Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand: Seminar zum 70. Geburtstag von Karl August Bettermann [1 ed.] 9783428456956, 9783428056958


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Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand: Seminar zum 70. Geburtstag von Karl August Bettermann [1 ed.]
 9783428456956, 9783428056958

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Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand

Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Band 474

Recht

Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand Seminar zum 70. Geburtstag von Karl August Bettermann

Mit Beiträgen von Michael Kloepfer, Detlef Merten, Hans-Jürgen Papier und Wassilios Skouris

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüf stand: Seminar zum 70. Geburtstag v o n K a r l August Bettermann / m i t Beitr. v o n Michael Kloepfer . . . — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1984. (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 474) I S B N 3-428-05695-7 NE: Kloepfer, Michael [ M i t v e r f . ] ; Bettermann, K a r l August: Festschrift; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten. © 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3-428-05695-7

Vorwort A m 4. August 1983 feierte Professor Dr. Dr. h. c. K a r l August Bettermann seinen siebzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlaß fand i n der Zeit vom 16. bis 17. September 1983 ein wissenschaftliches Seminar i n Celle statt, das von seinen ehemaligen Assistenten und engsten Schülern veranstaltet wurde. Dieser Kreis, hervorgegangen aus den vom Jubilar an der Freien Universität Berlin gehaltenen Seminaren, hatte sich nach dem Weggang seines Lehrers und Mentors aus Berlin i m Jahre 1970 als „Berliner Seminar" m i t i h m i n beinahe regelmäßigen Abständen zu wissenschaftlichem und persönlichem Gedankenaustausch getroffen. Schüler und Assistenten aus dem neuen Hamburger Wirkungskreis des Gelehrten kamen hinzu. „Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand" war das Thema des Celler Seminars, das der Jubilar mit einem, auch von eigenem Erleben geprägten Beitrag über das Thema „Das Scheitern des parlamentarischen Regierungssystems der Weimarer Republik" abschloß. Die zu Ehren Professor Bettermanns gehaltenen Referate werden i n einer teilweise für den Druck geringfügig überarbeiteten Fassung und m i t Fußnoten versehen i m folgenden veröffentlicht. Dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Ehrensenator Professor Dr. Dr. h. c. Johannes Broermann, mit dem der Jubilar i n besonderer Weise verbunden ist, danken w i r für die Aufnahme des kleinen Bandes i n sein Verlagsprogramm. Trier, St. Martin, Bielefeld, Thessaloniki, i m September 1984 Michael Kloepfer

Detlef Merten

Hans-Jürgen Papier

Wassilios Skouris

Inhaltsverzeichnis Detlef

Merten:

Parlamentarischer Immobilismus I. Einleitung I I . Demokratie als Staatsform der M o b i l i t ä t u n d F l e x i b i l i t ä t

11 11 12

1. Das Prinzip des Wechsels

12

2. Das Zeit-Prinzip

13

3. Das Immobilitäts-Problem

14

I I I . Verfassungsrechtliche Immobilitätsfaktoren

15

1. Externe Faktoren a) Der föderative Faktor aa) Kompetenzverluste i m Bundesstaat bb) Die „föderalistische Gesetzgebung" b) Der rechtsstaatliche Faktor c) Der völkerrechtliche Faktor

15 15 15 16 16 17

2. Interne Faktoren a) Die Idee des parlamentarischen Regierungssystems b) Die Ausgestaltung i m Grundgesetz

17 17 18

3. Unechte konstitutionelle Bindungen a) Unechte Bindungen i n materiell-rechtlicher Hinsicht b) Unechte Bindungen i n verfahrensmäßiger Hinsicht

19 20 21

I V . Institutionelle Ursachen

22

1. Kurzatmigkeit infolge Wahlperiodizität

23

2. Das Problem der „Gefälligkeits-Demokratie"

25

3. Ämterpatronage

27

4. Personelle Schwächen

28

V. Z u r Psychologie des Wählers

30

Hans-Jürgen

Papier:

Parlamentarische Demokratie und die innere Souveränität des Staates . . I . Regierbarkeit u n d Neo-Korporatismus I I . Parlamentarische Demokratie i m „Idealzustand"

33 33 35

8

Inhaltsverzeichnis I I I . I m Rechtssystem angelegte Durchbrechungen I V . Politische Entscheidungsfunktionen Privater

37 39

1. Aufgaben u n d Gestaltungspotential des Staates

39

2. Wege der Harmonisierung

41

3. Politische Machtverteilung durch Grundrechte

43

V. Paritätische Mitbestimmung i n der öffentlichen V e r w a l t u n g

45

1. Formen u n d Modelle einer Mitbestimmung

45

2. Mitbestimmung u n d Demokratieprinzip

47

3. Verbot der Parität

49

V I . Verbandseinfluß i m übrigen V I I . Schlußbemerkung

Michael

50 52

Kloepfer:

Zur Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien I. Die Hypothek des Totalitären

53 53

1. Die Erfahrung m i t der N S D A P u n d der SED

53

2. Der Vergleich m i t der Bundesrepublik Deutschland

53

I I . Das deutsche Staats Verständnis

54

1. Die gegenwärtige Skepsis

55

2. Der „reine" Staat u n d die „unreinen" Parteien

55

3. Der Staat als Selbstorganisation seiner Bürger

56

4. Die Folgerungen

57

I I I . Die Parteienfreiheit i n m i t t e n der Verfassung

57

1. Die Interpretationsaufgabe

57

2. Das methodische Grundproblem

58

I V . Die Parteien u n d das Demokratieprinzip

59

1. Die Grundlage

59

2. Die Regierungs- u n d die Oppositionsparteien

60

3. Die Exekutive u n d die Parteien

61

V. Die Parteien u n d das Bundesstaatsprinzip V I . Die Parteien u n d das Sozial- u n d Rechtsstaatsprinzip 1. Die Ausgangslage

62 63 63

2. Die Parteipatronage bei den Gerichten

64

3. Die Parteipatronage i n der V e r w a l t u n g

66

V I I . Die verbleibenden Probleme

68

Inhaltsverzeichnis

9

V I I I . Die politischen Parteien u n d die Grundrechte

68

1. Die Spezialität der Parteienfreiheit

69

2. Die Grundrechtsgefährdungen u n d -ingriffnahmen

70

3. Die Rundfunkfreiheit unter Parteienherrschaft

70

4. Die Wissenschaftsfreiheit u n d die Parteien

71

5. Die Staatsrechtswissenschaft und die Parteien

72

I X . Der Ausblick

Wassilios

75

Skouris:

Plebiszitäre Elemente i m repräsentativen System

77

I. Einführung

77

I I . Das parlamentarisch-repräsentative System des Grundgesetzes . . .

79

I I I . Die klassischen Einrichtungen unmittelbarer Demokratie

80

I V . Plebiszitäre Erscheinungen i n der repräsentativen Demokratie

81

1. Die Bürgerinitiativen

81

2. Grüne u n d A l t e r n a t i v e Gruppen

84

3. Die Durchführung v o n Wahlen während u n d vor Beendigung der Wahlperiode

87

4. Meinungsumfragen als Plebiszite?

89

5. Die rechtsprechende Gewalt als Zufluchtsort für Forderungen V. Schluß

plebiszitäre 91 94

Parlamentarischer Immobilismus Von Detlef Merten I. Einleitung Das bald fünfzigjährige Jubiläum parlamentarischer Regierung i n der Weimarer und der Bonner Republik gestattet und gebietet es vielleicht sogar, dieses System auf den Prüfstand zu stellen. Dabei ist die der parlamentarischen Demokratie attestierte „Alternat!venlosigkeit" 1 — verfassungsrechtlich wegen der Ewigkeitsgarantie des A r t . 79 Abs. 3 GG unbezweifelbar — für die wissenschaftliche Betrachtung nicht förderlich, da wissenschaftliches, insbesondere juristisches Denken auch Denken i n Alternativen ist 2 . Die Parlamentarismus-Kritik hatte noch i n der Weimarer Republik 3 Verfechter von wissenschaftlichem oder literarischem Gewicht: Carl Schmitt 4, Rudolf Smend 5 und Othmar Spann, Ernst Jünger, Oswald Spengler und Arthur Moeller van den Bruck , dessen 1923 erschienene Schrift „Das dritte Reich" dann vom Nationalsozialismus i n seinem Titel okkupiert und i n seinem Inhalt pervertiert wurde 6 . Hier scheint eine Ursache für die fehlende grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem parlamentarischen Regierungssystem i n der Bundesrepublik zu liegen 7 , 1 Oppermann, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, i n : V V D S t R L 33, 1975, Leitsatz A l l , S. 59 u n d S. 12; Achterberg , Das Parlament i m modernen Staat, DVB1. 1974, 693 ff., insbes. S. 700 sub C I I 2. 2 Hierzu Rödig, Die Denkform der A l t e r n a t i v e i n der Jurisprudenz, 1969. 3 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Bracher , Zeit der Ideologien, 1982, S. 239 ff. 4 Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., 1926. 5 Vgl. Verfassung u n d Verfassungsrecht, i n : Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, insbes. S. 152 ff.; kritisch hierzu Kelsen, Der Staat als Integration, 1930, S. 53 f. 6 Z u m Verhältnis konservativer Intellektueller zum Nationalsozialismus vgl. auch Lübbe, „Neo-Konservative" i n der K r i t i k , in: M e r k u r , 37. Jg., 1983, 622 ff. 7 Z u m Defizit einer Grundsatzkritik auch Leisner, Demokratie — Selbstzerstörung einer Staatsform, 1979, S. 11 ff.

12

Detlef Merten

wobei man von der neomarxistischen K r i t i k absehen kann, weil diese — wie Oppermann 8 sagt — „allzu oft ins Pamphletistische" absinkt und eine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion nicht lohnt. Es ist wohl das noch nicht überwundene und von Zeit zu Zeit auch wiederbelebte Trauma des Dritten Reiches, das i m (westlichen) Nachkriegsdeutschland zu einer Glorifizierung und Deifizierung des Demokratischen geführt hat. W i r d so aus einem formalen Bauelement der Verfassung eine neue weltliche Heilslehre 9 , so muß Demokratiekritik und K r i t i k des parlamentarischen Regierungssystems allzu leicht i n den Verdacht der Ketzerei geraten 10 . II. Demokratie als Staatsform der Mobilität und Flexibilität 1. Das Prinzip des Wechsels Ist für den Rechtsstaat die Form, für den Bundesstaat die Vielfalt, für den Sozialstaat der Ausgleich, für die Freiheit die Selbstbestimmung, so ist für die Demokratie der Wechsel charakteristisch. Damit steht die Demokratie i n fundamentalem Gegensatz zur Monokratie, insbesondere in der Form der (Erb-)Monarchie. Deren Kennzeichen ist die Beständigkeit und Stetigkeit, die in der Spätphase eines Regenten oder seines ersten Ministers auch i n Starrheit münden kann. Die Stabilität der Monokratie w i r d beispielhaft verkörpert durch die langen Regierungsperioden Friedrichs des Großen, Kaiser Wilhelms I., Kaiser Franz-Josephs, durch die Metternich- oder die Bismarck-Ära, die Diktaturen Francos und Salazars. Bei günstiger Konstellation — eher zufällig als genetisch bedingt — kann die Erbmonarchie sogar eine Kontinuität über die Generationen hinweg ermöglichen. Einen solchen historischen Glücksfall stellte für Preußen die Regierung Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen dar, die trotz des vordergründigen Vater-Sohn-Konflikts i n ihrer Staatsgesinnung und Staatshinwendung übereinstimmten und so den Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht i m 18. Jahrhundert ermöglicht haben. Ein rascher Regentenwechsel, wie er sich i n Deutschland i m Drei-Kaiser-Jahr 1888 ereignete, ist für die Monarchie ebenso atypisch wie eine langjährige Kanzlerschaft i n der parlamentarischen « W D S t R L 33, 1975, S. 11 Fn. 6. 9 Hierzu die Nachweise bei Merten, Wahlrecht u n d Wahlpflicht, in: Demokratie i n Anfechtung u n d Bewährung, Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 301 Fn. 2. 10 Vgl. Merten (Fn. 9), S. 301 f.

Parlamentarischer Immobilismus

13

Demokratie, wofür die vierzehnjährige Regierung Adenauers und die dreizehnjährige Kreisky-Periode anzuführen sind. 2. Das Zeit-Prinzip Wenn Demokratie auch nicht mit „Herrschaft der Mehrheit" gleichgesetzt werden kann 1 1 , so gehört der Majoritätsgrundsatz doch zu den „fundamentalen Prinzipien der Demokratie" 1 2 . Das Mehrheitsprinzip schließt die Chance der Minderheit, Mehrheit zu werden, ein, so daß der effektive Machtwechsel zwar nur charakteristisches, der potentielle Machtwechsel aber essentielles Merkmal der Demokratie ist. Dieser Machtwechsel w i r d i n der repräsentativen und damit auch der parlamentarischen Demokratie institutionell durch den Grundsatz der Periodizität der politischen Wahlen gesichert, wodurch den Repräsentanten eine „Herrschaft auf Zeit" m i t der Möglichkeit des Herrschaftsverlustes, aber auch der Herrschaftsbestätigung eingeräumt wird 1 3 . Durch das Zeitprinzip unterscheidet sich die Demokratie von der Monokratie, die durch das Lebenszeitprinzip gekennzeichnet ist. Die „Herrschaft auf Zeit" ist es, die der parlamentarischen Demokratie 1 4 i m Unterschied zu fast allen anderen Staatsformen die größtmögliche Offenheit und Flexibilität 1 5 und zugleich Freiheit 1 6 verbürgt. Die periodischen Wahlen und die Chance der Minderheit, zur Mehrheit zu werden, garantieren dem Staatsvolk — nicht dem Wohnvolk — die unmittelbare Entscheidung über die Zusammensetzung der Legislative und den mittelbaren Einfluß auf die Bildung der Gubernative. Damit stellen die Wahlen gleichsam einen aus der Kybernetik bekannten periodischen Rückkoppelungsmechanismus dar, der Störungen i m Verhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten kompensieren und sogenannte Soll11

Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, § 18 I I 6, S. 458 m i t weiteren Nachweisen; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, 1973, S. 35. 12 BVerfGE 29, 154 (165). 13

Vgl. BVerfGE 44, 125 Leitsatz 2 (142 f., 145). Z u m parlamentarischen Regierungssystem vgl. Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 25. Aufl., 1983, §10 I V , S. 71 ff.; Herzog, A r t . Parlamentarisches System, in: Ev. Staatslexikon, 2. Aufl., 1975, Sp. 1766 ff., jeweils m i t w e i teren Nachweisen; Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, 3. A u f l . 1971; Scheuner, Die Lage des parlamentarischen Regierungssystems i n der Bundesrepublik, DÖV 1974, 433 ff.; Oberreuter (Hrsg.), Parlamentsreform, 1981. 15 So Scheuner, D Ö V 1974, 433. 16 Nach Aristoteles gehört zur Freiheit, daß m a n abwechselnd regiert u n d regiert w i r d (Politik, V I , 1317 b). 14

14

Detlef Merten

Ist-Divergenzen eliminieren kann. Der Grundsatz der persönlichen und sachlichen Diskontinuität ist Merkmal der Demokratie. Auch zwischen den Wahlterminen ermöglichen Pressefreiheit und Meinungsfreiheit, die jedenfalls als politische Meinungsfreiheit für die Demokratie essentiell ist 17 , außerperiodische Korrekturen bei erheblichen Soll-Ist-Divergenzen, wie es sich beim Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Strauß 1962 nach der Spiegel-Affäre gezeigt hat. 3. Das

Immobilitäts-Problem

Qualifiziert man die (parlamentarische) Demokratie als Staatsform der Mobilität und Flexibilität, so muß es widersprüchlich erscheinen, ihr gleichzeitig Immobilismus und Inflexibilität zu attestieren. Dabei kann als parlamentarische Immobilität — wiederum i n Ahlehnung an die kybernetische System- und Regeltheorie — ein Zustand bezeichnet werden, i n dem das System entscheidungs- und handlungsunfähig wird, obwohl Entscheidungsdruck und Entscheidungsnotwendigkeit womöglich sehr hoch sind 18 . Beispiele für derartige Unbeweglichkeiten sind parlamentarische Pattsituationen, wie sie sich i n den Landesparlamenten von Hamburg und Hessen ergeben haben 19 , ist die Agonie der Bundesregierung unter Bundeskanzler Schmidt i n ihrer Endphase oder das Scheitern der Weimarer Republik wegen Versagens der (verfassungskonformen) Parteien 20 . Für das Ausland ist auf die „Dauerkrise" der italienischen Demokratie 21 oder auf die Regierungsinstabilität i m Frankreich der Vierten Republik zu verweisen. Die Unbeweglichkeit der Institution w i r k t sich auf die Wahrnehmung ihrer Funktion aus. So reagiert das Parlament unzureichend auf Krisen und kann insbesondere langfristige Probleme wie den Abbau der Staatsverschuldung 22 , den Zuzug von Ausländern 23 , die Sanierung der Sozial17 Vgl. BVerfGE 20, 56 (97). Vgl. i n diesem Zusammenhang Herder-Dorneich, Ordnungstheorie des Sozialstaates, 1983, S. 22 ff., insbes. S. 29 ff. 19 Sie werden auch v o n Rupert Scholz als „Krisensymptom" eingestuft (Krise der parteienstaatlichen Demokratie?, 1983, S. 5 f.). 20 Hierzu Hagen Schulze, Weimar, Deutschland 1917—1933, 1982, S.422. 21 Vgl. Wieser u n d Spotts, Der F a l l Italien — Dauerkrise einer schwierigen Demokratie, 1983. 22 Die öffentliche Verschuldung hat sich allein i n dem Zeitraum v o n 1978 bis 1983 mehr als verdoppelt (Quelle: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, 36. Jg., Januar 1984, S. 21. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch von Arnim / Littmann (Hrsg.), Finanzpolitik i m Umbruch: Z u r Konsolidierung 18

Parlamentarischer Immobilismus

15

Versicherung 24 oder die Sicherstellung der Energieversorgung nicht sachgerecht bewältigen. I I I . Verfassungsrechtliche Immobilitätsfaktoren 1. Externe Faktoren Die abstrakte „parlamentarische Demokratie" gewinnt erst durch die jeweilige Verfassung die Gestalt eines konkreten parlamentarischen Regierungssystems. I n der Regel w i r d das parlamentarisch-demokratische Element m i t anderen Bausteinen, z. B. dem föderalistischen, dem rechtsstaatlichen oder dem freiheitlichen Prinzip kombiniert. Dadurch kann ein Immobilismus entstehen, der seine Ursache nicht oder nicht allein i m parlamentarischen System selbst hat, sondern von außen kommt und konstitutionell vorgegeben ist. a) Der föderative Faktor aa) Kompetenzverluste

im Bundesstaat

I m föderalistischen Staat führt schon die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern zu Mobilitäts- und Flexibilitätsverlusten infolge von Kompetenzverlusten. Dabei hat sich die für die Länder ohneh i n nicht günstige Kompetenzbilanz durch neue Kompetenzzuweisungen an den Bund nach Inkrafttreten des Grundgesetzes noch verschlechtert. Die Immobilität der Länderparlamente w i r d dadurch verstärkt, daß gerade i n ausgabenintensiven Bereichen (z. B. Beamtenbesoldung oder Sozialhilfe) der Bund zwar die Gesetzgebungskompetenz, die Länder aber die Finanzierungspflicht haben. Zustimmungserfordernisse des Bundesrates können die Wahnehmung der Interessen des einzelnen Bundeslandes nicht garantieren, da die jeweilige Bundesratsmehrheit oftmals politische Rücksichten auf die Bundesregierung oder die Opposition nehmen muß und auch die finanzielle Situation von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein kann. öffentlicher Haushalte, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 92, 1984; Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, 1980; Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, A ö R 108, 1983, 489 ff., insbes. 497 ff.; Birk, Die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen der Staatsverschuldung, DVB1. 1984, 745 ff., siehe auch Fn. 27. 23 Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht u n d Verfassung, N J W 1983, 2105 ff.; Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, 1981. 24 Z u r Krise der Rentenversicherung vgl. Thullen, Gedanken zur deutschen Rentenversicherung, D R V 1983, 401 ff.

16

Detlef Merten

Umgekehrt bestehen Handlungssperren für die Bundeslegislative, wenn ihr nicht oder nicht rechtzeitig Gesetzgebungskompetenzen zugestanden werden, obwohl die Natur der Sache eine bundeseinheitliche Regelung erfordert. So hat der Bund erst 1972 i n A r t . 74 Nr. 24 die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung erhalten. Das stärkste föderative Hemmnis für das Bundesparlament stellt das Mitwirkungsrecht des Bundesrates als einer „für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaft" (Art. 59 Abs. 2 GG) dar. Gerade weil der Bundesrat nicht auf die Wahrnehmung von Länderinteressen beschränkt ist, kommt i h m eine gewaltenhemmende Funktion zu, die jedoch für das parlamentarische Regierungssystem ein Element der Unbeweglichkeit darstellt. bb) Die „föderalistische

Gesetzgebung"

Eine ebenfalls föderativ bedingte Unbeweglichkeit t r i f f t die Parlamente bei der sogenannten föderalistischen Gesetzgebung. Durch sie werden inhaltlich übereinstimmende Gesetze durch die Gesetzgebungskörperschaften i m Bund und i n den Ländern i n dem Bestreben geschaffen, „allgemeines", d.h. einheitliches Recht zu schaffen. Entsprechende Musterentwürfe werden von der Exekutive ohne Beteiligung des Parlaments i n Bund-Länder-Kommissionen vorbereitet. Dadurch werden die Parlamente wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch gebunden, weil sie bei der Verabschiedung nur vor der Alternative stehen, den Musterentwurf zu bestätigen oder die Rechtseinheitlichkeit zu durchbrechen. b) Der rechtsstaatliche Faktor Durch die Entscheidung für eine konstitutionelle Demokratie und den Vorrang des Verfassungsgesetzes ist die „Selbstherrlichkeit des Gesetzgebers" 25 erheblich beschränkt. Die für das englische Parlament geprägte, dem Stand der medizinischen Wissenschaft vielleicht nicht mehr angemessene Sentenz, das House of Commons könne alles machen, nur nicht aus einem Mann eine Frau 26 , t r i f f t für das konstitutionell gebundene deutsche Parlament nicht zu, wobei allerdings Gesetze über freiwillige Geschlechtsumwandlungen noch die geringsten verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten verursachen. Das i m Interesse bürgerlicher 25 26

RGZ 118, 325 (327); 139, III

Vgl. Loewenstein, 1967, S. 65 sub 2.

(189).

Staatsrecht u n d Staatspraxis v o n Großbritannien, Bd. I,

Parlamentarischer Immobilismus

17

Flexibilität errichtete freiheitliche Bollwerk der Grundrechte begrenzt die legislatorische Gestaltungsfreiheit. Zugleich werden der klassischen Budgethoheit des Parlaments bei Ausgabenerhöhungen und Kreditbeschaffungen — allerdings nicht ausreichende 27 — Grenzen gezogen (Art. 113,115 GG). Der Vorrang des Verfassungsgesetzes w i r d durch die rechtsstaatlich konsequente Inthronisation einer Verfassungsgerichtsbarkeit garantiert, so daß das Parlament die Verfassungsmäßigkeit seiner Handlungen nicht durch bloße „Selbstbezeugung" feststellen kann. Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte bemißt sich dabei nach der grundgesetzlichen Regelungsdichte. Soweit i n diesem Rahmen eine innen- und außenpolitische Immobilität des Parlaments von der Verfassung gewollt ist, kann sie durch eine „political-question-doctrine" nicht rückgängig gemacht werden 28 . c) Der völkerrechtliche Faktor Die i n A r t . 24 GG vorgesehene Übertragung nationaler Hoheitsrechte auf internationale Einrichtungen hat zu einer parlamentarischen Immobilität durch Souveränitätsverlust geführt 29 . Insbesondere durch die Eingliederung i n die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sind heute wichtige wirtschaftspolitische und währungspolitische Probleme national allein nicht mehr lösbar. 2. Interne Faktoren Eine entscheidende Ursache für die parlamentarische Immobilität liegt i n der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems i m Grundgesetz. a) Die Idee des parlamentarischen Regierungssystems Von seiner Idee her enthält das parlamentarische Regierungssystem eine Gewaltenbalance und eine gegenseitige Gewaltenkontrolle, so daß die parlamentarische Regierung keinen bloßen Parlamentsausschuß oder eine Versammlungsregierung darstellt. Unbeschadet differierender Ausgestaltung i m einzelnen ist die Regierung einerseits i n ihrem Bestand 27 Hierzu Stern, Zeitgemäßes u n d Unzeitgemäßes zur Staatsverschuldung, in: Die Fortbildung 1983, 33 ff. 28

Vgl. i n diesem Zusammenhang Merten, Demokratischer Rechtsstaat u n d Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1980, 773 ff. 29

So auch Oppermann

(Fn. 1), S. 61, Leitsatz 6.

2 Parlamentarisches Regierungssystem

18

Detlef Merten

und ihrer personellen Zusammensetzung vom Vertrauen des Parlaments abhängig, so daß sie partiell oder total durch ein Mißtrauensvotum gestürzt werden kann. Andererseits korrespondiert dieser Parlamentsabhängigkeit grundsätzlich ein gubernatives Recht der Parlamentsauflösung, das ihr entweder selbst oder auf ihren Antrag dem Staatsoberhaupt zusteht. b) Die Ausgestaltung i m Grundgesetz Zwischen den beiden Polen eines radikal parlamentarischen und eines radikal gubernativen parlamentarischen Regierungssystems hat sich das Grundgesetz unter allzu starker Berücksichtigung der Weimarer Erfahrungen für eine extreme Stärkung der Gubernative entschieden. I m Interesse der Handlungsfähigkeit der Regierung w i r d eine Handlungsbeschränkung des Parlaments i n Kauf genommen 30 . Zu der Verlustliste parlamentarischer Kompetenzen gegenüber der Regierung gehören die umfassende M i t w i r k u n g bei der Regierungsbildung, die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister 3 1 und das (uneingeschränkte oder destruktive) Mißtrauensvotum 32 . Die Wahl des Bundeskanzlers und das auf Konstruktivität verengte Mißtrauensvotum sind die einzigen Scharniere, an denen die Verfassung die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments festgemacht hat. Ohne diese Verbindungsglieder könnte die Herrschaftsordnung des Grundgesetzes nicht mehr als parlamentarisches Regierungssystem qualifiziert werden. Wie wenig die Bundesregierung i n ihrem Bestand vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist, zeigt sich daran, daß der Bundeskanzler nur bei seiner Wahl dieses Vertrauens bedarf, daß er danach unabhängig vom Parlament sein Kabinett bilden und verändern und daß er so lange ohne oder gegen das Parlament regieren kann, wie dieses sich nicht in seiner Mehrheit auf seine Nachfolge einigt. Und wenn auch das Regieren wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes ohne Gesetzgebung schwierig 30

Z u m Dualismus v o n Parlament u n d Regierung aus österreichischer Sicht Schambeck, Die parlamentarische Kontrolle der Regierung i m Dienste des demokratischen Rechtsstaates, in: Der Staat als Aufgabe, Gedenkschrift für M a x Imboden, 1972, S. 293 ff., insbes. S. 301 ff. 31 Vgl. i n diesem Zusammenhang Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, 1971; Klemmt, Die Verantwortlichkeit der Minister i n Großbritannien, 1983. 32 Z u m Mißtrauensvotum als einem entscheidenden Element des parlamentarischen Regierungssystems vgl. Öhlinger, Verfassungsgerichtsbarkeit u n d parlamentarische Demokratie, in: I m Dienst an Staat u n d Recht, Festschrift für E r w i n Melichar, 1983, S. 129.

Parlamentarischer Immobilismus

ig

ist, so w i r d zumindest das Existieren gesichert. Da dem Bundestag das Selbstauflösungsrecht 33 mangelt, kann es die Nabelschnur zur Regierung nicht durch eine vorzeitige Beendigung der Wahlperiode durchtrennen. Pointiert formuliert hat das Grundgesetz die tragende Rolle des Parlaments i m Verhältnis zur Gubernative auf eine Statistenrolle zusammengestrichen, die als wesentlichen A u f t r i t t nur die Wahl des Kanzlers enthält. Aus dieser konstitutionell bedingten Statistenrolle erklärt sich dann auch der parlamentarische Immobilismus gegenüber Regierungen, die politisch handlungsunfähig werden. Die parlamentarische Unbeweglichkeit kann sogar auch nach einem erfolgreichen konstruktiven Mißtrauensvotum — gleichsam nach Umbesetzung der Hauptrollen — bestehen bleiben. Dies hat sich nach der Abwahl Bundeskanzler Schmidts i m Jahre 1982 gezeigt, als man — u m i m B i l d zu bleiben — die Spielzeit beenden wollte, aber nicht so recht beenden konnte. Wegen des fehlenden Selbstauflösungsrechts verblieb nur der trotz allem delikate Weg über A r t . 68 GG 34 , bei dem der Hauptdarsteller nach dem Motto mitspielen mußte: Entziehen lasse ich m i r selbst Vertrauen, u m Selbstvertrauen durch Volksvertrauen zu gewinnen. 3. Unechte konstitutionelle

Bindungen

Bietet das Parlament infolge der konstitutionellen Bindungen ohneh i n das B i l d eines gefesselten Prometheus, zu dessen Befreiung herakleische, d. h. schier unüberwindliche Kräfte — wenn schon nicht überirdischer, so doch wenigstens übergesetzlicher A r t — erforderlich wären, so verwundert, daß es sich darüber hinaus Bindungen auferlegt oder auferlegen läßt, die nur vermeintlich von Verfassungs wegen bestehen, weshalb sie als unechte konstitutionelle Bindungen bezeichnet werden. Diese vermeintlichen oder unechten Bindungen, die materiell-recht33 Vgl. hierzu Steiger , Selbstauflösungsrecht für den Bundestag?, in: Festschrift für E r w i n Stein, 1983, S. 349 ff. I n den meisten Landesverfassungen ist dagegen ein Selbstauflösungsrecht vorgesehen: A r t . 18 Abs. 1 Bayer. Verf.; A r t . 39 Abs. 2 Berl. Verf.; A r t . 11 Abs. 1 Hamb. Verf.; A r t . 80 Hess. Verf.; A r t . 7 Nieders. Verf.; A r t . 35 Abs. 1 Verf. N R W ; A r t . 84 Abs. 1 Rh.-Pf. Verf.; A r t . 69 Saarl. Verf.; A r t . 31 Abs. 2 Schl.-Holst. Landessatzung (Selbstauflösung auf A n t r a g des Ministerpräsidenten). 34 Vgl. hierzu BVerfGE 62, 1; ferner Hans Hugo Klein, Die Auflösung des Deutschen Bundestages nach A r t . 68 GG. Z u m U r t e i l des Bundesverfassungsgerichts v o m 16. Februar 1983 (2 BvE 1-4/83), in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1983, 402 ff.; Delbrück u n d Wolfram, Die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages vor dem BVerfG — BVerfGE 62, 1, in: JuS 1983, 758 ff.; Nierhaus, Die verabredete Bundestagsauflösung, in: Die Fortbildung, 1983, 52 ff.

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licher oder verfahrensrechtlicher Natur sein können, verbrämen i n Wirklichkeit nur politische Handlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit. a) Unechte Bindungen in materiell-rechtlicher Hinsicht Als Beispiel für eine Verfassungsinterpretation m i t einer nur vermeintlichen, aber dennoch vom Parlament respektierten Bindung bietet sich A r t . 9 Abs. 3 GG an. Das Bundesverfassungsgericht hat über den Verfassungstext hinaus mit Hilfe des Gedankens der Zweckerreichung 35 aus diesem Grundrecht die Garantie eines „Kernbereichs koalitionsmäßiger Betätigung" abgeleitet, dabei allerdings zugleich darauf verwiesen, daß die Verfassung den geschützten Personen und Vereinigungen nicht mit Verfassungsrang „einen inhaltlich unbegrenzten und gesetzlich unbegrenzbaren" 36 Handlungsspielraum einräume. I n der Praxis erscheint die Tarifvertragshoheit jedoch als eine A r t Verfassungssakrament, so daß bloße Maßhalteappelle mit sektiererischem Eifer als Angriffe auf die heilige Sache selbst ausgegeben werden. Zu der vermeintlich konstitutionellen Bindung t r i t t i m übrigen eine den Staat bedrohende, weil längst nicht mehr auf den eigentlichen Aufgabenbereich beschränkte Macht der Gewerkschaften als exogener Faktor hinzu. Die Unbeweglichkeit des Parlaments würde noch vergrößert werden, wenn — wie zur Zeit diskutiert — Umweltschutz und Recht auf Arbeit als Staatsziele i n das Grundgesetz aufgenommen würden. Diese Verfassungsergänzung müßte nicht nur das Grundgesetz verwässern, das als Verfassungsgesetz und nicht als Glücksprogramm konzipiert ist, Verbürgungen und nicht Verheißungen enthält, sondern würde auch die wirtschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes verengen. Die Gefahr wüchse, daß i m Wege der Verfassungsinterpretation aus einer Staatszielbestimmung mehr herausinterpretiert werden würde, als mit deren Aufnahme i n das Grundgesetz beabsichtigt war. Ein gleichsam vorkopernikanisches Weltbild, i n dem das Recht auf Arbeit und die Vollbeschäftigung i m Mittelpunkt stehen, muß Legislative und Exekutive zur Unbeweglichkeit verdammen, weil bei einem Überangebot an Arbeit auf Grund volkswirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten Abhilfe nur durch Senkung der Lohnkosten oder zumindest durch Absehen von Lohnsteigerungen möglich ist, die jedoch durch eine Recht-auf-Arbeit-Ideologie verhindert würden. 35 36

BVerfGE BVerfGE

18, 18 (26); vgl. auch E 38, 386 (393). 38, 386 (393).

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I n diese Reihe gehört ferner eine Mißdeutung der repräsentativen Demokratie, i n die plebiszitäre Elemente hineingelesen werden. So hat nach dem konstruktiven Mißtrauensvotum des Jahres 1982 nicht nur der Verlierer, sondern haben auch die Gewinner eine Entscheidung durch das Wahlvolk gesucht, wobei Konstitutionalität und Legalität gegen Legitimität ausgespielt wurden. Für eine Zeit, die das Repräsentieren nicht mehr beherrscht, mag eine Fehldeutung des Repräsentativen symptomatisch sein. Die Entscheidung des Jahres 1982 hat jedoch zukünftige Fälle politisch präjudiziert und so die Konstruktivität des grundgesetzlichen Mißtrauensvotums ins Destruktive verwandelt, da auf eine Wahl des Bundeskanzlers i m Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums nunmehr wahrscheinlich immer die Auflösung des Parlaments folgt. Damit ist jedoch auch die Flexibilität und Mobilität des Parlaments beseitigt, das nach den grundgesetzlichen Vorstellungen den Kanzler zwar nur unter den erschwerten Voraussetzungen des A r t . 65 GG, dann aber m i t Wirkung für den Rest der Legislaturperiode ersetzen kann, was in Krisenzeiten bedeutsam ist, wenn die Befragung des Volkssouveräns inopportun erscheint. Vorangegangene Wahlversprechen können den Wunsch nach vorgezogenen Neuwahlen zwar erklären, nicht aber rechtfertigen. Denn die Repräsentation verpflichtet die Repräsentanten, die eben keine Vertreter sind, auf das Wohl des ganzen Volkes, so daß Wahlprogramme, Wahlaussagen oder Koalitionsabreden zumindest unter dem Vorbehalt der clausula rebus stehen müssen. Nibelungen-Treue — insbesondere falsch verstandene — ist keine Verfassungskategorie und taugt nicht für parlamentarische Regierungssysteme. b) Unechte Bindungen i n verfahrensmäßiger Hinsicht I n verfahrensmäßiger Hinsicht hat sich ein Immobilismus des Parlaments i m Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen, insbesondere zum Bundesverfassungsgericht, herausgebildet. Auch hier w i r d fehlende politische Entscheidungsfreudigkeit und -fähigkeit mit vermeintlichen verfassungsrechtlichen Bindungen kaschiert. Symptomatisch hierfür ist die Erklärung der Bundesregierung, daß vor der Entscheidung über die Abschaffung des vorgezogenen Altersruhegeldes für Frauen mit Vollendung des 60. Lebensjahres der Spruch des Bundesverfassungsgerichts i n einem schwebenden Verfahren abzuwarten sei. Für diese vom Parlament zu entscheidende Frage kam es jedoch auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überhaupt nicht an, weil verfassungsrecht-

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lieh allenfalls die Frage umstritten sein kann, ob Frauen beim Altersruhegeld privilegiert werden dürfen, nicht aber, ob sie privilegiert werden müssen. I n Wirklichkeit waren daher Regierung und Parlament in ihrer Entscheidung völlig frei. Versteht man unter Flexibilität und Mobilität nicht nur Reaktionen schlechthin, sondern sachgerechte 37 und vor allem verfassungsgerechte Entscheidungen, so liegt ein parlamentarischer Immobilismus infolge unechter Bindungen auch vor, wenn das Parlament mit Rücksicht auf die Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse anderer Verfassungsorgane nicht die notwendigen und möglichen Entschlüsse faßt. So hätte der Bundestag angesichts erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken das Gesetz zur Freigabe der Abtreibung oder das Wehrpflichtänderungsgesetz von 1977 — die sogenannte Postkartennovelle — wahrscheinlich nicht verabschiedet, wenn nicht jeweils ein verfassungsgerichtliches Veto zu erwarten gewesen wäre. Dasselbe gilt für einige Zustimmungsgesetze, bei denen mit einer Korrektur durch den Bundesrat zu rechnen war. Der mit der Gewaltentrennung und Gewaltenbalance beabsichtigte Macht- und Herrschaftsverlust führt somit auch zu einem Verantwortungsverlust und macht das Parlament oder seine Mehrheit anfälliger gegen den Druck von Gruppen oder die Rücksichtnahme auf Koalitionspartner oder fraktions- bzw. parteiinterne Flügel.

IV. Institutionelle Ursachen Auf der Staatsrechtslehrertagung 1974 hat Oppermann 38 i n seinem Referat ausgeführt, gelegentliche Anfälligkeiten des Parlamentarismus seien nicht systembedingt, sondern hätten andere (transitorische) Ursachen. Diese verbreitete Leugnung institutioneller Schwächen des parlamentarischen Regierungssystems kann i n einer Epoche nicht verwundern, die sich durch eine Idealisierung des Demokratischen und ungenügende Demokratiekritik auszeichnet. Wer der Mehrheitsentscheidung als solcher Richtigkeit zusprechen oder sich gar zu der These Rousseaus bekennen w i l l , daß der Wille der Minderheit irrender Wille sei, w i r d schon durch seine Glaubensstärke von einer nüchternen Bestandsaufnahme abgehalten. Wer dagegen Mehrheit und Wahrheit auseinander37 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Öhlinger lichkeit. 38 V V D S t R L 33, 1975, S. 59, Leitsatz 1.

(Fn. 32), S. 140 ff. zur Sach-

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hält und die Mehrheitsentscheidung 39 als rein formale Regel nur akzeptiert, weil sie von allen Herrschaftsformen am besten eine Konsensfähigkeit i m Staat ermöglicht, ist nicht befangen, die Schwächen des demokratischen Systems auch i n der Form des parlamentarischen Regierungssystems zuzugeben. 1. Kurzatmigkeit

infolge Wahlperiodizität

Eine der Schwächen des parlamentarischen Regierungssystems liegt in der schon behandelten „Herrschaft auf Zeit" 4 0 und i m Erfordernis periodischer Wahlen. Allerdings wurden diese demokratischen Elemente gerade für die Offenheit, Flexibilität und Mobilität sowie die Möglichkeit des Herrschaftswechsels angeführt, so daß es widersprüchlich erscheinen muß, hieraus institutionelle Schwächen abzuleiten oder gar auf eine Immobilität des parlamentarischen Regierungssystems zu schließen. Die Antinomie ist jedoch i n der Tat vorhanden. Ähnlich dem Satz „summum ius summa iniuria" läßt sich für das parlamentarische Regierungssystem ein scheinbar widersprüchliches „summa mobilitas — summa immobilitas" konstatieren. Mobilität und Flexibilität bestehen vor allem bei kurzzeitigen und überschaubaren Problemen. Die Situationsbedingtheit dieser Entscheidungen führt keine faktischen Bindungen herbei. Daher funktionieren auch die Wahlen als Rückkoppelungsmechanismen, so daß sich die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Wähler i n der Bestätigung oder Ablösung der Regierung niederschlägt. Ganz anders verhält es sich dagegen bei Problemen, bei denen die Richtigkeit oder Unrichtigkeit, der Erfolg oder Mißerfolg einmal getroffener Entscheidungen erst nach Jahrzehnten oder womöglich nach Generationen auftritt. Als Beispiel kann die langfristige Sicherstellung der Energieversorgung genannt werden, für die fundamentale Entscheidungen schon längst hätten getroffen werden müssen und für deren Lösung es nicht ausreicht, sich gleichzeitig gegen die Atomkraft und das Waldsterben zu wenden und damit gleichsam eine ökologische Quadratur des Kreises zu 39

Z u r Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, 1983, insbes. S. 79 ff. 40 Hierzu auch Kelsen, V o m Wesen u n d W e r t der Demokratie, 2. Aufl., 1929, S. 102 f.

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fordern. Zu diesen Problemen zählt weiter eine Einigung über das Verhältnis von Individualverkehr und Gemeinverkehr (Schiene—Straße), der Abbau der beängstigenden Staatsverschuldung oder die Finanzierung der Sozialversicherung mit Beginn des 21. Jahrhunderts. A u f diese Probleme gibt es keine kurzfristigen und i n einer Wahlperiode zu realisierenden Antworten. Wechselnde Lösungen infolge wechselnder Parlamentsmehrheiten haben immense Fehlinvestitionen zur Folge, wovon dann Atomkraftwerksruinen oder Autobahntorsos zeugen. Während dem Staat als solchem eine Langzeitverantwortung 4 1 und auch die Sorge für kommende Generationen obliegt, werden die verantwortlichen Staatsorgane i n die Intervalle relativ kurzer Wahlperioden gepreßt. Da eine kontinuierliche, beständige und schwankungsfreie Politik i m parlamentarischen Regierungssystem institutionell nicht möglich ist, entsteht die Gefahr eines Immobilismus, der sich von vornherein einer soliden und dauerhaften Lösung der Probleme versagt. Statt dessen rafft sich das Parlament allenfalls zu einem vordergründigen Aktionismus auf, für den die Sozialpolitik der letzten Jahre treffende Beispiele liefert. Da werden Finanzmassen verschoben, Sozialgesetze i n einem kaum gekannten Ausmaß geändert und auch Sozialleistungen gekürzt — aber nur i n einem Umfang, der für die Mehrheit der Betroffenen, und damit der Wähler, nicht oder jedenfalls nicht i n schmerzhafter Weise bemerkt wird. Unbeschadet der Notwendigkeit einer Rangfolge muß sich die Politik aber nicht nur der Kurz-Zeit-, sondern auch der Lang-Zeit-Probleme annehmen. Das parlamentarische Regierungssystem birgt nun die Gefahr, daß kurzfristige Erfolge erstrebt werden, wodurch möglicherweise sogar die Lösung langfristiger Probleme erschwert wird. Wie soll eine Partei einschneidende Sparmaßnahmen, die trotz der idealistischen Vorstellung vom mündigen Bürger 4 2 immer unpopulär bleiben werden, durchführen und ihre Wiederwahl gefährden, wenn die Oppositionspartei gleichzeitig neue finanzielle 41

Z u r Langzeitverantwortlichkeit des Staates vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I , 1977, § 3, 3 I I I 4 b, S. 68; Hasso Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981, S. 258 ff.; Stober, Atomare E n t sorgung u n d Verfassung, in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 1983, S. 585 ff. 42 Kritisch auch Lübbe, „Begriff des Politischen" u n d politische Erfahrung der Gegenwart, in: Der Staat, 1983, 337; ferner Schelsky, P o l i t i k u n d Publizität, 1983, insbes. S. 66 ff. Nach undementierten Pressemeldungen hat der österreichische Bundeskanzler Kreisky nach seiner Wahlniederlage i m A p r i l 1983 erklärt: „ W i r haben uns m i t der Vermutung geirrt, daß w i r den Menschen reinen Wein einschenken müßten" (FAZ, 27.4.1983).

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Wohltaten für den Fall ihres Sieges verspricht 43 . Wie soll man einem Beitragszahler, der momentan hohe Sozialversicherungsrenten für 57jährige finanziert, klarmachen, daß er später wahrscheinlich eine niedrigere Rente i n einem höheren Alter erhalten wird? Solange die politischen Parteien sich nicht über die Wahlperioden und etwaige Regierungswechsel hinaus bei langfristigen Problemen auf eine Grundsatzlösung einigen, birgt die Wahlperiodizität die Gefahr, daß man die Probleme nur verschiebt und ihre Lösungen damit womöglich noch erschwert. 2. Das Problem der

„Gefälligkeits-Demokratie"

Herrschaft auf Zeit und Wahlperiodizität erfordern i n der parlamentarischen Demokratie eine Mehrheitsbeschaffung zu wiederkehrenden Terminen. Dabei ist die für den Wahlgewinn erforderliche Mehrheit die ausschlaggebende Mehrheit. Trotz der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Zählwert- und Erfolgswertgleichheit der Stimmen sind vor den Parteien nicht alle Stimmbürger gleich, sondern wegen des längst erforschten Wählerverhaltens und der geläufigen Unterscheidung von Stammwählern und Wechselwählern letztere grundsätzlich interessanter als erstere. M i t der verfassungsrechtlichen Erfolgswertgleichheit der Stimmen geht also keine politische Begehrtheitsgleichheit der Stimmbürger einher. Die Schwäche des parlamentarischen Regierungssystems liegt nicht nur i n der Gefahr, daß beim Kampf um die politische Macht die Sachgerechtigkeit zugunsten der Wählergerechtigkeit auf der Strecke bleibt, sondern darüber hinaus i n dem Umstand, daß selbst bei einseitiger Wählerorientiertheit die Interessen bestimmter Wählergruppen für die Parteien vorrangiger sind als die anderer. A u f diese Weise kann i n Anlehnung an das wahrscheinlichkeitstheoretische Gesetz der großen Zahlen das politikwissenschaftliche Gesetz der relevanten Stimmen entwickelt werden, wonach der Wahlsieg einer Partei u m so wahrscheinlicher wird, je stärker es ihr gelingt, die für den Wahlausgang relevanten Stimmen zu gewinnen. Und so ist das parlamentarische System dann nicht mehr imstande, die auf alle zukommenden Lasten gerecht auf alle Schultern zu verteilen.

43 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch den v o n der F r a k t i o n der SPD eingebrachten E n t w u r f eines Gesetzes zur Aufhebung der unmittelbaren Beteiligung der Versicherten an den Kosten der Krankenhaus- u n d Kurbehandl u n g (Selbstbeteiligungs-Aufhebungsgesetz), BT-Drucks. 10/120, dessen erste Beratung i n der 15. Sitzung v o m 22.6.1983 stattfand, Sten. Ber. 958 ff.

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Da i n der parlamentarischen Demokratie anders als i n der Präsidialdemokratie das Schicksal der Regierung nicht nur rechtlich, sondern in starkem Maße auch politisch von dem der Parlamentsmehrheit abhängt, müssen beide, u m nicht selbst zu fallen, anderen zu gefallen suchen. Nicht zufällig sind die Rentenreformen stets i n Wahljahren durchgeführt worden. Diese Gefälligkeitsdemokratie funktioniert naturgemäß besser, wenn Überflüsse zu verteilen, als wenn Lasten aufzuerlegen sind, weshalb mitunter auch von einer „Schönwetter-Staatsform" gesprochen wird 4 4 . Die Ausrichtung auf Wählergruppen und deren Begehrlichkeiten führt dazu, daß eine antizyklische Ausgabenpolitik nicht betrieben werden kann, obwohl sie volkswirtschaftlich i n Grenzen möglich wäre und i m Stabilitätsgesetz auch vorgesehen ist. Da volle Kassen bekanntlich sinnlich machen und Ausgabenprüderie am Wahltag keine Zinsen trägt, gerät Sparsamkeit zur demokratischen Untugend und w i r d als „Kaputtsparen" diffamiert. Juliustürme gehören offenbar nicht mehr i n das Bauprogramm eines demokratischen Wohlfahrtsstaates, der unbesorgt vorschießen kann, weil seine Bürger nachschießen müssen. Daher stellt ein so pragmatischer Politiker wie Georg Leber fest: „Der demokratisch verfaßte Staat schafft es eben nicht, vor den Augen seiner Bürger . . . Reserven zu bilden, solche Türme zu bauen und sie über längere Zeit unversehrt zu erhalten 45 ." Die Kontrollfunktion der Opposition muß vielfach versagen, weil sie sich insbesondere wegen der für den Machtgewinn relevanten Gruppe der Sozialleistungsempfänger an Sozialstaatlichkeit von der Regierung nicht übertreffen lassen darf, so daß die Gewaltenkontrolle durch die Opposition, die theoretisch zu einer Minimierung der Fehler führen müßte, i n der Praxis sogar deren Kumulierung bewirken kann, wenn — wie bei der Rentenreform 1972 — Regierung und Opposition bei der Ausschüttung sozialer Wohltaten vor den Wahlen einander überbieten. A u f diese Weise entstehen Anspruchs- und Sozialspiralen, die auch i n Zeiten wirtschaftlicher Rezession und sinkender Staatseinnahmen nicht entscheidend zurückgeschraubt werden können und den „Zauberlehrling" Parlament an sich zu dem Schreckensruf veranlassen müßte: Die ich gab, die Normen, werd' ich nun nicht los. So brachte die Besoldungsanpassung 1974 für die Besoldungsgruppe A 1 eine Erhöhung von 19,15 vom Hundert, für die Besoldungsgruppe A 13 44

Z u r Ausgabefreudigkeit der Parlamente vgl. auch Bagehot, Die englische Verfassung, 1971, S. 140 f. 45 Deutscher Bundestag, 9. WP, 138. Sitzung v o m 14.12.1982, Sten. Ber. S. 8612 (B).

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dagegen nur eine von 11 vom Hundert 4 6 . Obwohl sich durch die Personalausgaben gerade für den einfachen und mittleren Dienst, nicht zuletzt infolge dieser Besoldungsreform, die finanzielle Situation der Länder drastisch verschlechtert hat 4 7 , ist der Gesetzgeber nicht bereit und wohl auch nicht imstande, den Fehler überproportionaler Besoldungserhöhungen gerade für die unteren Beamtengruppen i m Rahmen der von der Verfassung gezogenen Grenzen rückgängig zu machen. A u f diese Weise entsteht eine Immobilität des Parlaments, das Fehlentwicklungen nicht oder nur i n geringem Umfang korrigieren kann. Je geringer das Ausmaß der Korrektur aber ist, desto langfristiger müßte ein konsequenter Kurs gehalten werden, was wiederum wegen der Wahlperiodizität und der Möglichkeit eines Regierungswechsels i n der parlamentarischen Demokratie nicht sichergestellt werden kann. 3. Ämterpatronage I n der parlamentarischen Demokratie müssen die Parteien nicht nur die Wähler, vor allem die entscheidungsrelevanten Gruppen, durch Wohltaten zu gewinnen suchen, sondern sie müssen auch ihre Gefolgsleute prämiieren oder zumindest Erfolgsprämien in Aussicht stellen. Da Regierungsämter wegen ihrer auch nach Schaffung des „Parlamentarischen Staatssekretärs" beschränkten Zahl und der Qualifikationsanforderungen den Pfründehunger nur begrenzt stillen können, ist die Exekutive Objekt einer seit langem diskutierten „Ämterpatronage" 4 8 geworden. Was kurz nach dem revolutionären Bruch mit dem Kaiserreich noch als „Demokratisierung der Verwaltung" ausgegeben werden konnte, läßt sich inzwischen als neo-absolutistische Simonie kaum verhüllen. Diese Ämterpatronage führt zum einen dazu, daß (Partei-)Gesinnung Vorrang vor (Fach-)Qualifikation erhält, wofür sich immer wieder frappierende Beispiele finden lassen. So waren beispielsweise während der Weimarer Republik i n der Provinz Sachsen i m Zeitraum von 1923—1930 von den 39 Landratsposten 16 m i t Außenseitern besetzt, wobei rund 46 Vgl. i m einzelnen Merten, Z u r Problematik der Gewährung einheitlicher Festbeträge bei Besoldungsanpassungen, i n : Öffentlicher Dienst, Festschrift f ü r Carl Hermann Ule, 1977, S. 376 f. 47 Hierzu Merten, „Gekappte" Besoldungsanpassung als verkappte Besoldungsnivellierung, 1983, S. 16, insbes. i n u n d zu Fn. 129. 48

Vgl. neuestens Isensee, öffentlicher Dienst, i n : Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, S. 1164 m i t weiteren Nachweisen; Fromme, P o l i t i k — w o h i n m a n schaut, i n : Die Neue Ordnung, 1983, 290 ff., insbes. 293 ff.

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zwei Drittel als Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre übernommen wurden und einer früher als Friseur tätig war 4 9 . Bei diesem hatte man offenbar die für die Verwaltung erforderliche „Kopf-Arbeit" i n einem allzu vordergründigen Sinne verstanden. Aus der jüngeren Zeit liefert der Kanzleramtsspion Guillaume ein anschauliches Beispiel für Karriere durch Ämterpatronage. Noch gewichtiger ist der Einwand, daß die Funktion des auch für die rechtsstaatliche Demokratie unentbehrlichen Berufsbeamtentums pervertiert wird. Denn diese soll „gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen" 50 . Ämterpatronage beseitigt nicht nur die spezifische Gewaltenbalance, die zwischen der wechselnden Parlamentsmehrheit und der Gubernative einerseits und der kontinuierlichen Exekutive andererseits bestehen soll, sondern kann auch zu Immobilitätserscheinungen führen. W i r d die Ämterpatronage, wie z. B. i m Falle einer Großen Koalition, nicht nach Proporzgesichtspunkten durchgeführt, so kann die Durchsetzung der Exekutive mit politischen Gesinnungsfreunden i n größerer Zahl, z. B. bei Stellenvermehrung, zwar zunächst infolge einer politischen Gleichschaltung akzelerierend wirken, macht sich aber i m Falle eines Regierungswechsels retardierend bemerkbar, weil von Beamten, die sich nicht i n erster Linie dem Dienst am Staat verpflichtet fühlen, eine loyale Exekutierung des Regierungswillens nicht zu erwarten und i m Wege der Dienstaufsicht auch nur i n begrenztem Umfange sicherzustellen ist. Als Notausweg verbleibt i n solchen Fällen nur die Auswechselung der „politischen Beamten", die jedoch nicht nur mit hohen finanziellen Lasten verbunden ist, sondern bei Revirements größeren Umfangs gegen die Idee des Berufsbeamtentums verstößt. 4. Personelle Schwächen Die Ersetzung des Honoratiorenparlaments durch eine Versammlung von Berufsparlamentariern verstärkt den Immobilismus, weil es letzte49

Hierzu Thomas Klein , Z u r Verwaltungsgeschichte der Provinz Sachsen. Preußische Landräte i m Kaiserreich u n d i n der Weimarer Republik, in: Osw a l d Hauser (Hrsg.), Vorträge u n d Studien zur preußisch-deutschen Geschichte, 1983, S. 251 ff. (313). 50 BVerfGE 44, 249 (265).

7, 155 (162); vgl. auch E 8, 1 (16); 11, 203 (216 f.); 39, 196 (201);

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ren an persönlicher Unabhängigkeit fehlt. Die Abhängigkeit von einer Wiederwahl und damit auch von einer erneuten Nominierung durch die Parteigremien stärkt den innerparteilichen Konformismus und schwächt eine differenzierte Meinungsvielfalt. Da i m parlamentarischen Regierungssystem zwischen der Regierungsspitze und der Spitze der Mehrheitspartei(en) eine enge Zusammenarbeit, wenn nicht sogar personelle Identität besteht, nimmt auf diese Weise auch das Gewicht der Mehrheitsfraktion(en) gegenüber der Regierung ab. Hinzu kommt, daß das innerparteiliche Auswahlverfahren die Qualifikation der Abgeordneten nicht garantieren kann. Die gemäß A r t . 21 Abs. 1 Satz 2 vorgeschriebene innerparteiliche Ordnung nach „demokratischen Grundsätzen" mag einen optimalen innerparteilichen Konsens bei der Auswahl der Mandatsbewerber, kann aber nicht deren Qualifikation sicherstellen. Fachliches Können muß nicht immer m i t der Fähigkeit einhergehen, Mehrheiten zu erringen, wie umgekehrt die Mehrheitsentscheidung zwar einen optimalen Konsens verbürgt, aber nicht einmal die Vermutung der Richtigkeit für sich hat. I n den Zeiten des Honoratiorenparlaments waren die Mandatsträger durch eine herausragende berufliche Stellung ausgewiesen. W i r d Politik zum Beruf und rekrutiert sich die politische Führung aus Funktionären, die eine innerparteiliche Karriere durchlaufen haben, so fehlt ein externes Qualifikationsmerkmal. Zugleich hat die Hinwendung zum Berufsparlamentarier die schon vielfach diskutierte Folge, daß bestimmte Berufsgruppen (z. B. freie Berufe) i m Parlament unterrepräsentiert, andere Gruppen dagegen überrepräsentiert sind. Das innerparteiliche Auswahlverfahren nach Mehrheitsentscheidung kann schließlich nicht garantieren, daß die für jede Fraktion unentbehrlichen Spezialisten einen Parlamentssitz erhalten. Obwohl das Parlament mit einer nach Ressorts gegliederten, spezialisierten Verwaltung zusammenarbeiten und diese auch kontrollieren muß, ist die berufliche Qualifikation auf beiden Seiten vielfach nicht gleichwertig. So werden die schwierigen Sozialversicherungsgesetze nur von wenigen Abgeordneten verstanden, und gelingt es dem Bundestag nicht einmal, seinen Rechtsausschuß ausschließlich mit Volljuristen zu besetzen51. Dieser Qualifikationsmangel, der zu einer Abhängigkeit des Parlaments von 51 So waren v o n den ordentlichen Mitgliedern des Rechtsausschusses i n der 8. Wahlperiode (1976—1980) 7, i n der 9. Wahlperiode (1980—1983) 5 u n d i n der 10. Wahlperiode (zum Zeitpunkt der Konstituierung) 5 Mitglieder keine V o l l juristen, was einem A n t e i l von etwa 15—20 v o m Hundert entspricht.

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der Regierung und zu parlamentarischer Unbeweglichkeit führen muß, w i r d allenfalls dadurch teilweise ausgeglichen, daß die schon erwähnte Ämterpatronage auch zu einer Qualitätsminderung der Verwaltung führt. V. Zur Psychologie des Wählers Die parlamentarische Immobilität w i r d i n der konkreten Situation der Bundesrepublik Deutschland durch exogene Umstände verstärkt, die ihre Ursachen nicht i m parlamentarischen Regierungssystem als solchem haben, sondern von außen kommen. Das parlamentarische Regierungssystem muß, u m funktionieren zu können, als solches vom Wähler akzeptiert werden. I n der fehlenden Harmonie zwischen revolutionär errichteter Herrschaftsordnung und der Einstellung des Wahlvolkes lag eine der Schwächen der Weimarer Republik. Werden die Prinzipien des parlamentarischen Regierungssystems, insbesondere der Grundsatz einer Herrschaft auf Zeit und eines möglichen Regierungswechsels, vom Wähler nicht voll bejaht, so kann innerer Widerstand i n dem auf Mobilität angelegten System zur Immobilität führen. Wenn der Regierungs- oder „Macht"-Wechsel als etwas Spektakuläres erscheint, wenn der Koalitionswechsel als Verrat gebrandmarkt werden und als Grundlage neuer Dolchstoßlegenden dienen kann, dann sind hieraus Indizien für eine fehlende demokratische Reife des Wahlvolkes zu gewinnen 52 . Während England mit seiner langen demokratischen Tradition nach Ende des Zweiten Weltkriegs den siegreichen Premier Churchill kurzerhand abgewählt hat, erscheinen langdauernde Regierungsperioden als solche i m deutschen Raum (im weiteren Sinne) vom Standpunkt des Wählers aus immer noch als Erfolg. Ob der Wähler während der Adenauer- oder Kreisky-Ära möglicherweise unbewußt i n diese Staatsmänner die Züge Bismarcks oder Franz Josephs hineingesehen hat, mag offenbleiben. Eine auf Dauer und nicht auf Wechsel angelegte psychologische Einstellung des Wählers muß insbesondere i m Drei-Parteien-System zur Immobilität führen, weil dann wegen der erforderlichen Rücksichtnahme auf den Wähler ein Wechsel oder eine Wende der dritten Partei nur i n größeren Abständen und nur bei auch von der Öffentlichkeit zu bemerkenden Krisensymptomen möglich wird. 52

1983.

Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Röhrich, Die verspätete Demokratie,

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Schließt man die Bestandsaufnahme, so zeigt sich, daß das parlamentarische Regierungssystem auch institutionelle Mängel aufweist. Sie können i m Zusammenwirken mit anderen Faktoren zu einer Immobilität führen, die insbesondere die Lösung langfristiger Probleme erschwert, wenn nicht unmöglich macht.

Parlamentarische Demokratie und die innere Souveränität des Staates Von Hans-Jürgen Papier I. Regierbarkeit und Neo-Korporatismus Die der inneren Souveränität unserer parlamentarischen Demokratie gewidmete Themenstellung richtet den Blick auf die allgemeine Problematik der Regierbarkeit des Staates1. Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft haben wiederholt Krisenerscheinungen i n der Frage der Regierbarkeit konstatiert. Solche Gefahren, die teilweise aus dem rechtlichen System bzw. aus seiner Handhabung, teilweise aber auch aus psychologischen und ideologischen Komponenten einer vielfach erheblich gestörten Staat-Bürger-Beziehung folgen, werden immer wieder augenfällig: Erinnert sei nur an den wiederholten Einsatz rechtsstaatlicher Rechtsschutzinstrumente mit einer gegen den Staat gerichteten Verhinderungs- und Erniedrigungsstrategie, an die Bestrebungen einer hypertrophen „Umsetzung" des demokratischen Prinzips und seiner Verbiegung i n eine endlose „Bürger"-Partizipation sowie an die Versuche einer verfassungsrechtlichen oder jedenfalls verfassungspolitischen Festschreibung sozialrechtlicher Positionen als (vermeintlicher) Ausfluß des Sozialstaatsgebots2. I n diesem Zusammenhang müssen auch die gerade i n jüngster Zeit besonders lustvoll gepflegten Bestrebungen gewisser Minderheiten erwähnt werden, sich vor allem der Medien als Darstellungsforum und „Vergrößerungsglas" bedienend, als Motor einer scheinbaren Mehrheitsbewegung getroffene staatliche Entscheidungen, sei es zur Volkszählung, sei es zur Einführung eines neuen Personalausweises, unter Zurücklassung eines eher lächerlich denn rechtsstaatlich wirkenden Staates umzustoßen. Aber auf diese allgemeinen K r i senerscheinungen, die teilweise auf einer unbekümmerten Extension des normativen Systems, teilweise auf hypertrophen Leistungserwartungen gegenüber dem Staat einerseits, einem ausgesprochenen Feind1 Vgl. dazu etwa Isensee u n d Hans Meyer, in: Zur Regierbarkeit der parlamentarischen Demokratie. E i n Cappenberger Gespräch, 1979, S. 15 ff., 48 ff. 2

Siehe auch Isensee (Fn. 1), S. 42 ff.

3 Parlamentarisches Regierungssystem

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b i l d vom Staat und einem Rechtsnihilismus andererseits basieren, soll i m folgenden nicht weiter eingegangen werden. Gegenstand meiner Ausführungen w i r d vielmehr der speziellere Aspekt des Neo-Korporatismus 3 sein, welcher der souveränen Staatsgewalt i n ihrer Einzigkeit 4 und Suprematie bedrohlich entgegenzutreten scheint. Sachkundige und zuverlässige Beobachter unserer gegenwärtigen staatsrechtlichen und politischen Verhältnisse stellen ein teilweises Auseinanderfallen von verfassungsrechtlich organisierter und tatsächlich ausgeübter politischer Entscheidungsgewalt fest 5 . Der staatsrechtlichen Grundidee einer souveränen, d. h. einzigen und höchsten Staatsgewalt zum Trotz, sollen sich aus dem Bereich der wirtschaftlich-sozialen Verbände und Interessenträger parakonstitutionelle politische Entscheidungsmächte herausgebildet haben, so daß sich der politische Prozeß der Staatsleitung nur noch z. T. gemäß den verfassungsrechtlichen Struktur- und Verfahrensprinzipien der parlamentarischen Demokratie abwickelt. Man denkt hier vornehmlich an die Tarifpartner 6 , die mittels der Tarifverträge Daten setzen, die für die gesamtwirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung von ganz entscheidender Relevanz sind, ohne daß die staatlichen Entscheidungsträger jene für sie heteronom ablaufenden Vorgänge an sich ziehen, steuern oder kontrollieren könnten. Aber auch die Großinvestoren der Privatwirtschaft werden i n diesem Zusammenhang einer Teilhabe Privater an der Wahrnehmung politischer Leitungsfunktion genannt 7 . Ist der Staat — so fragen viele Beobachter kritisch — wirklich noch der „Träger letztinstanzlicher Gemeinwohlverantwortung" 8 , wenn für das Gemeinwohl, insbesondere für 3 Z u diesem Begriff s. Grimm, Verbände, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 373 ff. (379), unter Hinweis auf das umfängliche politikwissenschaftliche Schrifttum. Vgl. etwa U. v. Alemann (Hrsg.), Neokorporatismus, 1981; R.G.Heinze, Verbändepolitik u n d Neokorporatismus, 1981; U.v. Alemann / R.G. Heinze (Hrsg.), Verbände u n d Staat. V o m Pluralismus zum K o r poratismus, 1979. 4

Zur Einzigkeit der Staatsgewalt siehe H. Krüger, 2. A u f l . 1966, S. 851 ff.

Allgemeine Staatslehre,

5 Böckenförde, Die politische F u n k t i o n wirtschaftlich-sozialer Verbände u n d Interessenträger i n der sozialstaatlichen Demokratie, Der Staat 15 (1976), 457; Grimm (Fn. 3), S. 377 ff. 6

Böckenförde,

Der Staat 15 (1976), 461 ff.

7

Böckenförde, Der Staat 15 (1976), 464 ff.; Papier, Unternehmen u n d Unternehmer i n der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, in: V V D S t R L 35 (1977), 55 (68). « Böckenförde,

Der Staat 15 (1976), 471.

Parlamentarische Demokratie u. die innere Souveränität des Staates

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die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, wesentliche Entscheidungen nicht von i h m und nicht i n dem verfassungsrechtlich organisierten Prozeß, sondern außerhalb der verfassungsrechtlich geordneten Staatsleitung getroffen werden? I I . Parlamentarische Demokratie im „Idealzustand" 1. Die grundgesetzliche Ordnung der Staatsgewalt ist durch das demokratische Prinzip sowie durch den Grundsatz der parlamentarischen Regierungs- und Verwaltungsverantwortung geprägt. Nach dem demokratischen Prinzip, wie es vom Grundgesetz für die Bundesrepublik verfaßt ist, geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und w i r d vom Volke i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Diese Grundentscheidung der Verfassung für die demokratische Staatsform und die Souveränität des Volkes w i r d i m A r t . 28 Abs. 1 GG näher ausgebaut: Nach A r t . 28 Abs. 1 S. 1 GG muß die verfassungsmäßige Ordnung i n den Ländern u. a. den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats i m Sinne des Grundgesetzes entsprechen. I n den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG). Die demokratische Legitimation der Staatsgewalt erfordert eine „ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den m i t staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern" 9 . Nicht gefordert ist damit eine unmittelbare Legitimation durch Volkswahl. Vom Grundgesetz ist eine solche unmittelbare Legitimation nur auf der Gemeindeebene und nur für den Rat als die „zentrale Führungsinstanz der Gemeinde" 10 vorgeschrieben (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG). Dem demokratischen Prinzip des Grundgesetzes genügt es i n der Regel, daß sich die Ausübung der Staatsgewalt mittelbar auf das Volk als Träger der Staatsgewalt zurückführen läßt 11 . 2. Das parlamentarische System ist ein Element des demokratischen Rechtsstaates i. S. des A r t . 28 Abs. 1 GG und kraft dieser bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsvorschrift auch für die Länder maßgeb9

Vgl. BVerfGE 47, 253 (275); ferner Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 208 ff.; Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 73 ff. 10 BVerfGE 47, 275. 11 BVerfGE 47, 275; vgl. auch BVerfGE 38, 271. *

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lieh. Es besagt, daß die Regierung i n ihrem Bestand und daher auch in ihrer Tätigkeit vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist 12 . Dies impliziert eine parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung, der sie nur gerecht werden kann, wenn sie an der Spitze einer durchgängig hierarchisch strukturierten Exekutive steht. Nur dann ist die Regierung i n der Lage, „ i n Verantwortung gegenüber der Volksvertretung und von ihr getragen" der gesamten exekutivischen Tätigkeit „eine bestimmte Richtung zu geben" und über Weisungsstränge „für die Einhaltung dieser Linie durch die i h r unterstellten Instanzen zu sorgen" 13 . Dem parlamentarischen System des Grundgesetzes entspricht nicht allein die parlamentsabhängige und dem Parlament gegenüber verantwortliche Regierung, sondern auch die funktionsfähige Regierung, die i m Grundsatz die Recht- und Zweckmäßigkeit aller Verwaltungstätigkeit durchzusetzen vermag, indem sie an der Spitze eines hierarchischen Verwaltungsapparats steht, welcher sich durch ein lückenloses System von Weisungsgebundenheit auszeichnet 14 . Parlamentarische Verantwortlichkeit und hierarchisches Prinzip sind Mittel oder Formen einer demokratischen Legitimation der Staatsgewalt unter sachlich-inhaltlichem Aspekt. Sie bestehen neben der organisatorisch-personellen Legitimation i n Form einer ununterbrochenen Legitimationskette für die m i t der Ausübung von Staatsgewalt betrauten Organwalter 1 5 . Die demokratische Verantwortlichkeit für die A r t und Weise der Ausübung von Staatsgewalt t r i t t zum Gesetzesvorbehalt zugunsten der Volksvertretung und zur strikten Bindung aller anderen Staatsorgane an jene Parlamentsgesetze hinzu. Auch Parlamentsvorbehalt und Gesetzesbindung sind Ausdruck einer sachlich-inhaltlichen Legitimation aller Staatsgewalt 16 .

12 Siehe Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. A u f l . 1984, S. 955; Oppermann, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: V V D S t R L 33 (1975), 9 ff. 13 Erich Kaufmann, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: V V D StRL 9 (1952), 7. 14 Siehe auch BVerfGE 9, 268 (281). 15 16

Siehe auch Böckenförde (Fn. 9), S. 79. Böckenförde (Fn. 9), S. 79.

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I I I . I m Rechtssystem angelegte Durchbrechungen 1. Nach dieser gerafften Idealbeschreibung der grundgesetzlichen Organisation von Staatsgewalt wenden w i r uns wieder den bereits eingangs angedeuteten Realitäten zu, die — bei zunächst oberflächlicher Betrachtung — auf eine zunehmende „Vergesellschaftung" von Staatsgewalt und damit auf einen fortschreitenden Prozeß des Neo-Korporatismus und der „Refeudalisierung" hindeuten. A n dieser Stelle bedarf es des Hinweises, daß das Grundgesetz selbst jene angedeuteten Durchbrechungen i n gewissem Grade zuläßt oder gar fordert. Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes steht m. a. W. der gesetzgeberischen Ausgliederung von Exekutivfunktionen und ihrer Übertragung auf Selbstverwaltungsträger, also dem Phänomen der „Autonomisierung" 1 7 , nicht schlechthin entgegen. Die Verfassung selbst schreibt i m A r t . 28 Abs. 2 eine solche Ausgliederung und damit eine Dezentralisation von Staatsgewalt, d. h. die Konstituierung von „Teilvölkern" vor. Über diese Fälle territorialer Selbstverwaltung hinaus kennt die Rechtsordnung weitere vielfältige Erscheinungen funktionaler Selbstverwaltung 18 , bei denen der Legitimationszusammenhang mit dem Staatsvolk und seinen gewählten Repräsentanten gleichfalls unterbrochen ist. Zu denken ist hier etwa an die Träger der Sozialversicherung 19 , an die berufsständischen Kammern und an die Hochschulen. Die Autonomie w i r d hier teilweise für grundgesetzlich geboten, teilweise jedenfalls für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet 20 . Es kann hier offenbleiben, ob und inwieweit das Grundgesetz der Schaffung von Selbstverwaltungsinstitutionen durch die einfache Gesetzgebung Grenzen setzt; wichtig ist hier nur der allgemeine Hinweis, daß es trotz seiner demokratiestaatlichen Ausrichtung keine strikte Entscheidung zugunsten einer zentralen oder unitarischen Demokratie trifft, sondern abgestufte und mehrfach mediatisierte Formen der Selbstverwaltung zuläßt. 2. Auch das parlamentarische System des Grundgesetzes sieht sich Wahrnehmungen von Staatsgewalt i n Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit gegenüber; erwähnt sei hier nur die Autonomie der Deutschen Bundesbank, die gemäß § 12 S. 2 BundesbankG bei der Ausübung der 17

Siehe Püttner, Die Mitbestimmung i n kommunalen Unternehmen, 1972, S. 49 ff.; Leisner, Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst, 1970, S.48f.; Obermayer, Mitbestimmung i n der Kommunalverwaltung, 1973, S. 28 f. 18 Vgl. auch Püttner (Fn. 17), S. 50 f. 19

Vgl. A r t . 87 Abs. 2 GG.

20

Vgl. BVerfGE

11, 310 (321).

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Befugnisse, die ihr nach diesem Gesetz zustehen, von Weisungen der Bundesregierung unabhängig ist. Durch die spezielle Verfassungsnorm des A r t . 88 GG ist der Gesetzgeber zwar nicht verpflichtet, wohl aber ermächtigt, der Bundesbank Autonomie zu gewähren 21 . Eine Exemtion aus der inhaltlich-demokratischen Verantwortlichkeit und der hierarchisch strukturierten Exekutive kann im übrigen nur zulässig sein, wenn sie aus übergeordneten zwingenden Gründen gerechtfertigt ist, keine politischen Zentralfunktionen des Staates betrifft 2 2 und wenigstens die demokratische Legitimation i n ihrer organisatorisch-personellen Ausrichtung gesichert ist 23 . I m Verhältnis zu jenen eher punktuellen und gewissermaßen rechtlich abgesicherten Durchbrechungen des demokratiestaatlichen und parlamentarischen Systems erscheinen die angedeuteten Züge zum Neo-Korporatismus von prinzipiell anderem Gewicht. Soziale Mächte treffen — so lautet die Analyse — auf der Grundlage ihres Grundrechtsstatus aus A r t . 14, 12 Abs. 1 und 9 GG Entscheidungen, die für die staatlichen Aufgabenerfüllungen von zentraler Bedeutung, determinierend und irreversibel sind. Zwischen den Aufgabenzuweisungen an den für die soziale und ökonomische Gesamtentwicklung verantwortlichen Staat einerseits und seinem zugunsten der Privat- und Tarifautonomie gesellschaftlicher Mächte erheblich gestutzten Handlungsinstrumentarium andererseits besteht offenbar eine tiefe, für viele auf Dauer nicht tragbare Kluft. Eine „Vergesellschaftung" politischer Funktionen und damit ein „Überspielen" der staatlichen Souveränität durch Pluralismus und Korporatismus drohen aber auch unter einem weiteren Aspekt: Es geht nicht nur u m Ausgliederungen von Entscheidungsfunktionen aus der staatlichen Ebene, sondern auch u m maßgebliche Einwirkungen gesellschaftlicher Mächte i n den staatlichen Entscheidungsprozeß durch Systeme einer Personal- bzw. Gewerkschaftsmitbestimmung i n Einrichtungen, Behörden und Unternehmen der öffentlichen Verwaltung 2 4 .

21

Siehe BVerwGE 41, 334 (356 ff.); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepub l i k Deutschland, Bd. I I , 1980, S. 494 ff.; Papier, Die Zentralbank i m Verfassungsgefüge, in: Instrumente der sozialen Sicherung u n d der Währungssicher u n g i n der Bundesrepublik Deutschland u n d i n Italien, Der Staat Beiheft 5, 1981, S. 109 (110 ff.). 22 23 24

Vgl. BVerfGE 9, 282. Siehe auch Böckenförde Vgl. dazu V.

(Fn. 9), S. 79 f.

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IV. Politische Entscheidungsfunktionen Privater 1. Aufgaben und Gestaltungspotential

des Staates

Wenden w i r uns zunächst dem ersten Phänomen der „Vergesellschaftung" zu. Wie ist es zu dieser Diskrepanz zwischen den Aufgabenzuweisungen an den Staat und dem staatlichen Gestaltungs- oder Einwirkungspotential gekommen? Es ist keine Frage, daß bestimmte w i r t schaftliche und soziale Verbände oder Machtträger Entscheidungsbefugnisse besitzen, die für die staatliche Aufgabenerfüllung von erheblicher Bedeutung und determinativer Tragweite sind 25 . Diese Entscheidungsbefugnisse innerhalb des politischen Prozesses sind nicht usurpiert, sondern folgen aus den Grundrechten jener Macht- oder Interessenträger: Die i m Kernbestand durch A r t . 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie garantiert ihren Trägern die Möglichkeit, für die gesamtwirtschaftliche und soziale Entwicklung des Gemeinwesens sehr wichtige Daten zu setzen. Auch die Großinvestoren erlangen kraft ihres Grundrechtsstatus aus A r t . 12 Abs. 1, 14 GG eine ähnliche „sektorale politische Entscheidungsgewalt". Die private Investitionsentscheidung erhält — ebenso wie die Entscheidung zur Nicht-Investition — trotz permanenten Anstiegs des Staatsanteils am Bruttosozialprodukt etwa infolge des hohen Konzentrationsgrades der Wirtschaft 2 6 oder wegen der häufig festzustellenden Zwangsläufigkeit nachfolgender öffentlicher Investitionen eine wachsende gesamtwirtschaftliche Bedeutung 27 . Die staatliche Verantwortung für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht i m Sinne einer Wachstums-, Stabilitäts- und Vollbeschäftigungsvorsorge stößt auch insoweit auf unumgängliche Determinanten. Zu dieser scheinbar prekären Lage ist es gekommen, weil unser Staat sich — soweit es sich u m seine Aufgaben und Verantwortlichkeiten handelt — immer mehr h i n zu einem „totalen" Staat entwickelt hat. „ I n dem zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordenen Staat" — so stellte Carl Schmitt schon 1931 richtig fest 23 — „gibt es nichts, was nicht wenigstens potentiell staatlich und politisch wäre". I n i h m gibt es kein 25

Siehe Böckenförde , Der Staat 15 (1976), 457 ff.; Grimm (Fn. 3), S. 377 ff.; Papier , V V D S t R L 35 (1977), 68. 26 Mehr Wettbewerb ist möglich, Hauptgutachten 1973/1975 der Monopolkommission, 1976, S. 63 ff.; vgl. auch Papier , V V D S t R L 35 (1977), 68 m. Fn. 55. 27 Vgl. Meißner, Investitionslenkung, 1974, S. 13 f. 28 Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 78 f.

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Gebiet mehr, dem der Staat mit strikter Neutralität i m Sinne einer Nichtintervention begegnen könnte; er hat vielmehr „alles Gesellschaftliche, alles, was das Zusammenleben der Menschen angeht", aufzugreifen 29 . Dies ist zu einem gewissen Teil heute sogar normativ vorgegeben: Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verpflichtet den Staat zur Gestaltung der sozialen Ordnung. Es umschließt auch das Mandat, i n der Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Haushaltspolitik den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen 30 . A r t . 109 Abs. 2 GG bezieht die Pflicht zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausdrücklich nur auf die „Haushaltswirtschaft" von Bund und Ländern. Aber er konkretisiert damit nur den allgemeinen sozialstaatlichen Verfassungsauftrag, so daß jene staatliche „Gleichgewichtsvorsorge" einen umfassenden Verfassungsauftrag für die staatliche Politik darstellt. Der Staat hat also die Gesamtverantwortung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, für den ökonomischen Wohlstand und die soziale Sicherheit übernommen. Fehlentwicklungen auf diesen Gebieten werden den Organen der Staatsleitung angelastet und regelmäßig auch politisch sanktioniert 31 . Diese Tendenzen zur umfassenden staatlichen Gemeinwohlverantwortung erreichen inzwischen auch andere gesellschaftliche Bereiche wie etwa die Gesundheit des Menschen, die Forschung, die kulturelle Entwicklung oder gar den Leistungssport. Der an Aufgabenzuweisungen und Gemeinwohlverantwortlichkeiten „totale" Staat ist aber zugleich verfassungsunterworfener Rechtsstaat. Vornehmlich die Grundrechte verwehren i h m i n bezug auf das Instrumentarium jene Totalität. Der Rechtsstaat kann die Verheißungen oder Versprechungen umfassender staatlicher Verantwortlichkeiten für die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht einlösen. Die grundrechtlichen Gewährleistungen des Privateigentums einschließlich des unternehmensbestimmten Eigentums, der Berufs-, Gewerbe- und Unternehmerfreiheit, der freien Wahl des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte, der Freizügigkeit, der Vereins- und Gesellschaftsfreiheit, der Vertragsund insbesondere der Koalitionsfreiheit einschließlich der Tarifautonomie schließen eine Wirtschaftsordnung aus, i n der die Volkswirtschaft 29

Carl Schmitt (Fn. 28), S. 79. Vgl. Badura, Wachstums vor sorge, i n : Hamburg. Deutschland. Europa, Festschrift für Hans-Peter Ipsen, 1977, S. 367 (369); Papier, Grundgesetz u n d Wirtschaftsordnung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 609 (617 f.). 30

31

Vgl. Grimm

(Fn. 3), S. 377.

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nach den Systemen einer zentralen Verwaltungswirtschaft und einer imperativen und zentralistischen Staatsplanung geleitet und koordiniert wird 3 2 . Die wirtschaftsrechtlich relevanten Grundrechte des Grundgesetzes legen also gewisse Grundpflöcke einer dezentralen Zuständigkeitsordnung. Sie setzen der wirtschaftspolitischen Staatsaktivität eindeutig Grenzen, soweit diese sich anschicken sollte, zum konträren Prinzip der Zentralverwaltungswirtschaft und der planwirtschaftlichen Koordination überzugehen. 2. Wege der Harmonisierung a) Diese Diskrepanz zwischen staatlicher Zuständigkeit und Verantwortlichkeit einerseits und den tatsächlichen staatlichen Realisierungspotentialen andererseits können also jedenfalls nicht dadurch ausgeräumt werden, daß das Handlungsinstrumentarium der öffentlichen Gewalt jener relativen Aufgabentotalität angepaßt wird 3 3 . Für die W i r t schaftsordnung ist das hier exemplarisch dargelegt worden. b) Aber auch der umgekehrte Weg einer signifikanten Reduktion der sozialstaatlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten erscheint fragwürdig 3 4 . Eine solche Eingrenzung müßte so aussehen, daß der Staat von seinen Gewährleistungsfunktionen für die soziale Sicherheit und den sozialen Ausgleich, für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht einschließlich der Beschäftigung, der Stabilität und des Wirtschaftswachstums entbunden würde. Diese Bereiche würden dann dem gesellschaftlichen Regelungsprozeß und der gesellschaftlichen Verantwortungssphäre überantwortet, der Staat würde sich (wieder) damit begnügen, der Gesellschaft durch Bereitstellung geeigneter Rahmenbedingungen jene Aufgabenerledigung zu ermöglichen. Derartige Selbstbeschränkungen des Staates dürften teilweise schon am geltenden Verfassungsrecht, insbesondere am Sozialstaatsgrundsatz, scheitern 35 . Sie stellen aber vor allem i n politischer Hinsicht gänzlich unrealistische Konzeptionen dar. 32

Papier, V V D S t R L 35 (1977), 75 ff.; R. Scholz, Paritätische Mitbestimmung u n d Grundgesetz, 1974, S. 37 ff.; ders., Grenzen staatlicher A k t i v i t ä t unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung, in: Der Staatssektor i n der sozialen Marktwirtschaft, hrsg. v o n Duwendag, 1976, S. 116 ff.; Badura, Eigentum i m Verfassungsrecht der Gegenwart, 49. DJT, Bd. 2, 1972, S. T 24; Papier (Fn. 30), S. 614 ff. 33 Böckenförde, Der Staat 15 (1976), 473, erhebt gegen die Übernahme „der von Tarifparteien u n d Groß-Investoren innegehabten politischen Entscheidungsbefugnisse" durch den Staat eher verfassungspolitische Bedenken. 34

Kritisch auch Böckenförde,

35

Siehe oben I V 1.

Der Staat 15 (1976), 470 f.

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Unser Staat ist eine „Selbstorganisation der Gesellschaft" 36 . Er ist nicht mehr der von der Gesellschaft und der Wirtschaft abgehobene Staat, der diesen Bereichen gegenüber neutral, d.h. nicht-interventionistisch auftreten kann. Der „zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordene Staat" ist von i h r nicht mehr trennbar; er ist für alles Gesellschaftliche offen und empfänglich. I n einem demokratisch verfaßten Staatswesen ist es schlechthin undenkbar, daß die ökonomische und soziale Wohlfahrt der Gesellschaft nicht zum Grundanliegen staatlicher A k t i v i t ä t gemacht und i m demokratischen Willensbildungsprozeß zur Staatsauigabe, zum Gegenstand staatlicher Letztverantwortlichkeit, ja staatlicher Legitimation überhaupt konstituiert wird 3 7 . c) Lassen sich Entscheidungskompetenzen politischer Dimension offensichtlich nicht beim Staat und damit bei der verfassungsrechtlich organisierten Gewalt konzentrieren, so könnte folgender, seit langem für die sozialen Verbände diskutierter Ausweg angezeigt sein: Die sektorale Teilhabe an der politischen Entscheidungsgewalt könnte durch eine binnendemokratische Struktur jener sozialen Mächte kompensierbar sein. Es ist hier nicht der Ort, die umfängliche Diskussion u m ein Verbände-Gesetz, seine verfassungsrechtliche Zulässigkeit und seine politische Zweckmäßigkeit wieder aufzugreifen 38 . I m vorliegenden Zusammenhang genügt der Hinweis, daß eine gesetzlich verordnete demokratische Binnenordnung jene sozialen Verbände oder Mächte keineswegs i n den verfassungsrechtlich geordneten Legitimationszusammenhang stellen würde, der beim Staatsvolk seinen Ausgangspunkt und seine Grundlage findet 39 . Denn eine solchermaßen binnendemokratisch organisierte Verbandsmacht wäre dann doch nur durch eine spezielle Gruppe von Interessen- oder Funktionsträgern, nicht aber durch das Staatsvolk insgesamt legitimiert. Erreicht würde also letztlich nur eine „Schein-Legitimation", die überdies die Gefahr begründen würde, jene Verbandsmacht noch weiter zu stärken und die verfassungsrechtlich organisierte Staatsgewalt noch potenteren Gegenkräften des Korporatismus und Pluralismus auszuliefern 40 .

36 37 38 39 40

Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 78 f. Siehe auch Böckenförde, Der Staat 15 (1976), 470 f.; Grimm (Fn. 3), S. 377. Vgl. dazu Grimm (Fn. 3), S. 381 m. umfangreichen Nachweisen. Ebenso Böckenförde, Der Staat 15 (1976), 477 ff.; Grimm (Fn. 3), S. 382. Böckenförde,

Der Staat 15 (1976), 477 ff.

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3. Politische Machtverteilung

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durch Grundrechte

Der Prozeß der partikularen und sektoralen „Vergesellschaftung" politischer Entscheidungsfunktionen ist also irreversibel. Es geht nicht nur darum, daß soziale und wirtschaftliche Verbände Einfluß nehmen auf die staatliche Willensbildung. Einige soziale Mächte üben überdies selbst — kraft ihres Grundrechtsstatus — autonome politische Entscheidungsgewalt aus, so daß sie den Staat als Träger letzter Gemeinwohlverantwortung präjudizieren, seine innere Souveränität begrenzen und i h n zu einem Procedere des Kooperierens, Absprechens und Ausgleichens zwingen. Für einige kritische Beobachter der derzeitigen staatsrechtlichen und politischen Verhältnisse i n diesem Land erscheint deswegen das Überleben des Verfassungsstaates zur Diskussion zu stehen, gerät die Verfassung zur bloßen Teilordnung und fragmentarischen Regelung der politischen Willensbildung und Entscheidung 41 . Ich meine, daß jene negative Sicht einer (sektoralen) parakonstitutionellen politischen Gewalt unsere geltende Verfassungsordnung mißdeutet. Die Grundrechte der Verfassung — von ihnen machen die sozialen Gruppen und Mächte bei den hier zur Diskussion stehenden Verhaltensweisen Gebrauch —, insbesondere des Eigentums, der Berufs- und Unternehmensfreiheit, der Koalitions- und Gesellschaftsfreiheit, der Vertragsund Wettbewerbsfreiheit, machen sehr deutlich, daß es für die Verfassung keine Totalität des demokratisch legitimierten Hoheitsakts zur Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung und keine potentiell absolute Herrschaft der politischen Demokratie über Gesellschaft und Wirtschaft geben soll 42 . Dem Grundgesetz ist gerade kein homogenes Gestaltungssystem, sondern ein duales System der Sozial- und W i r t schaftsgestaltung inhärent. Die genannten Grundrechte bringen die Gewähr, daß ihre Träger an der Gestaltung der sozialen und ökonomischen Ordnung nicht als „öffentliche Planvollstrecker" zur „Abstimmung der Feinproportionen", sondern eigenverantwortlich, autonom und m i t privatnütziger Zielsetzung mitwirken. Eine absolute staatliche Richtigkeitsgewähr kann es i n diesem dualen System nicht geben. Die freiheitsrechtlich begründeten Garantien eines bestimmenden Anteils des Bürgers, seiner Korporationen oder Assoziierungen an der Sozialgestaltung umschließen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Einfluß und an gesellschaftlicher, d. h. aber auch an politischer Macht.

41

Vgl. Grimm

42

Siehe auch Papier, V V D S t R L 35 (1977), 83 f.

(Fn. 3), S. 380.

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Dies soll an der Eigentumsgewährleistung kurz verdeutlicht werden: Nicht nur das dem persönlichen Gebrauch oder Bedarf dienende, gesamtwirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich aber funktionslose Vermögensrecht untersteht der Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG. A u f der anderen Seite hat der staatliche Gesetzgeber aufgrund des A r t . 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, notfalls des A r t . 14 Abs. 3 und des A r t . 15 GG, hinreichende Möglichkeiten, Bedingungen zu schaffen, zu gewährleisten oder zu erhalten, damit jede privatnützige Eigentumsdisposition mit dem Gemeinwohl i n einen Ausgleich gebracht werden kann. Aber keinesfalls soll die Eigentumsordnung, auch und gerade die der Wirtschaft, wegen ihrer politischen Explosivität und gesellschaftlichen Sensibilität der kurzfristigen Disposition wechselnder Mehrheiten i m demokratischen System ausgeliefert sein 43 . Die rechtsstaatlichen Verbürgungen des Eigentums, der Berufs- und Unternehmerfreiheit, der Gesellschafts- und Koalitionsfreiheit, der Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit nehmen also i m demokratischen System des Grundgesetzes eine neuzeitliche Machtverteilungs- oder Gewaltenteilungsfunktion ein. Diese Gewaltenteilung ist kein peinlicher oder gar beschämender Sündenfall des Verfassungsstaates, sondern sein gewolltes Strukturelement und Korrektiv. Dies muß vor allem deshalb deutlich herausgestellt werden, damit die Kreation von Staatsaufgaben künftig nicht mehr an der rechtlich irrealen Fiktion einer potentiellen Totalität des demokratischen Staates, sondern an seiner durch die sozialen und ökonomischen Freiheitsrechte bedingten, merklichen Relativität der Gestaltungs- und Einwirkungsmacht orientiert wird. Es muß deutlich werden, daß i n dieser Verfassungsordnung die Rechnung nicht aufgehen kann, m i t der großzügigen Summierung von Staatsaufgaben und Staatsverantwortlichkeiten würden sich über kurz oder lang auch zwangsläufig die staatlichen Gestaltungs- und Einwirkungsinstrumente angemessen, d. h. den Aufgabenstellungen gemäß, potenzieren und erweitern lassen. Es muß auch deutlich den i n der neueren Rechtsprechung des BVerfG anklingenden Tendenzen entgegengetreten werden, die Freiheitsrechte des GG — auch und gerade die wirtschaftlich relevanten — auf einen Kern des Individuellen und Höchstpersönlichen zu reduzieren und ihre gesamtgesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Funktion zu ignorie43

Vgl. Mestmäcker, Mitbestimmung u n d Vermögensverteilung i n der M a r k t wirtschaft. A l t e r n a t i v e n zur Umverteilung von Besitzständen, in: Harbusch / Wiek, Marktwirtschaft, 1975, S. 281; Papier, V V D S t R L 35 (1977), 84.

Parlamentarische Demokratie u. die innere Souveränität des Staates

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ren. So werden i m Anwendungsbereich des A r t . 14 GG dem Gesetzgeber beinahe unbegrenzte Gestaltungsräume zugebilligt, wenn es u m Eigentumsobjekte geht, „die i n einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion" stehen 44 . I m Mitbestimmungs-Urteil vom 1. März 1979 w i r d sogar die grundsätzliche Geltung des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) für „große Kapitalgesellschaften" ausdrücklich i n Frage gestellt und i m Ergebnis offen gelassen45. Damit werden aber nicht nur die Grundzusammenhänge zwischen den Freiheitsrechten und den korporativen Binnenstrukturen, sondern vor allem auch die erwähnten allgemeinen gesamtgesellschaftlichen Funktionen der Grundrechte als „neuzeitliche" Gewaltenteilungselemente verkannt. V. Paritätische Mitbestimmung in der öffentlichen Verwaltung 1. Formen und Modelle einer

Mitbestimmung

Tendenzen einer zunehmenden „Vergesellschaftung" von Staatsgewalt sind schließlich über eine Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst feststellbar. Für das deutsche Mitbestimmungsrecht, wie es sich i n der Privatwirtschaft entwickelt hat, ist die Unterscheidung zwischen betriebsverfassungsrechtlicher und unternehmensrechtlicher Mitbestimmung nach wie vor von zentraler Bedeutung, wenngleich heute schon zahlreiche betriebsrätliche Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte in die unternehmerische Planungs-, Organisations- und Leitungsgewalt übergreifen 46 . Auch i n Ansehung der Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst müssen ähnlich verschiedene Ebenen der Mitbestimmung unterschieden werden. Auch hier ist die innerbetriebliche oder innerbehördliche Mitbestimmung durch den Personalrat abzugrenzen von einer M i t bestimmung der Bediensteten bzw. ihrer gewerkschaftlichen Vertreter, die auf die Behördenleitung oder die Leitung der öffentlichen Einrichtung bzw. des öffentlichen Unternehmens Einfluß nimmt, die m. a. W. auf eine dienstherrliche oder unternehmerische Mitentscheidungsgewalt des Personals abzielt. Man spricht i n diesen Fällen von „direktiver" Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst, die der innerbehördlichen M i t bestimmung durch den Personalrat gegenübersteht 47 . 44 Siehe insbes. BVerfGE 50, 290 (340 f.), m . w . Nachw.; zur K r i t i k siehe Papier, ZGR 1979, 444 (462). 45 BVerfGE 50, 290 (355 f.). Z u r K r i t i k siehe Papier, ZGR 1979, 444 (469). 46 Vgl. Badura / Rittner / Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 u n d Grundgesetz, Gemeinschaftsgutachten 1977, S. 103 ff.; Papier, A G 1978, 285 (289 f.).

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Regelungen direktiver Personalmitbestimmung i m öffentlichen Dienstbereich existieren derzeit z. B. bei der Deutschen Bundespost, deren 25köpfigem Verwaltungsrat 7 Personalvertreter angehören (§ 5 PostVerwG), sowie i m Sparkassenrecht, wo nahezu alle Landes-Sparkassengesetze eine drittelparitätische Besetzung der Verwaltungsräte der öffentlich-rechtlich organisierten Sparkassen mit Personalvertretern vorsehen. I n Nordrhein-Westfalen sind entsprechende Mitbestimmungsregelungen auch für die Westdeutsche Landesbank und die Westfälischen Provinzialversicherungsanstalten vorhanden. I n diesem Land w i r d schließlich ein Gesetzentwurf vorbereitet, der eine direktive M i t bestimmung auf der Basis der Drittelparität insbesondere auch für alle kommunalen Eigenbetriebe vorsieht. Entsprechende Regelungen existieren bereits i n Berlin für die Eigenbetriebe, i n Niedersachsen für alle wirtschaftlichen Einrichtungen der öffentlichen Hand und — i n abgeschwächter Form — i n Hessen wiederum für die Eigenbetriebe 48 . Die Gewerkschaften ÖTV und D A G schließlich fordern seit einigen Jahren für die öffentlich-rechtlichen Sparkassen, die öffentlich-rechtlichen Versicherungen und Banken die Einführung einer voll-paritätischen Personalmitbestimmung 4 9 . Die 12. Ordentliche Landesbezirkskonferenz des DGB i n Nordrhein-Westfalen bekräftigte zuletzt 1982 die gewerkschaftliche Forderung nach Einführung qualitativer Mitbestimmungsregelungen bei kommunalen Eigengesellschaften, Eigenbetrieben sowie Sparkassen etc. I n der politischen Diskussion ist also derzeit eine (paritätische) Personalmitbestimmung vor allem für öffentlich-rechtlich organisierte Unternehmen der öffentlichen Hand, wobei zu berücksichtigen ist, daß diese Unternehmen i n aller Regel daseinsvorsorgerische Funktionen und damit materiell Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen 50 . 47 Siehe Leisner (Fn. 17), S. 9; vgl. auch Obermayer (Fn. 17), S. 13; Ossenbühl, Erweiterte Mitbestimmung i n kommunalen Eigengesellschaften, 1972, S. 17. 48 Eigenbetriebsgesetz B e r l i n i. d. F. v o m 13. 7.1973 — GVB1. S. 1017; § 104 a Landespersonalvertretungsgesetz Niedersachsen v o m 24.4.1972 — GVB1. S. 231; Eigenbetriebsgesetz Hessen v o m 9.3.1957 — GBl. S. 19 — zuletzt geändert durch A r t . 4 des Gesetzes zur Änderung kommunalrechtlicher Vorschriften v o m 4. 7.1980 — GBl. S. 219. 49 Siehe die Resolution der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft auf dem 12. ordentlichen Landesverbandstag Nordrhein-Westfalen, 1979; ferner den Vorschlag der Ö T V zur Novellierung des SparkG N W aus dem Jahre 1973, wiederholt 1977 u n d 1980. 50

Siehe Scholz, in: Duwendag, Der Staatssektor i n der sozialen M a r k t w i r t schaft, 1976, S. 113 (115 ff.); ders., ZBR 1980, 297 (298); vgl. ferner Püttner (Fn. 17), S. 68 ff.; Leisner (Fn. 17), S. 71 ff.; Obermayer (Fn. 17), S. 14 f.

Parlamentarische Demokratie u. die innere Souveränität des Staates

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Direktive Mitbestimmung der Bediensteten bzw. ihrer Gewerkschaften hier bedeutet also der Sache nach Mitbestimmung i n der öffentlichen Verwaltung, nicht aber „bloße" Mitbestimmung bei privatwirtschaftlich-fiskalischer Betätigung der öffentlichen Hand. Es liegt nahe, daß die Mitbestimmungsidee, einmal für die Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge institutionalisiert, dann auch andere Bereiche des öffentlichen Dienstes, bis h i n zur eigentlichen Hoheitsverwaltung, erfassen w i r d oder erfassen kann. I n diesem Zusammenhang bedarf es des Hinweises, daß die für die Privatwirtschaft geltende Mitbestimmungsregelung nach dem MitbestG 1976 auch Unternehmen der öffentlichen Hand erfaßt, soweit jene als privatrechtliche Kapitalgesellschaften organisiert sind und i n der Regel mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigen. Das MitbestG 1976 gilt also ungeachtet der wirtschaftlichen Eigentümerverhältnisse und der materiellen Unternehmensziele. Sein Geltungsanspruch ist allein abhängig von der — vielfach recht beliebigen — Rechtsform des öffentlichen Unternehmens 51 . 2. Mitbestimmung

und Demokratieprinzip

Die gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Legitimationsansätze einer paritätischen Unternehmensmitbestimmung i n der Privatwirtschaft 52 , wie etwa Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit, Demokratisierung der Wirtschaft, Kontrolle ökonomischer Macht, Abbau der Fremdbestimmung des Arbeitnehmers, Gewährleistung sozialer Unternehmensziele und Stabilisierung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, vermögen die paritätische Mitbestimmung bei der Wahrnehmung von Staats- und Verwaltungsfunktionen nicht zu rechtfertigen. Jene Ansätze sind eindeutig auf den privatwirtschaftlichen Bereich begrenzt. Ohne Sinnentstellungen können sie nicht auf die Ebene der öffentlichen Verwaltung übertragen werden 53 . Dies soll für das „Demokratisierungs"-Argument verdeutlicht werden: Unternehmensmitbestimmung i n der Privatwirtschaft ist immer auch als Demokratisierung der Wirtschaft verstanden und als solche ge51

Z u dieser Problematik s. auch Scholz, ZBR 1980, 303 f. Vgl. allgemein: Mitbestimmung i m Unternehmen. Bericht der Sachverständigenkommission, BT-Drs. 6/334, S. 29 ff.; Badura / Rittner / Rüthers, M i t bestimmungsgesetz 1976, S. 71 f.; Biedenkopf / Säcker, Grenzen der Mitbestimmung, in: Z f A 1971, 211 (218 ff.). 52

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Siehe auch Biedenkopf

/ Säcker, Z f A 1971, 222 ff.

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fordert und legitimiert worden 54 . Dem liegen gewisse „Homogenitätsvorstellungen" zugrunde, nach denen das demokratische Prinzip ein Strukturelement nicht allein der staatlich-politischen Ordnung, sondern auch einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung sein müsse. Daher w i r d immer wieder die Forderung erhoben, nicht nur die staatlich-politische, sondern auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Machtausübung der demokratischen Legitimation bedürftig zu erachten. Ich möchte hier offen lassen, ob Demokratievorstellungen wirklich geeignete Grundlagen einer paritätischen Arbeitnehmermitbestimmung bei Privaiunternehmen bieten können. Wichtig ist nur folgender Hinweis: Der topos einer „Demokratisierung der Wirtschaft" kann keinesfalls als Erfüllung eines Demokratisierungsauftrages der Verfassung, also eines grundgesetzlichen Regelungsgebotes verstanden werden 55 . Das Grundgesetz fordert die demokratische Herrschaftslegitimation i m Grundsatz nur für den staatlich-politischen Bereich (Art. 20 Abs. 1, A r t 28 Abs. 1 GG). Eine Übertragung auf den gesellschaftlichen Sektor ist allein für die Verfassung der politischen Parteien grundgesetzlich vorgeschrieben (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG), weil diese eine Mittlerrolle einnehmen und an der Schnittstelle von Staat und Gesellschaft stehen. Das Ziel einer Demokratisierung der Wirtschaft kann allenfalls als ein vom Grundgesetz zugelassener Eingriffsgrund bei der Wahrnehmung der sozialstaatlichen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers angesehen werden 56 . Es läßt sich also allenfalls sagen, dem Gesetzgeber stehe es von Verfassungs wegen frei, dem demokratiestaatlichen Strukturprinzip ähnliche Gestaltungen auch für gesellschaftliche Bereiche vorzusehen, soweit sein Gestaltungsspielraum, der i h m vom Grundgesetz belassen ist, reicht. Zu diesen den gesetzgeberischen Gestaltungsraum begrenzenden Verfassungsnormen gehört aber das („eigentliche") grundgesetzliche Demokratieprinzip, also das Gebot direkter oder indirekter demokratischer Legitimation aller Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 1, 2, A r t . 28 Abs. 1 GG): Öffentliche Verwaltung, auch die Leistungsverwaltung oder die Daseinsvorsorge, müssen geführt und verantwortet werden von Trägern, die unmittelbar oder mittelbar vom Staats- oder Gemeindevolk 54

Vgl. Biedenkopf / Säcker, Z f A 1971, 219 f.; Badura / Rittner / Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976, S. 7/8; Püttner, Die Mitbestimmung i m k o m m u nalen Unternehmen, S. 41 f.; Leisner, Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst, S. 24 ff. 55 Vgl. Scholz, Paritätische Mitbestimmung u n d Grundgesetz, 1974, S. 28 ff.; Naendrup, in: Fabricius (Hrsg.), G K - M i t b e s t G , 1977, E i n l T e i l I I Rdnr. 33. 56 Scholz (Fn. 55), S. 29 f.

Parlamentarische Demokratie u. die innere Souveränität des Staates

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legitimiert sind. Zur organisatorisch-personellen Legitimation der m i t Staats- und Verwaltungsfunktionen betrauten Organwalter t r i t t die demokratische Legitimation unter sachlich-inhaltlichem Aspekt, die durch die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung und deren Weisungsgewalt gegenüber den ihr unterstellten Behörden realisiert wird. Es ist eindeutig, daß eine direktive Personalmitbestimmung bei der Wahrnehmung von Verwaltungsfunktionen jenes grundgesetzliche Gebot demokratischer Legitimation aller Staatsgewalt tangiert 5 7 . Mag eine „Demokratisierung" von privaten Großunternehmen das grundgesetzliche Demokratieprinzip vielleicht erweitern, ergänzen oder gesellschaftspolitisch festigen, die Anwendung des „Demokratisierungs"-topos auf Staats- und Verwaltungsfunktionen erfüllende Einrichtungen und Unternehmen der öffentlichen Hand würde indes das grundgesetzliche Demokratieprinzip partiell ersetzen und zurückdrängen. Bei seiner Übertragung auf die Träger öffentlicher Verwaltung erführe der Argumentationstopos einer „Demokratisierung" einen ausschlaggebenden Funktionswandel: Es ginge nun keinesfalls mehr u m den Ausbau, die Festigung und Förderung des grundgesetzlichen Demokratiegedankens, sondern u m dessen Ablösung. 3. Verbot der Parität Trotz des demokratischen Prinzips dürfte aber nicht jede Form der Personalmitbestimmung und der arbeitnehmerischen Kompetenzbeteiligung ausgeschlossen sein 58 . Man w i r d nicht verlangen können, daß bei einem entscheidungsbefugten Kollegialorgan wie z. B. beim Verwaltungsrat einer Sparkasse oder beim Werksausschuß eines kommunalen Eigenbetriebes alle Mitglieder des mehrköpfigen Gremiums ihre Legitimation unmittelbar oder mittelbar vom Staats- oder Gemeindevolk beziehen. Eindeutig unterparitätische Beteiligungen von Personalvertretern lassen die staatliche bzw. kommunale Kompetenzhoheit unange57 Siehe auch Püttner (Fn. 17), S. 60 ff.; Biedenkopf / Säcker, Z f A 1971, 221 f.; Scholz (Fn. 55), S. 30 f.; Obermayer (Fn. 17), S. 29 f. 58 Vgl. auch Püttner (Fn. 17), S. 64; Hans-Peter Schneider, DÖV 1972, 604 f.; Scholz, ZBR 1980, 302; s. ferner Böckenförde (Fn. 9), S. 75 ff.; BVerfGE 24, 268 (274), wo die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses nach dem hamb. Richterwahlgesetz v o m 15. 6.1964 (GVB1. S. 109) m i t drei Senatoren, fünf v o n der Bürgerschaft gewählten Mitgliedern, drei von der Richterschaft gewählten u n d zwei von der Rechtsanwaltskammer berufenen Mitgliedern als „offenkundig" für vereinbar m i t Bundesrecht u n d damit auch m i t dem Grundgesetz erklärt w i r d .

4 Parlamentarisches Regierungssystem

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tastet und hinreichend vor nicht demokratisch legitimierten Einflüssen gesichert. Die Notwendigkeit eines (wenigstens mittelbaren) Legitimationszusammenhangs zwischen den Organwaltern und dem Staats- bzw. Gemeindevolk stellt keinen Selbstzweck dar. Damit soll vielmehr ein Mindestmaß sachlicher Grundgestaltung von Staatsfunktionen durch den Volkssouverän gesichert sein. Die demokratisch legitimierte Bestellung der Organwalter ist m. a. W. ein Mittel, u m die demokratische Legitimation der Entscheidung zu erreichen 59 . W i r d der demokratiestaatliche Legitimationszusammenhang i n dieser Weise nicht so sehr auf die Person der Organwalter, sondern primär auf das sachliche Ergebnis der Willensbildung i m zuständigen Organ bezogen, dann läßt sich eine Personalmitbestimmung bei der Wahrnehmung öffentlicher Verwaltungsfunktionen rechtfertigen, welche die Kompetenzhoheit und die Kompetenzverantwortung der demokratisch legitimierten Organwalter und damit die demokratische Legitimation der Entscheidung selbst nicht zu tangieren vermag 60 . Dies ist allerdings nicht mehr der Fall, wenn ein entscheidungsbefugtes Organ einer öffentlichen Einrichtung eine vollparitätische Mitbestimmung der Bediensteten 61 oder eine quasi-paritätische Mitbestimmung über ein formales Letztentscheidungsrecht oder Zweitstimmrecht des Vorsitzenden 62 aufwiese. Den Tendenzen einer zunehmenden „Vergesellschaftung" von Staatsgewalt können also, soweit sie über die Einwirkungsmechanismen einer direktiven paritätischen Mitbestimmung i n der öffentlichen Verwaltung verfolgt werden, relativ eindeutige normative Grenzen entgegengesetzt werden. V I . Verbandseinfluß im übrigen 1. Der Frage nach einer hinreichenden Autonomie des staatlich-politischen Systems ist hier unter zwei zentralen Gesichtspunkten nachgegangen worden: dem Aspekt einer Aufteilung politischer Entscheidungsfunktionen zwischen der demokratisch legitimierten Staatsgewalt und gesellschaftlichen Mächten einerseits sowie dem der Einwirkung gesellschaftlicher Interessenträger i n den staatlichen Willensbildungsprozeß über Mitbestimmungssysteme andererseits. W i r treffen aber noch viele 59 60

Ebenso Böckenförde

(Fn. 9), S. 75.

Siehe auch Scholz, Z B R 1980, 302. 61 Ebenso Scholz, ZBR 1980, 302; Hans-Peter Schneider, DÖV 1972, 604 f.; Püttner (Fn. 17), S. 64; Obermayer (Fn. 17), S.29f.; vgl. auch Böckenförde (Fn. 9), S. 76 f.; LG Bremen, N J W 1976, 333 ff.; O L G Bremen, N J W 1977,1153 ff. 62 Vgl. auch Scholz, ZBR 1980, 303 f.

Parlamentarische Demokratie u. die innere Souveränität des Staates

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andere Gegebenheiten i n der politischen Ordnung unseres Gemeinwesens an, die uns die Frage nach der inneren Souveränität des Staates, seiner autonomen Steuer- oder Regierbarkeit aufdrängen. Von den sozialen und wirtschaftlichen Verbänden, die bisher nur i n ihrer herausragenden Stellung als Träger sektoraler politischer Entscheidungsfunktionen angesprochen worden sind, gehen zunächst einmal vielfältige Beeinflussungs- und Pressionsfunktionen i n Richtung auf die staatliche Willensbildung aus. Vergleichbare Einflußnahmen üben die Medien sowie heute zahlreiche Bürgerinitiativen aus. Diese Vorgänge sind so oft und detailliert beschrieben und analysiert worden 63 , daß sich hier eine vertiefende Darstellung erübrigt. 2. Aber auch insoweit muß einer einseitigen, allzu negativen Sicht entgegengetreten werden. Verbände und Interessenträger nehmen heute vielfach auch „Optimierungsfunktionen" bei der staatlichen Entscheidungsbildung und vor allem bei der Entscheidungsumsetzung wahr. Diverse Partikularinteressen werden von ihnen vielfach einer gewissen Vereinheitlichung und „Vorauswahl" unterworfen. Zu jener Vereinheitlichungs- und Koordinationsfunktion t r i t t die Information staatlicher Entscheidungsträger. Schließlich können Verbände und Interessenträger, welche die staatliche Entscheidung mitbeeinflußt haben, diese i n einer A r t Befriedungs- und Entlastungswirkung i n der Umsetzungsphase „begleiten" 64 . 3. Es muß darüber hinaus deutlich gesehen werden, daß dem Einwirkungspotential sozialer Mächte zugunsten eines autonomen staatlichen Steuerungsprozesses durchaus gewisse Grenzen gezogen sind 65 . Die Regierungen werden i n diesem Land i m wesentlichen von großen Volksparteien getragen, die sich ein allzu offensichtliches Hinwenden zu bestimmten Trägern partikularer Interessen auf Dauer nicht leisten können. Die Regierungen verfügen gerade auch wegen der modernen Medien über eigene Instrumente der Selbstdarstellung, der „Bürgeranrufung" und damit einer gewissen Autonomiewahrung. Schließlich richtet die staatliche Bürokratie mittels ihres Sachverstandes, ihres Planungs- und Finanzierungswissens Barrieren gegen heteronome Ent63

Vgl. statt vieler Böckenförde, Der Staat 15 (1976), 461 f.; Grimm S. 373 ff.; Hans Meyer (Fn. 1), S. 59 ff.

(Fn. 3),

64 Böckenförde, Der Staat 15 (1976), 462, spricht von Beeinflussungs- oder Pressionsfunktion, Vereinheitlichungs- u n d Informationsfunktion sowie Integrations- u n d Entlastungsfunktion. 65

4*

Siehe auch Hans Meyer (Fn. 1), S. 60 f.; Grimm

(Fn. 3), S. 375 f.

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scheidungsbeeinflussungen auf. Auch darf nicht übersehen werden, daß „Verflechtungsaufwand" und „Grenzgängertum" nicht nur von den Verbandsfunktionären, sondern auch von staatlichen Amtswaltern und vor allem auch von den Parteifunktionären i n Richtung auf die verbandsautonome Willensbildung betrieben werden. Staat und Parteien sind also nicht nur die Beeinflußten, sondern selbst auch Beeinflussende! Je massiver Partikularinteressen an die staatlichen Entscheidungsträger herangetragen werden, desto schneller werden schließlich vielfach Gegeninteressen artikuliert werden, so daß nicht selten schon i m Vorfeld der staatlichen Entscheidungsbildung eine Neutralisierung der verschiedenen Beeinflussungs- und Pressionspotentiale zu verzeichnen ist. Diese Feststellung darf allerdings nicht den Blick dafür trüben, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen nicht gleich stark organisiert und niemals gleich stark organisierbar sind und daß die diversen Organisationen auch nicht m i t derselben Mächtigkeit auftreten können. Insoweit kann vor allem an die vorherige Feststellung angeknüpft werden, daß bestimmte Verbände nicht nur über das „normale" Einwirkungspotential verfügen, sondern darüber hinaus sogar gewisse politische Entscheidungsfunktionen wahrnehmen, die sie selbstverständlich zur Verstärkung ihrer allgemeinen Pressionskapazität einzusetzen vermögen. V I I . Schlußbemerkung Es ist gar keine Frage, dieses politische System weist ein gehöriges Maß latenter Instabilität auf. Es ist funktionstüchtig und manifestiert zahlreiche Vernünftigkeitskriterien, solange dieses System mit seinen vielfältigen dezentralen Entscheidungskompetenzen, Einflußnahmen und Abhängigkeiten von den darin Wirkenden prinzipiell akzeptiert wird 6 6 . Wirken hingegen i n i h m Kräfte der Illoyalität, dann ist es auf Dauer nicht lebensfähig! Das sich seit einigen Jahren ansammelnde Potential an solchermaßen systemilloyalen Kräften sowohl i n den gesellschaftlichen Entscheidungs- und Beeinflussungszentren als auch — neuerdings — auf der staatlichen Willensbildungsebene muß nachdenklich stimmen. Eine Erkenntnis scheint m i r indes gesichert: Unser Staat, seine rechtlich organisierte und geregelte Gewalt allein können dieses politische System, seine aktuelle Stabilität und seine Funktionsfähigkeit nicht gewährleisten. Insoweit ist dieser Staat nicht (mehr?) souverän. 66

Vgl. auch Böckenförde,

Der Staat 15 (1976), 481 ff.

Zur Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien Von Michael Kloepfer* I. Die Hypothek des Totalitären 1. Die Erfahrung

mit der NSDAP und der SED

Partei — das Wort hat einen schlechten Klang i n Deutschland. Dies hat zunächst, wie vieles, historische Gründe. Neben der Erfahrung des Versagens von politischen Parteien i n Weimar bei Bewahrung der Demokratie prägen vor allem die ältere Generation traumatische Erinnerungen an die NSDAP und ihre Einparteienherrschaft. Daß dies nicht i n das Nur-Historische abgebucht wurde — was nicht gleichbedeutend mit einer Ablage zum Vergessen sein muß —, liegt vor allem an den Erfahrungen mit der SED i n dem von ihr beherrschten Bereich Deutschlands. Die äußerlichen, aber auch inneren Parallelen zur nationalsozialistischen Einparteienherrschaft gerade i n den ersten Jahren der SBZ waren frappierend, wenngleich tiefgreifende politische Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Reich und dem kommunistischen Teil-Deutschland weder übersehen werden können noch dürfen. 2. Der Vergleich mit der Bundesrepublik

Deutschland

Hinsichtlich der Herrschaftsgrundlagen und -formen ist die Situation i n der Bundesrepublik allerdings unvergleichlich. Immerhin ist i m NSStaat und i n der DDR historisches und system-vergleichendes Anschauungsmaterial entstanden, an dem sich auch unser Verfassungssystem messen lassen muß und das für bundesdeutsche Erwägungen und Entwicklungen gewissermaßen als äußerste Schreck-Grenze dient. Insbesondere ist die systemvergleichende Frage zu stellen, ob die Machterhaltungsinteressen der politischen Parteien i n der Bundesrepublik Deutschland nicht auch zur vergleichbaren Inbesitznahme staatlicher Funktio* I m folgenden w i r d das Vortragsmanuskript abgedruckt. Hieraus erklären sich sowohl der Stil der Ausführungen wie auch der fast völlige Verzicht auf Anmerkungen.

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nen durch Parteien führt (z. B. i n der Form der Ämterpatronage), wie dies i n formalen und materiellen Einparteienstaaten ideologisch gefordert und von der dort herrschenden Doktrin auch legitimiert wird. Natürlich darf bei Aufspürung solcher punktuellen Systemähnlichkeiten nicht übersehen werden, daß eben verschiedene Parteien i n der Bundesrepublik vertreten sind, auch wenn sich ihre Programme bekanntlich teilweise ähneln. Der entscheidende Unterschied des demokratischen Systems der Bundesrepublik zu totalitären Formen liegt zum einen i n der bislang i m wesentlichen ungefährdeten Vorherrschaft demokratischer Parteien sowie i n den rechtsstaatlich limitierten Methoden des Parteieneinflusses und zum anderen i n der institutionalisierten Machterteilung nur auf Zeit. Diese zeitliche Begrenzung von Herrschaft verstärkt zwar einerseits die Interessen der jeweiligen Regierungsparteien an der Machterhaltung weiter, vor allem aber w i r d das Machterringungsinteresse der jeweiligen Opposition zum unverrückbaren Konstruktionselement des politischen Systems der westlichen Demokratien, weshalb es ein bedauerliches Defizit des Grundgesetzes ist, daß dort die Stellung der Opposition nicht bzw. nur i n Form einiger Minderheitenrechte (von Abgeordneten, nicht von Parteien) geregelt wurde. Vor allem aber weil das politische System der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des erreichten hohen tatsächlichen Freiheitsund Wohlstandsstandards unvergleichbar m i t dem nationalsozialistischen und kommunistischen Deutschland ist, erscheint uns die Bedrohung der Einparteienherrschaft heute als Schimäre. Wenn aber das politische System der Bundesrepublik Deutschland i m Kern weder mit dem des NS-Staates noch mit dem der DDR vergleichbar ist, können die Parteien damals und dort einerseits und hier und jetzt andererseits kaum w i r k l i c h erkenntnisfördernd miteinander verglichen werden. Die begründete Animosität gegen NSDAP und SED kann also legitimerweise nicht auf unsere demokratischen Parteien übertragen werden, wohl aber auf manch extremistische Gruppierungen i n der Bundesrepublik, die i m Effekt Vergleichbares wollen wie die NSDAP und die SED. I I . Das deutsche Staatsverständnis Das Unbehagen an den politischen Parteien i n der Bundesrepublik Deutschland hat dementsprechend vorwiegend wohl auch andere Gründe.

Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien

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1. Die gegenwärtige Skepsis Teile der Bevölkerung sehen sich und ihre Interessen durch politische Parteien (bzw. durch die Abgeordneten) nicht mehr repräsentiert. Nach dieser Meinung gehören die Parteien zu „denen da oben", welche die Interessen der „kleinen Leute" (angeblich) weder verstehen noch vertreten. Diese Krise der Repräsentation weckt — insbesondere bei Teilen der Jugend — Skepsis gegenüber unserem politischen System und unserem Staat. Dies führt letztlich dazu, daß die Parteien als Teile des politischen Systems der Bundesrepublik befehdet werden. I n Randgruppen verbirgt sich hinter der Animosität gegen Parteien letztlich die Ablehnung unseres Staates. 2. Der „reine"

Staat und die „unreinen"

Parteien

Typisch ist diese Gleichförmigkeit der Ablehnung sowohl von Staat wie von Parteien jedoch nicht. Bei vielen Bundesbürgern ist vielmehr eine Parteienverdrossenheit bei gleichzeitiger Staatsbejahung zu erkennen. Dieses Phänomen läßt sich vor allem mit einem deutschen mystifizierenden, letztlich unpolitischen Verständnis vom Staat erklären, der selbst (oder sein Kaiser) hoch und hehr und heilig, nur Deutsche kennend, über den Parteien steht und gewissermaßen lediglich opferartig von politischen Interessen okkupiert wird. Das Große, Harmonische, das Reine und das Eine, der idealistische Staat — fast ins Überirdische entrückt —, t r i f f t auf die Parteien als das Niedere, Erdhafte, ja auf egoistische und deshalb widerstreitende Interessen, t r i f f t somit auf politische Konflikte, t r i f f t auf individuelles Machtstreben, auf Intrigen, auf Korruptgeneigtheit, t r i f f t — kurz gesagt — auf Menschen so wie sie sind und nicht wie sie sein sollen. Dies ist wohl der entscheidende Grund, wenn auch nicht der Anlaß für das verbreitete deutsche Unbehagen an politischen Parteien. Daß Politik i n einer Demokratie von uns allen gemacht w i r d (oder doch — theoretisch — gemacht werden könnte), von uns, die w i r doch auch fehlsam, ungerecht, irrational, egozentrisch und auf den eigenen Vorteil bedacht sind, liegt deutschem politischen Denken m i t seiner Neigung zu entrückender Feierlichkeit fern. Der deutsche Zweifel an sich selbst mit seinem Hang bis zur Selbstzerstörung hat eben nicht nur eine nationalistische Variante, sondern auch eine demokratie-skeptische. Sind w i r Deutsche denn wirklich berufen — so fragen w i r i n grämendgrüblerischer Suche nach uns selbst —, Ritter eines politischen Grals, unseres Staates, zu sein? Da w i r dies aus Gründen der kollektiven

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Michael Kloepfer

Selbstachtung jedenfalls nicht explizit verneinen wollen, kommt es gewissermaßen zur kollektiven Verdrängung: Die Politik w i r d als ein schmutziges Geschäft für Politiker gesehen, also für Leute, die sich die Finger schmutzig machen wollen und hierfür mit Privilegien abgefunden werden. Wichtigstes Instrument und Gefäß i n diesem schmutzigen Geschäft ist nun die politische Partei, die sich — i n diesem kitschigen Politgemälde — gewissermaßen zwischen ein „reines" Volk und seinen „reinen" Staat stellt. Daß dieses Volks- und Staatsverständnis sich am lebendigen Menschen wundstoßen kann oder — schlimmer noch — (wenn effektive verfassungsrechtliche Sicherungen fehlen) auch umgekehrt i m buchstäblichen Sinne den Menschen wundstoßen kann, ist einsichtig und entspricht schmerzvoller historischer Erfahrung i n Deutschland. Selbst i m quasi-offiziösen Verfassungsverständnis der Bundesrepublik — bei der Verfassungsgerichtsbarkeit — taucht die Ablösung vom realen Menschen bisweilen auf, denn dort scheint die Verfassung und der Staat manchmal für ein idealistisches „Menschenbild" gemacht und nicht für die Menschen so wie sie sind. 3. Der Staat als Selbstorganisation

seiner Bürger

M i t pragmatischem angelsächsischem Staatsdenken hat dies wenig zu t u n (ein Pragmatismus, der übrigens Patriotismus keineswegs ausschließt). Und doch ist die Bundesrepublik Deutschland i m Kern nichts anderes als die Selbstorganisation ihrer Bürger, denen sie zu dienen hat. Dies sagt etwas über die Legitimation des Staates, der seinen Sinn eben nicht i n sich selbst trägt. Eine solche Ausrichtung des Staates auf den Dienst am Menschen legitimiert indes nicht ein einseitiges Anspruchsdenken der Bürger gegenüber ihrem Staat, sondern setzt auch ihr Einstehen für ihr Gemeinwesen voraus. Ein Staat als Selbstorganisation seiner Bürger kann i m Prinzip nicht besser sein als diese seine Bürger. Er hat vielmehr ihre Interessen zu realisieren, allerdings auch zu ordnen und gemeinverträglich zu machen: I n diesem Sinne bleibt ein Staatsauftrag zur Gemeinwohlverwirklichung auch für einen Staat unverzichtbar, der sich als Selbstorganisation seiner Bürger versteht. Der Staat ist gewiß kein öffentlichrechtlicher Verein aller Edlen, Guten und Tapferen. Daß der Staat vielmehr gerade für schwache, egoistische und irrende Menschen gemacht ist und daß seine Politik eben von diesen Menschen formuliert wird, dies zu akzeptieren fällt manchem in Deutschland noch immer schwer. Und doch legitimiert erst dies

Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien

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letztlich das professionelle Mißtrauen des Staatsrechts gegen die Mächtigen. Die Bejahung des Staates als Selbstorganisation irrender und schwacher Menschen ist zutiefst human und letztlich auch der Grund, weshalb w i r und die Verfassung politische Parteien als Organisationen des Machtstrebens als solche zu bejahen haben. Ohne sie wäre eine Massendemokratie nicht praktikabel. Sie machen politische Alternativen auch der Masse sichtbar und geben so der Wahlbürgerschaft erst die faktische Möglichkeit zur politischen Entscheidung. 4. Die Folgerungen Damit w i r d allerdings keinesfalls einer Parteienseligkeit das Wort gesprochen. Denn die Parteienverdrossenheit entzündet sich ja nicht nur an dem idealistischen Staatsverständnis der Deutschen, sondern vor allem auch an konkreten Mißständen (etwa denen einer „schwarzen" oder „roten" Verfilzung). Nur — meine ich — sollten dann diese Mißstände als solche bekämpft werden und die (nur) insoweit berechtigte K r i t i k nicht i n ein allgemeines, zielloses und letztlich unpolitisches Lamento über die Parteienherrschaft münden. I I I . Die Parteienfreiheit inmitten der Verfassung 1. Die Interpretationsaufgabe M i t der prinzipiellen Bejahung der politischen Parteien und ihrer Legitimität ist überhaupt erst die argumentative Plattform geschaffen, das hier gestellte Thema i n angemessener Weise zu behandeln. Gedankenführungen, die letztlich die politischen Parteien als illegitim ansehen, werden dazu neigen, Art. 21 GG bei der Auslegung zu minimalisieren und i h n dort quasi wegzuinterpretieren, wo er mit anderen Verfassungsbestimmungen i n Konflikt zu geraten droht. Eine solche Argumentation wäre indes zu simpel. Auch wenn es eine Einheit der Verfassung i m Sinne einer durchgebildeten und i n sich stimmigen Wertehierarchie und -harmonie nicht gibt, sondern das Grundgesetz als lebendige Verfassung Friktionen unseres politischen Systems i n sich aufnimmt, entbindet dies nicht davon, das Grundgesetz normativ widerspruchsfrei zu interpretieren/Das methodische Positionslicht des wechselseitigen schonenden Ausgleichs (Lerche) deutet Ziel und Weg derartiger Verfassungsinterpretationen an. Notwendig sind optimierende Verfassungsdeutungen zu einer Kollisionslösung, bei der die kollidierenden Verfassungsnormen i n wechselseitigem Ausgleich so interpretiert werden, daß

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Michael Kloepfer

normative Widersprüche unter größtmöglicher Geltung der betreffenden Normen beseitigt werden. Der Interpret muß also gewissermaßen ständig den Blick zwischen den betreffenden Verfassungsbestimmungen h i n und her bewegen. 2. Das methodische

Grundproblem

A n dieser Stelle sei auf eine methodische Grundproblematik des hier interessierenden Verhältnisses zwischen der Parteienfreiheit und anderen Verfassungsbestimmungen hingewiesen. W i r d z. B. die bekannte Spannung zwischen Parteienfreiheit und dem freien Mandat herkömmlicherweise beschrieben, so geschieht dies regelmäßig etwa nach dem Muster, daß zunächst das freie Mandat des liberalen Verfassungsdenkens i m 19. Jahrhundert vorgestellt wird, von dem dann — etwa mit dem B i l d des Verfassungswandels — mehr oder weniger überzeugend begründete Abstriche aufgrund der verfassungsrechtlich anerkannten Existenz politischer Parteien erfolgen. Es w i r d also letztlich nach einem Denkmuster argumentiert, das i n den politischen Parteien einen Fremdkörper, eine Begrenzung und Einschränkung herkömmlichen verfassungsrechtlichen Gedankenguts sieht. Nun kann ein derartiges methodisches Vorgehen letztlich nur mit Gründen stufenweiser Erkenntnisgewinnung oder der Verfassungsdidaktik begründet werden. Es ist aber prinzipiell problematisch — wenngleich leicht z. B. i n der Machart etwa von Großkommentierungen zum Grundgesetz angelegt —, eine Verfassungsbestimmung zunächst erst einmal „an sich" zu interpretieren und sich dann dem verfassungsrechtlichen Umfeld zuzuwenden. Diese Methode ist jedenfalls dann zu kritisieren, wenn es u m so grundlegende Verfassungsentscheidungen wie die für die politischen Parteien geht, weil solche Grundaussagen notwendigerweise zugleich die anderen Verfassungsgehalte verändern müssen. Auch gegenüber teilweise vereinfachenden Vorrangkonstruktionen wie etwa der Leibholzschen Parteienstaatslehre ist Vorsicht geboten. Bei dieser Konzeption des Parteienstaates werden die meisten (aus der Existenz der Parteien wachsenden) Spannungen i n der Verfassung — vereinfachend dargestellt — dadurch gelöst, daß letztlich an die Stelle des Volkes i m demokratischen System die politischen Parteien treten. Dies läuft i m Ergebnis auf vereinfachende Kollisionslösungen hinaus, ganz unabhängig davon, daß diese Sicht gegenüber dem Phänomen kollektiven politischen Wollens und Verhaltens außerhalb politischer Parteien (also insbesondere i n Bürgerinitiativen) weitgehend hilflos ist.

Veränderung v o n Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien

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Zur Verdeutlichung der methodischen Probleme sei eine Anleihe bei den Naturwissenschaften erlaubt: Vergleicht man einzelne Verfassungsgehalte m i t chemischen Elementen, so kann der Satz gewagt werden, daß derartige Elemente i n der lebendigen und gewachsenen Verfassung als Verarbeitung historischer Erfahrungen und als Festschreibung schließlich gefundener Kompromisse praktisch nie rein auftreten, sondern stets nur i n Verbindung m i t anderen Elementen, d.h. gewissermaßen als juristische Moleküle m i t ganz eigenen Eigenschaften. Zum Vergleich: Zwar erklärt die Beschreibung der chemischen Elemente Sauerstoff und Wasserstoff die Entstehung und Zusammensetzung von Wasser, sie sagt aber über die physikalischen und chemischen Eigenschaften von Wasser nichts bzw. nur äußerst wenig aus. Und so ist dies — bei aller Begrenzung der Vergleichbarkeit — i m Prinzip auch m i t der isolierenden Betrachtung von Verfassungsbestimmungen, etwa der getrennten Interpretation von A r t . 21 GG und A r t . 38 GG. Es kann deshalb von vornherein nur darum gehen, eine Verfassungsbestimmung i n ihrer verfassungsrechtlichen Ambiance zu interpretieren. Daher ist z. B. i m Bereich der A r t . 21, 38 GG die richtige Fragestellung von vornherein die, was das freie Mandat i n einer Parteiendemokratie bedeuten kann. Dabei müssen A r t . 21 und 38 GG wechselseitig schonend ausgeglichen werden. Der Grundsatz des freien Mandats kann etwa nicht dazu führen, das effektive formierte Auftreten von Parteien (in Form der Fraktionen) i m Parlament zu verhindern, weshalb der interne Fraktionszwang zulässig ist. Umgekehrt legitimiert die Parteiendemokratie nicht die Abschaffung des freien Mandats, weshalb jegliche Form des imperativen Mandats von der h. M. zutreffend als unzulässig angesehen wird. M i t diesem Beispiel werden die Schwierigkeiten optimierender verfassungsrechtlicher Interpretation deutlich erkennbar: Sie muß an den häufig unvollkommen formulierten Einzelbestimmungen ansetzen und doch das Ganze i m Auge behalten. Und das alles darf dann nicht zum undurchschaubaren Subsumtionsbrei geraten.

I V . Die Parteien und das Demokratieprinzip 1. Die Grundlage Eine der wichtigsten inhaltlichen Veränderungen, die durch das Aufkommen der Parteien auf herkömmliche traditionelle Verfassungsgehalte ausgeübt wurde, sind unzweifelhaft die Instrumentarien des parlamentarisch-demokratischen Systems. Hierzu gehören die bekannten

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Michael Kloepfer

weitgehenden Veränderungen des Status des Abgeordneten, der i m wesentlichen zum Berufspolitiker geworden ist und seine Karriere maßgeblich den politischen Parteien verdankt. Alles das ist oft beschrieben worden, wobei es teilweise gewissermaßen schon zum einschlägigen wissenschaftlichen Ritual gehört, dies immer auch vor dem Hintergrund der Auflösung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft zu sehen, der mit einer auf das allgemeine Wahlrecht gegründeten Demokratie verbunden sei. Trotz des unbestreitbaren Werts der Beobachtung der schwindenden Abgrenzung zwischen der staatlichen und der gesellschaftlichen Ebene w i r d dabei aber übersehen, daß etwa der Grundrechtsteil des Grundgesetzes sich ohne diese distanzfordernde, freiheitssichernde Vorstellung der Trennung von Staat und Gesellschaft gar nicht denken läßt. Allerdings w i r d er i n der Demokratie eher zu einer Frontstellung einzelner gegen die Mehrheit modifiziert, weshalb u. a. der Minderheitenschutz so wichtig w i r d und letztlich auch von Grundrechten zu leisten ist. Ich w i l l den bekannten staatstheoretischen Kontroversen u m das Gegenüber von Staat und Gesellschaft hier nicht näher nachgehen, sondern nur darauf verweisen, daß das freie Mandat i m grundgesetzlich geordneten Parteienstaat auch für die Parteien selbst bedeutsam werden kann, weil es mittelbar zur Stärkung der innerparteilichen Demokratie beiträgt. 2. Die Regierungs - und die Oppositionsparteien Die wirklich umwälzende Veränderung des parlamentarischen Systems durch politische Parteien mit weitgehenden Folgerungen für die Funktionen der beteiligten Gewalten und Staatsorgane liegt allerdings i n der Bildung des politischen Machtblocks von Regierung und Regierungsfraktionen einerseits und der Opposition andererseits. Der damit verbundene Machtverlust des Parlaments ist gerade i n der Bundesrepublik Deutschland eminent, weil hier — anders als etwa i m selbstbewußten Parlament der USA — Angriffe auf die Regierung i n den Regierungsfraktionen als Destruktion und Verweigerung von gewissermaßen per se geschuldeter politischer Gefolgschaftstreue bewertet werden. Dies hängt möglicherweise auch m i t dem Präsidialsystem der USA zusammen, aber wohl vorwiegend m i t der deutschen Leidenschaft für die Exekutive sowie mit der (früheren?) Weltanschauungsnähe deutscher politischer Parteien. Die Parlamentarier der deutschen Regierungsfraktionen — nicht selten i n der Hoffnung, irgendwann i n die Regierung „befördert" zu werden — neigen zur völligen Identifikation mit

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ihrer Regierung und sehen bzw. gerieren sich i m politischen Geschäft häufig gewissermaßen als politische Handlungsreisende der Regierung. Dieses Denken weniger i n Staatsgewalten, sondern vorrangig i n parteipolitischen Lagern führt nicht nur dazu, daß die Abgeordneten sich zunächst als Parteimitglieder und erst dann als Parlamentarier fühlen, sondern darüber hinaus zu einer weitaus folgenreicheren Konsequenz: Die partei-politisch motivierte Frontstellung zwischen dem Regierungslager (Regierung mit Regierungsfraktionen) und der Opposition bedingt, daß jedenfalls nach außen dringende Konflikte zwischen Regierung und Regierungsparteien selten sein werden. Wenn i m übrigen die Führung der Regierungsparteien häufig aus Regierungsmitgliedern besteht, w i r d bei dem starken Einfluß der Parteispitze auf die Parteiwillensbildung auch der Entstehung von Konflikten zwischen Regierung und Regierungsparteien vorgebeugt. Diese Entwicklung führt dazu, daß die klassischen parlamentarischen Kontrollrechte i n einer die Regierung w i r k lich bedrängenden Weise faktisch nur von der Opposition wahrgenommen werden. Da die Opposition aber typischerweise die parlamentarische Minderheit darstellt, w i r d sie regelmäßig die Arbeit der Regierung nur unvollkommen behindern und kontrollieren können. Die Drohung des konstruktiven Mißtrauensvotums läuft somit weitgehend leer. Wichtiger sind da schon Drohungen zwischen „regierenden" Parteien, eine bestehende Koalition aufzukündigen. Gleichwohl bleibt die Opposition i m politischen Prozeß der westlichen Parteiendemokratien der eigentliche Garant und Nutznießer der effektiven Wahrnehmung parlamentarischer Rechte. Funktion und angemessene Behandlung der Opposition ist lebenswichtig für die Demokratie. Deshalb wäre es sinnvoll, rechtspolitisch über eine stärke verfassungsrechtliche Verankerung der Opposition und ihrer Rechte nachzudenken. Auch die Opposition repräsentiert unser Gemeinwesen. Ohne Opposition verliert die politische Ordnung der Bundesrepublik ihre — u. a. durch A r t . 79 Abs. 3 GG geschützte — Identität. Dies bedenken wohl Konstrukteure von gehabten und angestrebten Großen Koalitionen nur ganz unzureichend. 3. Die Exekutive

und die

Parteien

Trotz der gewaltigen Verschiebungen zu Lasten parlamentarischer Befugnisse wäre es nun falsch, wollte man die Herrschaft der politischen Parteien m i t einem einseitigen Machtzuwachs der Exekutive gleichsetzen. Zwar herrscht die Exekutive auch durch die politischen Parteien (Vermittlung und Werbung i n der Gesellschaft für exekutive

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Entscheidungen), aber die politischen Parteien ihrerseits präjudizieren faktisch i n starkem Maße die Exekutive (und die Legislative). Wesentliche politische Entscheidungen fallen ja heute nicht mehr i m Kabinett oder Parlamentsplenum, sondern i n Koalitionsvereinbarungen, Koalitions-Clearing-Stellen und Parteitagen. Insoweit ist — bei Sicht der Parteien als nichtstaatliche Organisationen — eine Entstaatlichung staatlicher Entscheidungen offenkundig, und es ist deshalb ebenso folgerichtig wie notwendig, daß die Verfassung die innere Ordnung der Parteien an das Staatsstrukturprinzip der Demokratie bindet. Von hier aus w i r d deutlich, wie wichtig das Gebot innerparteilicher Demokratie heute ist. Dies ist gewissermaßen eine strukturelle Kompensation zum Zwecke der konstitutionellen Vorfeldsicherung des Staates. Die latente Gefahr ist dabei nur die, daß es letztlich zur partiellen Quasi-„Verstaatlichung" der Parteien kommt.

V. Die Parteien und das Bundesstaatsprinzip Aber auch i n anderer Richtung hat die Organisation des politischen Prozesses durch die Parteien nicht einseitig zu einer Stärkung der Regierung durch Abbau von Elementen der Gewaltenteilung geführt. Vielmehr ist m i t dem Parteienbundesstaat eine neuartige Form der Gewaltenverteilung und -hemmung erfolgt. Die föderalistische Organisation w i r d i n die Austragung des demokratischen Grundkonflikts zwischen Regierungslager und Opposition einbezogen und hierfür nutzbar gemacht. Dabei t r i f f t allerdings nicht die Exekutive auf die Legislative, sondern letztlich Exekutive auf Exekutive. Der Parteienbundesstaat w i r d nicht selten deswegen beklagt, weil er das eigentliche Anliegen des Bundesstaates vernachlässige, regionalen Besonderheiten eine spezifische Einwirkungsmöglichkeit auf staatliche Entscheidungen zu ermöglichen. M i t der zunehmenden Uniformität der Lebensverhältnisse und der stark gesteigerten Bevölkerungsmobilität, aber auch wegen der mehrheitlich unhistorischen Länder ist jedoch gerade diese Legitimation des Bundesstaates zunehmend verblaßt. Erst durch die Parteiendemokratie ist die kunstvolle Staatsform des Föderalismus immer stärker i m Sinne einer Machtverteilungs- und -kontrollorganisation revitalisiert worden. Die gegenwärtige Kraft des Bundesstaatsgedankens, dieses nahezu einzigen politischen Exportartikels der Bundesrepublik, verdankt dieser den politischen Parteien. Die Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien kann

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also auch positiv wirken. Dabei ist auch zu bedenken, daß der Parteienbundesstaat i n den Ländern mit „oppositionellen" Landesregierungen die Heranbildung von Ersatzeliten für die Führung der Bundesrepublik ermöglicht. Durch die Möglichkeit solcher „oppositioneller" Landesregierungen werden überdies eine Staatsverdrossenheit der Bundesopposition ebenso verhindert wie auch deren Flucht zu utopischen Forderungen. Die Bundesopposition w i r d i n die staatliche Machtausübung miteinbezogen und durch eine solche partikuläre Regierungsmitverantwortung i n das Gemeinwesen eingebunden. Insbesondere durch den Bundesrat werden schließlich Bundesregierung und Bundesopposition politischen Kompromißzwängen unterworfen, wodurch einseitige Regierungsentscheidungen abgeschliffen und so konsensfähiger werden können. VI. Die Parteien und das Sozial- und Rechtsstaatsprinzip 1. Die Ausgangslage Während so die Staatsstrukturbestimmungen der Demokratie und des Bundesstaates sehr stark von der Existenz der politischen Parteien beeinflußt und umgeprägt werden, sind vergleichbar intensive Auswirkungen auf das Rechtsstaats- und auf das Sozialstaatsprinzip nicht auszumachen. Freilich gibt es durchsichtige Versuche politischer Monopolisierung dieser Verfassungsgehalte durch einzelne Parteien (etwa Inbesitznahme des Rechtsstaatsgedankens durch die CDU oder des Sozialstaatsgedankens durch die SPD). Jedoch bedeuten derartige — törichte, weil die Verfassungsallgemeinheit negierende — Alleinvertretungsansprüche nur Benutzungen der Verfassung als politisches Arsenal und liegen damit auf einer anderen, politisch-kämpferischen Stufe. M i t der Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch die Existenz und A n erkennung politischer Parteien als solche hat dies jedenfalls wenig zu tun. Strukturelle Veränderungen des Sozialstaates infolge der Herrschaft der politischen Parteien könnten durch die betriebliche Mitbestimmung m i t dem starken Einfluß der Gewerkschaften erfolgen, wenn Parteien die Gewerkschaften — oder umgekehrt — i n ihren Griff bekämen. Modifikationen des Sozialstaates würden sich auch ergeben, wenn die Träger der Sozialversicherung unter Parteienherrschaft gelangen w ü r den.

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2. Die Parteipatronage

bei den Gerichten

Reale Veränderungen des Rechtsstaates durch den Einfluß politischer Parteien lassen sich noch am ehesten i n der Ämterpatronage bei Vergabe von Richterämtern beobachten. Dies ist i m Rahmen der Bundesund Landesverfassungsgerichtsbarkeit sowie bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes, aber zunehmend auch i m Bereich der Mittel-, ja sogar der Unterinstanzen (vor allem bei der Arbeitsgerichtsbarkeit) erkennbar. Es handelt sich dabei u m ein Ärgernis erster Ordnung, obschon einzuräumen ist, daß die Verfassung selbst durch ihre Bestimmungen über die Richterwahl einen derartigen parteipolitischen Einfluß bei höheren Gerichten stark erleichtert und wohl auch i n Kauf genommen hat. Manchem erscheint diese offene Politisierung mit der Chance zur Wahrung des Parteienproporzes auch besser als der einseitige und oft schwer zu greifende mittelbare Parteieneinfluß durch die Landesministerien, bei dem i n der Tat — noch erschwerend — ein verfallendes Amtsbewußtsein des zuständigen Ministers zum notwendigen Szenarium gehört. Legitimiert w i r d der politische Einfluß bei Richterernennungen häufig mit dem Argument, man müsse so vorgehen, weil auch die — jeweils — andere Seite dies so mache. Diese Argumentation gleicht Tritten i n einen Sumpf: mit jedem weiteren T r i t t sinkt das Gemeinwesen tiefer i n den Parteiensumpf ein. Nun gibt es allerdings auch eine weitere, eher von linker Seite kommende Legitimation für den parteipolitischen Einfluß auf die Gerichtsbarkeit. Es w i r d letztlich eine demokratische Legitimation des politischen Richters verlangt (was — wie das Beispiel der USA zeigt — für einen Rechtsstaat nicht zwingend systemstürzend sein muß). Ausgangspunkt ist die K r i t i k vor allem aus der Zeit der Studentenrevolte, wonach der traditionell unpolitische deutsche Richter nur scheinbar unpolitisch sei und faktisch eine äußerst politische Rolle des Systemrepräsentanten spiele. Jede richterliche Rechtsanwendung sei i n Wahrheit eine politische Handlung, zum einen, weil durch Generalklauseln etc. der richterlichen Rechtsanwendung ein weiter Raum bleibe und viele richterliche Entscheidungen auch politische Auswirkungen hätten, zum anderen, weil die Anwendung geltenden Rechts nur Aktualisierung, Perpetuierung und Konkretisierung des Standpunkts der herrschenden Klasse sei. Mindestens den letzten Gesichtspunkt kann ich m i r nicht zu eigen machen, wenngleich er wohl tiefe Spuren in Teilen der jungen

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Richtergeneration hinterlassen hat. Die Tatsache, daß Richter faktisch einen erheblichen eigenen Spielraum bei ihren Entscheidungen haben, ist indessen nicht zu bestreiten. Möglicherweise w i r d dieser dann von dem jeweiligen politischen Standpunkt bzw. Vorurteil des Richters ausgefüllt. Dazu ist der Richter indessen nicht legitimiert. I m Gegenteil, ein guter Richter w i r d stets bemüht sein sich zu fragen, inwieweit bei einer Entscheidung nicht (doch) sein politischer Standpunkt prägend w i r k t . Er w i r d dagegen anzukämpfen haben und als guter Richter auch ankämpfen. Der ungebremste und unverhohlene Einfluß der politischen Parteien bedeutet nun die reale Gefahr, daß Richter, die ihre Ernennung politischen Parteien zu verdanken haben, die etwaigen politischen Motive ihrer Handlungen nicht bekämpfen, sondern sich offen zu ihnen bekennen. Dies weniger aus Dankbarkeit und vielleicht auch nicht immer aus ungefilterter politischer Überzeugung, sondern maßgeblich auch deshalb, weil diese Richter aus Parteiengunst sich als Exponenten oder gar Beauftragte bestimmter politischer Richtungen fühlen, mit der Aufgabe, die Richterkollegen anderer politischer Richtungen i n Schach zu halten. Ich halte auch diese Herstellung von politischer Ausgewogenheit i n Gerichten durch die „pluralistische" Bestimmung von Richtern verschiedener politischer Lager, wobei der politisch einseitig argumentierende Richter vorausgesetzt w i r d — jedenfalls außerhalb der Verfassungsgerichtsbarkeit — für grundverkehrt und für einen Anschlag auf Grundlagen der richterlichen Unabhängigkeit. Verfassungsrechtlich dürfte dies freilich kaum i n den Griff zu bekommen sein. Jedenfalls bleibt auch die binnenpluralistisch ausgewogene Parteilichkeit von Richtern vor der Forderung nach ihrer Neutralität ein Übel. Letztlich sind derartige Pluralismusmaximen nur unvollkommene organisatorische Surrogate für den Verlust der Unvoreingenommenheit von Richtern. Die Parteien mißbrauchen bei der Richterbesetzung nach parteipolitischen Gesichtspunkten ihren Einfluß, u m ihre Machtpositionen i m Staat auszubauen und nicht zuletzt auch, u m den Karriereerwartungen ihrer j u r i stischen Mitglieder gerecht zu werden. Denn die Verheißung der Erfüllung solcher Erwartungen ist ja ein Lebenselexier politischer Parteien, die zunehmend Automobilclubs ähneln, für die man ja Beiträge zahlt, u m irgendwann einmal kostenlos abgeschleppt werden zu können. Und i n diesem Sinne hoffen viele Parteimitglieder auf ein AbgeschlepptWerden i n höhere Richterämter. Eine freie Karrierefahrt für freie Parteibürger mit der Hilfe politischer Abschlepper! 5 Parlamentarisches Regierungssystem

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Remedur ist kaum erkennbar: Da ein Verbot von Parteimitgliedschaften von Richtern aus verfassungsrechtlichen Gründen wohl ausscheidet und auch durch Freundeskreise etc. leicht umgehbar wäre, bleibt nur der Versuch einer verstärkten Sensibilisierung der Bevölkerung gegen diesen Mißbrauch von Parteienmacht. Tröstlich ist allein, daß eben ein Richteramt auch richterliche Parteimitglieder prägen und zu echten Richterpersönlichkeiten formen kann. Mancher Bundesverfassungsrichter ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. 3. Die Parteipatronage

in der Verwaltung

Die K r i t i k am Parteieneinfluß auf Personalentscheidungen gilt in noch stärkerem Maße für die bekannte und viel diskutierte Ämterpatronage i n der öffentlichen Verwaltung, die an den Verfassungsgrundlagen des Öffentlichen Dienstes rüttelt (soweit sie über den Kreis der politischen Beamten hinausgeht). Dabei w i r d das Unbehagen an der Parteipatronage nur relativiert, aber nicht beseitigt, wenn man an — durchaus noch lebendige — „archaische" Formen der Patronage aus finanziellen, verwandschaftlichen, freundschaftlichen, landsmannschaftlichen, studentenverbandlichen oder konfessionellen Gründen denkt. Die Unsachlichkeit der Patronage aus parteipolitischen Gründen scheint demgegenüber geringer, weil die Anknüpfung an politischen Überzeugungen eine stärkere Nähe zu den Amtsaufgaben der Verwaltung hat. Dies macht die Ämterpatronage durch Parteien aber zugleich auch gefährlicher, weil sie Verwaltungsentscheidungen ungleich stärker präjudizieren kann. Der Mißstand der Ämterpatronage durch politische Parteien (der nicht dadurch erträglicher wird, weil Teile der Bürokratie sich selbst zunehmend als politisch verstehen) ist oft beschrieben worden, so daß ich mich hier auf einige Skizzenstriche beschränken kann: Bei der Verwaltung scheint insgesamt parteipolitischer Einfluß legitimer zu sein als i n Gerichten, weil die Verwaltung ja Bestandteil der politisch geführten Exekutive ist. Unterdessen ist aber auch einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit bewußt geworden, daß die etwa i n den USA selbstverständliche Unterscheidung zwischen Staatsleitung (government) und administrativer Bürokratie auch i n das deutsche Verfassungsdenken übernommen werden kann. Denn trotz der institutionellen Verzahnungen i n der Ministeriumsspitze sind die Unterschiede zwischen Regierung und Verwaltung beträchtlich. So ist doch heute eines der längst erkannten Grundprobleme des modernen Staats die unzureichende Steuerbarkeit der Bürokratie durch die Staatsleitung. Dies

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ist z. B. gerade i m Bereich der politischen Planung bedenklich. Die technokratische Bürokratie entzieht sich durch Eigenvorgaben von Zielen und durch ihre spezifisch bürokratischen Verfahrensweisen weitgehend einer effektiven Steuerung durch die Staatsleitung. Die Parteien suchen nun diese i n sich abgeschottete Bürokratie gewissermaßen von innen aufzubrechen. Sie streben Herrschaft über die Bürokratie durch Teilhabe an der Bürokratie an. Legitimiert nun die von der Demokratie geforderte Notwendigkeit politischer Steuerung der Bürokratie die influenzierende Ämterpatronage durch politische Parteien? Eine faktisch gegenüber der Regierung unabhängige Bürokratie ist weitgehend eine Bürokratie ohne Parlamentskontrolle, was i m Prinzip mit dem Grundanliegen einer demokratischen Verfassung unvereinbar ist. Deshalb ist an sich der Versuch berechtigt, die Verwaltung wieder stärker an die politische Führung zu binden. Der Rechtsstaat sieht hierfür u. a. die Bindung der Bürokratie an Gesetz oder Verwaltungsvorschriften vor, was angesichts der Erfordernisse moderner Gesetzgebung bzw. Vorschriftenformulierung m i t ihrer Kontrolle sozialer und technischer Abläufe aber jedenfalls keine umfassend wirksame Remedur darstellt. Damit ist freilich noch nicht die Legitimität des Parteieneinflusses auf die staatliche Bürokratie erwiesen, der die gestörte demokratische Verantwortungskette zwischen Parlament und Bürokratie durch gesellschaftliche Organisationen — nämlich durch die Parteien — herstellen würde. I n Wahrheit w i r d dadurch keine Verantwortung vor dem demokratischen Souverän, sondern vor politischen Teilinteressen begründet. Aus diesem Grunde ist insbesondere auch der übermächtige Parteieneinfluß i n öffentlich-rechtlichen Organisationen, die mit guten Gründen aus der staatlichen Befehlsstruktur ausgegliedert sind (insbes. i n den Rundfunkanstalten), problematisch. Hierauf w i r d noch zurückzukommen sein. Da die Parteien nicht als verlängerte Arme der Regierung verfassungsrechtlich legitimiert sind, dürfte der Parteieneinfluß als M i t t e l zur Steuerung der Verwaltung durch die Regierung i m Prinzip illegitim sein. Insgesamt bedroht die jedenfalls ungezügelte Ämterpatronage nicht nur die Verfassungsinstitution des Öffentlichen Dienstes, sondern — was noch schwerer wiegt — den Verfassungskonsens, ohne den die Bundesrepublik als freiheitliche Demokratie auf Dauer keinen Bestand haben kann. Abhilfe ist nicht leicht: Das Verbot von Parteimitgliedschaften für Beamte und Richter scheidet auch hier wohl aus verfassungsrechtlichen Gründen aus. A m ehesten ist eine Renaissance des Lei5*

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stungsgedankens mit der Erhaltung oder Wiederherstellung eines intakten Prüfungswesens und die zwingende Bindung der staatlichen Einstellungs- und Beförderungsentscheidung hieran geeignet, die leistungsfeindliche Ämterpatronage zu bekämpfen. V I I . Die verbleibenden Probleme Die bisher genannten Probleme der Veränderungen von Verfassungsinstitutionen durch Parteien sind i m wesentlichen bekannt, wenn auch bis heute kaum gelöst. Demgegenüber sind die Veränderungen, welche die Parteien umgekehrt selbst durch andere Verfassungsinstitutionen erfahren haben, weniger beleuchtet. Als Stichworte,mögen hier die Angleichung der Parteien an Staatsstrukturen, d.h. an das Demokratieprinzip (für ihre innere Ordnung) bzw. an das Bundesstaatsprinzip (föderalistische Gliederung der Parteien) genügen. Die außerordentlich problematische und bedenkliche staatliche Parteienfinanzierung — als weitere Wegstrecke zur „Verstaatlichung" der Parteien — gebietet Rücksichten der Parteien z. B. auf das staatliche Haushaltsrecht. Vor allem aber prägt die bereits erwähnte Rolle der Regierungsparteien als Regierungsunterstützungsparteien das Parteiensystem der Gegenwart entscheidend: I n den Mehrheitsparteien w i r d der Regierungseinfluß dominierend. Unmittelbarer staatlicher Einfluß auf die Parteien geht insbesondere von der Gesetzgebung aus, z. B. von der Parteien-, Wahl- oder Steuergesetzgebung. Derartige staatliche Einflüsse auf Parteien durch den Gesetzgeber sind hier jedoch nicht zu erörtern. Angemerkt sei nur, daß i n diesen Fällen die Parteien alles daran setzen werden, die gesetzgeberische Entscheidung i n ihrem Sinne zu gestalten. Auch das wichtige Problem der angestrebten Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch verfassungsfeindliche Parteien i m Sinne eines stillen Verfassungsumsturzes mag hier dahinstehen, weil sie nicht typisch für die Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch die Existenz und Funktion von Parteien als solchen ist. V I I I . Die politischen Parteien und die Grundrechte I m folgenden soll indessen ein Thema vertieft werden, das bisher i m wesentlichen nur beiläufig erörtert wurde. Gemeint ist die Verformung einzelner Grundrechte durch Anerkennung oder Aktivitäten politischer Parteien.

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1. Die Spezialität

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der Parteienfreiheit

Eine nicht unbedeutende Vorproblematik stellt dabei der Umstand dar, daß m i t der verfassungsrechtlichen Anerkennung der politischen Parteien von A r t . 21 GG schon wegen der Notwendigkeit einer kollisionsvermeidenden, normativen Geltungszuweisung für diese Norm der Anwendungsbereich anderer Grundrechtsbestimmungen eingeschränkt wurde. Da die Parteienfreiheit ja maßgeblich auch eine freiheitlichgrundrechtliche Wurzel hat, bedeutet ihre verfassungsrechtliche Positivierung die Gefahr von Grundrechtskonkurrenzen (und -kollisionen). Dies ist besonders deutlich bei der Vereinigungsfreiheit des A r t . 9 Abs. 1 GG, welche als generelle Norm die Vereinigung zu politischen Parteien eben nicht mehr garantiert, wenn es eine spezielle Parteienfreiheit gibt. Daß die Abgrenzung zwischen Partei und Vereinigung keinesfalls ein theoretisches Problem ist, zeigt die aktuelle, insbes. von Scholz 1 begonnene Diskussion, ob die „Grünen" eine politische Partei sind. Zweifel könnten (oder konnten) daran ansetzen, daß die „Grünen" politisch eine Ein-Punkte-Partei sind und nicht auf das Staatlich-Allgemeine zielen, bzw. daran, daß sie als mehr oder weniger spontane „Bewegung" nicht die für Parteien erforderliche organisatorische Gewähr für eine gewisse Dauerhaftigkeit bieten etc. Allerdings müssen zwei naheliegende I r r tümer vermieden werden: Zunächst ist davor zu warnen, daß der parteienrechtliche Parteienbegriff i n § 2 PartG ohne weiteres m i t dem der Verfassung in A r t . 21 GG gleichgesetzt w i r d sowie vor dem anderen — weitaus gefährlicheren — Fehler, die Verfassungskonformität zum Definitionsmerkmal der politischen Parteien zu machen. Eine andere ungelöste — vor allem für die Parteienfinanzierung wichtige — Frage ist die, inwieweit Unterstützungsvereine von politischen Parteien sich auf Art. 9 Abs. 1 GG berufen können oder dem Regime des A r t . 21 GG unterstehen. Eine andere interessante Kollisionslage taucht i m Bereich des Gleichheitssatzes auf. Die spezifische Chancengleichheit der Parteien hat ihren Sitz wohl eher i n A r t . 21 GG bzw. 38 GG, was wiederum zu einer Einschränkung des Geltungsbereichs eines Grundrechts, des A r t . 3 GG, führt. Eine weitere wichtige, die anderen Grundrechte einschränkende Auswirkung der Parteienfreiheitsverbürgung liegt darin, daß A r t . 21 GG 1 R. Scholz , Krise der parteienstaatlichen Demokratie. „Grüne" u n d „ A l t e r native" i m Parlament, 1983; bes. S. 26 ff.

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auch den K e r n der Betätigungsfreiheit der politischen Parteien erfaßt und insoweit (z. B. hinsichtlich der Parteipresse) andere Grundrechte (hier A r t . 5 GG) modifiziert oder verdrängt. 2. Die Grundrechtsgefährdungen

und -ingriffnahmen

Gegenüber diesen eher konstruktionsmäßigen Spezialitätsproblemen wiegen jedoch faktische Grundrechtseinwirkungen der politischen Parteien weitaus schwerer. Dabei sollen die Aspekte grundrechtsbezogener, grundrechtsverwirklichender oder grundrechtshemmender bzw. grundrechtsgefährdender Politik einzelner Parteien außer Betracht bleiben, weil derartige parteipolitische Entscheidungen i m Falle ihrer Durchsetzung als staatliche Maßnahme letztlich zu klassischen Grundrechtseinwirkungen (etwa zu grundrechtseingreifenden Gesetzen) führen. Weitaus problematischer sind Grundrechtsingriffnahmen durch politische Parteien, die zu starken Grundrechtsbehinderungen führen. So ist zu fragen, wie verfassungsrechtlich der Entwicklung entgegengesteuert werden kann, daß bestimmte höhere Verwaltungs- oder Richterpositionen faktisch nur bei Parteimitgliedschaft oder jedenfalls Parteiwohlwollen erlangt werden können. Die Hauptprobleme einer solchen eigentümlichen faktischen Berufszulassungsvoraussetzung, der Parteiengunst, liegen allerdings wohl eher i n der fehlenden Beweisbarkeit der politischen Motivation von Personalentscheidungen. Wären parteipolitische Motive beweisbar, könnte die Einstellungsentscheidung regelmäßig als ermessensfehlerhaft und deshalb rechtswidrig behandelt werden. I m übrigen kann auch die skrupelloseste Ämterpatronage selbst i n Extremfällen „nur" partielle Grundrechtslähmungen hervorrufen, weil eben auch trotz der gewaltigen Aufblähung des Öffentlichen Dienstes stets nur einige Berufe, nicht aber alle erfaßt werden. 3. Die Rundfunkfreiheit

unter Parteienherrschaft

I n wirklich flächendeckender Weise ist jedoch eine Grundrechtsaushöhlung durch Parteienherrschaft derzeit i m Bereich der Rundfunkfreiheit erkennbar, jedenfalls solange ein Rundfunkmonopol für öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten besteht. Diese öffentlich-rechtlichen A n stalten sind durch das Konstruktionsmerkmal der Binnenpluralität in hohem Maße dem Parteienproporz unterworfen, und zwar weit über die Gremienmitwirkung von „echten" Parteirepräsentanten i n Form von Abgeordneten hinaus. I n Wahrheit werden an den öffentlich-recht-

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liehen Rundfunkanstalten auch viele Gremienmitglieder als Repräsentanten sog. gesellschaftlicher Gruppen, Verwaltungsmitarbeiter, vor allem aber auch Rundfunkjournalisten nach parteipolitischen Gesichtspunkten bestimmt. Die Parteien haben diese Rundfunkanstalten als Organisationen der Freiheitssicherung und -Verwirklichung aus Gründen der Machterhaltung und -gewinnung i n einer Telekratie teilweise bereits kaputtbesetzt, was u m so bedenklicher ist, weil die Wahrnehmung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit eben derzeit noch immer (fast) nur durch diese parteibeherrschten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten möglich ist. Diese juristisch staatsfreien, aber faktisch heute eben doch staatsnahen Anstalten sind durch nicht ganz staatsfreie und noch staatsnähere Parteien i n Griff genommen und insgesamt gerade dadurch noch intensiver i n den staatlichen Einflußbereich gezerrt worden. Die (mehr oder weniger) plurale Parteienherrschaft über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat ganz erhebliche Auswirkungen auch auf die Meinungsfreiheit i m Rundfunk und damit auf den K e r n der Rundfunkfreiheit. Besonders erschreckend ist die Gefahr einer partiellen Ausgewogenheit des Verschweigens von Nachrichten wegen journalistischer Rücksicht auf die Rundfunkherrschaft der Parteien. Da Reformen der inneren Strukturen der öffentlich-rechtlichen A n stalten kaum den Parteieneinfluß entscheidend zurückdrängen werden, kann Abhilfe hier wohl letztlich nur ein konkurrierender Privatrundfunk schaffen. Dies gilt nicht allein i m Sinne eines massenmedialen Gegengewichts, sondern beruht auch auf der Erkenntnis, daß staatsnahe Organisationen i n wirklich privaten — d. h. typischerweise stärker leistungsbezogenen — Organisationen weitaus schwerer Einfluß erringen können als i n staatsnahen Organisationen. Dies zeigt etwa das Beispiel der bundesdeutschen Presse, die zwar durchaus (verschiedene) politisch profilierte Standpunkte birgt, aber z. B. gerade die Parteipresse sehr weit zurückgedrängt hat. 4. Die Wissenschaftsfreiheit

und die Parteien

Ein anderer überaus stark durch öffentlich-rechtliche Strukturen überlagerter Grundrechtsgebrauch herrscht auch bei der durch A r t . 5 Abs. 3 GG geschützten Wissenschaftsfreiheit bezüglich der Universitäten. Auch hier ist — gemessen an früheren Zeiten — nicht nur eine verstärkte allgemeine Politisierung, sondern auch ein wachsender Parteieneinfluß unverkennbar und gibt zu großen Sorgen Anlaß. Er geht mehrere Wege; zunächst einmal über die Aufsicht des zuständigen Ministers, der — bei

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zerbröselndem traditionellem Amtsverständnis — seine parteipolitischen Vorstellungen häufig recht ungefiltert i n Berufungs- und Organisationsentscheidungen (z. B. auch über die Universitätsspitzen) einfließen läßt. Dies erleichtern die nach der Studentenrevolte durchweg erweiterten exekutiven Eingriffsbefugnisse. I m Zuge allgemeiner Ämterpatronage (auch bei Berufungen) und der dumpfen Selbstgewißheit von Parteilichkeit ist mancherorts die häufig wissenschaftsfremde, ministeriale Führung vielfach nicht mehr bereit, die Eigengesetzlichkeit von Wissenschaft anzuerkennen. Ein weiteres Einfallstor für parteipolitischen Einfluß auf die Wissenschaft ist die Entsendung von Parlamentariern, d.h. eben heute faktisch Parteivertretern, i n Universitätskuratorien etc. Der entscheidende und — wie ich meine — letztlich existenzbedrohende Einbruch der Politik i m allgemeinen und der Parteipolitik i m besonderen i n die öffentlich-rechtlich verfaßte Wissenschaft, also vor allem i n die Universitäten, ist durch Veränderung interner Entscheidungsstrukturen erfolgt. Dies wurde maßgeblich durch die weitgehend gesetzgeberisch oktroyierte Gruppenuniversität ermöglicht, welche Entscheidungen und Gruppierungen nach politischen, d.h. eben wissenschaftsfremden Maßstäben begünstigt, progressive Umsturzberufungen und hierauf reagierende konservative Verbunkerungsberufungen mit sich bringt und letztlich — wie etwa Berlin zeigt — zu Fraktionsuniversitäten nach politischen (nicht unbedingt parteipolitischen) Lagern führt, wodurch typischerweise der Einfluß von Parteien und Gewerkschaften gestärkt wird. Die ideologische Fundierung derartiger Entwicklungen ist bekannt: sie hängt m i t der Bekämpfung der traditionellen These von der objektiven, neutralen und unpolitischen Wissenschaft zusammen. Dem ist insbesondere während der Studentenrevolte die These von der notwendigerweise parteilichen Wissenschaft entgegengehalten worden, wobei es zur Aufrechterhaltung des politischen Weltbildes als erforderlich erschien, auch den angeblich parteilich-politischen Standpunkt einer unpolitischen Wissenschaft zu enttarnen. 5. Die Staatsrechtswissenschaft

und die Parteien

Die tatsächliche Entwicklung etwa der deutschen Staatsrechtswissenschaft i n der Bundesrepublik ist noch weiter gegangen. Politische Lagerbildungen, Parteimitgliedschaften von Staatsrechtsprofessoren beherrschen i n nicht geringem Maße das Bild. Alternativ-Schrifttum und gewisse juristische Zeitschriften (z. B. „Demokratie und Recht") machen

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bestimmte politische Haltungen von Autoren faktisch zur Publikationsvoraussetzungen. Die Parteien bzw. die von ihnen getragenen Regierungen bestimmen zunehmend Gutachter, Mitgliedschaften i n Sachverständigengremien etc. nach Mitgliedschaft der jeweiligen Professoren i n einer Partei oder doch jedenfalls nach einer Nähe zu einem bestimmten politischen Lager. Die politische „Berechenbarkeit" bzw. „Zuverlässigkeit" w i r d zur Berufungs-, Beauftragungs- und Entsendungsvoraussetzung. Politisch festgelegte Einseitigkeit w i r d zur wissenschaftlich erwünschten Tugend. Und von dieser Tugend kann man sich dann i n manchen sog. wissenschaftlichen Gutachten überzeugen, die von beschämender und geistig-ärmlicher Einseitigkeit sind und das an sich wertvolle verfassungsrechtswissenschaftliche Gutachtenwesen unnötig i n Verruf bringen. Diesem rapiden Zerfall von Teilen' der deutschen Staatsrechtswissenschaft i n politische Lager wachsen als unvollkommene Objektivitätssurrogate Organisationsformen des Parteien- oder politischen Lagerproporzes zu, wie sie etwa aus dem Rundfunkrecht mit seinen Ausgewogenheits- und Pluralismusgeboten bekannt sind. Wissenschaftliche Kongresse gehen zunehmend zu dem letztlich unwissenschaftlichen Prinzip über, einem konservativen Referenten „progressive" Korreferenten oder umgekehrt an die Seite zu stellen, weil nur so die ganze Wahrheit erfaßbar scheint. Daß dies angesichts der realen Zahlenverhältnisse i n der deutschen Staatsrechtswissenschaft zu einer quasi-kompensatorischen Bevorzugung der „Progressiven" führt, liegt auf der Hand. Das soeben erschienene und sowohl i n der Konzeptionserstellung wie -realisierung problematische Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland 2 , bei dem zur Erstellung von Ausgewogenheit die Herausgeber (und Autoren) i m wesentlichen nach politischer Grundhaltung ausgesucht worden sind, stellt einen Markstein auf dem Weg zu einer solchen pluralistischen Verfassungswissenschaft unter dem Diktat des Parteienproporzes dar. Sie erwartet förmlich einseitige parteiliche Einzelbeiträge, u m durch andere politisch entgegengesetzte Beiträge gewissermaßen parteipolitische Binnenpluralität i m Buch herzustellen. Der einseitige politische Standpunkt der Autoren w i r d so wichtiger als ihre wissenschaftliche Qualität, weshalb i n dem Buch etwa Beiträge von Anke Fuchs und Peter Glotz auftauchen. 2 E. Benda / W. Maihof er / H. J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1983; vgl. hierzu die ausführliche K r i t i k bei Kloepfer, A f P 1983, S. 447 ff.

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Ein guter Verfassungsjurist hingegen w i r d nie zu einseitigen, gar auf seinen politischen Überzeugungen beruhenden rechtlichen Beurteilungen neigen. Er w i r d und muß hinsichtlich seiner rechtlichen Beurteilung insoweit „unberechenbar" sein, als aus seinen politischen Überzeugungen nicht zwingend seine rechtliche Argumentationen folgerbar sein dürfen. Das bedeutet keineswegs, daß ein Staatsrechtswissenschaftler keinen politischen Standpunkt haben soll, i m Gegenteil. Er muß bei Formulierung seiner wissenschaftlichen Äußerungen jedoch hiervon bewußt abstrahieren. Es wäre jedenfalls geradezu ein Armutszeugnis für einen Rechtswissenschaftler, könnte man durchgängig i n seinen rechtlichen Argumentationen seine politischen Überzeugungen erkennen oder könnte man gar von seinen politischen Überzeugungen her durchgängig auf seine verfassungsrechtlichen Argumentationen schließen. Dem kann nicht m i t Erfolg entgegengehalten werden, daß staatsrechtliche Erkenntnisse von Natur aus auf Wertungen beruhten und es deshalb auch legitim sei, auf das jeweilige politische Vorverständnis eines Interpreten zurückzugreifen. Staatsrechtswissenschaft ist wie jede Wissenschaft auf die eine unteilbare Wahrheit angelegt, die gerade nicht durch Mehrheitsentscheidung zu ermitteln ist. Dabei seien die Schwierigkeiten der Ermittlung dieser Wahrheit nicht verkannt. A r t . 5 Abs. 3 GG schützt deshalb auch die Suche nach Wahrheit und das Für-WahrHalten. Dennoch gibt es nur die eine unteilbare Wahrheit und nicht eine linke oder rechte verfassungsrechtliche Wahrheit. Deshalb ist es ein Irrweg, die richtige staatsrechtliche Erkenntnis durch Gegenüberstellung „rechter" und „linker" Ansichten ( zu ermitteln. Ich weiß, daß dieser mein Standpunkt für viele den verblichenen Charme eines (scheinbar) gestrigen Wissenschaftsverständnisses trägt, denn der Parteienstaat beeinflußt i n vielen Fällen bereits unser verfassungsrechtliches und -politisches Denken. Und i n dieser Veränderung des Verfassungsdenkens dürfte die stärkste Herausforderung an unsere überkommene Verfassungskultur liegen. Wenn das Denken i n Parteien (bzw. entsprechenden politischen Lagern) unser Denken erst einmal ganz beherrscht, werden w i r i n einem wahrhaft totalen Parteienstaat leben,'in dem jedermann einem politischen Lager zugerechnet wird. Ein lebenswertes Umfeld für die Wissenschaft und für Wissenschaftler wäre dies gewiß nicht. Denn wenn es sein muß, hat der Verfassungsrechtswissenschaftler auch gegen seine politische Überzeugung und notfalls auch gegen seinen politischen Freund zu argumentieren. Seine Parteinahme darf allein der Wahrheit gelten. Ohne Unbestechlichkeit,

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Unvoreingenommenheit, Objektivität und kompromißlosen Willen zur Wahrheit ist eine hierdurch allein legitimierte freie Wissenschaft undenkbar. Wissenschaft muß i m allgegenwärtigen Parteienstaat deshalb eine Oase der Unparteilichkeit sein. Wissenschaftsfreiheit i m Parteienstaat bedeutet deshalb zu einem maßgeblichen Teil die — auch grundrechtlich abgesicherte — Abschirmung der Wissenschaftsfreiheit vor Parteieneinfluß. Wissenschaft hat keine Rücksicht auf parteipolitische Interessen zu nehmen, kann nicht faktisch-kompromißhaft Wahrheit suchen und darf auch nicht Partikuläres verabsolutieren, wie dies das Lebensgesetz von repräsentierten Interessen i n einem Verbände- und Parteienstaat ist. Manchem Politiker mag es närrisch erscheinen, wenn sich Wissenschaft nicht mit dem Lebensgesetz der Parteiendemokratie und auch nicht m i t den mächtigen Parteien arrangiert. Die Wissenschaft kann m i t einem solchen Urteil leben, wenn und weil dem „Narr" auch seine „Narren" freiheit bleibt. I X . Der Ausblick Insgesamt w i r d deutlich, daß die Existenz und Anerkennung politischer Parteien die Verfassungsgehalte und -institutionen stark verändern können. Als lebendiger Verfassung muß und w i r d es aber dem Grundgesetz gelingen, - die Parteien selbst verfassungsrechtlich zu binden. Die eigentliche Limitierung der Parteienherrschaft kann aber letztlich nur durch den Wettbewerb oder Konflikt zwischen den Parteien erfolgen. Verfassung < und Verfassungspolitik müssen daher alles daransetzen, diesen Konflikt zwischen den Parteien aufrechtzuerhalten. Die Verfassung muß so Parteieneinfluß teilen, u m herrschen zu können.

Plebiszitäre Elemente im repräsentativen System Von Wassilios Skouris I. Einführung „Le peuple anglais pense être libre, i l se trompe fort, i l ne Test que durant l'élection des membres du Parlement; sitôt qu'ils sont élus, i l est esclave, i l n'est rien". Das verächtliche Urteil von Jean-Jacques Rousseau 1 über das englische Modell der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie hat dessen Verbreitung und Vorherrschaft i n den westlichen Demokratien nicht verhindern können. Als auf der Staatsrechtslehrertagung i n Bielefeld 1974 über das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes beraten wurde 2 , war mehrmals von der Alternativlosigkeit des Systems die Rede. I m ganzen waren die Äußerungen der Staatsrechtslehrer durchweg positiv, die vereinzelt vorgetragene K r i t i k und die Korrektur- und Reformanregungen betrafen Einzelpunkte 3 . Zwei Jahre später, also 1976, ist die Enquête-Kommission des Bundestages i n ihren „Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform" zu einer ähnlichen Beurteilung gekommen 4 . Die Kommission hat zwar dezidiert über eine Stärkung der politischen M i t w i r kungsrechte der Bürger nachgedacht. Sie hat jedoch bewußt davon abgesehen, die immer wieder erhobenen Forderungen nach einer stärkeren und wirksameren Beteiligung der Bürger an der politischen W i l lensbildung und den staatlichen Entscheidungsprozessen als Empfeh1 Rousseau, D u contrat social ou principes du droit politique, 3. Buch, 15. K a pitel. 2

M i t Referaten von Oppermann 8 ff. u n d 69 ff.

u n d Hans Meyer,

V V D S t R L 33 (1975),

3 Vgl. z . B . Oppermann (Fn.2), S.43 ff.; Hans Meyer (Fn.2), S. 115 ff. sowie die Diskussionsbeiträge von Scheuner (S. 121 ff.), Hans Huber (S. 124 ff.), Badura (S. 141 f.), Hans H. Klein (S. 153 ff.), Frowein (S. 155 ff.), Hans-Peter Schneider (S. 157 f.), Soell (S. 166 f.), Hans Schneider (S. 167 f.), Korinek (S. 168 f.) u n d Stern (S. 169 f.). 4 Beratungen u n d Empfehlungen zur Verfassungsreform (I) — Parlament u n d Regierung, veröffentlicht in: Z u r Sache 3/76, Bonn 1976. Das K a p i t e l über die Stärkung der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger ist i n den S. 45 bis 71 enthalten.

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lungen auszusprechen 5. Aber auch wenn man jüngere Stellungnahmen, nicht von Fachgremien, sondern von FachZeuien6 liest, so ergeben sie kein anderes Bild. Das parlamentarisch-repräsentative Regierungssystem des Grundgesetzes steht nicht ernsthaft zur Debatte. Es währt inzwischen 34 Jahre und hat sich i n dieser Zeit offenkundig bewährt. Wenn jedoch dieses B i l d nicht trügt, wenn der parlamentarisch-repräsentative Charakter des Grundgesetzes nicht strittig ist, liegt es nahe, anzunehmen, über das Thema „Plebiszitäre Elemente i m repräsentativen System" könne aus deutscher Sicht recht wenig gesagt werden. Auf den ersten Blick mag dieser Eindruck berechtigt sein. Aber eben nur auf den ersten Blick. Das soll nicht bedeuten, daß das parlamentarischrepräsentative System trotz der beschriebenen Einmütigkeit sich i n einer Krise befindet und daß es zur Überwindung dieser Krise der Einführung oder Fortentwicklung plebiszitärer Einrichtungen bedarf. Ich habe auch meine Aufgabe nicht darin gesehen, die mehr oder weniger bekannten Erscheinungsformen direkter Demokratie auf ihre Vereinbarkeit m i t dem organisationsrechtlichen Gerüst des Grundgesetzes oder gar auf ihre Zweckmäßigkeit zu untersuchen. Es erscheint m i r weitaus wichtiger, Entwicklungen zu beobachten und zu durchleuchten, die, ohne Instrumente unmittelbarer Volksherrschaft zu sein, eben plebiszitäre Elemente i n sich tragen, damit das überkommene parlamentarisch-repräsentative System nachhaltig berühren und vielleicht sogar verändern. U m aber diese Vorkommnisse richtig zu erfassen und vor allem auf ihre verfassungsspezifische Tragweite zu überprüfen, ist es zuvor nötig, einerseits die wesentlichen Merkmale der parlamentarischrepräsentativen Demokratie und andererseits die geläufigen M i t t e l der unmittelbaren Demokratie kurz ins Gedächtnis zu rufen. 5

Die Ergebnisse werden auf S.48 mitgeteilt. Hier hat die Enquete-Kommission lediglich empfohlen, die Möglichkeit der Einflußnahme der Parteimitglieder auf die Aufstellung der Wahlkreiskandidaten bei der Bundestagsw a h l durch die fakultative Einführung der B r i e f w a h l zu verstärken. 6 Vgl. n u r Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche F o r m der Demokratie, in: Festschrift für K u r t Eichenberger zum 60. Geburtstag, Basel/Frankfurt a. M . 1982, S. 301 ff. sowie Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie? „Grüne" u n d „ A l t e r n a t i v e " i m Parlament, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin, Heft 80, B e r l i n / N e w Y o r k 1983, S . 6 f f . Aus den älteren Stellungnahmen sind die Beiträge v o n Hans Schneider, Volksabstimmungen i n der rechtsstaatlichen Demokratie, i n : Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München 1955, S. 155 ff., u n d Werner Weber, Mittelbare u n d unmittelbare Demokratie, in: Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . B e r l i n 1970, S. 175 ff., nach wie v o r lesenswert.

Plebiszitäre Elemente i m repräsentativen System

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I I . Das parlamentarisch-repräsentative System des Grundgesetzes Verfassungsrechtlich verankert ist das repräsentative System vor allem i n dem A r t . 20 Abs. 2 GG. Die Staatsgewalt geht vom Volk aus und w i r d von i h m i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Soweit also das Volk die Staatsgewalt nicht i n Wahlen und Abstimmungen selbst ausübt, w i r d es durch die genannten besonderen Organe repräsentiert 7 . Wenn Repräsentation bedeuten soll, daß etwas, was nicht präsent ist, gegenwärtig gemacht wird 8 , so heißt das bezogen auf A r t . 20 Abs. 2, daß das nicht präsente V o l k durch die Organe der drei klassischen Gewalten repräsentiert wird. Zu betonen ist dabei der zum Wesen der Repräsentation i m verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Sinn gehörende Bezug zum Volksoder Gemeinschaftswillen 9 . M i t den Worten des Grundgesetzes gesprochen, ist der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden nur nur seinem Gewissen unterworfen. Diesen i n A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegten Grundsatz finden w i r i n allen Verfassungen, die sich für das parlamentarisch-repräsentative System entschieden haben 10 . Die Idee der Repräsentation fordert das freie Mandat. 7 Dazu Herzog, in: Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Rdnrn. 3, 15, 17 u n d 38 ff. zu A r t . 20; Kriele, Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, V V D S t R L 29 (1971), 46 (60), u n d Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, München 1977, § 18 I I 5 (S. 451—453). 8

Leibholz, A r t i k e l „Repräsentation", in: Evangelisches Staatslexikon, 2. A u f l . S t u t t g a r t / B e r l i n 1975, Spalte 2194 sowie vertiefend Badura, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Zweitbearbeitung v o n A r t . 38, Rdnrn. 2—34; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. A u f l . Stuttgart 1966, S. 235 ff., u n d Stern (Fn. 7), § 22 I I 4 a (S. 750—753). Über die Entwicklung der Repräsentationsidee berichtet Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur W o r t - u n d Begriffsgeschichte v o n der A n t i k e ins 19. Jahrhundert, B e r l i n 1974. Wichtige Beiträge zur Theorie u n d Geschichte der Repräsentation u n d Repräsentationsverfassung enthält der gleichnamige Sammelband, den Rausch herausgegeben hat (Darmstadt 1968); hervorzuheben sind die Aufsätze v o n Scheuner, Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie (S. 386 ff.), u n d Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat (S. 330 ff. m i t rechtsvergleichenden u n d verfassungsgeschichtlichen Hinweisen); zu erwähnen ist ferner die Auswahlbibliographie (S. 551 bis 554). Vgl. schließlich aus jüngerer Zeit den A r t i k e l von Suhr, Repräsentation i n Staatslehre u n d Sozialpsychologie, Der Staat 20 (1981), 517—538. 9

Dazu Badura (Fn. 8), Rdnrn. 48—82; Leibholz (Fn. 8), Spalten 2195—2197; Maunz, in: Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Rdnrn. 9—17 zu A r t . 38, u n d Stern (Fn. 7), § 24 I V (S. 841—849).

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Darüber hinaus bedarf die Repräsentation der Legitimierung, damit die Repräsentanten ihre Führungs- und Herrschaftsfunktionen eben repräsentativ ausüben können 11 . Für die parlamentarische Demokratie folgt daraus, daß das repräsentierte Volk i n periodischen Zeitabständen Gelegenheit erhält, seine Vertreter zu wählen, zu bestätigen oder zu ersetzen 12 . Das parlamentarisch-repräsentative System des Grundgesetzes w i r d demnach neben A r t . 20 Abs. 2 und 38 Abs. 1 Satz 2 auch durch A r t . 38 Abs. 1 Satz 1 und 39 Abs. 1 normativ determiniert. Nachzutragen bleibt noch, daß von manchen Staatsrechtslehrern eine Beziehung zwischen dem repräsentativen Modell des Grundgesetzes und dem A r t . 21 hergestellt wird 1 3 . Vermutlich erklärt die Verfassungsentwicklung, warum eine derartige Beziehung gesucht wird; verfassungsrechtlich zwingend ist sie aber wohl nicht. I I I . Die klassischen Einrichtungen unmittelbarer Demokratie Trotz des Siegeszugs der repräsentativen über die unmittelbare Demokratie gibt es direktdemokratische Einrichtungen, die auch unter dem repräsentativen Modell überlebt haben. Zu denken ist hauptsächlich an die Volksbefragung, das Volksbegehren i n Verbindung mit dem Volksentscheid und die Volkswahl des Staatsoberhaupts 14 . Fragt man sich jetzt, ob sie sich auch unter der Herrschaft des Grundgesetzes behauptet haben, so fällt die Antwort knapp und einfach aus: „Das Grundgesetz . . . ist die Verfassung einer repräsentativen Demokratie. Plebiszitäre Elemente enthält es nur, wo es die Neugliederung des Bundes10 Nachweise über die Landesverfassungen bei Badura (Fn. 8), Rdnr. 22. Z u m Prinzip des freien Mandats bekennen sich i n i h r e n Verfassungen z.B. Belgien (Art. 32), Dänemark (Art. 56), Frankreich (Art. 27), Griechenland (Art. 51), I t a l i e n (Art. 67), die Niederlande (Art. 96), Österreich (Art. 56) u n d die Schweiz (Art. 91). 11 Vgl. Leibholz (Fn. 8), Spalten 2198 f. 12 Badura (Fn. 8), Rdnr. 39; Kriele 6 a (S. 454 f.).

(Fn. 7), S. 63 f., u n d Stern (Fn. 7), § 18 I I

13

Hauptsächlich v o n Leibholz (Fn. 8), Spalte 2198, u n d umfassender in: Das Wesen der Repräsentation u n d der Gestaltwandel der Demokratie i m 20. Jahrhundert, 1929, 3. A u f l . B e r l i n 1966 sowie in: Parteienstaat u n d repräsentative Demokratie, DVB1. 1951, 1 ff. M i t der Auffassung von Leibholz setzt sich Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, B e r l i n 1973, S. 167 ff., auseinander; vgl. ferner Herzog (Fn. 7), Rdnrn. 63—65. 14 Vgl. A r t . 29 Abs. 2 u n d 3 (Volksentscheid), Abs. 4 (Volksbegehren) u n d Abs. 5 (Volksbefragung) GG, sowie ausführlich Enquete-Kommission, Beratungen u n d Empfehlungen zur Verfassungsreform (I) (Fn. 4), S. 52—55 u n d 68—70.

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gebietes regelt (Art. 29 GG). Die Meinung, der Gesetzgeber des Bundes und der Länder sei befugt, jeweils i m Rahmen seiner Zuständigkeit Volksbefragungen anzuordnen, w i r d nur vereinzelt vertreten. Die Zurückhaltung des Parlamentarischen Rates gegenüber allen Formen unmittelbarer Demokratie erklärt sich aus den wenig ermutigenden Erfahrungen, die i n der Zeit der Weimarer Republik m i t Volksbegehren und Volksentscheid, aber auch etwa mit der direkten Wahl des Reichspräsidenten durch das Volk gemacht worden waren." M i t diesen Worten hat die vorhin schon erwähnte Enquete-Kommission des Bundestages 15 nicht nur den konstitutionellen status quo wiedergegeben. Sie hat nach sorgfältiger Diskussion für dessen Aufrechterhaltung plädiert und mit dieser Empfehlung — wie es scheint — auch die Staatsrechtslehrer weitestgehend überzeugt. Versuche, auch aus jüngerer Zeit, die Auseinandersetzung u m die Einführung direktdemokratischer Instrumente erneut zu beleben 16 , haben nicht Wesentliches bewirkt. Die Präferenz des Grundgesetzes für eine streng verstandene mittelbare Demokratie w i r d nach wie vor als eindeutig und als nicht revisionsbedürftig empfunden 17 . IV. Plebiszitäre Erscheinungen in der repräsentativen Demokratie 1. Die

Bürgerinitiativen

Wenden w i r uns den Erscheinungen zu, die nicht zu den althergebrachten Instituten direkter Demokratie zählen, aber mehr oder minder deutlich durch plebiszitäre Elemente gekennzeichnet sind, so lassen sich derartige Elemente am ehesten bei den sogenannten Bürgerinitiativen 1 8 feststellen. Die Wortschöpfung ist signifikant, insofern sie den Eindruck 15

Enquete-Kommission (Fn. 4), S. 52. V o r allem durch Pestalozza, Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie i n Deutschland, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft B e r l i n Heft 69, B e r l i n / N e w Y o r k 1981, u n d Volksbefragung — das demokratische M i n i m u m , N J W 1981, 733—735. 16

17

Scholz (Fn. 6), S. 6—9 u n d Isensee, Widerstand gegen den technischen Fortschritt, DÖV 1983, 565 (571). 18 Aus der juristischen L i t e r a t u r vgl. Achterberg, Die parlamentarische Demokratie als Entfaltungsraum für Bürgerinitiativen, N J W 1978, 1993—1997; Isensee, Staatshoheit u n d Bürgerinitiativen, in: K u r t H. Biedenkopf u. a., Staatsführung, Verbandsmacht u n d innere Souveränität, Stuttgart 1977, S. 138 bis 154; Walter Schmidt, Bürgerinitiativen — politische Willensbildung — Staatsgewalt, JZ 1978, 293—298; Schuppert, Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, AöR 102 (1977), 369—409. Weiterführende Hinweise bei Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung, 4. A u f l . Reinbek bei Hamburg 1981 (mit ausführlichem Literaturverzeichnis).

6 Parlamentarisches Regierungssystem

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erwecken w i l l , hier würden die Bürger selbst und nicht ihre gewählten Repräsentanten die Initiative ergreifen. Imponierend an der Zahl, breit i n der Wirkung und beständig i n ihrer Anziehungskraft gehören die Bürgerinitiativen mittlerweile zum gefestigten Instrumentarium der politischen Artikulation. Symptomatisch ist i n diesem Zusammenhang das Zahlenverhältnis. Obwohl die veröffentlichten Daten erheblich auseinandergehen, ist eindeutig zu erkennen, daß die Zahl der lokalen und regionalen Bürgerinitiativen um ein Vielfaches höher liegt als die der überregionalen Organisationen 19 — ein sicheres Zeichen dafür, daß diese Gruppen von ihrem Selbstverständnis her dezentral organisiert sind und den Kontakt zur Basis herstellen und aufrechterhalten wollen. Bei der verfassungsrechtlichen Einordnung und Bewertung von Bürgerinitiativen t u n sich die Juristen außerordentlich schwer. Sie haben das Feld großenteils den Vertretern von Nachbarwissenschaften überlassen 20 . Das recht bunte und diffuse B i l d der Bürgerinitiativbewegung, der breite Aktionsradius, die Vielfalt der Organisationsformen, die vermutlich große Dunkelziffer erschweren bereits eine brauchbare Definition und damit die für jede sachgerechte Beurteilung notwendige Einigkeit über die rechtlich relevanten Merkmale des zu untersuchenden Gegenstandes. Immerhin lassen die vorliegenden Äußerungen erkennen, daß die verfassungsrechtliche Problematik der Bürgerinitiativen von zwei Richtungen angegangen wird. Zum einen hofft man, einen Ansatz i m demokratischen Prinzip des Grundgesetzes zu finden 21 , während andererseits der konstitutionelle Standort der Bürgerinitiativen bei den Grundrechten gesucht wird 2 2 . Es darf nicht überraschen, daß zunächst versucht wird, die Legitimation der Bürgerinitiativen aus dem Demokratiegrundsatz abzuleiten. Gewissermaßen als Ersatz für die fehlenden Ventile unmittelbarer Demokratie vermitteln die Bürgerinitiativen ihren Mitgliedern und Sympathisanten das Gefühl einer direkten Wahrnehmung des sie zusammenführenden Interesses. Gewissermaßen als Konkurrenzinstanzen zu den örtlichen Gegebenheiten und Partikularbelangen nicht oder kaum mehr zugänglichen Volksparteien vermitteln die Bürgerinitiativen 19

Dies hat Mayer-Tasch (Fn. 18) bereits i n der 1. A u f l . seines Buches (1976) herausgestellt: vgl. S. 12 ff. 20 Dies w i r d bereits i m Literaturverzeichnis von Mayer-Tasch (Fn. 18) deutlich. 21 22

Vgl. Walter Schmidt (Fn. 18), S. 293—295. Vor allem Isensee (Fn. 18), S. 143—146.

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ihren Mitgliedern und Sympathisanten das Gefühl einer geschlossenen und wirkungsvollen Wahrnehmung des sie zusammenführenden Interesses. Bilden sie damit nicht demokratisch inspirierte und legitimierte Organisationen, die i m Hinblick auf ihre Verfassungskonformität an dem A r t . 20 Abs. 2 GG gemessen werden müssen? So modern und reizvoll diese Blickrichtung ist, man w i r d überlegen müssen, ob es angebracht ist, i n den Bürgerinitiativen direktdemokratische Einrichtungen zu sehen und sie deshalb der Grundnorm des A r t . 20 Abs. 2 GG zuzuordnen. Persönlich neige ich der zweiten Auffassung zu, die Bürgerinitiativen i n Verbindung zu den Grundrechten des Grundgesetzes setzt. Es spricht manches dafür, die Tätigkeit i n den Bürgerinitiativen als kollektive Grundrechtsausübung zu begreifen und den Bezug zu den Freiheitsrechten der A r t . 5, 8 und 9 herzustellen. Richtiger und der Sache dienlicher dürfte es aber sein, Wirkung und Wirksamkeit von Bürgerinitiativen mit Hilfe eines der ältesten Bürgerrechte zu erfassen: gemeint ist das Petitionsrecht des A r t . 17 GG 23 . Zwar besagt A r t . 17 lediglich, daß „jedermann das Recht hat, sich einzeln oder gemeinsam mit anderen schriftlich m i t Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden"; und es mag zunächst ungewohnt erscheinen, die politischen Forderungen der Bürgerinitiativen als „schriftliche Bitten oder Beschwerden" an die staatlichen Entscheidungsstellen zu verstehen. Doch sollte man sich die Frage stellen, ob die unmoderne Textfassung und die geringe Effektivität des Petitionsrechts nicht möglicherweise den Blick dafür verstellt haben, daß neben den bekannten auch andere Formen von Bitten und Beschwerden sich entwickelt oder einfach ergeben haben, die dem wenig wirksamen klassischen Eingaberecht zu neuer Effizienz und Durchsetzungskraft verhelfen. Der grundrechtliche Ansatz ermöglicht zumindest die verfassungsrechtliche Einordnung der Bürgerinitiativbewegung und gestattet es, die nicht ganz emotionsfreie Diskussion u m die zulässigen Inhalte und Grenzen des Phänomens in geregelte und bewährte Bahnen zu lenken 24 . Es ist bezeichnend, daß vor nicht allzu langer Zeit der Petitionsausschuß des schleswig-holsteinischen Landtages i n einen „Ausschuß für Bürgerinitiativen und andere Eingaben" umbenannt worden ist 25 . 23

Isensee (Fn. 18), S. 145 f.; dagegen Walter Schmidt (Fn. 18), S. 294. Isensee (Fn. 18), S. 146 f. 25 Mitgeteilt v o n Barschel, Bürgerinitiativen u n d parlamentarische teiendemokratie, ZRP 1977, 129 (131). 24



Par-

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2. Grüne und Alternative

Gruppen

M i t der Bürgerinitiativbewegung eng zusammen hängen und arbeiten die zahlreichen Grünen und Alternativen Gruppen, die besonders nach ihrem Einzug i n die deutschen Parlamente die Doktrin des Verfassungsrechts zu beschäftigen beginnen 26 . Auch hier erweist sich die dogmatische Erfassung als nicht leicht — i m Hinblick auf die verschiedenen Organisationsformen und -strukturen, die heterogenen Richtungen, die unterschiedlichen und teils konträren Aussagen, das nicht spannungsfreie Verhältnis zur geltenden Rechtsordnung. Grüne und Alternative stellen die normative Kraft der Verfassung i n Frage und deshalb auf die Probe; vermutlich erklärt dieser Umstand, warum die rechtliche Auseinandersetzung mit ihnen so schwer fällt. Die Programme und Satzungen der Grünen und Alternativen Listen tragen deutlich plebiszitäre Züge. Die Gruppen wollen dezentrale und direkte Demokratie praktizieren, sie räumen den Entscheidungen der Basis prinzipiellen Vorrrang ein, sie treten — wie es einmal formuliert worden ist — gegen die indirekte und für die indiskrete Demokratie 27 ein. Der Kontakt zur Basis w i r d durch Mitgliederversammlungen gewährleistet, die Anbindung gewählter Funktionsträger an ihre Basis durch das Bekenntnis zum imperativen Mandat und die Durchführung des sogenannten Rotationsprinzips 28 . Bereits diese herausgegriffenen Gesichtspunkte werfen eine Fülle verfassungsrechtlicher Probleme auf. Hier kann es nur darum gehen, die grundgesetzlichen Determinanten zu suchen und zu einem Z w i schenurteil über die verfassungsrechtliche Lage zu gelangen. Der übliche Weg zur Beschreibung dieser Rechtslage wäre, die eingangs zitierten A r t i k e l 20 Abs. 2, 21 und 38 GG auf ihre Bedeutung und ihr Verhältnis zueinander zu untersuchen und anschließend zu prüfen, ob und inwiefern Grüne und Alternative Parteien den vom Grundgesetz gestellten Mindestbedingungen genügen oder nicht. Die Hauptrolle würde dabei das Repräsentationsprinzip i n Verbindung mit dem Grundsatz des freien Mandats spielen und Zweifel darüber aufkommen lassen, ob das 26

Vgl. die Kontroverse zwischen Kimminich, Die Parteien i m Rechtsstaat: Herausforderung durch die „ A l t e r n a t i v e n " , DÖV 1983, 217—226 sowie 542, u n d Grimm, Nochmals: Die Parteien i m Rechtsstaat, DÖV 1983, 538—541; ausführlich Scholz (Fn. 6), u n d zuletzt Stober, GRÜNE u n d Grundgesetz, ZRP 1983, 209—215. 27 Scholz (Fn. 6), S. 16 Fn. 26. 28 Nachweise bei Scholz (Fn. 6), S. 14—20.

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Rotationssystem und das imperative Mandat, wie sie von den Grünen und Alternativen anerkannt und praktiziert werden, m i t dem Grundgesetz i n Einklang zu bringen sind 29 . Die Diskussion u m die verfassungsrechtliche Beurteilung der Grünen und Alternativen bewegt sich freilich i n den letzten Monaten auf einer anderen Ebene. I m Mittelpunkt steht die Frage, ob die genannten Gruppen trotz ihrer Teilnahme an Wahlen und trotz ihrer Wahlerfolge politische Parteien i m Sinne des Grundgesetzes sind. Vereinfacht formuliert geht es i n der aktuellen Auseinandersetzung nicht oder nicht primär u m die Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit der Grünen und Alternativen Parteien, sondern u m die Parteienqualität der Grünen und Alternativen Gruppen. Die gegensätzlichen Standpunkte beruhen auf dem unterschiedlichen Verständnis der vom Grundgesetz mit Privilegien ausgestatteten politischen Parteien: Wer an den Begriff der politischen Partei formale, also geringe Anforderungen stellt und sich m i t der Teilnahme an Wahlen begnügt, sieht die verfassungsrechtlichen Vorgaben bei den Grünen und Alternativen als erfüllt an; wer dagegen mehr fordert und den Parteibegriff m i t materiellen Merkmalen anreichert, meldet ernsthafte Bedenken an. Rupert Scholz hat als Vertreter dieser letzten Tendenz — man könnte sie als materielle Theorie bezeichnen — kürzlich geschrieben: „ A r t . 21 GG anerkennt nur solche Organisationen oder Vereinigungen als politische Parteien, die sich schon nach der eigenen Zielsetzung, Organisation und Betätigung der repräsentativen Demokratie verpflichtet wissen und ihre Aktivitäten auf die Organisation des Parlamentarismus ausrichten, ihre eigene politische Erfüllung also i m System und A u f gabenbezug der repräsentativen Demokratie finden. Organisationen, die diese Voraussetzungen verweigern, nicht erfüllen, sind nach dem Gesagten keine politischen Parteien. Sie finden ihren verfassungsrechtlichen Standort i m Rahmen der allgemeinen Vereinigungsfreiheit i m Sinne des A r t . 9 Abs. 1 GG, wobei auch der Umstand keine eo ipso verändernde Rolle spielen kann, daß eine solche Organisation i m Parlament durch eigene Abgeordnete vertreten ist. Voraussetzung für die Parteieneigenschaft einer jeden i m Parlament vertretenen Organisation ist vielmehr und überdies, daß diese Abgeordneten nach Auswahl, m i t gliedschaftlicher Bindung und parlamentarischer Betätigungsfreiheit die Voraussetzungen des freien Mandats gemäß A r t . 38 Abs. 1 GG erfüllen 3 0 ." 29

Nach dieser Methode geht z. B. Stober (Fn. 26), S. 211 f., vor.

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Bevor man i n diesem Streit Stellung bezieht, sind die Konsequenzen sorgfältig zu bedenken. Ist A r t . 9 Abs. 1 die einschlägige Grundrechtsnorm, so liefert A r t . 9 Abs. 2 den Kontrollmaßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Grünen und Alternativen Gruppen und findet wohl das Vereinsgesetz Anwendung 3 1 . Als noch bedeutsamer erweisen sich die Auswirkungen auf das Wahlrecht. Grüne und Alternative Gruppen verfügen nicht über das Wahllistenprivileg des § 18 Bundeswahlgesetz und können deshalb an den Bundestagswahlen nur als allgemeine Wählervereinigungen teilnehmen. Sie dürfen gemäß §27 Bundeswahlgesetz keine Landeslisten aufstellen und partizipieren weder an der Erstattung von Wahlkampfkosten noch an der Verteilung kostenloser Sendezeiten usw. 32 . Daher w i r d die Frage erlaubt sein, ob der verfassungsrechtlichen Problematik der Grünen und Alternativen Bewegung — oder anders formuliert: der Herausforderung durch die Alternativen — durch die inhaltliche Anreicherung des Parteibegriffs beizukommen ist. Man w i r d sehr genau erwägen müssen, ob die Entscheidung des Grundgesetzes für die abwehrbereite, die streitbare Demokratie 33 dazu nötigt, Gruppierungen die Eigenschaft von Parteien zu versagen und damit gleichsam präventiv gegen sie einzuschreiten, selbst wenn diese Gruppierungen i n unerlaubtem Maße plebiszitäre Züge tragen und selbst 30

Scholz (Fn. 6), S. 40 f.

31

Zunächst mag es i m Hinblick auf die materiellen Verbotsvoraussetzungen u n d das Verbotsverfahren verfassungsrechtlich erheblich erscheinen, die Grünen u n d A l t e r n a t i v e n Gruppen dem A r t . 9 oder dem A r t . 21 GG zuzuordnen. Sind doch Vereinigungen gemäß A r t . 9 Abs. 2 GG verboten, w e n n sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, während politische Parteien nach A r t . 21 Abs. 2 Satz 1 verfassungswidrig sind, w e n n sie nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Hier ist aber zu bedenken, daß eine verbreitete Meinung die „verfassungsmäßige Ordnung" i n A r t . 9 Abs. 2 nicht grundsätzlich anders begreift als die „freiheitliche demokratische Grundordnung" i n A r t . 21 Abs. 2 (Nachweise bei Scholz, in: Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Rdnrn. 126 f. zu A r t . 9). Was das Verbotsverfahren angeht, so ist bekannt, daß das Verbot von Vereinigungen zur Disposition der Exekutive steht (§3 VereinsG), während über die Verfassungswidrigkeit v o n Parteien das Bundesverfassungsgericht auf A n t r a g entscheidet (Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG). Ohne diese Unterschiede zu verharmlosen, darf m a n nicht übersehen, daß sowohl der Ausspruch des V e r einsverbots als auch die Stellung des Antrags nach A r t . 21 Abs. 2 GG i m E r messen der zuständigen (politischen) Organe stehen soll: I n beiden Fällen gilt also das Opportunitätsprinzip. 32 33

Z u diesem Aspekt Grimm

(Fn. 26), S. 539 u n d Scholz (Fn. 6), S. 33—35.

Dazu zuletzt Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, Baden-Baden 1982.

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wenn sie — wiederum i n unerlaubtem Maße — ihre Mandatsträger an Aufträge und Weisungen binden sollten. 3. Die Durchführung von Wahlen während und vor Beendigung der Wahlperiode Soweit repräsentative Demokratie Herrschaft auf Zeit ist, bedürfen die Repräsentanten der Legitimation durch die Repräsentierten i n regelmäßigen Zeitabständen. So beträgt die Wahlperiode des Bundestages vier Jahre (Art. 39 Abs. 1 GG), was zunächst dahin zu verstehen ist, daß der Souverän spätestens alle vier Jahre Gelegenheit erhalten muß, seine Abgeordneten zu wählen. Andererseits ist bekannt, daß das Grundgesetz aus Sorge u m die Parlaments- und Regierungsstabilität die Verkürzung von Wahlperioden besonders erschwert hat 3 4 . Gewissermaßen sollen die vier Jahre zugleich die äußerste und die Mindestgrenze bilden. a) Plebiszitäre Elemente lassen sich jedoch nicht so einfach zurückdrängen. Sie treten auch während der Dauer der Wahlperiode oft und stark hervor. Es ist z. B. schon lange zu beobachten, daß die Landtags-, aber zum Teil sogar die Kommunalwahlen mit bundespolitischen Argumenten geführt und gewonnen werden. Ihre Ergebnisse werden sorgfältig auf ihre bundespolitische Aussagekraft untersucht, von den Massenmedien i n die gesamte Bundesrepublik ausgestrahlt und sachkundig kommentiert, von den zentralen Parteigremien genauestens analysiert und gewertet. Zweifelsfrei handelt es sich hierbei nicht u m eine spezifisch deutsche Erscheinung: Jede räumlich beschränkte Wahl w i r d i n jeder repräsentativen Demokratie von den überregionalen politischen Kräften als Bestätigung und Ansporn oder als Rückschlag und Niederlage begriffen. Genauso zweifelsfrei ist auf der anderen Seite, daß man offenbar das Bedürfnis nach dauerhafter und wiederholter Legitimation oder Rückkoppelung spürt und auf der Suche nach geeigneten M i t teln regionale Wahlen zu überregionalen Plebisziten erhebt. b) Wer 1983 auf die Periodizität von Bundestagswahlen eingeht, darf die verfassungsrechtliche Bedeutung der vorzeitigen Bundestagsauflösung i m Januar dieses Jahres nicht unerwähnt lassen 35 . I m Rahmen des 34 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I I , München 1980, § 30 I I I 5 b u n d d (S. 253 f. u n d 257 f.). 35 Aus der L i t e r a t u r vgl. Schenke, Die verfassungswidrige Bundestagsauflösung, N J W 1982, 2521—2528; Püttner, Vorzeitige Neuwahlen — ein ungelöstes Problem, N J W 1983, 15—16; Liesegang u n d Schenke, Z u r verfassungs-

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von m i r behandelten Themas spielen die Ereignisse seit September 1982 insofern eine Rolle, als durch die Neuwahlen am 6. März die Bürger vorzeitig, aber auch rechtzeitig den neu eingeschlagenen Kurs bestätigen oder verurteilen sollten. Als höchst bemerkenswert würde ich es bezeichnen, daß die breite und leidenschaftliche Diskussion i n der Öffentlichkeit nicht ohne Auswirkungen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar geblieben ist 36 . Das t r i f f t vor allem für das Sondervotum des Vizepräsidenten des Gerichts zu, der mit abweichender Begründung dem Urteil (nur) i m Ergebnis zugestimmt hat. I n dem Sondervotum ist zunächst zu lesen, daß die Partner der neuen Koalition m i t ihrem Bekenntnis, aus freien Stücken die Legislaturperiode verkürzen zu wollen, sich außerhalb der Verfassung bewegen würden. Dennoch w i r d die Entscheidung des Bundespräsidenten, den Bundestag vorzeitig aufzulösen, verfassungsrechtlich gebilligt. Der Grund soll darin liegen, daß seit der Schaffung des Grundgesetzes Rolle und Bedeutungsfunktion des Bundeskanzlers einen Bedeutungswandel erfahren hätten. I n der Wirklichkeit des Grundgesetzes habe sich immer stärker eine „wirksame personalisierte plebiszitäre Komponente" durchgesetzt. Der Bürger habe bei der Bundestagswahl weiterhin das Gefühl, m i t seiner Stimmabgabe über die Person des künftigen Bundeskanzlers zu entscheiden. „Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, daß ein gemäß A r t . 67 GG ins A m t berufener Bundeskanzler sich mit einem Glaubwürdigkeitsdefizit behaftet fühlen mag, das seine Amtsautorität mindert. Skepsis i n der Bevölkerung allgemein könnte durchschlagen bis i n den Kreis der eigenen organisierten Anhängerschaft und durch den Ruch eines »Kanzlers zweiter Güte 4 die politische Handlungsfähigkeit rechtlichen Problematik der Bundestagsauflösung, N J W 1983, 147—153; Zeh, Bundestagsauflösung u n d Neuwahlen, Der Staat 22 (1983), 1—20 sowie die Stellungnahmen v o n Ossenbühl u n d Steiger, in: D I E Z E I T v o m 22.10.1982 (S. 6) u n d 15.10.1982 (S. 4). Es ist interessant, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung i n der L i t e r a t u r u n d i n der Öffentlichkeit den Richter am B V e r f G Rottmann veranlaßt hat, seine abweichende Meinung zum U n t e i l des B V e r f G v o m 16.2.1983 m i t dem Satz abzuschließen: „Die v o n m i r vertretene Auffassung — d. h. die Verfassungswidrigkeit der vorzeitigen Bundestagsauflösung — steht i m Einklang m i t der v o n der überwiegenden Mehrheit der Deutschen Staatsrechtslehrer vertretenen Auffassung, die ich als bekannt voraussetze." 36 Der ungekürzte Text des Urteils u n d der Sondervoten ist i n der EuGRZ 1983, 57—88 veröffentlicht. Aus den Stellungnahmen zu der Entscheidung vgl. Achterberg, Vertrauensfrage u n d Auflösungsanordnung, DVB1.1983, 477—486; Hans Meyer, Anmerkung, in: DÖV 1983, 243—246, u n d Hans-Peter Schneider, Sibyllinisch oder salomonisch? — Das U r t e i l des Bundesverfassungsgerichts zur Parlamentsauflösung, N J W 1983, 1529 f.

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lähmen." Damit werde dem Bundespräsidenten eine Güterabwägung abverlangt, zwischen der manipulierten Selbstauflösung des Bundestages und der weiteren Amtsführung durch einen Bundeskanzler, dessen Glaubwürdigkeit i n Frage gestellt wird. Unter diesen Umständen sei die Entscheidung für die vorzeitige Auflösung verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden 37 . Diese Argumentation w i r d erkennbar durch den Wunsch getragen, dem volksgewählten Bundeskanzler einen verfassungsrechtlich höheren Stellenwert beizumessen als dem durch konstruktives Mißtrauensvotum i n das A m t berufenen Regierungschef. Zu fragen bleibt, ob die Verteilung von Gütezeichen an Bundeskanzler, je nachdem, ob sie nach A r t . 63 oder nach A r t . 67 GG gewählt worden sind und je nachdem, wie das Volk, die öffentliche Meinung, die Anhängerschaft oder die Betroffenen selbst darüber empfinden, vor dem Grundgesetz Bestand haben kann 3 8 . Welche Bedeutung käme dem Verfahren nach A r t . 67 GG überhaupt zu, wenn der durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gewählte Bundeskanzler der Bestätigung durch das Volk bedürfen sollte, u m nicht mit einem Glaubwürdigkeitsdefizit behaftet zu sein? 4. Meinungsumfragen

als Plebiszite?

Als Wissenschaftszweig nach anfänglichem Zögern inzwischen etabliert, von den politischen Entscheidungsträgern gesucht und gefürchtet, erschließt sich die Meinungsforschung i m Hinblick auf ihre vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten immer neue Anwendungsgebiete 39 . Insofern sie zur Erforschung von Meinungen außerhalb des — eng betrachteten — politischen Geschehens eingesetzt wird, etwa der Marktanalyse oder noch genauer der Ermittlung des Konsumentenverhaltens dient, ist sie i m Rahmen einer Marktwirtschaft wichtig, legitim und unbestritten. Insofern sie jedoch benutzt wird, u m politische Entscheidungen vorzubereiten, wenn sie also mit dem Anspruch auftritt, die öffentliche Meinung zum Ausdruck zu bringen, muß man über die Beziehung der Demoskopie zur Demokratie nachdenken 40 und stellt sich die Frage, ob und inwieweit die repräsentative Umfrage mit dem repräsentativen System vereinbar ist. Jedenfalls i n einem Punkt ist ein wesentlicher 37

EuGRZ 1983, 75—76.

38

Kritisch Achterberg (Fn. 36), S. 482 f. Loewenstein, Vorschläge zur Kontrolle schung, JZ 1971, 529. 39

40

der politischen

So der T i t e l des Aufsatzes von Neeff, JZ 1971, 16—18.

Meinungsfor-

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Wandel eingetreten: Gleich wie man die öffentliche Meinung definiert und eruiert, haftet ihren Trägern das Merkmal der Öffentlichkeit an, die öffentliche Meinung entsteht und entwickelt sich i n der Öffentlichkeit 4 1 , während die Demoskopie ihre auf repräsentativ ausgewählte Personen beschränkten Umfragen vertraulich durchführt. So bleiben die Meinungsträger anonym; publik werden aber ihre Meinungen. M i t Hilfe der Meinungsforschung erhält demnach die öffentliche Meinung egalitäre und plebiszitäre Züge 42 : Jede Meinung, auch die Nicht-Meinung, hat den gleichen Wert; andererseits nehmen die Bürger durch Umfragen zu strittigen und die Allgemeinheit bewegenden Fragen kontinuierlich Stellung. Sieht man einmal von der Problematik der Wahlausgangsprognosen ab 43 , so hat die Demoskopie als Mittel zur Ermittlung der öffentlichen Meinung die Juristen nicht sonderlich interessiert. Anders verhält es sich mit den Politikwissenschaftlern, die die rasante Entwicklung der Demoskopie kritisch verfolgen und die Einführung plebiszitärer Elemente verurteilen 4 4 . K r i t i k von juristischer Seite ist nicht i n demselben Umfang laut geworden. I m Gegenteil hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts schon vor elf Jahren das Verhältnis der Demoskopie zum Recht positiv beurteilt 4 5 . Er betonte, daß die Meinungsforschung i m Vorfeld des gesetzgeberischen Aktes, bei der Planung und Vorbereitung von Gesetzen, gute Dienste leisten würde; darüber hinaus könnte und sollte sie den Richtern die Anwendung von Generalklauseln und die Interpretation wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe erleichtern 46 . Auf das Verhältnis der Demoskopie zur repräsentativen Demokratie 41 Vgl. n u r Mangold, A r t i k e l „öffentliche Meinung", in: Staatslexikon, 2. A u f l . Stuttgart/Berlin, Spalte 1652.

Evangelisches

42

Dazu Hennis, Meinungsforschung u n d repräsentative Demokratie (Zur K r i t i k politischer Umfragen), Recht u n d Staat Heft 200/201, Tübingen 1957, S. 32 ff. 43

Vgl. z. B. die Auseinandersetzung zwischen Neeff (Fn. 40) u n d stein (Fn. 39).

Loewen-

44 So vor allem Hennis Spalte 1652.

(Fn.41),

(Fn. 42). Weitere Angaben bei Mangold

45

Benda (unter Mitarbeit von Kreuzer), Demoskopie u n d Recht, JZ 1972, 497—501. Vgl. ferner den neueren Beitrag v o n Benda, Konsens, Meinungsforschung u n d Verfassung, DÖV 1982, 877 (880 f.) sowie die A n t w o r t v o n NoelleNeumann, Das Bundesverfassungsgericht u n d die ungeschriebenen Gesetze, DÖV 1982, 883—888. 46

Benda, JZ 1972, 498 f., unter Hinweis auf Noelle-Neumann, Über offene Fragen, Suggestivfragen u n d andere Probleme demoskopischer Erhebungen für die Rechtspraxis, GRUR 1968, 133—138.

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eingehend, sah er i n der dauerhaften Durchführung von Umfragen keine Gefahr für das repräsentative System des Grundgesetzes. Vielmehr sei die Demoskopie i n der Lage, den demokratischen Aspekt der Repräsentativ-Demokratie zu stärken und damit diese Staatsform insgesamt zu stabilisieren; sie könne insbesondere helfen, die Gefahr der Isolierung der Repräsentanten von den Repräsentierten zu mildern 4 7 . Ob dieses allzu freundliche B i l d von den Vorzügen der Meinungsforschung übernommen werden kann, bedarf sorgfältiger Prüfung. Wenn nicht immer bekannte Auftraggeber die Dienste privater Institute i n Anspruch nehmen, damit nicht immer geschulte Befrager die Meinungen immer anonym bleibender Bürger erforschen, mag dies heute üblich oder sogar unerläßlich und zunächst unverdächtig sein. Rechtlich relevant w i r d aber die repräsentative Umfrage, wenn und sobald sie als Volksbefragung angesehen und ausgewertet wird 4 8 . A m besten wäre es, die Demoskopie von der Demokratie zu entfernen, so weit wie möglich zu lösen. Andernfalls werden wohl die Stimmen nicht verstummen, die eine Reglementierung der privaten Meinungsforschung fordern. Bilden nämlich demoskopische Umfragen Surrogate für verfassungsrechtlich nicht zugelassene Volksbefragungen, so fordern die mit den Volksbefragungen verbundenen Gefahren und Risiken geradezu, geordnete Verfahren vorzusehen und normativ festzuschreiben 49 . Zu fragen wäre, wem damit gedient sein kann. 5. Die rechtsprechende Gewalt als Zufluchtsort für plebiszitäre Forderungen Plebiszitäre oder zumindest das repräsentative System des Grundgesetzes stark berührende Elemente werden auch dort sichtbar, wo man dies am wenigsten vermutet: bei der Rechtsprechung. I n dem Umfang, i n dem heute vor Gericht nicht allein, nicht primär oder sogar kaum u m subjektive, private und eigene Rechte der Parteien gestritten wird, sondern u m die Richtigkeit von Maßnahmen oder Unterlassungen der politischen Führungsorgane, entwickeln sich die Gerichte zu einem letzten Zufluchtsort, der die Durchsetzung höchst umstrittener Entscheidungen verhindern oder mindestens hinausschieben soll. Das Problem ist zu kompliziert, als das es hier ausgeschöpft werden könnte. Es betrifft das 47

Benda (Fn.46), S. 499—501.

48

Vgl. Benda (Fn. 46), S. 500.

49

So z. B. Loewenstein

(Fn. 39), S. 531 f.

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i m Wandel begriffene Selbstverständnis der rechtsprechenden Gewalt, die Grenzen richterlicher Unabhängigkeit und Neutralität, die zögernde und abwartende Haltung der politischen Entscheidungsträger, die neuen Formen außerparlamentarischer politischer Auseinandersetzung. Der alte Grundsatz „wo kein Kläger, da kein Richter" gilt i n sehr beschränktem Maße, weil regelmäßig Kläger vorhanden sind, die generelle wie individuelle Entscheidungen ab einer bestimmten Wichtigkeitsgrenze aufwärts gerichtlich angreifen. Die Bürger klagen und beklagen sich gegen ihrer Meinung nach falsche Entscheidungen ihrer Repräsentanten. Sie begnügen sich nicht mit den klassischen M i t t e l n des Protestes, der Inanspruchnahme von Presse und Rundfunk, der Petition, der Vereinigung und Versammlung, sondern sie ziehen mit ihren Forderungen vor Gericht. I m Prinzip trifft dieser Funktionswandel der rechtsprechenden Gewalt alle Gerichte und Gerichtszweige 50 . Stark ausgeprägt ist er aber naturgemäß bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, und zwar durch das Instrument der Verfassungsbeschwerde. Darauf w i l l ich mich i m folgenden beschränken. Die Verfassungsbeschwerde dient dem Schutz der Grundrechte und grundrechtsähnlichen Rechte des Bürgers 51 . Daraus könnte man folgern, daß sie zur Abwehr politisch umstrittener Entscheidungen ungeeignet sein müßte. Zwei Gesichtspunkte vor allem lassen indessen Zweifel an der Richtigkeit dieser Schlußfolgerung aufkommen. Stichwortartig geht es hier u m die Erweiterung des Grundrechtsverständnisses und die objektivierten Selektionskriterien für die Annahme von Verfassungsbeschwerden. Die Erweiterung des Grundrechtsverständnisses hat sich i n mehreren Stufen vollzogen. Die markantesten Etappen sind vielleicht das ElfesUrteil 5 2 und das Urteil zur Abtreibungsreform 53 . Seit der ersten Entscheidung kann jedermann i m Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkender Rechtssatz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung und damit nicht zu den Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind. Die Verfassungsbeschwerde garantiert also nicht nur die Freiheit von grundrechtswidrigem, sondern die Freiheit von verfassungswidrigem Zwang. Das Urteil zu § 218 StGB hält den Gesetzgeber für verpflichtet, zum 50

Dieser Tendenz ist Bettermann

51

A r t . 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG. BVerfGE 6, 32 ff. BVerfGE 39,1 ff.

52 53

stets m i t Leidenschaft entgegengetreten.

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Schutz des ungeborenen Lebens auch das Mittel des Strafrechts einzusetzen. Was die Selektion von Verfassungsbeschwerden 54 angeht, so ist bekannt, daß eine Verfassungsbeschwerde mehrere Hürden nehmen muß, bevor über sie sachlich entschieden wird. Interessant ist i n unserem Zusammenhang, daß neben anderen Merkmalen auch die objektive Wichtigkeit der Verfassungsbeschwerde zu den zentralen Auswahlkriterien gehört. Die objektive Relevanz stellt einen eigenständigen Grund für die Annahme der Verfassungsbeschwerde durch den Senat dar und ermöglicht ferner deren Entscheidung noch vor Erschöpfung des Rechtswegs (§§ 93 a Abs. 4 und 90 Abs. 2 BVerfGG) 5 5 . Damit kann das Bundesverfassungsgericht die subjektiv unbedeutende Verfassungsbeschwerde zum Anlaß nehmen, u m eine objektiv wichtige Streitfrage zu lösen. Es darf daher nicht überraschen, wenn die Einrichtung der Verfassungsbeschwerde von Bürgern und Bürgervereinigungen benutzt wird, u m angeblich falsche Entscheidungen zu revidieren und angeblich verhängnisvolle Unterlassungen zu tadeln. A n Beispielen aus jüngster Zeit mangelt es nicht. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Volkszählung hat bereits erste Erfolge gezeigt 56 . Weiter sind Verfassungsbeschwerden anhängig gegen die Einführung des neuen Personalausweises und das Waldsterben schlechthin 57 . Schließlich wurden Verfassungsbeschwerden gegen die Stationierung von Atomwaffen i n Ausführung des NATODoppelbeschlusses angekündigt 58 . 54 Dazu Zacher, Die Selektion der Verfassungsbeschwerden — Die Siebf u n k t i o n der Vorprüfung, des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung u n d des Kriteriums der unmittelbaren u n d gegenwärtigen Betroffenheit des Beschwerdeführers, in: Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Band I, T ü bingen 1976, S. 396—431. 55

Vgl. Zacher (Fn. 54), S. 415 ff., u n d neuerdings Eckart Klein, t i v e n F u n k t i o n der Verfassungsbeschwerde, DÖV 1982, 797—805.

Zur objek-

56 Durch Entscheidung v o m 13.4.1983 hat der Erste Senat des BVerfG i m Wege der einstweiligen A n o r d n u n g den Vollzug des Volkszählungsgesetzes 1983 bis zur Entscheidung über die anhängigen Verfassungsbeschwerden ausgesetzt: N J W 1983, 1307. 57

Nach Zeitungsinformationen wurde die Verfassungsbeschwerde gegen das Waldsterben nicht zur Entscheidung angenommen: Vgl. F A Z v o m 20.9. 1983, S. 2. 58 Das BVerfG hat durch Beschluß v o m 30.5.1983 eine Verfassungsbeschwerde gegen die geplante Stationierung der Mittelstreckenraketen nicht zur Entscheidung angenommen (NJW 1983, 2136). I n der kurzen Begründung läßt das Gericht freilich offen, ob eine Verfassungsbeschwerde nach der Stationierung größere Aussicht auf Erfolg haben würde.

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Handelt es sich nicht u m Fragen von allgemeiner Bedeutung? Fehlt ihnen der konkrete grundrechtliche Bezug? Kann der Schutz des Lebens eine bestimmte Rüstungspolitik verbieten oder konkrete — und welche — Maßnahmen zur Verhinderung des Waldsterbens erzwingen? Diese Fragen gewinnen noch dadurch an Brisanz, daß i n den genannten Fällen Staatsorgane und Organteile — etwa die Opposition — von den ihnen vorbehaltenen verfassungsgerichtlichen M i t t e l n keinen Gebrauch machen wollen 5 9 . Zur verfassungsrechtlichen Klärung — wenn eine solche nötig ist — kann daher aller Voraussicht nach lediglich die Verfassungsbeschwerde führen. Insofern verhält es sich anders als bei der Bundestagsauflösung 1983: Hier wurden zwar die Verfassungsbeschwerden einzelner Bürger mit sehr knapper Begründung und ohne Klärung der verfassungsrechtlichen Lage verworfen 6 0 . Diese wurde aber i m Organstreitverfahren durch das Urteil vom 16. Februar nachgeholt 61 . Man darf deshalb den Ausgang der anhängigen oder angekündigten Verfassungsbeschwerdeverfahren m i t Spannung erwarten. Dies u m so mehr, als das Bundesverfassungsgericht kürzlich aufgefordert worden ist, auf die gesellschaftliche Akzeptanz seiner Entscheidungen stärker zu achten 62 . V. Schluß Hiermit komme ich zum Schluß meiner Ausführungen. Es w i r d Ihnen aufgefallen sein, daß ich eine Reihe von Problemen ausgelassen habe. Der rechtsphilosophische Streit u m Wesen und Funktion der Repräsentation wurde ausgeklammert; das parlamentarisch-repräsentative System wurde — wenn überhaupt — nur i n seinen Grundzügen dargestellt; der Katalog der Erscheinungen, die plebiszitäre Elemente i n sich tragen, war m i t Sicherheit nicht abschließend. Weiter w i r d Ihnen aufgefallen sein, daß die i m Mittelpunkt des Referats stehenden plebiszitären Erscheinungen mehr referiert als wertend beurteilt wurden. Mein begrenztes Ziel ist es gewesen, über Vorkommnisse zu berichten, die, ohne Instrumente direkter Demokratie zu sein, das parlamentarischrepräsentative System — auch und vor allem, aber nicht nur — des Grundgesetzes erheblich tangieren. Nicht offen und offenkundig, sondern verdeckt und verschlüsselt. Vielleicht deshalb u m so wirksamer? 59

Vgl. den A r t i k e l „Unzuständig für das schlechthin Gute" v o n Fromme i n der F A Z v o m 1. 9.1983, S. 1. 60 Die Beschlüsse w u r d e n veröffentlicht i n der N J W 1983, 383. 61 Vgl. Fn. 37. 62 Vgl. Benda, Z u r gesellschaftlichen Akzeptanz verwaltungs- u n d verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, DÖV 1983, 305—310.