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German Pages 115 Year 1994
Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 664
Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Verfassungsgeschichte Von der Reichsgründung zur Wiedervereinigung
Seminar zum 80. Geburtstag von Karl August Bettermann
Mit Beiträgen von
Michael Kloepfer, Detlef Merten, Hans-Jürgen Papier und Wassilios Skouris
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte : von der Reichsgründung zur Wiedervereinigung / Seminar zum 80. Geburtstag von Karl August Bettermann. Mit Beitr. von Michael Kloepfer . . . Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 664) ISBN 3-428-07941-8 NE: Kloepfer, Michael; Seminar zum 80. Geburtstag von Karl August Bettermann (1993, Berlin); Bettermann, Karl August; Festschrift; GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07941-8
Vorwort Am 4. August 1993 vollendete Professor Dr. Dr. h.c. Karl August Bettermann sein achtzigstes Lebensjahr. Aus diesem Anlaß fand sich ähnlich wie in den Jahren 1983 und 1988 ein Kreis ehemaliger Assistenten und engster Schüler zusammen, der seit dem Weggang des Jubilars von der „Freien Universität" als „Berliner Seminar" die wissenschaftliche, geistige und menschliche Verbundenheit mit zahlreichen Tagungen aufrechterhalten hatte. Nach der Wiedervereinigung des Vaterlandes verstand sich der Tagungsort Berlin von selbst. Dieser Stadt hatte Bettermann auch in ihrer Bedrohung die Treue gehalten, von hier aus hatte er weit über die Stadtgrenzen hinaus akademisch gewirkt, sie war für ihn zugleich schmerzliches Symbol nationaler Zerrissenheit. Das Tagungsthema folgte mit gleicher Konsequenz. War doch das Säkularereignis des Jahres 1989 Anlaß, sich des Schicksals deutscher Staatlichkeit seit einem Jahrhundert zu besinnen, und haben „Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte" das Leben des noch im Kaiserreich geborenen Jubilars entscheidend geprägt. Das Programm des Symposions legte es nahe, die in schwerer Zeit als Friedrich-Wilhelms-Universität gegründete und seinerzeit vom Humboldtschen Bildungsideal geprägte ehemalige preußische Reformanstalt zur Tagungsstätte zu wählen. Wenige Monate nach der Tagung verlieh die Juristische Gesellschaft zu Berlin dem Jubilar im März 1994 die von ihr gestiftete Friedrich Carl von SavignyMedaille, wobei Michael Kloepfer aus diesem Anlaß Leben und Werk Bettermanns würdigte. Diese Laudatio wird mit freundlicher Genehmigung der Juristischen Gesellschaft zu Berlin zusammen mit vier der auf der Tagung gehaltenen und für den Druck mit Fußnoten versehenen sowie teilweise überarbeiteten Referaten im folgenden abgedruckt. Herrn Professor Norbert Simon, Gesellschafter der Duncker & Humblot GmbH, gebührt für die Aufnahme des Bandes in sein Verlagsprogramm verbindlicher Dank. Berlin, St. Martin, München, Thessaloniki, im Mai 1994 Michael Kloepfer , Detlef Merten, Hans-Jürgen Papier, Wassilios Skouris
Inhaltsverzeichnis Univ.-Prof. Dr. Michael Kloepfer , Berlin: Laudatio für Karl August Bettermann aus Anlaß der Überreichung der Friedrich Carl von Savigny-Medaille der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 23.3.1994
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Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Speyer: Deutschland im europäischen Kräftefeld — Staatskontinuität und Verfassungswandel I. „Deutsch" als einheitsstiftende Kraft II. Die „verspätete" Nation
19 19 21
III. Der Mittelstaat
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1. Die kleindeutsche Lösung
23
2. Staatsteilung als Staatensicherheit
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3. Die Wiedervereinigung als Veränderung des Status quo
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IV. Der Antagonismus von Staat und Verfassung
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1. Die Verfassung als Erscheinungsform der Staatlichkeit
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2. Das „unverlorene Reich"
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Univ.-Prof. Dr. Michael Kloepfer,
Berlin:
Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung— Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland I. Vorbemerkung
35 35
1. Verfassung als historische Erfahrung
35
2. Varianten der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung ....
36
II. Beispiele aus der Verfassungsgeschichte
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1. Paulskirchenverfassung
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2. Norddeutscher Bund / Deutsches Reich
39
Inhaltsverzeichnis
8
3. Weimarer Reichsverfassung a) Entstehung und Ausgangspunkt
41 41
b) Staatsorganisationsrecht
44
c) Grundrechte
45
4. Verfassungsrecht des Dritten Reiches III. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
46 47
1. Verfassungsbestimmungen der Vergangenheitsaufarbeitung
48
a) Internationale Stellung der Bundesrepublik Deutschland
48
b) Grundrechte
49
aa) Menschenwürde
49
bb) Diskriminierungsverbot
50
cc) Informationsfreiheit
50
dd) Staatsangehörigkeit und Asyl
50
ee) Todesstrafe
52
c) Politisches System
52
aa) Plebiszitäre Elemente
52
bb) Parteien
53
cc) Grenzen von Verfassungsänderungen
54
dd) Wehrhafte Demokratie
57
d) Staatsorganisation aa) Bundespräsident bb) Kanzlerdemokratie
57 57 57
e) Gegenbeispiele
58
f) Zwischenergebnis
58
2. Vergangenheitserfahrungen bei Verfassungsänderungen IV. Verfassungen der DDR
59 59
1. Verfassung vom 7.10.1949
59
2. Verfassung vom 26.3.1968
61
3. Die „Wende-Verfassung"
62
V. Verfassungen der neuen Bundesländer VI. Konsequenzen für die laufende Verfassungsdiskussion 1. Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung nach der Wiedervereinigung
63 64 64
a) Fragestellungen
64
b) Konzentration auf Entwicklungen in der DDR
65
c) Zum Ansatz der Verfassungskommission
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Inhaltsverzeichnis
d) Erhaltung von „Errungenschaften" der DDR?
67
e) Beitritt als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung ....
67
f) Gesamtdeutsche Verfassungsgestaltung zwischen Kurswahrung und Kursumsteuerung
69
g) Zur Option des Art. 5 EV h) Das Grundgesetz zwischen Bewährung und Wiedervereinigung ...
70 70
2. Vergangenheitserfahrung in der realen Verfassungsreformdiskussion -..
71
3. Beispiele möglicher Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung a) Präambel b) Nachrichtendienste c) Datenschutz, staatliche Informationen d) Plebiszitäre Elemente
73 73 73 75 75
e) f) g) h) i) j)
Parteien Ausreisefreiheit Indoktrinationsverbot Vorrang individueller Verantwortlichkeit Marktwirtschaft Umweltschutz
VII. Schluß
76 77 79 80 81 82 82
Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, München: Verfassungskontinuität und Verfassungsreform im Zuge der Wiedervereinigung I. Vom Provisorium zur endgültigen Einheitsverfassung
85 85
1. Wege zur Einheit
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2. Einigungsbedingte Grundgesetzänderungen
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II. Staatszielbestimmüngen
89
1. Allgemeine Zurückhaltung
89
2. Staatsaufgabe „Umweltschutz"
90
3. Neue Staatszielbestimmung
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III. Föderale Ordnung
92
1. Änderung der „Bedürfnisklausel"
92
2. Änderungen des Kompetenzkatalogs
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3. Rahmengesetzgebung
93
4. Finanzverfassung
94
10
Inhaltsverzeichnis
IV. Europäische Einigung
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1. Art. 23 n.F. GG
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2. Grenzen der Hoheitsübertragung
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3. Mitwirkung der Bundesländer
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V. Neue Verfassung — zu Art. 146 n. F VI. Einführung von Plebisziten VII. Schlußbemerkung
97 98 99
Prof. Dr. Wassilios Skouris, Thessaloniki: Verfassungsprinzipien im Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten I. Einleitung 1. Aktueller Stand der Verfassungsdiskussion II. Integration, Evolution, Konstitution
101 101 101 103
2. Anforderungen an eine Verfassung für Europa
103
3. Integration und Verfassung
103
III. Die rechtliche Grundordnung der Europäischen Gemeinschaft
104
4. Das Fernziel „Bundesstaat Europa"
104
5. Rechtliche und politische Seite der europäischen Integration
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IV. Grundlagen einer materiellen Verfassung
106
6. Mindestvoraussetzungen
106
7. Übertragung von Hoheitsrechten
106
V. Unmittelbare Wirkung und Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts 8. Kollisionsformel 9. Unmittelbare Wirkung und Vorrang: Die zwei Seiten einer Medaille
107 107 108
10. Die unmittelbare Wirkung
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11. Vorrang und Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts
109
VI. Das Prinzip der Gemeinschaftstreue
110
12. Ausbau des nationalen Rechtsschutzes zwecks Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts
110
13. Erweiterung der Staatshaftung wegen unterbliebener Umsetzung des Gemeinschaftsrechts
111
Inhaltsverzeichnis
VII. Rolle und Funktion dés Europäischen Gerichtshofes 14. Verfassungsgestaltung durch den Europäischen Gerichtshof VIII. Schlußbemerkungen
112 112 113
15. Verfassungspolitische Kontinuität der Europäischen Gemeinschaft bei politischer Diskontinuität der Mitgliedstaaten
113
16. Kontinuität und Diskontinuität des Europäischen Gemeinschaftsrechts
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Laudatio für Karl August Bettermann aus Anlaß der Überreichung der Friedrich Carl von Savigny-Medaille der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 23.3.1994 Von Michael Kloepfer Im Facettenreichtum des Wesens und Wirkens Bettermanns erscheinen zwei Aspekte besonders bemerkenswert, die sein Handeln gewissermaßen stets als Leitmaximen gesteuert haben. Zum einen: Festigkeit im Widerspruch und zum anderen: Trennendes bezeichnen und überwinden. Festigkeit im Widerspruch meint dabei nicht nur die argumentative Stärke bisweilen auch Schärfe des Disputanden Bettermann, sondern vor allem seine geistige Standfestigkeit in fachlichen und politischen Auseinandersetzungen, die feste Position in wankenden Zeiten. Damit verbunden ist seine Fähigkeit, Trennendes zu bezeichnen und zu überwinden. Das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Seine Fähigkeit, Trennendes einerseits zu erkennen, es konturenscharf zu benennen, es vielleicht auch einmal zu betonen, andererseits seine Fähigkeit, Trennendes argumentativ zu bezwingen, zu überwinden und zusammenzuführen. Ein einfaches Bild löst diesen scheinbaren Widerspruch auf: Wer eine Brücke bauen will, muß den Verlauf der trennenden Ufer genau kennen und bezeichnen können.
I. Werdegang Bettermann hat die bewegte deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrer gesamten Widersprüchlichkeit erlebt. Dieser Eindruck hat ihn entscheidend geprägt und seinen Sinn für die historischen Verwurzelungen vieler wissenschaftlicher und politischer Probleme geschärft. 1913, noch im Kaiserreich an der Schwelle zum 1. Weltkrieg in Wuppertal geboren, wächst Bettermann in einer alten Kaufmannsfamilie in Hagen auf. Seine Schulzeit am Humanistischen Gymnasium in Hagen von 1923-1932 fällt in eine Zeit.der grundlegenden politischen und sozialen Umwälzungen und Veränderungen. Als sich alle Werte veränderten, mußte der junge Bettermann seine Wertewelt herausbilden. Das gilt in noch stärkerem Maße für sein Studium in Gießen und Münster von 1932-1935, eine Zeit, in die die große politische Katastrophe Deutschlands fiel. Gewiß mag da das Leben als Schüler und Student in der Provinz Distanz von manchen Schroffheiten des politischen Alltags gebracht
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Michael Kloepfer
haben; die politischen und wirtschaftlichen Krisen der Nation waren gleichwohl auch dort intensiv spürbar. In diesen bewegten Zeiten, im Widerspruch der bewahrenden und verändernden Gedanken einen festen Standpunkt zu finden: dies ist die geistige Herausforderung der damaligen Zeit — auch für Bettermann. Sozial gefugt in der bürgerlichen Lebenswelt Westfalens vermitteln ihm die Ideen von Recht, Staat und Nation ein festes geistiges Fundament in den Wirren der Zeit. Das von ihm schon damals sehr geschätzte Öffentliche Recht, für das insbesondere O. Bühler sein Interesse geweckt hatte, erweist sich freilich in dieser Zeit — wegen seiner politischen Anfälligkeit — als eher wankendes Fundament. Bettermann wendet sich deshalb dem Zivilrecht zu und promoviert 1937 in Gießen bei Otto Eger mit der längst zum Klassiker gewordenen, inzwischen nachgedruckten Arbeit „Vom stellvertretenden Handeln". Einem intelligenten und kritischen Kopf wie Bettermann, der sich seines eigenen Wertes stets durchaus bewußt war, konnte die geistige Inferiorität der damaligen Machthaber und politischen Wortführer nicht entgangen sein. Das wissenschaftliche Gebäude rechtlicher oder genauer: zivilrechtlicher Dogmatik bot da geistige Behausung. Unmittelbar nach seinem Assessorexamen im Herbst 1939 beginnt sein fast sechsjähriger Kriegswehrdienst in der Luftnachrichtentruppe. Der Krieg hat ihn — wie viele seiner Generation — als Persönlichkeit entscheidend mitgeprägt. Es ist die den nachkommenden Generationen schwer oder gar nicht vermittelbare Erfahrung von existentiellen Grenzsituationen der eigenen Individualität und des eigenen Volkes. Weil Bettermann zwischen Staat und politischer Führung differenzieren kann, bieten ihm seine Vorstellungen von Recht und Staat auch in den bitteren Zeiten des Krieges verläßliche Orientierung. Festigkeit in den großen Widersprüchen der Zeit — von dieser Grundlage aus erwächst die Kraft zum Neuanfang im Jahre 1945. Die Kapitulation begreift er nicht nur als Situation der äußersten Not, sondern gerade auch als Aufgabe und Chance. Er wird Richter am Landgericht Hagen insbesondere für Mietsachen. Gleichzeitig arbeitet er als Rechtsberater der dortigen Industrie- und Handelskammer. 1948 erfolgt seine Habilitation für Bürgerliches Recht und Zivilprozeßrecht bei Max Käser an der Universität Münster mit der berühmten Schrift: „Die Vollstreckung des Zivilurteils in den Grenzen seiner Rechtskraft". Der Universität Münster bleibt er bis 1956 als Privatdozent und später als apl. Professor verbunden. Er arbeitet aber zunächst weiter als Richter und begründet so die für ihn typische Verbindung zwischen Theorie und Praxis, womit er Trennendes erfolgreich überwindet. Das öffentliche Wohnungsrecht und das sich damals entwikkelnde Verwaltungsprozeßrecht beleben sein frühes Interesse für das Öffentliche Recht wieder. Von 1950-1954 arbeitet er als Richter am Oberverwaltungsgericht Münster und ist dort zuständig für das Wohnungs- und Beamtenrecht. 1954 wird er im Alter von nur 41 Jahren für zwei Jahre Richter am BVerwG Berlin (mit Zuständigkeiten im Mietpreisrecht und Sozialrecht), um dann 1956 ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der jungen Freien Universität Berlin zu werden. Schnell wird er dort zu einer beherrschenden Figur der Fakultät,
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unter der das Öffentliche Recht im akademischen Betrieb aufblüht und ausgebaut wird. Mit M. Baring u.a. gehört er zu den Wiederbegründern der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, deren Vorsitzender er von 1965-1966 wird. Danach ist er Vorstandsmitglied angesehener wissenschaftlicher Vereinigungen (Zivilrechtsund Staatsrechtslehrervereinigung). Er arbeitet als Mitglied mehrerer wichtiger Gesetzgebungskommissionen (z. B. für das Zivilprozeßrecht und das Staatshaftungsrecht). Während er 1963 einen Ruf an den Lehrstuhl von Hans Julius Wolff an seiner akademische Heimatuniversität Münster noch ablehnt, verläßt er schließlich 1970 die damals kaputtreformierte FU, um einen Ruf an den Lehrstuhl seines großen Lehrers und Freundes Bötticher für Zivilprozeßrecht und Allgemeine Prozeßrechtslehre anzunehmen, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1979 inne hatte. Wer Bettermann in den wilden Reformjahren in Berlin diskutieren sah und hörte, weiß, wie sehr er damals die Festigkeit im Widerspruch zu manchen rechtstaatswidrigen Aspekten und Methoden der damaligen Reform — insbesondere das Salonfähigmachen von Gewalt — verkörpert und gelebt hat. Der im Jahre 1954 keineswegs selbstverständliche Weg nach Berlin erweist sich für ihn und die Stadt als Glücksfall. Berlin wird so zur Schicksalsstadt Bettermanns: In ihr gelingt ihm der entscheidende berufliche Aufstieg; hier erhält er die große berufliche Gestaltungschance für die Institutionalisierung des Öffentlichen Rechts an der FU. Bei ihm wird die spätere juristische Führung WestBerlins geschult. Die Revolte der späten sechziger Jahre wird für ihn zum Schicksalserlebnis und zur Herausforderung. In seinen Wirkbereichen hat er das juristische und universitäre Leben in West-Berlin kraftvoll mitgeprägt, zugleich ist er aber selbst wie viele Bewohner dieser Stadt stark von Berlin und dessen Chancen und Herausforderungen mitgeprägt worden. In dieser Stadt wird er zum weltläufigen Großstadtbürger, und ihr bleibt er auch nach seinem Weggang innerlich verbunden. Er erkennt die Rolle dieser Stadt für, bei und nach der Wiedervereinigung — einem historischen Vorgang, der sich auch erklären läßt mit der Maxime: Trennendes bezeichnen und überwinden. Trotz seiner ausgeprägten Liebe zum akademischen Beruf hat sich Bettermann stets verstärkt um die Verbindung zur Praxis bemüht, und zwar durch reiche Gutachtertätigkeit wie durch Mitwirkung in Gesetzgebungskommissionen. Vor allem aber bleibt er als Richter tätig, und zwar 1962-1968 als ehrenamtlicher Vorsitzender am Verwaltungsgerichtshof der Evangelischen Kirche der Union in Berlin, 1970-1976 als nebenamtlicher Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht, von 1971-1986 als Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts. In diesen praktischen Tätigkeiten lag zugleich die wesentliche Fähigkeit Bettermann, Trennendes zusammenzuführen, ohne es zu vermischen. Das ist typisch für Bettermann als Mensch. Sein Charakter selbst führt Trennendes zusammen: juristische Intelligenz und menschliche Warmherzigkeit, Schärfe, des Verstandes sowie des Arguments und Verstehen des anderen, die Fähigkeit zum streitbaren Disput und die Gabe, Menschen an sich zu binden.
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II. Der Hochschullehrer Bettermann ist ein bedeutender juristischer Hochschullehrer; Martin Walser hat dies in seinem Buch: „Die Verteidigung der Kindheit" literarisch festgehalten. Seine Vorlesungen waren Magneten im damaligen Studienbetrieb: klar, fundiert und gedankenscharf waren seine fachlich zwingenden Darlegungen, die ganze Berliner Studentengenerationen für das damals noch relativ neue Gebiet des Öffentlichen Rechts gewannen. Seine vielen Schülerinnen und Schüler wirken heute etwa als Präsidenten von Gerichten, als Bundesrichter, höchste Beamte, als bedeutende Anwälte und Wirtschaftsführer sowie last but not least als Professoren auf Lehrstühlen im In- und Ausland. Besonders faszinierend waren seine Seminare, die geradezu rechtswissenschaftliche Inszenierungen der Idee der Festigkeit im Widerspruch waren. Der studentische Referent wurde im Seminar von Bettermann teilweise außerordentlich scharf angenommen, wobei die Schwächen der Argumentation des jeweiligen Referenten in aller Deutlichkeit aufgezeigt wurden. Gleichwohl waren diese Seminare außerordentlich beliebt, denn hier wurde der Student als wissenschaftlicher Gesprächspartner ernst genommen und seine Ansicht zwar vielleicht von Bettermann angegriffen, der studentische Referent wurde aber stets im Geiste einer (freilich sehr) kämpferischen Toleranz auch als Diskursgegner respektiert. Es war ein scharfes geistiges Ringen der Argumente, ein gedanklicher Kampf um's Recht. Trennendes wurde bezeichnet, in der Idee der wissenschaftlichen Wahrheitssuche aber auch überwunden. Keiner der Teilnehmer dieser Seminare wird diese je vergessen können. Und von daher ist es verständlich, daß sich insbesondere die ehemaligen Berliner und Hamburger Assistenten, Doktoranden und Schüler von Bettermann etwa alle drei bis fünf Jahre zu dem „Berliner Seminar" versammelten, das an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik Deutschland und zuletzt anläßlich des 80. Geburtstags im Jahre 1993 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Die Faszination des Lehrers Bettermann ist sicherlich gerade auch die Faszination durch den Menschen Bettermann, die noch heute in den Gesprächen seiner Schüler sofort lebendig wird, wenn die Sprache auf den gemeinsamen Lehrer kommt. Angesichts der Bedeutung Bettermanns verstand es sich von selbst, daß seine Schüler auch aus dem Ausland zu ihm kamen. Herausragend sind seine Beziehungen vor allem zu Griechenland, was sich insbesondere in der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Thessaloniki im Jahre 1980 zeigte. I I I . Der Jurist Zu der Bedeutung des Lehrers Bettermann tritt die Hochachtung vor dem großen Juristen. Auffällig und heute geradezu einzigartig ist zunächst die ganz ungewöhnliche Breite seines fachlichen Betätigungsfeldes, das sowohl das Privat-
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recht wie das Öffentliche Recht und dabei nicht nur materielles Recht, sondern in herausgehobener Weise auch das Prozeßrecht erfaßt. Auch hier gelingt es ihm hervorragend, Trennendes wissenschaftlich zu bezeichnen und dadurch zusammenzuführen, daß die einheitliche Ordnungsidee des Rechts verdeutlicht wird. In allen Bereichen seines wissenschaftlichen Wirkens hat Bettermann Bahnbrechendes und Bleibendes geleistet. Dissertation und Habilitationsschrift sind Marksteine der Wissenschaft geworden. Seine Arbeiten zum Zivilrecht, besonders aber zum Zivilprozeßrecht, haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse etwa zur Rechtskraft und Rechtshängigkeit wie auch die daran anknüpfende Praxis entscheidend geprägt. Seine Arbeiten zum Öffentlichen Wohnungsrecht und zum Mieterschutz sind unübertroffen. Mit der methodischen Disziplin des Zivilrechtlers und mit der gedanklichen Schärfe des Zivilprozessualisten nähert sich Bettermann dann dem zweiten großen Forschungsfeld seines Lebens, dem Öffentlichen Recht, das für Jahrzehnte zum Zentrum seiner Aktivitäten wird. In seinen Arbeiten zum Verwaltungsprozeßrecht und auch zum Verwaltungsrecht (etwa zur Folgenbeseitigung) führt die zivilund prozeßrechtlich geschulte Methode regelmäßig zu geradezu bezwingenden Argumentationen. Seine Abhandlungen zum Verwaltungsprozeßrecht und zum Verwaltungsverfahrensrecht sind maßstabbildend für die Ausgestaltung dieser Rechtsgebiete. Dem Verfassungsrecht nähert sich Bettermann erst Ende der 50er Jahre vor allem als das Handbuch der Grundrechte seiner kraftvollen Mitherausgeberschaft überantwortet wird. Bettermanns Weg zum Verfassungsrecht führt über das einfache Recht. Er macht so der Generation der nachfolgenden jüngeren deutschen Staatsrechtler deutlich, daß man sich dem Gipfel des Verfassungsrechts sinnvollerweise über die Hänge und Anhöhen des Unterverfassungsrechts nähert, um wirklich die ganze Größe des Verfassungsrechts zu erfahren. Wer sich hingegen mit dem Helikopter des modernen deutschen Wissenschaftsbetriebes sogleich auf dem Gipfel des Verfassungsrechts niederläßt, argumentiert später nur zu leicht buchstäblich „bodenlos", es sei denn, er durchstreift später gewissermaßen im nachhinein — das Voralpengebiet des einfachen Rechts. Seine zivil- und prozeßrechtlich geschulte Methode macht Bettermann mit großem Erfolg zunächst für seine längst klassisch gewordenen verfassungsrechtlichen Abhandlungen zur Rechtsprechung und zur rechtsprechenden Gewalt sowie zu den Rechtsschutzgarantien fruchtbar. Freilich führt diese Methodik im sonstigen Verfassungsrecht — insbesondere bei allgemeinen Grundrechtsdeutungen — bisweilen auch an immanente Grenzen. Dies mag neben anderen Gründen — z. B. der enormen Arbeitsbelastung — die Erklärung dafür sein, warum zum Bedauern der Fachwelt seine Allgemeinen Lehren der Grundrechte unvollendet blieben. Es wäre sicherlich der Zehntausender unter den wissenschaftlichen Grundrechtsarbeiten der Nachkriegszeit geworden, das opus magnum seines wissenschaftlichen Wirkens. Der beeindruckende Vortrag über die „Grenzen der Grundrechte", 2 Bettermann - Seminar
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den Bettermann 1964 vor der Juristischen Gesellschaft Berlin hielt, läßt ahnen, welch großes Werk damals im Entstehen war. Das Bekenntnis Bettermanns zur prozessualen Methodik und Normtreue bot zwar stets einen nachvollziehbaren sowie rechtlich und wissenschaftlich kontrollierbaren Einstieg in verfassungsrechtliche Probleme und einen wohltuenden Kontrast zu einem eher undurchsichtigen, häufig naturrechtsgetränkten Methodensynkretismus des damaligen westdeutschen Staatsrechts. Die Vorteile der Gedanken- und Konturenschärfe einer solchen Verfassungsinterpretation zeigen sich etwa in seinen Arbeiten zur Pressefreiheit. Gleichwohl ist eine sehr stark normtextverhaftete Interpretation der unvollkommenen Grundrechtstexte nicht ohne Probleme. Eine rein juristische Methode der Grundrechtsinterpretation steht jedenfalls in der latenten Gefahr nicht nur eines wissenschaftlichen Isolationismus des Staatsrechts gegenüber anderen verwandten Disziplinen (die Bettermann aufgrund seiner umfassenden insbesondere historischen Bildung freilich durchbricht). Eine rein juristische Methode der Verfassungsinterpretation birgt auch die latente Gefahr der Vernachlässigung der Erkenntnis, daß Verfassungsrecht politische Prozesse steuern soll, ja selbst das Ergebnis solcher politischen Prozesse ist. Bettermann wäre nicht er selbst, hätte er dies nicht beizeiten erkannt. Gerade in seinen Schriften zu den Grundrechten — etwa zur Hypertrophie der Grundrechte — argumentiert er bisweilen nach eigener Einschätzung ausdrücklich „politisch". So sind gerade seine späten Arbeiten zum Verfassungsrecht in besonderer Weise typisch für den Menschen und Juristen Bettermann. Sie bergen und bezeichnen den Widerspruch zwischen juristischer Rationalität und verfassungpolitischer Leidenschaft und überwinden diesen zugleich weitgehend durch die Einheit des Werkes und das einheitliche rechtsstaatliche Engagement für die Idee des Rechts. Insgesamt machen die verfassungsrechtlichen insbesondere grundrechtlichen Arbeiten in ihrer Distanz zum jeweiligen Zeitgeist (auch in Urteilsform) noch einmal besonders deutlich, wie Festigkeit im Widerspruch für einen unabhängigen Gelehrten zum Lebens- und Denkprinzip werden kann. Die Juristische Gesellschaft zu Berlin ehrt heute einen überragenden Juristen, der Trennendes zusammengeführt hat und einen beeindruckenden akademischen Lehrer der Rechtswissenschaft. Sie ehrt einen Diener und Gestalter des Rechtsstaats, der gerade von Berlin aus wirksam wurde.
Deutschland im europäischen Kräftefeld — Staatskontinuität und Verfassungswandel — Von Detlef Merten
I. „Deutsch" als einheitsstiftende Kraft „Deutschland hat ewigen Bestand. Es ist ein kerngesundes Land." Dieses Zitat ist keine deutschnationale Lesefrucht, sondern Versteil aus Heinrich Heines Gedicht „Nachtgedanken", von dem Vaterlandsverdrossene nur um den Anfang wissen, den sie beflissen und aus dem Zusammenhang gerissen zitieren: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht" 1. Das Deutsche begleitet nach Art eines cantus firmus substantivisch oder adjektivisch seit tausend Jahren jene Gemeinwesen, die auf dem heutigen deutschen Territorium mit teils weit darüber hinausgehenden Grenzen entstanden und auch wieder untergegangen sind. Das Ostfränkische Reich unter Konrad /. trägt den Namen „Reich der Deutschen", der sich im 11. Jahrhundert allgemein durchsetzt 2. Für das Heilige Römische Reich bürgert sich seit 1471 der Zusatz „deutscher Nation" ein 3 , der zunächst restriktiv die deutschen Teile des Reichsgebiets, dann aber den deutschen Anspruch auf das Imperium meint 4 . In dieser Tradition stehen der Deutsche Bund, das Deutsche Reich, die Bundesrepublik Deutschland und selbst die „Deutsche Demokratische Republik". Ideologische, geo-politische oder revolutionäre Umorientierungen wählen dagegen Bezeichnungen wie „Weimarer Republik", „Bonner Staat" oder „Drittes Reich". „Weimar", schon für Grillparzer das „wahre Vaterland" 5 , bezieht sich nur vordergründig auf das Exil der Nationalversammlung, will aber hintergründig 1 Paradigmatisch Wolf gang Balk / Sebastian Kleinschmidt (Hg.), „Denk ich an Deutschland . . . " . Stimmen der Befremdung, 1993. 2 Hierzu neuestens Johannes Fried , Was heißt deutsch?, in: Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. I: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, 1994, S. 9 ff. 3 Vgl. Claudius Sieber-Lehmann, „Teutsche Nation" und Eidgenossenschaft. Der Zusammenhang zwischen Türken- und Burgunderkriegen, HZ 253 (1991), S. 561 (568 ff.). 4 Statt aller Karl Zeumer, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, 1910. 5 Vgl. seinen Brief an Kaiserin Augusta (ca. 20.1.1871), abgedr. in: Peter Frank I Karl Pörnbacher (Hg.), Franz Grillparzer, Sämtliche Werke, Bd. IV, 1965, S. 876; hierzu auch Wilhelm Bücher, Grillparzers Verhältnis zur Politik seiner Zeit, 1913, S. 120 ff. 2*
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Detlef Merten
einen geistig-idealistischen Neuanfang, anknüpfend an die Weimarer Klassik, symbolisieren 6. Demgegenüber trägt der „Bonner" Bundesbürger Züge des rheinbündisch-provinziellen, westwärts gebückten Michel, wie er sich insbesondere im Berlin-Bonn-Streit 7 demaskiert 8. Für ihn ist die „Bonner Demokratie" sein „politisches Vaterland", und er sieht sein Parlament „lieber im Bundestag als im Reichstag", seinen Bundeskanzler „lieber im schmucklosen Bau hinter der MoorePlastik als im Kronprinzenpalais Unter den Linden" 9 . Der Staatsname „Bundesrepublik Deutschland" ist trotz Art. 79 Abs. 3 GG nicht unabänderlich, weil diese Bestimmung nur die in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, nicht deren Details schützt, damit u. a. die bündische und republikanische Struktur, nicht jedoch die einmal gewählte Staatsbezeichnung zementiert 10 . Bekanntlich hatte der Entwurf von Herrenchiemsee in seiner Präambel von einem „Bund deutscher Länder" gesprochen 11, und hat sich Hessen als „Gliedstaat der Deutschen Republik" 1946 eine Verfassung gegeben12. Nur das Deutsche als historisch überkommener Kern des Staatsnamens und als sein Wesensgehalt ist für Verfassungsänderungen sakrosankt. Gerade weil Staatseinung und Nation werdung so schwierig waren und im 19. Jahrhundert Einigungskriege erforderten, ist „Deutsch" als einheitsstiftender Begriff unverzichtbar. Es waren die Rufe „Wir sind ein Volk" und „Deutschland, einig Vaterland" 13 , die die Wiedervereinigung mitbewirkten. Für die Zukunft richtet das Deutsche eine unübersteigbare Hürde auf, so daß Deutschland weder der Sache noch dem Namen nach zu einem Euro-Gau oder Euro-Land in einem großeuropäischen Superstaat herabsinken darf. In diesem Zusammenhang erinnert man sich daran, daß der nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie errichteten „Republik Deutschösterreich" 14 durch das Siegerdiktat von
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Vgl. in diesem Zusammenhang die Rede des Reichsministers Dr. Hugo Preuß vor der Nationalversammlung am 24.2.1919: „Einst aus dem klassischen Geiste von Weimar sprach mit resigniertem Stolz der Spruch: Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hoffet es Deutsche vergebens. Bildet darum — Ihr könnt's — freier zu Menschen Euch aus!" 14. Sitzung, Sten. Ber. S. 284 ff. (285). 7 Hierzu auch Peter Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff. s 34. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 20.6.1991, 12. WP, Sten. Ber. S. 2735 ff. 9 So der Abg. Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU), a.a.O., S. 2759 (A). 10 A. A. Roman Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 I RN 2 ff. 11 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1948, S. 61 und 19 f. 12 Präambel der Verfassung vom 1.12.1946 (GVB1. S. 229). 13 So auch die Prägeinschrift der Gedenkmünze 200 Jahre Brandenburger Tor. Vgl. die Bekanntmachung vom 7.11.1991 (BGBl. I S. 2134). 14 Hierzu Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, 1923, S. 74 ff.; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1175; Ludwig Adamovich/ Hans Spanner, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 5. Aufl., 1957, S. 20 ff.; Wilhelm Brauneder f Friedrich Lachmayer, Österreichische Verfassungsge-
Deutschland im europäischen Kräftefeld
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St. Germain 15 der Name „Republik Österreich" oktroyiert wurde 16 . Resignierend bemerkt Kelsen , das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhalte „offenbar nicht auch das Recht eines Volkes, sich selbst seinen Namen zu geben" 17 .
I I . Die „verspätete" Nation „Man wird Deutschland nicht hindern können, auf irgend eine Weise Ein Staat und Eine Nation sein zu wollen." Diese Worte Wilhelm von Humboldts 18 kennzeichnen prophetisch den Kampf um die Staatlichkeit Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Unter Besatzungsherrschaft und in Befreiungskriegen hatte sich Deutschland zur Nation gebildet, wofür Emst Moritz Arndts patriotische Lieder 19 und Fichtes „Reden an die deutsche Nation" beispielhaft sind. Aber was man auf dem Schlachtfeld gewonnen hatte, wurde im Ballsaal verspielt 20 . Beim Wiener Kongreß fiel die deutsche Frage wie später noch oft den Interessen der Großmächte zum Opfer, die schon im 18. Jahrhundert den Aufstieg Brandenburg-Preußens zu verhindern gesucht hatten. Das in seiner Niederlage weder demütige noch gedemütigte Frankreich war an einem deutschen Nationalstaat ebensowenig interessiert wie Österreich, das bei einer großdeutschen Lösung den Niedergang seines Vielvölkerstaates fürchtete. England wie Rußland begnügten sich mit einer Stär-
schichte, 6. Aufl., 1992, S. 187 ff.; FelixErmacora, Der unbewältigte Friede. St. Germain und die Folgen, 1989, passim, insbes. S. 19 f. 15 Vom 10.9.1919 (StGBl. 1920, Nr. 303, S. 996). 16 Vgl. Gesetz vom 21.10.1919 über die Staatsform (StGBl. für den Staat Deutschösterreich Nr. 484, S. 1153), insbesondere dessen Art. 3 ; siehe in diesem Zusammenhang auch Art. 88 des Vertrags von St. Germain und Art. 80 des Versailler Vertrags sowie das Protokoll über die Anerkennung der Ungültigkeit der Verfassungsbestimmungen über Deutsch-Österreich vom 22.9.1919, abgedr. in: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl., 1992, Nr. 158, S. 180; vgl. auch Kelsen , a.a.O., S. 146 ff.; siehe schließlich Art. 4 des Staatsvertrages betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich vom 15.3.1955; zur Würdigung Andreas Hillgruber, Das „Anschluß"-Problem (1918-1945) aus deutscher Sicht, in: ders., Die Zerstörung Europas, 1988, S. 121 ff. 17 A.a.O. (FN 14), S. 146f. 18 Über die Behandlung der Angelegenheiten des Deutschen Bundes durch Preußen, in: Andreas Flitner / Klaus Giele (Hg.), Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Bd. IV, 1964, S. 347 (351). 19 Vgl. auch densDas Wort von 1814 und das Wort von 1815 über die Franzosen, Frankfurt a.M. 1815; Der Rhein — Teutschlands Strom aber nicht Teutschlands Grenze, 1813. 20 Insofern irrte Freiherr vom Stein , als er im Entwurf seiner „Petersburger Denkschrift" vom 17.9.1812 prophezeite: „Das Glück der Waffen wird über das Schicksal Deutschlands und über die ihm zu erteilende Verfassung entscheiden" (Freiherr vom Stein , Briefe und amtliche Schriften, Bd. III, bearb. von Erich Botzenhart, neu hg. von Waither Hubatsch, 1961, S. 742).
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kung Preußens als Bollwerk gegen französische Expansionswünsche21, die auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wieder virulent wurden. Alle Mächte wollten aus den unterschiedlichsten Gründen keinen starken deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas, sondern nur eine lose Konföderation als „Garantie der politischen Bedeutungslosigkeit der Deutschen"22. Von den deutschen Staaten opponierten insbesondere Bayern und Württemberg 23. So kam es zu einem bloßen Staatenbund in Form des Deutschen Bundes. Seine Entstehung charakterisiert Humboldt meisterhaft: „Angesichts der Lage Deutschlands war es unmöglich nichts und unmöglich das Rechte zu tun. Was nun zwischen diesen beiden Extremen zu Stande kommen konnte, das ist die wahre Definition des Deutschen Bundes . . . " 2 4 . Der Deutsche Bund, in den Worten der Wiener Schlußakte „ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte" 25 , war ohne Bundeshaupt, ohne ein unmittelbar gesamtstaatliches Bundesorgan und wegen der österreichisch-preußischen Dual-Hegemonie ohne effektive Handlungsfähigkeit 2 6 . Bissig reimt Heinrich Heine 27: „Und als ich auf dem Sankt Gotthard stand, da hört ich Deutschland schnarchen; es schlief da unten in sanfter Hut von sechsunddreißig Monarchen." Deutschland blieb eine Nation mit vorenthaltener Staatlichkeit, eine „verspätete" Nation 28 . Das Wartburg-Fest von 1817, das Hambacher Fest von 1832 und die gescheiterte Revolution von 1848 bezeugen das Streben nach Reichseinheit und Staatlichkeit, wobei die nationale Bewegung in der Regel auch eine nationaldemokratische ist. Die Frankfurter Nationalversammlung scheitert sowohl aus innen- als auch aus außenpolitischen Gründen. Das „Professorenparlament", das Verfassungspolitik vor Realpolitik stellt, hat am Ende eine Verfassung ohne Staat. Den europäischen Großmächten liegt nach wie vor Deutschland in seiner Vielheit, nicht in seiner Einheit am Herzen, und der österreichisch-preußische Konflikt ist noch nicht lösbar. 21 Siehe auch Hans-Joachim Seeler, Die Europäische Einigung und das Gleichgewicht der Mächte, 1992, S. 255 ff. 22 Gerhard Köbler, Bilder aus der deutschen Rechtsgeschichte, 1988, S. 304. 23 Hierzu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl., 1967, S. 546 ff. 24 A.a.O. (FN 18), S. 378. 25 Art. 1 der Schlußakte der Wiener Ministerkonferenz vom 15.5.1820, abgedr. bei E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. I, 3. Aufl., 1961, Nr. 31, S. 91. 26 Hierzu im einzelnen E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl., 1967, S. 666 ff. 27 Der Tannhäuser, III (1836). 28 Hierzu Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Günter Dux u. a., Bd. VI, 1982; vgl. in diesem Zusammenhang auch Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage, 1948, S. 194 ff.
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I I I . Der Mittelstaat 1. Die kleindeutsche Lösung Erst die Einigungskriege schaffen Handlungsraum und Staatsgründungsfreiheit. Allerdings stellt Königgrätz zugleich die Weichen für eine kleindeutsche Staatlichkeit, und zwar — wie das folgende Jahrhundert zeigen wird — auf Dauer. Eine mögliche Revision nach Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wird unter Frankreichs Führung vereitelt, wobei die Staatsräson der Sieger das Selbstbestimmungsrecht der Völker 29 souverän mißachtet. Die Zementierung von Sadowa schafft nach über fünfzig Jahren eine späte „revanche pour Sadowa", jener skurrilen Forderung nach militärischer Drittschadensliquidation. Die gewaltsame Annexion durch den Diktator, wenn auch nicht von allen als vis ingrata empfunden, schiebt das großdeutsche Problem dann endgültig auf das Abstellgleis der Geschichte. Bismarck hatte durch kluge Zurückhaltung zwar eine französisch-österreichische Allianz nach Königgrätz, nicht aber die borussisch-taktlose Kaiserproklamation in Versailles verhindert, weshalb mit diesem Präludium für das Zweite Deutsche Reich zugleich das Thema des Versailler Vertrags anklingt 30 . In den von den Vereinigten Staaten31 nicht ratifizierten Vororte-Verträgen wird das Deutsche Reich durch zentripetalen Druck erheblich amputiert, das Habsburger Reich sogar atomisiert. Preußens Ende nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus ist noch schlimmer. Seine Hinrichtung als „a bearer of militarism and reaction in Germany" durch das Gesetz des Alliierten Kontrollrats spiegelt wörtlich die Urteilskraft stalinistisch-kommunistischer Geschichtsphilosophie wider, wie sie sich in der Parteiagitation findet 32. Zugleich wird knapp 29 Vgl. hierzu die Rede des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson für eine Kriegserklärung an Deutschland vom 2.4.1917: „ . . . daß wir so für den schließlichen Frieden der Welt und für die Befreiung ihrer Völker, die deutschen eingeschlossen, kämpfen: für die Rechte der Nationen, groß und klein, und das Vorrecht der Menschen allüberall, sich ihre Weise des Lebens und des Gehorsams auszusuchen" (abgedr. in: Herbert Schambeck u.a. [Hg.], Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, 1993, Nr. 101, S. 433 [435]). 30 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815-1871, 1993, S. 51; in diesem Zusammenhang auch Markus Völkel, Geschichte als Vergeltung. Zur Grundlegung des Revanchegedankens in der deutsch-französischen Historikerdiskussion von 1870,71, HZ 257, 1993, S. 63 ff. 31 Der deutsch-amerikanische Friedensschluß erfolgt durch den Berliner Vertrag vom 25.8.1921; vgl. das Gesetz, betreffend den am 25. August 1921 unterzeichneten Vertrag zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 20.10.1921 (RGBl. S. 1317). 32 Das Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau hatte 1942 in russischer Sprache eine Broschüre „Marx und Engels über das reaktionäre Preußentum" veröffentlicht, die 1947 in Moskau in deutscher Sprache erschien. Das Kapitel der S. 69 ff. trägt die Überschrift „Das Preußentum als Verkörperung der Reaktion und des Militarismus".
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zweihundert Jahre später das Kriegsziel von 1756, die „destruction totale de la Prusse" 33, verwirklicht, wodurch beide europäischen Mittelmächte, die Frankreichs Hegemoniestreben drei Jahrhunderte lang im Interesse eines aequilibrium Europaeum entgegengewirkt hatten, innerhalb von drei Jahrzehnten liquidiert waren. Infolge des Machtvakuums und seiner Sogwirkung prallen die neuen Machtblöcke nun unmittelbar aufeinander, und zieht sich ein Eiserner Vorhang durch das Deutsche und das ehemalige Habsburger Reich. Auch erfüllt sich die Prophezeiung Bismarcks, „daß, wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutschland an der Politik der europäischen Nationen nur noch passiv beteiligt bleiben würde" und der Deutsche Bund „Deutschland vor dem Schicksal Polens nicht schützen werde" 34 .
2. Staatsteilung als Staatensicherheit Das nach 1945 übriggebliebene Rumpf-Deutschland weist nicht nur territorial Züge des Deutschen Rheinbunds auf, so daß als Ironie der Geschichte das „Dritte Reich" zu jenem „dritten Deutschland"35 führt, wie es nach der Zerschlagung des Heiligen Römischen Reichs neben Preußen und Österreich bestanden hatte. Wieder ist es Frankreich, das sich selbst gegen eine Vereinigung dieser Reste sträubt. Besatzungsmacht durch Entgegenkommen der Siegermächte, wendet es sich gegen einen Zusammenschluß der Westzonen. Ein „Trizonesien" hat es nur im Karnevalstext, nicht aber in der Realität gegeben. Obwohl die drei Siegermächte auf der Potsdamer Dreimächte-Konferenz vom Juli/August 1945 von der Fortexistenz des Deutschen Reiches ausgingen, Deutschland als wirtschaftliche Einheit behandeln und zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen schaffen wollten 36 , verweigert das später hinzugekommene Frankreich die Mitwirkung. Da es keine Organe oberhalb der inzwischen gegründeten Länder in den einzelnen Zonen duldet, dürfen die Länderrepräsentanten der französischen Zone nicht an den regelmäßigen Treffen der Länderchefs der britischen und amerikanischen Zone teilnehmen, so daß in der Folgezeit nur eine bizonale Verwaltung entstehen kann 37 . Isolierung, Dezentralisierung und Föderalisierung sind die Maximen französischer Besatzungspolitik38, wobei die Milderung der überproportionalen De-
33 Hierzu Johannes Kunisch, Das Mirakel des Hauses Brandenburg, 1978, S. 22 f.; ders., Friedrich der Große als Feldherr, in: ders., Fürst — Gesellschaft — Krieg, 1992, S. 83 (90). 34 Erlaß an die Missionen bei den deutschen Höfen vom 24.3.1866, in: Otto von Bismarck, Werke in Auswahl, hg. von G. A. Rein u.a., Bd. III, 1965, Nr. 479, S. 668 (670). 3 5 Siehe Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, 1984, S. 18. 36 Hierzu Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1990, S. 2. 3 7 Vgl. Morsey, a.a.O., S. 12 f.; Adolf M. Birke, Nation ohne Haus, Deutschland 1945 bis 1961, 1989, S.64f.
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montage als Prämie für „Reichs"feindlichkeit ausgelobt wird 3 9 . Erst durch den Druck des Kalten Krieges und infolge seiner Abhängigkeit von amerikanischer ERP-Hilfe 40 kann das wirtschaftlich zerrüttete Frankreich nach monatelangen Verhandlungen und mit Hilfe von Zugeständnissen von seinem Sonderweg abgebracht werden 41 . Schließlich einigt man sich im Londoner Deutschland-Kommunique 42 darauf, „dem deutschen Volk Gelegenheit zu geben, die gemeinsame Grundlage für eine freie und demokratische Regierungsform zu schaffen". Die Franzosen, von allen Besatzungsmächten nach dem Krieg aus Sicherheitserwägungen am ehesten an der Zerstückelung Deutschlands interessiert 43, hatten am Ende „wenigstens eine Zweiteilung Deutschlands erreicht" 44 .
3. Die Wiedervereinigung als Veränderung des Status quo Für Frankreich ist die DDR nun ein Garant der Stabilität in Europa. Folgerichtig besucht der französische Premierminister Fabius 1985 als erster Regierungschef einer Besatzungsmacht Ostberlin, und wird 1988, ein Jahr vor dem Zusammenbruch der DDR, deren Repräsentant Honecker in Paris zum ersten Mal von einem Westalliierten empfangen. Knapp einen Monat nach dem Fall der Mauer erscheint bei einem Treffen zwischen Mitterrand und Gorbatschow am 6. Dezember 1989 in Kiew die Existenz zweier deutscher Staaten als Realität und die deutsche Frage als nicht aktuell 45 . Der französische Staatspräsident betont wörtlich, man solle nicht anfangen, „die Frage nach den Grenzen zu stellen, sondern mehr daran denken, die Europäische Gemeinschaft zu stärken" 46 .
38 Vgl. Edgar Wolfrum, Das Bild der „düsteren Franzosenzeit", in: Stefan Martens (Hg.), Vom „Erbfeind" zum „Erneuerer", 1993, S. 87 ff. (97); auch Paul Feuchte, Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg, 1983, S. 105 f. 39 Vgl. Edgar Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie, 1991, S. 248. 40 Vgl. Gérard Bossuat, La France, l'aide américaine et la construction européenne 1944-1954, 1992, Bd. I, S. 134 ff., 174 ff.; Bd. II, S. 653 ff., insbes. S. 899 ff.; auch John Gimbel, The origins of the Marshallplan, 1976, passim, insbes. S. 226 ff., 250 ff., 275 ff. 41 Vgl. auch Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949, 2. Aufl., 1980, S. 191 f. 42 Vom 7.6.1948, auszugsweise abgedr. in: E. R. Huber (Hg.), Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. II, 1951, S. 196 f. 43 Ähnlich Adolf M. Birke, a.a.O., S. 181; siehe auch S. 57 und S. 20. 44 H.-P. Schwarz, S. LX. « Hierzu auch Heinrich Bortfeldt, Washington — Bonn — Berlin, 1993, S. 108. 46 FAZ vom 8.12.1989, Nr. 285, S. 1. Zu den Zweifeln der Bundesrepublik an der Haltung Mitterrands vgl. Horst Teltschik, 329 Tage, Innenansichten der Einigung, 1991, S. 71.
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Anachronistisch ist dann der mehrtägige, mit der Bundesrepublik vor der Ankündigung nicht abgesprochene Besuch47 Mitterrands vom 20. bis 22. Dezember 1989 in Ostdeutschland48, womit „zum erstenmal ein westalliierter Staatschef in der DDR" weilt, wie das „Neue Deutschland" freudig meldet 49 . Vor dem 9. November 1989 hätte ein Staatsbesuch nur in unfreundlicher Weise die sogenannte Zweistaatlichkeit Deutschlands demonstriert. In der Umbruchsituation verkörpert er nun den ebenso verbissenen wie hilflosen Versuch, die in Auflösung begriffene DDR zu stabilisieren, um die Wiedervereinigung zu verzögern, wenn nicht gar zu verhindern 50, worin sich die französischen und britischen Interessen treffen 51 . In einer Tischrede versichert der Franzose seinem Gastgeber, er könne „auf die Solidarität Frankreichs mit der Deutschen Demokratischen Republik zählen, eine Solidarität, die . . . schon mit der Bundesrepublik Deutschland geschaffen worden ist". Mitterrand stellt nicht nur die Entwicklung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich in Aussicht 52 , sondern will in seiner Eigenschaft als Ratspräsident der Europäischen Gemeinschaften auch „schnell die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften und der DDR" ausgestalten 53 . An der Leipziger „Karl-Marx-Universität" erklärt er, man müsse „gleichzeitig" die deutsche und die europäische Einheit voranbringen, könne aber nicht „mit einem Strich die europäische Realität auslöschen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist" 5 4 . Als einer der „Garanten für das europäische Gleichgewicht" beansprucht Mitterrand auf der abschließenden Pressekonferenz in Berlin „eindeutig ein Recht auf Kontrolle", „sobald es um Europa geht" 55 . Insgesamt markiert die Visite einen Tiefpunkt in den deutsch-französischen Beziehungen56. Mitterrand , der mit dem Fall der Mauer ein zweites Waterloo erlebt haben mag und der noch im Dezember 1989 wie immer „in Augenblicken großer Gefahr" eine französisch-britische Allianz gegen den „deutschen Moloch" 5 7 wollte, ist spätestens im Januar 1990 von der Unaufhaltsamkeit der deutschen Wieder47 Vgl. Teltschik, S. 47. 48 So auch Horst Teltschik , a.a.O., S. 94 f. 49 Neues Deutschland vom 21.12.1989, S. 1. so In diesem Sinne auch Horst Teltschik (S. 75 f.) zur Rede des französischen Außenministers Dumas vor der französischen Nationalversammlung am 12.12.1989. 51 Vgl. Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, 3. Aufl., 1993, S. 1101: „Falls es noch Hoffnung gab, die deutsche Wiedervereinigung aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen, so mußte eine entsprechende Initiative von Großbritannien ausgehen." 52 Tischrede vom 20.12.1989, abgedr. in: Umbruch in Europa. Die Ereignisse im zweiten Halbjahr 1989, hg. vom Auswärtigen Amt, o.J. (1990), S. 158 ff. (159, 161). 53 Neues Deutschland vom 21.12.1989, S. 2. 54 Frankreich-Info (hg. von der Presse- und Informationsabteilung der Französischen Botschaft, Bonn) vom 4.1.1990, Nr. 1/90, S. 1 ff.; s. auch FAZ vom 22.12.1989. 55 Frankreich-Info, a.a.O., S. 3 ff. (6). 56 Bortfeldt (FN 45), S. 108. 57 Thatcher, S. 1102 f.
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Vereinigung überzeugt, wie sich aus Gesprächen mit der britischen Premierministerin ergibt 58 . Nunmehr verfolgt er die Auffangstrategie, den deutschen Gulliver wenigstens in die europäische Einigung fest einzubinden, und knüpft damit an die alte französische Tradition einer europäischen Lösung der deutschen Frage an, wie sie von De Gaulle beinahe schon als politische Donquichotterie noch Ende 1948 vertreten wurde 59 . Nicht zufällig reklamiert sein Parteifreund Delors, der sich noch vor zwei Monaten einen „ostdeutschen Kommissar" in den Europäischen Gemeinschaften vorstellen konnte 60 , zur selben Zeit, daß die Wiedervereinigung „auch Sache der Gemeinschaft" sei, wofür er sich sogar auf die Präambel des Grundgesetzes beruft, die nach seiner Auffassung „die auf der Grundlage der Selbstbestimmung anzustrebende deutsche Einheit mit der Einigung Europas" „verknüpft" 61 . Nach Gorbatschows Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung im Februar 1990 62 im Sinne einer von der Bundesregierung von Beginn an betriebenen „Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands"63 und angesichts der klaren Unterstützung durch den amerikanischen Präsidenten Bush64 ist das weitere britisch-französische Störfeuer nur noch Zeichen für Rückzugsgefechte. Italien widersteht dem Werben der britischen Premierministerin 65, und Mitterrand spielt in der Tradition französischer Umklammerungsstrategie seit dem Ancien régime noch einmal die polnische Karte, indem er noch vor der Wiedervereinigung einen Friedensvertrag mit Polen fordert und damit für den deutschen Bundeskanzler zugleich die Grenzen einer ohnehin allzu euphemistisch beschworenen „Freundschaft" sichtbar macht 66 . Daß der wendige Franzose sich bei einem späteren Deutschland-Besuch zum Protagonisten der deutschen Wiedervereinigung aufspielte 67 , mag man nachsichtig belächeln. Größere Aufmerksamkeit verdient 58 Thatcher, S. 1104. 59 Vgl. H.-P. Schwarz (FN 41), S. 192; in diesem Zusammenhang auch Wilfried Loth, De Gaulle und Europa, HZ 253, 1991, S. 629 ff. (633 ff., 637 ff., 645 f.). 60 FAZ vom 13.11.1989. 61 Rede vom 17.1.1990 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, in: EuropaArchiv 1990, D 269 ff. (D 273); hiergegen schon Merten, Deutsche Einheit und europäische Einigung, in: ders. (Hg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990 (2. Aufl. 1993), S. 21 f. 62 Vgl. Teltschik (FN 46), S. 142 f.; Bulletin Nr. 24 vom 13. 2. 1990, S. 189. 63 Vgl. das Zehn-Punkte-Programm vom 28.11.1989, Deutscher Bundestag, 11. WP, 177. Sitzung vom 28.11.1989, Plenarprotokoll 11/177, S. 13510 ff. (13513 D). 64 Hierzu Bortfeldt (FN 45), passim, insbes. S. 149 ff.; Elizabeth Pond, Beyond the Wall, 1990, passim, insbes. S. 153 f., 162 ff., 215; Vernon A. Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, 1994, S. 89 ff. 65 Vgl. Michael Woljfsohn, Der außenpolitische Weg zur deutschen Einheit, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit, 1992, S. 142 ff. (153). 66 Teltschik (FN 46), S. 171; siehe auch Wilfried Loth, Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, 1992, S. 265. 67 Hierzu Woljfsohn, in: Jesse/Mitter, a.a.O., S. 149.
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dagegen die Verletzung völkervertraglicher Pflichten durch England und Frankreich. Beide Mächte wollten zusammen mit den Vereinigten Staaten zusammenwirken, um „ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die Europäische Gemeinschaft integriert ist" 6 8 . Neo-romantische „Staaten-Freundschaft" 69, aber auch Völkervertragsrecht können das jahrhundertealte Ringen um die Hegemonie in Europa nicht überwinden 70. Deutschland konnte, wenn auch unter territorialen Opfern, seine nationale Einheit nur wiedergewinnen, weil die inner-europäische Pentarchie des 18. und 19. Jahrhunderts sich im 20. Jahrhundert zu einer atlantisch-europäischen Pentarchie gewandelt hatte, womit zugleich die Weichen für eine an den Interessen Deutschlands orientierte Außenpolitik gestellt sind 71 .
I V . Der Antagonismus von Staat und Verfassung 1. Die Verfassung als Erscheinungsform der Staatlichkeit „Wir haben eine Verfassung, aber wir sind keine Verfassung" 72. Deshalb sind Staat und Verfassung nicht identisch, ist der Verfassungsstaat nur eine Erscheinungsform des Staates73. Die konstitutionelle Epoche macht nur einen Bruchteil der Staaten-Geschichte aus. In Jahrtausenden sind Gemeinwesen ohne Verfassungsweihe entstanden und wieder untergegangen. Für den Staat sind Konstitutionen, wie sich am Beispiel Großbritanniens zeigt, nicht von existenzieller, sondern nur von akzidentieller Bedeutung. Sie wirken zumindest territorial 74 nur intra, nicht aber extra muros. Für den Verkehr mit anderen Staaten ist die Souveränität 75, die Gewaltunabhängigkeit nach außen, 68
Art. 7 Abs. 2 des Vertrags über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26.5.1952 i.d.F. vom 23.10.1954, abgedr. bei Ingo von Münch (Hg.), Dokumente des geteilten Deutschland, 1968, S. 229 ff. 6 9 Skeptisch auch Arnulf Baring, Deutschland, was nun?, 1991, S. 178 ff. 70 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Diskussionsbeiträge Joseph H. Kaisers, in: VVDStRL 50, 1991, S. 144 f. und H. 49, 1990, S. 179 ff. 71 Hierzu auch Baring, a.a.O., S. 145 ff.; vgl. ferner Conor Cruise O'Brien, Die Zukunft des „Westens", in: Europäische Rundschau 21, 1993, Heft 2, S. 19 ff. (24): „Die französische Vorstellung von einem französisch beherrschten Europa wird Mitterrand kaum überleben, so wie Deutschlands Unterwürfigkeit gegenüber Frankreich Kanzler Kohl kaum überleben wird." 72 Richard von Weizsäcker, Nachdenken über Patriotismus, Ansprache vom 6.11.1987, Bulletin Nr. 119 vom 11.11.1987, S. 1021 ff. (S. 1024 sub 8). 73 Vgl. auch Peter Häberle, 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, in: JöR N.F. 37, 1988, S. 35 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, 1992, S. 99 ff. 74 Die personale Reichweite kann weitergehen; vgl. Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, 2. Aufl., 1994, S. 72 ff.
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nicht die Konstitutionalität, die Verfassungsabhängigkeit im Innern, entscheidend. Der Antagonismus von Staat und Verfassung ist durch Staatsphobie verwischt worden. Totalitäres Staatsunrecht hat zur Negation des Staats und damit zur Inthronisation der Verfassung als eines Ersatz- oder Überstaates geführt. In einer „Gesellschaft ohne Staatlichkeit" 76 werden aus Staatsorganen „Verfassungsorgane" 7 7 , reklamiert man „Verfassungstreue" statt Staatstreue 78, und trat die DDR nicht der Bundesrepublik Deutschland, sondern dem „Geltungsbereich des Grundgesetzes" bei 79 . Der Versuch, die „nationale Identität an der Garderobe Europas abzugeben"80 und sich als Dornröschen aus der Weltgeschichte zurückzuziehen, hat zu einem substanzlosen „Verfassungspatriotismus" ( Sternbergerj 81 und zur „Verfassung als Vaterland" 82 geführt, wodurch die klaren Konturen zwischen Staat und Verfassung verwischt wurden. Denn der Staat ist mehr als seine Verfassung, weshalb unterschiedliche Verfassungen nicht auch verschiedene Staaten voraussetzen und ein Staat mehrere Staatsformen überdauern kann 83 . Das Grundgesetz ist die momentane Verfassung Deutschlands und umschreibt dessen rechtliche Grundordnung. Aber Deutschland erschöpft sich nicht darin, der Staat des Grundgesetzes zu sein, und wäre auch kein anderer Staat geworden, wenn sich das deutsche Volk anläßlich der Wiedervereinigung eine neue Verfassung gemäß Art. 146 GG a.F. gegeben hätte. Verfassungseuphorikern mag der bekannte Satz Otto Mayers 84 „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht" unbegreifbar erscheinen. Aber er soll 75 Hierzu statt aller Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, § 35, S. 29. 76 Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, 2. Aufl., 1985, VII 1, S. 327 ff. 77 Vgl. §1 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes i.d.F. vom 11.8.1993 (BGBl. IS. 1473), § 3 Abs. 1 des Berlin-Bonn-Gesetzes vom 26.4.1994 (BGBl. IS. 918). 78 Hierzu Merten , Das Recht des öffentlichen Dienstes in Deutschland, in: Siegfried Magiera / Heinrich Siedentopf, Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 218. 79 Vgl. Bekanntmachung des Schreibens der Präsidentin der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik vom 25.8.1990 und des Beschlusses der Volkskammer vom 23.8.1990 über den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 19.9.1990 (BGBl. I S. 2057); zur rechtlichen Wirkung vgl. Klaus Stern , in: ders. / Bruno Schmidt-B leibtreu (Hg.), Einigungsvertrag und Wahlvertrag, 1990, S. 22 FN 60; Eckart Klein, DÖV 1991, S. 570 sub 1; Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, 1991, S. 31 f. so Christian Meier, Deutsche Einheit als Herausforderung, 1990, S. 49. 81 Hierzu Merten, Verfassungspatriotismus und Verfassungsschwärmerei, in: VerwArch. 83, 1992, S. 283 ff. 82 Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland, in: Arnim Möhler (Hg.), Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 11 ff. 83 Klar differenzierend Isensee, Staat und Verfassung, HStR I, 1987, § 13 RN 21, S. 600. 84 Vorwort zur 3. Aufl. des Deutschen Verwaltungsrechts, Bd. I, 1924.
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nur auf die Beständigkeit der staatlichen Rechtsordnung trotz Unbeständigkeit von Verfassungsordnung und Staatsformen hinweisen, wie auch Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung von der Fortgeltung früheren Rechts ausgehen85. Bleibt trotz Verfassungswandels die frühere Rechtsordnung regelmäßig erhalten, so ist dies erst recht für die Kontinuität des Staates zu bejahen. In Anlehnung an Otto Mayer gilt daher: Verfassungsrecht vergeht, Staatlichkeit besteht. Andernfalls müßte jede essentielle Verfassungsänderung auch zum Staatsuntergang führen, und würde umgekehrt Staatskontinuität Verfassungskontinuität bedingen. Revolutionen pflegen jedoch nicht unternommen zu werden, um einen bestehenden Staat zu zerstören, sondern um die Verfassung zu stürzen, die Staatsform zu ändern oder Personen zu ersetzen 86. Nach (geglückter) Revolution wechselt zwar die Verfassung, der Staat aber bleibt 87 . Als Ludwig XVIII. nach Frankreich zurückkehrt, schreibt er in die Präambel der Verfassung vom 4. Juni 1814 88 , die göttliche Vorsehung habe ihn in seine Staaten („nos Etats") zurückgerufen, und der gegenwärtige Zustand des Königreichs („l'état actuel du royaume") erfordere eine Verfassungsurkunde („une charte constitutionnelle"), womit staatsrechtlich subtil zwischen dem Staat als solchem, dem augenblicklichen Staatszustand oder der Staatsordnung und der Verfassung unterschieden wird. Deutlicher hätte man die Diskrepanz zwischen Staatskontinuität und Verfassungswandel nicht betonen können. 2. Das „unverlorene Reich" Gründet Staatlichkeit auf die Trias von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt 8 9 , so heischt Staatskontinuität die Dauerhaftigkeit dieser drei Elemente. Voi diesem Hintergrund wird deutlich, daß eine deutsche Staatskontinuität erst seit 1871 bestehen kann. Denn der Deutsche Bund hat ebensowenig das untergegangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation fortgesetzt 90, wie dieser großdeutsche Staatenbund angesichts divergierender Staatselemente mit dem kleindeutschen Reich von 1871 identisch sein kann. In gleicher Weise ist dieses Deutsche Reich keine bloße Fortsetzung und Süderweiterung des Norddeutschen Bundes von 1867, was jedoch die Staatsrechtslehre der damaligen Zeit überwiegend angenommen hatte 91 . Dieser, wohl auch von der Führungsrolle Preußens bei der ss Vgl. Art. 123 ff. GG, Art. 178 Abs. 2 Satz 1 WRV. So Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919, 14. Aufl., 1933, S. 1. 87 Anschütz, a.a.O.. 88 Abgedr. bei: Wilhelm Altmann, Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, Berlin 1897, S. 204 ff. 89 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 5. Neudruck der 3. Aufl., 1928, S. 394 ff.; vgl. auch Verdross / Simma (FN 75), §§ 379 ff., S. 224 ff.; Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 1985, S. 20 ff. 90 Vgl. im einzelnen E. R. Huber (FN 23), S. 68 ff.; Georg Meyer / Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, S. 116. 86
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Reichseinung beeinflußten Sicht widerspricht nicht nur der Text der insbesondere mit Bayern und Württemberg abgeschlossenen Verträge, sondern auch die Präambel der späteren Reichsverfassung. Danach schließen der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes sowie die übrigen Fürsten einen (neuen) Bund, statt den Beitritt der süddeutschen Staaten zum Nordbund zu vereinbaren. Die Reichsverfassung ist Gründungsverfassung, nicht Beitrittsverfassung, so daß der Norddeutsche Bund nicht in erweiterter Form seine Identität erhalten, sondern diese in dem neuen und andersartigen Nationalstaat verloren hat 92 . Revolution und Bruch mit der Monarchie führten 1918/19 nicht zur Diskontinuität. Denn das Deutsche Reich war keine Personalgesellschaft deutscher Fürsten, die mit dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarisch-demokratischen Republik am Ende war. Das Reich war vielmehr der Zusammenschluß von einzelnen Staaten zum Bundesstaat, wobei die beteiligten und in der Präambel erwähnten Fürsten als Staatsorgane handelten93. Der Verfassungsbruch modifiziert die Staatsform, läßt jedoch die Staatspersönlichkeit unangetastet. Anders als Deutschösterreich, das mit der Habsburger Doppelmonarchie nicht identisch ist 9 4 , ist die Trias der Staatlichkeit in Deutschland im wesentlichen unverändert, so daß zwischen dem monarchischen und dem republikanischen Reich Identität besteht und die „Erneuerung" in der Präambel der Weimarer Reichsverfassung als Verfassungserneuerung, nicht als Staatserneuerung zu deuten ist 95 . Die nicht genuin nationalsozialistische Bezeichnung „Drittes Reich" 96 sowie die Hinweise auf den „neuen", den „heutigen" Staat und seine „revolutionäre" 97 Entstehung98 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es ein drittes Reich im 91 Vgl. Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 5. Aufl., 1911, S. 44; dens., Deutsches Reichsstaatsrecht, 1907, S. 12; Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 275; S. 207; Meyer / Anschütz, a.a.O., S. 207; Ludwig von Rönne, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 2. Aufl., Leipzig 1876, S. 56 f. 92 Ausführlich E. R. Huber (FN 23), Bd. III, 2. Aufl., 1970, S. 760 ff.; zutreffend auch Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1987, S. 426 ff. 93 Vgl. Anschütz (FN 86), S. 2 m.w.N. 94 Vgl. Brauneder / Lachmayer (FN 14), S. 187 ff. 95 Vgl. Anschütz (FN 86), S. 1 ff.; Julius Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. I, 1922, S. 11 f.; Ludwig Gebhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919, 1932, S. 60 f.; Fritz POetzsch, Handausgabe der Reichsverfassung vom 11.8.1919, 1919, S. 19; Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, § 5 RN 9, S. 59. 96 Vgl. Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, 1923. 97 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ernst Nolte, Europäische Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Die nationalsozialistische Machtergreifung im historischen Zusammenhang, jetzt in: ders., Lehrstück oder Tragödie?, 1991, S. 175 ff.; Michael Prinz, Der Nationalsozialismus — eine „braune Revolution"?, in: Manfred Heuling (Hg.), Revolution in Deutschland? 1789-1989, 1991, S. 70 ff. 98 Statt aller Carl Schmitt, Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts, in: Rudolf Schraut (Hg.), Deutscher Juristentag 1933, S. 242 ff.; hierzu auch Ernst-Wolf gang Bökkenförde, Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985, S. 16.
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Sinne des Staats- und Völkerrechts weder nach 1933 noch nach 1945 gegeben hat. Trotz eklatanten Bruchs im politischen System und rigoroser Änderung der Verfassungs- und Rechtsordnung infolge der Machtübergabe und Machtübernahme im Jahre 1933 ist die Elemente-Trias unberührt geblieben, und stellt die nationalsozialistische Staatsgewalt (unabgeleitete) deutsche Staatsgewalt dar, so daß die Umgestaltung der Staatsordnung nicht zur Staatsdiskontinuität führt. Schwieriger ist die Rechtslage Deutschlands nach Debellation und (bedingungsloser) Kapitulation im Jahre 1945 zu beurteilen. Sieht man hierin einen „Zusammenbruch des Deutschen Reiches" 99 , so könnte es sich um einen Fall des Staatsuntergangs handeln, der bei völligem und endgültigem Zerfall der innerstaatlichen Ordnung bejaht wird 1 0 0 . Im wesentlichen aus rechtspolitischen Erwägungen hatte Kelsen schon 1944 gefordert, den Untergang des Deutschen Reiches als Völkerrechtssubjekt zu bewirken 101 . Völkerrechtlich führt jedoch die bloße Debellation noch nicht zum Untergang eines Staates102. Ungeachtet des völkerrechtlichen Annexionsverbotes könnte ein Staat seine Völkerrechtssubjektivität nur verlieren, wenn der Sieger ihn endgültig einverleibte und ein Rechtstitel des Verzichts oder der Ersitzung hinzuträte 103 . Eine Einverleibung deutschen Staatsgebiets durch die drei Siegermächte scheitert jedoch schon an fehlender Einverleibungsabsicht 104. Hatten die USA und Großbritannien bereits in der Atlantik-Charta 105 bekräftigt, keine territoriale oder sonstige Vergrößerung zu suchen, so ist seit der Erklärung von Jalta 106 nur von „Besetzung" die Rede, und soll die Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland ausdrücklich nicht „die Annektierung Deutschlands" bewirken 107 . Auf der Potsdamer Dreimächte-Gipfelkonferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 wird sogar vorgesehen, daß die lokale Selbstverwaltung in ganz Deutschland wiederhergestellt und wich99 So BVerfGE 1, 167 (168); hierzu auch BGHZ (GrS) 13, 265 (295 ff.); Ernst Forsthoff, DVB1. 1954, S. 69 f. 100 Verdross / Simma (FN 75), § 969, S. 606. 101 Hans Kelsen, The International Legal Status of Germany to be established immediately upon Termination of the War, in: American Journal of international Law 38, 1944, S. 689 ff.; hierzu auch Bernhard Diestelkamp, Rechts- und verfassungsgeschichtliche Probleme zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 20, 1980, S. 48 Iff.; Cornelius Thum, Die Kontinuitätsfrage im völkerrechtlichen Rahmen der Einigung Deutschlands, 1993, S. 51 ff. 102 Alfred Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl., 1964, S. 251 f.; Verdross l Simma (FN 75), § 970, S. 606 f.; K. Ipsen, Völkerrecht (FN 95), § 5 RN 10 f., S. 59; siehe auch R. Geiger (FN 89), S. 26 f.; Rolf Stödter, Deutschlands Rechtslage, 1948, S. 52 ff. »03 Verdross, a.a.O., S. 251 f., 288. 104 Hierzu Verdross, a.a.O., S. 250 f.; zutreffend auch Dennis L. Bark /David R. Gress, A History of West Germany, Bd. I, 1989, S. 59. 105 Vom 12.8.1942, abgedr. bei E. R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. II, 1951, S. 155. 106 Vom 12.2.1945, abgedr. bei E. R. Huber, a.a.O., S. 156. 107 Vier-Mächte-Erklärung vom 5.6.1945, abgedr. bei E. R. Huber, a.a.O., S. 158 ff. (159).
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tige zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen unter der Leitung von Staatssekretären geschaffen werden sollen 108 . Die von den Besatzungsmächten reklamierten Reparationen sind weiteres Indiz für die Staatskontinuität109. In diese Richtung deutet auch das vielzitierte Stalin-Wort, „daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt" 1 1 0 . Richtigerweise war der Zusammenbruch also nur ein „ Z u s a m m e n b r u c h des nationalsozialistischen Systems", so daß „das Deutsche Reich über den 8. Mai 1945 hinaus fortbestanden hat", wozu sich später auch das Bundesverfassungsgericht bekennt 111 . Ebenso war nach überwiegender Auffassung des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee der deutsche Staat als Rechtssubjekt nicht untergegangen, sondern nur desorganisiert. Es galt somit nicht, ihn staatlich neu zu konstituieren, sondern nur neu zu organisieren 112. Demzufolge ist in der Gründung der Bundesrepublik und der DDR keine „doppelte Staatsgründung" 113 im Rechtssinne zu sehen. Vielmehr wird mit der Bundesrepublik Deutschland nur das 1871 gegründete und seitdem kontinuierlich fortbestehende Deutsche Reich neu aufgebaut, so daß das neue Gebilde nicht Rechtsnachfolger des Reichs wird, sondern mit diesem identisch bzw. in räumlicher Hinsicht teilidentisch ist 1 1 4 . Diese auch als „juristische Lebenslüge der Bundesrepublik" gebrandmarkte „Identitätstheorie"115 war in Wahrheit für die deutsche Staatlichkeit der Lebensnerv, der nach einer mit der Gründung der DDR versuchten und nach deren Beitritt aufgegebenen Sezession zu einer wirklichen Wiedervereinigung des „unverlorenen Reichs" 116 geführt hat, die politische Leisetreterei nur die „Vereinigung" oder die „deutschdeutsche Einigung" nennt.
los Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945, abgedr. bei E. R. Huber , a.a.O., S. 162 ff. (164); hierzu auch Morsey (FN 36), S. 2 f. 109 K. Ipsen (FN 95), § 5 RN 12, S. 60. 110 Tagesbefehl zum 24. Jahrestag der Gründung der Roten Armee vom 23.2.1943, in: Josef Stalin, Über den großen vaterländischen Krieg der Sowjetunion, 2. Aufl., 1951, S. 43 ff. (50). in BVerfGE 3, 288 (316, 319 f.); 6, 309 (336, 338); vgl. in diesem Zusammenhang auch Städter (FN 102), passim, insbes. S. 36 ff., 105; Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz, 3. Aufl., 1969, S. 40; Freiherrn von der Heydte und Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL H. 13, 1955, S. 6 ff. und 27 ff.; eingehend Thum (FN 101), S.51 ff. 112 Vgl. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1948, S. 18 unten. 113 Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, 1982; auch Morsey (FN 36), S. 15 ff. 114 BVerfGE 36, 1 (16); Otto Kimminich, Der Moskauer Vertrag vom 12.8.1970, 1973, S. 73; ders., Überlegungen zu einer friedensvertraglichen Regelung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33 vom 10.8.1990, S. 34 ff. (37); Thum (FN 101), S. 76. 115 Ernst-Wolf gang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967, S. 99. 116 Vgl. Kimminich, Das unverlorene Reich, in: Die politische Meinung 31, 1986, S. 18 ff. 3 Bettermann - Seminar
Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung * - Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland Von Michael Kloepfer
I. Vorbemerkung 1. Verfassung als historische Erfahrung Die Verfassung ist historisch gewonnene Erfahrung. Das Werden zentraler normativer Wertvorstellungen angesichts erlittenen Unrechts — das macht den eigentlichen Tiefgang und die sinnstiftende und legitimierende Kraft des Verfassungsrechts aus. In einem doch weithin satten, befriedeten, freiheitlichen und doch nicht glücklichen Land ist immer wieder deutlich zu machen: Unsere Verfassung, insbesondere unsere Grundrechte sind mit Blut geschrieben. Wieviel Ungerechtigkeit, wieviel Unglück, wieviel Angst wurde durchlitten, wieviel Tyrannei mußte erduldet werden, wieviel Knochen wurden zerbrochen und wieviel Blut floß, damit sich politische Forderungen entgegensetzten, verdichteten und — schwer genug — schließlich durchsetzten. Der Kampf um die Freiheit der Religion, der in Deutschland ganze Gegenden entvölkerte und verwüstete, mag als ein besonders deutliches Zeichen dienen. Die Garantie der Menschenwürde baut auf vielfältigen Erfahrungen der Unmenschlichkeit auf, das Diskriminierungsverbot verbietet, was in Deutschland an unerträglichen Diskriminierungen geschah. In einem weiteren Sinne waren die Mütter und Väter unserer Verfassung nicht nur die Mitglieder des Parlamentarischen Rats, nein, es war das deutsche Volk, es sind etwa auch die Leibeigenen früherer Zeiten, die ausgebeuteten Arbeiter des vorigen Jahrhunderts, auch die an religiöser Intoleranz Gestorbenen und gerade auch die Toten und Gemarterten der Konzentrationslager. Für künftige Verfassungsänderungen in Deutschland werden zu diesem Kreis auch die Drang* Das Manuskript war Grundlage des am 24.9.1993 im Berliner Seminar gehaltenen Vortrages. Aus Zeitgründen konnten indes nur einige Teile vorgetragen werden. Aufgrund der Diskussion im Berliner Seminar wurde das Manuskript vereinzelt noch ergänzt. Teile des so ergänzten Manuskripts dienten dann als Basis für meine am 25.11.1993 gehaltene Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema: „Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung. Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland". Meinem Mitarbeiter, Herrn Gerhard Michael , Berlin, danke ich für seine Mitarbeit. 3*
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salierten und die aus politischen Gründen Getöteten der früheren DDR, insbesondere auch die Toten an der Mauer gehören. In diesem Sinne ist jede Verfassung auch so etwas wie das kollektive Gedächtnis eines Volkes. In dem, was sie verhindern (oder aber auch umgekehrt erhalten) will, registriert und verarbeitet die Verfassung die Geschichte einer Nation. Dabei ist die Verfassung nicht nur so etwas wie ein pathetisches Archiv von historischem Geschehen mit Rechtsverbindlichkeit, sondern gerade auch das Ergebnis eines meist leidvollen historischen Lernprozesses: Häufig (aber nicht nur) angesichts der Erfahrungen kollektiven Leids in der Vergangenheit bilden sich zentrale Wertvorstellungen eines Volkes heraus, die dann schließlich in seine Verfassung Eingang finden. Das führt zu der außerordentlich umstrittenen allgemeinen Frage, ob Organisationen — zu denen der Staat als politisches Großgefüge ja zählt — überhaupt „lernen" können1 oder ob dies nur Angehörige solcher Organisationen können — wenn vielleicht auch in der Form des kollektiven Lernens. Darauf kann hier freilich nicht näher eingegangen werden. Wir nutzen indes im folgenden die Lernfähigkeit von Organisationen, also auch des Staates, als Arbeitshypothese und kommen zu der These, daß die Verfassung — wie überhaupt die Rechtsordnung — auch zu einem beträchtlichen Teil Lernergebnisse eines Staates bzw. eines Volkes zusammenfaßt und aufbewahrt. Wie jedes Lernen spielen dabei positive oder negative vorangegangene Erfahrungen eine ausschlaggebende Rolle. In diesem Sinne ist die Verfassung auch als kollektive Lernerfahrung, als Bewältigung der Zukunft aus Vergangenheitserfahrung zu verstehen.
2. Varianten der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung Unter den vielen möglichen Motiven für Verfassungsgestaltungen taucht immer wieder ein Phänomen auf: die bewußte und ausdrückliche Abkehr des Verfassungsgebers für die Zukunft von einer als verfehlt erkannten Vergangenheit. Vor allem nach Revolutionen und nach der militärischen Ablösung bisheriger Regime 1 Vgl. etwa Helmers / Knie, Wie lernen Unternehmen bei der Entwicklung von Techniken, ZFO 1 / 1992, S. 36 ff.; Gerken, Mut zum Entlernen, Capital 9/ 1992, 224 und Satteiberger, Die lernende Organisation, 1991; Hofbauer, Lernfähige Unternehmen für das Jahr 2000, ZFO 5 / 1992, 304 ff. Zu den Ursprüngen der Fragestellung vgl. bereits Cangelosi / Dill, Organizational Learning: Observations Towards a Theory, Administrative Science Quarterly 10 (1965), 175 ff.; Wildavsky, The Self-Evaluating Organization, Public Administration Review 32 (1972), S. 509 ff.; March / Olsen, The Uncertainty of the Past: Organizational Learning under Ambiguity, European Journal of Political Research 3 (1975), 147 ff. Zu Lernprozessen in Gesellschaften s. auch Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1987, S. 404 ff. Vgl. aus der umfangreichen aktuellen Diskussion außerhalb Deutschlands nur Schein, How can Organizations learn faster?, Sloan Management Review, Fall, 1990, 7 ff. und Weick, The Nontraditional Quality of Organizational Learning, Organization Science 2 (1991), 116 ff.
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wird diese — mehr oder weniger — kursumsteuernde Variante der Verfassungsgebung typisch sein. In Fällen einer bloßen Verfassungsreform bei grundsätzlicher Beibehaltung des bisherigen politischen Systems wird die Vergangenheit dagegen häufiger positiver erlebt worden sein, weshalb insoweit dann an Strukturen und Lösungen der bisherigen Verfassung angeknüpft wird im Sinne einer kurswahrenden Verfassungsgebung. In der Realität wird es in der Regel zu Mischformen kommen. Die Verabschiedung einer neuen Verfassung ohne Systemablösung dürfte auf eine kurskorrigierende Variante hinauslaufen. Derartige Kurskorrekturen werden dann freilich die Frage aufkommen lassen, ob es überhaupt einer Verfassungsgebung bedarf oder ob nicht bloße Verfassungsänderungen ausreichen. Kleinschrittige, zeitlich gedehnte Verfassungsänderungen werden ohnehin auch mit den Mitteln bloßer Umdeutung der Verfassung bzw. mit dem stillen Verfassungswandel zu bewältigen sein. Die Position der Kurswahrung wird der einer Verfassungsneugebung ohnehin skeptisch gegenüberstehen und hierzu nur gelangen, wenn sie durch eher formale Gründe (Ablauf einer befristeten Verfassung oder Veränderung des Staatsterritoriums mit Staatsumgründungen oder -neugründungen) sich dazu genötigt sieht. In der Regel dürfte die eigentlich inhaltlich bewegende Kraft einer die Vergangenheit reflektierenden Verfassungsgebung aber stets die Abkehr von einer negativ erfahrenen Vergangenheit darstellen. Soweit die Kursumsteuerung, Kurskorrektur oder auch Kurswahrung durch eine Verfassungsgebung im Hinblick auf eine gelebte Vergangenheit erfolgt, kann dies ingesamt als Motiv „Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung" bezeichnet werden. Der viel gebrauchte, wenn bisweilen auch verbrauchte Begriff der „Vergangenheitsbewältigung", der in den vergangenen Jahren eine Renaissance mit bisweilen unbefriedigenden Ergebnissen erlebt hat, gibt die hier behandelte Problematik nicht vollständig wieder. Zunächst erfaßt er nur die Kursumsteuerung oder Kurskorrektur. Während „Vergangenheitsbewältigung" vor allem aber ein primär retrospektiver Vorgang ist, soll hier der zugleich prospektive Aspekt betont werden. Welchen zukunftsgerichteten Auftrag gibt die Vergangenheit dem Verfassungsgeber? Die Verfassung will ja typischerweise die künftigen Entwicklungen steuern, allerdings auch aus geschichtlicher Erfahrung und häufig auch in bewußter Absetzung von der Vergangenheit.
II. Beispiele aus der Verfassungsgeschichte Die umsteuernde Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung ließe sich an vielen Beispielen des Aus- und Inlandes verdeutlichen. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur soviel: Die US-amerikanische Verfassung und die nach Revolutionen entstandenen europäischen Verfassungen der Neuzeit sind markante Beispiele hierfür.
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1. Paulskirchenverfassung Die Paulskirchenverfassung ist einer Überprüfung der Bewährungserfahrung selbst nur bedingt zugänglich, weil sie nie als Verfassung wirksam wurde. 2 Sie scheiterte machtpolitisch, bevor sie als Verfassung scheitern oder bestehen konnte. Die europäischen Vorgänge, die zu den revolutionären Umwälzungen des Jahres 1848 geführt hatten, sind bekannt und können hier nicht vertieft werden. 3 Hinsichtlich der unmittelbaren Verfassungsgebung 4 sind einige markante Motivlinien zu erkennen. Grundlage der Beratung der Nationalversammlung war der sogenannte Siebzehnerentwurf 5, der seinerseits auf einen Vorentwurf von Fr. Chr. Dahlmann und W. Albrecht zurückging. 6 Dieser weithin als in seiner sprachlichen Klarheit gelobte7 Entwurf rezipierte in weiten Teilen europäisches Verfassungsgut in der Tradition einer konstitutionellen Monarchie. 8 Neben dem ohne Zweifel dominanten Einfluß ausländischer Vorbilder ist zentrales Motiv der Verfassungsgebung der Wunsch nach nationaler Einheit in einem Staat. Der seit Jahrzehnten vordrängende nationale Idealismus hatte sich in der Revolution entladen — an der Uneinigkeit über Weg und Grad der Einheit 9 sollte sie scheitern. Prägend für die Ausformulierung der Verfassung war letztlich aber auch häufig der politische Kompromiß der beteiligten politischen Kreise. 10 2 Bezeichnend ist eine Episode aus den Beratungen der Paulskirchenverfassung (nach F. v. d. Heyden, Um Volk und Reich, München oder Weimar? Grundfragen deutscher Verfassung, 1946, S. 9 f.). Der Abg. Prof. Sepp (München) stellte den Antrag: „Die Nationalversammlung wolle beschließen, die deutschen Einzelstaatsregierungen zur Anerkennung der Reichs Verfassung zu zwingen". Darauf stellte der Hannoveraner Abg. von der Rechten den Unterantrag: „ . . . und den Abg. Sepp-München mit der Ausführung des Beschlusses zu beauftragen". 3 Vgl. eingehend E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 435 ff., 502 ff. 4 Vgl. aus der zeitgenössischen Literatur nur H. Künßberg, Das deutsche Verfassungswerk im Jahre 1848, Frankfurt/M. 1849 und 3. G. Droysen, Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung, Leipzig 1849. 5 Hübner, Der Verfassungsentwurf der siebzehn Vertrauensmänner, in: FS E. Rosenthal, 1923, S. 109 ff. 6 Hedler, Die deutschen Verfassungen im Wandel der Zeiten, 2. Aufl. 1925, S. 65. 7 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 769. 8 Die Motive sind im Entwurfstext ausführlich niedergelegt, vgl. den Abdruck bei E. R. Huber, Dokumente Bd. 1 Nr. 91. Mit den Einflüssen nordamerikanischer Verfassungen beschäftigt sich die Erlanger Dissertation von Th. Ellwein (Der Einfluß des nordamerikanischen Bundesverfassungsrechts auf die Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, 1950). 9 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 773. 10 Zur politischen Zusammensetzung der Nationalversammlung vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 613. Bisher wenig untersucht ist die Bedeutung der berufsständigen Zusammensetzung der Nationalversammlung für die Ergebnisse der Verfassungsgebung. Zwar wurde die Versammlung teilweise als „Beamtenparlament" (E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 611) bezeichnet. Ebenso richtig wäre aber auch die Bezeichnung des „Juristenparlaments", denn von den 830 Abgeordne-
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Als ihre erste Aufgabe sah die Frankfurter Nationalversammlung die Einführung von Grundrechten des deutschen Volkes an. 11 In weiten Bereichen sind diese Grundrechte klar durch die Abkehr von der Monarchie alter Prägung gezeichnet. § 137 erklärte Standesunterschiede und Adel für aufgehoben, § 166 bestimmte das endgültige Ende jedes Untertänigkeits- oder Hörigkeitsverbandes. In allen ihren Kernbereichen: Ablösung der ständischen Gesellschaftsform, der Einführung des Nationalstaates und der bürgerlichen Freiheiten ist die Paulskirchenverfassung prägnanter als Versuch der kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung zu deuten. Angesichts des realen Scheiterns der Paulskirchenverfassung ist dies freilich beim Versuch geblieben. Die große und bis heute reichende Bedeutung der Paulskirchenverfassung liegt aber in der ideellen Vorbildfunktion auf nachfolgende deutsche Verfassungen. Sowohl die Weimarer Reichsverfassung als auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland haben in weiten Teilen Inhalte und Formulierungen der Paulskirchenverfassung rezipiert. 2. Norddeutscher Bund / Deutsches Reich Die deutsche Verfassungsgebung der Jahre nach 1866 läßt sich größtenteils nur schwer in die Kategorie Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung einordnen. Zu wenig scheinen der staatenvertragliche Ansatz und die ganz auf die (vor allem preußischen) Einigungsbemühungen abgestellten Strategien auf die Verfassungsgebung im heutigen Verfassungsstaat übertragbar. 12 Für die Deutschen, deren Denker so großes Gewicht auf die kulturellen Bestandteile der Nation legten, wurde die Nationbildung maßgeblich ein von oben kalkulierter Machtprozeß. 13 Dabei gilt dies besonders für die Reichsverfassung von 1871, die lediglich eine „beitrittsbedingte" Überarbeitung der Bundesverfassung von 1867 darstellte. 14 Weitere grundsätzliche Reformen sollten aus dem Einigungsprozeß ausdrücklich ferngehalten werden. 15 Im Vordergrund der Verfassungsgebung auf ten waren 223 Angehörige klassischer juristischer Berufe (Richter, Staatsanwälte, Advokaten), hinzu dürfte ein beträchtlicher Anteil der 49 Universitätsprofessoren, 118 höheren Verwaltungsbeamten und 3 Diplomaten kommen (Zahlenangaben nach Huber, a. a. O., S. 610 f.); vgl. auch E. Bucher, Die Juristen in der Frankfurter Nationalversammlung (Diss. München 1942). n Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1865, S. 442. 12 Instruktiv zur Rechtslage der Zeit zwischen politischer „Einigung" und Verfassungsgebung des Norddeutschen Bundes der in diesem Zeitraum abgeschlossene (1867) Band 2 des Staatsrechtslehrbuchs von Zachariä. 13 W. v. Bredow, Deutschland — ein Provisorium?, 1985, S. 14. 14 Zur Redaktion der Reichsverfassung P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 2. Aufl. 1888, S. 45 f. 15 Delbrück, 6. Sitzg. v. 5.12.1870, Sten. Ber., S. 110, abgedr. bei Bezold (Hrsg.), Materialien der Deutschen Reichsverfassung, Bd. III, Berlin 1873.
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dem Weg vom losen Staatenbund zum Deutschen Reich standen die Fragen des Verhältnisses des Zentralstaates zu den deutschen Ländern und der Länder untereinander — insbesondere der Eingliederung der süddeutschen Länder. 16 Auch hier ist aber das Motiv der Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung zu erkennen. Die beteiligten Staatsführungen wollten einerseits den demokratischen Aufbau der Paulskirchenverfassung nicht übernehmen. Andererseits war die erkannte Vergangenheitserfahrung auch die deutsche Kleinstaaterei, die durch Schaffung einer größeren staatlichen Einheit überwunden werden sollte. So wurde erstmals für das gesamte Staatsgebiet das gemeinsame Indigenat 17 (jew. Art. 3 Abs. 1 der Verfassungen) eingeführt. Der Angehörige eines jeden Bundesstaates war danach in jedem anderen Bundesstaat als Inländer zu behandeln. Unter den nach 1871 erfolgenden Verfassungsänderungen des Deutschen Reiches sticht im Kaiserreich insbesondere die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes zum Reichstag hervor. Dies wurde später als weitsichtige Antwort Bismarcks auf die Kriegsbemühungen des deutschen Volkes gedeutet.18 Die Gewährung weiterer Freiheiten blieb aber im Gegensatz zu ursprünglichen Aussagen19 in der Verfassung aus. Insgesamt kann das Bismarck'sehe Reich zwar als gewaltiger Fortschritt auf dem Weg auch zur realen nationalen Einheit (wenn auch in kleindeutscher Version) verstanden werden. Andererseits handelt es sich aber insgesamt um eine Epoche der Stagnation in der Verfassungsevolution auf Reichsebene. Die noch zu Zeiten des 1. Weltkrieges diskutierten Reformen konnten nicht mehr realisiert werden. Die Verfassungsentwicklung in den Staaten verlief inhomogen und kann hier nicht nachgezeichnet werden.
16 Ebd. S. 67. 17 Zum alten Indigenat der Länder Zachariä, a. a. O., S. 484 ff. Vgl. auch bereits Art. 132 der Paulskirchenverfassung. 18 J. V . Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 23; umgekehrt wurde die preußische Entscheidung, für den Landtag das allgemeine und gleiche Wahlrecht bis 1918 nicht einzuführen, als mitverantwortlich für den Untergang der Monarchie angesehen. 19 Vgl. die Diskussion um die Einführung von Grundrechten in die Reichsverfassung 1871, abgedr. bei Bezold (Hrsg.), a. a. O., S. 898 ff., hier insbesondere die Beiträge von Bebel, Delbrück , Lasker und Windthor st. Die Nichtgewährung von Grundrechten geschah dabei freilich nicht aus freiheitswidriger Gesinnung, sondern aus föderativer Rücksichtnahme, vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 665.
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3. Weimarer Reichsverfassung a) Entstehung und Ausgangspunkt Der Zeitpunkt der Schaffung der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 20 stand ebenso wie der des Grundgesetzes in einer Periode des Umbruchs von einer Staatsform zu einer anderen und nach einem verlorenen Krieg. 21 Sie bietet sich daher als Untersuchungsgegenstand zur Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung durch Verfassungsgebung besonders an. Bevor sich der Blick aber der eigentlichen Reichsverfassung zuwendet, soll noch die Vorläuferregelung, welche die staatsrechtlichen Verhältnisse Deutschlands einstweilen regelte, betrachtet werden. Es erscheint naheliegend, daß gerade in einem Verfassungsgesetz wie dem „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt" vom 10.2.1919 22 , das unter dem unmittelbaren Eindruck grundlegender revolutionärer Umwälzungen in der Nationalversammlung entstanden ist, die Abrechnung mit dem zuvorigen Zustand besonders deutlich ausfällt. Das Resultat bleibt indes bescheiden. Es handelte sich erkennbar um ein „typisches" 23 Kompromiß- und Notgesetz, welches in erster Linie den Zweck hatte, die provisorische Reichsgewalt staatsrechtlich zu fundieren und mit handlungsfähigen Organen auszustatten. Es enthielt keinerlei Vorschriften über die äußere und innere Staatsform, setzte aber in seinen Einzelbestimmungen den Bundesstaat, die Republik und die Demokratie voraus. Selbst der mit Gesetzeskraft und revolutionärem Pathos ausgestattete „Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12.11.1918" 24 enthielt in seinen politischen Aussagen weitgehend Altbekanntes. Die Formulierung der Nr. 3 des Aufrufes „Eine Zensur findet nicht statt" enthält in der Sache gegenüber dem Gesetz über die Presse v. 7.5.1874 („Reichspreßgesetz") nichts Neues.25 Anders war die Situation bei der Weimarer Reichsverfassung selbst, bei deren Schaffung die verschiedensten Vorbilder (sowohl aus dem Ausland 26 als auch
20 RGBl. 1919, S. 1383 — 1418. 21 Vgl. aus dem zeitgenössischen Schrifttum nur Binding, Die staatsrechtliche Verwandlung des Deutschen Reiches, 1919; Giese, Deutsches Staatsrecht, 1930, S. 62 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 95 ff. 22 RGBl. 1919, S. 169; dazu O. Mayer, JW 1919, 209 ff. 23 Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches8, 1931, S. 14. 24 RGBl. 1918, S. 1303. 25 W. Jellinek, Revolution und Reichsverfassung, Bericht über die Zeit vom 9. Nov. 1918 bis zum 31. Dez. 1919, JöR IX (1920), S. 1 ff., 9. Insgesamt hinterläßt die Proklamation eher den Eindruck der Verlegenheit als revolutionärer Umbesinnung. Im Wesentlichen wurden Forderungen der Paulskirchenverfassung aufgenommen (Nr. 2: Vereinsund Versammlungsfreiheit, Nr. 5: Religionsausübung und Nr. 4: Meinungsfreiheit), eine Amnestie für politische Straftaten ausgesprochen (Nr. 6) und politische Versprechen (Wohnungsbau, Volksernährung) gemacht.
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aus der deutschen Geschichte27) ausgewertet werden konnten. Überraschend erscheint daher zunächst der offenbar hohe Grad von Kontinuität in Teilen des Verfassungstextes gegenüber der alten Reichsverfassung. 28 Eine Erklärung hierfür ergibt sich einerseits wohl aus der historischen Situation der Verfassungsgebung in der Nachkriegszeit (insbesondere in den ersten Monaten des Jahres 1919) und andererseits — wie so häufig — aus den Beweggründen und Zielen der an der Verfassungsgebung maßgeblich beteiligten Personen. Der unmittelbare historische Kontext bot alles andere als das ruhige Umfeld, welches sich viele Beteiligte für ein Vorhaben wie die Schaffung einer völlig neuen Verfassung gewünscht haben mögen. 29 Einige unabhängige Sozialdemokraten waren als Anhänger einer Räterepublik aus der Regierung ausgetreten. Im Januar und März 1919 erreichten die Unruhen ihren Höhepunkt mit Ausschreitungen in Berlin. 30 Die Regierung war nahe daran zu stürzen, und die Räterepublik hatte kurzzeitig echte Chancen, sich zu etablieren. Vordringlich erschien also nicht die Überwindung der Monarchie oder die Durchsetzung demokratischer Rechte das Gebot der Stunde zu sein. Die Revolution schien diese Ziele ohnehin erreicht zu haben. Dabei war die Abschaffung der Monarchie unmittelbar nach der Revolution noch eher unwahrscheinlich. 31 In dem überlieferten Gespräch Eberts mit dem Reichskanzler Prinz Max v. Baden am 9.11.1918 verlangte Ebert nur den Thronverzicht des Kaisers und des Kronprinzen. Einer Aufrechterhaltung der Monarchie mit dem Kaiserenkel stehe nichts im Wege. 32 Ob in diesem Sinne die Ausrufung der Republik durch Scheidemann 26
Insbesondere die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika v. 17.9.1787, die französischen Verfassungsgesetze v. 25.2.1875 und v. 16.7.1875 sowie die Bundesverfassung der Schweiz v. 29.5.1874. 27 Hier insbesondere die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849 (Paulskirchenverfassung) und — obgleich Teile des Schrifttums der Weimarer Republik diesen Einfluß relativieren wollten — auch die Verfassung des Kaiserreiches vom 16.4.1871. 28 Wobei Staatspraxis und Lehre die nur inhaltliche Kontinuität betonten und hinsichtlich des Geltungsgrundes die Diskontinuität annahmen; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches8, 1931, S. 12; VO der RReg. v. 28.12.1918, RGBl. 1919, S. 16. 29 Vgl. zur historischen Situation instruktiv W. Rathenau, Die neue Gesellschaft, 1919, abgedr. in W. Rathenau, Schriften und Reden, S. 278 ff. 30 Lusensky, Der neue Staat, 1920, S. 16. 31 W. Rathenau schrieb 1919 (Die neue Gesellschaft), S. 281: Am Tage vor dem Waffenstillstandsgesuch, vielleicht noch am Tage vor der Kaiserflucht, hätte eine Volksabstimmung eine überwältigende Mehrheit für die Monarchie und gegen den Sozialismus ergeben. 32 Vgl. J. V. Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 24 FN 1, nach dem auch die Siegermächte eine Änderung der Staatsform nicht verlangten. Nach Winkler, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 1993, S. 32 m.w.N., war es freilich am 9.11.1918 nach Auffassung von Ebert schon zu spät, noch die Frage der Regentschaft zu regeln. Nach Schiffer, Die neue Verfassung des Deutschen Reiches, 1932, S. 16, erklärte Ebert wenige Wochen vor der Revolution, seine Partei verlange den Rücktritt des Kaisers, um die Beseitigung der Monarchie und die Einführung der Republik zu vermeiden. Das Volk sei für die Republik noch nicht
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vom Balkon des Reichstags als bewußter Akt der Abkehr gelten kann, erscheint heute zweifelhaft. In der ersten Sitzung der Verfassungsgebenden Nationalversammlung33 wurde das Vergangenheitsargument von Ebert aber gleichwohl vehement vorgetragen: In der Revolution habe sich das deutsche Volk gegen eine veraltete, zusammenbrechende Gewaltherrschaft erhoben. Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden sei es für immer vorbei. 34 Im späteren Verlauf der Beratungen zur Weimarer Verfassung dominierten andere, unmittelbarere Ängste. Es drohte in den Augen vieler das (Wiederauf-) Erstehen einer sozialistischen Republik nach den Zielen der radikalen Linken. Die Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 WRV, „Das Deutsche Reich ist eine Republik" — Norm oder nur Begriffsbestimmung in Abgrenzung zur Monarchie —, blieb umstritten. 35 So trat das Aufarbeitungsargument, wenn es denn überhaupt eine mehr als rhetorische Rolle gespielt hatte, bei der Formulierung der Grundstrukturen des Staates weitgehend in den Hintergrund. Dies war um so erstaunlicher, als nach einer staatsform- und gesellschaftsverändernden Revolution, nach einer systembeendenden militärischen Niederlage, nach dem Verlust der Kolonien und der jahrzehntelang angestrebten Weltmachtrolle an sich der Gedanke der Kursumsteuerung in dieser Zeit zur dominierenden Leitidee hätte werden können. Eine echte — und ausdrückliche — Abkehr fand freilich bei den Symbolen des Staates statt. Nach Art. 3 S. 1 WRV sind die Reichsfarben Schwarz-RotGold. Diese Farben wurden auch zur Betonung der Abkehr vom preußischen Deutschland Bismarckscher Prägung gewählt. 36 Zugleich sollte die Farbwahl auch den Österreich einschließenden Einigungswunsch, den Wiedervereinigungsgedanken ä la Weimar, symbolisieren. 37 Die weiteren Ausformulierungen der Weimarer Verfassung sind geprägt vom Entwurf des damaligen Professors an der Handelsschule Berlin 38 Hugo Preuß reif und es sei besser, unter vorläufiger Beibehaltung der Monarchie das Volk zur demokratischen Selbstbestimmung zu erziehen und heranzubilden. 33 Sten. Ber., Bd. 326 (Nummerierung folgt den Prot, des Reichstages = Bd. 1 der Nat. Vers.), Berlin 1920, S. 1 ff. 34 Das Protokoll verzeichnet Bravo und Zustimmung links und „Lebhaften Widerspruch" rechts, a. a. O. 35 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches14, 1933, S. 37; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 2. 36 Graf zu Dohna, Die staatlichen Symbole und der Schutz der Republik, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), HbdDStR, § 17, S. 201. Bereits in der Bundesversammlung des Jahres 1848 sollten die Farben des alten Reichspaniers als Reichsfarben eingeführt werden. 37 Anschütz, a. a. O., S. 48 ff., 49. Allerdings setzten sich die Befürworter der schwarzweiß-roten Flagge mit den Praktikabilitätserwägungen (bessere Sichtigkeit auf hoher See) bei der Handelsflagge und der Reichskriegsflagge durch; weitere Nachweise bei Giese, a. a. O., S. 44. 38 Mit der Beauftragung durch Ebert wurde Preuß, der seine Laufbahn als Dozent der Berliner Universität begann (vgl. Anschütz, a. a. O., S. 15 FN 24), zum Staatssekretär des Inneren ernannt. Später wurde er Reichsminister, vgl. Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 31.
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(der sog. Entwurf 1 3 9 ) und vor allem durch vielfältige politische Kompromisse. Zur Abwehr der radikalen Kräfte hatten sich die Mehrheits-Sozialdemokraten mit dem Zentrum und den Demokraten zusammengeschlossen und sich über die wesentlichen Linien der Verfassung geeinigt. 40 b) Staatsorganisationsrecht Der Befund relativ geringer Vergangenheitsorientiertheit setzt sich in weiten Teilen auch in den Detaillösungen, insbesondere im Staatsorganisationsrecht der Weimarer Reichsverfassung fort. Erkennbar ist hier der starke Einfluß der alten Reichsverfassung, aber auch der Paulskirchenverfassung auf die Weimarer Reichs Verfassung. Die Idee der nationalstaatlichen Einheit knüpft an frühere Verfassungen an, enthält aber zugleich den Versuch, sich dem Verlust von deutschen Gebieten nach dem verlorenen Krieg zu widersetzen. Ein Friedensvertrag war noch nicht geschlossen und der Konsens über ein großes, Österreich und Elsaß einschließendes Deutschland ging damals noch widerspruchslos durch alle Parteien. 41 Der in der Weimarer Reichsverfassung (durch die Zuweisung der Kompetenz zur Regelung der Kernbereiche der Sozialordnung an das Reich und die Sozialbindung des Eigentums) verankerte Sozialstaat knüpfte an die Sozialreformen des Kaiserreiches 42 an. Besonders deutlich wurde das Aufarbeitungsmotiv aber bei der Implementierung der Grundsätze des Völkerrechts und der Verankerung des Ziels des Völkerfriedens in der Präambel und Art. 4 WRV. Hiermit sollte der Abschied vom imperialen Anspruch des Kaiserreiches markiert werden. Der hierin erkennbare Aufarbeitungsgedanke wurde im zeitgenössischen Schrifttum aber gerade als unangemessen angesehen. Anschütz sah in der Anerkennung der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts als deutsches Reichsrecht „grundloses wie würdeloses pater peccavi, indem die Vorschrift, daß das Völkerrecht fortan für das Reich »maßgebend' sein solle, den Anschein erweckte, als habe man diese Maßgeblichkeit nicht anerkannt und wolle nun, die hinreichend bekannten Anklagen unserer damaligen Feinde zugestehend, Reue und Besserung geloben". 43 39 Anschütz , Die Verfassung des Deutschen Reiches14, 1933, S. 16. Vgl. die eingehende Darstellung der jeweiligen Einflüsse auf den Verfassungstext bei Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 52 ff. 41 Vgl. die Rede Eberts auf der 2. Sitzung der Verfassungsgebenden Nat.Vers. v.l. 2.1919, Sten. Prot. Bd. 326, S. 7. Ein Großteil der euphorischen Eingaben an die Nationalversammlung kam aus österreichischen Gebieten. 42 Vgl. dazu E. R. Huber , Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 121 ff., Bd. 5, S. 95 ff. 4 3 Anschütz , Die Verfassung des Deutschen Reiches14,1933, S. 61. Im übrigen erkannte Anschütz aber die bewußte Abkehr von der älteren Auffassung durch die Anordnung der innerstaatlichen Geltung ausdrücklich an, a. a. O., S. 62. 40
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Nach Art. 25 Abs. 1 WRV durfte der Reichspräsident den Reichstag nur einmal aus dem gleichen Anlaß auflösen. 44 Diese Beschränkung war in die Weimarer Reichsverfassung aufgenommen worden, um eine Wiederholung der Vorgänge der preußischen Konfliktszeit (1862-1866) zu verhindern. 45 Seinerzeit hatte die Regierung die parlamentarische Opposition dreimal durch Auflösung, viermal durch „Schließung" des Abgeordnetenhauses beseitigt. Da das Instrument der „Schließung" in der WRV nicht mehr vorgesehen war, wurde die Auflösung als besonders gefährlich für das parlamentarische Wirken angesehen. Dabei sollte die Klausel „nur einmal aus dem gleichen Anlaß" die wiederholte Auflösung innerhalb desselben fortdauernden Grundkonfliktes ausschließen.46 Auch wenn die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik den Sinn dieser Vorschrift weitgehend paralysierte, 47 bietet das Auflösungsrecht doch ein anschauliches Beipiel für die Verfassungsgebung als bewußte Abkehr von erkannten Mißständen früherer Zeiten. c) Grundrechte Eine wirkliche Neuerung gegenüber dem Bismarckschen Reich könnte vor allem in der Existenz eines Grundrechtskataloges in der WRV gesehen werden. Die Verfassungen von 1867 und 1871 enthielten keine Grundrechte. Auch der Entwurf von Hugo Preuß für die Weimarer Reichsverfassung enthielt noch keinen Grundrechtskatalog. Allerdings waren die Grundrechte der WRV im wesentlichen keine echte Neuerung im System des damals geltenden deutschen Rechts. Zum größten Teil waren sie der Sache nach in der Reichsgesetzgebung oder im jeweiligen Landesverfassungsrecht bereits vorhanden. 48 Teilweise wurden die Formulierungen aus dem Landesverfassungsrecht (z. B. die Gleichheitsgarantie aus Art. 4 der PreußVerf) direkt in die Weimarer Reichsverfassung hineingeschrieben. Dort wo sich mit dem zweiten Hauptteil der WRV über Grundrechte und Grundpflichten tatsächliche Neuerungen gegenüber der Vergangenheit fanden, 44
Vgl. C. Schmitt, „Einmaligkeit" und „gleicher Grund" bei der Reichtagsauflösung, AöR NF 8 (1925), 162 ff. 4 5 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 305 ff., 333 ff. Im Rahmen des Budgetkonflikts, hinter dem letztlich die Bestrebung der Abgeordneten stand, zu einem parlamentarischem System überzugehen, war der preußische Landtag erstmals am 27. Mai 1863 und dann im Januar 1864 und im Februar 1866 durch den König geschlossen worden. 46 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 355. 47 Alle sieben Reichstage wurden vorzeitig aufgelöst. Übersicht der Auflösungsfälle mit dem Wortlaut der Auflösungsverordnungen bei E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Dokumente Bd. 3, Nr. 159. 48 E. R. Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, 1973, passim, ders Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 100 ff. (für die Grundrechte der Preußischen Verfassungen).
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sind diese in ihrem überwiegenden Teil erkennbar auf einen politischen Kompromiß — und hier maßgeblich auf den Einfluß der Sozialdemokraten 49 — zurückzuführen. Dies gilt etwa für die Sozialisierung (Art. 156 WRV) oder das Recht auf Arbeit (Art. 163 WRV). Zentrumseinfluß und die „bewußte und gewollte Ablehnung gewisser kommunistischer Lehren" 50 hat sich dagegen etwa in der Schutznorm für Ehe und Familie des Art. 119 WRV niedergeschlagen. Als Fazit ist für die Weimarer Reichsverfassung festzustellen, daß das Motiv einer kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung zwar erkennbar, aber selten wirklich dominierend war. Im Vordergrund stand der grundsätzliche bürgerlich-liberale Konsens gegenüber den politischen Extremen und besonders die Übernahme von Vorbildern aus Frankfurt und den Ländern des alten Reiches. Erst bei der Diskussion um eine Umgestaltung der Weimarer Verfassung gegen Ende der Weimarer Republik trat das Motiv der kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung bestimmt hervor. Insbesondere mit der Diskussion um die Reichsreform und um einen unabänderlichen Kernbestand der Verfassung sollte die Zukunftsbewältigung aus der Erfahrung der mangelhaften Leistungsfähigkeit der Verfassung in Angriff genommen werden. Weimar konnte dies indessen nicht mehr leisten.
4. Verfassungsrecht des Dritten Reiches Das sogenannte Dritte Reich war nach seinem Selbstverständnis extrem vom Abkehrgedanken von der Vergangenheit geprägt, d. h. von der Weimarer Republik, die als „Systemzeit" verächtlich gemacht wurde. Euphorisch wurde — gerade auch von manchen Professoren — die „Überwindung" des bürgerlichen Rechtsstaates gefeiert. Die als unnatürlich empfundene horizontale und vertikale „Zersplitterung" der Staatsgewalt wurde deshalb beseitigt. Liberalismus, Parlamentarismus, Föderalismus, Gewaltenteilung oder gar der Interessengegensätze voraussetzende Pluralismus wurden aufgehoben und „kraft des revolutionären Umbruchs" durch die „deutsche" Staatsidee der Einheit von Volk, Staat und Partei ersetzt. 51 An die Stelle der liberalistischen Doktrin von der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft oder der Rousseau' sehen Idee des contrat social sollte die nationalsozialistische Lehre von Führung und Gefolgschaft treten. Das Volk sollte sich nicht mehr aus den vielen Einzelmenschen zusammensetzen, die ihre Rechte gegenüber dem Staat geltend machten. Es sei auch nicht mehr das Parteivolk der Weimarer Zeit, sondern das Volk sei wieder Gemeinschaft geworden. 52
49 Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 52 ff. 50 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches14, 1933, Art. 119, Anm. 1. 51 E. R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 1937/39, S. 50 f. 52 B. Dennewitz, Volk und Staat, 1943, S. 221.
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Zu der nationalsozialistischen Verfassungsurkunde des Dritten Reiches kam es nicht mehr. Sie sollte nach dem Willen Hitlers die Entwicklung des nationalsozialistischen Staates abschließen und krönen. 53 Das Verfassungsrecht ergab sich nach der damals herrschenden Lehre in seinem Kern nicht mehr aus der grundsätzlich fortgeltenden Weimarer Reichsverfassung, 54 sondern aus Rechtsquellen wie dem Programm der NSDAP, Reden und Erlassen des Führers und Parteitagsbeschlüssen. Eine Reihe von Gesetzen, wie das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.3.1933 („Ermächtigungsgesetz"), das Gesetz über die Einheit von Partei und Staat vom 1.12.1933 oder die Nürnberger Gesetze vom 15.9.1935 wurden dabei als „verfassungsprägende" nationalsozialistische Grundgesetze angesehen. Insbesondere das „Ermächtigungsgesetz" hatte Züge einer Surrogatverfassung des „Dritten Reiches". Der nationalsozialistische Umbruch wurde mit dem demonstrativen Wechsel der Symbole begonnen. Bereits mit dem Flaggenerlaß vom 12.3.1933 führte Hitler die Hakenkreuzflagge anstatt des zweimal bürgerlich-demokratisch geführten Schwarz-Rot-Gold ein. 55 Ebenso zielstrebig und mit kompromißloser Entschlossenheit wurde der Umbau der (verfassungs-)rechtlichen Grundlagen des Staatswesens vorgenommen. Fast immer wurde dabei auf die Weimarer Erfahrungen rekurriert. Die Schwächung durch die Opposition habe Deutschland seinen Feinden ausgeliefert. Der Verfall der Weimarer Republik sei maßgeblich durch das Eindringen des Judentums in die Staatsleitung gefördert worden. 56 Die schreckliche Reaktion der Vernichtung der jüdischen Mitbürger wurde so gedanklich vorbereitet und abgesichert. Das Dritte Reich bietet uns so insgesamt das Beispiel für die Mißbrauchbarkeit des Gedankens der kursumsteuernden Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung. Die Abwendung von der Vergangenheit kann auch einmal in eine bösere Zukunft führen, wenn falsche Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden.
I I I . Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland fiel (wie die der Weimarer Reichsverfassung) in eine Zeit des Wechsels der Staats53 Rede Hitlers am 30.1.1937, zit. nach B. Dennewitz, Volk und Staat, S. 188. Gleichwohl sollte man diese Erklärung Hitlers zum krönenden Abschluß einer nationalsozialistischen Verfassung mit Vorsicht betrachten. Sein anti-institutionelles Denken stand einer solchen Kodifizierung zu seinen Lebzeiten entgegen, vgl. M. Broszat, Der Staat Hitlers, 1969, S. 361 f. und neuerdings D. Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, 1989, S. 44 ff. 54 A. Rehkopp, Staats- und Verwaltungskunde3, 1944, S. 75. 55 Vgl. dazu O. Meißner / G. Kaisenberg, Staats- und Verwaltungsrecht im Dritten Reich, 1935, S. 53. 56 Rahn, Staatsrecht und Verwaltungsaufbau, 1942, S. 23.
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form nach einem verlorenen Krieg, freilich mit ungleich schwereren und vernichtenderen Folgen und erheblichsten politischen, sozialen und demographischen Verschiebungen. Die traumatischen, damals noch weitgehend unverarbeiteten Erfahrungen mit dem Hitlerregime und seinen allseits noch sieht- und spürbaren Folgen legten es nahe, das Grundgesetz in prägnanter Weise als „Aufarbeitungsverfassung" auszugestalten. Die bewußte Zäsur als Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung scheint das — vielleicht auch durch die Besatzungsmächte mit inspirierte — Credo des Grundgesetzes mehr als bei jeder anderen deutschen Verfassung zuvor zu sein. Nie wieder Nationalsozialismus — oder genauer: nie wieder Voraussetzungen der Machtergreifung für den Nationalsozialismus prägt viele markante Bestimmungen des Grundgesetzes. Von einigen Unbelehrbaren abgesehen, war insoweit der Wille zur kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung damals allgemein. 57
1. Verfassungsbestimmungen der Vergangenheitsaufarbeitung In der Tat ist die bundesrepublikanische Verfassung in vielen Punkten ganz eindeutig als Antwort auf das Unrecht des Naziregimes zu verstehen. Der lange in der Diskussion befindliche ursprüngliche Einleitungssatz der Entwürfe zur Präambel des Grundgesetzes lautete: „Nationalsozialistische Zwingherrschaft hat das deutsche Volk seiner Freiheit beraubt." 58 Auch wenn diese Vorschrift nicht in das Grundgesetz übernommen wurde, sind viele Wendungen des Grundgesetzes nur aus der bewußten Abkehr von nationalsozialistischen Herrschaftsformen erklärbar. Umgekehrt hat W. Weber dem Grundgesetz bereits früh vorgeworfen, es sei weniger eine Abrechung mit dem Nationalsozialismus als mit der Weimarer Republik. 59 Im folgenden seien die wichtigsten Beispiele der umsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung des Grundgesetzes genannt. Sie beziehen sich (a) auf die internationale Stellung der Bundesrepublik Deutschland, (b) auf die Grundrechte, (c) auf das politische System und (d) auf die Staatsorganisation. a) Internationale Stellung der Bundesrepublik Deutschland Eine wesentliche — vielleicht auch von den Besatzungsmächten mitvermittelte — Lehre aus der Vergangenheit vor 1945 war für das Grundgesetz das Ziel einer 57 Vgl. Kloepfer, ZRP 1983, 57 ff. 58 Erst der Abg. Süsterhenn (CDU) warf die Frage auf, ob ob es gut und notwendig sei, in der Präambel dem Nationalsozialismus ein ewiges Denkmal zu setzen, JöR n. F. 1 (1951), 29. Auch der Abg. Heuß (FDP) wollte „Überdeutliches" streichen und der Präambel Zeitlosigkeit geben. Diese Ansicht setzte sich durch. Damit waren auch die in anderen Entwürfen enthaltenen Bezugnahmen auf das Dritte Reich weggefallen. 59 W. Weber, „Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz", abgedr. in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 9 ff.
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Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkerrechtsgemeinschaft, in ein kollektives Sicherheitssystem und in die Europäische Integration. Von herausragender Bedeutung war dabei die Integrationsermächtigung in Art. 24 GG. Vor allem in den Vorschriften zur Kriegsverhütung in Art. 26 GG zeigt sich eine ausgeprägte Tendenz zur kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung: Nie wieder Nationalsozialismus — nie wieder Krieg. Der zweite Teil dieser Forderung der Nachkriegszeit findet in Art. 26 Abs. 1 GG einen entschiedenen Ausdruck. Nach dieser Vorschrift sind Handlungen verfassungswidrig, die geeignet sind und in der, Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören und insbesondere der Vorbereitung eines Angriffskrieges dienen. Dies ist eine erkennbare historische Antwort auf die Hitlersche Kriegspolitik. Die Vorschrift ist in der deutschen Verfassungsgeschichte ohne Vorbild. 60 Frühere Verfassungen enthielten lediglich formelle Vorschriften über Kriegserklärungen und Friedensschluß. 61 Das Schrifttum sah in Art. 26 GG in erster Linie eine feierliche Bekundung des Friedenswillens des deutschen Volkes 62 , die insbesondere programmatisch-bekenntnismäßigen Charakter habe.63 b) Grundrechte Die kursumsteuernde Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung zeigt sich besonders deutlich bei den Grundrechten. Die wichtigsten Beispiele müssen hier genügen. aa) Menschenwürde Die grauenhafte und massenhafte Mißachtung der Menschenwürde durch das Naziregime erfährt mit dem schlichten Satz des GG: „Die Menschenwürde ist unantastbar" gerade durch ihre Schlichtheit eine wirkungsvolle und glaubwürdige historische Antwort im Sinne einer prinzipiellen Abkehr von dieser Vergangenheit. Die Erklärung der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG als erster Satz des eigentlichen Verfassungstextes — fast als Mahnmal in Artikel-Form — macht deutlich, welchen Stellenwert der Menschenwürde im staatlichen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland zugemessen wurde. 64 60 Die Weimarer Reichsverfassung enthält lediglich in ihrer Präambel die Aussage, das deutsche Volk habe sich diese Verfassung von seinem Willen beseelt, . . . dem inneren und äußeren Frieden zu dienen . . . gegeben. Menzel, BK Art. 26 GG Anm. III A. 1. Allerdings finden sich in den vor dem Grundgesetz erlassenen westdeutschen Landesverfassungen Bestimmungen über Kriegsächtung und Friedensgebot, etwa Art. 57 BadVerf, Art. 69 HessVerf, Art. 47 WürttVerf oder Art. 8 Württ-HohenzVerf. Die Bayrische Verfassung enthält explizit die Bestimmung: „Rassen- und Völkerhaß zu entfachen ist verboten und strafbar." 62 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 26 RN 1. 63 Forsthoff, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2, 1953, S. 312 ff., 318. 64 Meine Ansicht zur Rangfolge der Grundrechte habe ich dargelegt in: Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge4 Bettermann - Seminar
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Die Zielrichtung des ersten Satzes war indes im Herrenchiemseer Entwurf noch deutlicher. Dieser lautete: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen" und zeigte damit demonstrative Abkehr von der nationalsozialistischen Doktrin des „Du bist nichts, Dein Volk ist alles" 65 . Warum der Redaktionsausschuß diese Einleitung strich, kann aus den heute verfügbaren Quellen nicht mehr festgestellt werden. Wie so häufig in der Geschichte der Verfassungsgebung trat im Verlauf der Beratungen das Motiv der Vergangenheitserfahrung zunehmend in den Hintergrund. Insgesamt ist Art. 1 GG aber gleichwohl ein besonders deutliches Beispiel der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung geworden. bb) Diskriminierungsverbot Auch wenn die heute verfügbaren Materialien dieses Motiv nicht aufzeigen, 66 so ist doch evident, daß das Verbot der Diskriminierung in Art. 3 Abs. 3 GG insbesondere nach der Rassenzugehörigkeit eine deutliche kursumsteuernde Antwort auf die Diskriminierung und Verfolgung ethnischer Gruppen im Dritten Reich ist, 67 zumal ein solches spezifisches Diskriminierungsverbot in der Weimarer Reichsverfassung noch nicht enthalten ist. cc) Informationsfreiheit Eine unmittelbare Antwort auf den Versuch des Nazi-Regimes, insbesondere das Hören von Feindsendern mit drakonischen Strafen zu belegen, ist die nicht der deutschen Grundrechtstradition entstammende und erstmalig im Grundgesetz garantierte Informationsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG. 6 8 dd) Staatsangehörigkeit und Asyl Art. 16 Abs. 1 GG gewährleistet ein Recht auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit. Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht durch Einzelakt entzogen richts — dargestellt am Beispiel der Menschenwürde, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, S. 405 ff. In der jungen Bundesrepublik Deutschland war die verfassungsrechtliche Normierung der Menschenwürde übrigens duchaus nicht unumstritten. Jerusalem, SJZ 1950, 1, ging etwa davon aus, diese gehe den Staat nicht an. 65 Nr. 10 S. 2 Progr. der NSDAP: „Die Tätigkeit des einzelnen darf nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern muß im Rahmen des gesamten und zum Nutzen aller erfolgen." Nr. 24 S. 3 a. E.: „Gemeinnutz vor Eigennutz". 66 Bei Matz, in: JöR n. F. 1 (1951), 67 ff. findet sich kein Hinweis. 67 Kloepfer, ZRP 1983, 57; so auch Gubelt, Art. 3 GG, RN 97, in: von Münch/ Kunig, GGK, 4. Aufl. 1992. 68 Vgl. v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1985, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 GG, RN 3.
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werden. Die Vorschrift richtete sich einerseits gegen die Ausbürgerungspraxis der Sowjetunion nach der Revolution und die insbesondere gegen deutschstämmige Bewohner gerichtete Aussiedlungspraxis osteuropäischer Staaten.69 Hauptzielrichtung — und ursprüngliches (vom Abg. v. Mangoldt eingeführtes) Motiv war aber die Ausbürgerungsgesetzgebung im Dritten Reich. 70 Dem entspricht auch die Regelung des Art. 116 Abs. 2 GG, wonach frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen der Machtergreifung Hitlers und der deutschen Kapitulation aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen die Staatsangehörigkeit entzogen worden ist, auf Antrag wieder einzubürgern sind. Gerade an dieser Vorschrift zeigt sich zugleich recht deutlich, daß das Grundgesetz aus dem Jahr 1949 nicht nur eine Antwort auf den Nationalsozialismus darstellt, sondern sich an verschiedenen Stellen auch mit der Abwehr des Stalinismus befaßt, nachdem spätestens mit der Berliner Blockade dessen aggressiver Charakter in den westlichen Besatzungszonen allgemein erkannt wurde. Das Asylrecht des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG (a. F.) ist in der bekannten Formulierung erst im Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates in den Verfassungsentwurf aufgenommen worden. 71 Dabei sah die ursprüngliche Fassung vor: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts". Dies wurde nach dem Abg. v. Mangoldt im zuständigen Unterausschuß damit begründet, daß „wir nicht mehr vorsehen dürfen, als das allgemeine Völkerrecht vorschreibt. Wir sind eine schwache Nation, und ohne die Mittel, weitergehenden Schutz zu gewähren, können wir nicht etwas tun, wofür wir selbst nicht die entsprechenden Mittel zur Hand haben, um es zu gewährleisten". 72 Nach zutreffender Auffassung ist auch die Positivierung des Asylrechts als Reaktion auf den Nationalsozialismus zu verstehen. 73 Nicht zuletzt mag aber auch eine gewisse nationale Dankbarkeit für die Asylgewährung für deutsche Staatsbürger im Ausland während des Dritten Reichs eine erhebliche Rolle gespielt haben.
69 Feldmann / Geisel, Deutsches Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 1954, S. 50. 70 Matz, in: JöR n. F. 1 (1951), 160. Vgl. insbesondere das G. über die Widerrufung von Einbürgerungen und Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit v. 14.7.1933 (RGBl. I, S. 480). W. Weber, „Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz", abgedr. in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 9 ff., 34 (FN 40) bezeichnete diese Vorschrift — ebenso wie die Abschaffung der Todesstrafe oder die Freiheit für Rundfunk und Film — als eine in der Eile zustandegekommene „reflexartige" Abwehrbewegung, die nicht einer festgefügten Entscheidung zu entstammen scheine. 71 Die Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs (Art. 4) lautete noch „Wer unter Nichtbeachtung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte von einer Stelle außerhalb des Bundes verfolgt wird, wird nicht ausgeliefert". 72 Matz, in: JöR n. F. 1 (1951), 165. 73 Randelzhof er, Asylrecht, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HbStR VI, S. 187.
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ee) Todesstrafe Ausdrückliche Abkehr von der Vergangenheit findet sich weiterhin in der Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG. Im Parlamentarischen Rat wurde das Problem der Todesstrafe ursprünglich im Zusammenhang mit den Grundrechten erörtert. Der Abg. Seebohm forderte das Verbot der Todesstrafe, um ein klares und eindeutiges Bekenntnis zu dem Recht auf körperliche Unversehrtheit abzulegen und die grundsätzliche Abkehr des deutschen Volkes von jedem Gewaltsystem und seine Abscheu vor der Fülle der in den letzten Jahren vollstreckten Todesurteile zu bekunden.74 Der Vorschlag wurde später durch den SPD-Abgeordneten Wagner aufgegriffen, wiederum mit dem Argument, die Abkehr von den Ereignissen der Zeit vor 1945 zu demonstrieren, 75 blieb aber umstritten. Erwidert wurde dem Vorschlag insbesondere, daß die Todesstrafe gerade für die Ahndung der NS-Verbrechen benötigt würde oder mit dem unzutreffenden Hinweis des Abg. de Chapeaurouge (CDU), die bisherige deutsche Verfassungspraxis habe die Frage der Todesstrafe bisher niemals selbst geregelt. 76 Entschieden wurde die Frage erst im Plenum des Parlamentarischen Rates.77 c) Politisches System aa) Plebiszitäre Elemente Das Grundgesetz ist bekanntlich sehr zurückhaltend in der Realisierung plebiszitärer Elemente.78 Abgesehen von den Fällen der Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG bleibt das Volk auf die Mitwirkung an Wahlen beschränkt. 7 9 Diese Zurückhaltung wird von der h. M. heute nahezu stereotyp mit den schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik mit Referenden 80 und deren Mißbrauch durch die Nationalsozialisten81 begründet. Ob dies historisch 74 HA-Steno S. 534, Drs. 398; zit. nach v. Doemming, in: JöR n. F. 1 (1951), 739 f. 75 HA-Steno S. 669 f., a. a. O. 76 Sten. Ber. S. 186 f., a. a. O. In Wirklichkeit enthielt bereits die Paulskirchenverfassung in § 139 neben der Abschaffung des Prangers, der Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung auch die Abschaffung der Todesstrafe außer in den Fällen des Kriegsund Seerechts (Meuterei). 77 v. Doemming , in: JöR n. F. 1 (1951), 741. 78 Dabei ist im einzelnen vieles umstritten. Die Breite der vorgetragenen Meinungsäußerungen markieren die Beiträge in dem Sammelband Jo Leinen (Hrsg.), Volksbefragung, Keine Raketen — mehr Demokratie, 1984, einerseits sowie Krause , in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HbStR II, § 39 RN 18, andererseits, der die Einführung konsultativer Referenden selbst durch Verfassungsänderungen nicht für zulässig hält. 79 Vgl. zum Ganzen Rommelfanger , Das konsultative Referendum, S. 62 ff.; Pestalozza, NJW 1981, 733 ff.; Bleckmann , JZ 1978, 217 m. w. N. (FN 1). so Vgl. etwa Th. Eschenburg, Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik, Bd. I 2 , S. 55; Krause, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HbStR II, § 39 RN 11. 8i Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 650.
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wirklich zutrifft, ist indessen zweifelhaft. Heuss nannte das Plebiszit eine Prämie für den Demagogen.82 Staaten mit stärkeren plebiszitären Elementen wie insbesondere die alte Demokratie Schweiz, aber auch die deutschen Bundesländer selbst, werden dies mit Verwunderung hören. Bei Schaffung des Grundgesetzes wurde die Volksabstimmung insbesondere bei Verfassungsänderungen diskutiert. Insbesondere ging man zunächst davon aus, daß eine solche Regelung — der obligatorische Volksentscheid — aufgrund der Vorgaben des Dokuments 1 der Frankfurter Dokumente 83 erforderlich gewesen sei. 84 Möglicherweise zeigen sich aber gerade am Beispiel der Elemente unmittelbarer Demokratie zugleich auch Grenzen des Modells der kursändernden Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung. Möglicherweise handelt es sich um eine Überreaktion, die nun ihrerseits der Korrektur bedarf. Ist die heutige weitgehende Abkoppelung der institutionalisierten Politik vom Volkswillen nicht auch ein Ergebnis des Fehlens unmittelbarer Demokratie? Ist die heutige „Politikverdrossenheit" nicht auch ein Ausdruck der Empfindung mangelnder Repräsentation durch die Repräsentanten? Hat bei der Entscheidung des Grundgesetzes für ein strikt repräsentatives System das Motiv der Vergangenheitserfahrung vielleicht ein Ergebnis hervorgebracht, dessen verfassungspolitische „Nebenwirkungen" im Jahre 1949 nicht voll erkannt wurden? Die vom Grundgesetz angestrebte Sicherung der Regierungsfähigkeit wurde sicher durch die Abwesenheit von Plebisziten gefördert. Wurde dies aber nicht um den möglicherweise zu hohen Preis des Verlusts der grundsätzlich notwendigen Identifikation der Bürger mit ihrem Staat erkauft? Hier deutet sich bereits an, daß Ergebnisse der Verarbeitung von Vergangenheitserfahrung ihrerseits der Bewährungserfahrung unterliegen. Insoweit ist es verständlich, daß in der laufenden Verfassungsdiskussion der verstärkte Einbau plebiszitärer Elemente diskutiert wird. bb) Parteien Von erheblicher Bedeutung bei der Suche nach dem Aufarbeitungsmotiv in der bundesdeutschen Verfassungsgebung dürfte auch die Frage der Regelung des Sachkomplexes „Parteien" sein, war doch das Regime des Nationalsozialismus sowohl in der Machterlangung als auch in der Staatsführung von der absoluten Dominanz einer Partei, der NSDAP, geprägt. Daraus folgte die Gewährleistung eines Mehrparteiensystems durch Art. 21 GG, zumal in der damaligen sowjetischen Besatzungszone die faktische Vorherrschaft der SED längst als besiegelt erschien. Auch die Regelung des Art. 21 Abs. 2 GG über das Verbot 82
Heuss in: JöR n.F. 1 (1951), 620, der diese Bemerkung freilich auf großräumige Gemeinwesen bezieht. 83 Dokument 1 abgedruckt bei Matz, in: JöR n. F. 1 (1951), 1 ff. 84 Füsslein, in: JöR n. F. 1 (1951), 574 f.
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verfassungswidriger Parteien hat erkennbar einen entscheidenden Vergangenheitsbezug im Hinblick auf die Machtergreifung durch die NSDAP. Gleiches gilt für das Gebot in Art. 21 Abs. 3 GG, wonach die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muß. Dieses Gebot der Binnendemokratie für Parteien ist im Redaktionsauschuß insbesondere zur Abwehr des in der NSDAP praktizierten Führerprinzips entstanden.85 Das Gebot der öffentlichen Rechenschaftslegung über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel geht auf einen Antrag des Zentrumsabgeordnetn Brockmann zurück, der ausführte: „Die Vergangenheit unseres deutschen Parteiwesens, insbesondere mit Rücksicht auf die Partei, die uns zwölf Jahre terrorisiert hat, spricht für unseren Antrag." 86 Derartige Bezugnahmen waren aber keinesfalls die Regel. Nur ausnahmsweise wurde der Regelung des Parteienwesens in der nachkriegsdeutschen Verfassungsgebung breiterer Raum gewidmet. Die Verfassung des Landes Baden vom 22.5.1947 87 befaßte sich mit den Parteien in vier Artikeln, die auch deutlichere Erfahrungsverarbeitung beweist. Nach Art. 118 Abs. 2 S. 1 BadVerf war etwa die Bildung von Parteien frei, wenn Programm und Verhalten demokratischen Grundsätzen entsprach. Dagegen sollte die Bildung von Parteien, welche das Ziel verfolgen, die staatsbürgerlichen Freiheiten zu vernichten oder gegen Volk, Staat oder Verfassung Gewalt anzuwenden, nach Art. 118 Abs. 3 S. 1 BadVerf verboten sein. Besonders deutlich drückt Art. 121 S. 1 BadVerf aus, welche Vergangenheitserfahrungen der Verfassungsgeber für die Zukunft verhindern wollte: „Es ist verboten, einer Partei oder ihren Leitern unbedingten Gehorsam zu versprechen oder dieses Versprechen abzuverlangen." Ansonsten blieb es aber der nachgängigen Verfassungsrechtsprechung vorbehalten, eine konkretere verfassungsmäßige Aufarbeitung des Regimes der NSPartei zu formulieren. Gewährleistung der Opposition, ausdrückliche Ablehnung des Führerprinzips und des Antisemitismus, Verbot von Nachfolgeparteien der NSDAP — alles Elemente, die man als adäquaten Ausdruck der Erfahrung totalitärer Vergangenheit hätte erwarten können —, brachte erst das SRP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. 88 cc) Grenzen von Verfassungsänderungen Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik mit Verfassungsänderungen und vor allem Verfassungsdurchbrechungen verlangte dieser Regelungskomplex für das Grundgesetz besondere Beachtung. Dies ist im Zusammenhang mit dem 85 JöR n. F. 1 (1951), 206. 86 JöR n. F. 1 (1951), 207. Der Pari. Rat stimmte dem Antrag zu, übernahm dann aber die Formulierung des Abg. Zinn (SPD). 87 RegBl., S. 129. 88 BVerfGE 2, 1 ff., insbes. S. 23, 47, 61, 65 und 69.
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großangelegten Versuch des Grundgesetzes zu sehen, die Sicherung der Verfassung umfassend zu regeln, insbesondere durch seine sogleich zu erörternde Konzeption der wehrhaften Demokratie, wie aber etwa auch durch die Errichtung einer machtvollen Verfassungsgerichtsbarkeit. Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG bestimmt, daß die Verfassung nur ausdrücklich geändert werden kann. Verfassungsdurchbrechungen sind demnach unzulässig.89 Ausgangspunkt der Regelung sind erkennbar die Erfahrungen der Weimarer Republik. Zwischen 1920 und 1932 änderten acht Gesetze den Verfassungstext. Hingegen kamen in dieser Zeit mit der erforderlichen „doppelten Zweidrittelmehrheit" 90 und in dem für Verfassungsänderungen vorgesehenen Verfahren 28 Gesetze zustande, die entweder ausdrücklich von der Verfassung abwichen oder „zur Vermeidung von Zweifeln" die Form der zulässigen Verfassungsdurchbrechung einhielten.91 Zu den wichtigsten Verfassungsdurchbrechungen ohne Änderungen des Verfassungstextes zählten beispielsweise die fünf Ermächtigungsgesetze der Jahre 1919 bis 1923, welche ohne Änderung des VerfassungsWortlautes ein von den Grundsätzen des Verfassungsstaates fundamental abweichendes Verfahren außerordentlicher Rechtssetzung einführten. Hinzu kam insbesondere das Republikschutzgesetz vom 21. Juli 1922 92 , das die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes bei bestimmten Straftaten rückwirkend anordnete. 93 War diese Praxis bereits in der späteren Weimarer Republik verfassungsrechtlich umstritten, so war es für die Schöpfer des Grundgesetzes nahezu zwingend, die Erfahrungen der Aushöhlung der Weimarer Reichsverfassung in der neuen Verfassung zu verarbeiten, 94 um eine Wiederholung der entsprechenden Vergangenheit zu verhindern. Der zweite, besonders wichtige Teil des Regelungskomplexes Verfassungsänderung ist Art. 79 Abs. 3 GG. Eine der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes entsprechende Regelung existierte weder in der Weimarer Reichsverfassung noch in einer der vorhergehenden deutschen Verfassungen. 95 Allerdings wurde im Anschluß an die Lehren Carl Schmitts über die unabänderlichen Essentialia der 89 Eingehend Hoffmann, in: BK, Art. 79 Abs. 1, 2 GG (Zweitbearb. 1982), RN 6 ff. Nach Art. 76 WRV war für eine Verfassungsänderung erforderlich, daß bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Anwesenden erfolgte. 9 * Detaillierte Aufstellung bei Fr. Poetsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung. Teil I: 1920 — 24, JöR 13 (1925), 226 ff.; Teil II: 1925 — 28, JöR 17 (1929), 139 ff.; Teil III: 1929 bis 31. Januar 1933, JöR 21 (1933/34), 201 ff. 92 RGBl. 585. 9 3 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 423. 9 < Füsslein, in: JöR n. F. 1 (1951), 574. 95 S. aber die bemerkenswerten Äquivalente in einigen östlichen Landesverfassungen der Nachkriegszeit. Art. 58 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt v. 10.1.1947. Vgl. auch die Art. 96, 97 der sächs. Verfassung v. 28.2.1947, die bestimmten, daß die Grundsätze von Demokratie und Humanismus unantastbar seien, ohne — wie Evers in: BK, Art. 79 Abs. 3 GG (Zweitbearb. 1982), RN 26 treffend bemerkte — die Rechtsentwicklung aufhalten zu können. 90
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Verfassung und seiner Unterscheidung zwischen Verfassung und reinem Verfassungsgesetz96 gegen Ende der Weimarer Republik darüber gestritten, ob eine Abgrenzung der (abänderbaren) Verfassungsgesetze von der (unabänderlichen) Verfassung möglich sei. 97 Der ehemalige demokratische Justizminister E. Schiffer 98 forderte 1932 die Aufstellung eines Kataloges unabänderlicher Verfassungsbestimmungen.99 Sein Verfassungsentwurf bestand demnach aus einer auf 38 Artikel reduzierten „Kernverfassung", die nur durch eine neue Verfassung aufgehoben oder geändert werden können sollte. 100 Zur Ausführung und Ergänzung der Verfassung sollten Verfassungsgesetze erlassen werden können, die erschwerende Voraussetzungen für ihre Abänderung enthalten. Bekannterweise konnten sich derartige Reformvorschläge aber nicht mehr durchsetzen. Die Erfahrung, daß die Weimarer Reichsverfassung als bürgerlich-liberale, demokratische Verfassung durch den Nationalsozialismus überrollt wurde, zwang die Verfassungsberatungen aber, sich mit der Frage unabänderlicher Essentialia der Verfassung zu befassen. So umstritten die Formulierung in den Beratungen zum Grundgesetz war — der Haupteinwand des Abgeordneten Katz (SPD) war, eine Verfassungsbestimmung könne eine Revolution nicht verhindern 101 —, so deutlich überwog die Auffassung, der Revolution müsse zumindest die Maske des Legalen genommen werden. 102 Auch wenn die Therapie der Ewigkeitsgarantie der Sache nach weitgehend auf die Rezeption theoretischer Ansätze von Carl Schmitt hinauslief, 103 ist maßgebliches Motiv für die Einführung des Art. 79 Abs. 3 GG doch die (kursumsteuernde) Vergangenheitserfahrung in der Weimarer Republik. Die maßgebliche historische Ursache für die Regelung des Art. 79 Abs. 3 GG ist jedenfalls die in den legalen Bahnen des Art. 48 WRV erfolgte Machtübernahme Hitlers. 104 Diese Option der Beseitigung der Grundlagen des Staates in den Formen zulässigen Staatshandelns sollte das Grundgesetz für die Zukunft verhindern. 105
96 C. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1928, S. 3 ff. 97 Anschütz, WRV, 14. Auflage 1933, Art. 76, Anm. 6; H. Preuß, Reich und Länder, 1928, S. 207; W. Jellinek, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), HbdStR II (1932), S. 183 f. 98 Mitglied des 1. Kabinetts Wirth im Jahre 1921, vgl. E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 674. 99 E. Schiffer, Die neue Verfassung des Deutschen Reiches, 1932, S. 31 f. 100 Ebd. S. 35 ff. 101 Allerdings sah die Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs noch die Unzulässigkeit derartiger Anträge im Gesetzgebungsverfahren vor, vgl. Füsslein, in: JöR n. F. 1 (1951), 585 f. 102 Füsslein, in: JöR n. F. 1 (1951), 586. 103 Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 28; H. Schneider, FS C. Schmitt, 1959, S. 170. 104 Vgl. Evers, in: BK, Art. 79 Abs. 3 GG (Zweitbearb. 1982), RN 15 ff. los BVerfGE 30, 1 ff., 24.
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dd) Wehrhafte Demokratie Die Entscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie, d. h. für eine Demokratiesicherung durch Demokratielimitierung, findet sich vor allem im Institut der Grundrechtsverwirkung bei Grundrechtsmißbrauch (Art. 18), vor allem aber im Verbot verfassungswidriger Parteien (Art. 21 Abs. 2) und Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2) sowie in der Bindung der Lehrfreiheit an die Verfassungstreue (Art. 5 Abs. 3 Satz 2). Diese Regelungen sind ebenso eine Antwort des Grundgesetzes auf die Hitler-Diktatur wie auf die Weimarer Epoche. 106 Die spätere Praxis der Bundesrepublik Deutschland, die auf die politische Bekämpfung extremistischer Parteien mit Wahlzetteln baute und auf das Verbot erkennbar verfassungsfeindlicher Parteien verzichtete und in der (bisher) kein Verfahren der Grundrechtsverwirkung erfolgreich beendet wurde, läßt allerdings die Frage aufkommen, ob diese Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung insgesamt nicht doch recht weit ging. d) Staatsorganisation aa) Bundespräsident Die nähere Ausgestaltung der Stellung des Bundespräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland ist erkennbar ein Produkt negativer Erfahrung der Weimarer Republik. 107 Aus diesem Grunde wurde die Stellung des Bundespräsidenten wesentlich schwächer ausgestaltet als die des Reichspräsidenten. Insbesondere steht ihm das Notverordnungsrecht nicht und das Recht der Parlamentsauflösung gegenüber der WRV nur eingeschränkt zu. 1 0 8 Ziel war die Verhinderung der verfassungslegalen Präsidentendiktatur durch Abschwächung der Kompetenzen des Bundespräsidenten. 109 bb) Kanzlerdemokratie Damit verbunden ist die Ausgestaltung der starken Stellung des Bundeskanzlers insbesondere durch die Einführung eines konstruktiven Mißtrauensvotums (Art. 106 So auch Dürig, Maunz/Dürig, GG, Art. 18, RN 3 ff. i°7 Vgl. zu den Beratungen im Pari. Rat eingehend Kimminich, in: BK, Art. 54 GG (Zweitbearb. 1968), S. 3 ff. los Herzog, Maunz / Dürig, GG, Art. 54 RN 9; Vergleich der Stellung des Bundespräsidenten zum Präsidenten der Weimarer Republik bei F. Roß, Die staatsrechtliche Stellung des Staatsoberhauptes nach der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 und dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 1962. 109 Vgl. etwa Weber-Fas, Zur staatsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten, in: FS Duden, 1977, S. 685 ff., 693 ff.; v. Arnim, Staatslehre, 1984, S. 344. Anders die Akzentuierung bei Schiaich, Die Funktionen des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HbStR, § 49 RN 89 („alius").
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67 GG). Gerade aus Weimarer Erfahrungen heraus sollten destruktive Mehrheiten nicht staatsgestaltend sein können. Diesem Zweck dient auch die Möglichkeit der Wahl eines Minderheitenkanzlers (Art. 63 Abs. 4 GG) sowie das Verbot der Selbstauflösung des Bundestages wie etwa auch die vergessene Vorschrift über den Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG). Auch hier stellt sich die Frage, ob das Grundgesetz bei seinen Bemühungen zur Stabilisierung des politischen Systems nicht etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Jedenfalls hat die politische Praxis mit dem sogenannten fingierten Mißtrauensvotum einen Ausweg gefunden und ist darin vom Bundesverfassungsgericht 110 nicht gebremst worden. e) Gegenbeispiele Bereits in den Verhandlungen über das Grundgesetz gab es auch kritische Stimmen zu dem Aufarbeitungsmotiv. Heuss mahnte in der 3. Sitzung des Parlamentarischen Rates 111 , man habe heute die Angewohnheit zu sagen, weil Hitler an die Macht gekommen sei und „von den Paragraphen der Weimarer Verfassung nicht daran gehindert werden konnte", sei diese Verfassung schlecht gewesen. So primitiv sei die Motivreihe des Geschichtsprozesses nicht. Einige Vorschriften — insbesondere Art. 134 GG — stützen auch gerade die Gegenthese zur AufarbeitungsVerfassung: der nicht unproblematische Typ einer Verfassung der Versöhnung mit der Vergangenheit. Ist nicht Art. 131 GG teilweise auch als die den Trägern vergangenen Unrechts versöhnlich ausgestreckte Hand des neuen Staates zu verstehen? Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß Art. 131 GG selbst nur einen Regelungsauftrag enthält, von dem erst in einem Gesetz mit durchaus umstrittenen Regelungen Gebrauch gemacht wurde. 112 In dieser Konstellation hat sich der Verfassungsgeber trotz der erkannten Vergangenheitserfahrung in — echte oder vermeintliche — S achzwänge gefügt. f) Zwischenergebnis In der Summe der Ergebnisse kann man gleichwohl die Aussage treffen, daß sich das Motiv der Verarbeitung der kursumsteuernden Vergangenheitserfahrung ho In BVerfGE 62, 1 ff. in Sten. Ber. S. 40, zit. nach W. Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, S. 34. Ii 2 Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen i. d. F. der Bek. vom 13.10.1965 (BGBl. I S 1686) mit Änderung durch Art. 10 Gesetz vom 23.12.1966 (BGBl. I S. 697), Art. II § 13 Gesetz vom 20.7.1967 (BGBl. I S. 725) und Art. XIV Gesetz vom 19.7.1968 (BGBl. I S. 848). Vgl. dazu H. Krüger, NJW 1950, 161 ff. Zur „Abwicklung" der Beamten vgl. Art. 132 Abs. 1 und 2 und die nach Abs. 4 dazu ergangene Verordnung über die Maßnahmen gegen dienstlich ungeeignete Beamte und Angestellte vom 17.2.1950 (BGBl. I S. 34) und die dazu ergangene Durchführungsbestimmung vom 23.2.1950 (BGBl. I S. 38). Nach § 3 der VO hatte die Zugehörigkeit zur ehemaligen NSDAP bei der Beurteilung der persönlichen Eignung außer Betracht zu bleiben.
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zur Zukunftsbewältigung wie ein roter Faden durch das Grundgesetz zieht. Daneben haben zweifelsohne zwei andere Ursachen besonderen Einfluß auf den Wortlaut des Grundgesetzes ausgeübt: wie bei jeder demokratischen Verfassungsgebung der Kompromiß der politischen Kräfte der Mitte und die stille Macht der Redaktion. 113 Insgesamt enthält das Grundgesetz neben vielen kursumsteuernden Artikeln auch eine Reihe bewährter, traditioneller Verfassungsbestimmungen. Insoweit enthält das Grundgesetz sowohl Elemente der kursändernden wie kurswahrenden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung.
2. Vergangenheitserfahrungen bei Verfassungsänderungen Das Motiv der Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung ist auch bei vielen Änderungen des Grundgesetzes zu spüren. Verfassungsänderungen beruhen zwar auf den unterschiedlichsten Motiven. Häufig soll die Verfassung aber geändert werden, weil sie sich in der Vergangenheit als Hemmnis für bestimmte politische Aktivitäten erwiesen hat. Bei einer (nach Art. 20 Abs. 3 GG) verfassungsgebundenen Gesetzgebung besteht sehr häufig die Notwendigkeit, erkannte verfassungsrechtliche Hemmnisse für ein konkretes Gesetzesvorhaben beiseitezuräumen. In der Regel waren dies in der Vergangenheit die Kompetenzmängel seitens des Bundes (z. B. bei Art. 74 Nr. 24 GG für die Umweltgesetzgebung) oder entgegenstehende Grundrechtsgewährleistungen (z. B. Art. 16 GG — Asylgesetzgebung), die durch verfassungsändernde Kompetenzanreicherungen für den Bund oder durch Schaffung neuer Grundrechtsschranken ausgeräumt wurden. Der eigentliche politische Impuls ist hierbei der Wunsch nach einer gesetzlichen Regelung, die Verfassungsänderung folgt politisch (nicht rechtlich!) nur nach. Da der Wunsch nach entsprechenden Gesetzen selbst regelmäßig auf Lernerfahrungen beruht, stellen diese häufig kurskorrigierende, bisweilen auch kursändernde Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung dar. Die dafür erforderlichen Verfassungsänderungen sind dann mittelbare, gesetzesinduzierte Formen der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung.
IV. Verfassungen der DDR 1. Verfassung vom 7. 10. 1949 Da die DDR sich selbst als konsequent antifaschistischer Staat verstanden hat, ist die erste Verfassung der DDR maßgeblich auch als „Aufarbeitungsverfassung" zu verstehen. Bereits der — später verpönte — Text der Nationalhymne von 113
Der allgemeine Redaktionsausschuß des parlamentarischen Rates bestand ursprünglich aus den Abg. v. Brentano (CDU), Zinn (SPD) und Dehler (FDP). Für die CDU trat später v. Mangoldt ein; vgl. Matz, JÖR 1 (1951), S. 10 f.
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Becher 114 zeigt sowohl das retrospektive Element der Vergangenheitserfahrung „Auferstanden aus Ruinen" als auch das prospektive „und der Zukunft zugewandt" der Zukunftsbewältigung und kennzeichnet damit das Selbstverständnis der jungen DDR. Es gelte, so Polak, „nicht nur die Folgen der Hitler-Diktatur zu überwinden", es gelte, „weit darüber hinaus mit einer Tradition abzurechnen, die die Hitler-Diktatur mit all ihren ungeheuerlichen Folgen für uns möglich machte". 115 Dabei darf nicht übersehen werden, daß in der Realität der DDR das „Abkehrargument" auch eine gewichtige Rolle im außen- wie innenpolitischen Meinungskampf spielte. Dabei lag es in der inneren Logik der diktatorischen Struktur der DDR, daß das Argument des Antifaschismus schließlich zu einem Kampfinstrument gegen jedwede Opposition gegenüber der SED wurde. Nach außen sollte den westlichen Ländern und vor allem den Verfassungsgebungsbestrebungen zum Grundgesetz insbesondere mangelnde Vergangenheitsbewältigung vorgeworfen werden. O. Grotewohl führte 1947 aus, die Kernfrage eines zukünftigen deutschen Verfassungsrechts, gleich wo man an seiner Ausgestaltung arbeite, habe die Überwindung der verhängnisvollen Staatstradition zu sein. 116 Als (zunächst gesamtdeutsch geplante) Antwort auf die Herausforderung der westlichen Bemühungen für eine Verfassung wurde der SED-Verfassungentwurf vorgetragen. Aus den Erfahrungen der deutschen Verfassungsgeschichte seien in ihm „alle bürokratischen Hemmnisse, die der Enfaltung der vollen Entschlußfassung der Volksvertretung sich entgegenstemmen könnten", beseitigt worden. Insbesondere das Prinzip der Gewaltenteilung in der Weimarer Reichsverfassung habe eine Lahmlegung der Demokratie bedeutet.117 Die Weimarer Reichsverfassung habe „verhängnisvoll versagt", was seine Ursache darin habe, daß sie vom staatsrechtlichen Formalismus aus der Taufe gehoben worden sei und nicht von einer politischen Bewegung der Massen. 118 Im Wortlaut äußerte sich die bewußte Abkehr von der Vergangenheit etwa in Art. 7 Abs. 2 des SED-E. Danach sollten alle Bürger die gleichen bürgerlichen Rechte besitzen, es sei denn, daß sie ihnen wegen ihrer kriminellen, nationalsozialistischen oder militaristischen Betätigung aberkannt worden seien. Jede Bekundung nationalen oder religiösen Hasses und jede Rassenhetze sollte verboten sein und strengstens bestraft werden. Personen, die militaristische oder nationalsozialistische Auffassungen verbreiteten, seien aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Sie dürften leitende Stellungen in der Wirtschaft und im kulturellen Leben nicht bekleiden. Auch das Wahlrecht sollte 114
Singen — Kämpfen — Leben, Liederbuch der deutschen Jugend, 1950, S. 5. K. Polak , Das Verfassungsproblem in der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, 2. Aufl. 1950, S. 5. 116 O. Grotewohl , Deutsche Verfassungspläne, 1947, S. 12 117 Ebd., S. 41. Als „Regulativ gegenüber der Möglichkeit einer Diktatur der Parlamentsmehrheit" sah der Entwurf die jederzeitige Möglichkeit der Auflösung des Parlaments durch Volksentscheid vor (a. a. O., S. 44). Iis Ebd., S. 27 ff. 115
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ihnen entzogen werden können. Dementsprechend sah § 3 Nr. 2 der Wahlordnung für Gemeindewahlen in der Sowjetischen Besatzungszone den Ausschluß der Angehörigen von NS-Organisationen von Wahlen vor. Deutliche Abkehr von der Vergangenheit fand sich auch im Wortlaut der ostdeutschen Landesverfassungen nach dem zweiten Weltkrieg. In den Verfassungen von Brandenburg (Art. 8 Abs. 1), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 7 Abs. 3 S. 1), Sachsen (Art. 8 Abs. 4), Sachsen-Anhalt (Art. 8 Nr. 3 S. 1) und Thürigen (Art. 6 S. 1) findet sich nahezu wortgleich die aus dem SED-Verfassungsentwurf entnommene Bestimmung: „Jede Bekundung nationalen und religiösen Hasses und jede Rassenhetze ist verboten und wird auf das strengste bestraft." Umgekehrt enthält die erste Verfassung der DDR auch bemerkenswerte Elemente der Kontinuität. Die Präambel etwa stimmt etwa fast wörtlich mit jener der Weimarer Reichsverfassung überein.
2. Verfassung vom 26.3.1968 Spätestens mit der sogenannten Periode des „planmäßigen Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus" 119 , der seinen Abschluß in der Verfassung der DDR vom 26.3.1968 120 fand, war — verfassungsrechtlich — der Weg von der Aufarbeitung der Vergangenheit in eine neue Phase beschritten. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus, die sozialistische Gesetzlichkeit, das gesellschaftliche System des Sozialismus und die längst durchgesetzte führende Rolle der SED wurden in dieser Verfassung ebenso festgeschrieben wie die bereits frühzeitig erfolgte Beseitigung des Föderalismus. Da gerade auch eine Festschreibung des Erreichten gewollt war, spielte die Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung keine wesentliche Rolle mehr. Verfassungsrechtlich paßte die Verfassung von 1968 sich teilweise den Freiheitsverletzungen und -eliminierungen an, die im SEDStaat längst Realität geworden waren. Die vereinzelten freiheitlichen Ansätze in der ersten Verfassung der DDR — Art. 10 Abs. 3 S. 1 Verf. DDR 1949 gewährleistete etwa noch die Auswanderungsfreiheit 121 — wurden weitgehend ausgelöscht. Andere Grundrechte blieben zwar in der Verfassung (wie z. B. die Pressefreiheit), aber entfalteten keinerlei reale Geltungskraft. Die außerordentlich schwache normative Kraft der Verfassung der DDR, die beispielsweise durch Parteitagsbeschlüsse der SED jederzeit überlagert werden konnte, ist ohnehin evident. Die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit durch die Verfassung von 1949 — auch wenn sie wenigstens teilweise noch als Instrument der Machtsicherung der SED wirkte — hatte mit der Verfassung von 1968 im wesentlichen als 119
Vgl. G. Riege, in: Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hrsg.), StaatsR der DDR, 2. Aufl. 1984. 120 GBl. I 1968, Nr. 7, S.192. 121 So bereits Art. 9 S. 2 des SED-Entwurfs.
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Leitfigur ausgedient. W. Ulbricht erklärte zur zweiten DDR-Verfassung vor der Volkskammer, die Aufgabe der alten Verfassung der DDR sei die Säuberung und teilweise Zerschlagung des alten Staatsapparates und der Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Verwaltung gewesen.122 1974 wurde die Verfassung nach offizieller Auffassung „präzisiert und vervollkommnet". 123 Das Motiv der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung trat naturgemäß nicht mehr neu auf, da ja gerade die Festschreibung des Erreichten bezweckt war. 124 Insoweit handelte es sich bei der zweiten DDR-Verfassung maßgeblich um die Variante einer kursbewahrenden Verfassungsgebung. Die sogenannten Errungenschaften der antifaschistisch-demokratischen und der sozialistischen Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung sollten für die Zukunft bewahrt werden. Die fortlaufende Vervollkommnung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus sollte durch eine sozialistische Verfassung ermöglicht werden. Die alte Verfassung, deren Geist freilich weitergeführt werden sollte, wurde eher als Hemmnis für die weitere Kurswahrung angesehen. Aufgrund ihrer schwachen Verbindlichkeit war der Kurs der Partei- und Staatsführung längst an ihr vorbeigegangen.
3. Die „Wende-Verfassung" Die weitere Entwicklung der DDR insbesondere in den achtziger Jahren war durch ihre Konsolidierung mit wenigen Liberalisierungen (die freilich am grundsätzlichen Charakter der DDR als Diktatur nichts änderten), einem zunehmenden wirtschaftlichen Niedergang, vor allem aber schließlich durch eine grundlegende Änderung der Machtverhältnisse in der UdSSR als entscheidende Garantie der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse in der DDR gekennzeichnet. Als sich nach der Maueröffnung am 9. November 1989 die politischen Ereignisse überschlugen, war auch die Verfassung der etablierten sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht mehr zu halten. Bereits am 1. Dezember 1989 wurde der Führungsanspruch der „Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" aus Art. 1 Abs. 1 der Verfassung gestrichen. 125 Am 12. Januar 1990 wurde die ausländische Beteiligung an Unternehmen in der DDR gestattet126 und am 20. Februar 1990 wurden neue Wahlgrundsätze und die Möglichkeit eines zivilen Ersatzdienstes eingeführt. 127 Vom gleichen Tag stammt das neue Wahlgesetz für 122
Rede zur Ausarbeitung der Verfassung von 1968 am 1.12.1967, abgedr. bei Sorgenicht u.a. (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung der DDR, Bd. 1, Berlin 1969, S. 11 ff., 13. 123 w. Weichelt, in: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, 1980, S. 260. M Ebd. 125 GBl. I Nr. 25 v. 22. 12. 1989, S. 265. 126 GBl. I Nr. 4 v. 30. 1. 1990, S. 15. 127 GBl. I Nr. 9 v. 23. 2. 1990, S. 59 f.
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die Volkskammerwahl am 18. März 1990, deren Ausgang endgültig die Voraussetzungen für die Wiedererlangung der deutschen Einheit bringen sollte. Faktisch hatte die alte Ambiance der Verfassung der DDR weitgehend aufgehört zu existieren, auch wenn der Schritt der ausdrücklichen Abkehr erst in den fundamentalen Verfassungsänderungen vom 17. Juni 1990 vollzogen wurde. 128 Dort erst wurde die freiheitliche Grundordnung etabliert (Art. 1 Abs. 1) und die Aufhebung entgegenstehender Rechtsvorschriften angeordnet (Abs. 2), das Privateigentum und die wirtschaftliche Handlungsfreiheit sowie die Unabhängigkeit der Rechtsprechung (Art. 2,3,5) eingerichtet. Jede einzelne Vorschrift dieser Verfassungsreform — auch wenn sie sich selbst nur als ein Interregnum verstand — ist zentral vom kursändernden Gedanken der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung geprägt. Sie sind normierte Zeichen der rigorosen Abkehr von dem bis dahin wirksamen politischen System der DDR.
V. Verfassungen der neuen Bundesländer Die Verfassungsgeber der nach der Wende neu entstandenen Bundesländer standen in besonderer Weise in einer historischen Verantwortung, der Abkehr von vergangenem Unrecht und dessen Aufarbeitung gerecht zu werden. In dem Bewußtsein, Geschichte und Vergangenheit nicht einfach abstreifen zu können 129 , wurden in die Verfassungen teilweise „Aufarbeitungssentenzen" — im Hinblick auch auf das Dritte Reich — aufgenommen. Sachsen rekurriert etwa in seiner neuen Verfassung 130 in der Präambel ausdrücklich auf die „leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft" 131. In den Übergangs- und Schlußbestimmungen dieser Verfassung finden sich vergleichsweise differenzierte Regelungen über die Aufarbeitung der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit. 1 3 2 128 GBl. I Nr. 33 v. 22. 6. 1990, S. 299 f. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang aber auch der (durch den Verlauf der weiteren Entwicklung freilich überholte) Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches, abgedruckt in Neues Deutschland Nr. 90 v. 18.4.1990, S. 7 ff.; zu ihm ausführlich Preuß, KJ 1990, 222 ff. 129 Vgl. die Rede des damaligen sächs. Landtagspräsidenten E. Iltgen zur Vorstellung der sächsischen Verfassung am 27.5.1992, abgedr. in: Sächsischer Landtag (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Sachsen, 1992, S. 16. 130 V. 27.5.1992, GVB1. S. 243. !3i Kritisch zu der „Geschichtsverfälschung" durch „Gleichsetzung von Faschismus und DDR-Ära" in der Präambel die Rede von Bartl (Linke Liste / PDS) zur Vorstellung der sächsischen Verfassung am 27.5.1992, abgedr. in: Sächsischer Landtag (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Sachsen, 1992, S. 69. Insgesamt bliebe die Verfassung Sachsens „ein knappes Menschenalter hinter der Brandenburgischen zurück". 132 Art. 116 SächsVerf: Wiedergutmachung für Opfer nationalsozialistischer oder kommunistischer Gewaltherrschaft; Art. 118 Sächs Verf: Amtsenthebung belasteter Abgeordneter oder Regierungsmitglieder; Art. 119 Sächs Verf: Einstellung in den öffentlichen Dienst.
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Die wohl markanteste Vorschrift der Sächsischen Verfassung in diesem Zusammenhang ist Art. 117: „Das Land trägt im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu bei, die Ursachen individuellen und gesellschaftlichen Versagens in der Vergangenheit abzubauen, die Folgen verletzter Menschenwürde zu mindern und die Fähigkeit zu selbstbestimmter und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung zu stärken." Andere Verfassungen neuer Bundesländer — hier sind insbesondere Brandenburg und Sachsen-Anhalt zu nennen — sind in bemerkenswerter Weise „geschichtslos". Weder in den Präambeln noch in irgendeiner der einzelnen Bestimmungen findet sich ein Hinweis auf die besondere historische Situation der Verfassungsgebung. Was sind die Ursachen für dieses Schweigen? Liegen gar „Verdrängungsverfassungen" vor oder stand einfach die Verwirklichung vergangenheitsindifferenter rechtspolitischer Vorstellungen im Vordergrund? Antworten auf diese Fragen müssen der nachgängigen Forschung überlassen werden, welche die Vorgänge mit größerer innerer und historischer Distanz betrachten kann. Allein das Bestreben, die jungen Verfassungen von rechtlich unverbindlichen Passagen oder gar prosaischen Ausschweifungen zu verschonen, erklärt die Abstinenz nicht, wie Passagen zu anderen Themen handgreiflich belegen.133
VI. Konsequenzen für die laufende Verfassungsdiskussion 1. Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung nach der Wiedervereinigung a) Fragestellungen Ist auch in der laufenden Debatte um eine Grundgesetzreform der Gedanke der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung spürbar? Wird der Verfassungsgeschichtler in tausend Jahren in dem novellierten Grundgesetz des Jahres 1994 den historischen Rahmen der Verfassung des vereinten Deutschland wirklich ablesen können? Wird sich diese Verfassung als kollektives Gedächtnis des deutschen Volkes bewähren? Wird die Verfassung aller Deutschen die Erlebnisse der vierzigjährigen Trennung verarbeiten und Konsequenzen für die Zukunft ziehen? Wird im vierten Jahr der deutschen Einheit das Motiv der Aufarbeitung der rechtsstaatswidrigen Erscheinungen der DDR noch erkennbar sein? Kurzum: 133 Nahe läge es in diesem Zusammenhang, dem Motiv der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung einmal in den Verfassungen der postsozialistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas nachzuforschen. Dies kann indes hier ebensowenig wie die Rechtsvergleichung mit den Verfassungen europäischer demokratischer Rechtstradition geschehen.
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Wird das erneuerte Grundgesetz den Versuch der Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung im Hinblick auf die Erfahrungen in und mit der DDR unternehmen? b) Konzentration
auf Entwicklungen
in der DDR
Dabei sollen im folgenden Anpassungsbedürfnisse auf Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland eher außer Betracht bleiben. Die vorrangige Konzentration auf die Entwicklungen in der DDR bei der Verfassungsdiskussion in der Anfangsphase des vereinten Deutschlands rechtfertigt sich insbesondere durch vier Erwägungen: 1. Das deutsche Volk in der DDR hat durch seine Auflehnung im Herbst 1989 den entscheidenden Anstoß für den Wiedervereinigungsprozeß gegeben und zwar zu einer Zeit, als in der alten Bundesrepublik in allen politischen Parteien die Abschaffung des Wiedervereinigungsauftrags beschlossen war oder doch diskutiert wurde und der Glaube an die Wiedervereinigung fast allgemein erloschen war. 134 2. Die Erfahrung mit einem diktatorischen Regime wie in der DDR aktiviert die Idee der kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung weit stärker als die Notwendigkeit von eher routinemäßigen Modernisierungen und Reparaturen an der Verfassung in einer pluralistischen Demokratie wie der alten Bundesrepublik Deutschland. 3. Der Anpassungs- und Modernisierungsbedarf der Verfassung der alten Bundesrepublik Deutschland wurde bis zur Wiedervereinigung durch 35 Verfassungsänderungen sowie durch eine intensive Judikatur des Bundesverfassungsgerichts abgearbeitet. Hierin liegt auch ein gutes Stück kontinuierlicher Zukunftsbewältigung aus Erfahrungen in der alten Bundesrepublik Deutschland selbst. 4. Demgegenüber konnten Erfahrungen der DDR im Grundgesetz vor der Wiedervereinigung nicht unmittelbar verarbeitet werden. Das deutsche Volk in den westlichen Bundesländern hat zwar nach der alten Präambel des GG im Jahre 1949 auch für die Deutschen gehandelt, denen am Grundgesetz mitzuwirken versagt war. Dies ersetzt aber nicht das Handeln dieser Deutschen in den ostdeutschen Ländern selbst, denen diese Möglichkeit erst ab 1990 mit der Wiedervereinigung eröffnet worden ist. Der Umbruch von 1989 in der DDR war wahrlich eine Wende. Es war der fulminante Beginn einer kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung vor allem gegenüber dem SED-Regime und den rechtsstaatswidrigen Zuständen in der DDR. Die Deutschen im Osten wie im Westen Deutschlands waren und sind sich in ihrer überwiegenden Mehrheit darüber einig, daß sich 134 Als Ausnahme vgl. u. a. etwa Kloepfer, 5 Bettermann - Seminar
ZRP 1983, 57, 58.
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ein totalitäres Erziehungsregime, ein Leben ohne Presse- und Reisefreiheit, ein tödliches Grenzregime oder ein umfassendes Überwachungs- und Bespitzelungssystem wie in der DDR nicht wiederholen darf. So wie viele Gehalte des Grundgesetzes 1949 vom Satz getragen waren „Nie wieder Nationalsozialismus",135 sollte hierauf aufbauend die Verfassungsreform im vereinten Deutschland verdeutlichen: Auch nie wieder totalitäre Herrschaftsformen wie in der DDR. Oder anders: Nie wieder eine Diktatur auf deutschem Boden gleich welcher politischen Couleur. Dies ist den heutigen Unbelehrbaren gegenüber notfalls mit der Kraft einer wehrhaften Demokratie durchzusetzen. c) Zum Ansatz der Verfassungskommission Die historische Aufgabe eines nach der Wiedervereinigung erneuerten Grundgesetzes ist die Zukunftsbewältigung aus der Vergangenheitserfahrung in der DDR. Deshalb ist es ein zentrales Versagen der sog. Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates 136, dieser Aufgabe ganz überwiegend nicht gerecht geworden zu sein. Diese hat sich im wesentlichen nur zu solchen Verfassungsänderungen durchringen können, die in der alten Bundesrepublik Deutschland schon vor der Wiedervereinigung grundsätzlich diskutiert worden sind. Wiedervereinigungsbedingt sind im wesentlichen nur die (im Hinblick vor allem auf die Sorben aufgenommenen) Bestimmungen zum Schutz ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten (Art. 20 b GG) sowie zum Verfahren einer möglichen Vereinigung von Berlin und Brandenburg (Art. 118 a GG). Die wirklich wesentlichen Kommissionsvorschläge für Änderungen sind aber insbesondere die Kompetenzverschiebungen im Hinblick auf die europäische Integration und das föderative Gefüge sowie einige Modernisierungen zu verschiedenen Einzelfragen. Dabei hat die Kommission in diesen wiedervereinigungsunabhängigen Problembereichen gewiß nicht Unerhebliches geleistet, auch wenn — wie z. B. in Art. 23 GG zur Europäischen Union — manches zu detailliert und teilweise unpraktikabel erscheinen mag. Auch die grundsätzliche Distanz der Kommission gegenüber bloßen Programmsätzen in der Verfassung (z. B. Recht auf Wohnung und Arbeit, Mitbestimmung, Friedenssicherung etc.) mag mit der (prinzipiell berechtigten) Sorge um die wirklich steuernde normative Substanz der Gesamtverfassung und dem Bestreben, bloße Verfassungshülsen zu vermeiden, erklärt werden. Was übrig geblieben ist, sind in der Regel Empfehlungen zu Verfassungsänderungen weitestgehend aus den Erfahrungen und Ausgangsbedürfnissen von Deutschland West.
135 Kloepfer, ZRP 1983, 57. 136 Der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission ist als BT-Drucks. 12/ 6000 v. 5.11.1993 veröffentlicht.
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Es sind ganz überwiegend gerade keine Antworten mehr auf die „im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes", wie das Art. 5 EV gefordert hatte, sondern hergebrachte Probleme der alten Bundesrepublik Deutschland zur Verfassungsmodernisierung im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die Verfassungskommission hat insoweit zwar nicht den offenen Wortlaut, wohl aber den eigentlichen Sinn des Einsetzungsauftrags des Art. 5 EV im wesentlichen verfehlt. Sie hat aus Anlaß der Wiedervereinigung, nicht aber zur geistigen und verfassungsrechtlichen Vollendung der Einheit Deutschlands gehandelt. Der Aufgabe der Zukunftsbewältigung aus der Erfahrung mit der Diktatur DDR hat sie sich offensichtlich nicht gewachsen gezeigt. d) Erhaltung von „Errungenschaften"
der DDR?
Aber auch die innerhalb und außerhalb der Verfassungskommission wiederholt angestellten Versuche, sog. „Errungenschaften" der DDR in neues gesamtdeutsches Verfassungsrecht herüberzuretten, verraten fehlendes Gespür dafür, wie die Verfassungsantwort auf eine Diktatur lauten muß. Das Argument z. B. der flächendeckenden Versorgung mit Kindergartenplätzen in der DDR als Legitimation für ihr totalitäres Herrschaftssystem erinnert in seiner elementaren politischen Maßstabslosigkeit an das Argument, unter Hitler seien immerhin Autobahnen gebaut worden. Damit wird gewiß nicht etwa einer (trotz manch böser Parallelen) im Kern unhaltbaren Gleichsetzung von NS-Regime und SED-Herrschaft das Wort geredet, sondern allgemein auf die fehlende Legitimierbarkeit von Unfreiheit durch autoritäre öffentliche Wohlfahrt hingewiesen. Gerade in Zeiten erheblicher Arbeitslosigkeit ist festzuhalten: Die Beseitigung (oder gar nur Kaschierung) von Arbeitslosigkeit kann eine Diktatur nicht legitimieren. Wer Verfassungsforderungen nach einem „Dritten Weg", gewissermaßen in Äquidistanz zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR erhebt, hat — bei aller Kritikwürdigkeit von einzelnen Vorgängen in der alten Bundesrepublik Deutschland — nicht begriffen, daß die Trennung von Demokratie und Diktatur kategorisch ist. Mit einer Demokratur ist niemandem gedient. Manches ist im übrigen in der derzeitigen Stimmungslage in den neuen Ländern inkonsequent. Wer sich im Rahmen des Staats Vertrages über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom Mai 1990 ausdrücklich für die Marktwirtschaft entscheidet, muß auch mit deren Mechanismen und Folgen leben (z. B. auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt), wobei eine soziale Marktwirtschaft Marktmechanismen zwar abfedern, naturgemäß aber nicht grundsätzlich beseitigen kann. e) Beitritt als Zukunftsbewältigung
aus Vergangenheitserfahrung
Dem grundsätzlichen Anliegen, die Verfassungsgestaltung am Beginn des vereinten Deutschlands maßgeblich auch als Abkehr von den totalitären Herr5=
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schaftsformen der DDR zu gestalten, könnte entgegengehalten werden, der Beitritt als solcher sei für das Volk in den neuen Ländern ja bereits eine besonders rigide Form der kursändernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung gewesen. Zutreffend ist dabei, daß der Beitritt für die Bevölkerung im Osten Deutschlands eine radikale und gewollte (wenn auch in ihren Auswirkungen nicht immer erkannte) Kehrtwendung darstellte. Es handelt sich dabei jedoch nicht unmittelbar um eine verfassungsgestaltende Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung, weil im Grundgesetz von 1949 nicht die Erfahrungen mit 40 Jahren DDR verarbeitet sein konnten. Dagegen könnte argumentiert werden, das Grundgesetz von 1949 wende sich bereits gegen jede Form totalitärer staatlicher Regime und sei gewissermaßen eine vorgezogene Verarbeitung von Unrechtserfahrungen auch in der DDR. Daran ist soviel richtig, daß das Grundgesetz 1949 eine Abwehr totalitärer Entwicklungen jedweder Richtung beabsichtigt hat, wenngleich die schlimmen Erfahrungen mit der HitlerDiktatur eindeutig im Vordergrund standen. Gleichwohl richtete sich das Grundgesetz — insbesondere in seinem Konzept der wehrhaften Demokratie — auch auf die Verhinderung von (1949 bereits in Umrissen erkennbaren) totalitären staatlichen Regimen kommunistischer Provenienz. Darauf könnte dann leicht die Argumentation fußen, ein Eingehen auf die totalitäre Vergangenheit der DDR sei in der überarbeiteten Verfassung eines vereinten Deutschland nicht mehr erforderlich, da das Grundgesetz gewissermaßen im vorherein bereits alle Antworten auf nichtdemokratische Herrschaftsregime gegeben habe. Diese Argumentation übersieht freilich, daß das Grundgesetz von 1949 denklogisch nicht die spezifischen Antworten auf die Probleme und Geschehnisse von vierzig Jahren DDR bereithalten konnte. Vieles war 1948/ 1949 in Westdeutschland bezüglich der Entwicklungen im Osten Deutschlands noch ganz unvorstellbar. Zwar gaben z. B. Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht, Zwangkollektivierungen in der sowjetischen Besatzungszone, die dortige Zwangsvereinigung von SPD und KPD, der Auszug freiheitsverpflichteter Studenten und Wissenschaftler aus der Berliner Universität mit Neugründung der Freien Universität Berlin und nicht zuletzt die Berliner Blockade erste Anzeichen für einen Totalitarismus im Osten Deutschlands, dennoch war die künftige Entwicklung der DDR damals nur sehr begrenzt absehbar. Die Berliner Mauer, Selbstschußanlagen etc. in ihrer tödlichen Perfektion waren 1948/49 noch ebenso unvorstellbar wie die spätere Allgegenwart der Staatssicherheit. Das Grundgesetz hat diese Entwicklungen naturgemäß nicht verhindern, aber auch nicht verarbeiten können. Eine Zukunftsbewältigung aus der Erfahrung mit dieser Vergangenheit fehlt. Immerhin kann es durchaus einmal so sein, daß die Verarbeitung einer solchen Vergangenheit in der DDR in vielen Fällen dem Sinne nach zu den vorgefundenen spezifischen Gewährleistungen des Grundgesetzes führen kann. Das kann etwa im Hinblick auf die rechtsstaatswidrigen Zustände in der DDR mit dem Prinzip
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der sozialistischen Gesetzlichkeit, d. h. mit der politisch — insbesondere durch die SED-Parteitagsbeschlüsse — durchbrechbaren Gesetzes- und Verfassungsbindung und der Möglichkeit einer politischen Einflußnahme auf die Justiz gelten. Hier ist das Justizstaatskonzept des Grundgesetzes mit seinen justitiellen Garantien, seinen Unabhängigkeitsgarantien für die Richter und seiner Entscheidung für eine machtvolle Verfassungsgerichtsbarkeit auch eine plausible Antwort auf entsprechende rechtsstaatswidrige Erscheinungen in der DDR. Entsprechendes gilt z. B. für die Lehren aus der weitgehend erfolgreichen totalitären Gleichschaltung von Presse und weiten Teilen der Wissenschaft in der DDR. Die Gewährleistungen der Presse- und Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes sind somit auch adäquate Antworten auf die gegensätzlichen Zustände der DDR. Es wäre allerdings vermessen, wollte man unterstellen, das Grundgesetz von 1949 enthalte in allen Fällen bereits die einschlägigen Antworten auf die Unrechtserfahrungen in der DDR bis 1989. f) Gesamtdeutsche Verfassungsgestaltung zwischen Kurswahrung und Kursumsteuerung Der eingangs bezeichnete grundsätzliche Unterschied zwischen einer kursumsteuernden und einer kurswahrenden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung durch Verfassungsgestaltung prägt die Verfassungsdiskussion im vereinten Deutschland entscheidend: War die Wende in der DDR im evidenten Maße vom Willen zur Kursumsteuerung bestimmt, so verharrte die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich in der selbstgewissen Position der Kursbeibehaltung. Dieser aus politischen Gründen (der grundsätzlichen Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrem jeweiligen Regime) erklärbare Gegensatz zwischen beiden Staaten schien 1990 nahezu vollkommen auflösbar zu sein. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland schien den Willen zur Kursumsteuerung in der DDR und den Willen zur Kursbeibehaltung in der Bundesrepublik Deutschland auf das Beste miteinander zu versöhnen. Allerdings war diese Lösung für den komplizierten Vorgang der Wiedervereinigung wohl doch zu einfach gewesen. Ein wesentliches Problem war, daß wichtige meinungsbildende Kreise der DDR (wahrscheinlich aber nicht die Mehrheit der Bewohner der DDR in den Jahren 1989/90) zwar eine Kursumsteuerung wollten, aber nicht genau auf das Ziel des Modells der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg hierzu wäre die Schaffung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung nach Art. 146 GG gewesen; dieser vom Grundgesetz wohl primär für den Fall der Wiedervereinigung vorgegebene Weg bot Chancen (insbesondere auch zur stärkeren innerdeutschen Integration), aber auch ganz erhebliche Risiken und wäre auf jeden Fall außerordentlich zeitraubend gewesen. Da aber — insbesondere auch aus Gründen eines nur begrenzte Zeit offenstehenden außenpolitischen „Fensters" — die zeitschonende Alternative des Beitritts nach Art. 23 GG die
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einzig realistische Form der Wiedervereinigung war, blieb der Wunsch wichtiger meinungsbildender Kreise der DDR vor allem nach einer gesamtdeutschen Verfassungsneuschöpfung unerfüllt. g) Zur Option des Art. 5 EV Die demokratisch legitimierten Organe der vergehenden DDR erklärten deshalb nach den ausgehandelten Bedingungen des Einigungsvertrages den Beitritt gemäß Art. 23 GG und begnügten sich (auch aus Gründen der Erreichung der Mehrheiten in der DDR) mit der juristisch relativ unverbindlichen Option des Art. 5 EV der Beratungsempfehlung an die gesetzgebenden Körperschaften zu künftigen Verfassungsänderungen. Diese Vorschrift stellte die Einräumung einer Chance dar, inhaltlich die prinzipielle Position des Festhaltens am Grundgesetz durch eine Option zu Kurskorrekturen bezüglich der einigungsbedingten Verfassungsfragen zu flexibilisieren. Auf diese Vorschrift setzten nach dem Beitritt vor allem auch Minderheiten in den alten Bundesländern, die so die Chance witterten, Änderungen des Grundgesetzes durchzusetzen, die ohne Wiedervereinigung von der Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland weder ernsthaft diskutiert noch gar akzeptiert worden wären. Beides, die östliche Erkenntnis, daß eine verfassungspolitische Umsteuerung voll in eine von der vergehenden DDR für optimal gehaltene Richtung nicht möglich war, verbunden mit dem Wunsch westlicher Minderheiten zu umfangreichen Verfassungsreformen, bestimmte dann wichtige Partien der Verfassungsdiskussion unmittelbar vor und nach der Wiedervereinigung. Im Ergebnis konnten sich diese Positionen aber kaum durchsetzen. Die Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland wollte als Modifikation des Grundgesetzes — wie auch die erwähnte Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission zeigt — überwiegend nur solche Verfassungsänderungen akzeptieren, die tendenziell schon vor 1989 im Westen diskutiert wurden und ohnehin — z. B. Grundgesetzänderungen im Hinblick auf die Europäische Union — hätten entschieden werden müssen. h) Das Grundgesetz zwischen Bewährung und Wiedervereinigung Eines der entscheidenden fachlichen Argumente insbesondere in der Staatsrechtswissenschaft für die Position der Kursbeibehaltung war dabei die immer wieder beschworene grundsätzliche Bewährtheit des Grundgesetzes. Richtig daran ist, daß aus dem Grundgesetz als provisorischer westdeutscher Verfassung von 1949 nach über 35 Verfassungsänderungen und nach einer imponierenden Entfaltung der Einzelgehalte der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht und durch die deutsche Staatsrechtswissenschaft wahrscheinlich die bisher erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte geworden ist. Aber nichts ist so gut, daß es nicht noch verbessert werden könnte. Insbesondere sollte nicht vergessen werden, daß das Grundgesetz auch heute noch eine Reihe zentraler verfas-
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sungsrechtlicher Schwachstellen enthält, über die vor 1989 auch relative Einmütigkeit unter den westdeutschen Staatsrechtslehrern bestand. Gedacht sei etwa an den Schrankenwirrwarr 137 des Grundrechtsteils oder an die konzeptionelle Unverbundenheit der klassischen Elemente einer repräsentativen Demokratie einerseits und der Parteienstaatlichkeit andererseits. Im übrigen darf auch die kursbewahrende Argumentation, es bedürfe keiner Totalrevision des Grundgesetzes, weil sich dieses bewährt habe 138 , eines nicht verkennen: Das Grundgesetz ist bereits heute — trotz bisher relativ geringer Änderungen im Verfassungstext durch den Einigungsvertrag selbst — nach der Wiedervereinigung faktisch eine gewandelte Verfassung geworden. Die völlig veränderte Ambiance nach der deutschen Vereinigung, die neuen sozialen Fragen und insbesondere der (durch Erfüllung erfolgte) Verlust der alten Staatsräson (Wiedervereinigung in Freiheit) verändert das Grundgesetz auch ohne Antasten des Verfassungstextes in essentieller Weise. Das wird z. B. besonders deutlich an der Öffnung des Grundgesetzes für seine eigene Ablösung durch eine neue Verfassung in Art. 146 GG. War diese Bestimmung vor dem Einigungsvertrag an die Wiedervereinigung gebunden und deshalb viele lange Jahrzehnte vor allem wegen der außenpolitischen Verhinderungslage bezüglich der Wiedervereinigung praktisch unanwendbar gewesen, so ist Art. 146 GG nach der Wiedervereinigung nun jederzeit anwendbar mit entsprechenden potentiell für die Verfassungsordnung destabilisierenden Effekten.
2. Vergangenheitserfahrung in der realen Verfassungsreformdiskussion In der aktuellen Verfassungsdiskussion spielt ein ganzes Bündel unterschiedlicher Motive eine Rolle. Das geht von den Aufträgen des Einigungsvertrages in Art. 5 EV, außenpolitischen und zeitlichen Zwängen bis hin zu innenpolitischen, d. h. vor allem parteipolitischen Optionen, entweder für mehr Beharrung oder mehr Voranschreiten. Zu diesen Motiven sollte die Erwägung der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung als ein wichtiges, aber gewiß nicht als alleiniges Motiv für Verfassungsumgestaltungen hinzutreten. Das Motiv der kursändernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung spielte in der bisherigen Verfassungsdiskussion insbesondere in der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission freilich eher eine ganz untergeordnete Rolle. Als einer der wenigen hat das an sich Naheliegende in der Grundsatzaussprache der Gemeinsamen Verfassungskommission der Abg. K. Elmer (SPD) ausgesprochen. Er sagt:
137 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl. 1976, S. 3. 138 Sten. Ber. d. 1. Sitzung d. Gemeinsamen Verfassungskommission v. 16.1.1992, S. 5 (Scholz).
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„Weil wir im Osten in einer zweiten Diktatur 44 Jahre länger leiden mußten, fragen wir, wie durch die Verfassung solches für alle Zeit verhindert werden könnte. (...) Weil wir in der DDR ein Parlament hatten, ohne daß es die Regierung kontrollieren konnte, fragen wir, ob es nicht auch jetzt noch Möglichkeiten gibt, das Bundesparlament zu stärken. Weil wir die Stasi-Machenschaften fürchten lernten, wünschen wir den Datenschutz in die Verfassung, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Weil wir den Zentralismus bis zum Exzeß erlebten, wollen wir den Föderalismus mit seinem Subsidiaritätsprinzip stärken." 139 Derartige Äußerungen blieben aber die Ausnahme. Insbesondere in den Aussprachen zu den Einzellösungen trat das Aufarbeitungsargument häufig völlig in den Hintergrund. Eine Ausnahme bildet allerdings insbesondere die Diskussion um die verstärkte Einführung plebiszitärer Elemente in die Verfassung. Zwar ist auch hier der Ausgangspunkt primär die jeweilige verfassungspolitische Disposition, die sich typischerweise parteipolitisch verteilt. Vertreter von SPD 1 4 0 , Bündnis 90/Die Grünen 141 und PDS / Linke Liste 1 4 2 votierten für stärkere Betonung von Instrumenten unmittelbarer Demokratie, die Vertreter der Unionsparteien 143 plädierten dagegen. Allerdings spielten sowohl in der Diskussion der Gemeinsamen Verfassungskommission, als auch in der Sachverständigenanhörung Argumente der Vergangenheitserfahrung eine zentrale Rolle, freilich weniger im Hinblick auf die DDR als im Hinblick auf die Weimarer Republik. Vertreter beider Auffassungen nahmen dabei die historische Erfahrung für sich in Anspruch. Das traditionelle Argument der schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik wurde von den Gegnern der Einführung erneut ins Feld geführt. 144 Die Befürworter argumentieren dagegen zentral mit den seit 1949 angefallenen Erfahrungen, insbesondere mit dem seit 1949 gewandelten Demokratieverständnis 145 und einer gewachsenen demokratischen Reife der Bevölkerung. 146
139 Sten. Ber. d. 2. Sitzung d. Gemeinsamen Verfassungskommission v. 13.2.1992, S. 21. 140 Sten. Ber. d. 6. Sitzung d. Gemeinsamen Verfassungskommission v. 14.5.1992, S. 4 ff. (Thierseh S. 8 ff. ( Schnoor ), S. 17 (Elmer), S. 17 (H. J. Vogel). 141 Ebd., S. 13 ff. (Ullmann). 142 Ebd., S. 14 ff. (Heuer). 143 Ebd., S. 2 ff. (Geis), S. 7 ff. (Heitmann), S. 16 ff. (Wilhelm), S. 20 (Graf v. Schönburg-Glauchau). Eine vermittelnde Position nahm der rheinland-pfälzische Justizminister Caesar (F.D.P.) ebd., S. 11 ff., ein, der die Parteien aufforderte, sich aufeinanderzuzubewegen. 144 Ebd., S. 4 (Geis). 145 Sten. Ber. d. 3. Öffentlichen Anhörung d. Gemeinsamen Verfassungskommission (Bürgerbeteiligung und Plebiszite) v. 17.6.1992, S. 22 ( Schmidt-Jortzig ) 146 Sten. Ber. d. 6. Sitzung d. Gemeinsamen Verfassungskommission v. 14.5.1992, S. 5 (Thierse).
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3. Beispiele möglicher Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung Eine kursumsteuernde Zukunftsbewältigung aus den Erfahrungen mit und in der DDR könnte an verschiedenen Stellen des Grundgesetzes ansetzen. Einige Beispiele seien im folgenden erwähnt: a) Präambel Nach Häberle haben die verfassungsstaatlichen Verfassungen in langen Zeiträumen eine sich ständig verfeinernde Präambelkultur entwickelt. 147 Danach gehört zu den drei klassischen Elementen einer Präambel neben der „einstimmenden Feiertagssprache" und dem Konzentrat der Verfassung die Verarbeitung der Geschichte und der Entwurf für die Zukunft. 148 Die Präambel des Grundgesetzes wurde zwar mit der Wiedervereinigung durch den Einigungsvertrag geändert (insbesondere Vollendung der Einheit Deutschlands). Dabei wurde aber eine wichtige Chance der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung vertan. Gewichtige Stimmen hatten gefordert, das Selbstverständnis der „friedlichen Revolution" 149 in die Präambel eingehen zu lassen. Die „sprachlich gelungene, ungewöhnlich suggestive" Wortschöpfung „Wir sind das V o l k " 1 5 0 müsse genutzt werden. 151 Die Gemeinsame Verfassungskommission hat diese Idee indessen nicht aufgenommen. Besonders wichtig erscheint es, die Überwindung der zweiten Diktatur des 20. Jahrhunderts in Deutschland in der Präambel Niederschlag finden zu lassen. Aber anders als die sächsische Verfassung verschweigt die Präambel des Grundgesetzes die Überwindung von Nationalsozialismus und Kommunismus bis heute. b) Nachrichtendienste Der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR hat die Bevölkerung eines ganzen Landes nahezu lückenlos mit einem Netz von Bespitzelung, Denunziation 147
Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, 1982, S. 211 ff. Häberle, JZ 1990, 358 ff., 360. 149 Die freilich im Rechtssinne keine Revolution war, vgl. J. F. Kemper, Die Überleitungsgerechtigkeit bei Gebietsänderungen und sonstigen Änderungen im territorialen Geltungsbereich von Rechtsordnungen, 1992, S. 105 f. Bereits nach Lorenz v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Bd. 1, S. 95, sei selbst die vollständige Umgestaltung der Verfassung durch die Organe der alten Verfassung keine Revolution, sondern nur eine Reform. Anders freilich (im historischen Kontext) E. R. Huber, Wesen und Inhalt der politischen Verfassung, S. 15 f., nach dem jede Bildung einer neuen politischen Grundordnung revolutionär sei. 150 Häberle, JZ 1990, 358 ff., 360. 151 Ebd.; vgl. auch Südwest-Presse v. 28.2.1990 Nr. 49, S. 3: „Wir sind das Volk ins Grundgesetz, Prof. G. Dürig für Elemente unmittelbarer Demokratie in einer gesamtdeutschen Verfassung".
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und Bedrohung überzogen. 152 In undurchschaubaren — und bis heute nicht vollständig enthüllten — Strukturen wurden durch das Senken eines unbekannten Daumens Karrieren beendet oder Existenzen zerstört oder durch ein wohlwollendes Nicken über ein Haus, ein Auto oder eine Stelle in Wirtschaft, Verwaltung oder Universitäten entschieden. Hier bleibt noch vieles aufzuklären, weshalb die Stasiakten auch künftig weiter zugänglich gemacht werden sollten. Dabei stünde es der Bundesrepublik Deutschland freilich gut an, dem Stasi-Unterlagen-Gesetz bald ein Nazi-Unterlagen-Gesetz folgen zu lassen. Dies verschließt nicht die Augen vor den Problemen der Verwendung von Stasi-Unterlagen, deren Wahrheitsgehalte heute teilweise nur noch ganz unvollkommen überprüft werden können. Viel bedenklicher ist freilich die bisher nur unvollkommen bemerkte Exkulpationsfunktion der Stasi-Debatte. Der fehlende Nachweis einer Mitarbeit bei der Stasi kann nicht automatisch als Beweis fehlender politischer Belastung gewertet werden. Die Erfahrung mit den Sicherheitsorganen des Dritten Reiches (insbesondere Gestapo) ist im Grundgesetz von 1949 nur wenig verarbeitet. Inhaltlich wurde die Tätigkeit von bundesdeutschen Nachrichtendiensten im wesentlichen nur durch die allgemein den persönlichen Geheimschutz gewährleistenden Grundrechte des Art. 2 i. V. m. Art. 1 GG sowie durch Art. 10 und 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung und Post- und Fernmeldegeheimnis) begrenzt. Institutionell erfahren die deutschen Nachrichtendienste im Grundgesetz lediglich die marginale — und in dieser Form auch erst seit 1972 bestehende — Regelung, daß der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes (Art. 73 Nr. 10 GG 1 5 3 ) und die Befugnis zur bundeseigenen Verwaltung bei der Sammlung von Unterlagen zum Zwecke des Verfassungsschutzes in Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG hat. Im Hinblick auf den Staatsicherheitsdienst, aber übrigens auch angesichts einiger Erfahrungen der alten Bundesrepublik, erscheint die Forderung nach konsequenterer exekutiver, parlamentarischer und justizieller Kontrolle der Nachrichtendienste und einer entsprechenden Fixierung in der Verfassung nicht überzogen, auch wenn aus dem Wesen nachrichtendienstlicher Tätigkeit eine gewisse unvermeidliche, weil funktionsvorgegebene Begrenzung rechtlicher Steuerung folgt. Das Schweigen der Verfassung zu dem Spannungsfeld zwischen der Erforderlichkeit der Existenz von Nachrichtendiensten einerseits und ihrer demokratischen Kontrolle und rechtsstaatlichen Fundierung andererseits kann nur als unangemessen bezeichnet werden. Angesichts des verständlichen Mißtrauens weiter Teile der Bevölkerung insbesondere der neuen Bundesländer gegenüber Nachrichtendiensten ist das Ausklammern des Fragenkreises aus den aktuellen Verfassungs152 Vgl. Kloepfer , Stasi-Unterlagen-Gesetz und Pressefreiheit, 1993, S. 11. 153 In seiner durch G v. 28.7.1972 hergestellten Fassung (BGBl. I, S. 1305).
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diskussionen eine Demonstration der im Einigungsprozeß nicht selten zu beobachtenden fehlenden Sensibilität insbesondere von westlicher Seite. 154 c) Datenschutz, staatliche Informationen Die Erfahrungen mit der Staatssicherheit sollten auch Anlaß sein, die Einführung eines — freilich weit darüber hinausgehenden — Grundrechts auf Datenschutz im Grundgesetz mit ausdifferenzierten Beschränkungsvorbehalten (in sorgfältiger Abwägung mit anderen Verfassungsgütern wie z. B. Pressefreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Rechtsstaat [Rechtsfrieden, Strafverfolgung], etc.) zu erwägen. Dabei könnte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten Recht auf informationelle Selbstbestimmung155 ausgeformt und modifiziert — durch Schrankenausgestaltung — in die verfassungsrechtliche Wertewelt eingepaßt werden. In diesem Zusammenhang könnte auch überlegt werden, weitere verfassungsrechtliche Eckpfeiler der staatlichen Informationsherrschaft festzuschreiben, 156 z. B. Gesetzesvorbehalt und Wahrheitspflicht für staatliche Informationen, Recht auf Akteneinsicht, Informationsansprüche der Allgemeinheit. Solche Gewährleistungen könnten auch Antworten auf die Desinformationspolitik des SED-Regimes und auf die absolute Geheimhaltung der relevanten Umweltdaten in der damaligen D D R 1 5 7 sein. d) Plebiszitäre
Elemente
Die Wende in der DDR ist in entscheidender Weise außerhalb staatlich strukturierter Entscheidungswege herbeigeführt worden. Der Ruf „Wir sind das Volk" ist auf Demonstrationen skandiert worden und hat das SED-Regime nachhaltig geschwächt. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß gerade in den neuen Bundesländern Formen einer unmittelbaren Demokratie besondere Attraktivität haben. Dies trifft sich mit den Erfahrungen gewisser Nachteile einer (fast) nur repräsentativen Demokratie im Westen (sog. Basisferne einer zunehmend nur sich selbst verpflichteten politischen Herrschaftsschicht).
154 Typisch für die fehlende Sensibilität ist vor allem der von westlicher Seite im Einigungsvertrag durchgesetzte Standpunkt, wonach bei Grundstücken der Grundsatz: „Rückgabe vor Entschädigung" gelte. iss BVerfGE 65, 1, 43. 156 Für den Bereich der Umweltinformation s. z. B. §§ 103 ff. des Professoren-Entwurfs zum UGB-AT, Kloepfer / Rehbinder / Schmidt-Aßmann unter Mitwirkung von Kunig, Umweltgesetzbuch: Allgemeiner Teil, 1991, S. 78 ff. und 394 ff. 157 Vgl. etwa Brandner, Entwicklungen des Umwelt- und Technikrechts 1990, in: Breuer / Kloepfer / Marburger / Schröder, Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts, 1991, 375, 377.
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Nach der Erfahrung mangelnder Demokratie in der DDR und deren Ende durch die erkämpfte demokratische Freiheit werden gerade in den neuen Bundesländern die Wünsche nach erfahrbarer demokratischer Mitwirkung durch das weitgehend strikt repräsentative System der alten Bundesrepublik Deutschland nur unzureichend befriedigt. Soll sich dieses gesteigerte Partizipationsbedürfnis nicht gewaltsam auf der Straße entladen, bedarf es verstärkt der Bereitstellung auch von Elementen der unmittelbaren Demokratie zur Korrektur gewisser Funktionsschwächen eines dominant repräsentativen Systems. Dies bedeutet, daß neben die anderen Argumente im Bereich der Diskussionen plebiszitärer Elemente auch die Erwägung der Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung treten muß. Und dies spricht heute — aus den Erfahrungen des östlichen aber auch des westlichen Teils Deutschlands (wie übrigens auch in vielen anderen Staaten) —jedenfalls grundsätzlich für die behutsame Erweiterung der unmittelbare Beteiligung der Bürger im Prozeß der demokratischen Willensbildung. Die Verfassungskommission wird mit ihrer eher fundamentalistischen Partizipationsskepsis dieser Ausgangsposition nicht gerecht. Sie überzieht die angeblichen negativen Lehren aus Weimar, vernachlässigt positive Erfahrungen im Ausland und in den Bundesländern und verkennt im übrigen das Vordringen partizipatorischer Elemente im einfachen Bundesrecht (z. B. im Umwelt- und Baurecht). Damit ist noch nicht die umstrittene und anders gelagerte Frage geklärt, ob das geänderte Grundgesetz schließlich selbst einer Volksabstimmung unterzogen werden sollte. Diese Frage ist eher eine Zukunftsbewältigung aus der Erfahrung in der alten Bundesrepublik Deutschland, d. h. mit dem historisch gar nicht zu bezweifelnden Demokratiedefizit bei der Entstehung des Grundgesetzes (Vorgaben der Besatzungsmächte, nur mittelbare demokratische Legitimation durch Landtage). Aber ganz abgesehen davon, daß ein gewisser Ausgleich hierfür durch den jahrzehntelangen Verfassungskonsens im Westen sowie durch den Beitritt im Osten im Jahre 1990 erfolgte, sollte dieser Weg nur bei einer wirklich neuen Verfassung oder bei einer Totalrevision des Grundgesetzes gegangen werden. Eine Reihe vereinzelter Verfassungsänderungen — wie jetzt von der Verfassungskommission vorgeschlagen — rechtfertigt diesen Weg nicht. Der Weg des Art. 146 GG sollte nur bei Schaffung einer wirklich neuen Verfassung beschritten werden, für die es freilich derzeit weder zwingende Gründe noch gar Mehrheiten geben dürfte. e) Parteien Die Wende der DDR richtete sich vor allem auch gegen die zementierte Vorherrschaft der SED. Abgesehen von der Besonderheit des sogenannten demokratischen Blocks mit einer vorgegaukelten Mehrparteienherrschaft handelte es sich bei der Staatsform der DDR im Kern um eine Ein-Parteien-Herrschaft. Der allgemeine Sprachgebrauch verstand unter „der Partei" stets die SED. 158 Insoweit 158
M. Ahrends , Allseits gefestigt, Stichwörter zum Sprachgebrauch der DDR, S. 129.
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könnte in der indirekten Gewährleistung eines Mehrparteiensystems durch das Grundgesetz (Demokratieprinzip, Parteienfreiheit) eine grundsätzliche Antwort auf diesen Mißstand gesehen werden. In der Tat haben sich die 1949 gewählten Wege des Grundgesetzes insoweit bewährt, als — nicht zuletzt durch den Parteienbundesstaat — eine echte Monopolisierung der politischen Willensbildung durch eine Staatspartei in der Bundesrepublik Deutschland oder einen politischen Block verhindert werden konnte. Gleichwohl sollten die wichtigsten einschlägigen Positionen des Grundgesetzes fortentwickelt und verändert werden, weil wesentliche Fehlentwicklungen im Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland zu konstatieren sind. Die binnendemokratischen Strukturen sind faktisch zu schwach ausgebildet. Die Binnendemokratisierung der Parteien ist deshalb dringend (z. B. durch Mitgliederbefragung) zu stärken. Insbesondere dann, wenn die eigenen Belange der Parteien berührt sind (Parteienfinanzierung, Parteienstiftungen, Ämterpatronage, Altersversorgung der Funktionsträger), entsteht bisweilen der Eindruck, als sei die Bundesrepublik Deutschland längst zu einem „Ein-Parteien-Staat mit mehreren Parteien" geworden. Die weitgehend unkontrollierte Dominanz der Parteien bei der Staatsleitung hat die Intention des Art. 21 GG längst verlassen. Begrenzungsversuche des Bundesverfassungsgerichts in seiner Parteienfinanzierungsrechtsprechung 1 5 9 konnten den Machtausbau der Parteien nicht nachhaltig bremsen. Die Parteibuchherrschaft bei allen staatlichen Institutionen einschließlich der Gerichte (mit dem Bundesverfassungsgericht) nimmt immer groteskere Formen an. Eine grundsätzliche Kurskorrektur (z. B. durch Quoten für nicht parteigebundene Amtsträger auch auf der Führungsebene) erscheint daher außerordentlich dringlich, dürfte aber unter den gegebenen verfassungspolitischen Voraussetzungen nur sehr schwer erreichbar sein. Die gebotene verfassungsrechtliche Limitierung der Parteienmacht scheint jedenfalls in einem durch die Parteien monopolisierten Verfassungsreformprozeß ganz unwahrscheinlich. Die nur aus Parteienmitgliedern bestehende 64-köpfige Verfassungskommission war denkbar ungeeignet für derartige notwendige Zurückschneidungen des Parteiensystems und mußte insoweit voraussehbar versagen. f) Ausreisefreiheit Die (alter deutscher Verfassungstradition entsprechende 160) Gewährung der Ausreisefreiheit erscheint heute aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland 159 BVerfGE 85, 264 ff.; 84, 290 ff.; 73, 1 ff.; 73, 40. 160 Bereits zu Zeiten des Deutschen Bundes erkannten verschiedene Verfassungen die Ausreisefreiheit ausdrücklich an. Die damalige badische Verfassung inkorporierte das Gesetz über die Wegzugsfreiheit v. 14. Aug. 1817, andere Landesverfassungen, welche die Ausreisefreiheit normierten, waren: Würtemberg (§ 24, 32), Hessen-Darmstadt (§ 24), Coburg (§ 16), Kurhessen (§ 42), Sachsen (§ 29), Altenburg (§ 69) und Hannover (§41). Ausnahmen waren regelmäßig bestehende Verbindlichkeiten oder Militärpflichtigkeit; vgl. Zachariä, a. a. O., S. 461.
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als „Reiseweltmeister" unter allen Staaten nicht als ein vordringliches Regelungsproblem. Wesentliche Beschränkungen dieser elementaren Freiheit sind derzeit nahezu unvorstellbar. Möglicherweise wurde aus diesem Grund in der aktuellen Verfassungsdiskussion die Frage der Ausreisefreiheit bisher nicht aufgeworfen. Dies freilich zu Unrecht: Mit dem Argument fehlender Bedrohtheit könnten derzeit — zukunfts- und vergangenheitsvergessen zugleich — die meisten Grundrechte eliminiert werden. Der Hinweis auf die Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union relativiert zwar das Problem der Nichterwähnung der Ausreisefreiheit im Grundgesetz, erledigt dies aber nicht. Gerade die Bedeutung der Freiheit, beliebig ins Ausland reisen zu können, dürfte für die Vorgänge in der DDR im Jahr 1989 gar nicht hoch genug einzuschätzen sein. Daß die DDR ihre Bürger einsperrte, konnten die freiheitsliebenden und erlebnishungrigen Bürger ihrem Staat nicht verzeihen. Reisefreiheit war für die Bürgerrechtsbewegung der DDR eine zentrale Forderung, und im Westen galten Schießbefehl und Minenstreifen an der innerdeutschen Grenze als besonders verwerflich. Aus der Sicht der Erfahrungen in der ehemaligen DDR wäre die ausdrückliche Erwähnung der Ausreisefreiheit im Grundgesetz eine besonders markante Form der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung. Bei Schaffung des Grundgesetzes wurde die Normierung der Ausreisefreiheit erwogen und erst in der fünften Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates aus dem Grundrechtskatalog gestrichen. 161 Die Auswanderungsmöglichkeit galt dem Hauptausschuß als durch die Feststellung der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes über die „Ein- und Auswanderung" gesichelt. Es sollte jedoch vermieden werden, durch eine besondere Hervorhebung den arbeitsfähigen Menschen der durch den Krieg stark verminderten Altersklassen vom 20. bis 30. Lebensjahr und denjenigen, die sich den Verpflichtungen des Lastenausgleichs entziehen wollten, einen besonderen Anreiz zum Auswandern zu geben. Der Abg. Schmid (SPD) begründete die Streichung damit, daß man sich die Möglichkeit offenhalten wolle, das Vermögen eines jeden, der trotz seiner Verpflichtung auswanderte, durch Gesetz einer besonderen Besteuerung zu unterwerfen. Hier müsse das Freiheitsrecht des Menschen, sich den Ort zu wählen, wo es ihm am besten gehe, der Verpflichtung gegenüber der Schicksalsgemeinschaft weichen. 162 Das Problem sollte in der alten Bundesrepublik Deutschland nicht von theoretischer Bedeutung bleiben. Dem bekannten Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 6 3 lag ein Fall zugrunde, der heute kaum mehr politisch nachvollziehbar erscheint (Paßverweigerung wegen politischer Äußerungen) und der zeigt, daß auch die Verfassungsordnung des Grundgesetzes gegen zweifelhafte Beschrän161 V. 29.9.1948, JöR n. F. 1 (1951), 44. 162 JöR n.F. 1 (1951), 44. 163 BVerfGE 6, 32.
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kungen der Ausreisemöglichkeiten nicht hinreichend gewappnet ist. 1 6 4 Die in dieser Entscheidung verfochtene Ableitung der Ausreisefreiheit aus der nahezu unbegrenzt beschränkbaren allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG führt im Bedrohungsfall kaum zu einem effektiven Grundrechtsschutz. Deshalb erscheint es in einer Verfassungsgestaltung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung sinnvoll, die Ausreisefreiheit mit nur eng umgrenzten Beschränkungsmöglichkeiten in den Grundrechtskatalog aufzunehmen. Denkbar wäre etwa die Erweiterung von Art. 11 Abs. 1 GG, der dann lauten könnte: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet sowie Ausreisefreiheit". g) Indoktrinationsverbot Naheliegend erscheint es weiter, als Erfahrung aus der Praxis der Erziehung zum sozialistischen Menschen in der DDR die verfassungsrechtliche Sicherung von Ideologieferne in der Erziehung zu überdenken. Dabei könnten auch — spät genug — Lehren aus dem Erziehungswesen des Dritten Reiches gezogen werden. In der marxistisch-leninistischen Staatstheorie war die „ k u l t u r e l l - e r z i e h e r i s c h e Funktion" des Staates ein anerkanntes Staatsziel.165 Erstrebt war nach diesem Konzept die „Verbreitung der wissenschaftlichen sozialistischen Ideologie", sowie die „Überwindung kleinbürgerlicher Ansichten und Gewohnheiten". 166 Ziel dieser staatlichen Indoktrination war es, „den bürgerlichen Individualismus im Denken und Verhalten der Menschen zu überwinden". 167 Im Grundgesetz weist Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG dem Staat nur ein Wächteramt bei der elterlichen Erziehung zu, 1 6 8 bekennt sich aber grundsätzlich auch zur staatlichen Schulaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG). Die gebotene Ideologieferne der staatlichen Erziehung ist damit freilich noch nicht hinreichend gesichert und sollte deshalb als Indoktrinationsverbot in Art. 7 Abs. 1 GG aufgenommen werden. Ein solches Verbot der Indoktrination bedeutet nicht, daß staatliche Erziehung sich jeder Werthaftigkeit und ethischer Fundierung enthalten muß. Nahezu alle Landesverfassungen der Bundesrepublik Deutschland statuieren deshalb heute Bildungsziele wie Demokratie und Völkerverständigung oder den Ebd., S. 32 - 34. Elf es war Vorstandsmitglied der Zentrumspartei und Polizeipräsident, bis die Nationalsozialisten ihn 1933 entfernten. Er war nach dem Krieg zunächst Obergürgermeister der Stadt Mönchengladbach, dann Landtagsabgeordneter der CDU. Als er eine Verlängerung seines Reisepasses beantragte, wurde sie ihm versagt, weil er 1952 auf dem Wiener „Kongreß der Völker für den Frieden" eine „Gesamtdeutsche Erklärung" abgeben wollte. 165 G. Schüßler, in: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, 1980, S. 319 f. 166 Ebd. 167 So ausdrücklich Schüßler, a. a. O. S. 320. 168 E. M. v. Münch, Art. 6 GG, RN 40, in: von Münch / Kunig, GGK1,4. Aufl., 1992.
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Schutz der Umwelt. 1 6 9 Die Umsetzung dieser Ziele im Rahmen der Schulerziehung ist grundsätzlich auch legitim. Allerdings muß sich der Staat in seinem Erziehungssystem jeder bezwingenden Indoktrination enthalten und darf nicht unentrinnbar Anschauungen lenken. Durch eine entsprechende Ergänzung von Art. 7 Abs. 1 GG könnte jedenfalls ein Verbot der Indoktrination durch Erziehung als Zukunftsbewältigung aus der Erfahrung mit der Erziehungsdiktatur in der DDR aufgenommen werden. h) Vorrang
individueller
Verantwortlichkeit
Die DDR war geprägt durch staatlichen Interventionismus in nahezu allen Lebensbereichen. Es herrschte das Bedürfnis des Staates, alle Aufgaben an sich zu ziehen und eigenverantwortliche Bereiche weitgehend zu eliminieren. Von diesem Zustand ist freilich die Bundesrepublik Deutschland weit entfernt und gerade dies wird ihr nun — vor allem in den neuen Bundesländern — vorgeworfen. Gleichwohl könnte aus der Vergangenheitserfahrung für etwaige zukünftige Gefahren durch einen allzuständigen Staat vorgesorgt werden, der sich im übrigen so selbst bedroht. So hat etwa Roman Herzog jüngst eindringlich davor gewarnt, daß ein Staat, der sich alles zur Aufgabe macht oder alles zu Aufgabe machen läßt, eines Tages keine Zukunft mehr haben könnte. 170 Die Vergangenheitserfahrung mit der DDR zeigt das Extrem des fürsorglichen Staates. Den Bürgern der DDR wurden nicht selten die Entscheidungen über die Wahl des Arbeitsplatzes oder Studienfaches faktisch abgenommen, für Wohnung und Kinderbetreuung wurde grundsätzlich gesorgt. Dabei definierte die DDR freilich die Bedürfnisse ihrer Bürger häufig selbst. Aus ihrem Gesellschafts- und Staatsverständnis heraus kümmerte sich die DDR fürsorglich (und vielleicht auch mit Kontrollabsicht) um nahezu alles und reagierte geradezu gekränkt über jede zurückgewiesene staatliche Fürsorge. Die DDR nahm im Ergebnis ihren Bürgern viele Risiken, aber auch viele Freiheiten ab. Der Staat, der seine Grenzen nicht erkannte, war u. a. deshalb zum Scheitern verurteilt, weil er — durch die Ersetzung der individuellen Selbststeuerung durch Kollektivsteuerung — überfordert war und im übrigen auch die Menschen nicht so akzeptierte, wie sie nun einmal tatsächlich sind. Das geänderte Grundgesetz könnte der Erfahrung staatlicher Grenzlosigkeit der Interventionsmöglichkeiten dadurch Ausdruck verleihen, daß die individuelle Verantwortlichkeit für die Lebensgestaltung des einzelnen verfassungsrechtlich verankert wird.
169 Vgl. etwa Art. 28 Brandenb.Verf. 170 Herzog , Der überforderte Staat, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 15 ff., 26.
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i) Marktwirtschaft Bis heute wird das nahezu axiomatisch wirkende Wort von der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Neutralität des Grundgesetzes in der Rechtswissenschaft 171 und der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 172 tradiert, weshalb die Marktwirtschaft als solche verfassungsrechtlich nicht gesichert sei (wohl aber die wichtigen wirtschaftlichen Grundfreiheiten). Im Gegensatz zum Staatsvertrag über die Errichtung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen beiden deutschen Staaten173, der die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschaftsunion beschreibt, schweigt der Einigungsvertrag zur Wirtschaftsverfassung. Angesichts der bisher nach h. M. bestehenden wirtschaftsverfassungsrechtlichen Neutralität des Grundgesetzes liegt es nahe, die Erfahrung mit dem sozialistischen Wirtschaftssystems der DDR und dessen verheerenden wirtschaftlichen und ökologischen Folgen — und damit letztlich auch für die Freiheit der Bürger — auch verfassungsrechtlich ernst zu nehmen und für die Zukunftsbewältigung des vereinten Deutschland nutzbar zu machen. Das polemische und letzlich ungerechte Wort von dem „Beitritt zur D-Mark" hat als wahren Kern, daß viele Bürger der DDR u. a. auch vor der evident gescheiterten Planwirtschaft geflohen waren. Jedenfalls gehört die (modifizierte) marktwirtschaftliche Ordnung längst zu den tragenden Säulen des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Die Marktwirtschaft wird trotz mancher Schwächen als grundlegende Entscheidung für ein funktionstrennendes Gemeinwesen, als Gewährleistung von individuellen FreiheitsVoraussetzungen in der heutigen Mehrheit der Bevölkerung von einem ebenso großen Konsens getragen wie die Demokratie, der Rechtsstaat und der Sozialstaat. Vor diesem Erfahrungshorizont sollte das Grundgesetz Theorien von der angeblichen Zulässigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaftsordnung ohne den prinzipiellen ordnungsrechtlichen Rahmen der Verfassungsänderung 174 den Boden entziehen und die soziale, ökologische Marktwirtschaft verfassungsrechtlich als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung festschreiben. Genauer betrachtet, wird das Grundgesetz dabei freilich nur den grundsätzlichen rechtlichen Ordnungsrahmen gewährleisten können, in dem sich dann eine Marktwirtschaft entfalten kann. Es könnte auch daran gedacht werden, die in Art. 15 GG enthaltene Möglichkeit der Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln 171 Ausgehend von H. Krüger, DVB1. 1951, S. 361 ff. Vgl. aus dem jüngeren Schrifttum Stober, Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, 1989, S. 144 ff. 172 Seit BVerfGE 4, 7 ff. — Investitionshilfegesetz. 173 V. 18.5.1990. Vgl. insbesondere Abs. 3 der Präambel des Staatsvertrages, in der der Wille bekundet wird, die soziale Marktwirtschaft als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung einzuführen, die allerdings keinen Verfassungsrang besitzt. Vgl. auch die Normierung und Definition in Art. 1 Abs. 3 SV. 174 Vgl. frühzeitig z. B. Abendroth, Das Grundgesetz, 7. Aufl. 1978, S. 65 ff. 6 Bettermann - Seminar
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aus dem Grundgesetz zu streichen. Bekanntlich ist diese Vorschrift aus wirtschaftspolitischen Gründen, wohl aber auch wegen der Entschädigungsregelung stets bedeutungslos geblieben. Möglicherweise ist sie deshalb ohnehin obsolet. Politisch wird es freilich nicht leicht sein, diese Ikone sozialistischer Illusionen aus der Verfassung zu streichen. j) Umweltschutz Die in vielen Bereichen nur als verhängnisvoll zu bezeichnende Entwicklung der Umweltsituation in der DDR sollte als zusätzliches Argument für eine in der Bundesrepublik Deutschland seit langem diskutierte Staatszielbestimmung Umweltschutz dienen. Es wäre so eine wirklich gesamtdeutsche Verfassungsänderung. Das scheinbar so naheliegende Gegenargument, die DDR habe mit Art. 15 in ihrer Verfassung von 1968 eine solche Staatszielbestimmung zum Schutze der Natur ja bereits gehabt und trotzdem katastrophale Umweltbedingungen nicht verhindert, geht an der Sache vorbei, weil sie von einer unzulässigen Gleichsetzung des faktisch weitgehend normativ unverbindlichen DDR-Verfassungsrechts und des (auch für die Staatszielbestimmungen) verbindlichen und erzwingbaren Grundgesetzes ausgeht. Art. 15 der DDR-Verfassung ist nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen unzureichender Verbindlichkeit und vor allem fehlender Erzwingbarkeit des Verfassungsrechts im Staatsgefüge der DDR gescheitert. Insoweit ist grundsätzlich die von der Verfassungskommission — freilich nach quälend langer Diskussion — beschlossene Staatszielbestimmung Umweltschutz grundsätzlich zu begrüßen, auch wenn sie teilweise redaktionell mißglückt ist: Die dort vorgesehene Bindung der umweltrechtlichen Gesetzgebung ist wegen Art. 20 Abs. 3 GG überflüssig. Die Staatszielbestimmung Umweltschutz wird deutlich machen, daß die Bundesrepublik Deutschland künftig nicht nur ein Bundesstaat, eine Demokratie, ein Rechtsstaat und ein Sozialstaat sein wird, sondern auch ein Umweltstaat 175 .
V I I . Schluß W. Weber kam in seiner Göttinger Antrittsvorlesung im Jahre 1949 zu einer weitgehend skeptischen Beurteilung für das Aufarbeitungsmotiv im Grundgesetz. 1 7 6 Es sei bei der Schaffung des Grundgesetzes zu vordergründig gedacht worden und zu viel Schuld an dem deutschen Verhängnis auf die Weimarer 17
5 Zum Begriff „Umweltstaat" näher Kloepfer, Auf dem Weg zum Umweltstaat?, in: Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat, 1989, 39, 43 f. 176 w. Weber, „Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz", abgedr. in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 9 ff., 34.
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Verfassung abgewälzt worden. Die bloße Wahl einer Gegenposition zu denjenigen Stellen, an denen diese Verfassung einer konkreten geschichtlichen Belastung wirklich oder vermeintlich nicht standhielt, bedeute eine zu leichte Entsühnung. Zutreffend ist daran, daß nach geschichtlichen Brüchen wie 1945 und 1989 eine kursumsteuernde verfassungsrechtliche Reaktion die politische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht ersetzen kann. Immerhin kann die Verfassung einen solchen politischen Prozeß ermöglichen, anreizen, ihm Richtung geben und aus ihm Lehren ziehen. Die verfassungsrechtliche Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung bleibt deshalb Auftrag. Da bleibt freilich ganz am Schluß vielleicht noch ein besonders gewichtiger Einwand. Warum soll eigentlich die Mehrheit der Deutschen im Westen von den Erfahrungen einer Minderheit im Osten lernen, zumal 1990 die DDR durch ihre demokratisch gewählten Vertreter doch ihren Beitritt zum Grundgesetz erklärt hat? Daran ist gewiß richtig, daß nach dem Beitritt jedenfalls Verfassungsänderungen (aufgrund der Erfahrungen in der DDR) einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat bedürfen. Eine Mehrheit im Westen muß also erst noch von den Lehren aus 40 Jahren DDR überzeugt und gefunden werden. Gleichwohl sollte auch eine Mehrheit im Westen Lehren aus den Geschehnissen im Osten ziehen. Dies schon deshalb, weil die Bevölkerung im Osten wie im Westen keinesfalls totalitäre DDR-Verhältnisse im gesamtdeutschen Maßstab wünscht. Vor allem aber: Mit der Überwindung der Teilung Deutschlands ist die Unteilbarkeit der deutschen Geschichte das geistige Fundament, auf dem jedes Zusammenwachsen im wiedervereinten Deutschland bauen muß. So absurd es war, daß die DDR ihre geschichtliche Mitverantwortung für das NS-Unrechtsregime leugnete, so unhaltbar wäre es, wollten die Westdeutschen sich im vereinten Deutschland der geschichtlichen Mitverantwortung für das Geschehen in der DDR entziehen. Diese geschichtliche Verantwortung hat nichts mit persönlicher Schuld zu tun, die in der Tat nur individuell gesühnt werden kann. In einer Nation als einer in der Geschichte gewachsenen und eine Geschichte gestaltenden Gemeinschaft kann historische Verantwortung aber weder zeitlich noch räumlich segmentiert werden. Der Einigungsvertrag bedeutet für die Bundesrepublik Deutschland nicht nur einen Zuwachs an Raum und Bevölkerung. Es ist auch ein Zuwachs an Geschichte und an historischer Verantwortung. So wie die 1989 gemachte Erfahrung des unblutigen Abschütteins eines diktatorischen Regimes durch die Deutschen in der DDR die ganze deutsche Geschichte bereichert, so trägt die neue Bundesrepublik Deutschland eben auch — ob sie will oder nicht — die geschichtliche Mitverantwortung z. B. für das tödliche Grenzregime der DDR und deren umfassendes Bespitzelungssystem. Dies mag um so erstaunlicher sein, als die Regierungen der alten Bundesrepublik Deutschland die totalitären Herrschaftsformen der DDR einschließlich ihres Grenzregimes immer wieder kritisiert und politisch bekämpft haben. Gleichwohl: Die Nation ist eben auch eine historische Verantwortungsgemeinschaft. Im übrigen wurden die Regierun6*
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gen der alten Bundesrepublik Deutschland bekanntermaßen nicht müde, ihre jeweilige gesamtdeutsche Verantwortlichkeit zu betonen. Nicht zuletzt auch durch seine geschichtliche Mitverantwortung für das totalitäre Herrschaftsregime der DDR unterscheidet sich der neue gesamtdeutsche Staat von der alten Bonner Bundesrepublik. Weil aber die neue Bundesrepublik Deutschland gerade eine Wiederholung von jedweder totalitären Vergangenheit in Deutschland verhindern will, bleibt die Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung eine zentrale Aufgabe der Verfassungsgestaltung im vereinten Deutschland.
Verfassungskontinuität und Verfassungsreform im Zuge der Wiedervereinigung Von Hans-Jürgen Papier I. Vom Provisorium zur endgültigen Einheitsverfassung 1. Wege zur Einheit Das Grundgesetz ist mit der Einigung Deutschlands „zur endgültigen und legitimen gesamtdeutschen Verfassung" geworden. Es war die „einigende Verfassung" und ist zur „Einheitsverfassung" 1 geworden. Das Grundgesetz hat damit seinen Charakter als Provisorium, der ihm vor allem wegen des Art. 146 a. F. eigen war, verloren 2. Art. 146 a. F. lautete bekanntlich: „Das Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Wäre es nach dieser Vorschrift gegangen, wäre nicht das Grundgesetz die endgültige Einheitsverfassung geworden, sondern dies wäre dann eine das Grundgesetz ablösende Verfassung. Daß es nicht zu dieser Verfassungsablösung gekommen ist, beruhte zum einen darauf, daß das Grundgesetz selbst einen zweiten Weg der Herstellung der deutschen Einheit offerierte, nämlich den über den früheren Art. 23 GG, d. h. der Wiedervereinigung durch Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland und zum Grundgesetz. Es kam zum anderen die politische Entscheidung der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR hinzu, die jene durch Art. 23 GG begründete Option des Beitritts aufgriff. Nach dem grundgesetzlichen Regelungssystem (Art. 23, 146 a. F.) war es in erster Linie den Deutschen in der ehemaligen DDR überantwortet, darüber zu entscheiden, ob das Grundgesetz seine Geltung mit der Wiedervereinigung verlieren oder aber den Tag der Wiedervereinigung überdauern und zur endgültigen Einheitsverfassung Deutschlands werden würde. Die Deutschen in der ehemaligen DDR haben damit zugleich den in der ursprünglichen Formulierung der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck gebrachten Gedanken der „stellvertretenden Verfassungsgebung" 3 akzeptiert. Nach diesem ursprünglichen Präambeltext hatte 1 Vgl. Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 2. Aufl. 1993, S. 7. 2 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 67; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 23, Rdnr. 8. 3 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 130, 1993, S. 5.
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das „deutsche Volk" in den westdeutschen Ländern „auch für jene Deutschen gehandelt", „denen mitzuwirken versagt war", und es blieb „das gesamte deutsche Volk aufgefordert", „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Trotz der klaren, beitrittsbedingten Geltungskraft des Grundgesetzes im gesamten Deutschland ist immer wieder die Forderung erhoben worden, das Grundgesetz bedürfe als endgültige gesamtdeutsche (Einheits-) Verfassung der demokratischen Legitimation im Wege einer gesamtdeutschen Volksabstimmung4. Zu dieser Forderung hat wohl nicht zuletzt auch die sehr unklare und problematische Vorschrift des Art. 5 EV beigetragen 5, der die Empfehlung der beiden deutschen Regierungen beinhaltete, die gesetzgebenden Körperschaften sollten sich u. a. auch mit der Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen mit einer Volksabstimmung befassen. Eine Verfassung kann ihre demokratische Legitimation sicherlich durch einen Akt der unmittelbaren Volksgesetzgebung oder einen sonstigen Konstitutionsakt der direkten Demokratie, etwa durch Volksabstimmung, erhalten. Aber auch die Verfahren der repräsentativen oder mittelbaren Demokratie sind in der Lage, die notwendige demokratische Legitimation zu vermitteln 6 . Es bestreitet niemand ernsthaft die demokratische Legitimation des Grundgesetzes für die Bundesrepublik alt, obwohl auch hier ein Akt der Volksgesetzgebung bzw. der Volksabstimmung nicht gegeben war 7 . Die erste frei gewählte Volkskammer hatte die demokratische Legitimation für die Entscheidung über den Beitritt zum Grundgesetz 8. Entsprechendes gilt für den Deutschen Bundestag bei seiner Entscheidung, das Grundgesetz gemäß Art. 23 Satz 2 GG auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bzw. in den neuen Bundesländern in Kraft zu setzen9. Die Forderung nach einer gesamtdeutschen Volksabstimmung über das Grundgesetz als endgültige Einheitsverfassung kann also nur als politische Forderung verstanden und gewertet werden, die teilweise wohl auch und vor allem in der Erwartung erhoben worden ist, auf diesem Wege die Inhaltsfrage neu stellen und wesentliche strukturelle oder substantielle Änderungen der Verfassung durchsetzen zu können. Es kommt nicht von ungefähr, daß die Stimmen, die eine gesamtdeutsche Volksabstimmung 4 Vgl. Antrag der Fraktion der SPD, BT-Drucks. 12/415; Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 10 ff., 41; Preuß, in: Guggenberger / Preuß / Ulimann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland. Manifest — Text — Plädoyers, 1991, S. 4 ff.; Ulimann, ebenda, S. 18 ff.; Simon, in: Guggenberger / Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 139 ff.; Schneider, ebenda, S. 130 ff.; Mahrenholz, ebenda, S. 220 ff.; zum Abstimmungsgegenstand „Gesamtverfassung" siehe aber kritisch Lerche, Festschrift Redeker, 1993, S. 145, Fn. 36. 5 Vgl. Badura, Festschrift Lerche, 1993, S. 114 f. 6 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 6. v Vgl. Zippelius, BayVBl. 1992, 289, 290. s Vgl. Beschluß der Volkskammer vom 23.8.1990, GBl. DDR 1990 I 1324; siehe auch Zippelius, BayVBl. 1992, 289, 290. 9 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 68.
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fordern, immer mehr verstummen, seitdem sich die maßgeblichen politischen Kräfte in diesem Lande darauf verständigt haben, die von Art. 5 EV aufgegebene Verfassungsrevision nur maßvoll und punktuell, nicht aber i. S. einer Totalrevision und einer strukturellen Umgestaltung vorzunehmen 10. Diese Entwicklung war durch die Einsetzung einer Gemeinsamen Verfassungskommission gemäß den Beschlüssen von Bundestag11 und Bundesrat 12 vom 28.11.1991 bzw. 29.11.1991 vorgezeichnet worden. Denn mit der Konstituierung dieser Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat sind letztlich alle Vorstellungen der Einsetzung eines Verfassungsrates und einer von ihm einzuleitenden Verfassungsneugebung verworfen worden. Dies wurde deshalb möglich, weil sich bei den maßgeblichen politischen Kräften rechtzeitig die richtige Einsicht durchsetzte, daß das durch Stringenz, Knappheit, Justitiabilität und Normativität bewährte Grundgesetz nicht durch Akte der Verfassungslyrik und der justitiabilitätsfeindlichen Verfassungsüberfrachtung gefährdet werden dürfe 13 . 2. Einigungsbedingte Grundgesetzänderungen Es leuchtet ohne weiteres ein, daß mit der deutschen Einigung einige Grundgesetzänderungen unausweichlich wurden. Das gilt für die Art. 23 und 146 a. F. ebenso wie für die Präambel des Grundgesetzes. Diese Änderungen sind dann auch bereits im Einigungsvertrag (Art. 4 EV) vorgesehen 14. Auf die darin auch geregelte, äußerst problematische Neufassung des Art. 146 wird noch zurückzukommen sein. Neben diesen im Art. 4 EV vorgesehenen „beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes" spricht der Einigungsvertrag in seinem Art. 5 Empfehlungen für „künftige Verfassungsänderungen" aus: „Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen". Die Vorschrift nennt in diesem Zusammenhang insbesondere das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie die bereits erwähnte, etwas nebulös formulierte Frage der Anwendung des Art. 146 und in deren Rahmen einer Volksabstimmung. Die im Vollzug dieses „Auftrages" eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat hat sich in ihren Beratungen nicht auf diese im Einigungsvertrag hervorgehobenen io Vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000; weitergehend aber Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drucks. 12/563; s. a. Antrag der Fraktion der SPD, BT-Drucks. 12/415. n Vgl. BT-Drucks. 12/1590 und 12/1670. 12 Vgl. BR-Drucks. 637/92 13 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 22. 14 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 67.
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Beispielsfälle beschränkt, sondern hat — gemäß der ausdrücklichen Formulierung im Einigungsvertrag („insbesondere") — ein „Selbstbefassungsrecht" reklamiert bzw. in Anspruch genommen15. So ist insbesondere auch das Verhältnis des Grundgesetzes zur europäischen Einigung bzw. zur Europäischen Union behandelt worden. Die Ergebnisse dieser Beratungen sind in eine bereits in Kraft gesetzte Neufassung vor allem des Art. 23 GG eingeflossen. Darauf wird zurückzukommen sein. Auf der Grundlage von Anmeldungen aus den Fraktionen sind ferner folgende Themenkomplexe behandelt worden: Gesetzgebungskompetenzen und Gesetzgebungsverfahren im Bund-Länder-Verhältnis, Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, Staatsziele und Grundrechte (Umweltschutz, Minderheitenschutz, Schutz des Beschäftigungsstandes bzw. Recht auf Arbeit 16 , Schutz ausreichenden Wohnraums bzw. Recht auf Wohnung, Bildung und Kultur als Staatsaufgabe, soziale Marktwirtschaft als Staatsziel17, Veranwortung für ein solidarisches und friedliches Zusammenleben der Völker, Grundrecht auf Datenschutz bzw. informationelle Selbstbestimmung, paritätische Mitbestimmung und Arbeitskampfrecht, insbesondere Gewährleistung des Streikrechts bei Ausschluß des Aussperrungsrechts, Ergänzung der Gleichberechtigungsgarantie des Art. 3 Abs. 2 GG durch eine „Gleichstellungsgarantie", Schutz auch nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften, Einführung plebiszitärer Elemente (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksabstimmung), Änderungen des Parlamentsrechts (Untersuchungsausschüsse, Stellung der Opposition, Selbstauflösungsrecht des Bundestages, Verlängerung der Wahlperiode, Festsetzung der Abgeordnetendiäten), Verlängerung der Amtszeit des Bundespräsidenten auf sieben Jahre unter Ausschluß der Wiederwahl, allgemeines kommunales Ausländerwahlrecht, Fragen der internationalen Friedenssicherung und militärischen Verteidigung, Privatisierung von Luftverkehrsverwaltung, Bundesbahn und Bundespost, Änderungen im Verhältnis von Bundes- und Länderverwaltungen im Rahmen der Art. 83 ff. GG, Neugliederung des Bundesgebietes, insbesondere des Raumes Berlin-Brandenburg, Änderungen des Asylgrundrechts 18. Dieser sehr breit gefächerte Themenkatalog darf nun allerdings nicht zu dem Mißverständnis führen, als wäre in all diesen Bereichen eine Änderung des Grundgesetzes ernsthaft erwogen oder gar mit den vorgesehenen ZweitdrittelMehrheiten von der Verfassungskommission beschlossen worden. Ganz überwiegend setzte sich, jedenfalls bei der Mehrheit der Kommission, die Überzeugung durch, daß ein Änderungs- bzw. Reformbedarf nicht besteht oder daß jedenfalls 15 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 10; ders., Festschrift Lerche, 1993, S. 71 f.; vgl. auch E. Klein, DÖV 1991, 569; Menz, VB1BW 1991, 401; Ossenbühl, DVB1. 1992, 468. 16 Vgl. dazu Böckenförde / Ramm, in: Böckenförde / Jekewitz / Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, 1981, S. 7 ff., 17 ff.; Sterzel, ZRP 1993, 13, 16 f.; dagegen aber Zippelius, BayVBl. 1992, 289, 292. 17 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 25. 18 Vgl. Zusammenstellung in BT-Drucks. 12/6000, S. 136 ff.
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eine mit den notwendigen verfassungsändernden Mehrheiten durchsetzbare Novellierung ohnehin nicht in Betracht kommt 19 . Die mit den vorgesehenen qualifizierten Mehrheiten beschlossenen Änderungen des Grundgesetzes nehmen sich eher bescheiden aus, was von vielen sachkundigen Verfassungsrechtlern eher als ein Erfolg, von anderen — vornehmlich im allgemeinen publizistischen Spektrum anzusiedelnden Stimmen — als Zeichen eines prinzipiellen Mißerfolges der Reformarbeit geweitet wird. Die Änderungsbeschlüsse der Gemeinsamen Kommission, die inzwischen ihre Arbeit beendet hat, betreffen insbesondere folgende Bereiche: Grundgesetz und Europäische Union, Reform der föderalen Zuständigkeitsordnung sowie neue Staatszielbestimmungen.
II. Staatszielbestimmungen 1. Allgemeine Zurückhaltung Wenden wir uns zunächst den Staatszielbestimmungen zu. In diesem Bereich ist die Versuchung besonders groß gewesen, politische Wunschvorstellungen (Recht auf Arbeit, Wohnung, Kindergartenplatz, Bildung und Kultur 2 0 etc.) in Verfassungsrechtssätze zu gießen und mit der bewährten Kontinuität einer durch strikte und knappe Normativität gekennzeichneten Verfassung zu brechen 21. Die „Fortschrittlichkeit" solcher verfassungsrechtlichen Verankerungen erschöpfte sich weitgehend im Terminologischen und im Ausdruck einer spezifischen verfassungspolitischen Ästhetik — ohne eigentliche dogmatische Relevanz22. Immerhin, solche sozialstaatlich-leistungsrechtlichen Anreicherungen des Verfassungstextes können leicht zur Irreführung von Laien und juristischen Dilettanten führen, vor allem dann, wenn man in der praktischen Politik sachlich nicht mithalten kann 23 . In der Verfassungskommission haben sich keine qualifizierten Mehrheiten für solche Verfassungsaufblähungen gefunden, die grundgesetzliche Kontinuität konnte insoweit im wesentlichen gewahrt bleiben.
19 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 72 ff. 20 Vgl. zum Staatsziel „Kulturstaatlichkeit" Häberle, DÖV 1990, 358, 362; ders JöR n.F. 40, 291, 352 ff.; Schulze-Fielitz, ZRP 1991, 271 ff.; Geis, ZG 1992, 38 ff.; Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 25 f. 21 Vgl. Badura, Festschrift Lerche, 1993, S. 115 ff. 22 Vgl. Badura, Festschrift Lerche, 1993, S. 119; zu Handlungs- und Schutzpflichten des Gesetzgebers vgl. u. a. BVerfGE 56, 54; 77, 170, 214; 77, 381, 405; 79, 174, 202; 81, 242. 23 Vgl. dazu auch Ossenbühl, DVB1. 1992, 477; Merten, VerwArch 83, 283, 290 ff.; Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 74 f.; Badura, ebenda, S. 117 f.
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2. Staatsaufgabe „Umweltschutz" Eine Ausnahme ist im wesentlichen nur beim Umweltschutz gemacht worden, was im Grundsatz durchaus gebilligt werden kann. Der Staat der Neuzeit hat seit jeher und wesentlich seine Rechtfertigung in der Gewährleistung von Sicherheit gefunden. Sicherheit als Legitimationsprinzip des Staates hatte einst Hobbes für den absoluten Staat des 17. Jahrhunderts entworfen, dieses Legitimationsprinzip hat sich aber längst aus diesem ursprünglichen Bezugsfeld gelöst, ist durch neuartige Sicherheitsbedürfnisse ergänzt worden und auch für neue staatliche Strukturen relevant geblieben. Die Entwicklungen des modernen Verfassungsstaates lassen sich bei zugegebenermaßen etwas vergröbernder Betrachtung mit vier Stufen oder Ebenen umreißen 24: — Auf der ersten Stufe entwickelt sich der Staat als Macht- und Friedenseinheit, mit einem Gewaltmonopol und mit der Friedenspflicht seiner Bürger. — Die zweite Entwicklungsstufe der Sicherheitszwecke des Staates betrifft die Sicherheit des einzelnen gegenüber staatlichen Eingriffen, d. h. die Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte als Freiheitsrechte gegen den Staat, der von der staatlichen Schutzmacht zur Unterdrückungsmacht zu werden drohte. — Nach der Wandlung des absoluten Staates zum Rechtsstaat sieht sich dieser mit weiteren, neuartigen Sicherheitsaufgaben konfrontiert. Auf der dritten Stufe gilt es, der Furcht der Menschen vor den wirtschaftlichen und sozialen Risiken zu begegnen. Der moderne Staat nimmt auch dieses Verlangen nach sozialer Sicherheit auf, er wandelt sich vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat. — Seit einigen Jahren beobachten wir nun eine vierte Entwicklungsstufe der sicherheitsorientierten staatlichen Zweckordnung: Es geht um die Erhaltung und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Im Angesicht der Furcht vor ihrer irreversiblen Zerstörung nimmt sich der moderne Verfassungsstaat dieser Sicherheitsbelange genauso an wie er auf den vorgelagerten Stufen sich der anderen Sicherheitsprobleme gewidmet hatte. Kaum war ein Sicherheitsproblem verfassungsrechtlich verarbeitet, trat ein neues hervor. Die neueren Sicherheitsprobleme sind meist subtiler als die der vorausgegangenen Stufen; die Sicherheitszwecke des Staates erfahren möglicherweise eine Steigerung im Grad ihrer Komplexität, sie lösen aber keinesfalls einander ab. Die „höheren" Stufen staatlicher Sicherheitszwecke lassen mit anderen Worten die „niederen" nicht obsolet werden 25 .
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Vgl. auch Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin e. V., Heft 79, 1983, S. 17 ff., der allerdings nur die ersten drei Stufen anspricht. 25 Vgl. auch Isensee, aaO.; Papier, Für einen freiheitlichen Staat — Handlungsfähigkeit und Sicherheit, in: Göhner (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung, 1993, S. 175 ff.
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3. Neue Staatszielbestimmung Anknüpfend an diese Legitimationsebenen oder -stufen des modernen Verfassungsstaates, bei denen der Umweltschutz als „vierte Sicherungsebene" angesprochen worden ist, ist eine ausdrückliche Verankerung einer Staatszielbestimmung „Umweltschutz" im Grundgesetz nur folgerichtig 26 . Die Parallelität zum sozialen Sicherheitsziel und seiner ausdrücklichen Verankerung im grundgesetzlichen Sozialstaatprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) ist evident. Nach langem Ringen um die angemessene Formulierung der Staatszielbestimmung27 Umweltschutz hat in der Gemeinsamen Verfassungskommission folgende Formulierung eines neuen Art. 20 a GG die qualifizierte Mehrheit gefunden: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung."28 Ich möchte diese Klausel im vorliegenden Zusammenhang nicht werten, es soll vielmehr der Versuch unternommen werden, sie zu interpretieren. Vollziehende und rechtsprechende Gewalt schützen die natürlichen Lebensgrundlagen „nach Maßgabe von Gesetz und Recht". Damit ist wohl der lange Zeit heftig umstrittene gesetzgeberische Konkretisierungsvorbehalt in die grundgesetzliche Staatszielbestimmung aufgenommen worden. Dies ist aus Gründen der Klarstellung und zur Vermeidung von Fehlentwicklungen auf der administrativen und vor allem auch auf der judikativen Ebene zu begrüßen 29. Denn staatlicher Schutz der Umwelt kann auch nach einer grundgesetzlichen Fundierung nicht auf das Erfordernis eines verhältnismäßigen Schutzgüter- und Interessenausgleichs verzichten. Allzu komplex und unvorhersehbar sind die möglichen Zielkonflikte, eine absolute und einseitige Priorität zugunsten des Umweltschutzes kann es nicht geben30. Es wird nur dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip gerecht, wenn die notwendigen ausgewogenen Konfliktlösungen der demokratischen Gesetzgebung und nicht anderen Staatsgewalten überantwortet werden 31 . Der Gesetzgeber seinerseits ist nach der gefundenen Formulierung der Staatszielbestimmung gleichfalls auf den Umweltschutz verpflichtet, allerdings „im 26 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 78. 27 Teilweise ist auch die Forderung nach einem „Umweltgrundrecht" erhoben worden, vgl. Antrag der Abg. Dr. Fleischer u. a. und Fraktion Die Grünen, Bayerischer Landtag, Drucks. 12 / 7608; Badura, Festschrift Lerche, 1993, S. 123, weist in diesem Zusammenhang auf die Bezüge zum Partizipationsgedanken hin. 28 Vgl. BT-Drucks. 12 / 6000, S. 15; vgl. dazu Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz im Grundgesetz, 1990; Sommermann, DVB1. 1991, 34 ff.; H. H. Klein, DVB1. 1991, 729 ff.; Graf Vitzthum, VB1BW 1991, 406 ff.; Scholz, ZFA 1991, 688 f. 29 Darauf weist auch Badura, Festschrift Lerche, 1993, S. 117 f., hin. 30 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 27. 31 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 79; ders., ZFA 1991, 689.
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Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung". Soll diese Klausel wenigstens ein wenig mehr bedeuten als eine schlichte Tautologie, dann wird man ihr im Anschluß an Rupert Scholz, der als ihr geistiger Vater bezeichnet werden kann, zu entnehmen haben, daß damit die notwendigen anthropozentrischen Belange (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie die stets erforderlichen Abwägungen mit anderen, gleichfalls verfassungsrechtlich legitimierten Schutzgütern gewährleistet sein sollen 32 . Im Rahmen der „verfassungsmäßigen Ordnung" wären ferner die wirtschaftlichen Grundrechte, das Sozialstaatsprinzip sowie das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Abwägungsdirektiven miteingeschlossen. Gleiches gälte für den Primat der gesetzgeberischen Regelung und Konkretisierung, aber das wird ja nun ohnehin durch den gleichfalls formulierten Gesetzesvorbehalt ausdrücklich hervorgehoben. Daher sei die Frage gestattet, was jener Hinweis auf die verfassungsmäßige Ordnung bei gleichzeitiger Verankerung eines gesetzgeberischen Konkretisierungsvorbehaltes eigentlich noch soll.
I I I . Föderale Ordnung 1. Änderung der „Bedürfnisklausel" Einen breiten Raum in der Diskussion der Grundgesetzreform nahm die Ordnung der bundesstaatlichen Kompetenzabgrenzung, insbesondere im Bereich der Gesetzgebung ein. Hier stand vor allem das an sich berechtigte Klagen der Länder wegen des Verlustes substantieller Gesetzgebungshoheit zur Debatte, der im auffälligen Widerspruch zur Grundsatznorm des Art. 70 GG steht, wonach grundsätzlich die Länder das Recht zur Gesetzgebung haben sollen 33 . Die Verfassungskommission will dieser Entwicklung zur Gesetzgebungskonzentration beim Bund insbesondere durch eine Reformierung des Art. 72 Abs. 2 GG gegensteuern34. Nach dieser Vorschrift hat der Bund das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung sowie zur Rahmengesetzgebung nur, wenn und soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht. Diese Bedürfnisklausel hat in der Vergangenheit in keinster Weise vermocht, den bundesgesetzlichen Regelungsdrang zu bremsen. Dies beruhte nicht zuletzt darauf, daß das Bundesverfassungsgericht schon recht frühzeitig in dieser Bedürfnisklausel eine reine politische Ermessensklausel zugunsten des Bundesgesetzgebers gesehen hat, insoweit also seine Jurisdiktion verneint und eine richterliche Enthaltsamkeit an den Tag gelegt hat 35 . Die Gemeinsame Verfassungskommission schlägt nunmehr eine geänderte Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG folgenden Inhalts vor:
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Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 27 f. 33 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 17. 34 Vgl. zuvor schon die Reformvorschläge in BR-Drucks. 360 / 92. 35 Vgl. BVerfGE 2, 213, 224: 4, 115, 127; 10, 234, 245; 33, 224, 229.
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„Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht." 36 Durch das Wort „erforderlich" sollen die Anforderungen an die bundesgesetzliche Regelung verschärft werden 37 . Dies ist im Zusammenhang mit der gleichfalls vorgeschlagenen Ergänzung des Art. 93 Abs. 1 um die Nr. 2 a zu sehen: Nach diesem Ergänzungsvorschlag soll das Bundesverfassungsgericht auch entscheiden „bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes." 38 Damit soll neben der sachlichen Verschärfung der Bedürfnisklausel zugleich deren volle Justitiabilität zum Ausdruck gebracht werden. Dieses eben angesprochene Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wäre eine durchaus neuartige verfahrensrechtliche Gestaltung. Mit ihm würde erstmalig ein Antragsrecht für ein bundesverfassungsgerichtliches Verfahren auch zugunsten der Volksvertretungen der Länder eingefühlt werden. In der Sache läge das Verfahren zwischen einer abstrakten Normenkontrolle, dem Organstreit und dem Bund-Länder-Streitverfahren 39.
2. Änderungen des Kompetenzkatalogs Auch der Kompetenzkatalog des Art. 74 soll nach den Vorstellungen der Gemeinsamen Verfassungskommission Änderungen erfahren. So soll beispielsweise die Nr. 18 in der Weise umgestaltet werden, daß das Recht der Erschließungsbeiträge aus dem Kompetenzkatalog der konkurrierenden Gesetzgebung herausfiele 40 und der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder überantwortet würde. Auf der anderen Seite soll der Kompetenzkatalog zugunsten des Bundes im Art. 74 um die „Staatshaftung" erweitert werden (neue Ziffer 25 mit der Maßgabe, daß Gesetze zur Staatshaftung der Zustimmung des Bundesrates bedürfen) 41 . 3. Rahmengesetzgebung Die Bundeskompetenz zur Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG soll nach den Vorstellungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zu einer echten 36 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 16, 33 f. 37 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 18. 38 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 17, 36. 39 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 18. 40 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 16, 34. 41 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 16, 34; vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 19 f.
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Richtliniengesetzgebung umgestaltet werden 42 . Nach dem vorgeschlagenen Art. 75 Abs. 2 dürfen Rahmen Vorschriften nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten43. An die Ausgestaltung als Richtliniengesetzgebung konsequent anknüpfend sieht dann der vorgeschlagene Abs. 3 des Art. 75 vor, daß die Länder, wenn der Bund Rahmenvorschriften erlassen hat, verpflichtet sind, innerhalb einer durch das Gesetz bestimmten angemessenen Frist die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen 44.
4. Finanzverfassung Es war zeitweilig erwogen worden, auch die grundgesetzliche Finanzverfassung in die Reformarbeiten miteinzubeziehen45. Von diesem „mörderischen Unterfangen" hat die Verfassungskommission aber ersichtlich Abstand genommen und keine diesbezüglichen Änderungsbeschlüsse gefaßt 46.
IV. Europäische Einigung 1. Art. 23 n. F. GG Ein zentraler Themenkomplex im Rahmen der Verfassungsdiskussion war allerdings nicht durch die deutsche Einigung veranlaßt, sondern durch den — nicht zuletzt auf den Maastricht-Vertrag zurückzuführenden — fortschreitenden europäischen Einigungsprozeß. Hier ist bereits eine Verfassungsnovellierung mit der Schaffung des Art. 23 n. F. vorgenommen worden 47 . Mit diesem neuen Art. 23 haben zum einen die Länder durchgesetzt, daß sie sowohl über den Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundesrates bei weiteren Übertragungen von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft als auch bei den Zustimmungsakten der Bundesregierung im Rahmen der Setzung sekundären Gemeinschaftsrechts beteiligt sind. Insoweit ist also auch der Art. 23 n. F. eine Reaktion auf den in den letzten Jahren zu verzeichnenden zunehmenden Kompetenzverlust der Bundesländer. Zum anderen waren Zweifel aufgekommen, ob die Europäische Union noch als eine zwischenstaatliche Einrichtung i. S. des Art. 24 GG angesehen werden kann, 42
Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung. 1993, S. 18. « Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 16 f., 36. 44 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 16 f., 36. 4 5 Vgl. Selmer / Kirchhof\ VVDStRL 51 (1992); Wieland, DVB1. 1992, 1181. 46 Vgl. BT-Drucks. 12 / 6000, S. 114 f.; vgl. dazu auch Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 20; ders., Festschrift Lerche, 1993, S. 77; zur Übergangsregelung des Art. 7 Einigungsvertrag Fiedler, DVB1. 1990, 1263; Schmidt-Bleibtreu, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Band I, 1991, S. 161 ff.; Engel, ebenda, S. 189 ff.; Wendt, ebenda, S. 213 ff. 47 BGBl. 1992 I 2086; vgl. dazu Scholz, NJW 1992, 2593; Classen, ZRP 1993, 57.
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der bislang die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften darstellte 48. Es setzte sich die Auffassung durch, daß die verfassungsrechtliche Grundlage im Art. 24 dem dynamischen Charakter der europäischen Einigung auf Dauer nicht genügen und in jedem Fall den Übergang zu einem europäischen Bundesstaat nicht tragen könnte 49 . Im einzelnen sieht der Art. 23 Abs. 1 n. F. eine Staatszielbestimmung eines vereinten Europa sowie eine sog. „Struktursicherungsklausel" vor, nach der die Europäische Union demokratischen, rechtstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist sowie einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten muß 50 . In seinen Sätzen 2 und 3 legt der Art. 23 Abs. 1 zudem fest, daß nicht nur die mit der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union verbundenen, sondern auch alle künftigen hoheitsrechtlichen Übertragungen der verfassungsändernden Mehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG bedürfen und — insoweit übernimmt der Verfassungstext die bisherige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 24 5 1 — den durch Art. 79 Abs. 3 GG, die sog. Ewigkeitsgarantie, geschützten Kernbestand des Grundgesetzes nicht tangieren dürfen. Auch das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag sowie spätere weitergehende Integrationsakte müssen also diese äußerste Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG wahren 52 . 2. Grenzen der Hoheitsübertragung Dazu gehören das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Volkssouveränität ebenso wie die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) 5 3 . Ein Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu einem echten europäischen Bundesstaat dürfte diese Grenzen überschreiten. Denn die Bundesrepublik verlöre als Glied eines europäischen Bundesstaates die von Art. 20 Abs. 1 GG garantierte souveräne Staatlichkeit, auch ginge dann die Staatsgewalt in Deutschland nicht mehr ausschließlich vom deutschen Volke aus (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG). Einen solchen Beitritt zu einem echten europäischen Bundesstaat 48 Vgl. Randelzhof er, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 I, Rdnr. 43 ff.; BVerfGE 37, 271, 278; siehe auch die Stellungnahmen von Randelzhofer und Tomuschat bei der 1. öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission zu „Grundgesetz und Europa" vom 22.5.1992, S. 13 Yf., 21 f. 49 Vgl. Fischer, ZParl 1993, 32, 36; Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 76; von Simson / Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, 1992. so Vgl. Scholz, NJW 1992, 2593, 2596; Fischer, ZParl 1993, 32, 37. 51 Vgl. u. a. BVerfGE 37, 271, 278 f.; 52, 202; 73, 340. 52 Vgl. BVerfG, Urt. vom 12.10.1993, NJW 1993, 3047, 3050; siehe auch Lerche, Festschrift Redeker, 1993, S. 133 ff. 53 Vgl. BVerfG, Urt. vom 12.10.1993, NJW 1993, 3047, 3052
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kann danach auch nach der Schaffung des Art. 23 n. F. nicht der verfassungsändernde Gesetzgeber, sondern nur die verfassungsgebende Gewalt beschließen54. Es bliebe also nur der Weg des Art. 146 n. F. Diese Feststellung darf allerdings nicht zu dem Mißverständnis führen, damit sei bereits das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag verfassungswidrig. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können, ist dem Bundesverfassungsgericht darin zuzustimmen, daß mit den Regelungen des Maastricht-Vertrages die Schwelle der Konstituierung eines europäischen Bundesstaates und des Verlustes der souveränen Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik noch nicht überschritten wird 5 5 . Es mag allerdings sein, daß der pouvoir constitué des Grundgesetzes mit dem Maastricht-Vertrag seinen Gestaltungsspielraum in bezug auf die Integration Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft letztlich ausgeschöpft hat und daß jeder weitere substantielle Integrationsschritt die der verfassungsändernden Gewalt gesetzten Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG überschreiten würde 56 . Solche Schritte könnten dann nur durch Akte der verfassungsgebenden Gewalt getätigt werden. 3. Mitwirkung der Bundesländer Durch die im Art. 23 n. F. gleichfalls vorgesehenen Mitwirkungsrechte der Länder bei der Willensbildung auf Gemeinschaftsebene haben sich die Länder ein kräftiges Stück am Kuchen der gesamtstaatlichen Verantwortung herausgeschnitten57. Die dort getroffenen Regelungen gehen m. E. in sehr problematischer Weise zu Lasten der gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes, dies wird besonders augenfällig durch die Regelung des Abs. 6, der nicht mehr die interne Willensbildung, sondern die Außenvertretung der Bundesrepublik Deutschland auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene betrifft. Danach soll in bestimmten Fällen ein vom Bundesrat benannter Vertreter der Länder die Rechte wahrnehmen können, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedsstaat der Europäischen Union zustehen. Damit werden die innerstaatlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß in Angelegenheiten der Europäischen Union, die die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder betreffen, ein Landesminister die Bundesrepublik Deutschland wirksam vertreten kann.
54 Vgl. dazu P. M. Huber, Maastricht — ein Staatsstreich?, 1993, S. 49; Seidel, EuR 27 (1992), 125; Rupp, ZRP 1993, 211. 55 Vgl. BVerfG, Urt. vom 12.10.1993, NJW 1993, 3047, 3052. 56 In diesem Sinne P. M. Huber, Maastricht — ein Staatsstreich?, 1993, S. 48 f. 57 Vgl. Rudolf, Festschrift Partsch, 1989, S. 357; ders., Festschrift Dürig, 1990, S. 145; Langer, DÖV 1991, 823; Scholz, NJW 1992, 2593; Schweitzer, BayVBl. 1992, 609; Zuleeg, DVB1. 1992, 1329; Schink, DÖV 1992, 385; Brenner, DÖV 1992, 522; Fischer, ZParl 1993,32,42 ff.; Badura, Die Verfassung des Bundesstaates Deutschland in Europa, 1993.
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V. Neue Verfassung — zu Art. 146 n. F. Kann eine europäische Gesamtstaatlichkeit nicht mehr auf der Grundlage des Grundgesetzes, d. h. unter Wahrung der Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG, konstituiert werden, so fällt der Blick sofort auf den Art. 146 n. F. 5 8 . Diese ausgesprochen mißglückte Vorschrift lautet: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Diese Vorschrift bringt m. E. nicht mehr als eine schlichte Banalität zum Ausdruck: Sie besagt nur, daß die verfassungsgebende Gewalt jederzeit tätig werden kann, sie schickt sich also an, das ohnehin Legitime zu legalisieren. Auch wenn es einem schwer fällt, eine Rechtsnorm als inhaltslos zu bezeichnen, so kann dem Art. 146 n. F. dennoch kein wirklicher, konstitutiver Regelungsgehalt entnommen werden 59 . Ihm ist insbesondere nicht die Verpflichtung des Volkes bzw. des Staates oder seiner Organe zu entnehmen, nach der Herstellung der Einheit Deutschlands eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu beschließen60. Eine solche Interpretation übersähe die Bedeutung des tatsächlich eingeschlagenen Weges der Einigung über Art. 23 a. F., so daß es dabei bleiben muß, daß Art. 146 n. F. nichts anderes darstellt als eine Art lehrbuchhafte Rezeption der allgemein anerkannten These der Staatslehre, wonach die Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt stets möglich und legitim ist 61 . Diese verfassungsgebende Gewalt unterliegt auch nicht den Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG 6 2 .
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Vgl. zur verfassungsrechtlichen Einordnung des Art. 146 GG n. F.: Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 68 f.; Badura, ebenda, S. 114; Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 2. Aufl. 1993, S. 14 ff.; Röhn, ZRP 1993, 84; Isensee, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Band 1,1991, S. 63, 83 ff.; Würtenberger, ebenda, S. 95 ff.; Randelzhof er, ebenda, S. 141,151 if.; Bartlsperger,DVBL 1990,1298\Roellekke, NJW 1991, 2443; Huba, Staat 1990, 372; E. Klein, DÖV 1991, 569, 578; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 146, Rdnr. 9 ff. 59 Vgl. auch Lerche, Festschrift Redeker, 1993, S. 145; Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 69. 60 Vgl. von Mangoldt / Klein / von Campenhausen, GG, 3. Aufl. 14. Band, 1991, Art. 146, Rdnr. 25; Roellecke, NJW 1991, 2441, 2443 f.; Isensee, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Band I, 1991, S. 148 ff.; Würtenberger, ebenda, S. 103 ff.; Randelzhofer, ebenda, S. 148 ff,; Kirchhof, (Fn. 58), S. 13 ff.: Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 69 f., spricht von einer lediglich „deklaratorisch-demoskopischen Bedeutung" einer solchen Volksabstimmung. 61 Vgl. statt aller Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl. 1991, § 9 III 2. 62 Vgl. auch Randelzhofer, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Band I, 1991, S. 148 ff.; anders aber Scholz, Maunz/Dürig, GG, Art. 146, Rdnr. 23; Degenhart, Staatsrecht I, 8. Aufl. 1992, Rdnr. 25; Kirn, in: von Münch (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 1983, Art. 146 (a. F.), Rdnr. 7; Kirchhof, (Fn. 58), S. 15. 7 Bettermann - Seminar
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VI. Einführung von Plebisziten In einer ganz zentralen Frage ist die Kontinuität der verfassungsrechtlichen Grundstrukturen besonders gefährdet gewesen, die Gemeinsame Verfassungskommission konnte sie aber letztlich auch insoweit bewahren 63. Es geht um die Einführung plebiszitärer Verfahren. In Zeiten der vielbeklagten Politik- und Parteienverdrossenheit der Bürger sehen manche in dem verstärkten Einsatz plebiszitärer Elemente den geeigneten Ausweg, wollen so mehr Demokratie und mehr Bürgerbeteiligung bewirken 64 . Das Grundgesetz selbst stellt fast ausnahmslos auf die Entscheidungsmechanismen einer mittelbaren und repräsentativen Demokratie ab — auch dies eine deutliche Reaktion auf Erfahrungen aus der Weimarer Zeit. Nach den Beschlüssen der Gemeinsamen Verfassungskommission soll sich daran auch nichts ändern, obschon in den Landesverfassungen, gerade auch der neuen Bundesländer, Plebiszite durchaus vorgesehen sind 65 . Die Gemeinsame Verfassungskommission tat recht daran, hier auf Bewahrung und Kontinuität des Grundgesetzes zu setzen und allen dem Zeitgeist entstammenden Versuchungen eines kräftigen Schrittes hin zur plebiszitären Demokratie zu entsagen. Denn jedenfalls auf der Bundesebene stehen regelmäßig nicht einfachstrukturierte Entscheidungsabläufe und -inhalte zur Diskussion, die nach dem jedem Referendum eigenen Ja / Nein-Schema abgewickelt werden könnten 66 . Überregionale, ja teilweise überstaatliche und internationale Bedeutung, Komplexität der Sachverhalte und Interessenlagen erfordern eine eher rationale und emotionsunanfällige, vielfach nur im politischen Kompromiß zu erzielende Entscheidung, zu der letztlich allein die Mechanismen der indirekten und repräsentativen Demokratie in der Lage sind 67 . Es kommt hinzu, daß nur die repräsentative und parlamentarische Demokratie die dem Grundgesetz eigene föderative Balance sichern kann. Nur in den parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren ist die Mitwirkung der Länder über die Einschaltung des Bundesrates gewährleistet. Bei Volksbegehren und Volksentscheiden wären diese föderativen Gewaltenteilungsstrukturen überspielt 68. 63 Vgl. BT-Drucksache 12/6000, S. 83 ff. 64 Vgl. aus der Diskussion Bleckmann, JZ 1978,217; Pestalozza, Der Popularvorbehalt der Verfassung, 1981; Ebsen, AöR 110 (1985), 2; Krause, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 39; von Danwitz, DÖV 1992, 601; Degenhart, Staat 1992, 77; siehe auch E. Klein und Schmidt-Jortzig, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Thema Bürgerbeteiligung / Plebiszite am 17.6.1992, Sten.Ber., S. 13 ff., 22, 45 ff. 65 Vgl. Degenhart, Staat 1992, 77 ff.; schon in den meisten Verfassungen der alten Länder finden sich plebiszitäre Elemente, z. B. in Art. 2, 71, 72, 74 BayVerf, Art. 25, 43,60,64 BadWüVerf, Art. 2,68,69,90 NRWVerf.; die Verfassungen der neuen Länder enthalten durchweg Regelungen zu Plebisziten, vgl. z. B. Art. 2, 22, 75 ff. BbgVerf, Art. 3, 70 ff. SächsVerf. 66 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 79. 67 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 30. 68 Vgl. Scholz, (Fn. 67), S. 30; ders. Festschrift Lerche, 1993, S. 79 f.
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Schließlich ist es eine Illusion zu glauben, Machtusurpationen der politischen Parteien bei gleichzeitiger Parteienverdrossenheit der Bevölkerung über das Plebiszit erfolgreich begegnen zu können 69 . Selbstverständlich wären die politischen Parteien die ersten, die sich dieser Instrumente einer politisch-irrationalen Stimmungsdemokratie bedienen würden, ja um ihres eigenen Überlebens willen bedienen müßten 70 . Der Weg in die emotionsanfällige Stimmungsdemokratie würde die innere Konsolidierung der politischen Parteien, ihre Glaubwürdigkeit und ihre Fähigkeit zur Ausgleichung, Bindung und Integration, die zur Gesundung der modernen Parteiendemokratie unerläßlich sind, eher schwächen denn stärken. Die Instrumente der plebiszitären Demokratie können also keine Stärkung und Stabilisierung der Demokratie, sondern eher das Gegenteil bewirken 71 .
Schlußbemerkung Das Grundgesetz ist in einer Zeit verfaßt und verabschiedet worden, als sich dieses Land in tiefster wirtschaftlicher Not befand. Es war aber auch eine Zeit, als die Verbändeherrschaft und der Gruppenegoismus noch längst nicht so ausgeprägt waren wie heute. Der Egoismus und das Denken in Ansprüchen gegenüber dem Staat und anderen waren noch nicht zur „Ersatzreligion" der Bundesbürger aufgestiegen. In einer solchen Zeit bestand verständlicherweise wenig Neigung zur Formulierung von Phrasen, Zielen und Prophezeiungen. Das Grundgesetz zeichnet sich demgemäß durch seine Begrenzung auf das Wesentliche, auf das wirklich Durchsetzbare und Justitiable aus 72 . Es wird ferner charakterisiert durch seine Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen, wozu auch die wiederholt hervorgehobene wirtschaftspolitische Neutralität gehört 73 . Heute haben wir andere Zeiten. Der Hang zur Verfassungslyrik hat wieder zugenommen, was insbesondere auch in den Formulierungen einiger Landesverfassungen in den neuen Bundesländern deutlich wird 7 4 . Dies kann im übrigen nicht mit einer Unerfahrenheit der Ostdeutschen in Fragen der Verfassungsdogmatik und der Verfassungsrealisation erklärt werden, denn diese Entwicklungen sind nicht unmaßgeblich von sog. westlichen Beratern gefördert worden. Angesichts dieser Umstände kann es m. E. nur als Glücksfall bezeichnet werden, daß sich in der Gemeinsamen Verfassungskommission keine qualifizierten Mehrheiten für einen Bruch mit der Kontinuität der grundgesetzlichen Grundstrukturen haben finden 69 Vgl. Scholz, (Fn. 67), S. 31. 70 Vgl. Badura, Festschrift Lerche, 1993, S. 121; Bockenförde, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 30, Rdnr. 7; Zippelius, BayVBl. 1992, 289, 294, warnt ferner vor einer „Telekratie" der Medien. 71 Vgl. Scholz, (Fn. 67), S. 32. 72 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 72 ff. 73 BVerfGE 4, 7, 17 f.; 12, 341, 347; 14, 263, 275; 50, 290, 337 f. 74 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 74 f. 7*
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können 75 , wofür die Verfassungskommission im übrigen von manchen Verfassungsromantikern und Publizisten arg beschimpft worden ist. Ein Weniger an Komplettierung, Reformierung und Verfassungsüberfrachtung ist aber allemal ein Mehr.
75 Vgl. Scholz, Festschrift Lerche, 1993, S. 74 f.; Lerche, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Verfassungsdiskussion in Deutschland, 1992, S. 19, warnt davor, die Verfassung „als eine Art Gesamtwerte-Register, als Groß-Bilderbuch, als Gesamtgemälde des gegenwärtig erreichten Sozial- und Kulturstandards" zu verstehen.
Verfassungsprinzipien im Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten Von Wassilios Skouris
I. Einleitung 1. Die Frage nach einer Verfassung für Europa wird in Verbindung mit der Europäischen Gemeinschaft oft gestellt und ausführlich behandelt. Es ist eine sehr verbreitete Meinung, daß die Gemeinschaftsverträge einschließlich Präambel, Anhängen, im gegenseitigen Einvernehmen der Mitgliedstaaten beigefügten Protokollen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen die Verfassung der Gemeinschaft bilden 1 . Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die vertragliche Natur der Verfassung, die einer langen Tradition entspricht und dem Rechtsgedanken der vertraglichen Legitimation öffentlicher Gewalt im Sinne von J. J. Rousseau entspringt 2. Diese Frage hat erwartungsgemäß nach dem Abschluß des Vertrages über die Europäische Union neue Impulse erhalten und an Aktualität gewonnen. Die Verfassung für die Europäische Union mag zwar 1 Zu erwähnen wäre zuerst das Gutachten des Europäischen Gerichtshofes zum EWRVertrag, Gutachten 1 / 1991, EuR 1992, 163 ff. Aus der umfangreichen Literatur vgl. Friauf Karl Heinrich / Scholz, Rupert, Europarecht und Grundgesetz, 1990; Fr owein, Jochen Abr., Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, EuR Beiheft 1 / 1993,63 ff.; Hahn, Hans Hugo, Der Vertrag von Maastricht als völkerrechtliche Übereinkunft und Verfassung, 1993; Hallstein, Walter, Europäische Integration als Verfassungsproblem (1958), in: Europäische Reden, 1979, 70 ff.; Hartley, Trevor C., Federalism, Courts and Legal Systems: The Emerging Constitution of the European Community, The American Journal of Comparative Law 34 (1986), 229 ff.; Luchaire, Français, L'Union européenne et la Constitution, RDP 1992, 589 ff.; Mancini, Federico, The Making of a Constitution for Europe, CMLR 29 (1989), 595 ff.; Müller-Graff, PeterChristian, Die Verfassungsziele der EG, in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EGWirtschaftsrechts, 1993, 27; Nicolaysen, Gert, Ansichten zur Gemeinschaftsverfassung, EuR 1987, 299 ff.; Oppermann, Thomas, Europarecht, 1991, Rdnrn. 394 ff.; Pescatore, Pierre, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht, in: Festschrift für Hans Kutscher, 1981, 319 ff.; Schwarze, Jürgen, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, 585 ff.; Schwarze, Jürgen / Bieber, Roland (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984; Seidel, Martin, Zur Verfassung der Europäischen Gemeinschaft nach Maastricht, EuR 1992, 125 ff.; v. Simson, Werner, Wachstumsprobleme einer europäischen Verfassung, in: Festschrift für Hans Kutscher, 1981,481 ff.; Steinberger, Helmut / Klein, Eckart / Thürer, Daniel, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), 9 ff., 56 ff. und 97 ff.; Tomuschat, Christian und Schmidt, Reimer, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: VVDStRL 36 (1978), 7 ff. und 65 ff. 2 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Müller-Graff {Fn. 1 ), S. 27.
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nicht oder nicht mehr im Mittelpunkt der Diskussion um Maastricht stehen. Die wechselvolle Entwicklung im unmittelbaren Anschluß an den Maastrichter Vertrag hat sicherlich andere Aspekte in den Vordergrund gerückt und die Verfassungsproblematik etwas verdrängt. Zuweilen hatte man sogar den Eindruck, daß die Verfassung im Zusammenhang mit Maastricht, wenn überhaupt, dann eben von ihrer nationalen Seite her beleuchtet wurde, während die europäische Perspektive an Glanz verloren hat und eher als Option verstanden und behandelt wird. Im Hinblick auf die Entstehung und Vertiefung der Europäischen Union sieht man sich veranlaßt zu überlegen, ob Maastricht und seine Folgen mit den herkömmlichen Mitteln des innerstaatlichen Verfassungsrechts zu bewältigen sind. Die Auflockerung der Grenzen in Europa markiert für die Mitgliedstaaten immer deutlicher die Grenzen der Verfassungsänderung und -anpassung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die weitere Entwicklung der Europäischen Union die Aufnahme- und Widerstandsfähigkeit der nationalen Verfassungen auf eine harte Probe stellt. Auch dort, wo die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft verfassungsrechtlich vorbereitet und abgesichert wird, fehlt es nicht an Stimmen, die auf die Schwierigkeit hinweisen, den weiteren Verlust von Hoheitsrechten mit den Grundlagen der jeweiligen nationalen Verfassung in Einklang zu bringen 3. Gerade in Deutschland ist dieses Problem besonders bekannt und akut, es steht, was das Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag betrifft, unmittelbar vor der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht, es wird in der Wissenschaft sehr intensiv behandelt und steht außerdem auf dem Programm der diesjährigen Staatsrechtslehrertagung. Ich möchte daher diesen eher „nationalen" Gesichtspunkt ausklammern, im Rahmen des Generalthemas dieses Seminars die Verfassungsproblematik von ihrer europäischen Seite her betrachten und die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß eine Verfassung für Europa traditionell und kontinuierlich gesucht wird 4 . Wir beobachten seit langem eine 3 Zu dieser Frage aus deutscher Sicht Badura, Peter, Die „Kunst der föderalen Form" — Der Bundesstaat in Europa und die europäische Föderation, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, 369 ff.; Everling, Ulrich, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVB1 1993, 941 ff.; Häberle, Peter, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, EuGRZ 1992, 436 ff.; Mosler, Hermann, Die Übertragung von Hoheitsgewalt, und Kirchhof, Paul, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul, Handbuch des Staatsrechts VII, 1992, 599 (634 ff.) und 855 (882 ff.) m. w. N., sowie Murswiek, Dieter, Maastricht und der pouvoir constituant, Der Staat 1993,161 ff.; Ossenbühl, Fritz, Maastricht und Grundgesetz-Eine verfassungsrechtliche Wende?, DVB1 1993, 629 ff.; Pernice, Ingolf, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 1993, 449 ff.; Reß, Georg, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, JuS 1992, 985 ff.; Rupp, Hans Heinrich, Maastricht — eine neue Verfassung?, ZRP 1993, 211 ff.; Scholz, Rupert, Grundgezetz und europäische Einigung, NJW 1992, 2599 ff.; v. Simson, Werner / Schwarze, Jürgen, Europäische Integration und Grundgesetz, 1992. 4 Vgl. Ipsen, Hans Peter, Europäische Bestrebungen aus der Sicht deutscher Verfassungstradition, und Schwarze, Jürgen, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Schwarze / Bieber (Fn. 1), S. 147 ff. und 15 ff.
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Verfassungskontinuität spezifisch europäischer Art, aber—wenn ich das vorwegschicken darf — mittlerer Güte.
I I . Integration, Evolution, Konstitution 2. Jede Diskussion um die europäische Verfassung hat zur Voraussetzung, daß von Anfang an geklärt wird, wie hoch wir die Anforderungen stellen. Man kann sogar einen Schritt weitergehen und fragen, welchem konkreten Ziel eine europäische Verfassung dient, ob und in welchem Maß sie erforderlich ist, um das Erreichte zu schützen und die Integration zu fördern. Mit der Antwort auf diese Fragen steht und fällt die Verfassungsdiskussion in und um Europa. Denn eine staatliche Verfassung herzustellen ist müßig bis zwecklos, solange das zu verfassende Gebilde kein Staat im herkömmlichen Sinne ist. Es ist nicht erforderlich, die Auseinandersetzung um die exakte Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft aufzunehmen, um festzuhalten, daß der Zusammenschluß der europäischen Staaten zu keinem neuen und vollen Staatswesen geführt hat, und damit ist eigentlich für eine „echte", „vollkommene", „traditionelle" Verfassung der Boden entzogen. Wir müssen daher ganz genau überlegen, warum wir nach einer Verfassung — besser: nach Verfassungselementen — suchen und zugleich nicht versäumen, die Gesichtspunkte richtig abzuwägen, die dem europäischen Konstitutionalismus im Wege stehen. 3. Alles andere als einfach ist z. B. die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt für die Kreation einer Verfassung. Gerade die Verfassungsgeschichte der einzelnen Mitgliedstaaten mit Deutschland an der Spitze — und unter Einschluß meines eigenen Heimatlandes — lehrt auf eindrucksvolle Weise, daß als gut einzustufende Verfassungsentwürfe zu ganz ungünstigen Zeiten präsentiert worden sind, daß qualitätsvolle Verfassungen kurz gelebt haben, während andere, ursprünglich als provisorisch gedachte Verfassungstexte sich als zäh erwiesen und eine unerwartet große Ausdauer bewiesen haben5. Unter diesen Umständen sollten wir nicht zu früh und nicht mit großen Erwartungen an eine europäische Verfassung herangehen. Ihre Herstellung und Festschreibung können sogar integrationshemmend wirken, wenn bedacht wird, daß die europäische Integration nach wie vor in der Entwicklung ist, daß viele mit dem gegenwärtigen Stand der europäischen Dinge unzufrieden sind, während andere auf die rechtzeitig vorgebrachten Bedenken gegen unbedachte Schritte auf dem Weg zur Europäischen Union verweisen, daß der Vertrag von Maastricht heute anders und viel vorsichtiger als im Februar 1992 beurteilt wird — kurz daß unter den gegebenen 5 Man sollte beispielsweise nicht vergessen, daß das Grundgesetz als provisorische Lösung (für die Bundesrepublik vor der Herstellung der deutschen Einheit) gedacht war. Konzentrieren wir uns auf die griechische Verfassungsgeschichte, so hat die gut vorbereitete und als fortschrittlich geltende republikanische Verfassung von 1927 — welche die Weimarer Reichsverfassung zum Vorbild hatte — nur kurze Zeit gegolten.
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Umständen „und unter nüchterner Einschätzung der gegenwärtig erkennbaren Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaaten" sehr wohl fraglich ist, „was . . . pro futuro den Vorzug verdient: Konstitution oder Evolution" 6 . Eine Verfassungseuphorie ist fehl am Platz, solange das zu verfassende Gebilde noch nicht konstituiert ist, solange es sich nicht genügend etabliert und die Verfassungsreife erreicht hat. Verfassungen mögen modern und wünschenswert sein, sie wirken anziehend und üben nach wie vor eine starke Ausstrahlungskraft aus. Es gibt aber auch Stimmen, die vor einer starken Verfassungsextension warnen, die darauf hinweisen, daß Verfassungen ihrer Natur nach konservativ und anpassungsfeindlich sind, wenn und weil sie einen bestimmten Zustand festschreiben und festhalten. In diesem Sinne können Verfassungen dem nötigen und erhofften Fortschritt im Wege stehen, und man beginnt zu begreifen, daß die Verankerung in der Verfassung ihren Preis hat und als nachteilhaft empfunden werden kann. Der Verfassungsstaat der Gegenwart hat in manchen Punkten seine Grenzen erreicht 7, und es ist symptomatisch für die aktuelle Situation, daß Kollegen anderer Rechtsdisziplinen, die auf der Ebene des einfachen Rechts arbeiten, sich zunehmend darüber beschweren, daß die Verfassungsgerichte unter der tatkräftigen Mitwirkung und Ermunterung der Staatsrechtslehrer dazu neigen, Fragen aus dem Zivil-, dem Handels- und dem Arbeitsrecht in die Verfassung einzubauen und damit der Disposition des einfachen Gesetzgebers zu entziehen oder — allgemeiner formuliert — die Rechtsentwicklung zu erschweren 8. Wenn diese Erscheinung auf der Ebene des Nationalstaates Anlaß für Sorge bietet, gilt dies in viel stärkerem Maße im Rahmen einer unvollkommenen und sich noch bildenden Staatengemeinschaft. In der Europäischen Gemeinschaft ist der Evolution immer noch der Vorzug gegenüber der Konstitution zu geben. Wer die weitere Integration propagiert, sollte die Risiken einer förmlichen und mit Verfassungsrang ausgestatteten Bestandsaufnahme des Erreichten genau abwägen.
I I I . Die rechtliche Grundordnung der Europäischen Gemeinschaft 4. Auf der anderen Seite darf nicht verkannt werden, daß wir uns längst daran gewöhnt haben, in jedem halbwegs organisierten Gemeinwesen nach einer rechtlichen Grundordnung zu suchen. Das gilt für den Verein und die politische Partei, für die Handelsgesellschaft und die Universität, für die Gemeinde und den Staat. 6 Ipsen (Fn. 4), S. 147. 7 Unser Jubilar warnt nachdrücklich vor einer „Hypertrophie der Grundrechte", in: Karl August Bettermann, Staatsrecht, Verfahrensrecht, Zivilrecht, Schriften aus vier Jahrzehnten, 1988, 49 ff. 8 Vgl. hier die systematische Aufarbeitung von Kriterien für die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bei Badura, Peter, Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 3), S. 165 (179 ff.).
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Es ist daher nicht unzweckmäßig, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft die Frage nach der rechtlichen Grundordnung für den Zusammenschluß der Mitgliedstaaten dieser Gemeinschaft zu stellen und — angesichts der Konstituierung der Europäischen Union — dieselbe Frage auf die Ebene der Union zu übertragen. Wer dieses begrenzte Ziel vor Augen hat, kann interessante Feststellungen treffen und problematische Erscheinungen im Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedsländern besser begreifen. Es geht also nicht darum, einem sich in der Entstehung befindlichen Bundes-Staat „Europa" die geeignete und nötige Verfassung zuzuweisen, um die durchaus fragliche Staats-Eigenschaft zu fördern und zu begünstigen. Man sollte davon abraten, den politischen Streit um die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union mit einer zusätzlichen Frage zu belasten und die Befürworter einer Föderation mit einem angeblich starken Argument auszustatten. Eine Verfassung für die Europäische Union mag die Entstehung eines föderalen Gebildes beschleunigen. Wie aber die Zeichen heute stehen, kann man berechtigte Zweifel haben, ob es klug wäre, die etwas festgefahrene Diskussion um den europäischen Bundesstaat mit Hilfe einer ausgebauten Verfassung erneut zu beleben. Als Mittel zur Erreichung des Fernziels „Bundesstaat Europa" ist die Verfassung z. Z. begrenzt tauglich. 5. Diese Gedanken sollten wir etwas weiter ausbauen, um besser zu begreifen, wieso eigentlich die Verfassungsdiskussion in der Europäischen Gemeinschaft derart intensiv geführt wird, wenn die Ergebnisse so mager ausfallen. Der Grund liegt m. E. in der Tatsache, daß zwischen der rechtlichen und der politischen Seite der europäischen Integration ein Gefälle existiert in dem Sinne, daß die politische Integration mit der kontinuierlichen Vervollkommnung der europäischen Rechtsordnung nicht Schritt halten kann. Es ist seit langem bekannt, daß die Europäische Gemeinschaft sich von anderen internationalen Organisationen hauptsächlich dadurch abhebt, daß sie als Rechtsgemeinschaft gegründet wurde und als solche gediehen ist 9 . Ganz besonders wird in diesem Zusammenhang die Rolle und Funktion des Europäischen Gerichtshofes erwähnt, der über wichtige Kompetenzen verfügt und der Gemeinschaftsordnung zur vollen Wirksamkeit verhelfen kann, während auf der anderen Seite auch die zielbewußten Initiativen der Kommission nicht verkannt werden dürfen, die dem Europäischen Gemeinschaftsrecht wichtige Impulse gegeben und den Gerichtshof in seinen Bemühungen um die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts stark unterstützt haben. Der Gerichtshof und seine Anstrengungen um die Herstellung einer strengen Hierarchie zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechten werden uns noch später beschäftigen. Hier sollte lediglich hervorgehoben werden, daß die Rechtsvereinheitlichung stark gedeiht, während die politische Willensbildung sich in einer permanenten Krise befindet. Rechtlich gesehen und gesprochen lassen sich die Aktionen der Gemeinschaftsorgane und die Thesen des Gerichtsho9 Vor allem Hallstein, Walter, Die EWG — Eine Rechtsgemeinschaft (1962), in: Europäische Reden, 1979, 341 ff.
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fes in ein föderales Organisationsystem reibungslos einordnen und können sogar nur auf diese Weise erklärt werden. Hingegen schlägt die politische Zusammenarbeit leise Töne an, die Regierungen der Mitgliedstaaten behalten nach wie vor die gesamte Verantwortung für sich, man spricht in diesem Zusammenhang auch vom demokratischen Defizit, wenn man bedenkt, daß das politische Hauptorgan der Gemeinschaft, das Europäische Parlament, um seine Position ringen muß I 0 . Der Wunsch, den fortgeschrittenen Stand der rechtlichen Integration in einer Verfassung herkömmlichen Stils festzuhalten und die Grundlagen für die fortschreitende Integration zu schaffen, ist daher verständlich. Ebenso verständlich ist aber auf der anderen Seite, daß die politischen Voraussetzungen für eine europäische Verfassung noch fehlen — und jede Form von Verfassunggebung ist das Ergebnis politischer, sogar hochpolitischer Willensbildung. Solange diese fehlt, werden europäische Verfassungsentwürfe interessante Diskussionspapiere bleiben 11 . IV. Grundlagen einer materiellen Verfassung 6. In der bisher geführten Auseinandersetzung um die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft stehen naturgemäß die Argumente im Mittelpunkt, die für oder wider die Existenz einer Grundordnung sprechen. Normalerweise stellt man die Mindestvoraussetzungen für die Annahme einer Bundesverfassung heraus und untersucht anschließend, ob und inwiefern diese Mindestvoraussetzungen schon vorliegen oder im Entstehen sind 12 . Um nicht bereits Bekanntes zu wiederholen, darf ich drei Gesichtspunkte herausstellen, die m. E. besonders geeignet sind, den Kern der Problematik aufzuzeigen. Es handelt sich erstens um die besondere Qualität der Übertragung staatlicher Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft, zweitens um das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht mit allen seinen Varianten und Rechtsfolgen und drittens um die Stellung, die Funktion und den Beitrag des Europäischen Gerichtshofes. In der Übertragung von Hoheitsgewalt einerseits und in dem Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht andererseits stellt und entscheidet sich hauptsächlich die Verfassungsfrage, während der Gerichtshof und seine Rechtsprechung mit der Entwicklung und daher mit dem Verfassungszustand der Gemeinschaft untrennbar verflochten sind. 7. Die dogmatische Erfassung und Bewältigung des Phänomens „ E u r o p ä i s c h e Gemeinschaften" beruht ganz wesentlich auf dem einmaligen Vorgang der Übertragung staatlicher Hoheitsrechte. Die Gemeinschaft entsteht und besteht um den Preis des Verlustes staatlicher Souveränität zugunsten und zum Vorteil einer 10 Vgl. nur Kirchhof {Fn. 3), S. 880, und Oppermann (Fn. 1), Rdnr. 243. 11 Die wichtigsten Texte (vor dem Vertrag von Maastricht) sind bei Schwarze / Bieber (Fn. 1), 315 ff. abgedruckt. 12 v. Simson, Werner, Voraussetzungen einer Europäischen Verfassung, in: Schwarze / Bieber (Fn. 1), S. 105 ff.
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selbständigen Gemeinschaftsgewalt. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen mag für sich gesehen keine Erfindung der Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft sein. Was hier als Novum oder Besonderheit hinzukommt, ist die Endgültigkeit der Übertragung. Man spricht von endgültig verliehener und nicht lediglich übertragener Gemeinschaftsgewalt, von einer Gemeinschaftsgewalt, die aus diesem Grund und in diesem Umfang Vorrang gegenüber der staatlichen Gewalt beanspruchen kann. Ohne auf die eher theoretische Frage eingehen zu müssen, ob und unter welchen Bedingungen ein Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft statthaft ist 13 , kann man feststellen, daß die europäische Integration eine nicht mehr wegzudenkende Tatsache ist und daß die Europäische Gemeinschaft eine feste Größe darstellt.
V. Unmittelbare Wirkung und Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts 8. Wenn ich mit dem Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht fortfahren darf, so zeichnen sich die Rechtsnormen des Gemeinschaftsrechts durch zwei Eigenschaften aus. Es ist einmal die Rede von der unmittelbaren Wirkung der Gemeinschaftsrechtsnormen, während andererseits deren Vorrang gegenüber dem nationalen Recht diskutiert und propagiert wird. Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern, daß wir vor 20 Jahren in Münster auf dem Herbstseminar über dieses Thema mit unserem Gastreferenten, dem inzwischen leider verstorbenen Kollegen Eberhard Grabitz, diskutiert und gestritten haben. Grabitz gab seiner Dissertation den bezeichnenden Titel „Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht" und stellte damit den Zusammenhang mit der bekannten und prägnanten Grundregel des Bundesstaates her, die in Art. 31 GG zu finden ist 14 . Mögen seinerzeit die Zweifel an der Richtigkeit der Kollisionsformel im Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht berechtigt gewesen sein, so stellt sich die Rechtslage heute gewiß anders und viel europafreundlicher dar. Der Solange-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts liegt länger zurück und wurde in späteren Entscheidungen weitgehend relativiert, der französische Conseil d'Etat hat seinen anhaltenden Widerstand gegen die besondere Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts im viel beachteten Beschluß „Nicolo" aufgegeben, und sogar in Großbritannien gewöhnt man sich an den Gedanken, daß das Parlament eben nicht mehr in vollem Umfang souverän ist und in seiner Entscheidungsfreiheit durch die Gemeinschaftsordnung eingeschränkt wird. Gerade die Haltung des französischen Staatsrates ist hier symptomatisch, der traditionell das Gemeinschaftsrecht als normales internationales Recht behandelte und den Kollisionsfall nach dem Grundsatz „lex posterior derogat legi priori" löste. Seit der Entschei13 Everling (Fn. 3), S. 942, und Mosler (Fn. 3), S. 626 ff. 14 Grabitz, Eberhard, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966.
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dung „Nicolo" aus dem Jahr 1989 ist anerkannt, daß den Normen des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber dem späteren französischen Gesetz Priorität zukommt 15 . 9. Unmittelbare Wirkung und Vorrang des Gemeinschaftsrechts dürfen nicht gleichgesetzt werden, weil sie einander ergänzen und in dieser Kombination der Gemeinschaftsrechtsordnung einmalige Durchschlagskraft verleihen. Sie stehen zueinander in keinem Rangverhältnis, sondern auf der gleichen Ebene und sind eher mit den zwei Seiten einer Medaille zu vergleichen. Weiter ist ihnen gemeinsam, daß sie ihre hervorragende Bedeutung ganz wesentlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes verdanken. Wer also heute die unmittelbare Wirkung und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts erklärt, gibt die Ergebnisse einer langen Kette von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes wieder 16 . 10. Aus zwei Gründen sollte man mit der unmittelbaren Wirkung anfangen. Zum einen gibt es in den Gründungsvertragen ausdrückliche Regelungen oder zumindest Anhaltspunkte über die unterschiedlichen Auswirkungen der diversen Maßnahmen des Gemeinschaftsrechts, so daß die Frage erlaubt ist, ob und inwiefern dem Gemeinschaftsrecht als solchem eine einheitliche Wirkung unmittelbarer Art zukommen kann. Zweitens scheint die genaue Wirkung eines Rechtssatzes logische Voraussetzung für dessen konkrete Stellung in der Normenhierarchie zu sein. Fragt man jetzt auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nach dem Inhalt und nach den Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung, so fällt auf, daß diese Eigenschaft dem Gemeinschaftsrecht generell zukommen kann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. An der unmittelbaren Wirkung nehmen nicht nur die Verordnungen des EWG-Vertrages teil, sondern darüber hinaus Richtlinien oder Entscheidungen, soweit sie spezifische Merkmale aufweisen. Dabei bedeutet die unmittelbare Wirkung, daß die entsprechende Rechtsnorm des Gemeinschaftsrechts nicht lediglich die Mitgliedstaaten bindet und zu einem bestimmten Verhalten anhält, sondern zusätzlich — und das ist weitaus wichtiger — den einzelnen Marktbürger berechtigen kann. Der Bürger kann sich also gegenüber den Behörden seines Landes oder genauer gegenüber den Behörden der Mitgliedstaaten auf die ihm günstige Rechtsnorm des Gemeinschaftsrechts berufen, daraus Ansprüche herleiten und alle diese Rechtspositionen vor dem nationalen Richter durchsetzen. Das Gemeinschaftsrecht wirkt unmittelbar, wenn und weil es dem einzelnen Rechte und Ansprüche vermittelt 17 . Vgl. die Besprechung von Dewost, Jean-Louis, Vorrang internationaler Verträge auch vor nachfolgenden nationalen Gesetzen-Zum Urteil „Nicolo" des französischen Staatsrats vom 10.10.1989, EuR 1990, 1 ff., sowie allgemein Kovar, Robert, Le Conseil d'Etat et le droit communautaire: des progrès mais peut mieux faire, Recueil Dalloz 1992, Chronique 207 ff. Oppermann (Fn. 1), Rdnrn. 389 ff. und 523 ff. m. w. N. sowie Lang, John Temple, The Development of European Community Constitutional Law, The International Lawyer 25, 457 ff. 17 Oppermann (Fn. 1), Rdnrn. 453 und 466.
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11. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bildet die notwendige Folge der Auffassung des Europäischen Gerichtshofes über eine Gemeinschaftsrechtsordnung, die in die nationalen Rechtsordnungen eingeführt und dort integriert wird: Etwaige Unstimmigkeiten, Widersprüche oder gar Gegensätze zwischen Rechtsnormen europäischen Zuschnitts und solchen nationaler Herkunft müssen ohne Ausnahme zugunsten des Gemeinschaftsrechts gelöst werden. Freilich macht sich die Priorität des Gemeinschaftsrechts nicht allein im Kollisionsfall bemerkbar. Das Gemeinschaftsrecht ist daneben mit einer Sperrwirkung ausgestattet in dem Sinne, daß einmal erlassene Gemeinschaftsnormen nur durch Gemeinschaftsorgane geändert werden dürfen und darüber hinaus den normierten Bereich der Disposition des nationalen Gesetzgebers entziehen18. Das gesamte Gemeinschaftsrecht nimmt am sog. „acquis communautaire" teil, die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz durch die Gemeinschaftsorgane heißt zugleich, daß diese konkrete Kompetenz auf die Gemeinschaft übergeht, und die bisherige Erfahrung zeigt, daß sie für immer übergeht. Man wird freilich abwarten müssen, ob die Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts durch die allgemeine Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Maastrichter Vertrag in Zukunft relativiert und geschwächt werden kann 19 . Um das Problem zu verdeutlichen, sollte gesagt werden, daß gemäß dem neuen Art. 3 b des EG-Vertrages die Gemeinschaft „in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, . . . nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". Der konsequenten Anwendung dieser Maßstäbe könnten einige Rechtsnormen des sekundären Gemeinschaftsrechts zum Opfer fallen. So geht auch die Tendenz dahin, den strengen Art. 3 b allein auf das künftig zu erlassende Gemeinschaftsrecht für anwendbar zu halten und die bereits existierenden Rechtsnormen als Teile des „acquis communautaire" ohne Rücksicht auf die Kriterien des Subsidiaritätsgrundsatzes aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite wirkt die ausdrückliche und allgemeine Verankerung des Subsidiaritätsprinzips verfassungsbelebend. Es geht ja um Kriterien für die Verteilung von Zuständigkeiten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, und diese Zuständigkeiten können sicherlich nicht zusammenhanglos nebeneinanderstehen. Indem das Subsidiaritätsprinzip die Kompetenzen abgrenzt, 18 Dazu Lang (Fn. 16), S. 460: „ . . . so every piece of Community législation creates pro tanto an area of exclusive Community legislative power . . . there is a moving boundary between Community and State powers, and the boundary moves only in one direction". 19 Everling (Fn. 3), S. 940; Pernice, Ingolf, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, DVB1 1993, 909 (915 ff.); Schmidhuber, Peter M., Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht, DVB1 1993, 417 ff.; Toth, A. G., The Principle of Subsidiarity in the Maastricht Treaty, CMLR 1992, 1079 ff.
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führt es die möglichen Kompetenzträger enger zusammen und vertieft deren Beziehungen zueinander. Seit Maastricht kommt die Subsidiarität als neuer verfassungsrelevanter Gesichtspunkt hinzu.
VI. Das Prinzip der Gemeinschaftstreue 12. Das Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten wird durch das Prinzip der Gemeinschaftstreue geprägt, das in Art. 5 EWGVertrag verankert ist und die EG-Mitglieder anhält, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, die sich entweder aus dem Vertrag oder aus den Handlungen der Gemeinschaftsorgane ergeben. Weiter müssen die Mitgliedstaaten alles unterlassen, was die Verwirklichung der Vertragsziele gefährden könnte. Das Prinzip der Gemeinschaftstreue erinnert seiner Struktur nach stark an das Gebot der Bundestreue, das für den Bundesstaat charakteristisch ist und detailierte Pflichten für die Partner erzeugt 20. Trotz ihres allgemeinen und abstrakten Charakters ist die Gemeinschaftstreue mit dem Kollisionsproblem eng verbunden, insofern sie eine geeignete Basis für die Wirkung und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts liefert. Gerade der Europäische Gerichtshof operiert oft mit Art. 5 EWG-Vertrag und leitet daraus konkrete Pflichten zu echter Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe ab 21 . Aus der einschlägigen Rechtsprechung möchte ich zwei Beispiele aus jüngerer Zeit zitieren, die aus mehreren Gründen interessant sind, hier aber im Hinblick auf ihre spezifische Bedeutung für den Grundsatz der Gemeinschaftstreue behandelt werden sollten. Gemeint sind die Urteile in den Fällen Factortame und Francovich, die ich in dieser Reihenfolge präsentieren darf. In der Affäre Factortame 22 ging es um die Durchsetzungsmöglichkeiten des Gemeinschaftsrechts, wenn das nationale Recht versagt und keine effektiven Mittel zur Verfügung stellt. Genauer stand zur Debatte, ob die englischen Gerichte in Anwendung und Ausführung des Gemeinschaftsrechts befugt seien, einstweilige Anordnungen gegen die Krone bzw. die Regierung zu erlassen, obwohl nach einem alten Grundsatz des Common Law gegen die Regierung keine einstweilige Anordnung ergehen kann. Der Europäische Gerichtshof verwies zunächst auf den in Art. 5 EWG-Vertrag ausgesprochenen Grundsatz der Mitwirkungspflicht, der speziell für die innerstaatlichen Gerichte bedeute, daß sie den Rechtsschutz zu gewährleisten hätten, der sich für den Einzelnen aus der
20 Zuleeg, Manfred, Bearbeitung von Art. 5, in: Groeben / Thiesing / Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag, 1991, Rdnr. 1. 21 Grabitz, Eberhard, Bearbeitung von Art. 5 in: ders., Kommentar zum EWG-Vertrag, Rdnrn. 1 und 15 ff.; Zuleeg, Rdnrn. 5 ff. 22 EuGH vom 19.1.1990, C-213 / 89, Slg. 19901, 2443 ff. und hierzu Simon, Denys / Barav, Ami, Le droit communautaire et la suspension provisoire des mesures nationales. Les enjeux de l'affaire Factortame, RMC 1990, 591 ff.; Tatham, Allan Francis, The Sovereignety of Parliament after Factortame, EuR 1993, 188 ff.
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unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergeben würde. Die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts wäre auch dann gefährdet, wenn ein Gericht durch eine Vorschrift des nationalen Rechts daran gehindert sei, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der sich aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen. Aus diesem Grund ist das Gemeinschaftsrecht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes dahin auszulegen, daß ein nationales Gericht eine innerstaatliche Vorschrift nicht anwenden dürfe, die den Erlaß einstweiliger Anordnungen verbiete, solange der vorläufige Rechtsschutz der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dienen würde. Praktisch heißt das, daß das nationale Rechtsschutzsystem unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht und zur Erreichung einheitlicher Standards erweitert werden muß, zumindest wenn Fälle mit Gemeinschaftsrechtseinschlag zu entscheiden sind. 13. Die Entscheidung im Fall Francovich 23 hat noch größeres Aufsehen erregt, weil hier das Prinzip der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts im allgemeinen und der Richtlinien im besonderen bis in seine letzten Konsequenzen ausgebaut wird. Die wesentliche Aussage des Europäischen Gerichtshofes betrifft die Pflicht des Mitgliedstaates, infolge einer im Gemeinschaftsrecht beheimateten Haftung dem Einzelnen den Schaden zu ersetzen, den dieser durch die unterbliebene Umsetzung einer Richtlinie erlitten hat. Bis zu diesem Zeitpunkt war bekannt, daß der Marktbürger gegenüber dem Mitgliedstaat Rechte aus Richtlinien auch ohne nationale Ausführungsvorschriften immer dann ableiten kann, wenn die Bestimmungen der Richtlinien inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen 24. Das ist zwar oft, aber nicht immer der Fall. Im Fall Francovich ging es nun um eine Richtlinie, die der nationale Richter nicht unmittelbar anwenden konnte, weil der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten bei einer wichtigen Frage einen Entscheidungsspielraum einräumte. Um den Bürger nicht schutzlos zu lassen und gleichzeitig den Druck auf die Mitgliedstaaten zur Umsetzung von Richtlinien zu erhöhen, hält der Europäische Gerichtshof den Mitgliedstaat für verpflichtet, dem durch die Richtlinie begünstigten Bürger Schadensersatz zu leisten und führt auf diese Weise einen neuen Staatshaftungstatbestand mit weitgehenden Folgen ein. Wir werden hier an die im BGB niedergelegten Grundsätze über Schadensersatz durch Naturalrestitution und Geldentschädigung erinnert und müssen insbesondere an § 251 BGB denken, wonach Entschädigung in Geld zu leisten ist, soweit die Naturalherstellung nicht möglich erscheint. Um auf den Fall Francovich zurückzukommen, hat der Europäische Gerichtshof mit seiner Lösung die Bindungswirkung der Richtlinien 23 EuGH vom 19.11.1991, C-6 / 90 und 9 / 90, Slg. 1991 I, 5357 ff. und dazu Schlemer-Schulte, Sabine / Ukrow, Jörg, Haftung des Staates gegenüber dem Marktbürger für gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten, EuR 1992, 82 ff.; Schockweiler, Fernand, Die Haftung der EG-Mitgliedstaaten gegenüber dem einzelnen bei Verletzung des Gemeinschaftsrechts, EuR 1993, 107 ff. 24 Vgl. statt aller Oppermann (Fn. 1), Rdnrn. 456 und 466 f. m. w. N.
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verstärkt und den Druck auf die Mitgliedstaaten zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts erhöht 25 . Vorrang und unmitelbare Wirkung der Gemeinschaftsrechtsregeln sind nach wie vor aktuell und wichtig.
V I I . Rolle und Funktion des Europäischen Gerichtshofes 14. Ich gehe auf den dritten und letzten verfassungsrelevanten Gesichtspunkt über, um den besonderen Beitrag des Europäischen Gerichtshofes kurz zu würdigen. Die Kontinuität der Herbstseminare wird auch darin sichtbar, daß ich vor fünf Jahren in Braunschweig über den Europäischen Gerichtshof als Verfassungsgericht referiert habe und mich daher kurzfassen kann 26 . In unserem Zusammenhang ist wichtig, daß die Mitgliedstaaten in Art. 219 EWG-Vertrag die Verpflichtung übernommen haben, „Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung dieses Vertrages nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln". Nimmt man hinzu, daß diese Streitigkeiten dem Europäischen Gerichtshof anvertraut sind, der gemäß Art. 164 gerade zur Aufgabe hat, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern, so tritt die herausgehobene Stellung des Gerichtshofes hervor. Der oft betonte Rechtscharakter der Europäischen Gemeinschaften kommt im Kapitel über die Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofes klar zum Ausdruck. Nahezu alle Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes tragen dazu bei, dem Gemeinschaftsrecht die unmittelbare Wirkung und den Vorrang zu garantieren. Vor allem im Rahmen der Verfahren nach Art. 169 und 177 EWG-Vertrag (Vertragsverletzung und Vorlage) hat der Gerichtshof es unternommen, das Europäische Gemeinschaftsrecht als eigenständige Rechtsordnung und Produkt einer autonomen Gemeinschaftsgewalt anzusehen, das überall und immer Beachtung verdient und ohne staatliche Transformationsmaßnahmen gegenüber den Normadressaten Wirkungen entfaltet. Der Europäische Gerichtshof konnte seine Konzeption von dem bedingungslosen Vorrang des Gemeinschaftsrechts entwickeln und durchhalten, weil er immer auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts argumentiert hat und sich um die Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten nicht kümmern mußte. Die Funktion des Gerichtshofes als Integrationsfaktor steht außer Zweifel, seine Stellung als Verfassungsorgan wird nachdrücklich unterstrichen, und Verfassungsorgane haben bekanntlich zur Aufgabe, an der Verfassungsgestaltung mitzuwirken 27 . Die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze, die Verfassungsvergleichung mit dem Ziel der 25
Lang, John Temple, New Legal Effects Resulting from the Failure of States to Fulfil Obligations under European Community Law: The Francovich Judgement, Fordham International Law Journal 16, 50. 26 Skouris, Wassilios, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht, in: Kloepfer / Merten / Papier / Skouris, Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, Seminar zum 75. Geburtstag von Karl August Bettermann, 1989, 67 ff. 27 Skouris, S. 80 f.
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Anerkennung von Grund- und Menschenrechten gegenüber der Gemeinschaftsgewalt — Aspekte, auf die ich nicht eingegangen bin, obwohl sie in unseren Zusammenhang gehören — auch diese ebenso wichtigen wie konfliktreichen Themen sind hauptsächlich dem Gerichtshof zuzurechnen, der auf diese Weise seinen maßgeblichen Anteil an der Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft behauptet und ausbaut. Nicht zuletzt ist es dieser Europäische Gerichtshof, der die Verfassungsfrage für die Europäische Gemeinschaft positiv beantwortet, indem er auf das autonome organisatorische System der Gemeinschaft verweist, das sich zu einer Verfassung entwickelt hat und so bezeichnet werden muß. V I I I . Schlußbemerkungen 15. In zwei abschließenden Bemerkungen darf ich noch die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität wiederaufgreifen. Behält man das grundsätzliche Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten im Auge, so läßt sich jedenfalls in dem Verhalten der Gemeinschaft ein gewisser Grad an Kontinuität feststellen. Damit möchte ich mit der gebotenen Vorsicht zum Ausdruck bringen, daß das Gemeinschaftshandeln hinsichtlich der Förderung und Erreichung der Vertragsziele von Kontinuität und Konstanz geprägt ist, was auf der anderen Seite bedeutet, daß die Gemeinschaft ihren eigenen Weg geht und von den politischen Vorgängen, Änderungen und zuweilen Umwälzungen in den Mitgliedstaaten wenig beeinflußt wird. Die verfassungspolitische Entwicklung in der Gemeinschaft steht in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu den politischen Veränderungen in den EG-Staaten — man gewinnt den Eindruck, daß es für die Initiativen auf europäischer Ebene nicht entscheidend ist, ob die Regierungen in den Mitgliedstaaten mehr sozialistisch, mehr sozialdemokratisch oder mehr konservativ gefärbt und geführt sind. Wenn diese Beobachtung stimmt, dann verdient die gerade beschriebene Form politischer Kontinuität keine ungeteilte Zustimmung. Eine politisch neutrale Gemeinschaft läßt das sogenannte und oft beklagte demokratische Defizit stärker in Erscheinung treten und trägt wohl nicht dazu bei, die fast unbeliebt gewordene europäische Idee beliebter zu machen. 16. Mehr durch Zufall bin ich kürzlich auf einen kleinen Sammelband aus dem Jahr 1973 gestoßen, der von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegeben wurde und den bezeichnenden Titel tragt „Kontinuität und Diskontinuität in den Geisteswissenschaften". In diesem Band ist auch ein juristischer Beitrag des früheren Freiburger Rechtshistorikers Hans Thieme enthalten, der das Problem aus der Sicht der Rechtsgeschichte untersucht und zunächst die Begriffe zu klären versucht 28. Hier ist von defensiver und offensiver Kontinuität die Rede, von 28 Thieme, Hans, Kontinuität-Diskontinuität in der Sicht der Rechtsgeschichte, in: Trumpy, Hans (Hrsg.), Kontinuität, Diskontinuität in den Geisteswissenschaften, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, 150 ff. 8 Bettermann - Seminar
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Assimilation und Rezeption, von Diskontinuität und Wandel. Dabei wird als Diskontinuität im Bereich des Rechts der jähe und abrupte Wechsel von Rechtseinrichtungen bezeichnet, während der allmähliche Prozeß der Übernahme fremden Kulturgutes im Sinne einer Rezeption mit dem Gedanken der Kontinuität durchaus vereinbar sein kann. Geht es jetzt darum, die europäische Integration vom Standpunkt der Kontinuität oder Diskontinuität in ihrer rechtsgeschichtlichen Dimension zu beurteilen, so weist die zunehmende Europäisierung des Rechts nach der Auffassung von Thieme deutliche Züge von Diskontinuität auf 29 . Auf der einen Seite durch die Rationalisierung und auf der anderen Seite durch die Vereinheitlichung werde das Recht von den beharrenden Elementen der Kontinuität gelöst, es werde einmal nach seiner praktischen Bewährung gewertet und zum anderen als Instrument auf dem Weg zur Uniformität eingesetzt. Das europäische Gemeinschaftsrecht, das einheitliche Kaufrecht, das universelle Urheberrecht usw. sollen sich von der volkstümlichen Kontinuität entfernen, indem sie Rechtsvereinheitlichung ein- und Einförmigkeit herbeiführen würden. Diesen Gedanken halte ich für beeindruckend, aber nicht für ganz überzeugend. Man sollte sich vielmehr die Frage stellen, ob in diesem Reife- und Entwicklungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft nicht Elemente wiederzufinden sind, die an die Rezeption des Römischen Rechts erinnern, ob hier nicht — um mit den Worten Thiemes zu schließen — ein Assimilationsvorgang sich vollzieht, „bei dem gleichsam eine blühende Gebirgswiese mit fremdem Gestein überschüttet wird", aber später „doch wieder dieselben Gräser und Blumen hervorsprießen wie ehedem" 30 .
29 Thieme, S. 151 f. und 157 f. 30 Thieme, S. 152 f.