem derartig starken Engagement in der kommunalen Öffentlichkeit insgesamt oder speziell in den Wohltätigkeitsvereinen bereit, wie es noch ihre Väter gewesen waren. Oder sie sahen die Notwendigkeit nicht mehr, sich in solchen Vereinen zu engagieren, da der Lebensstandard der Armen während des Kaiserreichs allgemein anstieg. Zudem verbesserten die Sozialversicherungen, die Arbeiterversicherungen, langsam die Lage der Unterschichten.
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Als weiteres eigenständiges Standbein der Wohlfahrtspflege haben sich ab 1890 die Kirchengemeinden erwiesen. Durch die unterschiedliche Mitgliederrekrutierung sind sie nicht mit den Vereinen zu vergleichen gewesen, durch die Freiwilligkeit ihrer Armenpflege unterschieden sie sich von der städtischen Armenpflege. Von der Konzeptionalisierung der Armenpflege nahmen sie sich als einen eigenständigen Zweig wahr. Die Vordenker einer kirchlichen Armenpflege kritisierten sowohl die städtische als auch die Vereinsarmenpflege. Eine solche eindeutige Kritik ist von den Göttinger Kirchenvertretern nicht überliefert, doch gab es Spannungen durch die unterschiedliche Anlage der Armenpflege: Die Kirchengemeinden scheinen unabhängig oder ohne genaue Prüfung des Unterstützungswohnsitzes ihre Hilfen vergeben zu haben. Hintergrund ihrer Bemühungen war die christliche Nächstenliebe, die sich nach Meinung der Kirchenvertreter nicht an Gesetze binden ließ. Sie kamen damit mit der städtischen Armenpflege, die bestrebt war, Arme ohne Unterstützungswohnsitz in Göttingen in ihre Unterstützungsgemeinden frühzeitig abzuschieben, in Konflikt. Gleichzeitig versuchte die Kirche über den Hinweis auf Mängel in der Arbeitsteilung der städtischen und bürgerlichen Armenpflege ihre eigene Arbeit zu legitimieren. Damit finden sich hier ausgesprochen zahlreich die der Armenverwaltung kritisch lobbyistisch eingestellten Organisationen, wie sie von Christoph Sachße und Florian Tennstedt definiert worden sind. Solche Organisationen wurden für die Zeit des Kaiserreiches bisher eher in den sich langsam formierenden überregionalen Wohlfahrtsverbänden ausgemacht. In der Ausformung der kirchlichen Armenpflege, eventuell in der Armenpflege überhaupt, ist der persönliche Einfluss der Pfarrer nicht zu unterschätzen. Diese hatten unterschiedliche Möglichkeiten aber auch Einstellungen zur Erledigung dieses Aufgabenfeldes. Hatte ein Pfarrer z. B. für die städtische Armendeputation seine Gemeinde zu betreuen, so konnte er daneben noch die kirchliche Armenpflege ohne nennenswerte Hilfen erledigen. Hatten dagegen Gemeindepfarrer anderweitige Arbeitsschwerpunkte, so waren sie auf die Hilfe des Kirchenvorstandes und der Gemeindemitglieder angewiesen. Dies machte eine andere Organisation der Armenpflege notwendig. Als spezifisch für Göttingen – und damit für Universitätsstädte – zeigt sich die Rolle der Universität. Sie unterhielt das Waisenhaus und füllte damit eine Lücke im traditionellen Versorgungssystem der Armen. Und sie unterhielt eine umfangreiche Krankenpflege, was wiederum die städtischen Anstrengungen in diesem Bereich entlastete. Die Universität betrieb diese Krankenpflege allerdings nicht wegen der Kranken selbst, sondern um Lehrobjekte für den universitären Ausbildungsbetrieb zu bekommen. Zwischen den einzelnen Institutionen der Armenfürsorge gab es Überschneidungen durch einzelne Bürger. Die Mitglieder der Armendeputation waren Mit-
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glieder in dem Verein gegen Verarmung und Bettelei und teilweise in der Pestalozzi-Schulstiftung. Der langjährige Vorsitzende der Armendeputation war in den Vorständen der beiden besagten Vereine und auch noch im Vorstand des Vereins zur Fürsorge für entlassene Gefangene. Diese Mehrfachmitgliedschaften gehörten zu seinem Amtsverständnis als Leiter der Armendeputation. Diese Verbindungen waren damit kein zufälliges Produkt einzelner Personen. Sie wurden gezielt angelegt und gepflegt. Durch die kurzen Informationswege hatten sowohl die Vereine, die Kirchengemeinden als auch die städtische Armenverwaltung viele Vorteile. Bei diesen engen personalen Verbindungen stellt sich dann aber die Frage, inwieweit überhaupt von verschiedenen Standbeinen der Wohlfahrtspflege gesprochen werden kann. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass diese Mehrfachmitglieder an einem Tag für den Verein, an einem anderen Tag für die Stadt gearbeitet haben. Vielmehr scheint es, dass sie beim Auffinden eines Notstandes schnell und effektiv Hilfen der verschiedenen Institutionen mobilisieren konnten. Eventuell kann hier von einem System der Armenpflege – besser: einem System der Armenpfleger – gesprochen werden. Die Göttinger Armenpflege zeigte sich so als ein stark personenzentriertes System. Sie waren das untersuchende und bewertende Glied zwischen Arme und den verschiedenen Vorständen. Einzelne dieser Personen bestimmten über Jahrzehnte hinweg das Geschehen in der Armenpflege. Sie sorgten sich teilweise unter großem persönlichem Aufwand um die Armen der Stadt. Allerdings betrachteten sie das Arbeitsgebiet der Armenpflege als ihr persönliches Reich, als ihre persönliche Herrschaft. Die Armen bereiteten ihnen hier keine Probleme. Aus Sicht der bürgerlichen Armenpflege waren diese Personen als »Verfügungsmasse« vorhanden, sie hatten keine persönliche Meinung, keine Ansprüche und keine Widerworte. Es muss nach der Motivation der Mehrfachvorstände gefragt werden, diese Belastungen freiwillig auf sich zu nehmen. Diese kann in abgeschwächter Form auf die übrigen Mehrfachmitglieder ohne Funktionen übertragen werden. Für diese Gruppen scheint das Wohl der Stadt von Bedeutung zu sein. Dieser abstrakte Wert wurde durch die Armen bedroht. Zum einen waren es Mitbürger, die in Not und Armut gerieten. Zum anderen waren es diese Personen, die Kosten in einem solchen Maße verursachten, dass immer wieder verschiedene Steuererhöhungen oder Steuereinführungen diskutiert werden mussten. Dem Wohl der Stadt war aus ihrer Sicht durch die Bekämpfung der Armut am besten gedient. Die finanziell meist bessergestellten Vereinsmitglieder zahlten durch ihre Mitgliedsbeiträge einen regelmäßigen freiwilligen Obolus zu den Armenausgaben. Mit diesem Geld konnte die Armenkasse – in bescheidenem Maße – entlastet werden und es mussten keine neuen allgemeinen Steuern eingeführt werden. Als zentrale Person innerhalb des Systems der Göttinger Armenpflege sollte sich deutlich der ehrenamtliche Armenpfleger zeigen. Dies entspräche der Ent-
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wicklung im Kaiserreich. Bis auf wenige, sehr aktive Pfleger aber bleibt dieser in Göttingen »stumm«. Zwar sammelte auch hier der Armenpfleger die Nachrichten über die Antragsteller, entschied somit über den »Ruf« und damit über die »Würdigkeit«. Der Armenpfleger hat auch hier die Hilfen koordiniert bzw. die Hilfen verschiedener Institutionen und Vereine für eine Person oder Familie erst ermöglicht. Insofern ist sein Einfluss natürlich nicht zu unterschätzen. Innerhalb der kommunalen Armenbehörde gab es über lange Jahre hinweg aber den »persönlichen Faktor« in der Person Senator Borhecks. Er entschied letztendlich über die Unterstützung der Antragsteller und schränkte damit das System der Armenpfleger ein. Die Zeit, in der er als Leiter der Armendeputation fungierte, ist von einer beinahe absoluten Diskussionslosigkeit geprägt. Die Protokollbücher an denen er mitgewirkt hat – egal ob für Verein oder für Armendeputation – sind reine Entscheidungsprotokolle über die Antragsteller. Nicht einmal weitere notwendige institutionelle Ausgestaltungen – etwa die erfolgte Einrichtung eines Büros für Unterstützungsangelegenheiten – wurden hier erörtert. Ebenso fehlen in dieser Zeit Diskussionen über die weitere Ausgestaltung des Armenwesens, ja sogar darüber, ob der eingeschlagene Weg der verschiedenen Wohltätigkeitsvereine richtig war oder nicht. Nach außen hin ist ein Widerspruch gegen die Art und Weise, wie Senator Borheck gehandelt und entschieden hat, nicht zu erkennen. Die praktische Ausgestaltung der Armenpflege war hier von einer Person abhängig. Das »System Borheck« prägte die Arbeitsweise der Armendeputation. Zumindest für diese Zeit ist die zentrale Stellung des Armenpflegers in Göttingen eingeschränkt. Er entschied nämlich nicht allein, ob eine mündliche Antragstellung ausreichend war oder ob sie schriftlich erfolgen musste. Er entschied nicht allein über die Art und Weise und die Höhe der Unterstützung. Seine Entscheidungen waren immer von der Zustimmung Borhecks abhängig. Innerhalb der städtischen Verwaltung hat es dagegen gegärt. Erstes Zeichen dafür ist die schnelle Neuordnung und Professionalisierung der Armenkasse nach dem Tod Borhecks. Die Vergabe von Unterstützungen in der Stadt Göttingen zeigte sich als ein sehr differenziertes System. Für jede Armengruppe gab es eine spezielle Versorgung, seien es die kleinen, immer wieder neu aufgenommenen Vereinskredite für die Personen, bei denen eine Verarmung zu befürchten war oder sei es die Unterbringung obdachloser Menschen im Armenarbeitshaus. Bei der engen Verbindung zwischen »Alter« und »Krankheit« mit »Armut« ist dies auch zu erwarten gewesen. Irgendwie und irgendwo mussten alte und/oder kranke Menschen versorgt werden. Wesentliche Veränderungen gab es dabei in der geschlossenen Armenfürsorge. Im städtischen Hospital wurden nicht mehr nur Sieche behandelt, sondern auch Kranke. Es entwickelte sich zum Krankenhaus. Das Siechenhaus, bzw. die Fürsorgemöglichkeiten für Sieche, erweiterten sich. Durch eine Stiftung konnte
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das Geschwister-Reinhold-Stift errichtet werden, in welchem nicht mehr nur arme, sondern auch andere Alte versorgt wurden. Daneben standen die Räumlichkeiten des alten Siechenhauses weiter zur Verfügung. Hier können die Anfänge der Entstigmatisierung der Heimunterbringung gesehen werden. Das kommunale Armenarbeitshaus hatte die erstaunlichste Aufgabenerweiterung: Zu Anfang beinahe ausschließlich Disziplinierungsanstalt für unwürdige arme Männer wurde es zunehmend Auffangstation für alle kurzfristig – oder auch kurzzeitig – in Not geratenen Personen. Neben den »Trinkern« finden sich hier später auch Kinder. In Kombination mit dem städtischen Hospital diente es auch als Versorgungsstation für arme Alte, die als »unwürdig« angesehen wurden. In diesem Maße nicht zu erwarten waren die feinen Nuancen zwischen den materiellen Hilfen. Mögliche Kombinationen bestanden aus Sachhilfe oder Geldhilfe, regelmäßig oder unregelmäßig, Kredit oder Geschenk sowie Verein, Kirchengemeinde oder Stadt. An den Stellenwert der unterschiedlichen Hilfen waren entsprechend viele Möglichkeiten des wechselnden sozialen Status’ geknüpft. Diese vielen unterschiedlichen Hilfsmöglichkeiten konnten unter Vermittlung und Koordinierung eines Armenpflegers miteinander kombiniert werden. Im Ganzen hat das Göttinger System der Armenfürsorge oder der Armenpfleger funktioniert. Es ist nicht »rund« gelaufen. Die Probleme waren dann doch nicht in einem Ausmaße vorhanden, dass es für die Zeitgenossen reformbedürftig war. Dafür waren die Bedenken nicht groß genug. Die Armendeputation hat es während des Kaiserreichs immer geschafft, eine funktionierende Armenpflege aufrecht zu erhalten. Nur zu Beginn des Kaiserreichs, als die neuen preußischen Freizügigkeitsgesetze eingeführt wurden, gab es massive Probleme, denen man aber mit einem »Reförmchen« begegnet ist. Was in Göttingen besonders auffällt, ist die erst sehr spät stattfindende Professionalisierung des Armenwesens: Die Stadt wächst und die Anforderungen steigen. Neue Gesetze und Regelungen – Stichworte wären hier Unterstützungswohnsitzgesetz und Arbeiterversicherungen – ließen gleichzeitig neue Anforderungen an Armenpfleger und Armenbehörde aufkommen. Nun genügte nicht mehr nur der an den Armen interessierte gute Stadtbürger, um in der Armenbehörde ehrenamtlich mitzuarbeiten. Nun musste ein gewisses juristisches Grundverständnis vorhanden sein, bzw. es musste für die Armenpfleger eine professionelle juristische Anlaufstelle geschaffen werden. Diese Phase der bürokratischen und institutionellen Stagnation im Mikrokosmos Göttingen steht in einem auffälligen Kontrast zu der Phase einer allgemeinen Ausweitung und Professionalisierung der Armenpflege, ja der ganzen Versorgung für die Unterschichten. Die Dynamik in diesen Gebieten auf der Ebene des Kaiserreiches steht in einem auffälligen Gegensatz zu den Beharrungskräften der göttinginschen Provinz. Es gab reichsweite Diskussionen zu einer guten Armenpflege, es
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gab immer weitreichendere Gesetze und Vorschriften, die Zuschüsse der Göttinger Kämmerei an die Armenkasse stiegen in ungeahnte Höhen, nur die Göttinger selbst schienen sich diesen Entwicklungen gesperrt zu haben und versuchten wohl noch, wie in der »guten alten Zeit« zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu wirtschaften. Und trotzdem gab es – wie wohl überall – auch hier unterschiedliche Strömungen. Die Wohlfahrtsvereine waren so ausgeprägt wie erwartet. Die jeweils typischen Vereine wurden in etwa in demselben Zeitrahmen gegründet wie die vergleichbaren Vereine anderer Städte. Während die Kommunalverwaltung also nur das Nötigste tat, schwammen die Bürger auf den jeweiligen Vereinsgründungswellen mit. Die aktuellen Diskussionen der Armenpflege wurden in Göttingen wahrgenommen. Umgesetzt wurden sie aber nur von den Vereinen, nicht von der Stadtverwaltung. Zum Ende des Kaiserreichs hin verdüstert sich das Bild der Vereine. Ohne die finanziellen Zuschüsse der Armendeputation war kein Verein mehr lebensfähig. Und zumindest der Verein gegen Verarmung und Bettelei stand nicht mehr im Zeichen der »Armen« oder der Sozialreform. Angetreten war er, das Los der Armen zu bessern und die Armenverwaltung dafür nach seinen Vorstellungen umzustellen. Am Schluss stand er ganz und gar im Dienste der Göttinger Armendeputation. Die scheinbar widerstandslose Auflösung des Vereins auf Anordnung der Behörde ist deutliches Zeichen dafür und kann allgemein als Sinnbild für den Niedergang der Wohltätigkeitsvereine verstanden werden. Vereine und Verwaltung kooperierten zwar und waren über persönliche Verbindungen vielfach miteinander verwoben, doch es ging zum Ende hin immer mehr um das Primat der Kommunalverwaltung. Insofern kann dieser Prozess auch als ein Prozess innerhalb des Bürgertums verstanden werden. Bürger waren immer weniger bereit, sich auf ehrenamtlicher Basis vielfältig zu engagieren. Die Frage ist, für wen engagierten sich die Bürger? Für die Armen, die in Not geratenen Teile ihrer Gesellschaft? Oder für ihre Vaterstadt? Hier ist eine Gemengelage zu vermuten: Auf der einen Seite war der Kampf gegen die Armut als ein Kampf gegen Windmühlen empfunden worden: Jahrelang kümmerten sich Vereinsarmenpfleger teilweise sehr engagiert und aufopferungsvoll um einzelne Arme, die Armut ging aber nicht wesentlich zurück. Auch wählten die Armen/die Unterschichten aus der Sicht der Bürger nicht die akzeptierten Parteien, sondern die Sozialdemokraten. Die Armen waren nach dieser Sicht also nicht in der mindesten Weise für die Hilfen dankbar, sondern wählten eine Partei, die für den gesellschaftlichen Umbruch stand. Dies musste natürlich die Bürger zumindest ärgern und ihnen Grund geben, sich aus dem Engagement für die Armen zurückzuziehen. Zugleich kann der Ärger mit der Stadtverwaltung gleiches bewirkt haben. Jahrelang nicht in dem Maße helfen zu können wie man es sich vorstellt, weil die Armendeputation sich weigerte, höhere Hilfen auszuzahlen, kann ebenfalls sehr frustrierend sein und zum Rückzug aus der Armenhilfe führen.
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Zugleich hatte die Armendeputation sehr genaue Vorstellungen von einer »guten« Armenpflege. Es mutet beinahe strategisch an, wenn zuerst Vereinsführung und Verwaltung personell langsam verschmolzen werden, anschließend durch finanzielle Zuschüsse der Verwaltung der Verein »auf Linie« gebracht wird und dann genau nach den Vorstellungen der Armendeputation arbeitet. Das oppositionelle Bürgertum wurde diszipliniert: Sozialdisziplinierung innerhalb des Bürgertums. Diese Disziplinierung ist ausschließlich über die finanziellen Kanäle gelaufen. Sobald – wie bei den kirchlichen oder universitären Hilfseinrichtungen – eine von der Stadt unabhängige Finanzierung zu finden war, wurden die unterschiedlichen Ansichten offensichtlich. Hier ist dann auch der Ansatz, eine Erklärung für das Funktionieren des ganzen Systems zu finden: der persönliche Faktor. Einzelne Personen, hier vorzugsweise Männer, haben sich in der Armenfürsorge auf unterschiedlichen Ebenen sehr stark engagiert. Sobald aber Personen aufeinandertrafen, die aus den verschiedensten Gründen Antipathien gegeneinander hegten, funktionierte das System der Göttinger Armenfürsorge nicht mehr. Bürgermeister Merkel bestritt in seinen Memoiren die Wirksamkeit des von Senator Tripmacker geführten Vereins gegen Verarmung und Bettelei; Senator Borheck und Waisenhauskurator Knoke stritten sich auf dem Rücken der Armen um die richtige bürokratische Form, ein Kind ins Waisenhaus aufzunehmen. Die Unterschichten Göttingens werden diese Streitereien wenigstens in ihren groben Zügen mitbekommen haben. Daher ist davon auszugehen, dass sie sich in Notlagen gezielt an die Person oder Behörde gewendet haben, von der sie sich am ehesten eine Hilfe versprachen. Schon die Wahl des Adressaten des Bittgesuchs war eine strategische Entscheidung auf dem Weg zur gewünschten Hilfe. Schätzte der Antragsteller die Position des Empfängers falsch ein, so erschwerte sich seine Situation. Umgekehrt traf er mit dem Empfänger seines Gesuchs die für diesen Fall richtige Person, so hatte sein Gesuch bessere Chancen auf Erfolg. Den Armen Göttingens wurde geholfen, und es wurde in einem großen Maße geholfen. Ob dieses Maß allerdings ausreichend war kann nicht beantwortet werden. Hier ist zu viel unbekannt geblieben. Schon mit der Frage, ab welchem Mangel jemand als »arm« gegolten hat, fangen die Unklarheiten an. Diese Unklarheiten setzen sich mit den Unbekannten bei der bewilligten Unterstützung fort: wie rechnete die Armenpflege eventuelle weitere Einkommen/Spenden an, für wie viele Personen war eine Unterstützung gedacht? Schon der Vergleich, ob diese oder jene Unterstützung nun »hoch« oder »niedrig« bemessen war, wird so beinahe unmöglich gemacht. Diese Unklarheiten haben ihre Hauptursache in der Weigerung der bürgerlichen Armenpfleger, feste Definitionen von Armut oder Tarife der Armenhilfen aufzustellen.
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Die großen Unterschiede in der individuellen Armenpflege sind so nicht in dem »ob?« oder »ob nicht?« zu suchen. Nur in den seltensten Fällen wurde eine Armenunterstützung gänzlich abgelehnt. Selbst der Wechsel von einer »besseren« Armengruppe in ein anderes, »ärmeres« Segment lief beinahe reibungslos ab. Warum sonst sollte sich die Stadtverwaltung über die Unterstützungsleistungen der Kirche für Personen beschweren, die in Göttingen noch keinen Unterstützungswohnsitz erlangt hatten? Deren Mangel muss so groß gewesen sein, dass sie auch von der Stadt als »arm« eingestuft worden wären. Einige Ablehnungen waren auch vorläufiger Natur. Die generelle Not wurde anerkannt. Es mussten sich aber einige Nebenbedingungen ändern, damit die Armenpflege greifen konnte, etwa die Unterbringung eines Enkelkindes am Unterstützungswohnsitz seiner Mutter. Wenn sich die großen Unterschiede in der Armenpflege des 19. Jahrhunderts nicht durch die Frage des «ob?« oder »ob nicht?« finden lassen, so müssen andere Fragen gestellt werden. Vielversprechend ist die Frage nach der Art der Hilfe, dem »wie wurde geholfen?« Diese Frage beinhaltet das »ob?«, gleichzeitig aber die feinen Unterschiede in der Hilfe. Die Mechanismen einer Sozialdisziplinierung – gewünschte, freiere Form der Unterstützung oder eine repressive Form der Unterstützung – können damit weiter aufgedeckt werden. Gleichzeitig zeigt sich mit dieser Frage die Not der Unterschichten im Kaiserreich als unvorstellbar groß. Sobald einmal eine vor den Blicken der Armenverwaltung schützende Fassade Risse bekam wurde eine Unterschichtenfamilie unterstützt. Hier ist wohl in erster Linie die »verschämte« Armut zu vermuten. Selbst die zeitgenössischen Armenpfleger waren offensichtlich vom tatsächlichen Ausmaß der vorgefundenen Armut immer wieder überrascht. Nur so ist zu erklären, dass die weitaus meisten Gesuche – manchmal zwar nur vorläufig oder eben nach Erfüllung gewisser Bedingungen – Gehör fanden. Nur so ist zu erklären, dass Beschwerden über zu geringe Unterstützungen Gehör fanden. Damit zeigen sich die ausgereiften Untersuchungen zur Idealstruktur der Armengesuche in der Praxis als über das Ziel hinausgeschossen. Grundsätzliche Muster – Anerkennung der Hierarchien, Dankbarkeit – mussten in jedem Fall erkennbar sein. Wie ausgereift oder formvollendet einzelne Bestandteile eines Gesuchs gewesen sein mussten war angesichts der Not der Armen zweitrangig. Bei der Gewährung der Hilfen finden sich einige Grundmuster: Um Armenunterstützung wurde nur gebeten, wenn andere Formen von Hilfe etwa durch die Familie oder später durch die Sozialversicherungen nicht oder nicht ausreichend griffen. Sofern Armenunterstützung für eine funktionierende Familie nachgefragt wurde bekam der Mann als Familienvorstand diese, ansonsten – auch bei dem Verdacht, der Mann könne das Geld »verschwenden« – die Frau. Bestand die Hoffnung, dass die Hilfe zurückgezahlt werden konnte wurde durch einen Ver-
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einskredit geholfen. Wurde diese Möglichkeit nicht gesehen, so wurde öffentliche Armenhilfe gewährt. Musste mit Verschwendung gerechnet werden oder aber war die Person prinzipiell arbeitsfähig, bedurfte aber einer Aufsicht, so stand das kommunale Armenhaus zur Verfügung. Nach diesen Prinzipien wurden alle Personen unterstützt, die zur städtischen Gesellschaft gezählt wurden. Hier gab es Differenzen: für die Armenbehörde war der Unterstützungswohnsitz das maßgebliche Kriterium, für die Kirchengemeinden gehörte die Sesshaftigkeit in Göttingen bzw. in der Kirchengemeinde dazu. Für die Vertreter der Kirchengemeinden scheint die reine Frist von zwei Jahren für die Inklusion in die städtische Gesellschaft, und damit in die städtische Armenpflege, zu lang gewesen zu sein. Für sie zählten andere Kriterien wie etwa die Verankerung in Göttingen. Die Diskussionen um das »Exemplarische«, das »Besondere«, die »Ausnahme« oder den »Regelfall« standen während der ganzen Arbeit im Hintergrund. Das praktizierte Vorgehen, die Massenaufnahme der Protokolle etc., hat sich bezahlt gemacht. Es konnten vielfache Einblicke in die Arbeit der Wohltätigkeitsinstitutionen gewonnen werden, die Hilfeempfänger konnten nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert werden. Natürlich hätte der genaue Blick in die Gesetzesbücher z. B. schon im Vorfeld ergeben, dass es keine rechtliche Handhabe gegeben hatte, Menschen in einem kommunalen Armenarbeitshaus, in einer Einrichtung der Armenfürsorge, gegen ihren Willen festzuhalten. Dagegen lassen sich aber zwei recht einfache Fragen in Stellung bringen. Erstens: Hätten die Menschen nicht auch ohne ausreichende juristische Begründung festgehalten werden können, in einem »Graubereich des Rechtswesens«? Könnten sich in diesem Umfeld nicht weitere Gesetze finden lassen, die durchgesetzt werden? Und zweitens: wie ist der Weg von dem exemplarischen Einzelfall zum massenhaften »Normalfall« in all seinen Abweichungen und Spielarten zu finden? Über die Armenbiografie einzelner Personen konnte dagegen das Zusammenspiel der Institutionen mit der zentralen Rolle des Armenpflegers in der offenen Pflege herausgestellt werden. Hier haben sich Einblicke in die allgemeine Not der Unterschichten des 19. Jahrhunderts eröffnet. Eine Gruppe der Armen bleibt auch hier kaum beachtet: die der mobilen Wanderarmen. Sie verursachten zwar große Mühen und Kosten, sie standen für das Bild des bettelnden und halbkriminellen Armen, doch Einblicke in ihr Milieu konnten kaum gewonnen werden. Sie waren nun einmal – im Gegensatz zu dieser Arbeit mit kommunalem Bezug – räumlich mobil. Ihr Leben fand größtenteils auf der Straße statt. Innerhalb der Stadt waren sie einem strikten Reglement unterworfen, dessen Missachtung schnell Strafe nach sich ziehen konnte. Zwar musste ihnen nach dem Gesetz geholfen werden, und es wurde ihnen durch die
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Herberge zur Heimat und später durch die Wanderarbeitsstätte geholfen, doch gerne wurde nicht geholfen. Diese große Gruppe, die nicht Teil der städtischen Gesellschaft war, war auch nicht Teil der bürgerlichen Armenpflege. Sie wurden nach Möglichkeit von den übrigen Einwohnern Göttingens ferngehalten, ihr Weg durch die Stadt war genau reglementiert und wurde überwacht: Polizei, Herberge und (Zwangs-)Arbeitsstätte mussten aufgesucht werden, bevor sie die Stadt zu verlassen hatten. Diese Wanderarmen sind die einzige Gruppe, die unstreitig nicht zur städtischen Gesellschaft gehörte. Für sie fanden sich keine Fürsprecher, für sie wurden keine Regeln zu ihren Gunsten ausgelegt. Mit dieser Gruppe, die alle Schrecknisse der Armenpflege im Kaiserreich verkörperte, werden sich zukünftige Forschungsvorhaben beschäftigen müssen.
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Verzeichnis der Diagramme
Diagramm 1: Im Wintersemester eingeschriebene Studenten an der Universität Göttingen 1800–1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Diagramm 2: Entwicklung des Bau- und Sparvereins 1895–1907 . . . . . . . . 36 Diagramm 3: Mitglieder, Krankheitsfälle und Krankheitstage der AOK Göttingen nach Geschlecht, 1893–1913, in Prozent . . . . . . . . . . . . 45 Diagramm 4: In Göttingen 1885 unterstützte Personen nach Alter und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Diagramm 5: Zuschüsse aus der Kämmereikasse I: 1850–1873, in Taler . . 77 Diagramm 6: Zuschüsse der Kämmerei II: 1855–1914, in Mark . . . . . . . . . . 88 Diagramm 7: Verteilung der Neubewilligungen für Armenunterstützung 1870, 1885 und 1902 im Jahresverlauf, in Prozent . . . . . . . . 91 Diagramm 8: Anteile an den Ausgaben der Armendeputation 1870–1914, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Diagramm 9: Verteilung der Unterstützungen nach Geschlecht 1870, 1885 und 1902, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Diagramm 10: Zugänge in das städtische Hospital 1889–1910 . . . . . . . . . . . 103 Diagramm 11: Durchschnittliche Zu- und Abgänge im städtischen Hospital 1889–1910 im Jahresverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Diagramm 12: Gruppen im Göttinger Armenarbeitshaus 1885, in Prozent 110 Diagramm 13: Zugänge nach Geschlecht und Zugänge von Kindern im Göttinger Armenarbeitshaus 1860–1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Diagramm 14: Verteilung der Kredite der Wohltätigen Vorschuß-Anstalt nach Geschlecht 1870, 1885 und 1900, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
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Verzeichnis der Diagramme
Diagramm 15: Vergebene Kreditsummen des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, 1875–1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Diagramm 16: Kredite des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, 1875–1910: durchschnittliche Summen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Diagramm 17: Verpflegte arme Reisende, 1884–1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Diagramm 18: Übernachtungen und Mahlzeiten in der Herberge zur Heimat 1880–1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Diagramm 19: Patientinnen in der Göttinger Frauenklinik, 1877–1902 . . . 179 Diagramm 20: Waisenhauskinder nach Geschlecht, 1850–1905 . . . . . . . . . 183
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Universitätsarchiv Göttingen Kur. 4295. Kur. 5470. Waisenhaus 78.
Pfarrarchiv St. Michael III. B. 7b. III. B. 9b.
Archiv der Volksbank Göttingen: Berichte über die Generalversammlung 1897 ff.
Hauptstaatsarchiv Hannover Hann. 180 Hild. Nr. 942. Hann 122a.
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Personenregister
Apel, Emil 205 f. Bacmeister 136 Bismarck, Otto von 15, 41, 44, 46 Bodelschwingh, Friedrich von 147 f. Borheck, Carl 60, 70, 81, 84–86, 90, 92, 136, 146, 151 f., 154, 182 f., 210, 218, 221 Brieke, Ernst 80, 83, 85 f., 90 f. Brügmann, Christian 136, 148, 151, 154, 168 Calsow, Georg 90, 144, 152, 180 Chalmers, Thomas 76, 159 Dahling, Heinrich 70, 95 Dankwerts, Ernst 81, 151, 154, 168, 170 Dankwerts, Hermann 131 Dieterich, Georg 136, 187, 197 Eberwein (Senator) 28, 60, 210 Engel, Dorette 180 Fischer-Eckert, Li 66 Foucault, Michel 12 Frees, Heinrich Julius 46 Haase, Fritz 184 Hichert, Dora 182 f. Hichert, Friedrich 96–98 Hildebrand, Julius 131 Hillebrecht, Elise 178, 198 f. Hofmann, Adolf 97 f., 206 Honig, Ernst 60, 71–73, 129, 190 Isenbiel, Charlotte 10 Jürgens, Elise 83, 96 Ketteler, Wihelm v. 15 Knoke, Karl 75, 130, 181–184, 221 Knop, Friedrich 111, 119 Kutscher, Gottfried Theodor 107, 127 f., 188–190 Kutscher, Henriette 70, 102, 188–190 Levin, Hermann 28, 162
Liebrecht 35 Loeser, Ernst 119 Loeser, Louise 193 f. Masjeiko, Adolf 93 f., 180 Meissner, Adolph 95, 116 Merkel, Georg 72, 77–79, 84, 87, 90, 140, 144, 151, 221 Meyer (Senator) 107 Meyer (Verwalter) 113 f., 120 Miede, Carl 62, 165 Miede, Ludwig 165, 168 Müller, Karl 70 Müller, Fritz 119 Münsterberg, Emil 24, 39, 67, 153 Pagel, Joseph 174 Plathner, Carl 138 Quentin, Carl 129 Rathgeber, Wilhelm 201 f. Reinicke (Verwalter) 114 Sachße, Christoph 12, 123, 125, 144, 216 Schlegel (Senator) 72, 80 Schutz, Carl 197 f. Schwabe, Sophie 80 f., 167 Simmel, Georg 39 Simsen, Georg 9 Steinmetz, Rudolf 131, 151, 171 Tennstedt, Florian 12, 123, 216 Thiemann, Carl 90 Töpperwien, Carl 67–70, 73 Tripmacker, Gustav 79, 136, 221 Uhlhorn, Gerhard 163 Wichern, Johann Heinrich 15, 157, 159 f. Wienecke, Carl 60, 207–212 Wüstefeld 151
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525854273 — ISBN E-Book: 9783647854274