Der Freiheit verpflichtet, Band 2: Beiträge zum 80. Geburtstag von Otto Graf Lambsdorff 9783110505047, 9783828203853

Im ersten Band waren Reden und Aufsätze aus der Feder des Geehrten versammelt. Im zweiten Band werden Beiträge von polit

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German Pages 322 [336] Year 2007

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Würdigungen
Otto Graf Lambsdorff - Eine große liberale Persönlichkeit
Glückwünsche
Laudatio auf Otto Graf Lambsdorff
Contribution to Festschrift for Otto Graf Lambsdorff
Ein Leben für Freiheit und Verantwortung
Contribution to the Festschrift in Honour of Otto Graf Lambsdorff
Otto Graf Lambsdorff: Die liberale Institution der Freiheit
Freiheit und Menschenrechte
Human Rights is Everybody's Business
Freiheit bleibt ein sperriges Gut
Der Freiheits-Kämpfer
Zur Bedeutung des Engagements für Tibet
Freiheit. Einige grundlegende Anmerkungen
Regarding the Tibetan Struggle
Freiheit darf kein vergessenes Ideal werden
Bedrohte Freiheit - liberale Herausforderungen
Sicherheit durch Freiheit
Erinnern im Schatten der Schuld
Für Freihandel
Tribute to Otto Graf Lambsdorff
Vom Freihandel zur Ordnungspolitik
Die marktwirtschaftliche Ordnung
Das Wettbewerbsprinzip stärken
Die Soziale Marktwirtschaft - ein Biotop für Gewerkschaften?
Ordnungspolitische Fehlorientierungen im EU-Verfassungsvertrag
Die Einheit der Wettbewerbsordnung
Subventionen und kein Ende
Mehr Lambsdorff, weniger Kuscheln
Investitionsfreiheit ist ein hohes Gut
Das Dilemma der Sozialen Marktwirtschaft
Germany and Economic Freedom
Der Staat
Was wir vom Wiederaufbau der Frauenkirche lernen können
Individuelle Freiheit und staatliche Kultur des Maßes
The State
Der liberale Staatsdiener - ein Widerspruch in sich selbst?
Steuern und Steuerpolitik
Steuerstrukturen reformieren statt an Steuersätzen schrauben
Vorreiter eines freiheitlichen Steuersystems
Der Sozialstaat in der Krise
Bürgergeld versus Kombilohn?
Anreizsysteme und die Reform der Krankenversicherung - Einige Anmerkungen aus ökonomischer Sicht
Freudloser Sozialstaat - Freudloses Wachstum: Glauben wir noch an den Fortschritt?
Föderalismus in Deutschland und Europa
Gulliver und der deutsche Föderalismus
Die Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland
Gefesselte Freiheit - das Schicksal des deutschen Föderalismus
Europäische Verfassungsgebung
Eine europäische Föderalismusreform
Die Zukunft des Europäischen Verfassungsvertrages
Kultur und Geschichte
Intellektuelle und Kapitalismus?
Vom Manchestertum lernen, heißt...
Bildung der Zukunft - Die selbstständige Schule
Innovationen brauchen Freiheit
Außen- und Europapolitik
Ein Atlantiker der ersten Stunde
Europa und Russland
Fighting for 4 Freedoms
Europe and the European Union
Reflections on Europe AD 2006 through the Eyes of an Estonian
Der Euro - eine Zwischenbilanz nach acht Jahren
Sechs liberale Außenminister
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Der Freiheit verpflichtet, Band 2: Beiträge zum 80. Geburtstag von Otto Graf Lambsdorff
 9783110505047, 9783828203853

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Der Freiheit verpflichtet Band 2

Der Freiheit verpflichtet Band 2 Beiträge zum 80. Geburtstag von Otto Graf Lambsdorff herausgegeben von Jürgen Morlok

®

Lucius & Lucius • Stuttgart • 2007

Die Drucklegung dieses Buches wurde dankenswerterweise gefördert durch die Die Stiftung für liberale Politik

Friedrich

Naumann

Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

ISBN 978-3-8282-0385-3 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2007 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Sibylle Egger, Stuttgart Druck und Bindung: Druckerei Pustet, Regensburg

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Vorwort von Prof. Dr. Jürgen Morlok, Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung

Mir ist es eine große Freude, nun auch den zweiten Band der Festschrift für Otto Graf Lambsdorff vorlegen zu können. Im ersten Band waren Reden und Aufsätze aus der Feder des Geehrten versammelt. In diesem zweiten Band werden Beiträge von politischen Weggefährten und Freunden, politischen Gegenspielern, Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftlern und namhaften Publizisten vorgestellt. Die Themen, die in ihren Arbeiten behandelt werden, sind auch Themen, die Otto Graf Lambsdorff Zeit seines Lebens beschäftigt haben, gleichzeitig sind es die Themen, die auch im ersten Band ausdrücklich gewürdigt wurden, nämlich Freiheit und Menschenrechte, Freihandel, die Ordnung der Marktwirtschaft, die Rolle des Staates, Steuern und Steuerpolitik, der kritische Zustand des Sozialstaates, Föderalismus in Deutschland und Europa, der Zusammenhang von Kultur und Geschichte und schließlich Außen- und Europapolitik. Es versteht sich von selbst, dass die Einheit des Denkens und Trachtens, die den ersten Band so wunderbar ausgezeichnet hat, hier schlechterdings nicht erwartet werden kann. Das weltanschauliche Spektrum umfasst, um nur ein Beispiel zu nennen, immerhin die Auffassungen des XIV. Dalai Lama einerseits und die von Lord Dahrendorf andererseits. Auch die schriftstellerischen Temperamente sind naturgemäß nicht homogen und sollten es auch nach dem Willen des Herausgebers nicht sein. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen", so heißt es bekanntlich in der Schrift. Demgemäß sind in einigen Wohnungen hochrangige Wissenschaftler zu Hause, in anderen streitbare Journalisten, die auch vor unverblümter Polemik nicht zurückschrecken. Diese lebendige Pluralität war dem Liberalismus immer schon inhärent — und Graf Lambsdorff ist stets für sie eingetreten. Es ist äußerst reizvoll, die Analysen und Stellungnahmen von Graf Lambsdorff mit denen der hier zu Wort kommenden Autoren zu vergleichen. Dabei versteht sich von selbst, dass nicht nur Konvergenzen, sondern auch Divergenzen zu verzeichnen sind. Der Herausgeber ist sich sehr sicher, dass der Geehrte gerade auch abweichende Meinungen als Bereicherung empfinden wird, war er doch als aufrechter Liberaler stets der Auffassung, dass die offene Diskussion strittiger Themen nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik die via regia ist. Diese Auffassung hat er keineswegs

VI

Vorwort

nur rhetorisch verkündet, sondern er ist auch immer unerschrocken für sie eingetreten. Die Einheit von gesprochenem Wort und tätigem Handeln war und ist für ihn kein bloßes Lippenbekenntnis, sondern tatsächlich gelebtes (und vorgelebtes!) Leben. Vita contemplativa und Vita activa, Theorie und Praxis (unter Einschluss reicher Empirie) waren und sind in seiner Person auf das Glücklichste vereinigt. Zusammen mit den Autoren dieser Festschrift hoffe ich sehr, dass uns Graf Lambsdorff auch weiterhin kritisch und konstruktiv verbunden bleibt. Gerade in Zeiten, in denen ausgerechnet der klassische Liberalismus als „Neoliberalismus" verhöhnt und geschmäht wird und in denen das Vertrauen in die Kraft freiheitlicher Haltungen und Einrichtungen stetig schwindet, bedürfen wir seines Beistandes. PS. Mein besonderer Dank gilt Frau Ute Entrup vom Dialogprojekt Brüssel und den Herren Dr. Horst Wolfgang Boger und Dr. Detmar Doering vom Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung, die bei der Vorbereitung resp. der redaktionellen Betreuung der Beiträge zu diesem Band äußerst wertvolle Dienste geleistet haben.

VII

Dr. Otto Graf Lambsdorff Geboren in Aachen am 20.Dezemberl926 evangelisch verheiratet 3 Kinder Rechtsanwalt 1932-1944 Schulausbildung in Berlin und Brandenburg/Havel 1944-1946 Wehrdienst und Gefangenschaft (schwerkriegsbeschädigt) 1946 Abitur in Unna/Westfalen 1947-1950 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Bonn und Köln 1952 Promotion zum Dr. jur. 1955-1977 Tätigkeiten im Bank- und Versicherungsgewerbe 1951 Mitglied der FDP 1988-1993 Bundesvorsitzender der FDP Juni 1993 Wahl zum Ehrenvorsitzenden der FDP 1972-1998 Mitglied des Deutschen Bundestages 1972-1998 Wirtschaftspolitischer Bundesminister 1977-1984 für Wirtschaft Sprecher der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag

VIII

Kurzvita

1991-1994 Präsident der Liberalen Internationale, Europäischer Vorsitzender der Trilateralen Kommission 1995-2006 Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung Aufsichtsratsmitglied in mehreren in- und ausländischen Unternehmen

IX

Inhalt Vorwort • Jürgen Morlok • Kurzvita Otto Graf Lambsdorff

V VII

Würdigungen • Hans-Dietrich Genscher: Otto Graf Lambsdorff - Eine große liberale Persönlichkeit

2

• Helmut Kohl: Glückwünsche

5

• Salomon Korn: Laudatio auf Graf Lambsdorff

6

• Tony Leon: Contribution to Festschrift for Otto Graf Lambsdorff

10

• Angela Merkel: Ein Leben für Freiheit und Verantwortung

15

• Beatrice Rangoni-Machiavelli: Contribution to the Festschrift in Honour of Otto Graf Lambsdorff

17

• Guido Westerwelle: Otto Graf Lambsdorff: Die liberale Institution der Freiheit

22

Freiheit und Menschenrechte • John, Lord Alderdice: Human Rights is Everybody's Business

28

• Hans D. Barbier: Freiheit bleibt ein sperriges Gut

36

• Jürgen Beerfeltz: Der Freiheits-Kämpfer

41

• Rolf Berndt: Zur Bedeutung des Engagements fur Tibet

45

• Ralf Dahrendorf: Freiheit. Einige grundlegende Anmerkungen. Für Otto Graf Lambsdorff zum 80. Geburtstag

50

• S.H. Tenzin Gyatso, XIV. Dalai Lama: Regarding the Tibetan Struggle . . .

58

• Wolfgang Gerhardt. Freiheit darf kein vergessenes Ideal werden

60

• Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Bedrohte Freiheit — liberale Herausforderungen

65

• Robert Nef: Sicherheit durch Freiheit

71

• Cornelia Schmalz-Jacobsen: Erinnern im Schatten der Schuld

75

X

Inhalt

Für Freihandel • Jagdish Bhagwati: Tribute to Otto Graf Lambsdorff

78

• Horst Werner: Vom Freihandel zur Ordnungspolitik

80

Die marktwirtschaftliche Ordnung • Ulf Böge: Das Wettbewerbsprinzip stärken

92

• Rainer Brüderle: Die Soziale Marktwirtschaft - ein Biotop für Gewerkschaften?

97

• Klaus Bünger: Ordnungspolitische Fehlorientierungen im EU-Verfassungsvertrag

102

• Michael Glos: Die Einheit der Wettbewerbsordnung

108

• Henning Klodt: Subventionen und kein Ende

114

• Dirk Maxeiner/Michael Miersch: Mehr Lambsdorff, weniger Kuscheln

...

121

• Wernhard Möschel: Investitionsfreiheit ist ein hohes Gut

127

• Viktor J . Vanberg: Das Dilemma der Sozialen Marktwirtschaft

138

• Michael Walker: Germany and Economic Freedom

143

Der Staat • Hans-Olaf Henkel: Was wir vom Wiederaufbau der Frauenkirche lernen können

158

• Paul Kirchhof: Individuelle Freiheit und staatliche Kultur des Maßes . . . .

164

• Leon Louw: The State

171

• Hans Willgerodt: Der liberale Staatsdiener - ein Widerspruch in sich selbst?

179

Steuern und Steuerpolitik • Michael Eilfort: Steuerstrukturen reformieren statt an Steuersätzen schrauben

184

• Hermann Otto Solms: Vorreiter eines freiheitlichen Steuersystems

188

Der Sozialstaat in der Krise • Joachim Mitschke: Bürgergeld versus Kombilohn? • Hubertus Müller-Groeling: Anreizsysteme und die Reform der Krankenversicherung — Einige Anmerkungen aus ökonomischer Sicht

196 ...

202

Inhalt

• Carl-Christian von Weizsäcker: Freudloser Sozialstaat — Freudloses Wachstum: Glauben wir noch an den Fortschritt?

XI

209

Föderalismus in Deutschland und Europa • Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus

216

• Ernst Burgbacher: Die Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland

234

• Klaus von Dohnanyi: Gefesselte Freiheit - Das Schicksal des deutschen Föderalismus

238

• Roman Herzog: Europäische Verfassungsgebung

243

• Alexander Graf Lambsdorff: Eine europäische Föderalismusreform

248

• Roland Vaubel: Die Zukunft des Europäischen Verfassungsvertrages

254

Kultur und Geschichte • Frits Bolkestein: Intellektuelle und Kapitalismus?

260

• Detmar Doering: Vom Manchestertum lernen, heißt

270

• Patrick Meinhardt: Bildung der Zukunft — Die selbständige Schule • Andreas Pinkwart: Innovationen brauchen Freiheit

277 280

Außen- und Europapolitik • Werner Hoyer: Ein Atlantiker der ersten Stunde

286

• Grigori Jawlinski: Europa und Russland. Eine Strategie für Europa

291

• Siim Kallas: Fighting for 4 Freedoms

297

• Annemie Neyts-Uyttebroeck: Europe and the European Union

301

• Kristina Ojuland: Reflections on Europe AD 2006 Through the Eyes of an Estonian

305

• Hans Tietmeyer: Der Euro - Eine Zwischenbilanz nach acht Jahren

308

• Walter Scheel: Sechs liberale Außenminister

317

1

Würdigungen

2

Würdigungen

Otto Graf Lambsdorff - Eine große liberale Persönlichkeit Hans-Dietrich Genscher* Otto Graf Lambsdorff vollendet das 80. Lebensjahr — das ist Anlass genug, inne zu halten und eine außergewöhnliche Lebensleistung zu würdigen. Das wäre bei diesem bedeutenden Liberalen unvollständig, würde man nicht auch einen Blick in die Zukunft wagen. Wer Otto Graf Lambsdorff kennt, weiß, wir dürfen auch in Zukunft mit ihm rechnen: mit seinen Ideen, seinen Analysen und mit seinem klaren Wort. Otto Graf Lambsdorff gehört zu den Menschen, denen im Leben nichts geschenkt wurde, die aber dennoch oder gerade deshalb, einen so beeindruckenden Weg gegangen sind. Noch kurz vor Kriegsende wurde der damals 18-jährige schwer verwundet, mit Folgen, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. Mich hat es immer wieder tief berührt und beeindruckt, wie er diese Belastung gemeistert hat: Nie hat er das Schicksal angeklagt oder verantwortlich gemacht und niemals hat er seine schwere Kriegsbeschädigung entschuldigend eingewandt. Mit äußerster Selbstdisziplin — eine seiner hervorragenden Eigenschaften — ging er seinen Weg. Es ist ein Lebensweg, geprägt von eben dieser Selbstdisziplin, von Verantwortung und von dem Willen, sich den Herausforderungen des Lebens, so unterschiedlich sie auch verteilt sein mögen, zu stellen. Wir sind uns in der F D P erst relativ spät begegnet, eigentlich erst mit seiner Wahl in den 7. Deutschen Bundestag im Jahre 1972. Er konnte damals schon auf einen beachtlichen und erfolgreichen beruflichen Weg verweisen, als Rechtsanwalt, im Bankwesen und in der Versicherungswirtschaft. Als es im Oktober 1977 darum ging, nach dem Ausscheiden von Dr. Hans Friderichs aus dem Bundesministerium für Wirtschaft, diese wichtige Position neu zu besetzen, da gab es für mich keinen Zweifel, Otto Graf Lambsdorff musste als Nachfolger gewonnen werden. Ich bat ihn die Aufgabe des Bundesministers für Wirtschaft zu übernehmen. Die Antwort war kurz, klar und eindeutig: Danke für das Vertrauen, ich will das mit meiner Frau besprechen und meine beruflichen Belange klären, ich werde mich wieder melden. Nur wenige Stunden später rief er mich an und sagte: Ich mache es! Diese Entscheidung wurde zu einem Glücksfall: für das Bundesministerium für Wirtschaft, für die deutsche Wirtschaftspolitik und für die Sache der Liberalen.

* Dr. h. c. mult. Hans-Dietrich Genscher war von 1969 bis 1974 Bundesminister des Innern, von 1974 bis 1992 Bundesminister des Auswärtigen und Stellvertreter des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Von 1974 bis 1985 war er außerdem Bundesvorsitzender der FDP.

Hans-Dietrich Genscher

3

Die Gründe, die ihn schließlich veranlassten, sein Amt aufzugeben, berühren mich bis auf den heutigen Tag. Von Anfang an war ich davon überzeugt, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe unbegründet sind. Ich sagte das auch in aller Klarheit und in meiner Verantwortung als Parteivorsitzender und als Mitglied der Bundesregierung in aller Öffentlichkeit vor dem Bundesparteitag der FDP in Karlsruhe. Es folgte eine schwere Zeit für Otto Graf Lambsdorff, aber auch für diejenigen, die sich ihm so eng und inzwischen auch so freundschaftlich verbunden fühlten wie ich. Wieder bewährten sich seine von mir so hoch geschätzten Eigenschaften. Er ging seinen Weg mit großer innerer Stärke und mit eben jener so bewundernswerten Selbstdisziplin. Zu keiner Zeit wirkte er in jener Zeit eingeschränkt in seiner politischen und parlamentarischen Arbeit — er erlaubte sich eine solche Einschränkung nicht. Am Ende erwiesen sich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als im Kern unbegründet, wie es bei ihm nicht anders hätte sein können. Als wir 1977 mit seinem Eintreten in die Bundesregierung unseren gemeinsamen Weg begannen, konnten wir nicht voraussehen, dass wir in dieser Gemeinsamkeit die wohl schwierigste Phase in der Geschichte unserer Partei zu bestehen haben würden. Es ging um die Beendigung der Zusammenarbeit mit der SPD im Jahre 1982. Am 20. August 1981 hatte ich mich in meinem „Wendebrief' an die FDP gewandt, aber gleichermaßen an den Koalitionspartner SPD. Ich sagte darin: „Eine Wende ist notwendig im Denken und im Handeln. Es gilt, eine Anspruchsmentalität zu brechen, die nicht deshalb entstand, weil die heute lebende und arbeitende Generation weniger leistungsbereit wäre, als ihre Vorgänger, sondern weil manches Gesetz geradezu zur Inanspruchnahme auffordert, um nicht zu sagen: verleitet. Eine Wende ist notwendig, jetzt geht es darum, die Weichen deutlich auf mehr Selbstverantwortung, auf Leistung und Selbstbestimmung zu stellen, das heißt, eben auf mehr Freiheit." Im Laufe des Jahres 1982 kam dann noch die Abwendung der SPD vom NatoDoppelbeschluss und von Bundeskanzler Helmut Schmidt hinzu. Das überwog bei mir sogar — für den Außenminister verständlich — die seit 1981 immer schwerwiegender werdenden wirtschaftspolitischen und finanzpolitischen Gründe. Mit Otto Graf Lambsdorff wusste ich mich mit beiden Fragen völlig einig. Bei der Entscheidung für den Wechsel konnte ich auf ihn zählen. Es folgten die schwersten Monate meines politischen Weges, weil ich als Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei die Verantwortung für die Neubegründung einer Koalition mit der CDU/CSU trug und auch übernahm. Bei der Bundestagswahl am 6. März 1983 bestätigten die Wähler diesen Weg eindrucksvoll. Am Wahlabend, nachdem die Wähler gesprochen hatten, trat ich auf Otto Graf Lambsdorff zu, wir sahen uns in die Augen und ich bot ihm — sonst damit eher zögerlich — das Du an — ich habe es nie bereut.

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Würdigungen

Wie groß der gegenseitige Respekt war, mag man daraus entnehmen, dass wir, der Jubilar und ich, jeweils den anderen und das ohne Einschränkung als Vorsitzenden der Partei akzeptierten. Ich habe es stets hoch zu schätzen gewusst, dass er auch dann den Weg mit mir gemeinsam ging, wenn er von der Richtigkeit des nächsten Schrittes nicht gänzlich überzeugt war. Später habe ich das gleiche versucht, von einer Ausnahme abgesehen, ist mir das wohl auch gelungen. Jedenfalls war er für mich der respektierte und auch erfolgreiche Parteivorsitzende, in seiner Amtszeit kehrte die FDP in alle Landesparlamente zurück. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, welch große Bedeutung es für ihn hatte und welche innere Befriedigung es für ihn war, dass er der erste Vorsitzende der Liberalen im vereinten Land wurde. Der Wille zur Einheit Deutschlands hatte ihn stets in seinem Handeln bestimmt. Bei seiner Würdigung am Ende seiner Amtszeit als Parteivorsitzender habe ich mit großer Dankbarkeit gerade auf diese Haltung hingewiesen. Otto Graf Lambsdorff hat nach unserem Ausscheiden aus dem Bundestag, wir kandidierten beide 1998 nicht erneut, seine marktwirtschaftliche Grundhaltung immer wieder bekräftigt, Richtungsweisendes dazu gesagt und geschrieben. Er nutzte auch alle Möglichkeiten des großen Netzes von Freunden und Gesprächspartnern überall in der Welt, um unsere Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Das gilt nicht nur für die Trilaterale Kommission. Die Pflege der deutsch-amerikanischen Beziehungen hatte für ihn stets eine besondere Bedeutung, deshalb war er auch in besonderer Weise befähigt, die Verhandlungen über die Entschädigung der Zwangsarbeiter zu fuhren. Sein amerikanischer Gesprächspartner war für ihn kein Fremder, ein über viele Jahre gebildetes Vertrauenskapital zahlte sich aus. Der Schutz der Menschenrechte, das Eintreten für einzelne Persönlichkeiten, die er in ihren Rechten eingeschränkt sieht, ist und bleibt für ihn eine andere Seite seines liberalen Grundverständnisses, in dessen Mittelpunkt der Mensch in seiner unveräußerlichen Würde steht. So rundet sich das Bild ab, von einer großen liberalen Persönlichkeit unserer Zeit. Was bleibt ist der Markgraf, der zum ordnungspolitischen Gewissen des Landes wurde. Ein Mann, der sich dem Ganzen verpflichtet fühlt, für den Freiheit und Menschenwürde Richtschnur seines Lebens sind. Ein Mann der bereit ist, seinem Land zu dienen, auch über seine Amtszeit hinaus. Für mich ist er der verlässliche Weggefährte, der vom geschätzten Kollegen zum Freund wurde. Zur Vollendung des 80. Lebensjahres wünsche ich Otto Graf Lambsdorff von Herzen alles Gute. Er soll wissen, wir brauchen ihn auch in Zukunft. Wir, das sind nicht nur die Liberalen in diesem Land. Ich habe ihm für vieles zu danken, auch dafür, dass wir in schwerer und wichtiger Zeit einen langen Weg gemeinsam gehen konnten. Diese Erfahrung möchte ich in meiner Erinnerung nicht missen.

Helmut Kohl

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Glückwünsche Helmut Kohl*

Lieber Graf Lambsdorff, zu Ihrem 80. Geburtstag gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Ich wünsche Ihnen zu Ihrem Ehrentag vor allem Gottes Segen, gute Gesundheit und die Erfüllung Ihrer Wünsche! Meine Glückwünsche gelten einem Mann, der viel für unser Land getan hat. Sie haben im Laufe Ihres Lebens in herausragenden Amtern gewirkt und sich dabei mit ganzer Kraft für unser Gemeinwohl engagiert. Sie waren als Bundeswirtschaftsminister eine wichtige Stütze in meiner Regierung. Neben Ihrer großen fachlichen Kompetenz und Ihrer Verlässlichkeit schätze ich bis heute Ihre Haltung als Verfechter des Regierungswechsels im Jahre 1982. Auch wenn wir in der einen oder anderen Sachfrage unterschiedlicher Auffassung waren, so habe ich Sie immer dafür geachtet, dass Sie Ihrer Überzeugung treu blieben und diese auch engagiert vertraten. Ich nehme die Gelegenheit Ihres besonderen Geburtstages gerne zum Anlass, Ihnen für Ihren Rat und Ihre Unterstützung sowie für Ihren unermüdlichen Einsatz für unser Land sehr herzlich zu danken. Mit freundlichen Grüßen Ihr Helmut Kohl

* Dr. Dr. h. c. mult. Helmut Kohl war von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

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Würdigungen

Laudatio auf Otto Graf Lambsdorff* Salomon Korn** Als Otto Graf Lambsdorff im Mai anrief und mich bat, anlässlich der heutigen Verleihung des Preises für Toleranz und Verständigung des Jüdischen Museums Berlin die Laudatio auf ihn zu halten, war ich überrascht. Ja, wir kennen uns von Begegnungen her, die in den letzten Jahren hie und da stattgefunden haben, meist am Rande offizieller Anlässe, selten Gespräche privater Natur. Dennoch entschloss ich mich, seinem Wunsch zu entsprechen. Denn von Otto Graf Lambsdorff schwebt mir seit langem das Bild eines scharfkantigen politischen Urgesteins vor. Es unterscheidet sich grundlegend von dem des kieselsteinglatten Persönlichkeitsprofiis jener Politiker, die jede Klippe im schnellen Fluss der Tagespolitik zu umschiffen wissen, im Strom der Geschichte aber keine Wirbel hinterlassen. Ignatz Bubis sei. A. hatte an Otto Graf Lambsdorff geschätzt, dass er Konflikten nicht aus dem Wege geht. Wie Ignatz Bubis sei. A. hat auch Otto Graf Lambsdorff stets eine Sprache gepflegt, die sich angenehm unterscheidet vom politischen Einheitsjargon vager rhetorischer Versatzstücke. Und wie Ignatz Bubis sei. A. ist er nicht nur Mitglied im Club der deutlichen Aussprache, sondern auch ein Meister des geschliffenen Wortes. Er prägt gern bildhafte Vergleiche wie etwa jenen: „Kolumbus war der erste große Planwirtschafider. Er fuhr los und wusste nicht wohin, er kam an und wusste nicht, wo er war, und er machte alles mit anderer Leute Geld." Und er formuliert mit Witz und Sprachgefühl auch treffsichere Bonmots: „Der Bundestag ist mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer." All das macht es leicht, eine Laudatio auf Otto Graf Lambsdorff zu halten. Zudem hatte er darum gebeten, mich kurz zu fassen, was mir gefiel: liegt doch, wie Nietzsche erkannt hat, im Lobe gewöhnlich mehr Zudringlichkeit als im Tadel. Während unserer folgenden in Bonn und Frankfurt geführten Gespräche, bei denen wir kein noch so kontroverses Thema seiner politischen Laufbahn ausließen, erführ ich, dass Otto Graf Lambsdorff in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Er erzählte mir, wie er als Zwölfjähriger ins Jungvolk drängte und sein Vater ihn mit allerlei Begründungen vom Eintritt in die Hitler-Jugend abzuhalten versuchte, ihm aber die Gründe dafür nicht nennen durfte, ohne sich selbst zu gefährden. Als achtzehnjähriger Flakhelfer hatte Otto Graf Lambsdorff sich zwei Wochen vor der Kapi* Rede anlässlich der Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin am Samstag, den 19. November 2005 ** Professor Dr. Salomon Korn ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main sowie Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Salomon Korn

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tulation Deutschlands noch freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. In den letzten Kriegstagen erwischte ihn in Thüringen ein amerikanischer Tiefflieger mit fünf Schüssen aus einer Maschinengewehrgarbe, was schließlich zur Amputation seines linken Beines führte. Kriegserfahrung, Gefangenschaft und die Mühsal lebenslanger körperlicher Schwerstbehinderung haben Otto Graf Lambsdorff alles andere als verbittert. Sein Eintreten für die freiheitliche Demokratie ist nicht zuletzt eine Konsequenz aus der eigenen leidvollen Lebenserfahrung. Es ist die entschiedene Absage an alle Denkund Verhaltensweisen, die die nationalsozialistische Gewaltherrschaft einst gefördert haben. Und deshalb bedeutet ihm Liberalität nicht Indifferenz, sondern Meinungsfreudigkeit in Verbindung mit Respekt vor anderen Überzeugungen und Lebensentwürfen. Er bewundert Luther, mit Abstrichen Churchill, besonders aber Bismarck, von dem ein Porträt in seinem Arbeitszimmer hängt, und ist dennoch kein preußischer Konservativer. Er lehnt den „Großen Lauschangriff' ab, ist aber alles andere als ein Altachtundsechziger. Er hat nichts übrig für eine moralisierende Außenpolitik, tritt aber weiterhin mit großem Nachdruck und nicht immer zur Freude der Bundesregierung für die Rechte des tibetischen Volkes ein, ohne Rücksicht darauf, ob ihn das in Peking — wie geschehen — zur Persona non grata macht. Sein Gespür für politische Entwicklungen, seine Erfahrung im Umgang mit widerstreitenden Interessen und seine Uberzeugung von einer weiterhin bestehenden moralischen Verantwortung Deutschlands für dessen jüngste Geschichte und deren Folgen, befähigten ihn dazu, die Rolle des Vermitders bei den Verhandlungen zur finanziellen Entschädigung ehemaliger Zwangs- und Sklavenarbeiter zu übernehmen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte ihn, nach dem am 30. Juni 1999 erfolgten Rücktritt des deutschen Verhandlungsführers Bodo Hombach, gebeten, dessen Mission fortzuführen. Und der FDP-Mann Lambsdorff war dem Ruf der rot-grünen Regierung gefolgt. Auf die Frage eines Journalisten, warum er sich diese heikle Aufgabe als Vermittler überhaupt zugemutet habe, antwortete seine Frau für ihn: „Wenn die Res publica ruft, darf man nicht nein sagen." Und Otto Graf Lambsdorff ergänzte in seiner lakonischen Art: „Das gehört sich nicht." Er, Ehrenvorsitzender der FDP und mit seinen damals 73 Jahren bereits im politischen Vorruhestand, nahm es auf sich, in den folgenden zwölf Monaten Dutzende Male den Ozean zu überqueren und während langwieriger, zermürbender Verhandlungen an die Grenzen seiner Kräfte zu gehen. Außenstehende können kaum ermessen, mit welchen Schwierigkeiten, Widerständen und komplexen Sachverhalten die Unterhändler ständig konfrontiert waren. Allein fünf Monate hatte es gedauert, bis die Verhandlungsteilnehmer — Vertreter von fünf osteuropäischen Ländern, des

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Würdigungen

Staates Israel, der „Claims Conference", der deutschen Industrie und Politik sowie die Sammelklagenanwälte - sich auf die Form des Tisches geeinigt hatten. Es waren von Anbeginn schwierige, emotionale, hitzige Auseinandersetzungen um Milliardenbeträge, um verletzten Nationalstolz und um verspätete Gerechtigkeit. Verhandlungsführer auf amerikanischer Seite war Stuart E. Eizenstat, Jahrgang 1943, Einser-Jurist in Harvard, Diplomat, Botschafter, Staatssekretär, stellvertretender USFinanzminister: ein Mann mit reicher politischer und administrativer Erfahrung, ausgestattet mit profunden Kenntnissen im internationalen Recht, einem ausgeprägten Realitätssinn und diplomatischem Geschick. Er sieht es als Glücksfall an, dass mit Otto Graf Lambsdorff ein Verhandlungspartner am Tisch saß, der entscheidend half, schwierige Situationen — und es gab nur solche — immer wieder erfolgreich zu meistern. Uber den Grafen sagt er: „Lambsdorffs tief zerfurchtes Gesicht und die faltenreiche breite Stirn, verbunden mit seinem Optimismus und seiner Weisheit erschienen mir als Sinnbild für den schwierigen Übergang Deutschlands vom Pariastaat zur geachteten Demokratie (...) Lambsdorff gab den Verhandlungen eine Dignität, die sie bitter nötig hatten (...). Er bewies feines politisches Gespür — so riet er dazu, die Formulierung ,final payment' in unserem Klammertext zu vermeiden, um nicht an Hitlers ,Endlösung' (,final Solution") zu erinnern." Ein Verhandlungsteilnehmer berichtete mir, Otto Graf Lambsdorff sei nie mit Akten zu den Sitzungen erschienen und dennoch stets exzellent auf die Verhandlungen vorbereitet gewesen, die er in fließendem Englisch führte. Sein Ziel war von Anfang an ein schnelles Verhandlungsergebnis, da, nach seinen eigenen Worten, die Hilfe die Lebenden erreichen musste und es sinnlos gewesen wäre, die Schecks auf die Gräber der Toten zu legen. Deshalb war bei den Entschädigungsverhandlungen sein Ziel nicht immer deckungsgleich mit dem der deutschen Industrie, obwohl er deren Interessen wie auch die der deutschen Außenpolitik stets zu wahren suchte. Auch er wollte Rechtssicherheit für deutsche Firmen gegen Sammelklagen wegen Ansprüchen aus „Arisierung", Zwangs- und Sklavenarbeit vor amerikanischen Gerichten erreichen. Aber noch wichtiger, war es ihm, den überlebenden Opfern späte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Deswegen legte er so großen Wert darauf — und hat es schließlich auch erreicht dass Bundespräsident Johannes Rau nach Abschluss der Verhandlungen am 17. Dezember 1999 die überlebenden Zwangs- und Sklavenarbeiter im Namen des Deutschen Volkes um Vergebung für das ihnen angetane Unrecht bat. Stuart E. Eizenstat hat die entscheidende Rolle Otto Graf Lambsdorffs bei den Marathonverhandlungen um die Entschädigung der Zwangs- und Sklavenarbeiter, die Rückerstattung nicht ausgezahlter Versicherungspolicen sowie die Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" mit folgenden Worten gewürdigt: „There would have been no historic German-American agreement to provide be-

Salomon Korn

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lated justice to slave and forced laborers, pay for long unpaid insurance policies, return confiscated property to Holocaust survivors and their families, and to create a Future Fund for projects of tolerance, without the remarkable tenacity, dedication to justice, and negotiating skills of Count Lambsdorff. At one and the same time, he had to negotiate with the US Government, American class action lawyers, and with his own German companies. He helped bring his own government and corporations, as well as those in the United States, together for a 10 billion DM settlement. He was the key figure in the last major post-war Holocaust restitution agreement. In the process, he helped Germany once again face its past in a courageous way." Lieber Graf Lambsdorff, in den Gesprächen, die wir miteinander führten, vermochte ich durch die Oberfläche des politischen Urgesteins hindurch mich Ihnen und Ihrer Lebensgeschichte zu nähern - beträchtlich für die kurze Zeit, die uns dafür blieb, unzulänglich, um auch die Schwelle des Persönlichen nennenswert zu überschreiten. Dennoch: von dem Punkt aus, den wir dabei erreicht haben, konnte ich manches erspüren, anderes erahnen. So nehme ich das Bild eines Menschen mit, der an Körper und Seele Spuren und Narben des 20. Jahrhunderts trägt - stets bemüht, sie nicht zu zeigen. Doch nicht alles, lieber Graf Lambsdorff, lässt sich mit Disziplin zügeln oder unter Kontrolle halten - vor allem nicht das Vokabular der Augen. Während Sie über Ignatz Bubis sei. A., über Schicksale von Juden, über das Unrecht an Zwangs- und Sklavenarbeitern sprachen, gaben Ihre Augen Auskunft über das, was Sie für sich zu behalten suchten.

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Würdigungen

Contribution to Festschrift for Otto Graf Lambsdorff Tony Leon* The purpose of this Festschrift is to honour Dr Otto Graf Lambsdorff. I think it is fair to say, however, that „the Count", as we fondly call him in South Africa, actually honours us and the cause of international liberalism to which he has lent most of his adult life and to which he has added both lustre and intellectual vigour. Almost from the commencement of my leadership in 1994 of the Democratic Party (later, the Democratic Alliance) in South Africa, I have come to know Otto Lambsdorff as one of the truly significant post-war liberal statesmen. It is through my interaction, and later friendship, with the Count that the ties between South Africa's official opposition and the Friedrich-Naumann-Stiftung have been forged and have flourished. I have also come to know him closely through his many years' service in Liberal International. I, and the party I lead, are certainly much the richer for these encounters and I deeply value his friendship. In all his roles, first as Chairman of the FDP and Federal Minister of Economics and — more latterly — as an elder statesman of international liberalism, Lambsdorff has espoused the sort of muscular, no-nonsense liberalism which I believe has been absolutely necessary to clarify crisply and coherently the fundamental issues which separate the liberal from both the left and the right. Dr. Lambsdorff has always refused to allow modern liberalism to be mistaken for a sort of hand-wringing muddlein-the-middle — the caricature of our ideology which liberals themselves all too often allow to be put about. Lambsdorff has always been unsentimental in his view of the state. He seeks to restrict its role, which — in his analysis — could often (in an echo of Isaiah Berlin's excoriating critique of „positive liberty") be a destructive, even malign and deeply illiberal influence on the lives of individuals. He understands, and fundamentally articulates, the difference between citizen and subject. As he has often observed, the best defence lies in binding the state with key checks and balances, not the least of which are federalism and localism. For over 13 years, Lambsdorff has been a remarkably staunch and close ally in my own efforts to move South African liberalism from simply providing a critique of apartheid and to help construct the critical building-blocks required for the new

* Tony Leon ist Vizepräsident der Liberalen Internationale, Vorsitzender der Democratic Alliance und Oppositionsführer im Parlament der Republik Südafrika.

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socio-economic order which has characterised South African politics since our attainment of democracy in 1994. I believe Otto Graf Lambsdorff — alongside his wife and intellectual partner Alexandra — personifies the most glorious example I know of German pugnacity and humour. (He also singularly refutes Winston Churchill's aphorism that 'a German joke is no laughing matter"). It is too often easy to dismiss post-war Germany as a country of stolid respectability — particularly the Western sector, in which Lambsdorff achieved so much of his early political prominence and later pre-eminence. In actual fact there is much to compliment the quiet normalcy of Germany today. Many years after I first met Otto Lambsdorff, I was transfixed by a play which I watched in London's West End, Democracy, by the extraordinarily gifted writer Michael Frayn. It offered a dramatic account of the fall of the heroic but flawed postwar German Chancellor, Willy Brandt. Lambsdorff s predecessor as party leader, Hans-Dietrich Genscher, was of course intimately involved with the Brandt coalition. In his programme notes, Frayn encapsulates the admirable essence of the democratic achievements - too often overlooked - of post-war Germany. In his remarks, I believe he also vividly frames the sort of political milieu in which Otto Graf Lambsdorffs massive contribution to domestic German politics and international liberalism was formed. Frayn writes: The only part of German history that seems to arouse much interest is the Nazi period. The half century which followed Germany's awakening from that sick dream is thought to be a time of dull respectability, with the Federal Republic characterised by nothing much except material prosperity, and formed in the image of the peaceful provincial Rhineland (Bonn) town which was the seat of its government for most of the period. To me, I have to say that material prosperity, that peacefulness, even that supposed dullness, represents an achievement at which I never cease to marvel or be moved. It is difficult to think of parallels for such an unlikely political, economic and moral resurgence... Federal Germany began life in a graveyard in which almost every city had been reduced to rubble, and almost every institution and political resource contaminated by complicity in the crimes of national socialism. Yet from this utter desolation, without recourse to despotism or military means, its citizens constructed one of the most prosperous, stable and decent states in Europe, the cornerstone of a peace, which has endured now, at least in Western Europe, for nearly sixty years.

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In many ways, this handsome tribute to post-war Germany from an English playwright encapsulates the life, times and the political career of Otto Lambsdorff. However, I am advised that the purpose of this Festschrift is not simply to record paeans to the man I regard as one of the Patron Saints of modern liberalism. I believe we can best honour his intellectual tradition by examining what lessons modern liberalism has for contemporary South Africa and the developing world in general. Before going any further, we must confirm our definition of what liberalism is. A recent issue of Economist magazine defined liberalism as follows: „The idea, with its roots in English and Scottish political philosophy of the 18th century, [that] speaks up for individual rights and freedoms, and challenges over-mighty governments and other forms of power".1 The same article pointed out that liberalism in much of the world today has unravelled into two strands, „with the left emphasising individual rights in social and civil matters but not in economic life, and the right saying the converse". That split has made it possible for the term „liberal" to mean different things in different places. In the United States, for example, „liberal" is a term attached to the political left, but in Europe it is attached to the political right. In addition to being a heavily-contested term, „liberal" has also become a pejorative one on both the left and the right. Recent years have seen the rise of the term „neoliberal", which has a similarly pejorative aura. I think it best, then, to retain a healthy scepticism about labels and names; as Tolstoy reminds us, „The leaves of a tree delight more than the roots." Martin Wolf takes up the subject in his masterful treatise Why Globalisation Works, quoting, the Peruvian novelist and former presidential candidate, Mario Vargas Llosa: A 'neo' is someone who pretends to be something, someone who is at the same time inside and outside of something; it is an elusive hybrid, a straw man set up without even identifying a specific value, regime, or doctrine. To say 'neoliberal' is the same as saying 'semiliberal' or 'pseudoliberal'. It is pure nonsense. Either one is in favour of liberty or against it, but one cannot be semi-in-favour or pseudo-in-favour of liberty, just as one cannot be semipregnant, semiliving or semidead.2

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„There's a word for that". Economist 6 November 2004. Llosa, qtd. in Wolf, Martin. Why Globalisation Works. New Haven: Yale UP, 2004.

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A reason why liberalism is viewed with scepticism — particularly in a place like South Africa and the developing world generally — is the persistent, seductive appeal of what Isaiah Berlin described in his essay „Two Concepts of liberty" (1958) as „positive liberty".3 Whereas „negative liberty" was merely the freedom not to be coerced by the state, „positive liberty" was the freedom to realise some greater good — such as basic material needs for all, or some overarching Utopian vision of a new society. The great fallacy of the left in the twentieth century was that „positive liberty" was the superior and more urgent kind. The state was seen as having to provide „positive liberty" to the poor, even at the cost of sacrificing the „negative liberty" of the rich. It was an illusory bargain, as Berlin demonstrated, because when the state is allowed to interfere with the „negative liberty" of the rich, it eventually interferes with the freedom — both „positive" and „negative" — of the poor as well. Countless later examples have confirmed Berlin's conclusions. Indeed, the political and economic crisis in Zimbabwe today can be described as a direct consequence of the state denying its citizens the „negative liberties" of property and political freedom under the guise of providing the „positive liberty" of land reform. Having said that, we must also note that liberalism cannot — and must not — neglect „positive liberty". Particularly in a society like South Africa, where social and economic inequality are just as much a threat to „negative liberty" as they are to „positive liberty", liberalism must strive to maintain a balance or a creative tension between the two. More precisely, I believe that Lambsdorff is right. I believe liberalism is fundamentally about choice. The liberals' challenge is to best protect the personal and political choices of individuals, while vigorously expanding their range of economic and social choices at the same time. Liberalism also embraces the freedom and uniqueness of the individual human being; it recognises that individuals are shaped by families, communities and institutions. That is why liberalism supports minority rights, cultural rights and language rights. Yet liberalism also holds that individuals are not bound by these influences; rather, each person has the potential to choose his or her own destiny.

Berlin, Isaiah. „Two Concepts of Liberty". Inaugural Lecture at Oxford University. 31 October 1958.

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Similarly, liberalism embraces the principle that individuals must be equal before the law, regardless of ascribed characteristics such as race. Accordingly, each of us is more than the sum of her demographic parts. While not every liberal country has a constitutional democracy, liberalism generally supports such principles as the separation of powers; the use of checks and balances to constrain the power of the central government; and the independence of the judiciary, the public service and all other public institutions. And, while there is considerable diversity of opinion among liberals as to how great or small the role of the state should be in the economy, all liberals embrace the basic ideals and tenets of a free-market economy — with at least as much emphasis on the adjective as the noun. I should add that South African liberals have for many decades supported the key elements of policies like Gear (Growth, Employment and Redistribution) and the Washington Consensus, including when it was quite unpopular to do so. The major difference between the liberal approach and that of the „developmental state" — now championed by many of the elite in the developing world, including the government of South Africa — is that we actually trust market forces to create more freedom and more choices for more people. We are acutely aware of the argument, made by Lambsdorff himself in a lecture in South Africa earlier this year, that the only truly effective way to tackle poverty is to uphold vigorously the rule of law and to create the necessary conditions for a vibrant market economy.4 Ultimately, we believe that the state should only intervene in cases where markets clearly and demonstrably fail — not wherever and whenever it pleases.

Otto Count Lambsdorff, „The Welfare State: Poverty Alleviation or Poverty Creation?", 1 February 2006 Address to the South African Institute of Race Relations.

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Ein Leben für Freiheit und Verantwortung Angela Merkel* Der 80. Geburtstag von Otto Graf Lambsdorff am 20. Dezember 2006 ist Anlass, eine Persönlichkeit zu ehren, die sich über Jahrzehnte hinweg unermüdlich für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft eingesetzt und mit großem persönlichen Engagement der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland bedeutsame Impulse gegeben hat. Ich habe Graf Lambsdorff als einen Menschen kennen gelernt, der fest zu seinen Überzeugungen steht und die von ihm als richtig erkannten Ziele auch gegen den Strom der gerade vorherrschenden Meinung konsequent vertritt. Er liebt das klare und zugespitzte Wort und wurde einmal sehr treffend als ein „aufrichtiger Gesinnungstäter" beschrieben. Besondere Anerkennung verdient sein immer deutliches und vernehmliches Eintreten für Bürger- und Menschenrechte weltweit; dies ist gerade auch von den Menschen in der DDR sehr aufmerksam wahrgenommen und als ermutigend empfunden worden. Dass er eine Persönlichkeit mit Rückgrat ist, der es zugleich an Humor und Schlagfertigkeit nicht mangelt, trägt ihm darüber hinaus breite Wertschätzung ein. Geistiges Fundament des Wirkens von Otto Graf Lambsdorff ist der Liberalismus. In ihm ist der Mensch das Maß aller Dinge und das Leben des Einzelnen in Freiheit das höchste Gut. Diese Grundnormen — so sein Credo — müssen oberstes Gebot bei der Gestaltung und Bewahrung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung in einer demokratisch verfassten Gesellschaft sein. Dem Bürger kommt dabei mit der Freiheit auch ein entsprechendes Maß an Verantwortung zu. Die Soziale Marktwirtschaft ist für Graf Lambsdorff das wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungsmodell, das dieses Leitbild am besten in die Realität zu übertragen vermag. Es war und ist ihm dabei stets ein wichtiges Anliegen, marktwirtschaftlichen Grundsätzen gegenüber der Illusion eines sozialen Alimentierungsstaates zum Durchbruch zu verhelfen. Seine Devise lautet: erst kommt die Selbstregulierung durch die Kräfte des Wettbewerbs, dann erst der Staat. Beide jedoch haben eine dienende Funktion gegenüber dem Bürger. Diese Uberzeugungen hat Graf Lambsdorff im Laufe seiner langen politischen Karriere in viele Funktionen und Ämter eingebracht. Sein steiler politischer Aufstieg begann 1972, als er für die FDP, die schon 1951 seine politische Heimat geworden war, in den Deutschen Bundestag einzog und von seiner Fraktion zum wirtschafts* Dr. Angela Merkel ist seit November 2005 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.

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politischen Sprecher gewählt wurde. Im Oktober 1977 trat er in der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt das Amt des Bundeswirtschaftsministers an. Durch sein unbeugsames Eintreten für eine freie Entfaltung der Marktkräfte war er damals ebenso wie später in der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung ein oftmals unbequemer Partner, der sich zugleich stets mit Vehemenz für einen konsequenten Konsolidierungskurs und gegen kurzatmige Versuche der Konjunktursteuerung ausgesprochen hat. Die Rolle Graf Lambsdorffs in den Ereignissen, die 1982 zum Wechsel der Regierungskoalition führten, bedarf keiner gesonderten Erinnerung. Sein im September 1982 erstelltes „Konzept für eine Politik zur Uberwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit", in dem er etwa die Forderung nach einer deutlichen Reduzierung von Sozialleistungen im Rahmen einer entschlossenen Sparpolitik des Staates mit einem Bekenntnis zu Selbstverantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft verband, ist fester Bestandteil der politischen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland. Die sich schon damals abzeichnenden umwälzenden Auswirkungen der Globalisierung hat Graf Lambsdorff früher als andere erkannt. Immer wieder hat er mit überzeugenden Argumenten für die Einsicht geworben, dass alle von einer globalen Marktöffnung letztlich nur profitieren können. Beharrlich hat er deshalb für eine Weltwirtschaftsordnung plädiert, die einen möglichst freien Zugang zu allen Märkten gewährleistet und gerade auch den Entwicklungsländern die Chance bietet, die internationale Arbeitsteilung zu ihrem Vorteil zu nutzen. Für die Entfaltung der positiven Kräfte der Globalisierung ist es dabei unabdingbar, dass jedes Land auch bei sich eine wettbewerbsorientierte Ordnung gewährleistet und sich dem notwendigen Strukturwandel nicht entgegenstellt. Dieser programmatische Weitblick wurde durch die Entwicklungen in der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten voll bestätigt. Die ordnungspolitischen Mahnungen von Graf Lambsdorff haben bis heute nichts von ihrer Relevanz und Dringlichkeit eingebüßt. Eine besondere Herausforderung und Verantwortung hat Otto Graf Lambsdorff im Juli 1999 mit der Ernennung zum Beauftragten der Bundesregierung für die „Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" angenommen und übernommen. Vor allem seiner umsichtigen, festen und integeren Verhandlungsführung ist es zu verdanken, dass nach langen und schwierigen Gesprächen mit der amerikanischen Regierung, den beteiligten Anwälten sowie der deutschen Wirtschaft am 17. Juli 2000 ein Abkommen zur Gewährung humanitärer Leistungen an ehemalige ausländische Zwangsarbeiter und andere Opfer des Nationalsozialismus unterzeichnet werden konnte. Geleitet wurde er dabei von dem Wunsch, neben der grundsätzlichen Anerkennung von Unrecht möglichst vielen

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Zwangsarbeitem noch zu Lebzeiten eine finanzielle Leistung zukommen lassen zu können. Otto Graf Lambsdorff hat den demokratischen Wettstreit um die richtigen Ideen und Konzepte in besonderer Weise bereichert und damit die politische Kultur in Deutschland maßgeblich mitgeprägt. Die Menschen in unserem Land — auch jene, die inhaltlich nicht immer mit ihm übereinstimmen — haben Anlass, ihm dafür dankbar zu sein. In diesem Sinne wünsche ich Otto Graf Lambsdorff alles Gute und noch viele Jahre Gesundheit, persönliches Wohlergehen und Schaffenskraft.

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Contribution to the Festschrift in Honour of Otto Graf Lambsdorff Beatrice Rangoni-Machiavelli* I am grateful to the Friedrich Naumann Foundation for inviting me to write a contribution to the Festschrift dedicated to Otto Graf Lambsdorff on the occasion of his 80th birthday. I have always considered it a privilege to know him and to hold him as a point of reference during discussions and meetings of Liberal International, where his influence has remained great, even after he left the presidency. An eminent and reliable personality, he gave a wider dimension to the European idea encompassing the West, the United States of America and the Atlantic Pact, not only as a military alliance but as a cultural and political one as well, a stimulus to economic growth through free exchange with countries lacking the ideals and the force of liberalism. For Otto Lambsdorff being European, especially for liberals, means to share the credo of a united Europe, where among all its values the desire for liberty and the defense of human rights comes first. Since Giovanni Malagodi with the Appeal of Rome in 1981 took the road of internationalization and globalization for Liberal International, Otto Lambsdorff was, and still is, one of the most active followers of its indications, laying the accent on the importance of bridging the gap between Southern and Northern countries and the need to establish democratic systems of government and respect for human rights. During the Cold War many misdeeds of non-democratic regimes in the third world went unreported since they belonged to „sensitive geo-strategic regions". With the fall of global influence by Soviet imperialism this pretext is no longer valid. There is no doubt that going back to a free market system is in acceleration, not only for ideological motives but also because we better understand the causes which brought about negative trends in western markets as well. President Lambsdorff was right to underscore the mistakes made by industrialized countries: strong expansion in government intervention with increasing budget deficits and the rise in inflation, together with the decline in growth and „stagflation". Like him, we are convinced that individuals are able to learn, especially from painful experience, and that today in Europe the majority of citizens are aware of the fact that even a social market economy has its limits which should not be exceeded.

* Beatrice Rangoni-Machiavelli ist Vize-Präsidentin der Liberalen Internationale und lebt in Rom.

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The fame of Otto Graf Lambsdorff as the Leader of German Liberals and as Minister of the Economy in several governments, both for Helmut Schmidt and Helmut Kohl, has gone beyond the borders of his own country. His name was already known for being a member of the Commission that drew up the famous Freiburg Paper. The document was the result of an effort to adapt the principles of classical liberalism to the conditions of a post-industrial society and was given ample space in political and economic debates during the seventies. The Freiburg Paper called for „the second phase of a reform movement which stems from the middle class evolution". The authors of the report supported the defense of a free market system and equal opportunity, especially of choices regarding aptitude and education. Just as strongly, however, they refused any sort of state intervention in the economy. The Friedrich Naumann Stiftung, under his presidency dealt particularly with the new governments in Latin America, while never neglecting the problems of Africa and Asia, however the most decisive aid was given to Central and Eastern European countries, delivered from communist dictatorships. In this context, I wish to add a personal memory. I had been elected to the Presidency of the Economic and Social Committee of the European Union: one of the first people who came to visit me was Count Lambsdorff. On that occasion I told him that I wanted to concentrate the program of my presidency on the importance of European civil society. I was indeed convinced that reinforcing democratic structures which do not belong to institutional or bureaucratic spheres would enable us to give full meaning to the concept of a Europe of the citizens and to strengthen democracy. I do not know whether I would have succeeded without the sincere assent and strong support from Otto Graf Lambsdorff and from the European Liberal parties in having approved — during the summit in Nice on the reform of the Treaties (December 2000) — article 257, which acknowledges the importance of Organized Civil Society. Organised means that there are structured organisms and associations of European dimensions which constitute a connection between the will and expectations of the citizens on specific issues and legitimate interests, and the decision making process of the Union. I remember President Lambsdorffs remark concerning the political evolution of Central and Eastern European countries, that much depended on the existence or the absence of non-governmental organisms in these countries. Civil society, without which democracy and pluralism can not survive, draws its force from the existence of a multitude of organisms such as associations of categories, merchants, artisans, free professions, consumers, environmental defense, families and social NGOs.

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The greater the number of centers of initiative and influence existing in a society, President Lambsdorff told me, the greater the possibilities become for evolution into a democratic system of government and for its stability. In fact, countries where democracy is the strongest, such as the United States, the United Kingdom, Switzerland and the Scandinavian countries, are the ones with a solid tradition of associations and NGOs. Among the many actions suggested by Otto Lambsdorff s ethical-political thought, I would like to recall his program for fighting poverty, which is still the greatest challenge for humanity. His essay „Liberty, the best remedy against poverty", published by the Liberal Institute of the F. Naumann Foundation, constitutes a Weltanschauung of wide scope and high level. No one can disagree with him when he reminds us that poverty debases human beings, inflicting them daily sufferings through the continuous frustration of their aspirations, even the most elementary ones. It brutalizes individuals pushing them towards violence and poisons human relationships, particularly in the family, becoming a frequent cause of maltreatment against women and children. Few understand the negative effect of waste of human resources on such a large scale and consider overpopulation the main cause of poverty in the masses, which thus becomes a fault attributed to those same poor people. This is a truly cynical approach in open contrast with historic experience and economic theories. No rich country has ever been reduced to poverty through an increase in the birth rate. Italy could learn a lesson from the pages of economic theories sustaining that creating and distributing national wealth is a dynamic process based on variables, and that the volume of population is only one of many variables. It actually has a positive effect if we understand that each individual has the potential to contribute to the economic and social development of the community in which he lives. Poverty constitutes a great challenge for Liberals, both in virtue of their ideals of humanity and their fight for a more equal and just society. Extreme poverty is a daily insult to life and can not be tolerated by anyone declaring to be liberal. The liberal answer to poverty has met with many obstacles since it is not easily comprehensible. In fact, the first human reaction is to help materially the poor, while liberals speak of liberty as an instrument and as an objective, which is perceived as a too abstract statement. It is true that material help is necessary for those unable to fend for themselves, but the risk should be avoided that it becomes a permanent factor, rendering people dependent on it. Rightly President Lambsdorff reminds us of how men have defeated poverty in history: counting on their own forces, working incessantly, being saver, investing in

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their own education, moving in search of better opportunities, trying new roads and taking risks. As liberals we agree with what he affirms. Above all poor populations need to have access to the opportunities society can offer them and to be protected by the law to avoid exploitation on the part of powerful groups or individuals who profit from their works. This is also why liberalism has always defended the rights of private property as an important guaranty for the protection of individual freedom. It is false that we believe this because it is in the exclusive interest of wealthy classes. The poor, instead, have an even greater interest because their personal rights to property are often not recognized and are not defended by law. Let it suffice to mention the situation of the majority of women in developing countries. The absence of well defined property rights is one of the major causes of destitution, even because without clear rules, courts are unable to defend the poor. Liberal social policy must explore all the possible instruments for helping the poor to acquire property rather than simply granting them rights. There are cases where — on occasions of famine or natural catastrophes — food aid becomes indispensable, but we must remember that price controls, often imposed in the name of the poor, can seriously damage farmers and depress the rural economy with grave consequences for the populations of rural areas who constitute most of the poor areas on our planet. Liberal revolution is necessary, as well a major political engagement to succeed in changing the situation bearing in mind what has happened in the West. If the process is managed exclusively by bureaucrats and technocrats in the service of champions of the status quo, change will never ensue. We must be grateful to Otto Graf Lambsdorff for having indicated the road of liberal revolution to help us fight, in the name of liberty, the greatest challenge confronting humanity.

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Otto Graf Lambsdorff: Die liberale Institution der Freiheit Guido Westerwelle* Otto Graf Lambsdorff war bereits eine Institution, als ich mich politisch zu engagieren begann. Ich erlebte ihn das erste Mal — zusammen mit Hans-Dietrich Genscher — 1980 in der Bonner Beethovenhalle. Ich war zutiefst beeindruckt. Ich empfand seine Rede als etwas, das entschieden dem noch dominierenden Zeitgeist widersprach, aber dennoch modern und neu war. Dass er sich als Politiker für die Marktwirtschaft genauso einsetzte wie für die Menschenrechte erschien damals vielen als Widerspruch. Im Grunde war er schon damals das Gegenbild zum Freiheitsverständnis vieler, die Wirtschaft und Gesellschaft durch den Staat steuern wollten. Heute würden wir wie selbstverständlich sagen, Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Damals war das eine fast radikale Abkehr vom herrschenden Zeitgeist, dass der Staat alles richten könne. Populär war es nicht, dass nicht der Staat für alles Verantwortung trage, sondern zuerst die Bürger. Der Freiheitsbegriff bei vielen hieß damals: Freiheit wovon? Otto Graf Lambsdorff fragte: Freiheit wofür? Ich war jedenfalls fasziniert. Die ganze gesellschaftliche Debatte war damals geprägt durch einen kaum hinterfragten Konsens. Die Gesellschaft müsse gebessert werden durch staatliche Mittel. Politik war mit den 68ern quasi zur moralischen Besserungsanstalt geworden. Hier traten Liberale auf mit einer ganz anderen Botschaft. Damals redete man uns immer ein: Freiheit in der Wirtschaft sei politisch rechts. Freiheit für die Bürgerrechte sei politisch links. Otto Graf Lambsdorff war gleichzeitig Aktivist für die Marktwirtschaft und Aktivist für die Menschenrechte. Für ihn gab es keine halbe Freiheit. Wäre der Jurist Otto Graf Lambsdorff statt Wirtschaftsminister Justizminister geworden, man würde ihn heute den „Bürgerrechtsgrafen" nennen. Ich traf ihn etwas später persönlich zu einem Gespräch im Wirtschaftsministerium. Ich hatte erwartet, er würde mir die Welt erklären. Ich fand einen Wirtschaftsminister vor, der die Fähigkeit hatte, zuzuhören. Ich forderte recht forsch, dass das Vermitdungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit nun endlich gelockert werden müsse. Ich traf nicht nur auf die Zustimmung von Otto Graf Lambsdorff. Als wirklicher Mann der Tat schritt er gleich zur öffentlichen Aktion. Und zwar völlig unbeeindruckt davon, was der Koalitionspartner dazu sagen würde.

* Dr. Guido Westerwelle, MdB, ist Bundesvorsitzender der FDP und Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag.

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Man tut im Übrigen dem berühmten „Wendepapier" von 1982 unrecht, wenn man es bloß als ein Instrument des Machtwechsels sieht. Das „Wendepapier" war nämlich nicht bloß eine politische Wende, sondern zuerst eine inhaltliche Wende. Und während die politische Wende nach 1982/ 83 vollzogen wurde, so ist die inhaltliche Wende bis heute noch nicht vollzogen. Das „Wendepapier" ist in vielen Teilen immer noch aktuell. Im Übrigen wissen viele nicht, dass Otto Graf Lambsdorff auch ein Mitglied der Kommission war, die die „Freiburger Thesen" von 1971 erarbeitet hat. Den „Freiburger Thesen" wird oft nachgesagt, dass sie den Wechsel der FDP hin zur Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten inhaltlich begründen sollten. Für mich aber bedeutet die Autorenschaft von Otto Graf Lambsdorff bei den „Freiburger Thesen" wie auch beim so genannten „Wendepapier" vor allen Dingen eins: Der Standort des Freien Demokraten definiert sich nicht über seinen Koalitionspartner oder seine Koalitionsabsicht. Innere und politische Unabhängigkeit haben Otto Graf Lambsdorff immer ausgezeichnet. Er ist 1988 zum Bundesvorsitzenden der FDP gewählt worden. 1993 ist er aus diesem Amt wieder ausgeschieden. Seine Unabhängigkeit hat er auch dort insbesondere dadurch beweisen können, dass er nicht als Minister in die Regierung eingetreten ist. Es hat gelegentlich im Plenum des Deutschen Bundestages dazu geführt, dass man den Eindruck gewinnen konnte, der Oppositionsführer gegen die schwarzgelbe Koalition sei der Parteivorsitzende der FDP. Diese Nichteinbindung und Unabhängigkeit des FDP-Vorsitzenden war sicherlich nicht immer einfach für die Regierungskoalition. Aber sie war sehr gut für die FDP. Die FDP schaffte bei den Bundestagswahlen 1990 mit dem Vorsitzenden der FDP, Otto Graf Lambsdorff, 11 Prozent. Das ist bis heute Maßstab. Das war das beste Ergebnis seit den Bundestagswahlen von 1961. Otto Graf Lambsdorff hat nicht nur bei den Wahlen zur deutschen Einheit für die FDP einen großartigen Erfolg erzielt. Im August 1990 war auch die FDP die erste Partei, die zur gesamtdeutschen Partei wurde. Otto Graf Lambsdorff nutzte den Schwung der Zustimmung zur deutschen Einheit zu einer politischen und organisatorischen Meisterleistung. Aus dem Erfolg der deutschen Einheit machte er zusammen mit Hans-Dietrich Genscher einen Erfolg der FDP. Der Erfolg war nachhaltig. Zu dem Spitzenergebnis bei der Bundestagswahl kamen auch glänzende Ergebnisse bei den Landtagswahlen. Erstmalig in der bundesdeutschen Geschichte war die FDP in 16 Länderparlamenten vertreten. Das ist ein Maßstab für einen Bundesvorsitzenden der FDP. Die FDP sackte Mitte der 90er Jahre auf nur noch 4 Fraktionen in den Ländern ab. Heute sind es wieder zwölf. Aber auch heute fehlen noch vier Länderfraktionen, um wieder auf das Lambsdorffsche Maß von 16 zu kommen. Die deutsche Einheit hat viele Väter und Mütter. Sie hat natürlich eine außenpolitische Dimension. Wer noch 1989 ernsthaft die These vertreten hätte, die deutsche

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Einheit würde unter den Bedingungen kommen, dass Deutschland vereint und frei, souveränes und vollwertiges Mitglied der NATO sein würde, der hätte als Fantast gegolten. Die 2+4-Verträge waren eine enorme außenpolitische Leistung, die an der Spitze durch den Architekten der deutschen Einheit, Hans-Dietrich Genscher, bewirkt wurde. Die innenpolitischen Voraussetzungen waren nicht weniger schwierig. Für die deutsche Einheit musste ein wirtschafts- und sozialpolitischer Preis gezahlt werden. Vom Umtauschkurs 1:1, der Belastung der Sozialversicherung bis hin zum Wirken der Treuhandanstalt: Es wäre ein leichtes gewesen, Protest zu äußern. Es war aber ausgesprochen schwierig, diese Entscheidungen durchzusetzen. Es war ihm immer klar, welche Verantwortung er als Parteivorsitzender für das Zustandekommen der deutschen Einheit hatte. Und es war ihm auch ein Herzensanliegen. Wer Otto Graf Lambsdorffs Wahlkampf 1990 in den Neuen Bundesländern erlebte, spürte sein persönliches und politisches Engagement. Sein Lebenslauf ist mit der Region und mit Berlin besonders verbunden. Es gab immer wieder Versuche der politischen Wettbewerber, ihn als den harten Markt-Grafen gleichsam als Vertreter des Ellenbogen-Kapitalismus darzustellen. Dennoch war er als Parteivorsitzender auch für die Menschen in den Neuen Bundesländern ein akzeptierter Ansprechpartner. Deswegen wurde er immer besonders gern auch in den Wahlkämpfen in den Neuen Bundesländern als „Wahlkampflokomotive" und Zugpferd eingeladen. Aber auch in der innerparteilichen Auseinandersetzung war er ein Ansprechpartner und Fürsprecher für die Belange der Neuen Bundesländer. Er hat vom Vereinigungsparteitag im August 1990 bis hin zu seinem Ausscheiden 1993 immer daran gearbeitet, 40 Jahre Trennung aufzuarbeiten und zu überwinden. Dass heute die FDP neben CDU und SPD eine von drei gesamtdeutschen Parteien ist, ist auch sein Verdienst. Denn anders als den Grünen ist es der FDP nach ihren Ausscheiden aus allen Länderparlamenten in den Neuen Bundesländern in den 90er Jahren inzwischen wieder gelungen, in vier von sechs Ländern vertreten zu sein. Als ein Amtsnachfolger im Amt des Bundesvorsitzenden der FDP weiß ich: In der Rückbetrachtung gibt es wenige große Ereignisse. Das politische Tagesgeschäft eines Bundesvorsitzenden verblasst in der Erinnerung schnell. Otto Graf Lambsdorff hat vielfach im Tagesgeschäft die Erfahrung gemacht, dass eine Partei aus sehr vielen Parteivorsitzenden besteht, insbesondere bei den Liberalen. Das ist auch gut so. Man darf nur nicht erwarten, dass wenn sonntags die Wahlergebnisse gut sind, einem montags die Dankbarkeit nur so entgegen schlägt. Man muss aber damit rechnen, wenn man schwierige Entscheidungen trifft, dass Kritik auf keinen Fall ausbleibt. Bei jedem politischen Schritt begleitet einen Parteivorsitzenden eine Kampfrichterjury von Journalisten und politischen Mitbewerbern, die die Wertungstafeln für die A-

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und B-Note hochhalten. Das hat auch der Parteivorsitzende Otto Graf Lambsdorff im Guten wie im Schlechten erfahren müssen. Ich erinnere mich gut an den Parteitag, als Otto Graf Lambsdorff nach seinem Ausscheiden als Parteivorsitzender der Ehrenvorsitz der FDP angetragen wurde. Der Parteitag feierte ihn stürmisch. Als er dann das Wort ergriff, dankte er lachend und lakonisch: Ich hätte mir gewünscht, die Parteitage hätten mich in meiner Amtszeit als Bundesvorsitzender in dieser Weise unterstützt. Als Bundesvorsitzender der FDP bin ich sehr oft auch international unterwegs. Auch hier gilt: Wo man hinkommt, Otto Graf Lambsdorff war schon da. Der Name ist international ein Türöffner und ein glänzendes Entrée. Das gilt im Übrigen nicht nur für die USA, auch in Mittel- und Osteuropa war er unter anderem als Präsident der Liberalen Internationale ausgesprochen aktiv. Sein Ziel, möglichst viele liberale Parteien direkt beim Fall des Eisernen Vorhangs aufzubauen, war außerordentlich erfolgreich. Das galt insgesamt für seine Amtszeit als Liberaler Internationaler, wofür er ebenfalls den Ehrenvorsitz der weltweiten Vereinigung der liberalen Parteien angetragen bekam. Auf seinen zweiten Ehrenvorsitz, dem FDP-Ehrenvorsitz, angesprochen, sagte er einmal in einem internen Gespräch: Ehrenvorsitze seien eine Alterserscheinung. Otto Graf Lambsdorff ist ein Bundesvorsitzender der FDP gewesen, der stets mit offenem Visier gekämpft hat. Er schätzte den öffentlichen Austausch von Argumenten. Er schätzt ihn heute auch noch. Er ist immer klar in seiner Argumentation, ohne zu hart zu sein. Er ist pointiert in seinen Aussagen, ohne andere zu verletzen. Er ist sehr bestimmt in seiner Meinung, ohne starrsinnig zu sein. Er ist ein echter Liberaler. Und wir sind stolz darauf, dass er in unseren Reihen ist.

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Human Rights is Everybody's Business John, Lord Alderdice* My early experience of the issue of human rights was moulded by growing up in a deeply divided society. When civil rights came on to the international agenda in the late 1960's it had a particular focus in Northern Ireland on the relative positions of religious groups — Protestants and Catholics. As a result the Irish Council of Churches established a Human Rights Forum to which I was appointed as the youth representative. While the work of this Forum was wide-ranging it was inevitably its work on prisons and other issues related to the Northern Ireland conflict that received most attention. I began to see very clearly that human rights was not only a matter of high moral principle but also a subject of central political significance, especially in a divided and conflict-ridden country. Much later this again impressed itself upon me when as the leader of the crosscommunity Alliance Party I was involved in the inter-party talks in the early 1990's which preceded the Irish Peace Process. One of the first, indeed one of the few things that the different and very opposed groups in Northern Ireland were able to agree in those early days of negotiations, was that all parties wanted entrenched protections of human rights. Everyone could see that they had much to gain from this. I have never heard a politician anywhere say 'I do not wish my rights or the rights of my people to be protected'. When it is stated plainly that one wants to see the protection of the rights of one's own people it is difficult to argue that 'my rights should be protected but your rights should not be protected'. The concern of course was to ensure that rights were protected, not just established in principle, but implemented in practice. It is not appropriate for me to say much about Northern Ireland in this context but let me make just a few brief remarks. When substantive Talks started in 1991 the parties were far apart, indeed at that stage Sinn Fein was not even in the Talks, but it was quickly agreed that everyone's rights must be protected in so far as possible using international norms and standards. As a result we now have an Equality Commission and a Human Rights Commission both of which have substantial independence and an input into the work of the legislative Assembly, and both of which use international standards as their reference point. We also have a requirement that the Speaker of the Assembly checks that every piece of legislation going through the Assembly is consistent with the European Convention on Human Rights, not just when it comes to the Assembly, but * John, Lord Alderdice ist Präsident der Liberalen Internationale.

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also after all amendments have been made and before it is finally approved by the House. We also have Ombudsmen (a number of whom are women) for general public administration and for the security forces and services. These protections of human rights are not in themselves particularly contentious, however where we have tried to construct institutions and develop standards which are orientated to correcting our particular domestic circumstances and deal with our own overtly sectarian political issues, we have had more contention. The recognition of what is often called 'parity of esteem' of different political cultures has come to mean parity of power and this led to a stand-off between the majority and the minority who both believed that their rights must prevail. For example on the issue of disputed parades (a traditional but contentious feature of life in Northern Ireland) unionist (Protestant) groups and opposing nationalist (Catholic) groups both see themselves as having an equal say even if they do not have equal numbers or an equally good case. These dilemmas have caused great difficulty in our peace process, but it is not hard to see how similar problems are emerging more widely in regard to the issues of esteem, authority and power between some Islamic communities and their host communities throughout Europe. Respect and esteem are part of the two way process of relationships and we localize and particularize human rights to our cost. There are other examples where human rights have been subjected to the cloudy prism of cultural or religious prejudices. In Asia for example the argument has been made that what are called 'Asian values' are more appropriate to the people of that region than a so-called 'western' notion of human rights. But if we are all part of the same human family then we all share the same fundamental rights, and should share the same fundamental freedoms as everyone else. In my own community, I believe that where we have stuck to universal principles and international standards we have had relatively little difficulty. Where we have forced the principle of human rights into the Cinderella's shoe of our local political feuds we have created problems for ourselves and perhaps even diminished the principles of human rights. From my own experience I am committed to international and universal principles, and I see no reason why this should not apply in other countries as in my own. Just as the issue of human rights made its presence felt most strongly in Northern Ireland in the context of addressing conflict, it is no accident that the international momentum for the codification and implementation of standards of human rights came out of the terrible experiences of violence in the two world wars. Those experiences demonstrated how our capacity to travel and to communicate combined with advances in science applied to warfare now enabled us to spread unprecedented destruction across the face of the whole earth. Indeed it threatened the very continued existence of humanity. We could no longer depend on the limits of our ability to destroy each other and our environment, to protect us against the excesses of our

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wars. It dawned upon humanity that if we did not find a way of containing our destructive urges towards each other there was a real danger that we would simply destroy our race and life on this earth. Without a recognition of and respect for human rights there would be nothing left. Local laws set down the boundaries for acceptable behaviour in a local community, but human rights set down limits and requirements for humanity's survival. Human rights are what we all share simply because we are members of the human family. It is meaningless to see human rights as a local or national or even a regional commitment. We cannot talk meaningfully about Asian human rights or European human rights. Human rights transcend culture and country or they are not really human rights at all. Similarly those who abuse the rights of others should not be able to find protection behind national borders. The whole force of this ideal comes from the fact that it is for all of humanity in every part of the world. This world-wide imperative presses us to work to try to achieve our ideals with others from around the world who have the same beliefs, and the same commitment to freedom and justice. Human rights is indeed everybody's business. In their concern to see that rights are actually implemented around the world some thinkers insist that human rights must primarily mean civil and political rights. They argue that while social and economic concerns must be addressed they cannot be made justiciable in the way that civil and political rights can, and so it is only confusing the issue to regard them as issues of human rights. While this argument has a certain intellectual substance, most people concerned with this field have moved beyond it to accept social, economic and cultural rights as human rights but of a different order. They are sometimes referred to as 'second generation rights', however if there was a problem for us about the implementation of first generation rights the problem is even greater when we come to the second generation rights. In particular we must harbour a concern that these so-called second generation rights could be relegated to a second class position. Is it not reasonable to argue that some rights are more utterly fundamental and therefore perhaps of a different than others? After all, it is futile to struggle for the right of freedom of association for someone who has just lost his right to life. Since he is dead he can no longer associate with anyone. Some would argue that the right of freedom of expression is the most fundamental right because all others depend upon it. I have heard this put forcefully by some Latin American colleagues and given the history of their countries it is not hard to understand why it is said with such conviction. However, things are not so simple. Writers and journalists are human beings like all of us, and they do not always publish the truth, in fact at best they can only ever publish a part of the truth. It could even be argued that persuading the people to ignore some of the truth and concentrate on selected issues portrayed in a

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very particular way generally gets politicians elected. These selected truths usually appeal to the emotions much more than to rational thought. The requirement to observe human rights is almost the opposite. It insists that we treat people in a proper way even when we do not feel like doing so. I think it may be dangerous to consider some human rights more important than others, even if all are not of the same order. We may only be upholding the rights that are convenient to us. In truth when any rights are systemically violated all other rights are ultimately at risk. This is not to diminish the importance of the right to life, or the right of freedom of expression, but an expression of caution about a hierarchy of importance of human rights. Such caution about treating some rights as more important does not imply that all rights should be implemented in the same way. Take the example of freedom of expression. It is possible to do much to protect this freedom by judicial protection, but it is not the only mechanism. Developments in electronic communication have made the restriction of freedom of expression by repressive governments more difficult. This technological advance is a non-judicial way of protecting freedom of expression. This shows us how human rights may be upheld in different ways. Some civil and political rights may be largely maintained through cases taken through the courts in respect of individuals. Someone who has been treated in a way that may be inhuman or degrading can, if a legal remedy is available, go to court and may hope to have redress. Moreover they may hope that this will result in measures which will prevent others enduring the same abuses in the future. However someone who wishes to escape poverty by having a job, especially a particular kind of job can rarely be protected through the same mechanism. The right to health is even more difficult to describe and implement through the courts. This is not to suggest that these are less important rights nor that the courts are of no use in maintaining them, but it may be that they cannot fully be upheld in the same way. In achieving many civil and political rights the mechanism of the law, using national and international codes and courts has been remarkably successful but there has been less perceived success with second generation rights. This has led to a profound sense of frustration amongst concerned people across the world and in recent years we have seen serious civil unrest especially the protests surrounding major international economic summits. The protestors are from a very varied range of groups with different agendas, but all complain of abuse of power by multinational companies. They also complain about the approach adopted by the Bretton Woods institutions and feel betrayed by governments which they believe have shown litde interest in the issue of corporate responsibility for human rights, for fear of jeopardising trade and investment opportunities. These protestors do not all share quite the same perspective. Some hold the view that big business is the problem — the source of all ills in the world and the root of all evil. They seem to believe that only if big business disappears can the world be

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a better place. Alternatively and more positively other protestors believe that if only it could be persuaded, big business has the money and the power to save the world from all its problems. Clearly business is very powerful. The top 200 companies account for about a quarter of the economic activity of the world. There has been an evolution of attitudes within the wealthy business community addressing environmental, social and human rights issues. The classic American 'Rockefeller' model was that you could redeem being a 'robber baron' by philanthropy plus the public relations that may go alongside the invisible hand. „You let me get on invisibly and do what I have to do, and I will put something back out of my surplus". We only have to look around the USA to see some of the very positive results of that philanthropy in terms of social, cultural and charitable institutions and other civic goods. It has been a powerful tradition and we have begun to see its reemergence in new international forms among the super-rich like Gates and Buffet. This resurgence of individual philanthropy at the mega-level is to be welcomed for all sorts of reasons (though some of the implications are not yet fully clear) but there are limits especially in the new world of the corporate model with its tighter governance and regulation. Corporations are accountable to shareholders who will ask why money is being given away. It is fine for Buffet or Gates as an individual to make philanthropic contributions, but is it justifiable for a corporation? In response to the public discontent I have described and this change of business structure a growing number of corporations have tried to improve their public image by adopting human rights standards to guide their operations, but the polarisation of attitudes still tends to dominate the debate about business and human rights. Some of this polarisation comes from an assumption that the same mechanisms as have been used for civil and political rights are the only way, or even the most effective way of achieving the observance of some social and economic rights. But if we depend on legal mechanisms alone we may not see such success in achieving the observance of social and economic rights as we have seen with civil and political rights. I believe that it may be of considerable value to join with other elements in civil society, with professionals and academics, but also with business and commerce to address our concern with implementation in respect of social and economic rights. We have all now begun to recognise that we cannot claim civil and political rights for ourselves while denying them to others. Perhaps it is possible to persuade the wealth creators including big business that they must not hope to claim their own social and economic rights while denying them to others. This involvement of the world of business in achieving social and economic rights was championed in recent years by UN Secretary-General, Kofi Annan, in what was called the Global Compact.

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As a result of these changes in attitudes we have seen the development of a model of corporate citizenship, where companies recognise that they occupy a space in society and concern themselves with issues of citizenship. This has reached a definition of Corporate Social Responsibility in which human rights is an important part. A central question is — 'What defines the human rights obligations of business, and how far do they extend?' In traditional international law, the essential actors, the entities with rights and duties, are states, but now states are no longer the only significant actors. Business is now playing a role in economic development once reserved for states. The growth of the global economy means that multinational corporations today wield considerable influence on human rights. Duties imposed by international human rights law however still fall to governments and it is their responsibility to uphold and protect rights. Governments are required to act in accordance with human rights themselves, and also to ensure that other members of society do likewise. Corrupt or weak governments may however fail to recognise their own responsibility to respect international human rights law. This does not nullify the existence of these rights, or the necessity that companies operating in such societies should respect and uphold their corresponding duties. What are the obligations of business towards human rights? One immediate distinction that limits the scope of business responsibility is the distinction between „immediate responsibility" and „collective responsibility". Immediate responsibility stems from the activity of a particular business. Collective responsibility arises from the participation of business as a community in an unequal global economic system that has severe disadvantages for many groups and societies. It is the role of the government to address and regulate macro-economic or wider social problems that arise from the collective activities of business. In most cases asking individual business to solve „collective" problems which belong to the global market as a whole is unreasonable. What is fair and reasonable to expect as the responsibility of business towards human rights? On the 'immediate' level, the human rights responsibilities of business can be identified by looking at four duties — respect, protect, promote, and fulfil human rights. Governments must not only fulfil the passive, 'negative' duty to avoid violating rights (i.e. to 'respect") but also the 'active' positive duties to protect, promote and to fulfil. In contrast the world of business, like that of individuals, has its duties framed primarily in 'negative' terms, that is to refrain from violating the rights of others by their activities. But should business have any obligations about positive responsibilities to protect, promote and to fulfil? Some human rights activists would claim so, and point out that business is part of society and should participate positively in that society. Such activists also emphasise the immense power of business. Should busi-

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ness have any positive responsibilities to human rights? I believe that in a number of significant areas they should. Firstly, business should act towards their employees, as does a government in relation to its citizens by acting to promote, protect and secure their rights. Health and safety regulations are a good example of this fuller duty in relation to employees. Secondly, business has a duty to take reasonable steps to ensure that their products are not used in the violation of human rights. This implies that business should take reasonable measures to prevent intentional misuse. An example of this would be the responsibility of the arms trade to monitor its sales and work with governments and the international community to monitor end users. Thirdly, business should assume positive responsibilities in relation to anyone living on land which it owns or uses. In particular this implies to indigenous peoples and deprived minorities. The company in these circumstances has a responsibility to negotiate with and to take account of the wishes of the group on whose land it works. This includes the 'positive' duty to keep the people informed in the plans to use the land, to give people a voice in those changes, and to ensure that the 'voice' of the people, is heard, if necessary through their leaders. Companies also bring upon themselves positive duties when they replace the government. Sometimes when a company moves into an area, the government allows it effectively to take over the area. The company will build on the land, create roads, transportation and other infrastructure. The government, particularly one that is unstable or geographically remote, will simply step aside, leaving a vacuum of governance. The company fills the vacuum, becoming the only local authority. When this happens, the company should take on some of the positive responsibilities of government in respect of human rights. This includes making sure that the population in the area is safe, secure and has adequate provisions for their welfare and livelihood. Consumer action and human rights campaigns have made business more responsive to human rights concerns. Business has a role to play in human rights issues, as good employers and as responsible members of society. We also know that protection against human rights disasters, like any other insurance, makes good business sense. Some companies will even want to go beyond the minimum, because it is good for public relations, because their customers want them to address these rights, or because they are guided by an ethical, social or religious tradition which demands more of those who have the power to effect change. Working with the business community to define the minimum human rights obligations for business could help ensure that minimum responsibilities will not be ignored, and avoids the stumbling of business and human rights through a moral maze.

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I have become increasingly convinced that the free market sometimes protects people better than legal frameworks. Of course some regulatory instruments are necessary to maintain the freedom of the market, prevent monopolies and maintain health, safety and environmental standards. Too often however government interventions involve the creation of subsidies or tariffs whose purpose is to protect current interests and are to the profound disadvantage of the poorer countries which desperately need access to markets if they are to improve their circumstances. Some tariff and subsidy interventions of this kind come at the behest of multinationals, but many more are put in place by governments for the short-term protection of domestic industries. In the developed world we need to realise that when we demand the protection of our farmers, or shipyards, or clothing industries we, not the multinationals, are guilty of jeopardising the prospects, and diminishing the social and economic rights of our brothers and sisters in the developing world. This is why I say that human rights, especially social and economic rights, are not just the business of business, nor the just business of government, domestically or internationally. Human rights are everybody's business because human rights apply to everybody and their implementation depends on everybody. The pri2e of freedom and justice for everyone has a price, but we have the opportunity to use the new means of travel, telecommunications and technology to cross the boundaries of culture, politics, religion and geography and ensure that this new millennium sees not just in a Universal Declaration of Human Rights, one of the great achievements of the 20th Century, but the universal implementation of human rights which must be the goal of the 21st.

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Freiheit bleibt ein sperriges Gut Hans D. Barbier* Freiheit, die ich meine. Damit ist in Deutschland in gutbürgerlicher Runde allemal ein ad-hoc-Ständchen zu organisieren. Jedenfalls ist das leichter getan als das Bürgertum für die Wahl der Freiheit als programmatischer Leitidee einer liberalen Ordnungspolitik zu gewinnen. Freiheit, Eigenverantwortung, Wettbewerb: der Liberalismus hat ein schönes Programm, doch es wird ihm — in Deutschland, aber nicht nur hier — zu Wahlterminen nicht gerade aus den Händen gerissen. Die Wirtschaftsund Sozialpolitik aus weniger liberalem Geiste begegnet zwar mannigfacher Kritik. Doch diese Kritik führt, einstweilen jedenfalls, nicht zu Wahlergebnissen, die der Freiheit, dem Wettbewerb und der Eigenverantwortung den Vorzug vor den etatistischen und korporatistischen Grundmustern des „Modell Deutschland" geben könnten. Auch aus gravierenden Fehlentwicklungen, die schlechter Ordnungspolitik geschuldet sind, sowie aus den drückenden Unsicherheiten, die in den Blaupausen des Sozialstaates vorgezeichnet sind, wächst dem Liberalismus nicht die Zustimmung zu, die nötig wäre, um seinen Einfluss auf die Politik zu vergrößern und zu verstetigen. Es ist nicht leicht, das zu ändern. Denn es ist gerade der Kern des liberalen Programms, der viele — auch betont bürgerliche — Wähler zögern lässt, den Liberalen ein starkes Mandat anzuvertrauen: eben das entschiedene Eintreten für die Freiheit. Die Freiheit des Marktes stößt auf Argwohn. Freiheit als Vorbedingung für eine Prosperität, an der auch diejenigen teilhaben können, die nicht selbst für sich sorgen können? Solidarität aus den Erträgen der Freiheit und des Wettbewerbs? Bis in gebildete Schichten hinein gelten Freiheit und Wettbewerb eher als Chiffren einer programmatisch angelegten Minderschätzung von Solidarität. Es können sich nicht allzu viele vorstellen, dass eine Gesellschaft, die die Wirtschafts- und Sozialpolitik konsequent an liberalen Grundsätzen ausrichten würde, es auch leichter hätte, die notwendigen Mittel für die Aufgehobenheit derjenigen aufzubringen, die in Zeiten rascher Veränderungen nicht mithalten können und die daher der Hilfe bedürfen. Die Freiheit wird weit hinter der Solidarität genannt, wenn angesichts der Misere des Arbeitsmarktes, der Instabilität der Vorsorgesysteme und des Rückgangs der Geburtenzahlen die Rückbesinnung auf „Werte" gefordert wird, die die Grundlage einer besseren Politik, eines erfolgreicheren Wirtschaftens der Gesellschaft als ganzer und einer allgemein lichteren Zukunftsperspektive für Land und Leute zu bilden hätten.

* Dr. Hans D. Barbier ist Vorsitzender des Vorstandes der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn.

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Geht es hier allgemein um den Wert der Freiheit? Oder scheint da ein Sonderurteil über Wert und Minderwert von Freiheit im Bereich des Wirtschaftlichen und des Sozialen auf? Warum hat ein politisches Programm dem Verdacht der sozialen Unaufrichtigkeit zu begegnen, das auf der eigentlich doch plausiblen Annahme beruht, Leistungen der Solidarität seien leichter und daher verlässlicher zu erbringen, wenn Freiheit und Wettbewerb im Dienste neuer Problemlösungen und kostengünstigen Wirtschaftens stehen? Jedenfalls mutet die Skepsis gegenüber Freiheit und Wettbewerb als den Orientierungsparadigmen eines Programms der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung erstaunlich an in einer Gesellschaft, die in zwei wesentlichen Bereichen ihrer über viele Jahrhunderte gewachsenen Kultur ausdrücklich und in gewollter Abgrenzung zu anderen Lehrgebäuden auf die Idee der Freiheit und auf die Praxis des Wettbewerbs setzt: im Gottesbild des Christentums und im Erkenntnisprogramm der Wissenschaft. In seiner Einfihrung in das Christentum nennt der Theologe Josef Ratzinger — heute Papst Benedikt XVI — „die Freiheitsidee das Kennzeichen des christlichen Gottesglaubens". Er sieht im christlichen Glauben eine „Philosophie der Freiheit" und „die Option für den Primat der Freiheit". Das ist nun sicherlich kein Stoff für einen handlichen Kompaktkanon der Allgemeinbildung. Aber es ist doch bemerkenswert, dass die aus der Sicht des Theologen so zentrale Bedeutung der Freiheit für das Gottesbild einer Weltreligion nicht mehr Platz geschaffen hat für die Anerkennung der Freiheit als Leitgröße in politischen Wahlentscheidungen; in EntscheidungsSituationen, in denen es doch — Umfragen zufolge — darum geht, „Werte" zu aktivieren, durch deren Leitkraft die Tagesentscheidungen von Parlament und Regierung eine spezifische Würde gewinnen. Anders gewendet: wenn der christliche Glaube die Option für den Primat der Freiheit ist, dann müsste man doch gerade in einer nicht nur mehr in historischer Perspektive christlich geprägten Umgebung die Marktwirtschaft als Optionsraum der Freiheit verständlich machen können. Und man müsste sie auf diesem Hintergrund zu einem politischen und auch zu einem sozialpolitischen Programm erheben dürfen, das sich nicht dauernd für seinen vermeintlichen Mangel an „Werten" — wie etwa des Sozialen und der Solidarität — zu entschuldigen hat. Es ist aber nicht so. Die christlich firmierenden Parteien tun sich in der Propaganda für die Marktfreiheit nicht gerade hervor. Auch der Rekurs auf die Grundlagen der Erkenntnis könnte dem Freiheitsparadigma zur Hilfe eilen. Freiheit und Wettbewerb sind die Ecksteine eines Erkenntnisprogramms wie es Karl Popper formuliert hat. Die Möglichkeit der Erkenntnis lebt von der Freiheit, Hypothesen zu formulieren. Erkenntnis braucht aber auch den Wettbewerb der Alternativen, an deren Erklärungsgehalt und vorläufiger Bestätigung sich jede Hypothese im Wettstreit mit jeder anderen zu messen hat. Ohne Freiheit und Wettbewerb gibt es in den Wissenschaften keine Kontrolle eines auch nur vorläufi-

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gen Erklärungserfolges und keinen Erkenntnis Fortschritt. Niemand im Kulturraum, den man ohne geographische Festlegung den „westlichen" nennt, käme heute noch auf die Idee, in der Freiheit und im Wettbewerb nicht die bedingenden und die bewegenden Kräfte der Erkenntnis zu sehen. Das Forschungsprogramm „Freiheit, Test, Widerspruch und Wettbewerb" gilt in seinen Grundzügen heute als Selbstverständlichkeit. Kein ernst zu nehmender Forschungspolitiker käme auf den Einfall, die Freiheit der Formulierung und des Prüfens von Hypothesen im Wettbewerb von Personen und Paradigmen mit dem Argument in Frage zu stellen, Freiheit und Wettbewerb führten beim aufklärungsheischenden Publikum zur „Verunsicherung" und sie diskriminierten kleine Forschergruppen, weil die mangels einer teuren Sachausrüstung nicht gegen Großeinrichtungen konkurrieren könnten. In der wirtschaftlichen Ordnungspolitik, vor allem wenn es dort um den Arbeitsmarkt und um die Einrichtungen der sozialen Sicherung geht, sind aber Argumente solcher Qualität an der Tagesordnung. Bis tief ins bürgerliche Publikum hinein herrscht die Vorstellung, von der Freiheit könnten nur die Starken profitieren, und daher sei es unsozial, mehr Freiheit gerade in einer Phase der Weltwirtschaft zuzulassen, in der neue Marktverhältnisse zur Unübersichtlichkeit und zur Verunsicherung führten. Solche Argumente gewinnen ein hohes Maß an emotional gesteuerter Zustimmung vor allem dann, wenn die Skepsis gegenüber der Freiheit der Märkte mit der Sorge um die Haltbarkeit der Solidarität begründet wird. Dies im öffentlichen Diskurs zurechtzurücken ist nicht leicht. Solange es darum geht, eine freie Welt als großen Raum der Optionen zu skizzieren, gibt es Zustimmung. Werden Freiheit und Wettbewerb dann aber auf Effizienz, wirtschaftlichen Erfolg und auf die knappheitsmildernde Allokationsleistung des Marktes konkretisiert, meldet sich Skepsis. Es ist die Unbestimmtheit der Detailergebnisse von Marktprozessen, die sich in der ordnungspolitischen Debatte als die Besorgnis vor einer dem Sozialen und der Solidarität entgegenstehenden „Unsicherheit" artikuliert. Die Aufgehobenheit in der Freiheit in der Erscheinungsform des Rechts auf individuelle Gestaltung wird eben deshalb nicht als Aufgehobenheit im Sinne des Sozialen wahrgenommen, weil das Ergebnis — hier also das gesamte Marktbild und die je eigene Position darin — nicht planerisch festgelegt und von keiner reglementierenden Macht garantiert wird. Es ist in einer dem etatistisch und korporatistisch verfassten Sozialstaat anhängenden Gesellschaft nicht verbreitet, die Freiheit des wirtschaftlichen Disponierens auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko als Voraussetzung für Würde zu sehen. Und es ist schwer zu vermitteln, dass nur in der Freiheit des Wettbewerbens um die richtige Antwort auf eine Herausforderung die Chance besteht, in einer sich rasch und bisweilen geradezu umbrechend verändernden Welt mit einem wirtschaftlichen Gesamtprodukt aufwarten zu können, das soziale „Aufgehobenheit" auch für die Erfolglosen zulässt.

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Die Sorge um die Aufgehobenheit ist legitim. Und es ist nicht erstaunlich, dass sie in politische Entscheidungen hineinwirkt. Wo stehe ich in der Verteilung? Wer steht mir im Risikofall zur Seite? An wen wende ich mich auf der Suche nach einem Arbeitsplatz? Wie verlässlich ist der Sozialstaat? In welchen vertrauenswürdigen Institutionen gibt er sich mir zu erkennen? Das sind Fragen, die vor allem zu Wahlterminen nach einer kompakten Antwort suchen. Diese Antwort und diese Institutionen gibt es aber gerade in Situationen des Umbruchs nicht. Das Werben für ein ordnungs-, wirtschafts- und sozialpolitisches Alternativprogramm der Freiheit im Wettbewerb wird dadurch indessen nicht leichter. Jedenfalls nicht in den Fristen und mit der Beschleunigung, die nötig wären, um die Zustimmung der Wähler für marktwirtschaftliche Reformen — etwa der Vorsorge und des Arbeitsmarktes — zu gewinnen, ehe der tradierte Sozialstaat die Steuerlasten weiter in die Höhe treibt, die Etats noch mehr überfrachtet und am Ende dann doch die ihm zugeschriebene Sicherungsleistung als Illusion offenbaren muss. Der Prozess dahin kann quälend lang sein. Das hat zwei Gründe. Mit der Freiheit ist es untrennbar verbunden, dass die Detailergebnisse ihres Waltens nicht voraussagbar sind. Schon das macht das erfolgreiche Werben um die Zustimmung des Publikums zu einem Programm der Freiheit schwer handhabbar. Dies umso mehr in der politischen Konfrontation mit interventionistischen Gestaltungsangeboten, die sich ihrer — „attraktiven, guten, gerechten, Zukunftseröffnenden" — Resultate stets gewiss sind. Der zweite Grund ist etwas weniger offensichtlich. Auf ihn hat Friedrich August von Hayek immer wieder hingewiesen. Gerade weil die Freiheit Entwicklungen zulässt, die wir nicht voraussagen können, wissen wir auch nicht, was wir verlieren, wenn wir die Freiheit beschränken oder ihre Beschränkung im politischen Prozess zulassen. Man könnte es auch so formulieren: da die Freiheit keine detaillierten Erfolgslisten vor sich herträgt, wissen wir nicht, was wir nicht bekommen, wenn wir ihr kein wirkmächtiges Mandat geben. Im Schatten dieses Nichtwissens driften Gesellschaften, die sich auf der Suche nach „Aufgehobenheit" an die überkommenen, im wesentlichen umlagefinanzierten Sozialeinrichtungen klammern, in die Sozialautokratie eines zunächst erdrückend besteuernden, dann zunehmend hastiger umverteilenden, schließlich offen freiheitsberaubenden Staates. Der Staatsrechder Ernst Wolfgang Böckenförde hat darauf hingewiesen, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Das sei das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen sei. In die Liste solcher nicht staatlich bereitstellbarer Voraussetzungen gehören Bürgersinn, die Bereitschaft zur Loyalität, die Bindekräfte gesellschaftlicher Kohärenz. Was immer man aus dem Böckenförde-Theorem lernen kann: es gilt als Befund und Problem wohl Vergleichbares für den Sozialstaat. Auch er lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Um Böckenfördes Sprachspur weiter zu folgen: Das

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ist das große Wagnis, das der Sozialstaat um der Solidarität willen eingegangen ist. Hier geht es um die Eigenverantwortung in Freiheit und Wettbewerb, um den Verzicht auf die Ausbeutung der von der Gesellschaft angebotenen Solidarität. Man muss hinzufügen: der wuchernde Sozialstaat kann diese Voraussetzungen nicht nur nicht garantieren; gerade mit seinen Einrichtungen bedroht er sie — und zwar nicht nur gelegentlich und akzidentiell, sondern systematisch und zerstörerisch. Wo könnte die Chance der Umkehr liegen? Im liberalen Programm, also in der Freiheit, im Wettbewerb, in der Eigenverantwortung. In der Trias liegt der Wert des Programmangebotes. Ohne Eigenverantwortung ist Freiheit nicht denkbar, denn wie anders als in Eigenverantwortung sollte sie wahrgenommen werden? Und ohne Wettbewerb wäre sie diskriminierend: Freiheit ist nur akzeptabel als Freiheit für alle. Werben also für die Freiheit. Eine Selbsdäuferaktion ist das nicht. Freiheit ist und bleibt ein sperriges Gut. Die Wahrscheinlichkeit, mit ihr im Gedränge volksparteilicher Alternativangebote anzuecken, ist nicht gering. Doch für die Besserung der wirtschaftlichen und der sozialen Verhältnisse, für die Aufhellung der Zukunftserwartungen des Landes und der Leute wäre nichts gewonnen, wenn eine Anpassung an den gefalligen Rundschliff sozialstaatlicher Unaufrichtigkeiten dem Programm der Freiheit seine Kanten nähme. Zum Weiterlesen: Böckenförde, Ernst Wolfgang, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Säkularisation und Utopie. Erbacher Studien, Stuttgart 1967. von Hayek, Friedrich A., Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 2001. Hume, David, Essays, Moral and Poütical. London 1741 /42. Popper, Karl, Logik der Forschung, Tübingen 1976. Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum, München 2005.

Hans-Jürgen Beerfeltz: Der Freiheits-Kämpfer

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Der Freiheits-Kämpfer Hans-Jürgen Beerfeltz* Die meisten Teilnehmer an öffentlichen Debatten in Deutschland unterwerfen sich oft in vorauseilender „poütical correctness" der vermeintlichen Mehrheitsmeinung. Besonders auffällig ist das auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Allein die Trennung dieser beiden Bereiche, die besonders bei der so genannten Arbeitsmarktpolitik schon absurde Züge trägt, zeigt, wie weit sich der herrschende Konsens von der ökonomischen Vernunft entfernt hat. Das gilt auch für die Föderalismusreform, wo unter Verweis auf die notwendige Solidarität zwischen den Ländern der Erhalt eines Systems der Verantwortungslosigkeit propagiert wird oder für die Steuerpolitik, wo ständig fehlgeleitete Gerechtigkeitsargumente in einen unsinnigen Gegensatz zur Vereinfachung des Systems und zur Entlastung der Bürger gebracht werden. Ein weiteres Stereotyp ist, und dieser Satz darf in kaum einer Talkshow fehlen, dass wir selbstverständlich keine amerikanischen Verhältnisse wollen - wie auch immer diese tatsächlich aussehen. Otto Graf Lambsdorff gab nie viel auf derartig vorgefertigte Meinungsbausteine. Er bewahrte sich seine intellektuelle Unabhängigkeit, gerade weil er prinzipienfest ist, seinen ganz eigenen Kompass hat und sich auch deshalb kämpferisch jeder Meinungs-Tyrannei von Mehrheiten widersetzt. Sein Ziel war es stets, eine auf den Grundideen von Freiheit und Wettbewerb basierende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu fördern. Eine Ordnung, die die individuelle Freiheit garantiert, ist nicht nur moralisch unbedingt geboten, sie ist auch die Grundvoraussetzung dafür, dass sich unser Land in jeder Hinsicht friedlich, fortschrittlich und gerecht weiterentwickeln kann. Sie ist die Voraussetzung für Freiheit und Wohlstand. Die Uberzeugung, dass es keinen Gegensatz zwischen der freien Marktwirtschaft und grundlegenden moralischen Prinzipien gibt, teilt er mit einer langen Reihe liberaler Denker, von Adam Smith bis Friedrich August von Hayek. Deshalb passt er auch nicht in die so viel verwendeten und doch so irreführenden Unterscheidungsschemata Wirtschaftsliberale/Bürgerrechtsliberale oder Wirtschaftsliberale/Sozialliberale. Für ihn sind wirtschaftliche Freiheit und individuelle Freiheit untrennbar. Und für ihn ist auch ganz klar: Nur eine freiheitliche Wirtschaftsordnung ist in der Lage, die materiellen Voraussetzungen für notwendige sozialstaatliche Vorsorge und Fürsorge zu schaffen, deren Notwendigkeit sie langfristig drastisch reduziert.

* Hans-Jürgen Beerfeltz ist Bundesgeschäftsführer der FDP.

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Das tiefe Verständnis marktwirtschaftlicher Prinzipien, von Wettbewerb und privatem Eigentum hat seine Positionen immer geprägt. Das bringt in Deutschland zunächst keine Sympathien, wohl aber Respekt, den Otto Graf Lambsdorff gerade durch seine Klarheit für sich und für unsere FDP erkämpft. Darin unterscheidet er sich von vielen anderen. Der Kampf gegen den in Deutschland weit verbreiteten ökonomischen Analphabetismus mag oft hoffnungslos erscheinen, wenn man sich viele Parteiprogramme, politische Kommentare und das gegenwärtige Regierungshandeln anschaut. Da wird mit dem Vorwurf der fehlenden Gerechtigkeit — die man sicherheitshalber nicht näher bestimmt - noch jeder Reformansatz denunziert. Da redet man von Solidarität, wenn man doch Gleichmacherei meint und Wettbewerb verhindern will. Das Denken in Ordnungen, die die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize für eigenverantwortliches Handeln bieten, ist in Deutschland immer noch eine Minderheitsposition. Doch davon lässt sich Graf Lambsdorff nicht beirren. Immer wieder weist er auf weit verbreitete Trugschlüsse hin. Immer wieder macht er deutlich, dass nur im Wettbewerb bessere Lösungen gefunden werden können und die gesellschaftlich und wirtschaftlich wirksamsten Leistungsanreize bestehen. Und immer wieder zeigt er, dass marktwirtschaftliche Prinzipien — und nur sie — das moralische Fundament einer freien Gesellschaft erhalten können. Eigentum ist für ihn nicht — wie für viele andere in Deutschland - ein Schimpfwort, etwas das durch Politik und Moral gebändigt werden müsse. Ganz im Gegenteil: Der Schutz des individuellen Eigentums ist die Basis einer freien Gesellschaft. Mit dieser an Prinzipien und nicht an tagespolitischer Opportunität orientierten Herangehensweise schien Graf Lambsdorff häufig da zu sitzen, wo Marion Gräfin Dönhoff die Liberalen immer gesehen hat: zwischen allen Stühlen. Doch dieses Bild ist schief: Er sitzt nicht statisch an einem Ort, sondern begibt sich absichtsvoll in das Zentrum wichtiger Debatten. Dort focht und ficht er für seine Meinung, auch wenn er sich damit selbst oft scharfer Kritik aussetzt. So setzte er im Wendepapier, dass die Grundlage des Koalitionswechsels im Jahr 1982 war, Akzente, die vielfach erst später von anderen geteilt, aber bis heute von einigen immer noch nicht verstanden wurden. Er nutzt dabei eine Sprache, die nicht verschleiert und deshalb vielfach als schonungslos, aber dafür umso treffender empfunden wird. Der Zeitgeist war nie sein Maßstab. Mochten andere gern dem Geist der Zeit folgen, er wollte der Zeit mehr Geist geben — auch gegen größere Widerstände. Der Unabhängigkeit und Prinzipienfestigkeit von Otto Graf Lambsdorff ist die FDP übrigens mehr gefolgt als mancher vermuten dürfte. Die gewachsene eigenständige inhaltliche Substanz der FDP ist wichtiger Teil heutiger Wahlerfolge. Sie geht auf Otto Graf Lambsdorff und sein kraftvolles Selbstbewusstsein zurück. Sein Credo hat auch eines der zentralen 4 Fundamente des modernen Liberalismus in den Wiesbadener Grundsätzen der FDP von 1997 geprägt, mich als Mitautor zu „Freiheit ist Vielfalt" inspiriert: „Viel-

Hans-Jürgen Beerfeltz: Der Freiheits-Kämpfer

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falt in der Marktwirtschaft heißt Wettbewerb. Vielfalt in der Gesellschaft heißt Toleranz. Die Dynamik der Freiheit entfaltet sich gleichermaßen auf dem Markt der Ideen, Entwürfe und Lösungen, wie auf dem Markt der Interessen und Güter." Wenn Otto Graf Lambsdorff ein Thema als wichtig erkannt hat, verfolgt er es mit Leidenschaft und Einsatz, vor allem aber mit großem Wissen und geschliffenen Argumenten. Im letzten Jahrzehnt, in seiner Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, waren es vor allem zwei Themenkomplexe, fair die er sich stark engagierte: die Föderalismusreform in Deutschland und der globale Kampf für individuelle Freiheit und Freihandel. Gerade das zweite Thema zeigt, wie er sich über weit verbreitete Stereotype hinwegsetzt. Menschenrechte und wirtschaftliche Freiheit sind aus liberaler Sicht kein Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig. Graf Lambsdorff ist ein überzeugter Freihändler, er unterstützt aber auch vorbehaltlos den Kampf für die Menschenrechte, für Toleranz und offene Gesellschaften. Seine Kompromisslosigkeit in den Grundpositionen hat ihm auch in der FDP nicht nur Zustimmung gebracht. Er bereichert heute die liberale Partei als einer ihrer Ehrenvorsitzenden genauso wie er es über Jahrzehnte als aktiver Politiker getan hat. Auch hier wird er nicht müde, immer wieder auf die Prinzipien einer freiheitlichen Ordnung zu verweisen, wenn seine Parteifreunde sich aus seiner Sicht zu weit von ihnen entfernen. Er verweist auf die philosophischen und ökonomischen Grundprinzipien des Liberalismus, wenn der tagespolitische Opportunitätsdruck auf seine Parteifreunde besonders groß ist. Graf Lambsdorff tritt für eine konzeptionelle Politik mit eigenständiger Substanz ein, die auch die Auseinandersetzung, den Wettbewerb um die richtige Lösung nicht scheut. So hat er auch die eigenen Positionen zu Sachfragen oft weiterentwickelt. Das war z. B. beim Thema Föderalismusreform der Fall. Hier war er auch ein Vorreiter für die FDP, hier hat er wesentliches dafür geleistet, das die FDP heute die einzige Partei ist, die konsequent auf das Subsidiaritätsprinzip und den Wettbewerb zwischen den Ländern und Gemeinden setzt. Das ist wiederum moralisch und ökonomisch geboten: Nur dann, wenn alle Ebenen eigene, klar abgegrenzte Kompetenzen und die dazu gehörige Steuerhoheit haben, können sie wirklich verantwortlich handeln und für ihr Handeln auch verantwortlich gemacht werden. Nur dann bestehen auch Anreize zur Verbesserung der eigenen Situation, zur Sparsamkeit genauso wie zur Suche nach besseren Lösungen. Seine Prinzipienfestigkeit, die immer wieder in konkrete Vorschläge und Konzepte mündete, steht im Gegensatz zur Beliebigkeit der Regierungspolitik, wie wir sie heute auf vielen Feldern beobachten müssen. Diese Politik des Aushandelns und des Gezänks über Details, hinter dem alle Prinzipien verschwinden, ist eine der Hauptursachen dafür, dass die Menschen in Deutschland das Vertrauen in die Politik immer mehr verlieren. Sie erleben Politik als Gefeilsche um Interessen und Ansprüche von

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Freiheit und Menschenrechte

allen möglichen Interessengruppen. So freuen sich ungezählte Lobbyisten heute, wenn sie durch intensive Anstrengungen dazu beigetragen haben, die Interpunktion eines Gesetzentwurfes „nachhaltig" beeinflusst zu haben. Das fuhrt zu Distanzierung und Misstrauen bei vielen Menschen. Sie verlieren nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern auch in sich selbst. Dagegen ist das Vertrauen in die Kräfte jedes Einzelnen ein Grundmotiv liberalen Denkens. Es muss wieder zur Basis der Politik in Deutschland werden. Das geht nur in einem breiten Dialog, in dem wir das Bewusstsein für die Grundlagen unseres Wohlstandes und unseres toleranten und friedlichen Zusammenlebens wieder schärfen. Deshalb waren und sind die Beiträge von Otto Graf Lambsdorff zur politischen Debatte immer auch ein Angebot zum Dialog. Seine Positionen sind klar und verständlich, sie sind moralisch und ökonomisch fundiert. Man muss sie nicht teilen, aber man kann sie schwerlich ignorieren. Deshalb wünsche ich mir, und ich glaube damit nicht nur im Sinne der Liberalen zu sprechen, zweierlei: Möge Graf Lambsdorff noch möglichst lange die politische Debatte in unserem Land bereichern, und mögen sich möglichst viele Politiker der jüngeren Generation ein Beispiel an der Klarheit seines Positionen und seiner Sprache nehmen. In Deutschland wird Marktwirtschaft weiterhin eine Denunziationsvokabel für die linksintellektuelle Meinungshegemonie bleiben. Marktwirtschaft steht mitten in einem Kulturkampf in einem Land, wo große Mehrheiten dazu neigen, unsere großen Probleme auf zuviel Markt zurückzuführen und nicht etwa auf zuviel Staat. Nur wenn wir diesen Kulturkampf gewinnen, gibt es auch wieder klare Chancen auf bürgerliche politische Mehrheiten. Zu viele in Deutschland beten immer noch die „Staatsquote" an. Es muss eine politische Kraft geben, die auf die Erhöhung der „Freiheitsquote" in Deutschland setzt. Dafür wird Otto Graf Lambsdorff unsere wichtigste Speerspitze bleiben.

Rolf Berndt: Zur Bedeutung des Engagements für Tibet

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Zur Bedeutung des Engagements für Tibet Rolf Berndt* Otto Graf Lambsdorff verkörpert wie kein anderer das Gleichgewicht rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Prinzipien. Für Liberale ist das kein Widerspruch, sondern es sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille, derjenigen der Freiheit. Sie ist die Richtschnur seines politischen Lebens. Der „Marktgraf', von Herbert Wehner despektierlich gemeint und in der Öffentlichkeit zum politischen Adelsütel mutiert, ist nur die eine Seite. Ihren Wert erhält die Marktwirtschaft erst durch die Rechtsstaatlichkeit. Die Herrschaft des Rechts beinhaltet die Herstellung und Garantie der Menschen- und Minderheitenrechte, im täglichen Leben und in Zukunft. Der Name Otto Graf Lambsdorff steht deshalb genauso für die Forderung nach Marktwirtschaft und Wettbewerb wie für Kritik an Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien. Beide Themen bestimmen die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung weltweit. Eine hervorgehobene Position beim Einsatz für Menschenrechte hat der Freiheitskampf des tibetischen Volkes und die Zusammenarbeit mit dem tibetischen Exilparlament und dem Dalai Lama. Seit 15 Jahren arbeiten die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Assembly of Tibetan Peoples Deputies zusammen. Dieses Engagement für die Rechte der Exil-Tibeter, in ihre Heimat zurück zu kehren, ihre Kultur, ihre Sprache, ihren Glauben zu leben, hat gleichzeitig das Ziel, die Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft zu vertiefen. Partner der Stiftung ist das 1991 gegründete Tibetan Parliamentary and Policy Research Centre in New Delhi. Seine zentralen Arbeitsfelder sind: •

Politische Bildung für einflussreiche, politisch engagierte Tibeter und für politische Nachwuchskräfte



Zusammenarbeit mit indischen Meinungsmachern, wie Parlamentariern, bedeutenden Think Thanks und anerkannten Journalisten



Informationen internationaler Unterstützer

Für den Erfolg des tibetischen Anliegens ist internationale Aufmerksamkeit essentiell. Die Zusammenarbeit mit den Exil-Tibetern in Indien ergänzt die Stiftung deshalb durch Veranstaltungen und Konferenzen in Europa zur Schaffung internationaler Öffentlichkeit. So fanden die drei letzten Tibet Support Group Conferences, bei * Dr. h. c. Rolf Berndt ist Geschäftsfiihrendes Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung.

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denen Exil-Tibeter und ihre weltweiten Unterstützergruppen das weitere Vorgehen strategisch abstimmen, 1996 im Bonner Wasserwerk, 2000 in Berlin und 2003 in Prag statt. Die nächste Konferenz ist im Mai 2007 in Brüssel geplant. Besonders 1996, als das deutsche Außenministerium die vom Entwicklungsministerium zugesagten Mittel zurückzog, die Stiftung in einer bislang einmaligen Spendenaktion 240.000 DM einwarb und der Deutsche Bundestag den Konferenzort im ehemaligen Plenarsaal zur Verfugung stellte, war das Medieninteresse überwältigend. Mehrfach war zudem der Dalai Lama Gast auf Veranstaltungen der Stiftung in Bonn und Berlin, dabei besuchte er 1996 auch die Bundesgeschäftsstelle der FDP und sprach mit dem Präsidium unter Vorsitz des damaligen Bundesvorsitzenden Wolfgang Gerhardt im Thomas-Dehler-Haus. Die großen Besucherzahlen und der Andrang der Medienvertreter waren und sind Ausdruck der Wertschätzung, die der Dalai Lama in Deutschland und weltweit erfährt. Die Zusammenarbeit mit den Tibetern im Exil ist Teil der Menschenrechts- und Minderheitenarbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung. Das Engagement von Otto Graf Lambsdorff als Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung ging dabei weit über das definierte Ziel hinaus. Mit dem Gewicht seiner Stimme, der Autorität seiner Persönlichkeit und vor allem mit seinen weltweiten Kontakten kämpft er für das Anliegen der Tibeter. Mit dem Dalai Lama verbindet ihn eine respektvolle Freundschaft und mit dem unterdrückten tibetischen Volk eine tiefe Sympathie. Er schildert die Lage der Tibeter in Redebeiträgen, Interviews und Briefen, fordert ihre Rechte ein und bespricht den Fortgang der Entwicklungen persönlich mit dem Dalai Lama. Diese politischen Gespräche fanden seit 1994 regelmäßig in Deutschland und 2001 bei seinem Besuch in Dharamsala, Indien, statt. Die Stiftung und Otto Graf Lambsdorff haben sich durch konsequente und kontinuierliche politische Zusammenarbeit mit den Tibetern weit über die liberalen Parteigrenzen hinaus hohes Ansehen erworben. Der Dalai Lama hat deshalb den Light of Truth Award, die höchste Auszeichnung der International Campaign for Tibet, am 16. Juni 2005 an Otto Graf Lambsdorff und die Friedrich-Naumann-Stiftung verliehen. Wolfgang Gerhardt wird als neuer Stiftungsvorsitzender das Engagement mit gleicher Qualität fortfuhren. Der weltweiten Anerkennung steht die Schließung des Stiftungsbüros in Peking durch die chinesische Regierung entgegen, die den Verlust an Einwirkungsmöglichkeiten in einer sich dynamisch entwickelnden und öffnenden Wirtschaft bedeutet. Auslöser für die Ausweisung unserer Mitarbeiter aus China war die Tibet-Konferenz im Jahr 1996. Wegen ihrer konsequenten Haltung in der Tibet-Frage blieb der Stiftung die Wiedereröffnung eines Büros bis heute verwehrt. Auch stiftungsintern wird vereinzelt Kritik am Tibet-Engagement geäußert, begründet mit finanziellen Ein-

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schränkungen zu Lasten anderer Projekte oder mangelnder Übereinstimmung der Tibeter mit liberalen Werten. Die Leistungen der Tibeter sind erstaunlich. Die Exil-Tibeter haben sich in Indien eine wirtschaftliche Existenz und ein funktionierendes Bildungssystem aufgebaut, einschließlich der Förderung behinderter Tibeter. Abgesehen von den Mönchen konnten nur 5 % der Menschen lesen und schreiben. Die Exil-Tibeter haben in der zweiten Generation nicht nur die vollständige Alphabetisierung erreicht, sondern sich auch demokratisiert. Eine Demokratisierung, die noch im Prozess ist. Durch den schrittweisen Abbau der eigenen Macht und Privilegien hat der Dalai Lama die Entstehung eines Exilparlaments gefördert. Dieses Jahr wurden in Urwahl 43 Abgeordnete von 82.620 registrierten wahlberechtigten Exil-Tibetern gewählt. Der Dalai Lama und Prof. Samdong Rinpoche, der wiedergewählte Chairman of the Cabinet of the Central Tibetan Administration, sind die fuhrenden Köpfe der Exil-Tibeter. Das Leitmotiv war von Beginn an, die tibetische Kultur zu erhalten und gleichzeitig die tibetische Gesellschaft zu modernisieren. Diese Veränderungen sind Voraussetzung für den Erhalt der Identität und den Willen zur Rückkehr, denn sie bilden die Grundlage für ein neues autonomes Tibet. Außerdem wirken sie der chinesischen Propaganda entgegen, die behauptet, dass es den Tibetern um eine Wiederbelebung des alten tibetischen Gesellschaftssystems gehe. Das Exilparlament unterstützt den Weg der Gewaltfreiheit des Dalai Lama. Diese Haltung hat angesichts eklatanter Menschenrechtsverletzungen in Tibet hohen Respekt verdient. Auch unter den Tibetern, gerade der Jugend, ist die Gewaltlosigkeit nicht unumstritten. Der tibetische Jugendkongress beispielsweise fordert die völlige staatliche Loslösung Tibets und schließt Gewaltanwendung nicht aus. Täglich treffen Flüchtlinge, darunter auch misshandelte, in Dharamsala ein, die den Himalaja zu Fuß durchqueren, um der Verfolgung in Tibet zu entgehen und in Freiheit leben zu können. Eltern bringen ihre Kinder, um ihnen das Aufwachsen und die Erziehung in der Gemeinschaft der Tibeter und ihrer Kultur zu ermöglichen. Sie nehmen in Dharamsala Abschied, nicht immer in der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Der Dalai Lama und das Exilparlament stehen für den konsequenten Versuch einer friedlichen Konfliktlösung. Die Tibeter folgen damit einem Prinzip der Konfliktbewältigung, das für Liberale zentral ist, nämlich die Auseinandersetzung mit friedlichen Mitteln, mit maßvollen Forderungen, die Chinas Interessen respektieren, die die Ein-China-Theorie nicht in Frage stellen. Was passiert, wenn dieser friedliche Weg scheitert? Welches Zeichen wird damit für die Austragung anderer Konflikte gesetzt? Bleibt nur noch Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung übrig?

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Die tibetische Identität, die nicht als etwas statisches, sondern als Prozess der steten Veränderung begriffen werden sollte, muss als Teil der Weltkultur erhalten bleiben. Hierfür sind die politische Selbstbestimmung und der Schutze der Menschenrechte der Tibeter unausweichlich. Die Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützt die Tibeter bei ihrem friedlichen Weg. Dieser friedliche Weg ist Voraussetzung unseres Engagements. Um erfolgreich zu sein, ist internationale Unterstützung notwendig. Sie ist eine der wenigen Faktoren, die China dazu bewegen könnte, eine Verständigung mit dem Dalai Lama zu suchen. Seit dem Jahre 2002 finden Gespräche zwischen Chinesen und Exil-Tibetern statt. Der 5. Gesprächsrunde im Februar 2006 zwischen Repräsentanten beider Seiten wird eine 6. folgen. Substantielle Fortschritte über den bisher verfolgten Middle Way Approach der Tibeter wurden offensichtlich nicht erzielt. Aber man spricht wenigstens miteinander. Die chinesische Seite setzt auf Zeitgewinn, auf das Altern des Dalai Lamas und sein Ableben. Einen wichtigen Faustpfand hält sie ohnedies in der Hand, den Panchen Lama. Seit 1995 wird er von China an unbekanntem Ort mit seinen Eltern festgehalten. Weshalb wohl? Jeder weiß es. Alle Anfragen nach ihm, auch von UN-Seite, blieben unbeantwortet. China setzt also auf Zeit, nimmt mögliche heftige Unruhen nach dem Ableben in Tibet in Kauf. Rechnet China mit einem dann entstehenden Vakuum? Wie lange noch? China ist trotz seiner beeindruckenden wirtschaftlichen Entwicklung und seiner Reformdynamik eine Ein-Parteien-Diktatur. Wachstumsraten von 10 % und die Herrschaft der kommunistischen Partei sind auf Dauer unvereinbar. Es braucht die Kontinuität dieser Wachstumsraten, um den sozialen Frieden zu erhalten. Dazu gehört es, nach dem faktischen Ende vieler Staatsbetriebe und dem Verlust der Ansprüche der dort beschäftigten Menschen wieder eine Altersversorgung aufzubauen. Mit wirtschaftlichem Wachstum, Öffnung der Märkte, neuen Mittelschichten, weltweiter Kommunikation und Globalisierung entstehen gleichzeitig Demokratisierungsprozesse, die Mitsprache und politische Rechte einfordern und sich der staatlichen Kontrolle aller Lebensbereiche mehr und mehr entziehen. Noch ist die KP in der Lage, einzelne Probleme mit singulären Eingriffen zu lösen. Einen Flächenbrand wird sie angesichts der demographischen Entwicklung, dem Fortschreiten der Marktwirtschaft, der damit einhergehenden Entwicklung zur Anwendung rechtsstaatlicher Prinzipien nicht löschen können. Die Führung der KP in China steht in einem für sie gefährlichen Dilemma. Die olympischen Spiele 2008 werden dieses Dilemma für die Führung des Landes verstärken. Die gesuchte Weltoffenheit wird mit einem Brennglas die Schwachstellen offenbaren, nicht nur in den großen Städten des Landes, sondern auch in den Provinzen, wo die Wachsamkeit über die „Störung der öffentlichen Ordnung" besonders ausgeprägt ist. Das Brennglas wird auf den Rechtsstaat und den Umgang mit

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Menschenrechten gerichtet sein. Mit einem nur deklamatorischen Bekenntnis zum Verfassungsstaat ist kein Staat zu machen. Nicht nur die Tibeter sind unter Zeitdruck. Die Führung Chinas ist es ebenso. Grundlegende Veränderungen in China sind eine notwendige Basis für erfolgreiche Verhandlungen. Europa hat seine Spaltung überwunden. Deutschland ist wiedervereint. Die Exil-Tibeter wollen in ihre Heimat zurück. Sie wollen ihre kulturelle, religiöse, sprachliche und gedankliche Freiheit. Sie erkennen die Ein-China-Theorie an und verlangen nicht die Unabhängigkeit, sondern religiöse und kulturelle Autonomie. So schwierig ist eine Lösung nicht! Es ist Zeit für die Entwicklung einer flexibleren Strategie — auf beiden Seiten.

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Freiheit. Einige grundlegende Anmerkungen Für Otto Graf Lambsdorff zum 80. Geburtstag Ralf Dahrendorf* Definition Unter Freiheit verstehen wir die Abwesenheit von Zwang. Menschen sind frei in dem Maße, in dem sie in der Lage sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ein Zustand der Freiheit bietet die Bedingungen, die Zwang auf ein Minimum reduzieren. Der Liberalismus zielt auf ein Maximum an Freiheit unter gegebenen Beschränkungen. Der moderne Begriff der Freiheit hat zwei Hauptmerkmale: er bezieht sich auf Individuen und beansprucht universale Geltung. Nur Individuen können frei sein. Es ist metaphorische Sprache, von einem „freien Volk" oder einem „freien Land" zu reden, es sei denn man bezieht sich ausdrücklich auf die „Verfassung der Freiheit". Alle Menschen haben ein Recht, frei zu sein. Obwohl Aristoteles der erste Denker war, der die Freiheit als Zweck der Politik vertrat, zeigt seine Unterscheidung zwischen den „natürlicherweise Freien" und denen, die „von Natur aus Sklaven" sind eine vormoderne Denkweise. Alle Menschen sind Wesen, die ihr eigenes Leben zu leben haben. „Das ist die Freiheit, wie Liberale sie in der modernen Welt verstanden haben, von den Tagen des Erasmus bis in unsere Zeit." (I. Berlin) Freiheit als Abwesenheit von Zwang ist der Kern des Begriffs, aber nur der Ausgangspunkt der (politischen) Theorie der Freiheit. Auch abgesehen von den Beschränkungen menschlichen Verhaltens, die nicht sozial sondern natürlich sind, ist Zwang durch andere eine schlichte Tatsache und daher ein notwendiges Element des Gesellschaftsvertrages. Ein großer Teil der Freiheitsdiskussion in den letzten zwei Jahrhunderten hat es daher nicht mit der Idee der Freiheit zu tun, sondern mit ihrem Nutzen bei der Anwendung auf die reale Welt. Hier haben die Mehrdeutigkeiten und daher die Auseinandersetzungen über die Freiheit ihren Ursprung. Fünf Themen solcher Auseinandersetzungen verdienen besondere Aufmerksamkeit. Die Verfassung der Freiheit Das erste Thema ist das der unvermeidlichen Begrenzungen der Freiheit in menschlichen Gesellschaften. An welchem Punkt gerät die Freiheit einer Person in Konflikt * Lord Dahrendorf, Professor Dr., ist Mitglied des House of Lords und seit Januar 2005 Visiting Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

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mit der Freiheit anderer? Welche Beschränkungen der unbegrenzten Freiheit müssen daher akzeptiert werden und wie können diese akzeptabel werden für diejenigen, die Freiheit über alle anderen Werte stellen? Fragen dieser Art liegen der alten Debatte über den „Gesellschaftsvertrag" zugrunde. Seit dem 17. Jahrhundert haben Autoren zum Zweck dieser Debatte sehr unterschiedliche Formen des „Naturzustandes" angenommen, von Thomas Hobbes' „Krieg aller gegen alle", der in seine Schranken gewiesen werden muss, bis zu Jean-Jacques Rousseaus arkadischem Zustand, der durch die Beseitigung der Hindernisse der Zivilisation wiederhergestellt werden muss („Menschen sind frei geboren, aber überall liegen sie in Ketten"). Was immer man bevorzugt — und offenkundig sind alle „Naturzustände" Fiktionen für Zwecke der Analyse - , es ist klar, dass Freiheit eingebunden sein muss in die Verfassung der Freiheit. The Constitution of Liberty ist der Titel von Friedrich von Hayeks großem Traktat über das Thema. Für Hayek ist die Verfassung der Freiheit jene grundlegende Übereinkunft in menschlichen Gesellschaften, die die Grenzen der Freiheit definiert. Sie kann eine geschriebene oder ungeschriebene Verfassung sein, aber im Hinblick auf die Freiheit muss sie sicherstellen, dass Zwang auf einem akzeptablen Minimum gehalten wird. Die Verfassung der Freiheit hat zwei Hauptelemente. Eines davon ist das Recht, und vor allem die Herrschaft des Rechts. Alle Gesetze bedeuten ein Maß an Zwang. Alle Gesetze sind also Begrenzungen der Freiheit. Der Test dafür, ob sie akzeptabel sind, ist daher, ob solche Begrenzungen auf nachweislich notwendige Elemente beschränkt bleiben oder über diese hinausgehen. Der Gedanke der Herrschaft des Rechts (rule of law) fugt solchen inhaltlichen Erfordernissen die formale, aber entscheidende Insistenz auf der höchsten Legitimität des Rechts hinzu. Niemand steht über dem Gesetz; das Recht „gehört" allen freien Bürgern. Wo es Recht gibt, gibt es indes auch Macht. Gesetze müssen erlassen und erzwungen werden. Sie entstehen und bestehen nicht in einem Machtvakuum. Das zweite Hauptelement der Verfassung der Freiheit ist daher die Art und Weise, in der Macht organisiert und, wichtiger noch, gezügelt wird. Hier liegt die Verbindung von Freiheit und Demokratie. Demokratie definiert Legitimität durch die Zustimmung des Volkes — oder zumindest durch das Fehlen einer ablehnenden Mehrheit —, die durch Institutionen wie Wahlen, Parlamente, auch Volksabstimmungen garantiert wird. Sie macht Veränderungen ohne Gewaltsamkeit möglich. Sie ist daher ein nützliches Instrument für die Kontrolle und Begrenzung der für die Herrschaft des Rechts nötigen Machtausübung. Absolute Freiheit heißt Anarchie. Eine anarchische Strähne gehört immer zum Gedanken der Freiheit. Damit aber Freiheit wirksam und wirklich wird, muss sie verfasst sein. Regierung — „bürgerliche Regierung", um John Lockes Ausdruck zu ver-

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wenden — ist nötig. Es gibt keine Freiheit ohne Staat. Die Frage ist daher: wie viel Staat, und wie soll dieser organisiert sein? Das ist die institutionelle Seite der anderen Frage: wie viel Zwang lässt sich rechtfertigen? Das fuhrt uns 2urück zu den Begriffen der Freiheit. Zwei Begriffe der Freiheit Isaiah Berlins Essay mit dem Titel „Two Concepts of Liberty" (dem er in seinem Buch Four Essays on Liberty wichtige Verbesserungen und Vorbehalte hinzufügte) hat die Debatte nicht nur in der angelsächsischen Welt beeinflusst. Der Abschnitt über die von Berlin so genannte „negative Freiheit" ist ein ausgezeichnetes und in mancher Hinsicht originelles Resümee oder Idee der Freiheit in der Tradition von John Locke und John Stuart Mill, Benjamin Constant und Alexis de Tocqueville. Abwesenheit von Zwang bedeutet, dass es eine streng „private" Sphäre gibt, „die unter keinen Umständen verletzt werden d a r f . Sie liegt prinzipiell außerhalb der Sphäre öffentlicher Institutionen. Im Übrigen definiert Berlin die individuelle Freiheit in einer Weise, die der hier vorgeschlagenen sehr ähnlich ist. Berlin fügt einen Punkt hinzu, der hier nicht verfolgt werden soll, obwohl er wichtig ist. Er argumentiert, dass „negative Freiheit" nicht oft „einen Schlachtruf für große Massen der Menschheit gebildet hat. Der Wunsch, nicht von anderen beeinträchtigt zu werden, für sich selbst verantwortlich zu bleiben, ist ein Zeichen hoher Zivilisation sowohl für Individuen als auch für Gemeinwesen." Vielleicht hätte Berlin hinzufügen sollen: in normalen Zeiten. Als totalitäre Staaten zu bröckeln begannen (wie etwa 1989) wurde elementare Freiheit sehr wohl ein Schlachtruf für viele. Indes gilt Berlins Hauptinteresse der Unterscheidung von „negativer" und „positiver Freiheit". Verfechter der positiven Freiheit haben für Berlin ein anderes Menschenbild. Für sie sind Menschen nicht Herren ihres Geschicks, beschränkt nur durch natürliche Grenzen (wie die Unfähigkeit, drei Meter hoch zu springen), sondern Teil eines größeren Ganzen, eines Stammes, einer Nation, oder gefesselt an den Gang der Geschichte durch einen „Weltgeist". Ihre Freiheit besteht im Akzeptieren der Forderungen dieser „höheren" Kräfte, also in der Einsicht in die Notwendigkeit. Berlin verwirft diese Vorstellung, so wie es Karl Popper in seiner vernichtenden Kritik von Piaton, Hegel und Marx getan hat (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde). Solches Stammesdenken oder solcher Historizismus diente tatsächlich der Rechtfertigung der Beseitigung von Demokratie und Herrschaft des Rechts, also der Zerstörung der von Popper so genannten „offenen Gesellschaft" der Freiheit.

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Über socale Freiheit Man mag bedauern, dass Berlin seinen bevorzugten Begriff von Freiheit „negative" Freiheit genannt hat. Der Ausdruck legt einen eher unerwünschten Zustand nahe, während es sich doch tatsächlich um die positive Idee handelt, die von allen vertreten wurde, die in der Tradition des aufgeklärten Denkens in England im 17., Schottland, Frankreich und Amerika im 18. Jahrhundert und den liberalen Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts stehen. Die Letzteren vor allem mussten sich mit einem anderen Begriff von „positiver Freiheit" auseinandersetzen (der mit Berlins häufig verwechselt wird), demzufolge Freiheit von Zwang irgendwie nicht genügt. Um frei zu sein, ist mehr erforderlich. Die Extremform dieser Auffassung war die Aufnahme der „Freiheit von Furcht" und der „Freiheit von Not" in die Liste der Ziele für die Nachkriegswelt durch Präsident Roosevelt (in der gemeinsam mit Winston Churchill im August 1941 veröffentlichten Atlantic Charter). Hier werden Unsicherheit und Armut als Verletzungen der Freiheit gesehen. Die Debatte über dieses Thema hält bis heute an; sie ist Anlass zu einer tiefgehenden Meinungsverschiedenheit. Viele betrachten die so genannten sozialen Rechte als Forderungen der Freiheit. Diese Auffassung trennt „Liberale" (heute ist manchmal von „Neoliberalen" die Rede) von „Sozialliberalen" und „Sozialdemokraten". In internationalen Beziehungen wird die Verbindung sozialer Rechte mit der Freiheit verwendet, um autoritäre Regimes zu verteidigen, die die Redefreiheit beschränken und dies damit rechtfertigen, dass bei ihnen zumindest niemand arm ist. Sogar demokratische Politiker haben die „Freiheit von der Angst vor Terrorismus" als die erste und wichtigste Freiheit bezeichnet. Dies ist keine sehr hilfreiche Debatte, auf die man am besten mit Isaiah Berlins Aussage reagiert, dass „nichts gewonnen wird durch die Verwirrung der Begriffe". „Alles ist was es ist: Freiheit ist Freiheit, nicht Gleichheit oder Fairness oder Kultur, oder menschliches Glück oder ein ruhiges Gewissen." Zwei Arten der Verwirrung sind zu vermeiden. Eine ergibt sich aus der Tatsache, dass die Freiheit nicht der einzige Wert ist. In der Tat ist es möglich, sie als durchaus begrenzten Wert zu verstehen, denn es gibt manche, die Wohlfahrt, Wohlstand, auch Glück der Freiheit vorziehen. Die andere Verwirrung beruht auf der fehlenden Unterscheidung zwischen der Freiheit und den Bedingungen, unter denen die Freiheit blüht. Es mag wohl sein, dass extreme Armut die Freiheit zur Illusion macht (wenngleich Indien zur Zeit der Zwangssterilisation ein Gegenbeispiel liefert, indem die Kongresspartei unter Indira Gandhi und ihrem Sohn Sanjay trotz ihrer ökonomischen und sozialen Erfolge nicht wiedergewählt wurde). Freiheit im elementaren, strengen Sinn bleibt auch in Zeiten der Angst und unter Umständen der Not ein Wert.

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Freiheiten Für wirkliche Menschen in der wirklichen Welt (zum Unterschied von politischen Philosophen) wird die Freiheit durch spezielle Freiheiten real. Drei Gruppen von diesen sind in den letzten 200 Jahren besonders wichtig geworden. Da ist zuerst die elementare Freiheit der Freien, der freien Bürger. Noch für Adam Smith definiert das Ende von Leibeigenschaft und Sklaverei die wahre Freiheit. Das Ende der Sklaverei bedeutete gewiss einen wichtigen Fortschritt in der Geschichte der Freiheit. Andere Formen der Abhängigkeit folgten allerdings; manche davon dauern in Teilen der Welt bis zum heutigen Tag an. Auch wäre es irreführend anzunehmen, dass die Abschaffung der physischen Abhängigkeit je vollkommen erreicht wird. Massenhafte Wanderungsbewegungen haben neue Formen der Unfreiheit ans Tageslicht gebracht, vor allem in der Form der Zwangsarbeit einschließlich der teilweisen Versklavung von Frauen. Solche Formen des Zwanges verweigern Individuen den Status von Personen, die in der Lage sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und daher ihre Freiheit. Eine zweite Gruppe von Freiheiten betraf und betrifft nach wie vor wirtschaftliche Tätigkeiten. Historisch bedeutete das vor allem die Abschaffung der Regeln, die die Gründung und Führung von Unternehmen erschweren oder verhindern, die Stärkung des privaten Eigentums, dann die Schaffung der Bedingungen für „freien Handel". Solche Freiheiten wurden erkämpft und etabliert, dann von manchen missbraucht, durch politische Maßnahmen begrenzt, und in neuer Form wiederum erkämpft. Idee und Wirklichkeit des Freihandels erzählen die Geschichte. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat die Globalisierung zu einer Neufassung des Regelwerks wirtschaftlicher Freiheiten geführt; jedenfalls verfielen viele der alten Regeln. Der Versuch, die Reichweite erlaubter Entscheidungen für wirtschaftlich Tätige zu erweitern, indem die Regeln, denen sie unterliegen, reduziert werden, ist Teil der „neoliberalen" Zeittendenz. Diese wird vielfach kritisiert, doch wird weithin anerkannt, dass die Marktwirtschaft mit ihren weitreichenden Freiheiten der wirksamste Rahmen für wachsenden Wohlstand ist. Seit den finsteren totalitären Tagen des 20. Jahrhunderts ist eine dritte Gruppe von Freiheiten zunehmend in den Vordergrund getreten. Sie geht zurück auf John Stuart Mill und noch frühere Denker und lässt sich durch den allgemeinen Begriff der Meinungsfreiheit beschreiben. Diese hat es nicht nur mit Meinungen und Glaubensbekenntnissen zu tun, sondern schließt die Freiheit der Rede, der Veröffentlichung und Verbreitung von Meinungen, der Kunst und der Forschung, aber auch die Versammlungsfreiheit ein. Viele Autoren haben gezeigt, dass diese Freiheiten keineswegs nur ein Luxus für kleine intellektuelle Eliten sind. Sie liegen der politischen Verfassung der Freiheit zugrunde. (Es ist kein Zufall, dass Präsident Gorbatschow sein Pro-

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gramm der Liberalisierung der Sowjetunion mit glasnost, also eben der Meinungsfreiheit begann.) Diese Freiheiten begründen, wie Sozialliberale in der Nachfolge von John Stuart Mill gezeigt haben, gut funktionierende (soziale) Marktwirtschaften. Sie haben sogar direkte soziale Wirkungen, wenn wir der Argumentation von Amartya Sen in seinem Poverty and Famines folgen, wonach dort, wo Meinungsfreiheit herrscht, Hungerkatastrophen weniger wahrscheinlich sind und Armut effektiver bekämpft wird. Meinungsfreiheit ist natürlich das Herzblut der Bürgergesellschaft. Aus all diesen Gründen wird sie zu Recht als Kernstück der praktisch gewordenen Freiheit gesehen. Freiheit und ... Freiheit (so haben wir, Isaiah Berlin folgend, argumentiert) ist nicht der einzige Wert. Es gehört zur menschlichen Grundverfassung, dass wir mit einer Mehrzahl oft widersprüchlicher Werte leben müssen. Es hilft dabei nicht, wenn wir diese Tatsache zu verdecken versuchen, indem wir den Begriff der Freiheit immer weiter fassen oder auch die Harmonie des Unvereinbaren suchen. Wir müssen es akzeptieren, dass es mehr als einen Wert gibt und dass Werte unvereinbar sein können. Zwei Beispiele sind für den Diskurs über die Freiheit besonders relevant. Eines liefert die Beziehung zwischen Freiheit und Gleichheit. Die beiden erscheinen - zusammen mit dem dritten Wert, der Brüderlichkeit - in dem berühmten Programm der Französischen Revolution. Von ihnen wird oft gesagt, dass sie einander ergänzen, wenn sie nicht identisch sind. Während es stimmt, dass die universelle Natur der Freiheit gleiche Rechte für alle Bürger impliziert, ist dennoch klar, dass solche gleiche Bürgerschaft für einige (wenn nicht für alle) ein Opfer an Freiheit verlangt. Generell führen Freiheit und Gleichheit zu unterschiedlichen politischen Ansätzen. Insoweit Ungleichheit des Status nicht in Privilegien verfestigt wird, lässt sich argumentieren, dass sie mit der Freiheit vereinbar ist. In der Tat kann sie ein Ausdruck der Freiheit sein. Gleichheit als dominanter Wert bedeutet immer ein Opfer an Freiheit. Es mag Zeiten geben, in denen die Freiheitspartei und die Gleichheitspartei Koalitionen bilden, aber wenn sie verschmelzen, wird ein Hybrid geschaffen, der vor allem Verwirrung stiftet. Das mag in der wirklichen Welt der Politik erträglich sein, muss aber in der Welt der Ideen als solches enthüllt werden. Eine andere komplexe Beziehung besteht zwischen Freiheit und Verantwortung. Freiheit ist nicht nur ein gegebener Zustand, sondern verlangt auch ein bestimmtes Verhalten. Männer und Frauen müssen in einer bestimmten Weise handeln, um die Freiheit am Leben zu erhalten; in diesem Sinne müssen sie verantwortlich handeln. Freiheit bleibt nur am Leben, wenn sie aktive Freiheit ist. Das ist eine relativ neue Entdeckung. Die meisten Theoretiker der Freiheit haben angenommen, dass Men-

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sehen natürlicherweise nach Freiheit streben. Sie haben die Apathie der Menschen gering geschätzt. Doch sobald normale Zeiten sich über lange Perioden erstrecken, zeigen soziopolitische (wie auch ökonomische) Umstände einen Hang zur Rigidität, zur Erstarrung, und die Teilnahme der Bürger nimmt ab. Mancur Olson hat dies in seinem Aufstieg und Fall der Nationen eindringlich geschildert. Olson hat auch drastische Rezepte gegen die Erstarrung vorgeschlagen, nämlich Krieg und Revolution. Ein verantwortliches Freiheitsverständnis kann solche extremen Ereignisse vermeiden helfen. Es wird auf der Einsicht gründen, dass die Freiheit ein zivilisierter, nicht ein natürlicher Zustand der menschlichen Dinge ist. Dieser muss geschaffen und lebendig gehalten werden durch die Tätigkeit aufgeklärter Menschen. Wenn Freiheit aufhört, ein aktives Bemühen zu sein, wird sie gefährdet. Aktuelle Bedrohungen der Freiheit Der Kampf für die Freiheit hat die moderne Geschichte seit den Tagen des Erasmus, wenn nicht schon früher, begleitet. Als die Freiheit im frühen 20. Jahrhundert zu obsiegen schien, entstanden indes neue Bedrohungen. Die größte unter diesen war der Totalitarismus, der in zwei Gestalten erschien, als Kommunismus und als Faschismus. Der erstere nahm seine Extremform als Stalinismus an, also als Stalin die Sowjetunion und ihr Imperium beherrschte, der letztere als Nationalsozialismus unter Hiders Herrschaft über Deutschland und große Teile Europas. Führerschaft, Ideologie und Mobilisierung sind die Merkmale des Totalitarismus, und alle drei stehen im äußersten Widerspruch zur Freiheit. Die Regimes, die so entstanden, waren mörderisch; man kann sagen, dass sie Kriege brauchten; sie waren auch katastrophisch in dem Sinne, dass sie nicht dauern konnten; anfangs kleine Gruppen von Verteidigern der Freiheit obsiegten am Ende mit Hilfe äußerer Kräfte, die diesem Wert anhingen. 1945 und 1989 sind Daten, die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit repräsentieren. Ob der Totalitarismus noch einmal geschehen kann, ist eine offene Frage. Es hat gewiss bösartige Diktaturen in vielen Teilen der Welt gegeben, und es gibt sie noch. Manche Intellektuellen behaupten, dass ein neuer, „dritter" Totalitarismus vom militanten Islam droht; man muss sich indes fragen, ob dies nicht eher die defensive Haltung von Verlierern der Modernität ist, die zwar ein Ärgernis darstellt, aber keine Zukunft hat. Hingegen spricht manches dafür, dass die größte Bedrohung der Freiheit im 21. Jahrhundert die des Autoritarismus ist. Das ist die Verbindung der Herrschaft einer kleinen Gruppe — einer Nomenklatura oder auch Bürokratie — mit der öffentlichen Apathie der vielen. Ein solcher Autoritarismus kann durchaus gekoppelt sein an wirtschaftlichen Wohlstand, wie das in Teilen Südostasiens der Fall ist. Er kann

Ralf Dahrendorf: Freiheit. Einige grundlegende Anmerkungen

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sich auch in kleinen, fast unmerkbaren Schritten entwickeln („schleichender Autoritarismus"). Der Kampf gegen den Terrorismus hat solche Tendenzen sogar in den alten Demokratien gefördert. Die wachsende Macht der Exekutive verbindet sich hier mit verringerten Bürgerrechten und abnehmender politischer Teilnahme. Die Freiheit wird zu einem Minderheitsideal und die Verfechter der Freiheit finden sich in der Defensive. Vielleicht sollte man solche Trends nicht überschätzen. Sie erinnern indes an die Tatsache, dass die Freiheit weder in der menschlichen Natur angelegt noch für immer gegeben ist wenn sie einmal errungen wurde. Der Kampf um die Lebenschancen von Menschen gegen den Zwang durch andere ist ein Kampf, der niemals endet.

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Regarding the Tibetan Struggle S. H. Tenzin Gyatso, XIV. Dalai Lama The tragedy of my land and my people is their loss of liberty. All human beings yearn for freedom, equality and dignity, and we all have a right to achieve them. Yet Tibetans continue to be deprived of them. In breach of the so-called Seventeen Point Agreement for the Peaceful liberation of Tibet that we signed under duress, the Chinese authorities imposed their rigid and alien ideology and showed scant respect for the unique culture, religion and way of life of the Tibetan people. In desperation the Tibetan people rose up against the Chinese. In the end, in 1959,1 had to escape from Tibet so that I could continue to serve my people. During the past more than four decades since that time, Tibet has been under the harsh control of the Government of the People's Republic of China. The immense destruction and human suffering inflicted on the people of Tibet are today well known. I do not wish to dwell on these sad and painful events that have had ramifications beyond the personal sufferings of individual Tibetans. They have affected our very way of life, our institutions, our education system and even our environment and wildlife. Tibet today continues to be an occupied country, oppressed by force and scarred by suffering. When Tibet was still free, we cultivated our natural isolation, mistakenly thinking that we could prolong our peace and security that way. Consequendy, we paid litde attention to the changes taking place in the world outside. Later, we learned the hard way that in the international arena, as well as at home, freedom is something to be shared and enjoyed in the company of others, not kept to yourself. Since China took control of Tibet in 1949-51, loss of life, destruction of cultural assets and damage to the environment have been immense. For nearly five decades, we have struggled to keep our cause alive and preserve our Buddhist culture of non-violence and compassion. It would be easy to become angry at these events, to feel nothing but hatred for the Chinese authorities. Labelling them as our enemies, we could selfrighteously condemn them for their brutality and dismiss them as unworthy of further thought or consideration. But that is not the way to achieve peace and harmony. Despite some development and economic progress, Tibet continues to face fundamental problems of survival. Serious violations of human rights continue throughout Tibet. Yet they are only the symptoms and consequences of a deeper problem. The Chinese authorities have so far been unable to take a tolerant and pluralistic view of Tibet's distinct culture and religion; instead they are suspicious of them and seek to control

S. H. Tenzin Gyatso, XIV. Dalai Lama: Regarding the Tibetan Struggle

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them. The majority of Chinese „development" plans in Tibet are designed to assimilate Tibet completely into the Chinese society and culture and to overwhelm Tibetans demographically by transferring large numbers of Chinese into Tibet. This unfortunately reveals that Chinese policies in Tibet continue to be harsh, despite the profound changes carried out by the Chinese government and the Party elsewhere in the People's Republic of China. Thus, as a result of deliberate policies, an entire people with its unique culture and identity is facing the threat of being utterly overwhelmed. What has happened to Tibet is a tragedy. An ancient nation with a unique culture and civilization is fastly disappearing. Yet, even the greatest tragedy is not grounds for giving up or surrendering to despair. In the spirit of optimism I have led the Tibetan freedom struggle on a path of non-violence and have consistently sought a mutually agreeable solution of the Tibetan issue through negotiations in a spirit of reconciliation and compromise with China. While it is the overwhelming desire of the Tibetan people to regain their national independence, I have repeatedly and publicly stated that I am willing to enter into negotiations on the basis of an agenda that does not begin with independence. Because the continued occupation of Tibet poses an increasing threat to the very existence of a distinct Tibetan national and cultural identity, what I am seeking is to save our people and their unique heritage, which has some potential to serve humanity and to keep the peace in this part of the world, from total annihilation In trying to find some mutually acceptable solution, so that the Tibetan people can resume a life in peace and with dignity, we are determined to pursue a course of nonviolence. We have adopted a middle-way approach of reconciliation and compromise. It is my belief that wherever there is conflict, whether between two individuals or two nations, it will ultimately only be resolved by entering into dialogue. And I am happy to say that the tentative beginnings of such a dialogue have finally taken place. In the final analysis, it is for the Tibetan and the Chinese peoples themselves to find a just and peaceful resolution to the Tibetan problem. Once they understand the true situation in Tibet, many Chinese, particularly pro-democracy activists, both inside and outside China, willingly give us their support. On our part, we Tibetans will continue to strive for freedom, but we will resist the use of violence as an expression of the desperation which many Tibetans feel. However, it has now become clear that our willingness to enter into negotiations by itself is not sufficient to bring about a positive solution. Confronted by the challenge of tragedy, whatever action we choose to take, we must first decide whether it is something that can be done. When we are convinced that it is possible, if we persist steadily, patiently, never losing sight of our goal we will ultimately achieve it. The most important thing is — never to give up.

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Freiheit darf kein vergessenes Ideal werden Wolfgang Gerhardt* Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center müssen sich freiheitliche Gesellschaften klar werden über die Voraussetzungen und über die Gefahrdungen ihrer Existenz. Diese Notwendigkeit haben wir leider in den letzten Jahren etwas vergessen. Manche Gesellschaften befinden sich geradezu im freien Fall. Religiöser Fundamentalismus hat überall auf der Welt einen Aufschwung erfahren, die Muster „Stamm" und „Religion" behindern an vielen Orten die Orientierung in die Zukunft. Es gibt ganze Staaten, die als Familienunternehmen geführt werden und die keine wirklich unabhängigen Institutionen herausbilden. Manche Konflikte kommen aus großen, unverstandenen geschichtlichen Tiefen. Diktaturen beherrschen noch eine große Zahl von Völkern. Die weltweite Ächtung der Todesstrafe steht zu Beginn eines neuen Jahrtausends immer noch aus, auch in manchen Demokratien. Es gibt Rassismus, Pressezensur und Unterdrückung freier Meinungsäußerung. Armut und Hoffnungslosigkeit verhindern in weiten Teilen der Erde immer noch die Teilhabe vieler Menschen an Freiheit und Chancen. Politische Repression und Folter sind vielerorts auf der Tagesordnung. Frauen werden in bestimmten Kulturen unterdrückt, Kinder viel zu oft nicht zur Schule geschickt, sofern es überhaupt eine gibt. Internationale Verteilungskämpfe um Energie und Wasser, Flüchtlingsströme, Umweltzerstörung, Zerstörung von ganzen Gesellschaften durch Krankheiten haben schon erschreckende Ausmaße erreicht. Es kann sich aus vielen Zutaten eine höchst gefährliche Mischung entwickeln. Die Globalisierung macht Probleme anderer auch zu unseren Problemen. Sie bringt Chancen, aber auch Risiken mit sich. Sie erzwingt Öffnung und sie erfordert verantwortliche, politische Teilhabe. Wie sich ein Land zu den internationalen Beziehungen verhält, sagt auch etwas über den Charakter seiner Gesellschaft und seiner politischen Führung aus. Länder, die sich der Globalisierung stellen, können ihre Ressourcen besser nutzen und entwickeln Kompetenz im Wandel. Diejenigen, die sich ihr verschließen, schaffen weniger sozialen Ausgleich, verlieren an Wettbewerbsfähigkeit und werden poli-

* Dr. Wolfgang Gerhardt, MdB, ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages und Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung.

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tisch und gesellschaftlich unstabil. Unter den abgeschotteten Wirtschaften sind im Übrigen auch die größten Menschenrechtsverletzer, schrieb Graf Lambsdorff vor einiger Zeit. Nicht weltweit um sich greifende Marktwirtschaft, sondern gerade der Mangel an Markt ist die Ursache für die Probleme vieler Länder. Es geht auch nicht um einen Kampf der Kulturen. Es geht um die eigene Fähigkeit der Modernisierung von und in Gesellschaften. Krisen haben ihre Ursachen nicht in der Globalisierung. Sie haben sie vor allem in der Inadäquatheit politischer, kultureller und gesellschaftlicher Institutionen. An der Schaffung solcher Institutionen beteiligt sich die Friedrich-Naumann-Stiftung weltweit. Sie bearbeitet vielfältige Projekte und Initiativen zum Aufbau von Bürgergesellschaften und demokratischen Strukturen in 61 Ländern, sie setzt sich für Menschenrechte ein. Sie will dazu beitragen, dass freiheitlich gesonnene Persönlichkeiten mehr und mehr Chancen bekommen und dass politische Einrichtungen entstehen, die aktive Teilnahme ermöglichen. Die freie Entfaltung von Menschen bedarf eines Staates, der Frieden und Sicherheit gewährleistet. Wir brauchen Regeln, wenn die Freiheit Bestand haben soll. Die Sicherheit der Bürger und ihr subjektives Sicherheitsgefühl sind unabdingbare Grundlagen einer stabilen Demokratie. In einer liberalen Rechts- und Verfassungsstruktur stehen Sicherheit und Freiheit nicht in einem Konkurrenzverhältnis. Sicherheit ist kein Feind der Freiheit, Sicherheit ist die Voraussetzung für die Teilhabe an Freiheit. Aber: Nicht der Staat gewährt den Bürgern gnädigerweise Freiheit, sondern die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Freiheit zur Wahrung der Rechte aller. Zu einer Rechtsordnung, die der Bürger als richtig und gerecht anerkennt, gehören ihre Durchsetzung und damit der Schutz vor Straftaten und vor Kriminalität. Der Staat muss daher über die geeigneten Mittel verfügen, um das staatliche Gewaltmonopol konsequent durchsetzen zu können. Die Behörden müssen finanziell und personell in die Lage versetzt werden, die bestehenden Gesetze konsequent zu vollziehen. Innere Sicherheit und die Bekämpfüng der Kriminalität auf nationaler und internationaler Ebene sind unabdingbare Voraussetzungen für den Erhalt der Freiheit und des sozialen Friedens. Der Staat darf aber nicht alles. Gläserne Kunden, gläserne Patienten, gläserne Steuerzahler, das ist die nicht die liberale Vorstellung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat. Die innere Sicherheit kann nur durch den Rechtsstaat verteidigt werden. Nur auf seinen Prinzipien und nicht gegen ihn. Der private Lebensentwurf, die eigenen vier Wände, die Reisen, die Freundschaften und Beziehungen, das Bankkonto, die freie wirtschaftliche Bestätigung der Bürgerinnen und Bürger kann nicht einer lückenlosen Überwachung durch den Staat unterliegen.

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Deshalb dürfen wir nicht den Terroristen in die Hände spielen und die — auch bei uns — in der Geschichte bitter erkämpften Freiheitsrechte aufgeben. Die Menschen müssen die Chance behalten sich durch rechtstreues Verhalten den Staat auch ein Stück vom „Leibe halten" zu können. Deshalb ist die — von Kommentatoren immer mal wieder spöttisch gemeinte — Frage, ob wir denn den Terrorismus mit dem Grundgesetz bekämpfen wollen, mit einem klaren „Ja" zu beantworten. Folter z. B. darf niemals ein Mittel staatlicher Strafverfolgung sein. Wir sind das, was wir tun. Und wir sind das, was wir versprechen niemals zu tun. Wenn wir ein freiheitlicher Rechtsstaat bleiben wollen, dann dürfen wir die moralische Überlegenheit des Rechtsstaates nicht preisgeben. Verhältnismäßigkeit ist und bleibt ein Prinzip staatlichen und dann am Ende auch polizeilichen Handelns. Sicherheit umfasst soziale wie physische Sicherheit. Sie umfasst auch die Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme, die nicht mehr zukunftsfahig und nicht mehr generationengerecht sind. Es geht auch um Bildung und Ausbildung, überhaupt um Chancen und Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben in Freiheit. Vor allem in der Gestaltung von Chancen. Sicherheit erfordert eine vorgreifliche Politik, das heißt Erneuerungsbereitschaft statt Risikoscheu. Der Staat muss seinen Bürgern Wahlmöglichkeiten geben. Er muss Systeme wettbewerblich organisieren. Er soll sich in Vorsorgeaktivitäten nicht für klüger halten als die Bürger selbst. Wenn er es versucht, überfordert er sich und ist am Ende zu Inkompetenz verurteilt. Nichts ist gefährlicher als die Überforderung des Staates. Der Staat kann nicht alles, er tut nur so. Staat und Gesellschaft, Bundestag und Bundesrat, Parlamente und Gesetzgeber, das ist nicht schon die Sache selbst. Eine geschriebene Verfassung allein reicht nicht aus, sie ist kein Selbsdäufer. Auch um die mentale Verfassung einer Gesellschaft geht es, wenn Freiheit Bestand haben soll. Thomas Jefferson schrieb 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung „... that all men are created equal", dass alle Menschen gleich erschaffen sind. Ein Satz mit politischer Sprengkraft, damals wie heute. Dieser Satz heißt allerdings nicht, dass alle Menschen unabhängig von ihrer genetischen Disposition und ihrer daraus erwachsenen Talente und Fähigkeiten vollständig gleich sind. „Wenn alle Menschen gleich wären, würde einer im Prinzip genügen", schrieb der polnische Aphoristiker Stanislav Jerzy Lee. Das Wörterbuch lehrt uns, dass das Wort „gleich" eine „Übereinstimmung bei bestimmten Merkmalen" bedeutet. Die Rede ist nicht von der Gleichheit aller Menschen, sondern von der „Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit aller Menschen", vor allem von der Gleichheit vor dem Gesetz. Das ist das, was Jefferson meinte und das heute viele so falsch verstehen. In Deutschland wird daraus ein Gleichheitsideal

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abgeleitet, das als „soziale Gerechtigkeit" daherkommt. Das heißt überspitzt: Gleich sind wir nur, wenn alle das gleiche haben, und das nennen wir dann „sozial gerecht". Dieses falsch verstandene Gleichheitsideal ist das Kennzeichen von Neidvermeidungsgesellschaften. Solche Gesellschaften aber sind unfrei. Und solche Gesellschaften machen sich durch Gleichheit ärmer, nicht aber reicher. Sie vergeuden Talente durch Missgunst. Mit der Gleichheitsidee machen sie mobil gegen die Idee der Freiheit, die Idee des Wettbewerbs, die Idee der Chancen und der persönlichen Verantwortung für das eigene Tun und Lassen. In einer freien Gesellschaft müssen Menschen sich gemäß ihren Fähigkeiten auch frei entwickeln und freie Entscheidungen treffen können. Das heißt auch, dass der eine schneller oder besser sein kann als der andere. „Gerecht" heißt in dieser freien Gesellschaft folgerichtig, dass alle Menschen, weil sie gleichwertig sind, Chancengerechtigkeit erfahren sollen. Der Staat ermöglicht seinen Bürgern Chancen, garantiert ihnen aber nicht den Erfolg. Das deutsche Bürgertum war es selbst, so schrieb Rainer Hank, das in ständiger Angst vor dem Missbrauch der Freiheit seiner Mitbürger lebte. Zusammen mit der Linken habe es dem Staat immer mehr vertraut als dem Markt. „Deshalb sind die großen Parteien in Deutschland auch keine liberalen Parteien. Ihre große Denkkoalition lebt in ständiger Angst vor Marktversagen, während die Gefahr des Staatsversagens gering geschätzt wird." In oberflächlicher Neoliberalismuskritik geben sie Veränderungsunwilligen moralische Deckung, bar jeder historischen Kenntnis, eine reine Bedienung von Affekten. Gerade die Vertreter der Freiburger Schule haben den Wettbewerb mit Vorschlägen zu einer fairen Wettbewerbsordnung beschrieben. Weil sie die Entwicklung unkontrollierter wirtschaftlicher Macht nicht wollten, haben sie die Marktmacht einzelner in der Überwachung durch unabhängige Wettbewerbsbehörden begrenzt. Sie haben rechtliche Institutionen wie Vertragsfreiheit und Privateigentum als Grundlage für Verantwortung und Unanhängigkeit niedergelegt. Gerade dort, wo Marktwirtschaft nicht stattfindet, herrscht unkontrollierbare wirtschaftliche und politische Macht. Die geschmäcklerische, verbrämt intellektuelle Ablehnung des Marktes ist mit hochkondensierter Moral daherkommende Engstirnigkeit. Richtig verstandene Soziale Gerechtigkeit ergibt sich am Ende dauerhaft nur über Beschäftigungsdynamik und diese wiederum über Wachstum und dieses endlich eher über Fähigkeiten und Kräfte einer Gesellschaft selbst und weniger aus einem verteilungsorientierten wohlfahrtsstaatlichen Konzept, wie es jetzt auch noch zur europäischen Identität stilisiert wird. Europa muss dynamisch bleiben, offen und innovativ, sonst scheitert es.

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Unser Land bleibt neben allen staatlichen Maßnahmen für die Sicherheit seiner Bürger vor allem auf ein Minimum an Gemeinsamkeiten zwischen seinen Bürgern und auf Bindungen angewiesen, die den Gebrauch der Freiheit von innen heraus regulieren. Eigener Glaube und eigene Uberzeugungen, und seien sie noch so sehr vom tiefen Gefühl ihrer Richtigkeit durchdrungen, müssen Prinzipien beachten, die in unserer Verfassung niedergelegt sind. Sie gilt für alle, die in Deutschland leben wollen, gleich welche Identität sie für sich in Anspruch nehmen und welches Leben sie führen. Wenn wir sie schützen wollen, kann es keine Toleranz gegen Intoleranz geben. Freie Gesellschaften, so schrieb Joachim Fest, gründen sich nicht zuletzt auf eine Reihe von Voraussetzungen, „die streng genommen gegen die menschliche Natur gerichtet sind", auf Selbstverbot, auf zivilisierte Regeln, auf Normen, auf Duldung, ja sogar auf Privilegierung von Minderheiten, auf ein System von Vorkehrungen. Nur so ist ein halbwegs erträgliches Zusammenleben von Menschen mit Menschen zu ermöglichen. In diesen Punkten liegt das „eigentümliche Pathos der Idee einer freien Ordnung." Das Beste, was dieses Land aufzuweisen hat, ist seine freiheitliche Verfassung. Ihre Stärke kommt aus dem Geist der Tradition des europäischen Liberalismus. Darin liegt auch die Kraft der Erneuerung. Das Ethos der Leistungsbereitschaft und die Kultur des Lernens sind die Grundlage der Solidarität. Eine Gesellschaft von Staatsbürgern und nicht von Staatskunden ist die Voraussetzung für den Erhalt der Freiheit. Entscheidend ist der verantwortliche Bürger, nicht der betreute Untertan. Es geht um die Renaissance der Verantwortung in Freiheit, denn Freiheit darf kein vergessenes Ideal werden. Die Idee der Freiheit muss in Deutschland wieder stärker ihren Platz bekommen. Daran wirkt die Friedrich-Naumann-Stiftung aktiv mit. Politische Bildung ist und bleibt deshalb der Kernauftrag der Stiftung. Die Friedrich-Naumann-Stiftung bietet jährlich an die 1000 Veranstaltungen an, wobei z. B. im Jahr 2005 über 37.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer allein die Angebote der Theodor-Heuss-Akademie, des Regionalprogramms und der Virtuellen Akademie wahrnahmen. Sie hat über 500 Stipendiatinnen und Stipendiaten, die sehr lebendige Beispiele für Talentförderung und Zukunftsorientierung sind. Es geht dabei nicht nur um Wissen. Es geht auch um Charakter und Haltung. Es geht um glaubwürdigen Vorbildcharakter und Maßstäblichkeit bei zivilisatorischen, ökonomischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Standards. „Wir müssen vorangehen in das Unbekannte, Unbewusste und Unsichtbare, wobei wir die Vernunft, die uns zu Gebote steht, dazu nutzen, beide, Freiheit und Sicherheit zu schaffen", schrieb Karl Popper. Dazu müssen Menschen ermutigt werden. Dieser Aufgabe stellen wir uns.

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Bedrohte Freiheit - liberale Herausforderungen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger* Otto Graf Lambsdorffs Stil, anhand seines liberalen Kompasses unbequeme Positionen gegen alle politischen Widrigkeiten zu behaupten, beschrieb Friedrich Karl Fromme mit den Worten, er sei ein Liberaler, der „nur in Grenzen bereit ist, sich angenehm zu machen"1. Ob es die Abstimmung im Deutschen Bundestag zum großen Lauschangriff am 16.1.1998 war, in der er zusammen mit einer kleinen Minderheit der FDP-Bundestagsfraktion gegen den großen Lauschangriff stimmte, oder sein Engagement für die NS-Zwangsarbeiterentschädigung — stets prägte und prägt das politische Verständnis von Freiheit Otto Graf Lambsdorffs politisches Handeln. Ausgangspunkt seines politischen Verständnisses von Liberalismus sind die Freiheitsrechte. So betont er stets, diese seien gerade für Liberale der Ausgangspunkt des gesamten politischen Denkens: „Der Liberalismus ist als Bewegung für die Freiheitsrechte der einzelnen Bürger entstanden, als Bewegung zur Abwehr von illegitimen Machtansprüchen von staatlichen Herrschern"2. Seit über fünf Jahren sind diese einzelnen Freiheitsrechte besonders bedroht. So schrecklich die Terroranschläge von New York und Washington, die Bomben von Madrid und London waren, so vorhersehbar waren und sind die politischen Reaktionen. Stets setzte ein öffentlichkeitswirksamer Wettstreit ein, der ausschließlich nach größeren Eingriffbefugnissen der Polizeien und Sicherheitsdienste schielte. Der frühere Bundesinnenminister Otto Schily, der wie kein anderer Innenminister vor ihm die Sicherheitsarchitektur in Deutschland veränderte, erklärte kurz nach dem 11. September 2001: „Wir werden die Begriffe und Regeln für die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus noch finden müssen, wenn wir unsere Bürger ausreichend schützen wollen."3 Tony Blair, britischer Premierminister, wollte erst gar keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er im Antiterrorkampf die

* Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, MdB, war von 1992 bis 1996 Bundesministerin der Justiz, gegenwärtig ist sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Rechtspolitik der FDPBundestags fraktion. 1 Die Zeit, 25. November 1999. 2 Otto Graf Lambsdorff, Der Freiheit verpflichtet. Reden und Aufsätze 1996-2006, hrsg. v. J. Morlok, Stuttgart 2006, S.17. 3 Süddeutsche Zeitung, 2. August 2005.

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„Spielregeln ändern" werde — dies, so Blair, erforderlichenfalls auch unter Missachtung internationaler Menschenrechtskonventionen.4 Nicht ausgelöst, aber doch erheblich beschleunigt durch den aktuellen internationalen Terrorismus und die Anschläge des 11. September 2001 hat der traditionell zwischen Innen- und Rechtspolitik angelegte Konflikt, der seinem Inhalt nach ein Konflikt zwischen den politischen Zielgrößen Sicherheit und Freiheit ist, eine qualitativ neue und gefährliche Dimension erreicht. Gefahrlich deshalb, weil es in diesem Konflikt neuerdings nicht mehr nur um eine Ausbalancierung des grundsätzlichen Spannungsverhältnisses von Sicherheit und Freiheit geht. Vielmehr sehen wir uns heute einer starken Tendenz ausgesetzt, diese Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit radikal zu Gunsten der Sicherheit, das heißt, radikal zu Lasten der Freiheit aufzulösen. Es sei, so heißt es heute bis weit in den politischen Mainstream hinein, der Terror, der uns bedrohe, sonst niemand. Der Staat als hinterhältiger Liquidator bürgerlicher Freiheitsrechte existiere in Deutschland nur als Hirngespinst. So argumentiert der Polizeigewerkschaftler Konrad Freiberg schlicht: „Sicherheit ist Freiheit".5 Diese, jedem differenzierten Verfassungsdenken fremde Sicht auf das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit, hat rasch öffentliche Verbreitung gefunden. Die nach jedem Terroranschlag von fast allen fuhrenden Politikern der westlichen Welt trotzig und großspurig gemachten Versprechungen, man sei fest entschlossen, dem Terrorismus die Stirn zu bieten und um keinen Deut vor ihm zurückzuweichen, kann man angesichts des allerorten stattfindenden massiven Abbaus konstitutiver freiheitlich-rechtsstaatlicher Garantien eigentlich nur mit Zynismus kommentieren.. Im Bemühen, das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit zu Gunsten von Sicherheit aufzulösen, war der frühere deutsche Innenminister Otto Schily besonders erfinderisch. Er hatte sich schon 1998 im Zuge der Auseinandersetzungen um die Einführung der akustischen Wohnraumüberwachung in Deutschland, weit vor den Terroranschlägen des 11. September 2001, dafür ausgesprochen, das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit einer paradigmatisch neuen Sicht zu unterwerfen. So erklärte er im Deutschen Bundestag 1998, wer meine, ein Grundrecht auf Sicherheit sei die Erfindung konservativer Professoren, der irre sich und beweise nur seine Unkenntnis der deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte6.

4 So Tony Blair am 5. August 2005 in London, http://www.tagesspiegel.de/vis/redaktion/pageviewer.asp?TextID=53082. 5 Konrad Freiberg, Demokratische Freiheitsrechte und Überwachung, in: Debattenportal der Bundeszentrale für politische Bildung, http://2002.wahlthemen.de/themenwahl/phasen/sicheroderfrei/phase2/experten/experteninneresicherheit/konradfreiberg 6 Plenarprotokoll Nr. 13/247 vom 3. September 1998 zur 247. Sitzung des Deutschen Bundestages.

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Der mit dieser Einlassung verfolgte Hintergedanke des deutschen Bundesinnenministers leuchtet ein: Gäbe es nämlich ein durch die Verfassung verbürgtes Grundrecht auf Sicherheit, dann würde wegen des in der deutschen Verfassungsrechtsprechung entwickelten Doppelcharakters der Grundrechte — als einerseits gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte und anderseits als an den Staat gerichtete Anspruchsrechte auf Grundrechtsschutz — der Staat nunmehr nicht nur politisch gehalten, sondern von Verfassungswegen verpflichtet, seine Bürger vor Grundrechtseingriffen seitens anderer Bürger unbedingt in Schutz zu nehmen. Unter dem Deckmantel einer solchen verfassungsrechtlichen Pflicht wäre der Staat in der Lage, sich mit Blick auf die innere Sicherheit all jene Befugnisse zum Eingriff in die Freiheitsgrundrechte seiner Bürger zusammenzuklauben, die mit der verfassungsrechtlichen Verankerung dieser Freiheitsgrundrechte gerade verhindert und abgewehrt werden sollen. Die in allen westlichen Verfassungen verankerten individuellen Freiheitsrechte würden immer einem überlegenen Grundrecht auf Sicherheit untergeordnet werden. Es ist ein Segen für die freiheitliche Verfasstheit unserer Demokratien, dass das zentrale Schily'sche Argument für die Existenz eines Grundrechts auf Sicherheit unzutreffend ist. Unzutreffend ist das Argument, weil die Sicherheit, die im Art. 5 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) neben das Grundrecht auf Freiheit gestellt ist, sowohl in teleologischer Betrachtung als auch nach ständiger Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs und der einschlägigen Kommentarliteratur nicht Sicherheit durch, sondern Sicherheit vor dem Staat bedeutet. Das Grundrecht auf Sicherheit der EMRK ist - so stellvertretend für viele andere der EMRKKommentar von Frowein/Peukert — „nur im Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit zu verstehen und soll sich gegen willkürliche Eingriffe seitens der staatlichen Gewalt in das Freiheitsrecht des einzelnen richten".7 Mit anderen Worten: Das Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit der EMRK ist insgesamt als Abwehrrecht, also als Recht konzipiert, das den einzelnen Menschen vor der Willkür und vor ungebührlichen Grundrechtseingriffen des Staates schützen soll. So kann es als Schranke für staatliches Eingriffshandeln, aber gerade nicht — wie die deutsche Innenpolitik sich das wünscht — als Legitimationsgrundlage zur Ausweitung staatlicher Grundrechtseingriffsermächtigungen herangezogen werden. Allerdings verdient ein neues, erst jüngst vorgebrachtes Argument eine gewisse Beachtung, weil es im Falle seiner Triftigkeit nicht nur in Deutschland seine Wirksamkeit entfalten würde. Dieses Argument bedient sich der weiter oben schon angesprochenen unstrittigen Verpflichtung des Staates, die Menschenwürde nicht nur zu Jochen Arb. Frowein / Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. vollst, neu bearb. Auflage, Kehl (usw.) 1996, insb. R2. 4 ff. zu Art. 5 EMRK. 7

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achten, sondern auch zu schützen, wie es im Art. 1 GG festgelegt ist. Dieses Schutzgebot, so der frühere deutsche Innenminister in einer Rede, dürfe der Staat nicht vernachlässigen. Mit Bezug auf diese zweifellos richtige aber auch ebenso unstrittige Bemerkung kommt er dann zu dem einigermaßen eigenwilligen Schluss, dass der Staat nach der Verfassung ausdrücklich dazu verpflichtet sei, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen und ihre Sicherheit zu garantieren, woraus logisch folge, dass es nicht nur ein Grundrecht auf Freiheit, auf Freiheiten, wie sie im Grundrechtskatalog aufgeführt sind, sondern auch ein Grundrecht auf Sicherheit gibt. Das heißt: Aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schutz der Menschenwürde wird kurzerhand ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Sicherheit, ein Grundrecht auf Sicherheit, gemacht. Nach dieser Lesart wäre ein Grundrecht auf Sicherheit in der deutschen Verfassung bereits deshalb ausdrücklich enthalten, weil es schlicht und einfach mit dem Gebot des Menschenwürdeschutzes nach Art. 1 Abs.l GG identisch ist. Das hieße: Die überbordende Telefonüberwachung nebst der Speicherung und Übermittlung von Standortdaten, die auf europäischer Ebene geforderte verdachtsunabhängige und langzeitige Vorrats speicherung von Telefonverbindungsdaten, die Kontenevidenzkontrolle, das akustische Belauschen privater Wohnungen, die im Rahmen der Schengener Übereinkunft zu erwartende Erhebung, Speicherung und Auswertung einer Vielzahl persönlicher Daten und deren Vernetzung zu einem unkontrollierbaren Informationssystem gewaltigen Ausmaßes, die Erhebung und mehrjährige Speicherung von Flugpassagierdaten, die Ausweitung der Videoüberwachung und die automatische Erfassung von Kraftfahrzeug-Kennzeichen, die Aufnahme biometrischer Daten in Personalausweise einschließlich der Anwendving der RFIDTechnik, die präventive Ausweitung der DNA-Erfassung, die Raster- und verdachtsunabhängige Schleierfahndung, die schrittweise Aufhebung des Trennungsgebots von Polizei und Geheimdiensten bis hin zu der neuerdings nicht allein in Deutschland geforderten Ausweitung der verdachtsunabhängigen Sicherungshaft nach Guantanamo-Manier usw.: Alles dient der neuen Lesart zufolge dem Schutz der Menschenwürde. Und wer sich, wie ein paar verirrte und verwirrte Liberale im Verein mit der doch etwas merkwürdigen Zunft der Datenschützer, dagegen wendet, die Eingriffschranken des Staates Schritt für Schritt aufzuheben, der macht sich dieser Interpretation zufolge mitschuldig an der Verletzung der Menschenwürde der Bürgerinnen und Bürger. Es geht den Protagonisten einer derart rigiden Politik der inneren Sicherheit gar nicht um Verfassungsrecht, sondern letztlich um dessen Beugung. Es geht um eine Politik der ideologischen Infiltrierung des öffentlichen, kollektiven Bewusstseins mit einem neuen Staatsverständnis. Es geht darum, die freiheitsschützende Funktion der Grundrechte als gegen die staatliche Allmacht gerichtete Abwehrrechte durch die

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vom Staat wahrzunehmende Schutzfunktion der Grundrechte auszuspielen und auszuhebein. Die dem Selbstverständnis eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat angemessene Formel „im Zweifel für die Freiheit" soll durch die Losung „im Zweifel für die Sicherheit" ersetzt werden. Winfried Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, hat diese Entwicklung in besonders drastischen Worten kommentiert. Es sei „ein Kennzeichen holistischen (...) oder gar totalitären Denkens, Spannungen (wie diejenige zwischen Freiheit und Sicherheit) vorschnell aufzulösen und Gegensätze verschleiernd zu harmonisieren".8 Was bleibt, ist die nicht ganz unbegründete Hoffnung, dass sich dieser politische Trend, wenn schon nicht mit politischen, dann aber doch mit rechtlichen, genauer mit verfassungsrechtlichen Mitteln zumindest abschwächen und verlangsamen lässt. Begründet ist diese Hoffnung deshalb, weil — wie vereinzelt in den USA und in Großbritannien - auch in Deutschland das höchste Gericht, das Bundesverfassungsgericht, gerade in den letzten zwei Jahren alle sich ihm bietenden Gelegenheiten genutzt hat, die Politik und den Gesetzgeber in die Schranken der Verfassung zu verweisen. So hat das am 3. März 2004 gefällte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Großen Lauschangriff5 große und wesentliche Teile des Durchfuhrungsgesetzes zur akustischen Wohnraumüberwachung als verfassungswidrig erklärt. Mehr noch: Auf der ausdrücklich bestätigten Grundlage, dass das heimliche Abhören und Aufzeichnen von Gesprächen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, eine schwere Verletzung der Menschenwürde ist, die unter keinen Umständen, auch nicht zu Gunsten hoher Gemeinwohlbelange zulässig ist, hat das Gericht erstmals in seiner Rechtsprechung Ansätze für eine positivrechtliche Konkretisierung des unverletzlichen Menschenwürdekerns geliefert. Eine ebenfalls deutliche Rüge erteilte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber mit der am gleichen Tage ergangenen Entscheidung10 zu den im deutschen Außenwirtschaftsgesetz geregelten Befugnissen des Zollkriminalamtes, zu präventiven Zwecken den Postverkehr und die Telekommunikation heimlich zu überwachen. Mit ausdrücklichem Bezug auf die Gerichtsentscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung stellt das Gericht unmissverständlich fest, dass das Brief-, Post- und

Winfried Hassemer: Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, Vorgänge Nr. 159 (September 2002). 9 BVerfG, 1 BvR 2378/98 vom 3. März 2004, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20040303 _lbvr237898.html (04.07.2006). '0 BVerfG, 1 BvF 3/92 vom 3. März 2004, http://www.bverfg.de/entscheidungen/fs20040303_ lbvf000392.htm (04.07.2006). 8

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Fernmeldegeheimnis die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zugleich die Würde des Menschen schützt. Der Eingriff in diese Grundrechtspositionen zu präventiven Zwecken unterliegt keinen geringeren rechtsstaatlichen Anforderungen als Ermächtigungen zu Massnahmen der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung. Eine besonders drastische Niederlage hat der deutsche Gesetzgeber durch das am 18. Juli 2005 gefällte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl11 hinnehmen müssen. Das gesamte Gesetz zur Umsetzung des EURahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl wurde von Bundesverfassungsgericht mit sofortiger Wirkung für nichtig erklärt. Wie mit allen hier in aller Kürze dargestellten Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, hat das Gericht auch mit dieser Entscheidung dem rücksichtslosen Drang nach Erhöhung der Effektivität der Strafverfolgung einen deutlichen grundrechtlichen Riegel vorgeschoben. Das mag genügen, um einen Eindruck von der verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Unruhe zu vermitteln, die gewissermaßen als Gegenbewegung zur hemmungslosen sicherheitspolitischen Aufrüstung des deutschen Staates entstanden ist. Vielleicht sind all jene, denen die Bewahrung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung am Herzen liegt, trotz aller eher pessimistischen Perspektiven vielleicht doch nicht ganz alleingelassen. Otto Graf Lambsdorff mahnte nach dem 11. September 2001: „Global wie auch in Deutschland selbst, sollten wir also gerade jetzt zum Prinzip Freiheit stehen"12.

11 BVerfG, 2 BvR 2236/04 vom 18.Juli 2005, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20050718_ 2bvr223604.html> (04.07.2006). 12 Otto Graf Lambsdorff, Der Freiheit verpflichtet. Reden und Aufsätze 1996-2006, hrsg. v. J. Morlok, Stuttgart 2006, S.4.

Robert Nef: Sicherheit durch Freiheit

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Sicherheit durch Freiheit Robert Nef* In den let2ten Jahren ist der Terrorismus zu einer der größten Bedrohungen der Freiheit und der Sicherheit der Menschen geworden. Zur Bekämpfung der politisch und religiös motivierten Gewalt werden weltweit Sicherheitsmassnahmen ergriffen, welche die persönliche Freiheit der Menschen einschränken. Auch zur Bekämpfung anderer Phänomene wie organisierte Kriminalität, gewalttätiger Extremismus oder Hooliganismus werden neue gesetzliche Grundlagen gefordert und beschlossen, die mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit mit sich bringen. Schließlich wird auch die Gewährleistung der sozialen Sicherheit im Sinn einer „Freiheit von Not" als eine der Kernaufgaben des Staates gedeutet. Diese Entwicklungen werfen Fragen auf: Wie weit darf, soll oder muss der Staat die persönliche Freiheit einschränken oder eine Einschränkung der persönlichen Freiheit in Kauf nehmen, um den Schutz vor Gewalt und die materiellen Existenzgrundlagen sicherzustellen? Wie weit müssen wir es als Individuen zulassen, dass der Staat unser Einkommen und Vermögen besteuert und in unsere privaten Angelegenheiten eingreift, um uns als Gegenleistung kollektive und soziale Sicherheit anbieten zu können? Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit gehört zu den zentralen ethischen und politischen Herausforderungen. Die Diskussion darüber wird durch die Tatsache erschwert, dass die beiden Grundwerte „Freiheit" und „Sicherheit" schwer zu definieren sind und dass deren Verknüpfung zu vielen Missverständnissen Anlass gibt. Vor allem im politisch publizistischen Bereich wird über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit viel Paradoxes, Zynisches und Heuchlerisches geäußert. Meist werden die beiden Werte so verknüpft, dass man argumentiert, Sicherheit könne nur auf Kosten von Freiheit erlangt und geschützt werden. Dies ist ein verhängnisvoller Irrtum. Benjamin Franklin hat zu Recht davor gewarnt, Freiheit und Sicherheit gegeneinander auszuspielen „Wer Sicherheit auf Kosten der Freiheit bewahren will, verliert zuletzt beides". Freiheit und Sicherheit lassen sich nur wechselseitig und in Gegenübersetzung zu Zwang und unberechenbarer Gefahr begreifen. Sie sind als Grundwerte eigentlich konstant und unveränderlich und unterliegen keinem Wertewandel. Darüber hinaus haben Freiheit und Sicherheit eine individuelle und eine kollektive Komponente, die * Robert Nef, lie. jur., ist Leiter des Liberalen Instituts in Zürich und Mitherausgeber der Schweizer Monatshefte.

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miteinander verquickt sind. Kollektive Freiheit, das heißt die Unabhängigkeit des Kollektivs bzw. des Staates, kann mit individueller Knechtschaft verbunden sein. Sie ist stets mit dem Klumpenrisiko belastet, dass das Kollektiv seine Sicherheitsgarantien gegen außen und seine Verbindlichkeiten gegenüber den Individuen nicht mehr einhalten kann oder will und damit eigentlich die individuelle Sicherheit auf die Dauer permanent in Frage stellt. Anzustreben ist also jene Sicherheit, die nicht trot.£ Freiheit sondern wegen Freiheit und durch Freiheit gewährleistet ist. Sie beruht auf Robustheit und Immunisierung und auf der spontanen Mobilisierung der jeweils notwendigen Gegenkräfte: Sicherheit durch ein Netzwerk von gegenseitigem Vertrauen, das nur in Freiheit entsteht und das sich nur in Freiheit entwickeln kann, um den Preis, dass sich Vertrauen, Enttäuschung und Risikobereitschaft immer wieder neu einpendeln müssen. Das Risiko einer Fehlkonzeption, einer fatalen Lücke oder einer Vollzugspanne ist umso größer, je mehr die Illusion einer umfassenden kollektiven Sicherheit genährt wird. Individuelle Sicherheit entsteht in einem Netzwerk von Risikoteilung durch wechselseitige Zumutungen und Erwartungen und durch vielfältige spontane soziale Lernprozesse und gegenseitige Kontrollen. Die Meinung, Sicherheit sei ein Kollektivgut, das letztlich nur von einer zentralen Macht (im Idealfall von einem Weltstaat) gewährleistet werden könne, hat sich im Lauf der Weltgeschichte als verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Je größer nämlich die Zahl ist, die gemeinsam plant und damit „Sicherheit produziert", desto größer ist die Gefahr des gemeinsamen großen Irrtums, der das Gesamtsystem destabilisiert, die Verletzlichkeit und die kollektiven Risiken erhöht. Je non-zentraler, d. h. je föderalistischer eine Gesellschaft organisiert ist, desto kleiner ist die Einheit, die durch Fehldispositionen im Sicherheitsbereich gefährdet ist und die durch kollektive Ängste und Panik jene Gelassenheit verliert, die man mit gutem Grund als Selbstsicherheit bezeichnet. Die optimale Verknüpfung von Freiheit und Sicherheit kann daher nicht zentral geplant werden, sondern ist in gemeinsamen Lernprozessen immer wieder neu zu erarbeiten. Lernprozesse basieren aber auf Versuch und Irrtum und auf dem Wettbewerb um die jeweils optimale Lösung, bei dem Misserfolge vermieden und Erfolge kopiert werden. Dadurch lässt sich die Angst vor kollektiven Risiken abbauen, ohne dass dabei die individuelle Freiheit wesentlich geschmälert würde. Individuelle Sicherheit ist daher in einer Kombination von Freiheit und Non-Zentralität am besten aufgehoben. Kollektive Sicherheit muss auf einer Konzeption beruhen, bei denen möglichst vielfaltig vernetzte kleinere Einheiten Gefahren und Unsicherheiten zwar nicht ausschalten, aber durch Robustheit und Immunisierung die Eskalation zur Totalbedrohung möglichst verhindern. Dass damit auch Einbussen an individueller Freiheit verbunden sind — beispielsweise bei Personen- und Gepäckkontrollen im Flugverkehr —, ist nicht zu vermeiden.

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Die liberal-rechtsstaatliche Doktrin kennt ein Prinzip, das ernst zu nehmen ist, obwohl es zu wenig weit geht: „In dubio pro libertate, im Zweifel für die Freiheit." Aus liberaler Sicht darf man sich jedoch nicht damit begnügen, der Freiheit lediglich „im Zweifel" den Vorrang zu geben. Sie ist das Grundprinzip liberaler Politik. In einzelnen Fällen muss allerdings von diesem Grundprinzip abgewichen werden, aber alle, die dies postulieren, tragen die Beweislast, dass Eingriffe und Zwang wirklich im ursprünglichen Sinn notwendig sind. Auch konsequente Liberale haben in begründeten Situationen die Bereitschaft, Zwang zu akzeptieren, vor allem wenn er dazu dient, die Freiheit zu schützen und zu gewährleisten. Ausgangspunkt jeder freiheitlichen Politik muss der mündige Mensch sein, dem zugemutet wird, seine Probleme eigenständig zu lösen und damit auch sein Bedürfnis nach Sicherheit zu befriedigen. Eigenständigkeit als Grundwert bedeutet keinesfalls, dass das friedliche Zusammenleben in einer arbeitsteiligen Welt keine Kooperation braucht. Bei jeder funktionierenden Kooperation werden aber die Beteiligten auch selbst etwas einbringen, und in jedem Menschen steckt etwas Eigenes und Einzigartiges, ein Tauschpotential, das ihn für eine Kooperation wertvoll macht. Wer gegenüber seinem Mitmenschen in erster Linie Ansprüche stellt und auf Rechte pocht, wählt einen verhängnisvollen Einstieg in einen Prozess, der auf dem freien Austausch von Angeboten und Nachfragen aller Art beruht. Auch ein funktionierendes Gemeinwesen beruht auf der Übernahme von selbstgewählten Pflichten. Erst wenn ein solches Netzwerk von Verpflichtungsangeboten bereit steht, können analog dazu auch Rechte abgeleitet werden. Die Freiheit und Würde des Menschen beruht darauf, dass er seinen Beitrag an das Gemeinwesen, seine Verantwortung, selbst bestimmen kann. Eine Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern diese Eigenständigkeit einräumt, geht auch das Risiko ein, dass einzelne Menschen ihre Pflichten verletzen oder nur unvollkommen wahrnehmen. Abweichendes, verantwortungsloses und rechtswidriges Verhalten kann in einer liberalen Gesellschaft nie absolut verhindert werden. Es bleibt stets ein Restrisiko. Aber auch eine freiheitliche Gesellschaft muss sich gegen Verbrechen und Missbräuche kollektiv schützen und darf die Schwachen nicht im Stiche lassen. Um diesen Grundsätzen nachleben zu können, braucht es personenbezogene, vertragliche und kleinräumige Netze der Hilfeleistung. Die persönliche Eigenständigkeit ist die Ausgangsbasis für alle Formen freiheitlicher Gemeinschaft. Wenn sie auch nicht generell und möglicherweise nicht einmal von einer Mehrheit gewünscht wird, so ist sie doch allen zumutbar. Wir müssen einander gegenseitig Mündigkeit zumuten, im wahrsten Sinn des Wortes. Eigenständigkeit existiert weder am Anfang noch am Ende des Lebens; wir werden nicht frei geboren, denn wir stehen zu Beginn des Lebens in einer vollständigen Abhängigkeit und verlieren auch im Alter oft wieder einen Teil unserer Selbständig-

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keit. Wir sind dann möglicherweise auf die Netzwerke der Fürsorge und auf verschiedene Arten von Hilfe angewiesen. Aus freiheitlicher Sicht sollen solche Hilfeleistungen stets nach den Grundsätzen „So wenig wie möglich, so viel wie nötig." ausgerichtet werden und „je privater desto besser". Was notwendig ist, lässt sich umso besser beantworten, je näher sich die Betroffenen und Beteiligten persönlich kennen. Darum ist auch die Nächstenliebe anthropologisch viel besser fundiert als die Fernstenliebe. Es wird hier nicht für eine Abschaffung aller sozialen Aufgaben des Staates plädiert, aber man sollte sie jenen politischen Organisationen zurückgeben, die eine Begegnung von Mensch zu Mensch ermöglichen und die die Leute kennen, damit sich keine Missbräuche etablieren. Die Basis des Zusammenlebens in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat sind die kleinen Netzwerke der persönlichen Kommunikation. Die gemeinsame Basis von Freiheit und Sicherheit ist der Friede. Friede entsteht entgegen einer weit verbreiteten Ansicht nicht durch die Umsetzung eines allgemein oder mehrheitlich akzeptierten Gerechtigkeitsmodells, sondern durch einen generellen Verzicht, die eigenen Gerechtigkeitsideale uneingeschränkt durchzusetzen, ein Vorgang, der oft durch eine einseitigen Vorleistung des Einsichtigeren eingeleitet wird. Er beruht unter anderem auf dem Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse anderer, auf der Bereitschaft zum Kompromiss, auf dem „Ja zur Unschärfe", auf dem Akzeptieren der Verjährung, auf der Unschuldsvermutung, auf dem Verzicht auf allgemeinverbindliche Letztbegründungen, auf dem „common-sense" des anständigen Durchschnittsmenschen, auf dem Verzicht bei andern und bei sich selbst nach den letzten Motiven des Handelns und Verhaltens zu fragen, auf einem Erwachen aus dem Alptraum rächender und kompensierender Geschichtlichkeit in der eigenen Biographie und in der Geschichte der Gemeinschaft in der man lebt. Friede hat also viel mit dem Abbau von Aggression und Neid zu tun, und dieser Prozess ist erfahrungsgemäß umso verlässlicher, je weniger er auf kollektivem Zwang beruht. Neben dem „Prinzip Frieden" beruht die Gesellschaft auf dem Prinzip von „Treu und Glauben", eine Art „Sympathiegenerator", den man letztlich im eigenen Interesse beachtet und betreibt. Die Zukunft einer arbeitsteilig hoch vernetzten globalisierenden Dienstleistungsgesellschaft gehört den Zivilrechtsgesellschaften mit umfassender Privatautonomie, deren Ordnungsprinzip („ordo") durch ein Netzwerk von frei gewählten Vereinbarungen bestimmt wird und nicht auf staatlichen Zwangsvorschriften und Zwangsabgaben beruht. Das Primat der Politik wird abgelöst durch das Primat der Kultur, der „homo politicus" durch den „homo oeconomicus cultivatus", bei dem Freiheit, Friede und Sicherheit in guten Händen sind.

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Erinnern im Schatten der Schuld

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Erinnern im Schatten der Schuld Cornelia Schmalz-Jacobsen* In der deutschen Sprache gibt es zahlreiche Begriffe, die mit dem Wort „Erinnerung" verbunden werden: so etwa die Erinnerungsleistung, die Erinnerungsa^«/ oder auch die Erinnerungs/W. Dies zeigt wie mühevoll es ist, Erinnerung wach zu halten, wie schwer und mitunter wie schmerzhaft es sein kann. So werden wir Deutschen und andere Europäer immer aufs Neue von der Zeit des Nationalsozialismus eingeholt. Für viele ist es ein Lebensthema. Es gibt Dinge, über die vermeintlich längst alles gesagt ist, aber dann spüren wir plötzlich, dass das so gar nicht stimmt und dass Erinnerung sich auch verändern kann. Neue Generationen wachsen nach und gehen anders an ein Thema heran, und etwas Neues taucht auf. Oder besser: etwas scheinbar Neues, das man vorher nicht wahrgenommen hat oder nicht ansehen wollte. Die größere Distanz erst macht den schärferen Blick möglich, und es tun sich neue Zugänge zu Räumen auf, die erst jetzt betretbar werden, oder die man sich erst jetzt zu betreten getraut. Der Streit darüber, ob es nicht endlich genug sei mit dem Erinnern und Gedenken, mit den Gedenkstätten und den Mahnmalen ist bekannt, aber das ist eben nur die eine Seite des Betrachtern. Blicken wir zurück: die allerersten Gedenkstätten, bald nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet, dokumentierten die Verbrechen, um sie zu belegen. Damals hätte sich niemand träumen lassen, dass Jahrzehnte später die öffentliche Beschäftigung mit dem Erinnern, auch die Konflikte und die Kontroversen, derart Platz greifen, und das Interesse daran derart intensiv sein würde. Die Liste der Beispiele hierfür ist lang. Es ist wohl die Einsicht gewachsen, dass man sich immer aufs Neue fragen muss, was es im Tiefsten mit dieser historischen Katastrophe auf sich hat — das Erschrecken angesichts der Leichtigkeit, mit der Grenzen ständig überschritten wurden, das Verschwinden aller Hemmungen, die Fragilität unserer Zivilisation. Das Bewusstsein von einer Gefahrdung und die schreckliche Einsicht, dass es eine Illusion ist darauf zu vertrauen, der Prozess der Zivilisation sei unumkehrbar. Der Traum von der heilen Welt ist — ein Traum. Dort, wo der Kompass für Mündigkeit und die eigene Verantwortung zerstört wird oder verloren geht, sind Unterdrückung und Unglück nicht fern. Hass und Terror fangen immer damit an, dass Einzelnen oder einer * Cornelia Schmalz-Jacobsen war von 1985 bis 1989 Senatorin für Jugend und Familie des Landes Berlin, von 1988 bis 1991 Generalsekretärin der FDP und von 1991 bis 1998 Ausländerbeauftragte der Bundesregierung.

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Gruppe ihre Würde genommen wird. Jemandem seine Würde zu nehmen beginnt damit, dass man ihm die Anrede verweigert, dass er mit „Du" angeredet oder angebrüllt wird und nur noch eine Nummer ist, ein Nichts, der allgemeinen Verachtung und Rechdosigkeit preisgegeben. Es ist eben keine nebensächliche Frage, ob die Erklärung der Menschenrechte, vor 57 Jahren nach der europäischen Katastrophe formuliert, als angestaubtes Thema betrachtet wird oder als ein Meilenstein, als eine Rettungsboje für uns alle in stürmischen Zeiten. Vor ein paare Jahren, als die Wellen der fremdenfeindlichen Gewalt besonders hochschlugen, fragte jemand in einer Diskussionsrunde verzweifelt: „Wo lernt man heute noch in der Schule, dass man keine Menschen quält und anzündet?" - Nun, das lernt man nicht in der Schule, das lernt man genau genommen überhaupt nicht — das weiß man! Und wenn man es nicht weiß, dann lernt man es höchstens dann, wenn damit nichts mehr zu gewinnen ist. Auch nicht der heimliche Beifall. Um Erinnerung wach zu halten, vor allem um sie zu empfinden, reichen keine Zahlen und keine Statistik. Es sind die Schicksale der einzelnen Menschen, die uns berühren. Noch leben Zeitzeugen der Jahre des Nationalsozialismus. Für viele von ihnen hat es sehr lange gedauert bevor sie sich entschlossen haben über ihre Erfahrungen zu berichten. Es bedarf auf der anderen Seite vieler Zuhörer, vieler Entdecker, um ihre Geschichten aufzudecken und zu bewahren, um ihre Namen und ihre Gesichter im Gedächtnis zu behalten. Ich weiß nicht, welchen pädagogischen Wert Gedenkstätten haben, und ob sie wirklich der Erziehung dienen können. — Es sind Orte der Erinnerung und Orte der Trauer, — Orte Trauern. Dort, wo wir heute ein Netz von Gedenkorten haben, gab es vor sechzig Jahren ein Netz von Lagern, von Tod und von Qual. Das ist nun einmal der Boden auf dem wir leben! Für alle die, die längst nach dieser Zeit geboren wurden, für diejenigen, die sich mit den Erinnerungen daran konfrontieren, gibt es eine Frage, die sie umtreibt: „Wo hätte ich damals gestanden, auf welcher Seite? Wie hätte ich mich verhalten?" Die ehrliche Antwort darauf lautet: niemand kann das wissen! Es hat anständige und mutige Menschen in allen Schichten und Situationen gegeben. Alle Versuche von Wissenschaft und Forschung gewissermaßen ein Raster zu entdecken, nach welchem Menschen selbst unter stärkstem Druck ihre Moral und ihr Gewissen behalten, sind fehlgeschlagen. Es gibt dieses Raster nicht. — Nicht das Herkommen, nicht der Grad der Bildung, auch nicht die religiöse Erziehung bieten Anhaltspunkte für bedingungslosen Anstand und zuverlässige Immunität gegen das Böse. Das bedeutet nichts anderes, als dass jeder und jede von uns diese Kraft in sich suchen kann, egal woher man kommt, egal wo und unter welchen Umständen man lebt. — Ich finde das sehr tröstlich.

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Für Freihandel

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Für Freihandel

Tribute to Otto Graf Lambsdorff Jagdish Bhagwati* The celebration of Otto Graf Lambsdorff s life is more than appropriate. He has been a major figure in German politics, with important portfolios in the cabinet. But, equally important, he has been on the world stage, as a statesman with a vision and with principled convictions that have brought his wisdom and his insights to shape the policy thinking of world leaders effectively to bear on the good of mankind. It is an honour and a privilege for me, a friend and admirer over many years — I am happy to add also that and my wife Padma Desai are also old friends of the Lambsdorffs - , to join in the tributes that are his due on this occasion. Otto's thinking, on how a society can best pursue the common good, has really come into its own in the postwar period. Today, unlike at the beginning of the last half century, economists and social scientists, even policymakers worldwide, realize that there are three components to a society and economy that advances human welfare: •

Openness: an embracing, rather than a fearful and rejectionist, view of integration into the world economy on the dimensions of trade and direct investment;



Economic Freedom: a judicious use of markets to achieve one's objectives; and



Political Freedom: a total acceptance of democracy.

Countries that rejected all three, such as the Soviet Union, went eventually into decline. Countries that embraced all three have done extremely well as democratic India, my country of birth, has discovered since its reversal of virtual autarky and reliance on markets, illustrates. The cocktail made from these three liqueurs is a heady one; it works wonders. True, perestroika (economic reforms) without glasnost (democracy) can get you going for a long time, as China since its economic reforms, shows. But can anyone seriously claim that they do not have the most profound reservations about China's enormous growth rate being sustainable as the lack of democracy creates social disruption, and eventual political instability, from China's awakened masses?

* Dr. Jagdish Bhagwati ist Professor für Wirtschaftswissenschaft und Politik an der Columbia University, New York.

Jagdish Bhagwati: Tribute to Otto Graf Lambsdorff

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I deliberately emphasize the sustainability of economic performance and prosperity since it is possible to register high growth rates with bad policies for longish periods, but not beyond. I recall the true story of an overheard conversation between my radical teacher, Joan Robinson of Cambridge University, and the mainstream economist Gus Ranis of Yale University, many years ago. They were agreeing, astonishnigly, on Korea's phenomenal success. The paradox was resolved when it became clear that Mrs. Robinson was talking about North Korea and Ranis about South Korea! Well, now, we know who was on the ball! The North Korean miracle based on simply huge investments and none of the three policy elements set out above, had to terminate, as it did. This lesson is important also for the rich countries today, whom Lambsdorff often addresses. There is little doubt that many in the United States, Germany and France, are terrified by trade (the tide of my next book, timed for the US Presidential election). They see trade with India and China, in particular, as posing dangers. In the US, even trade with Mexico was widely believed to be dangerous to the US and to its workers. This was, if I may use an analogy, like a German rottweiler being afraid of a French poodle (Mexico) or of a Labrador (China and India)! These fears are unjustified, when you analyze them, as I have done in my 2004 book, In Defense of Globalisation (which I might add is a huge success in English and has also been translated into many languages but not in German and French, saying something perhaps about the fears in these countries of Globalization which extend into fears by the big publishers that a translation would not sell while intellectually disreputable antiGlobalization books sell instead to fearful masses: I often cite the Russian proverb that „Fear has big eyes" and add that „It also has deaf ears"). As Germany starts the debate on the best way to respond to Globalization today, which must be based on the notion that it represents an opportunity and not a threat, Chancellor Angela Merkel can do no better than to listen to my good friend Lambsdorff. Indeed, Lambsdorff needs no conversion to the right mix of policies. He has always backed them, having arrived at them ahead of most politicians; and I have been witness to his passionate advocacy of them on many occasions. So I salute him with the greatest enthusiasm. May he continue teaching us these, and other lessons, for many years to come.

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Vom Freihandel zur Ordnungspolitik Horst Werner* Im Kampf um die Freiheit ist die Protektion nach den Liberalisierungen der TokioRunde auf dem Vormarsch: Aufrüstung mit nichttarifaren Handelshemmnissen, Subventionen, „Industriepolitik", „sozial" und „ökologisch richtigen Preisen" und weltweiten Konzentrationsprozessen als Problem einer globalen Wettbewerbsordnung. Die verschiedenen Anläufe für weitere Liberalisierungsrunden haben die Aufrüstung in der Protektion nur wenig bremsen können. Als Gegenkraft hat aber die Öffnung von Märkten durch altvertraute Ursachen gewirkt, für das, was seit Anfang der neunziger Jahre „Globalisierung" genannt wird: Die dominierende politische Ursache war der Zusammenbruch des weitgehend gegenüber der westlichen Welt abgeschotteten kommunistischen Imperiums; wirtschaftliche Ursache für den Abbau natürlicher Handelshemmnisse war der technologische Fortschritt, der weltweit die Transaktionskosten für den internationalen Güter- und Kapitalverkehr senkte: für Information, Kommunikation, Logistik und Transport im engeren Sinne. Wenn Gabor Steingart 2006 den „Weltkrieg um Wohlstand"1 verkündet, dann bedeutet das noch lange nicht, dass uns dadurch noch mehr Protektion droht, auch wenn es der Wirtschaftsjoumalist Deutschlands 2005 ist, der gegen angebliches Freihandels-Laissez-faire nun endlich Protektion fordert, natürlich nicht etwa „Protektionismus": Dafür ist man sich denn doch zu fein. Außerdem könnte sich nach so viel meisterlicher Buchwerbung in Fernsehen und Zeitungen Steingarts Variante parfümierter Protektion auch mit dem nächsten Harry Potter oder einem neuen * Dr. Horst Werner ist Referent am Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung. 1 Vgl. dazu Otto Graf Lambsdorff im Streitgespräch mit Gabor Steingart, Die Welt vom 10. Oktober 2006. Hintergrund: Gabor Steingart, Weltkrieg um Wohlstand - Wie Macht und Wohlstand neu verteilt werden, München, Zürich 2006. Es passt zu Steingarts spezifischer Kunst zu überzeugen, dass er dieses Buch für Protektion durch sein Gespräch mit dem dritten Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Samuelson (1970; zweite Verleihung) abschließt. Kein Problem, wenn auch hier mehr als nur die Schlagzeilen gelesen werden. Denn Samuelson war kein Wort für Protektion zu entringen. Samuelson schlägt im Kern vor, wofür Steingart 2005 zum Wirtschaftsjournalisten des Jahres gekürt wurde (S. 371 ff.). Das aber ist 2006 keine neue Nachricht wie ein „Weltkrieg". Für eine aktuelle Alternative Otto Graf Lambsdorffs zur Protektion vgl. sein Positionspapier „Mehr Beteiligungskapital - mehr Marktwirtschaft" mit seinem Plädoyer für mehr Kapitalbildung jeder Art in Deutschland, vor allem Humankapital und Beteiligungskapital/Eigenkapital für den Mittelstand: Positionliberal des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung, Potsdam, November 2006. Zu binnenwirtschaftlichen Reformen für Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, die mit Freihandel vereinbar sind, vgl. an die Adresse der Linken: Joachim Mitschke, Vollbeschäftigung und Globalisierung - ein Widerspruch?, in; Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte, Nr. 10/2006, S. 55 ff.

Horst Werner: Vom Freihandel zur Ordnungspolitik

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Renner zur Klimakatastrophe totlaufen. Auf so leichte Schultern lassen sich die Mahnungen im Steingart-Stil nicht nehmen, „der Westen" möge endlich auf „Fernost" mit Protektion antworten: „Kampf dem Raubkatzenkapitalismus!" Denn der trage ja außerdem noch alle Makel skandalöser Umwelt- und Sozialstandards. Das solle jeder Deutsche bedenken, der „sich für den Kühlschrank aus China entscheidet".* 1. Das Problem: Die Macht von Dummheit und Vorurteil Steingarts Wortwahl vom „Weltkrieg um Wohlstand" und „Raubkatzenkapitalismus" ist weniger dadurch gefahrlich, dass er es wagt, seinen Rezepten für eine neue Weltwirtschaftsordnung den Segen ausgerechnet von „Walter Eucken und Alfred MüllerArmack" herzuschwindeln. Weil heute kaum einer Eucken und Müller-Armack kennt — offenbar nicht einmal Gabor Steingart —, werden ihm diese Kronzeugen nicht viel helfen, bei den Kennern allenfalls zu Lacherfolgen. Denn die Außenwirtschaft und Fragen der Weltwirtschaftsordnung hatte Eucken seinen Schülern F. W. Meyer und F. A. Lutz überlassen, ansonsten seinem kongenialen Gründungsbruder der Sozialen Marktwirtschaft Wilhelm Röpke. Und Müller-Armacks starke Seite war ausgerechnet die Weltwirtschaftsordnung nicht. Umso bewundernswerter war Müller-Armacks Geduld bis zu seinem Tode, von seinen jungen Mitarbeitern zur Außenwirtschaftspolitik dazuzulernen. Gefahrlich nicht nur für den Freihandel, sondern für eine Ordnung in Freiheit insgesamt, wird die Macht gefahrlicher Worte erst durch Volksverdummung, selbst in Medien, von denen man dies nicht so leicht erwartet wie üblicherweise z. B. in Fernseh-Nachrichten zum Welternährungstag über die Ursachen des zu Recht als unerträglichen Skandal gegeißelten Hungers in der Welt: Dazu passt die Kommentierung Gabor Steingart, Kampf dem Raubkatzenkapitalismus!, Der Westen ist nicht so wehrlos, wie er sich fühlt, FAZ vom 17. Oktober 2006. Uberzeugend darin ist so manche Mahnung an die Politik, die mit mehr „Protektion" gar nichts zu tun hat. Weniger überzeugend ist nach Jahrzehnten regelwidriger Protektion gegenüber „Fernost" und durch „Fernost" gegenüber „dem Westen" und innerhalb von „Fernost" und der Dritten Welt insgesamt Steingarts sehr spätes Erwachen, dass Fernost „die Spielregeln zu seinen Gunsten verändert" habe. Gegen die Spielregeln freien multilateralen Handels haben vor und nach der Havanna-Charta von 1948 alle verstoßen, systematisch von Anfang an vor allem die mit aufgeklärtem Merkantilismus erfolgreichen und die mit Importsubstitution und Abschottung erfolglosen Entwicklungsländer in „Fernost". Jahrzehnte westlicher Gegenwehr - lange vor Steingarts Erwachen - mit „effektiver Protektion", orientiert an der Wertschöpfung, waren offenbar erfolglos, wenn aus „Tigerstaaten" der siebziger Jahre - und anderen NICs - Steingarts „Löwen" von 2006 werden konnten. Entkleidet von aller Effekthascherei, könnte Steingarts Ruf nach vereinter Protektion „des Westens" auch das ganz normal langweilige Argument für pragmatische Wege zu freierem Handel sein, endlich vereint Druck zu machen, damit der protektionistische Handelspartner bei der Protektion abrüstet und bei den Menschenrechten aufrüstet. 2

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der Zeitung in Steingarts „Raubkatzenkapitalismus"-Artikel zur Protektion - Märchen gegen Fakten. Denn Protektion wurde schon im Viktoriarianischen Zeitalter z. B. gegenüber dem eigenen Kaiserreich Indien fortgeführt, reicht später über ganze Serien von Welttextilabkommen und Agrarprotektion, ergänzt durch Protektion gegen „sensible Produkte" in der neuen Exportpalette asiatischer „Tigerstaaten", der „NICs", in den siebziger Jahren, bis zum noch immer erfolglosen Kampf der WTO und der Einzelstaaten z. B. gegen Produktpiraterie, der in Heiligendamm auf dem Weltwirtschaftsgipfel 2007 erneut auf der Tagesordnung steht. Bei der immer werbeträchtiger organisierten Volksverdummung zur Rolle von Freihandel und Protektion geht es in der Globalisierungsdiskussion unmittelbar um die Folgen für Wohlstand und Arbeitsplätze. Gabor Steingart hat insofern recht: Es geht auch hier letztlich um Werte. Problematisch ist nur Steingarts kruder Policy Mix von Reformpolitik im Inneren und mehr Protektion des Westens als Antwort auf die Defekte der inneren und äußeren Ordnung erfolgreicher Entwicklungsländer. Ausgerechnet auf dem Feld der Interdependenz von innerer Ordnung und Weltwirtschaftsordnung brauchen weder ordnungspolitisch orientierte „Professoren" noch Otto Graf Lambsdorff Nachhilfeunterricht durch Gabor Steingart. Denn es ist die Auseinandersetzung um die Freiheit des internationalen Handels, die zur Ursuppe marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik wurde. Ein Ergebnis vorweg: Die Frucht, an der man marktwirtschaftliche Ordnungspolitik erkennt, ist eine Politik aus einem Guss, die an den Ursachen anknüpft, statt Symptome zu bekämpfen, also auch nicht mit der Protektion vom Typ Steingart. Für den engen Zusammenhang zwischen Freihandel, Ordnungsidee und Werten stehen nicht nur frühe literarische Zeugen wie Theseus und Herakles in der westlichen Sagenwelt, die Apologetik für Freihandel und Unternehmergeist in Sindbads Reisen im Orient, und Hugo Grotius, der 1625 in De jure belli ac pacis libri tres die wissenschaftlichen Autoritäten der Antike für Freihandel unter der Herrschaft des Rechts aufmarschieren lässt. Bereits vor rund 400 Jahren hatte der Herzog von Sully für Heinrich IV. von Frankreich und Jakob I. von England seinen Plan für die Neuordnung Europas vorgeschlagen. Grundlage für die europäische Politik sollte Handelsfreiheit sein; für den Schutz nach außen waren ein Heer von 320.000 Soldaten und eine Flotte von 120 Schiffen vorgesehen.3 Schon hinter diesem Konzept stand,

3 Vgl. Carl J. Burckhardt, Sullys Plan einer Europaordnung, in: Ders., Gestalten und Mächte, neue, vermehrte Ausgabe, Zürich 1961, S. 150 ff., insbesondere S. 153 - und für das Verständnis des Ganzen S. 180 f. Gegenüber Drittstaaten hätte auch Sully wahrscheinlich alles andere als lupenreinen Freihandel vorgeschlagen, den es bis heute — also schon vor Gabor Steingart - ja auch nie gab. Er wäre eher den stets modernen Vent-for-surplus-Ideen z. B. bei Grotius gefolgt, die über die spätere französische Getreidepolitik nicht unerheblich zum Sturm auf die Bastille beitrugen.

Horst Werner: Vom Freihandel zur Ordnungspolitik

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was noch heute für Europa und seine Rolle in einer Weltwirtschaftsordnung als Wertevorrat aktuell ist: •

Freihandel steht für den ethischen Anspruch der kosmopolitischen liberalen, niemanden wegen seiner Nation, Rasse oder Religion vom freien Tausch der Güter oder der freien Bewegung von Kapital und Arbeit auszuschließen oder ihn zu diskriminieren.



Freihandel steht gegen staatliche Privilegierung, sei es der Landwirtschaft und der Manufakturen, des „Frachthandels" (stellvertretend für Dienstleistungen), des „Agrarstaats" oder des „Industriestaats".



Freihandel steht für eine föderale Ordnung — national und international - , die friedliches Zusammenleben verschiedenartigster Menschen und Kulturen fördert.4

Dieser Beitrag von Jahrhunderten Auseinandersetzung der Freihändler mit ungehobelten, manchmal sophistischen und selten feinsinnigen Rechtfertigungen von Diskriminierung, Regulierung und Wettbewerbsfeindlichkeit ist ein kultureller Gewinn für Mensch und Natur. Ausgerechnet mit sozialen und ökologischen Argumenten könnte dieser Wert verspielt werden, wenn es die Macht der Dummheit in Zeiten von Angst und sozialer Not besonders leicht hat. Dann zündet bereits ein eingängiges Schlagwort wie vom „Weltkrieg um Wohlstand". Eine langfristige Dimension des Wohlstandsproblems wird heute auch durch ökologisch motivierte Kreislaufüberlegungen zur Re-Regulierung des internationalen Handels belebt: Mit Gütern werde schließlich auch das Wasser exportiert, das zu ihrer Produktion aufgewendet werden müsse: 140 Liter für eine Tasse Kaffee, 14.000 Liter für ein Kilogramm Steak — und das würden ja vor allem Amerikaner verzehren5: Die 4 Wilhelm Röpke forderte „Föderalismus — national und international" als Grundlage einer globalen Nachkriegsordnung. (Neue Zürcher Zeitung vom 24. und 27. Mai 1949.) Heute würde man dies — verbal aufgerüstet - eher als „Grundlage der Architektur einer globalen Friedensordnung" bezeichnen. Vgl. dazu auch Carl J. Burckhardt, Sullys Plan einer Europaordnung, zu Dubois, einem Schüler von Thomas von Aquin, a.a.O., 178 f. Wie wichtig der Beitrag einer inneren föderalen Ordnung für den Frieden sein könnte, hat in neuerer Zeit auch die Auseinandersetzung um die föderale Verfassung für den Irak gezeigt. Vgl. dazu Otto Graf Lambsdorff, Eine Verfassung der Einheit in Vielfalt für die Bürger des Irak, Vortrag vom 11. Juli 2005 auf der Internationalen Akademie für Führungskräfte „Constitution Building in Iraq" (11.-16. Juli) in der Theodor-HeussAkademie Gummersbach. Zur Geschichte der Freihandelsidee, speziell auch zum kosmopolitischen Freihändlertum von 1600 bis zu Wilhelm Röpke vgl. Wilhelm Bickel, Die ökonomische Begründung der Freihandelspolitik, Zürich 1926: einst preisgekrönt, heute vergessen. 5 Vgl. Frank Kürschner-Pelkmann, 140 Liter für eine Tasse Kaffee, Süddeutsche Zeitung vom 22. August 2006; gegen Privatisierung in der Wasserversorgung: Ders., Der Traum vom schnellen Wasser-Geld, Essay, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitge-

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Amerikaner verbrauchten ohnehin schon zuviel Energie und seien beim KyotoProtokoll auch noch bockig. Außerdem: Mittelbare Exporteure von Wasser seien ohnehin die unter Globalisierung leidenden Entwicklungsländer! Das stimmt zwar so nicht und wäre auch kein Argument gegen nichtcüskriminierenden Freihandel auf offenen Märkten, soweit es stimmt,6 aber so kommt es in den Medien gut an. Auf dem Wege zu einer globalen Ordnung der Freiheit, der Toleranz und des Friedens hat es die Freihandelsidee darum schwer gegen die Macht der Dummheit und des Vorurteils. Auch hier bewährt sich Ben Akiba: „Es ist alles schon einmal dagewesen", die Macht der Dummheit und die Hartnäckigkeit des Vorurteils, Freiheit gehe auf Kosten der Sicherheit7 : Vor der Zeit von Guano und Kunstdünger wurde für Rechtfertigungen von Handelsschranken auch die Furcht eingesetzt, mit den exportierten Pflanzen werde mittelbar der pflanzliche Dünger exportiert. Der fehle dann der nationalen Scholle, mache dafür die Felder der Handelskonkurrenten auch noch fruchtbarer! Da wurde — wie heute bei den mittelbaren Wasser-Exporten — um einen richtigen Kern oder ein Körnchen Wahrheit nicht zu Ende gedacht — schon gar nicht kreislauftheoretisch und vernetzt gedacht. Es war und bleibt ein Mangel und ein Erkennungszeichen der Diskriminierer, Regulierer und Verächter des Wettbewerbs: Denken in Ordnungen fehlt grundsätzlich, kreislauftheoretisches und kapitaltheoretisches Denken fehlt aus ökonomischer Inkompetenz.

schichte, Heft 25/2006 vom 19. Juni 2006, S. 3 ff., mit der wohlbekannte Variante des Mottos für Regulierung und „Daseinsvorsorge" des Staates: „Wasser ist keine Ware wie jede andere" (S. 7). Statt dessen ist Ordnungspolitik gefordert, damit Privatisierung nicht zu den schlechten Ergebnissen führt, die bereits Adam Smith generell von Unternehmen bzw. Geschäftsleuten erwartet, wenn Ordnungspolitik fehlt: „Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten ... zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man Preise erhöhen kann." (S. 112). „Kaufleute sind immer daran interessiert, den Markt zu erweitern und den Wettbewerb einzuschränken. ... Jedem Vorschlag zu einem neuen Gesetz, der von ihnen kommt, sollte man mit großer Vorsicht begegnen. ..., denn er stammt von einer Gruppe von Menschen, ..., die in der Regel vielmehr daran interessiert sind, die Allgemeinheit zu täuschen, ja sogar sie zu mißbrauchen." (Der Wohlstand der Nationen (1776), Recktenwald-Ausgabe nach der 5. Aufl. (1789; letzter Hand), München 1974, 8. Aufl. 1999, S. 112 und 213; The Wealth of Nations, Cannan-Ausgabe, S. 144 und 278.) 6 Die Absicht - über die Kritik an Freihandel und Privatisierung hinaus - wird auch am Betonen und Weglassen durch Kürschner-Pelkmann bei seinem „Forscher haben berechnet" deutlich: Betont wird der hohe Fleischverbrauch in den USA, in direktem Zusammenhang mit der Kritik des Unesco Institute for Water Education am hohen Verbrauch der Amerikaner von „virtuellem Wasser". Dass die USA zugleich - mit gewaltigem Abstand und vor Kanada - der Welt größter Exporteur desselben „virtuellen Wassers" sind, wird dagegen weggelassen. 7 Vgl. dazu Otmar Issing, Markt, Freiheit und wirtschaftliche Sicherheit, in: Ordo, Band 30 (1979; Hayek-Festschrift), S. 151 ff.

Horst Werner: Vom Freihandel zur Ordnungspolitik

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Man ahnt nicht erst seit dieser Neuauflage der Diskussion um Regulierung und Protektion im „Weltkrieg um Wohlstand" und im Kampf um knappes Wasser die Absicht .Jenseits von Angebot und Nachfrage" und den Lassowurf nach dem Wähler. Wenn solche Mad-Max-IV-Dramen weltweiter Wasserknappheit inszeniert werden, geht es wie in der gesamten Freihandelsdiskussion auch um Befreiung oder Knechtung durch Angst und Vorurteil, manchmal aber auch um gute Ziele mit dem falschen Mittel der Protektion. Man muss sich nur an die deutsche SteinkohleProtektion erinnern: Südafrikanische Steinkohle müsse erst von Apartheid gereinigt werden, bevor sie mit fünfmal so teuerer deutscher Steinkohle konkurrieren dürfe. Die außerdem noch viel schwefelärmere amerikanische Steinkohle würde andererseits nicht den deutschen Rekultivierungsstandards im Abbau entsprechen, sollte also nur bei Smog-Gefahr in den Stahlwerken eingesetzt werden, und China sei sowieso keine Demokratie.8 Leiser war man bei der Steinkohle-Protektion innerhalb der Europäischen Gemeinschaften, z. B. als die britische Regierung den Steinkohle-Bergbau gegen massivste Proteste der vom Strukturwandel Betroffenen beendete. Britische Steinkohle war zwar nicht ganz so teuer wie der deutsche Steinkohle-Bergbau mit seinen rund 150.000 D-Mark Subventionen pro Beschäftigten und Jahr, aber auf dem Weltmarkt ebensowenig wettbewerbsfähig: Bergengrüns „Gewalt der Stille" hat hier die Welt nicht zum Guten gewandelt. Denn Ruhe ist erste Protektionisten-Pflicht, wenn man sogar gegen den Wortlaut von Artikel 28 EG-Vertrag verstößt: „Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den

®Vgl. Otto Graf Lambsdorff, Festungsbau verhindern, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Juni 1992. In seiner Kritik prangert Lambsdorff den Agrarprotektionismus und den parfümierten Protektionismus der EG-Industriepolitik als einen „Bildungsskandal erster Klasse" an. An Bildungsnotstand wird man auch bei der aktuellen Diskussion um den richtigen Umgang mit dem eminent wichtigen Gut „Wasser" erinnert. Denn J.A. Allan vom Londoner King's College, der den Begriff „Virtual water" in die Diskussion einführte, wurde — gegen alle Logik — in der modernen Medienwelt dazu gezwungen, seine richtige Bezeichnung „embedded water" durch „Virtual water" zu.ersetzen. Dabei ist der Unterschied gewaltig: Wenn z. B. ein Freak mit Gameboy virtuelles Wasser vergeudet, dann wird die Welt das noch verkraften. Den Umgang mit dem äußerst knappen und knapper werdenden realen Wasser kann man dagegen nicht ernst genug nehmen: Gerade weil Wasser ein besonders wichtiges Gut ist, braucht es Wettbewerb auf offenen Märkten: Ordnung in Freiheit. Allans Begründung für den Wechsel zu „Virtual" 1993 ist endarvend für unsere Medienwelt: „Embedded water"- im Gegensatz zu „Virtual water" „did not capture the attention of the water managing Community". Das Bildungsproblem liegt also nicht bei Allan, sondern bei den medialen Vermarktern. Vgl. The Hindu Magazine, Online Edition, Art. „It's called „virtual water", 6. Juni 2004, S. Zu systematischen Lügen im Dienst der als gut behaupteten Sache vgl. auch Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten (1830/31), Frankfurt am Main 2006, S. 10 ff. zur „natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts" (S. 10).

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Für Freihandel

Mitgliedstaaten verboten." 9 Historisch verbürgt ist nämlich, dass die Briten nie mit der erneuten Bombardierung Helgolands für den Fall gedroht haben, dass die Deutschen ihnen die etwas billigere britische EU-Steinkohle per Kauf und Import wegnehmen würden.

2. Freihandel und die Grenzen der Staatsaufgaben: national und global Diese aktuell diskutierten Beispiele, auch die Widerstände gegen multilaterale Liberalisierungsrunden gemäß dem Meistbegünstigungsprinzip,

Irrwege

„Strategischer

Handelspolitik" bzw. „Industriepolitik" und die neue Angst vor der gigantischen Wirtschafts- und Handelsmacht China 10 erinnern an die ordnungspolitischen Interdependenzen: Die Ordnung der internationalen Handelsbeziehungen war immer eingebettet in die Ordnung des internationalen Währungssystems und der Freizügigkeit von Arbeit und Kapital. Das fordern allein schon der Zahlungsbilanzzusammenhang und der Zusammenhang zwischen innerer Ordnung und Ordnung der Außenwirtschaftsbeziehungen 11 . Zu den frühesten Erkenntnissen der ordnungspolitisch orientierten Außenwirtschaftstheorie gehörte, was - ethisch fundiert — als Freihandelsidee zu einer Forderung an die Außenwirtschaftspolitik wurde: Die Güter, also Waren und Dienstleis-

9Das

ursprüngliche, gegen GATT verstoßende, deutsche Mengenkontingent von x Tonnen Steinkohleeinheiten (SKE) wurde durch eine subventionsbewehrte Abnahmepflicht für deutsche Importeure ersetzt: selbstverständlich mit „gleicher Wirkung". In der ordnungspolitischen Hierarchie staatlichen Zwangseingriffe ist das nicht ohne Delikatesse: Grundsätzlich rangiert da der Befehl zu einem bestimmten Handeln noch vor dem Verbot. 10 Vgl. Otto Graf Lambsdorff, Ordnungspolitik statt Industriepolitik, Laudatio bei der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik 1993 an Václav Klaus, Ludwig-ErhardStiftung, Bonn 1993, S. 19 ff., Ernst-Joachim Mestmäcker zum Maastricht-Vertrag: Widersprüchlich, verwirrend und gefährlich - Wettbewerbspolitik oder Industriepolitik, Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 10. Oktober 1992; Wolfram Engels zur Industriepolitik, Typ Konrad Seitz, und zur Festungsmentalität: Chip, Chip, Hurra!, Über den Silizium-Patriotismus, Endkolumne der WirtschaftsWoche, Nr. 43/1991. Zu den Liberalisierungsrunden auf dem Wege zur WTO vgl. Horst Werner und Dorit Willms, Zollstruktur und Effektivzölle nach der Tokio-Runde, Forschungsauftrag des BMWi, Untersuchungen des Instituts für Wirtschaftspolitik Nr. 63, Köln 1984; Horst Werner, Das GATT heute: Die Ausnahme als Regel, in: Die Neuordnung des GATT: Regeln für den weltwirtschaftlichen Strukturwandel und Technologieverkehr, in: Beihefte der Konjunkturpolitik, Heft 34, Berlin 1987, S. 43 ff.; Wie liberal ist die deutsche Außenwirtschaftspolitik gegenüber Entwicklungsländern?, in: Benno Engels (Hrsg.), Importe aus der Dritten Welt, 3. Außenwirtschaftstagung des Deutschen Übersee-Instituts, Hamburg 1987, S. 150 ff. 11 Vgl. Hans Willgerodt, Interdependenzen nationalen Handels- und Wirtschaftspolitiken: Anforderungen an das GATT, in: Die Neuordnung des GATT, a.a.O, S. 11 ff., Handelsschranken im Dienste der Währungspolitik, Düsseldorf und München 1962. Den Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Ordnung leitete bereits F.W. Meyer am Bespiel der nationalsozialistischen Wirtschaftordnung und ihrer Devisenbewirtschaftung ab.

Horst Werner: V o m Freihandel zur Ordnungspolitik

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tangen, müssen sich frei bewegen können, damit sich die Produktionsfaktoren nicht bewegen müssen. Wenn sich die Produktionsfaktoren bewegen sollen, dann kann das der unbewegliche Faktor „Boden" (pars pro toto; gemeint: „Natur") nicht, und bevor sich der Mensch, Faktor „Arbeit" , mit seinem Humankapital und Sachkapital bewegt, soll sich der viel beweglichere Produktionsfaktor „Kapital" bewegen - gerade auch angesichts unterschiedlicher Transaktionskosten, speziell Informationskosten.12 Mit diesem Freihandelspostulat ist zugleich eine doppelte Staatsaufgabe vorgegeben: National müssen Ordnvings- und Prozesspolitik für die nötige Flexibilität der Arbeitsmärkte, die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts und für ein flächendeckend leistungsfähiges Infrastrukturangebot sorgen, damit die Menschen nicht gezwungen werden, innerhalb des Staates abzuwandern oder auszuwandern, damit die Volkswirtschaft auch attraktiv ist für attraktive Zuwanderungen, damit schließlich das soziale Netz bei der Abfederung von Strukturanpassungen nicht überfordert wird. International ist es Aufgabe der einzelnen Staaten und der Staatengemeinschaften unterschiedlichster Organisationsform, eine Ordnung zu gestalten und zu sichern, die zwar aus der Freihandelsidee folgt, bei der es aber letztlich um elementare Menschenrechte geht. Der erste Teil dieser Aufgabe erscheint einfach, ist aber in der politischen Praxis dennoch schwierig: Der Staat muss auch lassen können, muss auf Regulierungen und Kontrollen des internationalen Güter-, Kapital- und Zahlungsverkehrs verzichten können, damit Wanderungszwänge für Menschen wenigstens so minimiert werden, dass ihre sozialen Folgen gemeistert werden können. Der zweite Teil der Staatsaufgabe besteht darin, national und global die rechtliche und institutionelle Rahmenordnung zu gestalten, die eine globale Ordnung der Freiheit, des Wohlstands und des Frieden erfordert. Ansätze dazu — vor Völkerbund, Vereinten Nationen, Havanna-Charter, GATT und z.B. Internationalem Währungsfonds —, waren der Abbau von Handelsschranken innerhalb der Reiche, die Pax Britannica, die Zentralbankverfassungen nach der Peelschen Bankakte von 1844 und die von London dominierte Goldwährung bei weitgehend freiem Kapitalverkehr. Heute ist es nach den Erfahrungen aller Liberalisierungen seit der Tokio-Runde vordringlich, den bisher nur im Namen voll gelungenen Weg vom Allgemeinen Zollund Handelsabkommen (GATT) zum Welthandelsabkommen (WTO) zu einer

12

Um Beweglichkeit und Gravitationskräfte im Kapitalverkehr bei relativen Informationskosten geht es in der so oft falsch zitierten, weil kaum gelesenen Passage von der „unsichtbaren Hand" (S. 371; Cannan-Ausgabe, Bd. I, S. 477); im „Wohlstand der Nationen". Vgl. a,a.O, S. 368 ff.; Cannan-Ausgabe, Bd. I, S. 474 ff.; Horst Werner, Adam Smith zur Reform der Weltwirtschaftsordnung, in: Ordo, Bd. 27 (1976), S. 73 ff.

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Für Freihandel

Weltwettbewerbsordnung weiterzugehen. 13 Und aus dem zwischen Moden oder politischer Opportunität schwankenden Internationalen Währungsfonds muss eine verlässliche internationale Währungsordnung werden. 14

Freihandel, Föderalismus, Frieden Der Kampf für freien Handel auf offenen Märkten ist ein Stück Kulturgeschichte, das Abendland und Orient gemeinsam in der Abwehr von Fundamentalismus, Intoleranz und Despotismus haben. Das ist auch wichtig für Lösungen der Sicherheitsprobleme heute, die auf Kommunikation statt „Kampf der Kulturen" setzen. Denn die an sich richtige Zuordnung der ethischen Grundlagen von Wettbewerb auf offenen Märkten zu den Moraltheologen der Aufklärung würde missverstanden, wenn man sie aus dem geistigen Zusammenhang löst: der Universität Cördoba eines Averroes und Maimonides im 12. Jahrhundert und der Integration wiederentdeckten antiken Gedankenguts in ein neues Menschenbild der Renaissance und des Humanismus: V o n Theseus' Überwindung der Wegelagerer über Herakles im Sieg für Rechtssicherheit und Sindbads Reisen für die Verbreitung von Innovation und Wohlstand unter dem Segen von Allah fuhrt dann ein klarer Weg von der Freihandelsidee zu besseren Chancen für Frieden. 15

13 Vgl. Wolfgang Gerhardt, Die WTO als Kernstück einer internationalen Wettbewerbsordnung, in: „Ordnungspolitik in der Weltwirtschaft", Lüder Gerken/Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), BadenBaden 2001, S. 49 ff.; Juergen B. Dönges, Kritisches zu den Forderungen nach einer strategischen Industriepolitik, in: Rolf Hasse, Josef Molsberger, Christian Watrin (Hrsg.), Ordnung in Freiheit, Festgabe für Hans Willgerodt zum 70. Geburtstag, Stuttgart, Jena, New York, 1994, S. 182 ff.; FDP, Programm zur Bundestagswahl 1994, Für offene Weltmärkte, S. 31 f.; Henning Klodt, Wege zu einer globalen Wettbewerbsordnung, Liberales Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung, Argumente der Freiheit, Band 10, St. Augustin 2003 (auch auf Englisch). 14 Vgl. Hans Willgerodt, Die Krisenempfindlichkeit des internationalen Währungssystems, Berlin 1981; Horst Werner, Ordnungsprobleme internationaler Kapitalmärkte, in: Helmut Gröner und Alfred Schüller (Hrsg.), Internationale Wirtschaftsordnung, Festgabe für F. W. Meyer, Stuttgart, New York, 1978, S. 193 ff.; Patrick Welter, Weniger ist mehr!, Zukunftsperspektiven für den Internationalen Währungsfonds, Liberales Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung, Argumente der Freiheit, Band 12, St. Augustin 2004; Axel Dreher, Unter falschen Bedingungen. Die bisherige Auflagenpolitik des Internationalen Währungsfonds ist erfolglos und oftmals sogar schädlich, FAZ vom 15. April 2006. 15 Herbert Giersch veranschaulicht wie Adam Smith die überragende Rolle der Kommunikation als „notwendige Bedingung für die Evolution der Menschheit, für die kulturelle und die wirtschaftliche" Entwicklung an Beispielen der Arbeitsteilung, die mit der Öffnung von Märkten intensiver, aber dadurch auch störanfälliger wird. Vgl. Weltwirtschaftliche Perspektiven: Kommunikation und weltwirtschaftliche Entwicklung, Laudatio auf den Ludwig-Erhard-Preisträger für Wirtschaftspublizistik 1989, Dr. Hans Dietmar Barbier, Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, 24. Februar 1989, S. 23 ff. Einen guten Überblick über die Beiträge der antiken Philosophie bietet Hugo Grotius, wenn auch aus dem schlechten Grund, Streitfragen des internationalen Rechts durch Berufung auf „Autoritäten" zu entscheiden: von Plato bis zur Heiligen Schrift. De jure belli ac pacis libri tres (Paris 1625),

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Ein skeptischer und dennoch konstruktiver Ausblick zum Bildungsproblem der Freihandelsidee und zu ihren ordnungspolitischen Früchten: Uber Globalisierung, Freihandel und Nachhaltigkeit kann heute jeder mitreden und seine Vierundsechzigstel- bis Halb-Wahrheiten zum Besten geben. Das hat der technologische Fortschritt beim Anschein von Information und Kommunikation möglich gemacht. Damit konnten die Fortschritte in Richtung auf eine besser informierte oder gar besser gebildete Gesellschaft nicht mithalten. Fragt man vierzehn Tage nach dem Examen für solche Themen formal prädestinierte Ökonomen nach der Theorie der komparativen Vorteile, dann enttäuscht die Antwort bei weit über 90 % der Befragten jeden Fortschrittsglauben. Das ist ein trauriges Ergebnis - 223 Jahre nach Kants warnenden Erläuterungen um seine berühmte Aufforderung: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."16 Denn über 90 % der geprüften wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulabsolventen haben diese elementare Grundlage aller außenwirtschaftlichen Diskussionen auf der Basis von Ricardos Kapitel VII nicht einmal in ihrem mündlichen Examen beherrscht; vom Einstieg in die dynamische Betrachtung z. B. mit Ricardos Kapitel XIX „Über plötzliche Veränderungen in den Handelswegen" nie gehört. Nun müsste man über die Fähigkeit zur unvoreingenommenen und exakten Analyse auch noch „vernetzt" denken können, also in Euckens ordnungspolitischen Interdependenzen, wo doch schon die Übertragung der realen Theorie der komparativen Vorteile auf die monetäre Theorie der Außenwirtschaft so schwer fällt. Wie kann nach einem so traurigen Ergebnis auf dem Wege zu Aufklärung und Vernunft ein konstruktiver Ausblick folgen? Für wenige Auserwählte mögen die Enzykliken „Centesimus annus" und „Fides et ratio" weiterhelfen. Papst Johannes Paul II. verlangt bei der Ratio allerdings eher mehr als ein Hans Willgerodt oder Juergen bereits in den Prolegomena. Leichter verfügbar als die sehr gute deutschsprachige Ausgabe von Thomasius (1707; Schätzel, Tübingen 1950) ist die Übersetzung ins Englische, unter www.lonang.com/exlibris/grotius/index.html Marktwirtschaftliche Ordnungspolitik ist auch nach moralischen Maßstäben überlegen: durch Gestaltung einer Wettbewerbsordnung mit Vorrang des Privaten in einer nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebauten föderalen Ordnung. So kann die bestmögliche Verbindung von freiwilliger Kooperation in der Verantwortungs- und Werte-Gemeinschaft mit Wettbewerb für Innovation geschaffen werden, die zugleich mehr Sicherheit durch mehr Freiheit schafft. Mit der Freiheit tun sich die Deutschen schwer, weil ihnen meist Sicherheit vor Freiheit geht. Denn ähnlich wie bei Wettbewerb und Kooperation wird einseitig meist ein Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit erwartet. Dieser Zusammenhang ist der Hintergrund des Interviews „Freiheit und Verantwortung gehören zusammen" (24. April 2005) des Internetprojekts „Politik für die Freiheit" der Virtuellen Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung.: www.virtuelle-akademie-fnst.org 16 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, wieder abgedruckt bei Reclam, Universal-Bibliothek Nr. 9714, Stuttgart 1974, S. 9.

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B. Dönges im Ökonomen-Examen. Und nicht bei jeder Frage und bei jedem Urteil ist es richtig oder ziert gar den Christen, Verstand durch Glauben zu ersetzen. Denken und Handeln nach einfachen Grundsätzen mit Langfristdenken, wie es die Freihandelstheorie anstieß und wie es marktwirtschaftliche Ordnungspolitik ausmacht, ist der Weg, der den menschlichen Verstand, den Mut und den Fleiß (s. Kant, 2. Absatz, 1. Satz) nicht überfordert. Gegen allen alten protektionistischen Wein, gezogen auf moderne Mathematik-Flaschen ohne Flaschenöffner, hilft nämlich die bescheidene Weisheit von Edgeworth: „Freihandel — wie Ehrlichkeit — ist immer noch die beste Politik." Wenn auch die Anpassungsprobleme der kurzen Frist beachtet werden, dann bleiben den Protektionisten nur die kurzen Beine der Lüge mit optimalen Protektionsstrukturen, über die intelligente Protektionisten eigentlich lachen oder weinen müssten: je nach Temperament. Auf der Grundlage neuer Bescheidenheit beim ehrlichen Wägen der Grenzen des eigenen Verstandes taugt im Kampf für freien Handel auf offenen Wettbewerbsmärkten dann auch die Aufwertung der Rolle des Herzens, hier einmal am rechten Orte: „Für den Freihandel begeistern!"17

17 Otto Graf Lambsdorff, Titel der Einführung in den Band „Ordnungspolitik in der Weltwirtschaft", a.a.O., S. 15. Zum einzigen wissenschaftlich haltbaren ökonomischen Second-Best-Argument für Staatshilfe — ohne Protektion - im Falle systematischer Unvollkommenheiten des Kapitalmarktes vgl. W.M. Corden, Trade Policy and Economic Weifare, Oxford 1974, insbesondere S. 109 ff. und 231 ff. Wichtig ist diese Ausnahme nicht nur als „Erziehungsargument" für Staatshilfe in der Außenwirtschaft, sondern auch für Existenzgründer, junge und mittelständische Firmen mit hohen relativen Informationskosten über ihre Bonität. Beste Politik ist es, die Unvollkommenheiten des Kapitalmarkts durch Ordnungspolitik zu minimieren.

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Die marktwirtschaftliche Ordnung

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Das Wettbewerbsprinzip stärken Ulf Böge* 1. Das Spannungsfeld von Macht und Freiheit Die Demokratie ist in Deutschland und in2wischen auch in ganz Europa als Staatsform fest etabliert. Sie gewährleistet den besten Ausgleich zwischen politischer Macht und individueller Freiheit. Sie sichert die Freiheitsrechte und sorgt dafür, dass diese nicht durch Dritte beschnitten werden. Gleichzeitig setzt sie der Ausübung von politischer Macht feste Grenzen. Durch Wahlen wird der erfolgreichen Partei oder den erfolgreichen Parteien zwar Macht verliehen; es ist aber nur eine Macht auf Zeit, deren Ausübung von den Wählern bewertet und kontrolliert wird. Kontrolle von Macht ist nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der wirtschaftlichen Ebene erforderlich. In den Beziehungen zwischen Unternehmen sowie zwischen Verbrauchern und Unternehmen bedarf es der Kontrolle von Macht, damit unternehmerische Freiheit und Konsumentensouveränität soweit wie möglich unbeeinträchtigt bleiben. Daher haben wir uns mit der Sozialen Marktwirtschaft für eine liberale Marktordnung entschieden. Ein wichtiger Grundpfeiler dieser liberalen Marktordnung ist der Schutz des Wettbewerbs. Ein funktionierender Wettbewerb ist das beste Mittel zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht und zur Bewahrung unternehmerischer Freiheit und Konsumentensouveränität, denn er garantiert und begrenzt gleichzeitig die Verhaltensspielräume marktmächtiger Unternehmen. 2. Die Begrenzung wirtschaftlicher Macht durch Wettbewerb — unternehmerische Abwehrstrategien und kartellrechtliche Eingriffsmöglichkeiten Mit der Globalisierung einhergehend, scheint in der Politik wie in der Wirtschaft das Vertrauen in das Wettbewerbsprinzip zu schwinden. Zwar eröffnete die Globalisierung den Unternehmen erhebliche neue Marktchancen, gleichzeitig stieg jedoch der Konkurrenzdruck und damit das Marktrisiko. Dass genau diese Mischung aus Marktchancen und Marktrisiken den Wettbewerb ausmacht, wird dabei nicht selten übersehen. Unternehmen konzentrieren sich oft nur auf die Abwehr der Marktrisiken und versuchen, sich dem durch die Globalisierung erhöhten Wettbewerbsdruck durch , Abwehrstrategien" zu entziehen.

* Dr. Ulf Böge ist Präsident des Bundeskartellamtes.

Ulf Böge: Das Wettbewerbsprinzip stärken

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Eine „Abwehrstrategie" besteht darin, mit Wettbewerbern zu fusionieren, um die eigene Markt- und Machtposition auszubauen. Beispiel Breitbandkabelmarkt: Im Jahr 2002 beabsichtigte das amerikanische Unternehmen Liberty Media, das Breitbandkabelnetz der Deutschen Telekom zu erwerben. Zwei Jahre später plante Kabel Deutschland, ish, iesy und Kabel Baden-Württemberg zu übernehmen. Mit diesen Fusionen hätte es schnell nur noch einen einzigen Betreiber des Breitbandkabelnetzes in Deutschland gegeben. Die damaligen Geschäftspläne der Unternehmen deuteten darauf hin, dass ein einziges, vertikal mit dem Kabelnetz integriertes Pay-TVMonopol entstanden wäre. Zudem waren die Geschäftsstrategien darauf angelegt, auch den Decodermarkt zu monopolisieren. Die Marktposition der Wettbewerber hätte sich damit deutlich verschlechtert, und die Konsumentensouveränität wäre eingeschränkt worden. Eine weitere „Abwehrstrategie" ist der Versuch von Unternehmen, sich durch W e t t bewerb swidrige Kartellabsprachen dem Wettbewerbsdruck zu entziehen und so die eigene Machtposition abzusichern. Beispiel Versicherungsbranche: Mehrere private und öffentlich-rechtliche Industrieversicherer hatten sich im Jahr 1999 darauf verständigt, im Bereich der industriellen Sachversicherung den Prämien- und Bedingungswettbewerb zu beenden. Die Abreden sahen vor, während der laufenden Verträge keine Prämien zu senken, keine Beiträge rückwirkend anzupassen und Neuverträge nur mit Ausstiegs- und Anpassungsklauseln abzuschließen. Zudem sollten die Prämien und Selbstbeteiligungsquoten erhöht und die Vertragsbedingungen angepasst werden. Zu diesem Zweck verzichteten die Versicherer auf Konkurrenzangebote. Die für die Konsumenten wichtige Freiheit, zwischen mehreren Anbietern und Produkten wählen zu können, war damit faktisch nicht mehr gegeben. Eine dritte „Abwehrstrategie" besteht darin, dass ein Unternehmen, das bereits über wirtschaftliche Macht - sei es aus historischen Gründen oder aufgrund internen Wachstums - verfugt, diese Macht missbräuchlich ausnutzt, um Konkurrenten im Wettbewerb zu behindern oder den Markteintritt neuer Anbieter zu verhindern. Beispiel Passagierluftverkehr: Die Fluggesellschaft Lufthansa hat im Jahr 2001 versucht, die neu auf den Markt getretene Fluggesellschaft Germania durch eine Kampfpreisstrategie aus dem Markt zu verdrängen. Germania bot den Flug auf der Strecke Frankfurt-Berlin, auf der die Lufthansa bislang der einzige Anbieter (und damit Marktbeherrscher) war, zu einem Tarif von 99 Euro an. Lufthansa senkte daraufhin ihren Flugtarif von fast 250 Euro auf 105 Euro, aber nur auf der Strecke FrankfurtBerlin. Zudem bot Lufthansa im Gegensatz zu Germania zahlreiche Serviceleistungen wie Bordservice, Vielfliegerprogramme und vor allem häufigere Verbindungen an. Dies führte zu einem Rückgang der Passagierzahlen bei Germania um knapp 40 %. Die durch die Zusatzleistungen der Lufthansa entstandenen Kosten waren durch den Flugpreis von 105 Euro aber nicht gedeckt. Lufthansa nahm diese Verlus-

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te bewusst in Kauf, um Germania aus dem Markt zu verdrängen. Anschließend hätte das Unternehmen seine Flugtarife wieder anheben können. Es ist Aufgabe des Bundeskartellamtes, gegen solche Strategien vorzugehen. Es gilt, den Wettbewerb als „Institution" zu schützen und damit fiir den Erhalt eines wettbewerblichen Marktgeschehens zu sorgen. Dafür stehen dem Bundeskartellamt die Instrumente Fusionskontrolle, Kartellbekämpfung und Missbrauchsaufsicht zur Verfügung. Die Fusionskontrolle als Strukturkontrolle verhindert die Entstehung von Marktmacht, indem sie Zusammenschlüssen dann eine Grenze setzt, wenn durch sie die Entstehung oder Verstärkung marktbeherrschender Stellungen zu befürchten ist. Denn die Erfahrung zeigt: Besitzt ein Unternehmen erst einmal eine marktbeherrschende Stellung, ist der Anreiz groß, diese auch zum Nachteil von Wettbewerbern oder Verbrauchern missbräuchlich auszunutzen. Die Strom- und Gaswirtschaft ist ein beredtes Beispiel. Die Instrumente der Kartellbekämpfung und der Missbrauchsaufsicht als Verhaltenskontrolle knüpfen dagegen direkt an ein wettbewerbswidriges Verhalten eines Unternehmens an. Im erstgenannten Fall hat das Bundeskartellamt im Rahmen der Fusionskontrolle die Übernahme des Breitbandkabelnetzes der Deutschen Telekom durch die Liberty Media und die Übernahme von ish, iesy und Kabel Baden-Württemberg durch Kabel Deutschland untersagt. Die derzeit im Breitbandkabelbereich zu beobachtende Marktentwicklung zeigt, dass es derzeit weder einen einzigen Kabelnetzbetreiber, noch einen einzigen integrierten Pay-TV-Monopolisten gibt. Im Gegenteil: Auf dem Markt ist eine Vielzahl unterschiedlicher Anbieter tätig, die verschiedene Geschäftsmodelle für eine sinnvolle Verwendung der Kabelnetze erproben. Im ^weiten Fall hat das Bundeskartellamt das Kartell der Industrieversicherer mit empfindlichen Geldbußen von insgesamt 150 Mio. € bestraft.1 Im dritten Fall hat das Bundeskartellamt der Lufthansa untersagt, den Flug FrankfurtBerlin unter Kosten anzubieten. Lufthansa musste seinen Flugpreis auf rund 130 Euro anheben. Hätte die Lufthansa damals ihre wirtschaftliche Macht ungehindert gegenüber der Germania ausspielen können, wäre sicherlich die heutige Wettbewerbssituation im deutschen Luftverkehr nicht denkbar. So aber war die Basis für den Billigflugverkehr in Deutschland — und das nicht nur auf der Strecke FrankfurtBerlin - gelegt. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass Wettbewerbsschutz nicht unter einer kurzfristigen Perspektive erfolgen darf. Denn auch wenn der Kampfpreis der Lufthansa für den Verbraucher kurzfristig gesehen Vorteile gebracht hätte, wäre mittel- und langfristig der Schaden groß gewesen.

1 Die Betroffenen haben gegen die Entscheidung des Bundeskartellamtes Einspruch eingelegt; der Fall ist noch beim Oberlandesgericht Düsseldorf anhängig.

Ulf Böge: Das Wettbewerbsprinzip stärken

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3. Protektionismus und Industriepolitik versus Wettbewerbsprin^p? Nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch in der Politik ist in letzter Zeit ein erhöhtes Misstrauen gegenüber dem Wettbewerbsprinzip zu beobachten. Dies zeigt sich beispielsweise in dem Bestreben, kartellrechtliche Vorschriften aufzuweichen — wie erst im Jahr 2005 anlässlich der Diskussion um eine Lockerung der Pressefusionskontrolle im Rahmen der 7. GWB-Novelle zu beobachten war. Auch die Versuche, mit industriepolitischen und protektionistischen Maßnahmen einzelne „national champions" zu fördern beziehungsweise heimische Unternehmen vor internationalem Wettbewerb zu schützen, sind hierfür ein beredtes Beispiel. Wie groß das Misstrauen gegenüber dem (internationalen) Wettbewerb ist, wurde zuletzt angesichts der Debatte um eine Fusion zwischen Springer und Pro7/SAT 1 deutlich. Nachdem das Bundeskartellamt den Zusammenschluss untersagt hatte, meldeten sich Stimmen, die befürchteten, dass die privaten Fernsehsender einem „ausländischen Unternehmen" zufallen würden. Springer sei als Erwerber schon vor dem kulturellen Hintergrund vorzuziehen. Dabei hatten die Kritiker wohl übersehen, dass sich Pro 7/SAT 1 bereits in „ausländischer Hand" befand. Auch wurde in der Debatte außer Acht gelassen, dass inländische Unternehmen der gleichen Branche ihrerseits — und das völlig zu Recht! — für sich ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen, auf ausländischen Märkten tätig zu sein. Protektionistisches Verhalten ist allerdings kein rein deutsches Phänomen, sondern scheint mittlerweile in zahlreichen europäischen Mitgliedsländern verbreitet. Der Fall Mittal/Arcelor war ebenso ein Ausdruck von Protektionismus wie der Schutz polnischer Kreditinstitute vor einer ausländischen Übernahme, das politische Eingreifen Spaniens im Fusionsvorhaben E.ON/Endesa und die von der französischen Regierung initiierte Verschmelzung von Gaz de France und SUEZ. Auch wenn industriepolitische Maßnahmen kurzfristigen Erfolg zu versprechen scheinen, so belegt doch die Vergangenheit, dass sie auf lange Sicht nicht die erhofften Ergebnisse bringen. Denn Größe an sich ist keine Garantie und kein Maßstab für Erfolg. Zahlreiche industriepolitische Aktivitäten sind nach mehreren Jahren gescheitert. Beispiele sind die in der Ölkrise in den 70er Jahren gegründete und später wieder geschlossene deutsche Gesellschaft Deminex oder die Förderung des französischen Prestigeobjekts Concorde in den 60er und 70er Jahren. Schwerwiegend ist jedoch nicht nur das endgültige Scheitern industriepolitischer Projekte, sondern die durch die Industriepolitik entstehenden Wettbewerbsverzerrungen in einer Volkswirtschaft. Die politische Förderung eines „national champion" geht letztlich zu Lasten inländischer, leistungsfähiger Wettbewerber, Unternehmen vor- und nachgelagerter Wirtschaftsstufen sowie der Verbraucher.

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Ein Beispiel hierfür ist die politisch forcierte Fusion zwischen den Energieversorgungsunternehmen E.ON und Ruhrgas. Sowohl der Strom- als auch der Gasmarkt sind mitderweile hoch konzentriert. Die dadurch bedingten Preiserhöhungsspielräume belasten private Verbraucher wie industrielle Abnehmer und beeinträchtigen die internationale Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen. Mit steigender wirtschaftlicher Macht einzelner Unternehmen ist immer die Gefahr verbunden, dass diese einen erheblichen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse und Entscheidungsträger ausüben. So verhinderte die Energiebranche im Rahmen der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes, dass die sofortige Vollziehbarkeit kartellrechtlicher Entscheidungen als Regelfall im Kartellgesetz verankert und zum leichteren Nachweis eines missbräuchlichen Verhaltens die Beweislast auf die Unternehmen gelegt wurde, so wie es im Gesetz zur Telekommunikation der Fall war. Beides hätte die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht und damit das Wettbewerbsprinzip wesentlich gestärkt - eine Konsequenz, die in der Branche ganz offensichtlich unerwünscht war. Auf das Ausnutzen der den Unternehmen erwachsenen Marktmacht reagieren die politischen Entscheidungsträger häufig erst spät und lassen das Pendel oft auch zu kräftig in die andere Richtung zurückschwingen. Die Energiebranche erlebt das zur Zeit mit einer Regulierung, die bis in die ex ante Preisfestsetzung reicht. Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht der Start eines interventionistischen Staatsverständnisses wird, der letztlich das Wettbewerbsprinzip und die freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage stellt.

4.

Fa^it

Die Erfahrung lehrt, dass wirtschaftliche Macht einer wirksamen Kontrolle bedarf und am besten schon bei ihrer Entstehung begrenzt wird. Nur so kann verhindert werden, dass Preiserhöhungsspielräume entstehen, die Produkte und Diensdeistungen unangemessen verteuern, dass an sich leistungsfähige Unternehmen aus dem Markt gedrängt werden und der Einfluss von Unternehmen auf politische Entscheidungsprozesse steigt. Die effizienteste Kontrolle wirtschaftlicher Macht wird durch wirksamen Wettbewerb ausgeübt. Denn dieser wirkt als Automatismus und macht ein selektives staatliches Handeln überflüssig. Es ist das Wettbewerbsprinzip, das den bestmöglichen Ausgleich zwischen Freiheit und Macht garantiert.

Rainer Brüderle: Die Soziale Marktwirtschaft - ein Biotop für Gewerkschaften?

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Die Soziale Marktwirtschaft - ein Biotop für Gewerkschaften? Rainer Briiderle* Kaum ein wirtschaftspolitisches Leitbild, kaum ein ökonomischer Begriff ist in Deutschland derart populär geworden wie die „Soziale Marktwirtschaft". Konservative, liberale und Sozialdemokraten - alle berufen sich in der Wirtschaftspolitik auf dieses Leitbild. So unterschiedlich die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Parteien auch sind; die Soziale Marktwirtschaft nehmen alle für sich in Anspruch. Selbst die Linken bekennen sich zur „sozialen Marktwirtschaft". Selbst die Gewerkschaften erklären, die „soziale Marktwirtschaft" habe einen hohen materiellen Wohlstand bewirkt.1 Gewerkschaften, die Wettbewerb und freies Unternehmertum verteidigen - muss man sich verwundert die Augen reiben? Alfred Müller-Armack, der Schöpfer des Begriffs, wollte mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs" verbinden.2 Das ist vage. Die Soziale Marktwirtschaft sollte von Beginn an dazu dienen, gesellschaftliche Ziele ebenso wie wirtschaftliche zu erreichen. Die Spannweite zwischen den Polen Freiheit und soziale Sicherheit, zwischen Marktlösung und Staatslenkung hat stets die Diskussion darüber entfacht, wie der gewollte soziale Ausgleich sicherzustellen ist. Immer wieder ist Austarieren und Abwägen zwischen den Polen nötig. Die Marktwirtschaft hat keinen Kompass, der automatisch zu bestimmten sozial erwünschten Ergebnissen führt. Sie wurde nach dem Krieg kritisch beäugt. Für eine breite Akzeptanz sorgte erst der unumstrittene ökonomische Erfolg in der ersten Zeit der Bundesrepublik. Mit Sozialer Marktwirtschaft gingen Freiheit und Wohlstand einher. Die Frage nach der Kausalität musste nicht gestellt werden, auch nicht die nach den konkreten Inhalten. Der Erfolg gab dem Konzept automatisch Recht. „Wohlstand für alle" wurde zum gefeierten Slogan. Das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzept, das hinter der Sozialen Marktwirtschaft steht - fast möchte man sagen, das sich dahinter verbirgt - , kann sich

' Rainer Brüderle, MdB, war von 1987 bis 1998 Wirtschaftsminister des Landes Rheinland-Pfalz. Seit 1995 ist er stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und seit 1998 stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion und deren Sprecher für Wirtschaftspolitik. 1 Vgl. DGB-Grundsatzprogramm 1996 „Die Zukunft gestalten". 2 Müller-Armack, Alfred: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration. Freiburg i. Br. 1966, S. 243.

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offenbar jeder so zurechtbiegen, wie es ihm passt. Soziale Marktwirtschaft ist weniger ein Programm als ein politisches Schlagwort. Das Wirtschaftssystem, wie es unter Ludwig Erhard zunächst angelegt war, legte den Schwerpunkt auf den Markt und die freie Preisbildung. Das Credo Erhards und seiner Mitstreiter lautete: Wirtschaftswachstum ist die beste Sozialpolitik. Marktwirtschaft strebt danach, dass sich die soziale Frage gar nicht stellt. Einige ordnende Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit sind nach ordoliberaler Auffassung nötig. Das Funktionieren des Marktes muss durch die Wettbewerbspolitik garantiert werden. Das schränkt die unternehmerische Freiheit zwar in gewisser Weise ein, schützt und erhält aber den Wettbewerb. Neben diesem ordoliberalen Verständnis dessen, was die Soziale Marktwirtschaft ausmachen soll, breitete sich die wohlfahrtsstaatliche Idee einer Wirtschaftsordnung mit der Betonung des „Sozialen" aus. Im Konflikt zwischen Markt und Sozialpolitik schlagen sich viele im Zweifel auf die Seite letzterer. Das scheint in einer Demokratie charakteristisch zu sein. Ein Abgleiten vom Wettbewerbs- in den kollektivistischen Wohlfahrtsstaat lag damit von Anfang an im Bereich des Möglichen. Friedrich August von Hayek hat das früh gesehen und sich gegen solche vagen Begriffe ausgesprochen. Das Wort „sozial" geißelte er als „Wieselwort", das „sinnendeerte Wortverbindungen" hervorbringe. Wie ein Wiesel ein Ei aussaugt, ohne dass es der Schale anzumerken ist, beraubten Wieselwörter andere Wörter ihres Inhalts. Hayek sagte 1979 in einem Vortrag an der Universität Freiburg sogar: „Was es eigentlich heißt, weiß niemand. Wahr ist nur, dass eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit — und ich furchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist." 3 Solange die Wirtschaft in Deutschland kräftig wuchs, blieb der Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Markt und Staat im Hintergrund. Wirtschaftswachstum konnte diesen Konflikt aufheben. Mit Wachstum war Wohlstand und Wohlfahrt gleichzeitig möglich. In der Zeit auskömmlichen Wirtschaftswachstums hat sich die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik immer stärker mit der Verteilung beschäftigt und zudem zu einer Verbändedemokratie entwickelt. Im westdeutschen Korporatismus hat damit auch die Macht der Gewerkschaften zugenommen. Sie haben sich das „sozial" auf die Fahnen geschrieben und die „Marktwirtschaft" als notwendiges Beiwerk hingenommen, solange diese ihnen die gewünschten Umverteilungsspielräume bot. Gelegen-

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Zitiert nach Piper, Nikolaus: Die unheimliche Revolution, in: Die Zeit vom 5.9.1997.

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heit, ihre Ziele durchzusetzen, boten die Wirtschaftswunderjahre den Gewerkschaften schließlich reichlich. In den späten sechziger Jahren bezeichnete Wirtschaftsminister Karl Schiller Globalsteuerung und „konzertierte Aktion" als „aufgeklärte Soziale Marktwirtschaft". Er wollte die Wettbewerbswirtschaft mit zentraler Planung und staatlichen Vorgaben aussöhnen. Dahinter stand die Idee von der Steuerbarkeit der Wirtschaft, der Glaube an Konjunktursteuerung mit Hilfe der Fiskalpolitik, die Vorstellung, dass gewünschte Marktergebnisse „machbar" seien. Immer weitere Bereiche sind der Kollektiventscheidung übertragen und der freien Entscheidung des Einzelnen entzogen worden. Der Beleg dafür sind Staatsquoten nahe 50 Prozent des Inlandsproduktes, Entsendegesetze, überzogener Kündigungsschutz, Frühverrentung ohne Rentenabschlag, bis in die jüngste Zeit hinein zentral festgelegte Ladenschlusszeiten oder „Marktordnungen" für bestimmte Güter, die den Namen „Markt" kaum noch verdienen. Steuerharmonisierung ist bequemer als Steuerwettbewerb. Mindestpreise sind bequemer als Kosten- und Qualitätswettbewerb. Das verträgt sich zwar nicht mit einem liberalen Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft. Es verträgt sich aber gut mit den Vorstellungen der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften haben sich im gegenwärtigen System gut eingerichtet. Warum also sollten sie es nicht verteidigen? Dass das, was sie als „soziale Marktwirtschaft" zu bewahren hoffen, längst nicht mehr das ist, was die Väter des Begriffs darunter verstanden haben, stört sie nicht. Die politisch Linken streben nicht nach einem sozial flankierten Markt. Sie wollen nicht den Preismechanismus wirken lassen. Im Gegenteil: Auf der Suche nach dem Wohlfahrtstaat, mehr noch dem umfassenden Fürsorgestaat wollen sie die Marktpreisbildung in vielen Bereichen am liebsten ganz abschaffen. Bemerkbar macht sich das dann in Forderungen nach Mindestlöhnen oder Preisbeschränkungen. Ihr Slogan „Das Soziale an der Marktwirtschaft stärken" nutzt lediglich noch den so populären Begriff. Ihr Sozialstaat hat mit dem ursprünglichen Konzept der Sozialen Marktwirtschaft aber kaum noch etwas gemein. In unserer Wirtschaftsordnung entscheiden längst nicht mehr die Eigentümer allein, was sie mit ihrem Kapital machen, wie ihre Unternehmen gelenkt werden. Unternehmerische Entscheidungen sind in den meisten Unternehmen arbeitnehmermitbestimmt. Die Mitbestimmung erstreckt sich dabei nicht nur auf Mitsprache in sozialen Fragen oder den Arbeitsschutz. Nicht überall artet das „Soziale" an der Marktwirtschaft derart aus wie im Fall Volkswagen, wo Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat sich mit Luxusreisen „betreuen" ließen. Offenbar lange schon wird sozialer Friede aber nicht mehr nur mit höheren Tariflöhnen erkauft; die Eigentümer werden massiv unter Druck gesetzt — in vielen Fällen sogar mit dem Gesetz im Rücken. Gewerkschaften können sogar die Einrichtung von Betriebsräten gegen den Willen der Belegschaft gerichtlich durchsetzen.

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Mit dem Ausbleiben des gewohnten Wirtschaftswachstums mehren sich die Verteilungskämpfe. Dass die Gewerkschaften mit immer weiterer Umverteilung, immer mehr Forderungen nach Eingriffen in die Wirtschaft die Grundlagen für das Wachstum untergraben, von denen sie lange profitiert haben, scheint ihnen erst langsam in den Sinn zu kommen. Nicht einmal ganze Arsenale von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben gegen Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit etwas ausrichten können. Die Gewerkschaften sollten sich also die Worte des US-Ökonomen Paul Krugman zu Herzen nehmen, der gesagt hat: „Das moderne deutsche Wirtschaftswunder ist die Tatsache, dass angesichts des Niveaus von Löhnen, Sozialleistungen und Regulierungen überhaupt noch Jobs übrig geblieben sind."4 Krugman, wohlgemerkt, gilt in den Vereinigen Staaten als eher dem linken Spektrum zugehörig. Dass neuerdings schon Preisuntergrenzen gefordert und auch durchgesetzt werden können, gilt heutzutage als Verbraucherschutz und damit als populär. Verbraucherschutz als Aufklärung über Produkte und Produzenten erhöht die Markttransparenz. Preiseingriffe wie das Verbot eines Verkaufs unter Einstandspreis hingegen schützen allenfalls die Hersteller, noch mehr aber die Händler vor günstigerer oder besserer Konkurrenz. Eine Garantie für gute Produkte geben Mindestpreise nicht. Sie beseitigen im Gegenteil noch die Information, die in den Marktpreisen steckt. Damit das „moderne deutsche Wirtschaftswunder" wieder zum Wachstumswunder werden kann, ist eine Rückbesinnung auf die Grundlagen marktwirtschaftlicher Ordnung notwendig. Im internationalen Test hat sich der deutsche Wohlfahrtsstaat als nicht erfolgreich erwiesen, jedenfalls dann nicht, wenn eine geringe Arbeitslosigkeit als Erfolgskriterium gilt. Das heißt nicht, gleich alles über Bord zu werfen, was einem sozialen Ausgleich dient. Die wirtschaftliche Globalisierung, deren Spielregeln wir nicht durch nationale Sozialpolitik aushebeln können, eröffnet aber die Chance, sich vom Fürsorgestaat und von vielem, was sich unter dem Schlagwort „sozial" in die Wirtschaftspolitik eingeschlichen hat, zu verabschieden und unser Wirtschaftssystem (wieder) zu einer Marktwirtschaft mit sozialem Anstrich zu machen. Erste punktuelle Ansätze als Reaktion auf veränderte weltwirtschaftliche Bedingungen sind in der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik - sehr zaghaft noch - erkennbar. Wenn wir im Standortwettbewerb weiter mithalten wollen, dürfen wir dem Wettbewerb nicht länger ausweichen. Unsere sozialen Sicherungssysteme sichern nur dann noch die Lebensrisiken ab, die der einzelne nicht selbst tragen kann, wenn sie zukunftsfest gemacht werden. Das funktioniert nur mit mehr Markt und weniger umfassender Fürsorge. Die demographische Entwicklung in Deutschland wartet nicht

Zitiert nach Issing, Otmar: Das Zerbrechen einer Wirtschaftsordnung. Rede zur Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik 2006, abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10. 9. 2006. 4

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darauf, bis auch die Gewerkschaften das einsehen. Doch statt sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen, fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund sogar die soziale Regulierung der Weltwirtschaft.5 Gut für die Welt, dass sie sich größtenteils kaum um deutsche Gewerkschaften schert! Schlecht für den wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland, wenn wir uns nicht bald besinnen. Diejenigen, die heute Werbung für die soziale Marktwirtschaft machen, für eine neue, eine erneuerte oder einfach nur die alte ordoliberale, greifen auf ein altes Vorbild zurück. Anfang der fünfziger Jahre haben sich schon Unternehmer zusammengefunden, um mit einer Marken-Kampagne für Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft zu werben.6 Aus „Wohlstand für alle" ist heute „Chancen für alle" geworden, damit Wohlstand nicht abermals mit Wohlfahrts- und Fürsorgestaat verwechselt werden kann. Für die Gewerkschaften ist dabei nicht viel zu gewinnen. Der D G B muss sich auf Rückzugsgefechte einstellen. Auf eine zu ihren Ursprüngen zurückgekehrte Soziale Marktwirtschaft wird er sich in seiner derzeitigen Verfassung in Zukunft vielleicht nicht mehr so ausdrücklich berufen. Für alle Arbeitssuchenden und alle anderen Bürger, die auf mehr Freiheit statt auf staatliche Zuteilung setzen, könnte eine Soziale Marktwirtschaft, die sich wieder mehr auf den Wettbewerb besinnt, aber ihren guten Klang zurückbekommen. Die Bürger scheinen das schneller zu begreifen als die Institutionen. Sonst würden nicht selbst Arbeitsplatzbesitzer, für die sich die Gewerkschaften vermeintlich so stark machen, ihnen den Rücken kehren.

5 DGB-Vorsitzender Michael Sommer in seiner Rede auf dem 18. Ordentlichen Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 25.5.2006 in Berlin. 6 Siehe u. a. Schindelbeck, Dirk: „Soziale Marktwirtschaft" gestern und heute. Ein politischer Markenartikel im Wandel der Zeit, in: Universitas, Vol. 61 (2006), 2, S. 145-157.

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Ordnungspolitische Fehlorientierungen im EU-Verfassungsvertrag Klaus Bünger* Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union — so sagte es Graf Lambsdorff— basierte auf der „Vision eines Europas der Freiheit und des Wettbewerbs"1. Konstitutive Elemente sind die sog. Vier Freiheiten sowie die Regeln des Wettbewerbs2. Der Europäische Gerichtshof hat mit der Entwicklung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung eine wichtige Grundlage für den Systemwettbewerb in der Europäischen Union geschaffen. Mit dem Vertrag von Maastricht gab sich die Gemeinschaft schließlich eine Währungsverfassung, die auf Geldwertstabilität setzt. Flankierend dazu wurde der Notenbank Unabhängigkeit garantiert. Über die Zeit ist diese freiheitliche Wirtschaftsverfassung jedoch erodiert zu einer gemischten Wirtschaftsordnung im Spannungsfeld zwischen Markt und Intervention, zwischen Wettbewerb und Wohlfahrtsstaat. Zunehmend haben Potentiale für industriepolitische oder sozial- und beschäftigungspolitische Intervention Eingang in den Vertrag gefunden. Hohe Sozialstandards sind als Teil des „Europäischen Sozialmodells" konstitutiv verankert worden. Vor allem in der Sozial- und Beschäftigungspolitik traten institutionelle Harmonisierung und Koordinierung an die Stelle von Systemwettbewerb. Der Zentralisierung wurde Vorschub geleistet. Schließlich wurde die Stabilitätsorientierung der WährungsVerfassung unterhöhlt. Die ordnungspolitische Erosion der Europäischen Wirtschaftsverfassung würde fortgesetzt, wenn der Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa (Verfassungsvertrag) gültig würde3,4: 1. Der Begriff der „sozialen Marktwirtschaft" hat zwar Eingang in den Katalog der Ziele der Union gefunden (Art. 1-3 (3)). Neoliberale könnten damit auf den ers* Klaus Bünger, Staatssekretär a. D., ist seit 1999 Senior Fellow am Center for European Integration Studies, Universität Bonn. 1 Lambsdorff, Otto, Graf (2002): Rede anläßlich der Neukonstituierung der European Constitutional Group, S. 2. 2 Wichtige Ausnahmen sind/waren die Landwirtschaft und der Verkehrsbereich. 3 Vgl. im Folgenden detaillierter: Bünger, Klaus/Janssen, Siebo M.H. (2005): Titel I: Definition und Ziele der Union, in: Höreth, Marcus/Janowski, Cordula/Kühnhardt, Ludger (Hrsg.) Die Europäische Verfassung, Analyse und Bewertung ihrer Strukturentscheidungen, Baden-Baden, S 6 2 - 6 6 ; sowie ebenda Bünger, Klaus/Höreth, Marcus/Janowski, Cordula/Leonardy, Uwe (2005): Titel III: Die Zuständigkeiten der Union, S. 1 0 2 - 1 0 6 . 4 S. auch Thiel, Elke (2003): Die Wirtschaftsordnungspolitik im Europäischen Verfassungsentwurf, in: integration, 4/2003, S. 527-535.

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ten Blick zufrieden sein. Aber der zweite Blick lässt Zweifel darüber aufkommen, was gemeint ist. War das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ursprünglich verbunden mit dem Ordoliberalismus deutscher Prägung, so wandelte es sich zu einem „wohlfahrtsstaatlich-kollektivistischen Verständnis"5. Der Begriff „sozial" war die offene Flanke des Konzepts. Diente er einerseits der politischen Akzeptanz, so öffnete sich mit ihm andererseits — wie Otmar Issing treffend festhielt — „eine weite Tür für alle möglichen Vorstellungen und Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die mit einer freiheitlichen Ordnung immer weniger vereinbar sind. Auf ebendiese „soziale Gerechtigkeit" berufen sich ... heute alle möglichen Gruppierungen und usurpieren damit die Konzeption als Ganzes" 6 . Genau das ist beim Verfassungsvertrag geschehen. Es zeigt sich an der Diskussion in der Konventsgruppe „Soziales Europa". Nach deren Schlussbericht7 sollen gefördert werden: „Vollbeschäftigung, soziale Gerechtigkeit, sozialer Frieden, nachhaltige Entwicklung, wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, soziale Marktwirtschaft, Qualität der Arbeit, lebenslanges Lernen, soziale Eingliederung, ein hohes Maß an sozialem Schutz, Gleichstellung von Männern und Frauen, Rechte des Kindes, ein hohes Maß an Gesundheitsschutz sowie effiziente und hochwertige Sozialdienste und Leistungen der Daseinsvorsorge." Es zeigt sich am Verfassungsvertrag selbst. Denn viele dieser Ziele finden sich im Art. 1-3 sowie im Abschnitt Sozialpolitik wieder und können so als Interpretation des Begriffs der sozialen Marktwirtschaft verstanden werden. Von daher handelt es sich bei dem so verwendeten Begriff um Etikettenschwindel8. 2. Im Zielkatalog des Art. 1-3 (3) wird das marktwirtschaftliche Ziel gleichrangig mit sozialen, industriepolitischen und umweltpolitischen Zielen genannt. Hier werden wichtige Wirkungszusammenhänge verkannt. Eine marktwirtschaftliche Ordnung ist keine Alternative zu den übrigen Zielen. Sie ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Ressourcen für die Verwirklichung von sozialen oder umweltpolitischen Zielen bereitstellt werden können, ohne dass die Beschäftigung gefährdet wird.

5 Zur Begrifflichkeit s. Schüller, Alfred (2005): Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitische Baustelle. Die Verbindung von „Freiburger Imperativ" und „Keynesianischer Botschaft" - ein natinalökonomischer Irrweg, in: Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 56 (2005), S. 61-75. 6 S. Issing, Otmar (2006): Das Zerbrechen einer Wirtschaftsordnung, Rede anläßlich der Entgegennahme des Ludwig-Erhard-Preises. 7 Dok: CONV 516/1/03,REV 1. 8 Mombaur, Peter M. (2003): Soziale Marktwirtschaft in Europa: Systemwandel per Etikettenschwindel?, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 95,1/2003, S. 51-52.

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3. Zu den übergeordneten Zielen der Union gehört nach dem Verfassungsvertrag die Förderung des technischen Fortschritts. Damit wird unterstellt, dass technischer Fortschritt als staatliche Veranstaltung machbar ist. Technischer Fortschritt mag ausnahmsweise bei Einzelprojekten durch staatliche Intervention generiert werden können. Auf breiter volkswirtschaftlicher Basis wird er durch Wettbewerb geschaffen und nicht durch staatliche Intervention. 4. Industriepolitische Interventionen (Art. III-279) unterliegen im Verfassungsvertrag nicht mehr dem Prinzip der Einstimmigkeit, sondern der qualifizierten Mehrheit. Die Einstimmigkeit wurde ehemals auf deutsches Drängen in das industriepolitische Kapitel des Maastrichtvertrages aufgenommen, um bessere Möglichkeiten zu haben, einem Missbrauch entgegenzuwirken . 5. Explizit wird das Ziel der Vollbeschäftigung in den Zielkatalog des Art. 1-3 (3) aufgenommen. Der Begriff suggeriert politische Machbarkeit, obwohl der Politik wesentliche Instrumente zur Herbeiführung des Ziels nicht zur Verfügung stehen. Die Zieldefinition kann zudem zu einem Einfallstor für Forderungen nach staatlicher Nachfragepolitik werden9. 6. Zwar wurde „Preisstabilität" als übergeordnetes Ziel im letzten Moment in den Zielkatalog des Art. 1-3 (3) aufgenommen. Aber die EU-Währungsverfassung wurde dennoch unterhöhlt, denn die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist im Verfassungsvertrag weniger stark ausgeprägt als nach den Bestimmungen des Maastrichter Vertrages. Dies ist zu sehen im Kontext mit der vor allem auf deutsches Drängen erfolgten Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (2005). Sie läuft letztlich darauf hinaus, ihn im Konfliktfall wirkungslos werden zu lassen10. Auch die ständig wiederholten Versuche, auf die EZB Einfluss zu nehmen bzw. sie in die europäische Koordinierung der Wirtschaftspolitik einzubinden, tragen zur Schwächung der Währungsverfassung bei. 7. In der Erklärung Nr. 17 zum Vertragswerk wird zwar der Stabilitäts- und Wachstumspakt bekräftigt. Gleichzeitig wird aber für eine antizyklische Finanzpolitik keynesianischer Prägung plädiert, die sich als „Nationalökonomie der Illusionen"11 erwiesen hat. 8. Das Ziel der „Preisstabilität" wurde quasi in den Vertrag hineingeworfen. Jetzt heißt es: „Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität ...

9 S. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit (2003): Brief des Vorsitzenden Wernhard Möschel an den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Würzburg. 10 S. auch Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2005: Die Änderungen am Stabilitäts- und Wachstumspakt, S. 15-21. » S. Schüller, Alfred (2005) a.a.O, S. 67.

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hin". Diese Gleichstellung der beiden Ziele erweckt den Eindruck, dass es einen trade-off zwischen ihnen gäbe. Geldwertstabilität aber ist eine zentrale Voraussetzung für nachhaltiges Wirtschaftswachstum und höhere Beschäftigung. Die Maastrichter Formulierung „nichtinflationäres Wachstum" war besser. 9. Was die Finan2verfassung des Verfassungsvertrages angeht, so wird unter den Artikeln zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik zwar das Instrument der Grundzüge der Wirtschaftspolitik in den Teilen I und III erwähnt, das für das Funktionieren der Währungsunion mindestens genauso wichtige Verfahren bei übermäßigem Defizit jedoch nur im Teil III (Art. III-184). Es erhält auf diese Art einen nachgeordneten Rang. 10. Der Verfassungsvertrag weitet die Felder der Koordinierung erheblich aus. Im Art. 1-15 geht es nicht nur um die wirtschaftspolitische Koordinierung, sondern auch um die Koordinierung der Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Und nach Art. 1-17 sollen unterstützt, koordiniert oder ergänzt werden: Schutz und Verbesserung der Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, Bildung, Jugend, Sport und berufliche Bildung, Katastrophenschutz sowie Verwaltungszusammenarbeit. Welche Überlegungen zu dieser eher zufallig anmutenden Enumeration geführt haben, erschließt sich aus den Vordiskussionen und dem Verfassungsvertrag nicht. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hintergründiger Lobbyismus eine Rolle gespielt hat. So sinnvoll die makroökonomische Koordinierung im Zusammenhang mit der Währungsunion ist, so problematisch ist sie in der Mikropolitik, also bei den meisten der soeben aufgeführten Felder, wo das Integrationsprinzip der gegenseitigen Anerkennung angemessen wäre. Mit Koordinierung ist immer auch eine Tendenz zur Zentralisierung und damit zur institutionellen Harmonisierung verbunden, die protektiv ist und zur Aushebelung des Systemwettbewerbs führt. Problematisch ist auch die Methode der offenen Koordinierung12. Sie kommt als Verfahrensbeschreibung bei den Kapiteln zur Sozialpolitik, zur Technologiepolitik, zum Gesundheitswesen und zur Industriepolitik zum Zuge. Neben der generellen Problematik der Koordinierung kann sie mit ihren vielen quantitativen und qualitativen benchmarks und Indikatoren „als Ausdruck zentralistischer Planungsgläubigkeit"13 interpretiert werden, wenn versucht wird, ihnen einen ver12 Der Begriff wurde geprägt durch den Europäischen Rat von Lissabon (2000) im Rahmen der sog. Lissabonstrategie. Elemente sind: (l)Festlegung von gemeinsamen Leitlinien mit einem Zeitplan für die kurz-, mittel- und langfristigen Ziele, (2) Bestimmung von quantitativen und qualitativen Indikatoren und benchmarks als Mittel der Identifikation von best practices, (3) Umsetzung der Leitlinien in nationale und regionale Politik, (4) regelmäßige Überwachung und Bewertung des Prozesses mit dem Ziel des gegenseitigen Lernens. 13 Bocklet, Reinhard (2003): Positionspapier zur „offenen Koordinierung", im Internet abrufbar unter: www.bayern.de/Europa/Positionspapiere/OffeneKoordinierung.html (31.08.2006)

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pflichtenden Charakter zu geben. Sie ist zudem darauf angelegt, sich der Kontrolle der Parlamente zu entziehen14. Der Verfassungsvertrag ist nach dem negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden aller Voraussicht nach gescheitert. Aber die Diskussion muss fortgesetzt werden. Die EU ist auf institutionelle Reformen angewiesen, um mit jetzt 27 Mitgliedsländern handlungsfähig zu bleiben. Die Bundeskanzlerin kündigte deshalb anlässlich einer Regierungserklärung am 11. Mai 2006 an, während der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 der Verfassungsdiskussion neue Impulse zu geben. Trefflich knapp analysierte dazu Jean-Claude Juncker15: „Falsche Option wäre ... alles weg. ... Neuverhandlung geht nicht. Wieder Vorlegen in 2 Ländern, die Nein gesagt haben, geht ohne Abänderung auch nicht. ... Die Vorstellung, dass man die 16 Staaten, die den Vertrag ratifiziert haben, ... dazu zwingen könnte, ... noch einmal zu ratifizieren, geht so einfach auch nicht." Und daraus zog er die Schlussfolgerung: Am Ende ergäbe sich die Möglichkeit, den Verfassungsvertrag um einige Teile zu kürzen, um ihn in einer aufs wesentliche reduzierten Form aufs neue in den Ländern zu präsentieren, die den alten Vertrag ablehnten oder noch keine Entscheidung getroffen haben.16 Ob das so kommen wird, sei dahingestellt. Aber klar dürfte sein, dass über einen anderen, neuen Text diskutiert werden wird. Und das wird schwierig werden. Denn es besteht keineswegs Konsens darüber, was die wesentlichen Teile sind. Im ordnungspolitischen Kontext ist vor allem von Bedeutung, dass die Verfechter des sog. „Europäischen Sozialmodells" darum ringen werden, nicht auf die aus ihrer Sicht erzielten Erfolge verzichten zu müssen. So fordert z. B. der DGB: Es sei eine Neuinitiative für die EU-Verfassung notwendig. „Die EU darf nicht auf Marktintegration allein beruhen. Wir brauchen einen europäischen Verfassungsvertrag, der die ... soziale Dimension der EU stärkt..." ... „Als Ziele der Union müssen insbesondere die Vollbeschäftigung, die soziale Marktwirtschaft, die Verbesserung der Umweltqualität, die soziale Gerechtigkeit und der soziale Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern ... in die Verträge aufgenommen werden."

Die Bereiche der Anwendung und die Literatur zur Methode der offenen Koordinierung sind stark im Wachsen begriffen. Es gibt natürlich Bewertungen, die weniger kritisch sind. 15 Juncker, Jean-Claude (2006): Vortrag anlässlich der 6. Konfetenz der Leiter der deutschen Auslandvertretungen, Berlin, 4. September 2006. 16 Diese Schlussfolgerung ist in der Internetversion des erwähnten Vortrags nicht enthalten. Hier wird zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05. September 2006, S. 5, Steinmeier: Verfassung hat Priorität. 14

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Berücksichtigt man weiter, dass auch zwischen den Ländern der EU keineswegs einheitliche Vorstellungen über die grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Orientierungen bestehen, so wird deutlich, dass in ordnungspolitischer Hinsicht viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. „Das ... ,Nein' zum Verfassungsvertrag" - so sagte es Graf Lambsdorff im Frühjahr 2005 - „ist nicht das Ende der EU, sondern eine neue Chance"17. Er bezog das damals auf die Themen Zentralismus und Subsidiarität. Hinzuzufügen wäre aus ordnungspolitischer Sicht: Es ist eine Chance, der „Vision eines Europas der Freiheit und des Wettbewerbs" neuen Anstoß zu geben durch eine Erneuerung der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung Europas.

17 Lambsdorff, Otto Graf (2005): Nur weniger Zentralismus kann die EU retten, Pressenotiz der Friedrich-Naumann-Stiftung (www.fnst.org (12. 09. 2006)).

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Die Einheit der Wettbewerbsordnung Michael Glos* Wettbewerb als Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft ist das am besten geeignete Instrument, um wirtschaftliche Macht zu kontrollieren und effiziente Märkte zu gewährleisten. Wettbewerb sorgt für effizienten Ressourceneinsatz und ein dauerhaft niedriges Preisniveau. Er bewirkt in der Regel ein umfangreiches Güter- und Dienstleistungsangebot für den Verbraucher. Wettbewerb zwingt zu permanenter Innovation und Investition, um am Markt bestehen zu können. Ziel der Wettbewerbspolitik ist es, für einen entsprechend funktionierenden Wettbewerb zu sorgen, damit Unternehmen kreativ, innovativ und wirtschaftlich erfolgreich agieren können. Sie schützt den Wettbewerb vor Beschränkungen durch die Marktteilnehmer selbst. Diesem Zweck dienen alle Elemente der Wettbewerbsordnung, sowohl das allgemeine als auch das sektorspezifische Wettbewerbsrecht, als komplementäre Elemente einer einheitlichen Wettbewerbsordnung. 1. Allgemeines Wettbewerbsrecht Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957 ist eines der wichtigsten Elemente der deutschen Wettbewerbsordnung. Vielfach wird es sogar als Grundgesetz der Marktwirtschaft oder als „Magna Charta der Wettbewerbswirtschaft" bezeichnet. Seine neoliberalen Väter, Walter Eucken und Ludwig Erhard, fühlten sich verpflichtet, offene Märkte zu sichern und Wettbewerbsbeschränkungen aller Art zu beseitigen. Angestrebt war ein funktionsfähiger Wettbewerb im Sinne eines kontinuierlichen dynamischen Prozesses. Nach dieser Vorstellung drängen Unternehmen mit innovativen Produkten und Dienstleistungen auf den Markt und gewinnen zunächst einen Vorsprung vor den Wettbewerbern. Nachahmer stoßen dann nach und holen den Vorsprung ein. Die besseren Produkte setzen sich durch und werden durch Konkurrenz billiger. Alle Abnehmer profitieren von diesen Vorteilen. Vorübergehende Marktungleichgewichte werden von der Wettbewerbspolitik bewusst in Kauf genommen. Die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie liefert nahezu täglich greifbare Beispiele für derartige Prozesse. Das GWB mit seinen offenen Tatbestandsformulierungen ist ein entsprechend flexibler Rechtsrahmen, der angemessene Reaktionen auf die Dynamik der Wettbewerbsentwicklung in der Marktwirtschaft erlaubt.

* Michael Glos MdB ist Bundesminister für Wirtschaft und Technologie.

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2. Sektor spezifisches Wettbewerbsrecht Der marktorientierte Ansatz eines leistungsfähigen wettbewerbsrechtlichen Ordnungsrahmens galt nach Inkrafttreten des GWB 1958 nicht für alle Wirtschaftssektoren. In den für die Gesamtwirtschaft so essentiellen Branchen wie der Versorgung mit Energie-, Telekommunikations-, Post- und Bahntransportdienstleistungen war Wettbewerb vor nicht langer Zeit kaum vorstellbar. Das Bild war geprägt durch staatliche oder private Monopole, die vertikal auf allen Wertschöpfungsebenen tätig waren und Ausschließlichkeitsrechte besaßen. Diese Wirtschaftsbereiche waren von den Bestimmungen des GWB ganz oder teilweise ausgenommen. Privaten Energieversorgern wurden Gebietsmonopole in der Annahme zugestanden, dass ein einzelnes Unternehmen die nachgefragte Leistung effizienter erbringen kann. Mittlerweile bekennt sich Deutschland wie auch Europa auch in diesen Wirtschaftssektoren zum Wettbewerbsprinzip. Wettbewerb hielt in diese Branchen Einzug durch die Privatisierung von Bahn und Post sowie durch Liberalisierung der Telekommunikations- und Energiemärkte. Die staatlichen Monopolbetriebe der Post (Telefon und Briefe/Pakete) und Bahn wurden in private Unternehmen überfuhrt. Man schaffte Privilegien weitestgehend ab und strich die Ausnahmebereiche im GWB. Ziel war es dabei, die existierenden Märkte zu öffnen und zu beleben, indem ein diskriminierungsfreier Zugang zur jeweiligen Infrastruktur zu angemessenen Entgelten sichergestellt wurde. Eine wettbewerbsorientierte Telekommunikations-, Post-, Bahn- und Energiepolitik sollte die bedarfsorientierte Versorgung von Unternehmen und Verbrauchern garantieren und verbessern. Gleichzeitig ging es darum, auf diesem Weg Unternehmen und Verbraucher finanziell deutlich zu entlasten und Marktchancen neuer Anbieter im Verhältnis zu den ehemaligen Monopolisten überhaupt erst zu eröffnen. 3. Besonderheiten der Sektorregulierung Um die wirtschaftspolitischen Reformen erfolgreich umzusetzen, musste der Gesetzgeber die Besonderheiten der so genannten Netzwirtschaften bedenken. Netzwerkmärkte sind traditionell Märkte, in denen Kommunikations-, Transport- oder Stromnetze genutzt werden müssen, um am Markt erfolgreich agieren zu können. Es ist unter Ökonomen unumstritten, dass es dort Netzwerkeffekte gibt und dass dort teilweise andersartige Marktmechanismen herrschen als auf den klassischen Märkten. Ein besonderes Wettbewerbsproblem in Netzwirtschaften ist der Zugang zu den Netzen und anderen wesentlichen Vorleistungen. Dort existieren regelmäßig Engpässe, so genannte „bottlenecks", in Form natürlicher Monopole mit hohen Markteintrittsbarrieren. Hierzu zählt z. B. im Telekommunikationsbereich der Teilnehmeranschluss. Zentral für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs ist der Zugriff

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der neuen Marktteilnehmer auf diese Einrichtungen der ehemaligen Monopolisten. Die „botdenecks" sollen dadurch wettbewerblich neutralisiert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde in Deutschland neben dem allgemeinen Wettbewerbsrecht des GWB eine sektorspezifische Wettbewerbsaufsicht eingeführt, jeweils getrennt für die Bereiche Post, Telekommunikation, Bahn und Energie. Sie ermöglicht durch ihre wettbewerbsbezogenen Regelungen, insbesondere die Ex-ante-Verpflichtung des marktmächtigen Unternehmens — in aller Regel des ehemaligen Monopolisten —, Wettbewerbern diskriminierungsfreien Zugang zu dessen Infrastruktur und die Vorabgenehmigung der verlangten Nutzungsentgelte und Bedingungen. Dies geht über die einzelfallbezogene und in aller Regel ex post eingreifende Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen nach dem GWB deutlich hinaus. 4. Verhältnis ^wischen allgemeinem Wettbewerbsrecht und sektorspe^fischer 'Regulierung Das allgemeine Wettbewerbsrechts im GWB und die sektorspezifischen Wettbewerbsrechte im TKG, PostG, EnWG und AEG1 sind komplementäre Bestandteile einer einheitlichen Wettbewerbsordnung. Ihre Wirkungsmechanismen greifen wie Zahnräder ineinander. Diese Einheit der Wettbewerbsordnung ist ihrerseits ein ordnungspolitischer Grundsatz. Gemeinsamer Grundgedanke des allgemeinen und sektorspezifischen Wettbewerbsrechts ist das Missbrauchsverbot wirtschaftlicher Macht. Es steht damit nicht im Widerspruch, dass die sektorspezifischen Regulierungsrechte darüber hinausgehende Regelungen für die einzelnen Branchen enthalten. Das Zusammenspiel zwischen sektorspezifischer Regulierung und allgemeinem Wettbewerbsrecht ist durch das übereinstimmende ordnungspolitische Ziel gekennzeichnet, die Märkte durch die Etablierung wettbewerblicher Strukturen zum Vorteil des Kunden offen zu halten. Dementsprechend sind im Bereich der sektorspezifischen Regulierung Weichenstellungen des Gesetzgebers, die Wettbewerb strukturell sicherstellen — z. B. durch Entflechtung, dem so genannten „unbundling" —, vorzugswürdig gegenüber Regelungen, die primär auf dauerhafte Verhaltenskontrolle der Marktakteure abzielen. Vom Wettbewerb profitiert der Kunde zum einen direkt, etwa durch eine günstigere Preisentwicklung. Zum anderen kommt dem Verbraucher zugute, dass die niedrigeren Inputpreise der Unternehmen bei den von ihnen nachgefragten Produkten oder Diensdeistungen (etwa für Telekommunikationsdienstleistungen) mittelbar auch zu niedrigeren Endabnehmerpreisen führen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen stärken. Zwischen allgemeinem Wettbewerbsrecht und Sektorregulierung besteht also ein komplementäres 1 TKG: Telekommunikationsgesetz; PostG: Postgesetz; EnWG: Energiewirtschaftsgesetz; AEG: Allgemeines Eisenbahngesetz.

Michael Glos: Die Einheit der Wettbewerbsordnung 111

Verhältnis. Komplementarität ist dabei durchaus in dem allgemeinen Sinn zu verstehen, dass nur eine gemeinsame und in ihrem Geiste und ihrer praktischen Handhabung koordinierte Rechtsanwendung sinnvoll ist. Die Aufgabe, die Märkte offen zu halten, teilen sich dementsprechend die Bundesnetzagentur (BNetzA) und die Kartellbehörden — Bundeskartellamt (BKartA) und Landeskartellbehörden - entlang klarer Linien. Die BNetzA reguliert in den Netzindustrien (Telekommunikation, Post, Energie und Bahn) den Netzzugang und führt eine spezielle Missbrauchsaufsicht durch. Sie kontrolliert die Entflechtung und stellt dadurch wettbewerbsstimulierende Marktstrukturen her. Gleichzeitig reguliert die BNetzA sowohl die Netzzugangs- als auch teilweise die Endkundenpreise. Auf diese Weise wird in dauerhaften Monopolbereichen (z. B. Gas, Strom, Bahntrassen) Wettbewerb simuliert.2 Das BKartA ist dafür zuständig, mit Hilfe der Instrumente der Fusionskontrolle, des Verbots von Kartellabsprachen und der allgemeinen Missbrauchsaufsicht auch in den regulierten Sektorbereichen wettbewerblich offene Märkte zu erhalten. Im Bereich des Kartellverbots und der Missbrauchsaufsicht wird es in dieser Aufgabe in den regional bedeutenden Fällen von den Landeskartellbehörden unterstützt.

5. Konvergenz ^wischen sektorspe^fischem und allgemeinem Wettbewerbsrecht herbeiführen Kartellrechtsanwendung und sektorspezifische Regulierung sind ungeachtet der Aufgabenteilung zwischen Regulierungs- und Kartellbehörden als ein ganzheitlicher Ansatz zu betrachten. Erklärtes Ziel bei Einführung der Regulierung war eine möglichst weitgehende Konvergenz zwischen sektorspezifischem und allgemeinem Wettbewerbsrecht. Viele Verfahrensregelungen des Energiewirtschaftsgesetzes und des Telekommunikationsgesetzes stammen aus dem allgemeinen Wettbewerbsrecht. Die Entscheidungsstrukturen der BNetzA in diesen Bereichen orientieren sich am Beschlussabteilungssystem des BKartA. Es gilt der Grundsatz: Sektorspezifische Regulierung soll, soweit möglich, wieder in das allgemeine Wettbewerbsrecht überführt werden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom so genannten „Phasing-out" sektorspezifischer Regulierung. Der Zeitpunkt ist regelmäßig dann erreicht, wenn sich Wettbewerb in ausreichendem Maß entwickelt hat. Dabei ist von zwei Szenarien auszugehen. Zum einen können Netzstrukturen durch Duplizierung oder technische Quantensprünge ihren Engpasscharakter verlieren. Der Besitzer solcher Infrastrukturen hat dann keine marktmächtige Position mehr. 2 Für die Regulierung des Bahnbereichs sind gewisse Regulierungsaufgaben beim Eisenbahnbundesamt verblieben. Bei der Energieregulierung sind für Fälle von nur landesweiter Bedeutung eigentlich die Energieaufsichtsbehörden der Länder zuständig, die diese Aufgabe aber teilweise an die BNetzA übertragen haben haben.

112 Die marktwirtschaftliche Ordnung

In diesem Fall genügen die Normen des allgemeinen Wettbewerbsrechts. Solche Bereiche finden sich insbesondere in der Telekommunikationsbranche. Andererseits gibt es Netzstrukturen, deren Alleinstellung weder durch technische Entwicklungen noch durch Duplizierung in Frage gestellt werden kann. Dies gilt z. B. für Bahntrassen oder Energieversorgungsnetze. Hier ist eine dauerhafte sektorspezifische Regulierung unumgänglich. Durch diese Überlegungen wird deutlich: Regulierung muss im Zeitablauf einer stetigen, kritischen Überprüfung unterzogen werden. Notwendigkeit, Reichweite und Ausgestaltung der Regulierung sind immer wieder kritisch zu hinterfragen. Im gesamtwirtschaftlichen, aber auch im europäischen Interesse muss es letztlich darum gehen, Regulierung auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen sie tatsächlich notwendig ist und demzufolge ökonomischen Fortschritt verspricht. Dort, wo Regulierung erforderlich ist, und das ist sie vor allem im Bahn- und Energiebereich, aber nach wie vor auch in weiten Teilen des Telekommunikationsmarktes, muss sie anreizkompatibel und wirkungsvoll sein und zeitgerecht erfolgen. Dabei muss das Instrumentarium flexibel genug bleiben, um sich ändernden Marktsituationen anpassen zu können. 6. Innovationsanreiund

Marktöffnung austarieren

Regulierung ist stets auch eine Gratwanderung zwischen Marktöffnung und Innovationsanreiz. Denn tendenziell mindert jede weitere Öffnung des Marktes den Anreiz für einen Marktteilnehmer, selbst innovativ zu sein und zu investieren. Daher gilt es, erforderliche Investitionen durch regulative Maßnahmen nicht zu behindern, aber gleichzeitig einer „Remonopolisierung" entgegenzuwirken. Deshalb ist die Forderung, neue Märkte zunächst nicht bzw. nur schwach zu regulieren, grundsätzlich berechtigt, ökonomisch sinnvoll als auch mit dem europäischen Rechtsrahmen vereinbar. Ziel muss es sein, innovative Prozesse zu fördern, ohne dabei wettbewerbliche Verzerrungen in Kauf zu nehmen. Der Regulierungsrahmen muss demzufolge einen Wettbewerbsvorteil findiger und innovativer Unternehmen ermöglichen, gleichzeitig allerdings gewährleisten, dass der Marktzutritt für Wettbewerber nicht unterbunden wird (Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen). Das bedeutet, dass Regulierung nicht erfolgen soll, solange ein Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht tatsächlich gänzlich neue Endkundenmärkte erschließt und nicht lediglich bereits existierende Produkte substituiert. Wettbewerber dürfen nicht daran gehindert sein, ihrerseits in diese neue Technologie zu investieren. Ein solches Hindernis wäre z. B. dann gegeben, wenn Wettbewerbern bestimmte wesentliche Schnittstellen zum Netz des marktmächtigen Unternehmens nicht geöffnet werden. Der Entwurf des Telekommunikationsgesetzes trägt diesen

Michael Glos: Die Einheit der Wettbewerbsordnung 113

Zusammenhängen in § 9a Rechnung. Er sieht keine spe2ielle Behandlung des Glasfaser-DSL-Net2es der Deutschen Telekom AG vor, sondern behandelt abstrakt die Frage der Regulierung bzw. Nicht-Regulierung neuer Märkte. Die Vorschrift ist technologieneutral formuliert und gilt übergreifend für den Festnetzbereich ebenso wie für den Mobilfunk oder die Kabelnetze. 7. Dezentrales System der Regulierung beibehalten Für das allgemeine Wettbewerbsrecht gilt der Grundsatz der dezentralen Anwendung. Sie erfolgt auf europäischer Ebene u. a. mit dem Ziel, den einzelstaatlichen Behörden und Gerichten bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts des EGVertrages eine größere Rolle zukommen zu lassen, ohne dass der Grundsatz der Rechtseinheitlichkeit gefährdet wird. Gefördert wurde die einheitliche Rechtsanwendung, indem ein Netzwerk von Wettbewerbsbehörden gebildet wurde, das European Competition Network (ECN). Die Kooperation der Behörden bei der Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts im ECN hat sich bewährt. Der dezentrale Ansatz im allgemeinen Wettbewerbsrecht ist auch insoweit Maßstab für die sektorspezifische Wettbewerbsaufsicht. Eine weitere Zentralisierung der Entscheidungen oder Kompetenzverlagerung auf Ebene der EU-Kommission ist nicht wünschenswert. Ziel ist es, günstige Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, ohne eine Überregulierung in Kauf zu nehmen. Mit Blick auf Brüssel geht es u. a um eine vernünftige Aufgabenverteilung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten auf der Basis der erreichten Harmonisierung. Eine faktische Zentralisierung der Zuständigkeiten und ein Ausufern der Bürokratie in Brüssel ist abzulehnen. Sowohl die BNetzA als auch das BKartA haben sich als kompetente und maßstabsetzende Behörden etabliert und die Regulierungspolitik mit Augenmaß betrieben.

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Subventionen und kein Ende H e n n i n g Klodt* 1. Einföhrung Immer und immer wieder kehrt das Thema Subventionspolitik auf die politische Bühne zurück - insbesondere dann, wenn die Haushaltsnöte groß und die nächsten Wahltermine fern sind. Dahinter steht die Erwartung, auf diese Weise zur Entlastung der öffentlichen Haushalte beitragen zu können. Dabei ist das fiskalische Argument aus ökonomischer Sicht das am wenigsten stichhaltige. Weitaus wichtiger sind die Verzerrungen der Anreizstrukturen durch Subventionen, wodurch Wachstum und Beschäftigung einer Volkswirtschaft geschmälert werden. In diesen Störungen des marktwirtschaftlichen Allokationsprozesses liegen die eigentlichen Kosten der Subventionspolitik. Jene Subventionen dagegen, die marktwirtschaftliche Fehlsteuerungen beseitigen helfen, sind gesamtwirtschaftlich sinnvoll und sollten fortgeführt werden, auch wenn die öffentlichen Kassen leer sind. Insgesamt dürfte jedoch kein Zweifel bestehen, dass eine gesamtwirtschaftlich optimale Subventionspolitik durch wesentlich weniger Subventionen als die aktuelle Politik geprägt wäre. Insofern geht die Diskussion zum Subventionsabbau durchaus in die richtige Richtung, wenngleich nicht immer aus den richtigen Gründen. Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Überblick gegeben werden über die Tendenzen der Subventionspolitik in Deutschland. Im Anschluss daran wird diskutiert, warum es trotz aller ökonomischen Einsichten immer noch nicht zu einem umfassenden Subventionsabbau gekommen ist und welche Konsequenzen dies für den Wirtschaftsstandort Deutschland hat. 2. Tendenzen der Subventionspolitik Schaubild 1 gibt einen Uberblick über die Entwicklung der Subventionen in Deutschland im Zeitverlauf. Diese Daten beziehen sich auf Steuervergünstigungen und Finanzhilfen des Bundes, der Länder und Kommunen sowie die Finanzhilfen der Europäischen Union. Sie machen deutlich, dass der Anteil der Subventionen am Bruttoinlandsprodukt insgesamt im Zeitverlauf weitgehend konstant geblieben ist. Alle Bemühungen zum Subventionsabbau haben also gerade einmal ausgereicht, einen Anstieg zu verhindern, während von einem erfolgreichen Subventionsabbau keine Rede sein kann.

* Dr. Henning Klodt ist Professor und Direktor am Institut für Weltwirtschaft in Kiel.

Henning Klodt: Subventionen und kein Ende 115

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6,8%

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6,5%

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1 1 1 2000

2001

2002

2003

D 6,2%

1 1 2004

2005

9 Finanzhilfen Bund • Finanzhilfen Länder und Gemeinden • Finanzhilfen EU Eä Steuervergünstigungen

Schaubild 1 - Subventionen in Deutschland (Mrd. €) (Zahlenwerte über den Säulen: in % des BIP) Quelle: Boss, Alfred, Astrid Rosenschon (2006). Der Kieler Subventionsbericht: Grundlagen, Ergebnisse, Schlussfolgerungen. Institut für Weltwirtschaft, Kieler Diskussionsbeiträge 423. Die obere Hälfte von Tabelle 1, in der die vier wichtigsten Subventionsempfanger auf Branchenebene aufgeführt sind, macht deutlich, dass der Schwerpunkt der Subventionspolitik nach wie vor bei der Strukturkonservierung liegt. Gefördert werden Arbeitsplätze in schrumpfenden Branchen sowie Schlafplätze. Die Förderung von Arbeitsplätzen in neuen, zukunftsträchtigen Wirtschaftsstrukturen ist dem Staat dagegen deutlich weniger wichtig. So betragen die gesamten Forschungs- und Entwicklungsausgaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Jahre 2004 gerade einmal sechs Mrd. €, das ist weniger als ein Drittel der Subventionen für den Verkehrsbereich. Entsprechende Muster zeigen sich bei den vier wichtigsten Einzelposten, die in der unteren Hälfte von Tabelle 1 aufgelistet sind. Dabei ist die ÖkoSteuerbefreiung ein relativ neuer Subventionstatbestand, der insbesondere kapitalintensiven Altindustrien nützt. Insofern hat selbst die Einführung der Ökosteuer, die als zukunftsgerichtet verstanden werden könnte, durch die Einrichtung von Sonderregeln für Altindustrien den strukturkonservierenden Charakter der Industriepolitik in Deutschland eher noch gestärkt.

116 Die marktwirtschaftliche Ordnung

Tabelle 1 — Ausgewählte Subventionen in Deutschland 2004 (Mio. €) Branchenschwerpunkte Bergbau Landwirtschaft Verkehr Wohnungsvermietung

3.412 12.197 21.405 16.364

Wichtige Einzelposten Finanzhilfen (2003) Kokskohlenbeihilfe Schienenweginvestitionen

2.560 4.240

Steuervergünstigungen Eigenheimzulage Ökosteuerbefreiung

10.829 1.457

Quelle: Wie Schaubild 1. Ein Beispiel dafür, welch seltsame Blüten die Subventionspolitik gelegentlich treibt ist das Branntwein-Monopol des Bundes. Ursprünglich von Kaiser Wilhelm II. eingeführt, um mögliche Gewinne aus dem Branntweinverkauf abzuschöpfen, dient die entsprechende Bundesbehörde mittlerweile als Sammelstelle für Alkohol, der anderweitig am Markt nicht absetzbar ist und der den Herstellern zu einem garantierten Mindestpreis abgekauft wird. Diese antiquierte Marktregulierung ist dem Bund immerhin noch über 100 Mio. € an Subventionen pro Jahr wert. Blüten treibt auch die Subventionspolitik der Europäischen Union, und zwar insbesondere im Rahmen der europäischen Agrarpolitik. So werden 900 Mio. € jährlich für die Förderung des Weinbaus aufgewendet und zugleich fallen 320 Mio. € pro Jahr für die Weinvernichtung an, das heißt für die Umwandlung von überschüssigem Wein in Industriealkohol. Weitere 250 Mio. € pro Jahr kommen für die Förderung des Alkoholexportes hinzu. Ein weiteres Beispiel ist die Tabakproduktion, die von der Europäischen Union mit fast 1 Mrd. € pro Jahr gefördert wird. Gleichzeitig wendet die Union etwa 15 Mio. € pro Jahr für Antitabakkampagnen auf. Es erübrigt sich wohl, nach dem tieferen Sinn einer derartigen Industriepolitik zu fragen. Ein nicht zu unterschätzendes und immer wichtigeres Korrektiv nationaler Industriepolitik stellt die Wettbewerbspolitik der Europäischen Union dar. Sie hat ihre Beihilfenaufsicht im Zeitverlauf zunehmend verschärft und hat damit dazu beigetragen, die nationale Lust am Subventionieren zumindest einzudämmen. Andererseits

Henning Klodt: Subventionen und kein Ende 117

erliegt auch die Europäische Union zunehmend den Versuchungen der marktwirtschaftlichen Intervention. So weigert sie sich beispielsweise, die von ihr selbst aufgestellten Kriterien zur Kontrolle nationaler Forschungsbeihilfen auf die eigene Forschungs- und Technologiepolitik anzuwenden. Nach dem dafür entwickelten Gemeinschaftsrahmen darf der Anteil staatlicher Subventionen an industrieller Grundlagenforschung maximal bei 50 % sowie bei industrieller angewandter Forschung maximal bei 25 % liegen. Die Forschungsbeihilfen der Europäischen Union im Rahmen der verschiedenen Rahmenprogramme machen dagegen regelmäßig 50 % der Gesamtaufwendungen aus, unabhängig davon, ob es sich um Grundlagenforschung oder um angewandte Forschung handelt. Die Kommission argumentiert formal zutreffend, dass nur nationale Beihilfen der Beihilfenaufsicht unterliegen, nicht dagegen Gemeinschaftsbeihilfen. Doch ökonomisch macht ein derartiges Messen mit zweierlei Maß natürlich keinerlei Sinn. Als weitere Tendenz ist erkennbar, dass die klassischen Instrumente der Industriepolitik — das heißt Subventionen und Außenhandelsprotektionen — eher an Bedeutung verlieren, während zunehmend ergänzt werden durch neue Instrumente. So wird verstärkt versucht, Normen und Standards so zu setzen, dass sie inländische Unternehmen eher begünstigen und die ausländische Konkurrenz eher schwächen. Auch an Kapitalmarktbeschränkungen, die internationale Unternehmensübernahmen erschweren, halten die meisten Länder entschlossen fest. Als neuer Bereich der staatlichen Marktinterventionen zeichnet sich am Horizont die so genannte öffentliche Daseinsvorsorge ab. Mit Unterstützung der Europäischen Kommission zielen die einzelnen Länder darauf ab, möglichst viele Bereiche als essenziell für die öffentliche Daseinsvorsorge zu deklarieren und damit der Gültigkeit der allgemeinen Wettbewerbsregeln zu entziehen. Für Deutschland würde dies bedeuten, dass die so genannten Ausnahmebereiche des Kartellgesetzes, die unter großen Mühen im Rahmen der 6. Kartellnovelle weitgehend beseitigt worden waren, nun im neuen Gewände und unter neuem Namen wieder eingeführt würden. Noch handelt es sich hier eher um Absichtserklärungen als um konkrete Maßnahmen, aber Wachsamkeit erscheint geboten.

3. Motive und gesamtwirtschaftliche Konsequenzen der Subventionspolitik

Bevor gefragt wird, welche Arten von Subventionen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht eher als nützlich und welche eher als schädlich anzusehen sind, sollte als Grundsatz festgehalten werden, dass im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung stets der Markteingriff und nicht der Verzicht auf den Markteingriff begründungsbedürftig ist. Dies bedeutet, dass die wirtschaftspolitische Entscheidung im Zweifel eher gegen den Markteingriff als für den Markteingriff fallen sollte.

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Das klassische Argument für die Subventionierung, das nach wie vor Gültigkeit hat, basiert auf der Kompensation positiver Externalitäten. Das beste Beispiel dafür ist die staatliche Förderung von Forschung und Innovation. Es kann davon ausgegangen werden, dass die positiven Erträge innovativer Aktivitäten trotz der Möglichkeiten des Patentschutzes nicht vollständig dem Innovator zufließen, sondern auch andere Wirtschaftsakteure vom technologischen Fortschritt profitieren. Dies gilt umso mehr, je grundlegender die Forschungsarbeiten sind und je weiter sie von der Umsetzung in marktgängige Produkte entfernt sind. Doch für die allermeisten Subventionen trägt dieser Rechtfertigungsgrund nicht. Hier muss davon ausgegangen werden, dass Politiker mit industriepolitischen Maßnahmen gezielt wirtschaftliche Interessengruppen bedienen, um auf diese Weise Vorteile im politischen Prozess zu erzielen und ihre Wiederwahlchancen zu verbessern. Begünstigt wird die Bereitschaft der Politik, derartige Vorteile zu gewähren, nicht zuletzt dadurch, dass die Gewinner der Subventionspolitik in aller Regel eng abgegrenzt sind und sich der ihnen gewährten Vorteile durchaus bewusst sind. Die Verlierer dagegen, die unter der von der Industriepolitik ausgelösten Beeinträchtigung der gesamtwirtschaftlichen Effizienz leiden, sind in aller Regel breit gestreut und sind sich der Kosten, die von der Industriepolitik ausgehen, nur selten bewusst. Kaum jemand macht sich beispielsweise klar, dass die allgemeinen Sätze der Einkommensteuer oder der Mehrwertsteuer beträchtlich sinken könnten, wenn auf Subventionen verzichtet würde. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten einer Subvention rühren letztlich daher, dass die Mittel zu ihrer Firnanzierung an anderer Stelle aufgebracht werden müssen und dass deshalb die steuerlich belasteten Aktivitäten weniger zu Wachstum und Beschäftigung beitragen, als es in einer Situation ohne Markteingriffe möglich wäre. Es lässt sich mit dem üblichen ökonomischen Instrumentarium leicht zeigen, dass die Wachstums- und Beschäftigungsgewinne in den subventionierten Sektoren zwangsläufig geringer ausfallen müssen als die Wachstums- und Beschäftigungsverluste in jenen Sektoren, die für die Finanzierung der Subventionen aufkommen. Darüber hinaus ist staatliche Industriepolitik mit einer Reihe weiterer Probleme behaftet. Das erste dieser Probleme ist als das so genannte Ölfleck-Theorem bekannt. Es besagt, dass staatliche Markteingriffe oftmals zu Verzerrungen an anderer Stelle führen, die weitere Markteingriffe erforderlich machen. Ein Beispiel dafür ist die Protektion des deutschen Steinkohlenbergbaus. Sie treibt die Preise für Ruhrkohle über das Weltmarktpreisniveau, was ja auch beabsichtigt ist, um dem deutschen Steinkohlenbergbau eine Überlebenschance zu geben. Leidtragende dieser Politik sind allerdings beispielsweise die Kraftwerke, die teure deutsche Kohle verfeuern müssen und nur sehr begrenzt Zugang zu der preisgünstigeren Importkohle haben. Um diesen Nachteil auszugleichen, gewährt die Bundesregierung den Energieerzeu-

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gern eine so genannte Kokskohlenbeihilfe (siehe oben Tabelle 1), mit der der Preis für die in der Energieerzeugung eingesetzte Kohle auf das Weltmarktpreisniveau heruntergeschleust wird. So hat die ursprünglich auf den Bergbau bezogene Marktintervention eine weitere Marktintervention im Bereich der Energiewirtschaft nach sich gezogen. Die Metapher vom Ölfleck will besagen, dass eine Politik, die erst einmal damit anfängt, einen Tropfen Subventionsöl auf die Marktwirtschaft zu geben, über kurz oder lang damit rechnen muss, dass die gesamte Wasseroberfläche von einem Ölfilm bedeckt ist. Ein weiteres Problem liegt darin, dass staatliche Bürokratien, die Subventionsprogramme verwalten, danach streben werden, ihren eigenen Einfluss möglichst stark auszuweiten. Sie werden sich deshalb bemühen, eine finanzielle Aufstockung der Subventionsprogramme zu erhalten und Begründungen dafür zu finden, warum ständig neue Subventionsprogramme aufgelegt werden sollten. Die Bürokratiekosten, die mit der Vergabe von Subventionen verknüpft sind, bleiben in der Regel bei Subventionsberechnungen außer Betracht. Schließlich fallen auch bei den Begünstigten der Industriepolitik Verwaltungskosten an. Je mehr Subventionstöpfe der Staat bereitstellt, desto mehr lohnt es sich für Unternehmen, eigene Ressourcen aufzuwenden, um im Wettbewerb mit anderen Antragstellern Zugang zu diesen Töpfen zu erhalten. Diese Aktivitäten, die in der Fachsprache als „Rentensuche" bezeichnet werden, gehen zu Lasten anderer Aktivitäten und sind aus gesamtwirtschaftlicher Sicht eindeutig unproduktiv. All diese verdeckten Kosten der staatlichen Industriepolitik sind statistisch nur schwer oder gar nicht zu quantifizieren, aber es kann vermutet werden, dass sie ein beträchtliches Ausmaß erreichen. 4. Konsequenzen fiir die Wirtschaftspolitik Da die ganz überwiegende Mehrzahl heutiger Subventionsprogramme nicht ökonomisch, sondern politisch motiviert ist, kann eine Erfolg versprechende Strategie zum Subventionsabbau auch nur beim politischen Prozess ansetzen. Der Beitrag der Wirtschaftswissenschaft muss darin liegen, die Öffentlichkeit aufzuklären über die gesamtwirtschaftlichen Schäden der Subventionspolitik und Transparenz herzustellen über ihre tatsächlichen Kosten. Vielleicht kann dieser Aufsatz ja einen kleinen Beitrag dazu leisten. Die jüngste Episode in der unendlichen Geschichte des Subventionsabbaus liegt gerade hinter uns, und sie hat zumindest einige Teilerfolge beim Abbau von Steuervergünstigungen gebracht. An erster Stelle steht dabei die Streichung der Eigenheimzulage, die längst überfällig war, da es Deutschland nicht an Schlafplätzen, sondern an Arbeitsplätzen mangelt. Das Subventionsvolumen insgesamt dürfte dadurch aber

120 Die marktwirtschaftliche Ordnung

nur wenig sinken, da die Finanzhilfen von Bund, Ländern und Gemeinden im Wesentlichen unangetastet bleiben. Außerdem bleibt abzuwarten, ob mit den wieder reichlicheren Steuereinnahmen und dem Näherrücken wichtiger Wahltermine nicht neue vermeintliche Wohltaten für die Subventionsempfänger ausgeschüttet werden. In der Vergangenheit lag ein nicht zu unterschätzender Standortvorteil der deutschen Wirtschaft darin, dass die Wirtschaftspolitik einem relativ verlässlichen ordnungspolitischen Kompass folgte. Zwar wurde auch hierzulande kräftig subventioniert, aber die ordnungspolitischen Sünden waren anderswo beträchtlich größer. Mitderweile entdecken die Schwellenländer — allen voran China — die Vorzüge einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Ordnungspolitik für sich. Während bei uns Ordnungspolitik immer weniger populär wird und bisweilen sogar unter die Räder der Kritik am so genannten Neoliberalismus gerät, sind manche Schwellenländer dabei, ihre Wirtschaftsordnung zunehmend marktwirtschaftlich auszurichten. Auch diese Form des internationalen Wettbewerbs, der in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, entscheidet mit darüber, wie die Wachstums- und Beschäftigungspotentiale am Standort Deutschland zukünftig genutzt werden können.

Dirk Maxeiner und Michael Miersch: Mehr Lambsdorff, weniger Kuscheln

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Mehr Lambsdorff, weniger Kuscheln Noch nie waren die Wirtschaftseliten so orientierungslos wie heute. Sie versuchen Konflikten durch Wegducken aus dem Weg zu gehen und hofieren die Feinde der Marktwirtschaft.

Dirk Maxeiner und Michael Miersch* Patrick Moore ist ein alter Kämpfer. Er war einer der Gründer und viele Jahre Chef von Greenpeace. Als bei den Ökokriegern die Ideologen das Ruder übernahmen, trat er aus. Auch heute noch greift er gern Konzerne an und redet ihnen ins Gewissen. Sein Credo: Wenn euer Produkt oder eure Dienstleistung den Menschen nützt und der Umwelt nicht schadet, dann steht gefälligst dazu. Manager, die sich anbiedern, unterstützen eine ,Anti-Industrielle Revolution", denn „Greenpeace hat sich von Logik und Wissenschaft verabschiedet." Kämpft oder ihr werdet untergehen! Das ist so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was die meisten PR-Berater seit Jahren ihren Auftraggebern verkünden. Sie predigen Beschwichtigung und Appeasement: Am besten man verziert Führungsseminare mit Globalisierungsgegnern und lässt Ökoaktivisten in Geschäftsberichten schreiben. Am besten, man imitiert ihre Sprache, übernimmt die Dogmen (in weichgespülter Light-Version) und stellt gemeinsam mit ihnen andere Industrien an den Pranger. So lässt sich womöglich ein moralischer Blumentopf gewinnen. Besonders beliebt ist dieses Spiel in Deutschland, wo die Firmenlenker derzeit ein klägliches Bild bieten. Mit dreister Selbstbedienung bei mäßiger Performance ruinieren Unternehmensfuhrer ihre eigene Berufsehre. Dabei verstärken sie die antiökonomischen Reflexe einer Gesellschaft, die ohnehin nicht viel von Menschen hält, die dem schnöden Profit nachrennen. Schon Vorjahren ergab eine Allensbach Umfrage, dass die halbe Bevölkerung Manager in toto für „rücksichtslos" hält. 36 Prozent glauben darüber hinaus, die Wirtschaftselite sei „raffgierig" und könne nie genug bekommen. Jeweils etwa ein Drittel weiß darüber hinaus, dass Unternehmer „Ausbeuter" sind, die nur andere ausnutzen, dass sie „kein Verständnis für kleine Leute" und keine „Ideale" haben (außer Profit versteht sich). Zweifel an der moralischen Integrität der Wirtschaftselite gehören heute zum guten Ton und gelten als Ausweis kritischen Bewusstseins. Im Gefolge des Wertewandels der siebziger und achtziger Jahre entwickelte sich auch in den Topetagen der Wirt-

* Dirk Maxeiner und Michael Miersch sind politische Publizisten und Autoren mehrerer Bücher.

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schaft gerade2u übermächtig der Wunsch, auch einmal zu den Guten zu gehören, endlich Applaus für moralische Hochleistung zu ernten. Die These des Nobelpreisträgers Milton Friedman, wonach Unternehmen nur dann verantwortlich handeln, wenn sie Gewinne erwirtschaften, gilt vielen Wirtschafts-Vertretern heute nicht mehr als salonfähig. Kapitalismus und Profit gehören in Unternehmensbroschüren schon seit längerem zu den schmutzigen Wörtern. Viel lieber möchte man sich als sozialökologischer Bedenkenträger in die Herzen der Bürger kuscheln. Wer zum World Economic Forum nach Davos reist, sollte heutzutage ein paar Skier und mindestens einen Moraltheologen im Gepäck haben. „Ich sehe im wesentlichen vier Leitlinien, an welchen sich die Unternehmen bei ihrer Tätigkeit orientieren sollten", sagt Weltwirtschaftsforum-Erfinder Klaus Schwab, „Corporate Attractivness, Corporate Integrity, Corporate Citizenship und schließlich Social Entrepreneurship". (Kleine Hilfe für schlichte Gemüter: Früher sagte man dazu Verantwortungsbewusstsein). Ein klares Bekenntnis zum Markt ist irgendwie hinderlich dabei. Wer es ablegt, dem entzieht die talkende Klasse ihre Streicheleinheiten. Ausgewiesene Anti-Kapitalisten, Fortschritts- und Globalisierungs-Gegner wie Vandana Shiva oder Viviane Forrester werden von Beifall heischenden Firmenlenkern umgarnt, auf dass endlich Friede, Freude, Eierkuchen herrsche. Wer gegen „Globalisierung" und „Neoliberalismus" polemisiert, endet beinahe zwangsläufig als „mahnende Stimme" auf dem Podium einer Bank oder in der Hauszeitschrift eines Pharmakonzerns. In einem Beitrag zum 25jährigen Jubiläum der Berliner TAZ forderte der Leiter des Daimler-Chrysler Think-Tanks mehr „Mut zur Formulierung von Sozialutopien" und zieht das „ökonomische Fortschrittsparadigma" in Zweifel. Der fortschrittsund ökonomiefeindliche Mief, der sich inzwischen selbst bei vielen gestandenen Linken zu verflüchtigen beginnt, ist im Management angekommen. Die Wirtschaftselite der Industriestaaten gefällt sich darin, den Geist ihrer Widersacher zu integrieren und mitunter kritiklos zu assimilieren. Zum Beispiel Bart Jan Krouwel, holländischer Investment-Banker und Präsident der Organisation „European Partners for Environment" (EPE). Er hat die Phrasen der Globalisierungsgegner der Einfachheit halber wörtlich übernommen: „Europa sollte sich im Globaüsierungsprozess als Gegenentwurf zur Vision einer westlichen, räuberischen und gegen das Allgemeinwohl gerichteten Industriegesellschaft etablieren, die immer größere Ungleichheiten produziert." Der Kapitalismuskritiker vom Bankhaus möchte die Welt stattdessen mit einer „Global Well-Being Society" beglücken. Ein Runde Mitstreiter hat sich dafür bereits gefunden: Auf der EPE-Mitgliedsliste stehen unter anderen Repräsentanten von Coca Cola International, Dow Europe, TotalFinaElf, Monsanto, Sony International, Deutsche Bank, PriceWaterhouseCoopers und Unilever.

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Früher versetzte der Glaube Berge, heute lässt er Großkonzerne rotieren. Der Schweizer Pharmakonzern Novartis und der britisch schwedische Wettbewerber Astra Zeneca beschlossen vorsorglich, ihr Kerngeschäft von der unpopulären AgroGentechniksparte zu befreien. Mit dem unbelasteten neuen Namen Syngenta operieren die fusionierten Töchter seitdem gleichsam undercover. Der Konzern Aventis hat sich aus Angst um den Börsenkurs gleich ganz von seiner Agrarsparte getrennt. „Mit Greenpeace im Nacken an der Wall Street einzuziehen ist für Manager der Branche ein Albtraum", kommentierte „Die Zeit". Ergebnis: Eine für die Menschheit chancenreiche Technologie wird zurückgeworfen. Wie sagt der Frosch Kermit so schön: Es ist schwer grün zu sein. Die Desinformation, die Aktivisten mit Hilfe der Medien verbreiten, funktioniert als geschlossener Argumentationskreislauf. Die Kampagne selbst erzeugt die Argumente, auf die sie sich dann beruft. Erst zerstören sie die Versuchsfelder mit gentechnisch veränderten Pflanzen (GMOs). Dann protestieren sie, dass die Pflanzen zu wenig erforscht sind. Im Stile eines Großinquisitors forderte Greenpeace die Lebensmittel-Handelskonzerne auf, dem „Genfood" abzuschwören. Als der letzte Konzern eingeknickt war, wurde daraus eine neue Beweisführung gedrechselt: GenNahrung sei so gefährlich, dass sogar der Lebensmittelhandel sie boykottiere. Wenn Firmen versuchen, ihre Gegner zu beschwichtigen und sich anzubiedern, hat dies die gegenteilige Wirkung. Es wird als Einladung zu weiterer moralischer Erpressung betrachtet. Was soll's, man sonnt sich gern im Glänze der eigenen guten Gesinnung. Besonders gern tun dies die Nachkommen großer Unternehmer-Dynastien. Viele von ihnen wurden im Zeitgeist der siebziger und achtziger Jahre sozialisiert. Clay Ford, Urenkel vom alten Henry, ist Vegetarier, glaubt an die Heilkraft der alternativen Medizin und gefiel sich als Gastredner bei Ökokongressen. Rolf Gerling, dem ein milliardenschweres Versicherungsimperium hinterlassen wurde, entwickelte unter Mithilfe von Hausphilosophen eine neue Firmenkultur. Nicht Profit sollte vorderstes Ziel sein, sondern die „Achtung vor dem Menschen, der Natur und dem Schönen". Der Profit reagierte prompt, Gerling vergrub sich in sein Schweizer Domizil. Ford musste feststellen, dass politisch korrekte Grußadressen keine vernünftige Unternehmenspolitik ersetzen können. 2006 kündigte Ford seinen Abschied an, sein Unternehmen sitzt auf einem riesigen Berg unverkäuflicher Spritschlucker und ist in existentiellen Nöten. „Die jungen Reichen wollen die Dinge anders anpacken", sagt auch Stephan Schmidheiny, einer der reichsten Männer der Welt und in vierter Generation Spross einer schweizer-deutschen Unternehmer-Dynastie. Er gründete Anfang der neunziger Jahre den „World Business Council for Sustainable Development" (WBCSD), einen Zusammenschluss von mittlerweile 160 der größten Unternehmen weltweit

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(von ABB über Daimler-Chrysler bis Volkswagen), der sich die Beförderung der „Nachhaltigkeit" auf die Fahnen geschrieben hat. In der WBCSD-Broschüre „Global Scenarios 2000-2050" werden drei mögliche Zukunftspfade der Menschheit vorgestellt. Im ersten Szenario sieht es ganz böse aus: „Glolablisierung" und „Liberalisierung der Märkte" haben zusammen mit zunehmender Verstädterung „soziale Ungleichheit und Unruhen in einem Maß gesteigert", das ein grundsätzliches Überleben der Menschheit und der Ökosysteme bedrohe. Im dritten Szenario wird hingegen eine schöne heile Welt aufgelegt, in der „Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), Regierungen, betroffene Verbraucher und Wirtschaft als Partner agieren" und in der Vereinbarungen durch „Mediation" zustande kommen. Der freie Markt wird durch den runden Tisch ersetzt. Alle werden dann nett zueinander sein, besonders die 160 führenden Unternehmen des WBCSD. Was da mit einer Menge Brimborium ausgeführt wird, entspricht in etwa jenem Erkenntnis stand, der vor 30 Jahren am WG-Küchentisch formuliert wurde. Auf dem letzten UN-Gipfel zum Thema nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 veranstaltete der WBCSD ein Forum zum Thema „Nachhaltige Mobilität". In der anschließenden Diskussion zerbrach man sich fast ausschließlich den Kopf darüber, wie man die weitere Motorisierung verhindern könne. „Werden die Amerikaner jemals ihre Einstellung zum Auto ändern, oder müssen wir die Benutzung von Autos beschränken?", fragte der Moderator des WBCSD. Es war einem südafrikanischen Busfahrer überlassen, die Perspektive gerade zu rücken: „Wie sollen die Entwicklungsländer umweltfreundlich werden, wenn wir uns keine neuen Autos und die saubersten Kraftstoffe leisten können?" Die Tatsache, dass erst mehr Wohlstand mehr Umweltschutz ermöglicht, muss auf Vordenker-Symposien der Industrie mittlerweile durch einen kleinen Angestellten des Johannesburger Transportgewerbes ins Gedächtnis gerufen werden. Wen wundert es da, dass Konzepte wie „Nachhaltigkeit" oder „Corporate Responsibility" in Entwicklungsländern nicht so gut ankommen. Die Menschen verstehen nämlich ganz richtig, dass damit der technische und ökonomische Fortschritt ausgebremst werden soll. Die Perspektiven der Globalisierungsgegner und Ökoaktivisten für die Dritte Welt laufen auf ein „riesiges Armuts-Beschaffungs-Programm „ hinaus, formulierte es der britische Kolumnist Mark Steyn. Wie so was geht, zeigte der Sportartikel-Hersteller Reebok. Der hat sogar einen Beauftragten für Menschenrechte. „Er spricht mit der Inbrunst eines Anti-Corporate-Aktivisten über Werte, Fairness und Prinzipien", schrieb die britische Zeitschrift „Economist". Und der Mann von Reebok redet nicht nur wie ein Aktivist, er handelt auch so. So entzog er, um Kritikern vorsorglich den Wind aus den Segeln zu nehmen, einem Zulieferer in Thailand sämtliche Aufträge. Begründung: Die Arbeitszeit lag bei über 72 Stunden in der Woche. Dabei war nicht von Belang, dass viele Menschen mehr und nicht weniger

Dirk Maxeiner und Michael Miersch: Mehr Lambsdorff, weniger Kuscheln 125

arbeiten wollten. Es spielte auch keine Rolle, dass die Bezahlung besser als der Mindestlohn war, dass Sicherheits- und Gesundheitsstandards über dem Niveau lagen, das die lokalen Arbeitgeber normalerweise offerieren. 400 Menschen verloren ihren Job. Echt fair. Überschrift des Artikels: „Ethisch arbeitslos." Die zweifelhafte NGO-Ethik wird in den Händen von Managern und Bürokraten „zu einem gefährlichen Virus, einer tödlichen Massenvernichtungswaffe," schreibt der amerikanische Ökologe und Rechtswissenschafder Paul Driessen. „Sie verhindert wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt, drängt kleinere Anbieter aus dem Markt und begrenzt die ökonomischen Möglichkeiten." Die Bevölkerung armer Entwicklungsländer wird immer mehr zur Geisel westlicher NGO, die ihre Rückschrittlichkeit auch noch als moralisch höherwertig verkaufen. So wurde während einer Hungerkrise in Sambia und Simbabwe kein Hilfsgetreide aus Amerika verteilt, weil die Regierungen Angst hatten, die Bauern könnten das gentechnisch verbesserte Korn aussähen und damit ins Visier der NGOs und der von ihnen beeinflussten europäischen Regierungen geraten. Vitamin-A-angereicherter Reis, der viele Kinder vor Blindheit und schweren Mangelerscheinungen retten könnte, soll nach dem Willen westlicher Gentechnikgegner ebenso verhindert werden wie schädlingsresistente Baumwolle, die bei Kleinbauern in Südafrika, China und Indien äußerst beliebt ist. Sauvik Chakraverti, politischer Essayist in Neu Delhi, sagt über westliche Ökoaktivisten: „Das sind die schlimmsten Feinde der armen Leute". Mahnen und Warnen, Moralisieren, Boykottieren, Verhindern und Verteufeln sind längst wichtige Kursfaktoren. NGOs spielen auf diesem Klavier so einträglich wie einst Liberace. Sie gewinnen durch medienwirksame Aktionen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und lassen gleichzeitig ihre Spendenkassen klingeln. Sie heizen die Diskussion um Phantomrisiken an und machen sie salonfähig. Ein einträgliches Geschäft, an dem sich immer mehr Interessengruppen beteiligten. Doch dieses Geschäft verlangsamt und verteuert den Fortschritt und kommt damit der Gesellschaft als Ganzes teuer zu stehen. Fest steht: Moral-Multis und Großkonzerne machen immer öfter gemeinsame Sache. Das amerikanische „Capital Research Center" schätzt, dass US-Unternehmen Ende der neunziger Jahre fast viermal soviel an Gruppen aus dem ökosozialen Milieu spendeten wie an Befürworter von Marktwirtschaft und offener Gesellschaft. Durch die Hände von Millionen Nicht-Regierungsorganisationen weltweit fließen mittlerweile jährlich viele Milliarden Euro (vieles davon geht selbstverständlich auch in gute Projekte). Die NGOs sind damit aber längst kein David mehr, sondern nach einer Untersuchung des „World Conservation Trust" (TWMC) der achtgrößte Wirtschaftsfaktor der Welt.

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„Niemals zuvor war Moral so ein gängiger Artikel, niemals zuvor waren die Diskurse der Gesellschaft so moralisch durchsetzt, niemals zuvor konnte man mit Moral so viel Geld verdienen", schreibt Wolfgang Kersting, Professor für Philosophie in Kiel. Die großen Beratungsfirmen wie PriceWaterhouseCoopers bieten längst Projekte in „corporate citizenship" oder „business ethics" an. Die Berater empfehlen Unternehmen bei moralischen Anfechtungen grundsätzlich auf Gegenwehr zu verzichten und sofort die weiße Flagge zu hissen: Selbst bei falschen Anschuldigungen, sei es zumeist sinnvoll, Verantwortung zu übernehmen oder zumindest nicht von sich zu weisen. Dies befolgte beispielsweise Coca Cola bei einem Skandal um angeblich verseuchte Brause in Belgien, der sich später als Massenhysterie unter Schülern herausstellte. Die Firma hatte ich nicht zu Schulden kommen lassen und entschuldigte sich dennoch. Doch womöglich geht die Hegemonie des Appeasements allmählich zu Ende. Greenpeace-Gründer Patrick Moore empfiehlt jedenfalls, endlich andere Saiten aufzuziehen. In einer Kritik der öffentlichen Selbstdarstellung der Biotech-Industrie schreib er: „Diese Unternehmen setzen auf positive und beruhigende Botschaften. Das ist alles schön und gut. Doch damit kann man den Wind nicht drehen. Stärkere Medizin ist nötig." Er empfiehlt den Kampf um die moralische Lufthoheit endlich aufzunehmen. Wer sind die wirklichen Freunde der Armen? Wissenschaftler oder Fortschrittsverhinderer? Verantwortlich handeln heißt eben auch sich gegen Demagogen zur Wehr zu setzen, egal woher diese kommen. Es heißt auch öffentliche Panikmache und Hysterie zurückzuweisen, die nicht auf Fakten basieren. Alles andere ist Opportunismus und Feigheit.

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Investitionsfreiheit ist ein hohes Gut Wernhard Möschel

*

Otto Graf Lambsdorff gehört zu den „großen" Wirtschaftsministern in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sein ordnungspolitischer Kurs war von bestechender Klarheit. Dies mag es rechtfertigen, in einer Festschrift aus Anlass seines 80. Geburtstages eine aktuelle, politisch kontroverse Frage aufzugreifen, deren ordnungspolitischer Kern weitgehend übersehen wird. Insoweit hat die Frage exemplarischen Charakter. I. Zum Sachverhalt Es geht um das Vorhaben der Deutschen Telekom AG (DTAG), drei Milliarden Euro in den Aufbau einer neuen Netzinfrastruktur zu investieren. Sie soll zunächst 50 bundesdeutsche Großstädte erfassen.1 Auf diese Planung bezieht sich das genannte Investitionsvolumen. In späteren Schritten soll diese Technik in bis zu 750 Städten und Regionen eingesetzt werden. Technisch werden dabei zwischen den Ortsvermittlungsstellen und den Kabelverzweigern, den grauen Kästen am Wegesrand, Glasfaserkabel verlegt. Innerhalb dieser Kabelverzweiger muss eine neuartige netzseitige Hardware geschaffen werden. An der vorhandenen Verkabelung ändert sich nichts. Wettbewerbern ist unverändert der entbündelte Zugang zu den Teilnehmeranschlussleitungen möglich. Diese Technik erlaubt es, Bandbreiten bis zu 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung zu stellen. Dies geht über die bisherige Bandbreitenbegrenzung der Kupferleitungen, in ADSL-Technik maximal 6 Mbit/s, weit hinaus. Dies gilt auch für den geplanten Ausbau in ADSL2+-Technologie. Hier erhöht sich die Bandbreite auf 16 Mbit/s; 60 Prozent aller Anschlusskunden sollen sukzessive auf diese Weise erreicht werden. Dieses neue Hochgeschwindigkeitsnetz ermöglicht Triple-Play-Angebote, also eine Integration von Telefonie, Internet und TV/Entertainment. Hochauflösendes Fernsehen, sog. HDTV, welches sich über kurz oder lang als Standard durchsetzen wird, lässt sich auf diese Weise übertragen. Zusätzliche Anwendungen, die im Detail gar nicht vorhersehbar sind, zeichnen sich ab.

* Professor Dr. Wernhard Möschel ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Universität Tübingen. 1 Vgl. hierzu Koentgj 1 Mt^/ Senger, Behandlung neuer Märkte im Telekommunikadonsrecht, K&R 2006, 258.

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Die DTAG hat den Sinn dieser Investition infrage gestellt, wenn sie das neuartige Netz sofort mit ihren Konkurrenten teilen muss. Die neue Bundesregierung erklärte, die Errichtung neuer TK-Netzinfrastrukturen unterstützen zu wollen. So heißt es im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien: „Die Koalitionsparteien werden zur Sicherung der Zukunft des Industrie- und Forschungsstandorts Deutschland Anreize für den Aufbau bzw. Ausbau moderner und breitbandiger Telekommunikationsnetze schaffen. Dazu sind die durch entsprechende Investitionen entstehenden neuen Märkte für einen gewissen Zeitraum von Regulierungseingriffen freizustellen, um für den Investor die notwendige Planungssicherheit herzustellen. Eine gesetzliche Absicherung ist in die zu verabschiedende Novelle des Telekommunikationsgesetzes aufzunehmen." 2 Auf dieser Linie ist in dem in der parlamentarischen Debatte befindlichen Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften vom 14.8.20063 folgender § 9a eingefugt worden: „Die Einbeziehung neuer Märkte in die Marktregulierung nach den Vorschriften dieses Teils soll in der Regel nur erfolgen, wenn zusätzlich zu den Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass anderenfalls die Entwicklung eines nachhaltig wettbewerbsorientierten Marktes im Bereich der Telekommunikationsdienste oder -netze langfristig behindert wird. Bei der Prüfung der Regulierungsbedürftigkeit nach § 10 und der Auferlegung von Maßnahmen nach diesem Teil hat die Bundesnetzagentur die Verhältnismäßigkeit der Fesdegungen unter besonderer Berücksichtigung der Ziele, effiziente Infrastrukturinvestitionen zu fördern und Innovationen zu unterstützen, zu berücksichtigen."4 Diese Vorschrift ist primär Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen. Ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts 5 , mit Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts wie Bestimmtheitsgebot und Parlamentsvorbehalt wird infrage gestellt.6 So spießen Juristen gekonnt Paragraphen und

2

Koalitionsvertrag, S. 18. Vgl. dazu oben, S. 112 f. (der Hrsg.). BT-Drucksache 16/2581. 4 In der Fassung des Bundesratsvorschlages, dem die Bundesregierung zustimmt, vgl. BTDrucksache 16/2581, Anlage 2 unter 2. und Anlage 3, Gegenäußerung der Bundesregierung, unter „Zu Nummer 2" (S. 41). 5 Die EG-Kommissarin Frau Riding meint, dass das geplante VDSL-Netz der Deutschen Telekom keinen „neuen Markt" im Sinne des Gemeinschaftsrechts begründe und daher in die Regulierung des Breitbandvorleistungsmarktes einzubeziehen sei. Vgl. dazu Scheerer/Stratmann, Machtkampf um Regulierung, Handelsblatt Nr. 37 vom 21.2.2006, S. 5. 6 Vgl. dazu KoeniglLoet%/Senger (Fn. 1) mit zahlreichen Nachweisen; Monopolkommission, Sondergutachten 43, Wettbewerbsentwicklung bei der Telekommunikarion 2005: Dynamik unter neuen Rahmenbedingungen, 2006, Tz. 183 ff.; Herdegen, Freistellung neuer Telekommunikationsmärkte von Regulierungseingriffen. Die gesetzliche Steuerung im Lichte des Verfassungs- und Europa3

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sich gegenseitig auf. So wichtig diese Fragen sind, so wenig stoßen sie zum eigentlichen Kern des Problems vor. Vorgreiflich ist eine ordnungspolitische Frage: Welchen Sinn sollen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung solche einschneidenden Investitionsregulierungen machen? Offenbar hat man sich an die nach der Liberalisierung des Telekommunikationswesens eingeführte Staatskontrolle so gewöhnt, dass man diese Frage aus dem Auge verloren hat. IL Zu den Funktionen der Investitionsfreiheit

Wirtschaftliche Handlungsfreiheiten, die für eine marktwirtschaftliche Ordnung konstitutiv sind, schlagen sich bei Anbietern primär in der Freiheit zu Investitionen nieder. Ohne solche gibt es keine neuen Arbeitsplätze und keine Innovationen. Ohne Innovationen bleibt die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf der Strecke. Innovation und Investition fuhren zu vorstoßendem Wettbewerb. Konkurrenten sind zu eigenen Anstrengungen — und sei es im Wege imitativen Wettbewerbs — gezwungen. Dieser Peitschenschlageffekt, der sich immer neu wiederholt, treibt ein Gemeinwesen wirtschaftlich nach vorne. Dabei sind Investitionen Maßnahmen, die regelmäßig in eine ungewisse Zukunft gerichtet sind. Sie sind hochriskant. Damit sie zustande kommen, bedarf es Verfügungsrechte, die möglichst eindeutig, dauerhaft: und verlässlich zugeordnet sind.7 •

Eine eindeutige Zuordnung schafft eine Handlungsmotivation (Anreiz- und Allokationsfunktion), welche über eine Aktivierung des Eigeninteresses zu einem wirtschaftlichen Umgang mit Gütern und damit zu einer wohlstandsmehrenden Entwicklung führt. Ist die Zuordnung nicht eindeutig, wird der effiziente Umgang mit Knappheit erschwert. Hier siedelt die Problematik der Allmendeguter und der öffentlichen Güter. Der Wert einer Investition ist der Barwert des Nutzenstroms, den man aus ihr ziehen kann. Muss man diesen Nutzenstrom teilen, wird die Investitionsfreiheit ausgehöhlt.



Ist die Zuordnung nicht dauerhaft, kann die Nutzung der Güter in der Zeit nicht effizient sein. „Das betrifft Knappheit heute versus Knappheit morgen,

rechts, MMR 2006, 580 ff.; Die tiein/ Brandenberg Regulierung „Neuer Märkte" im Telekommunikationsrecht am Beispiel von VDSL, IR 2006, 208 ff.; Bundesnet^agentur, Anhörung vom 22.2.2006 zur Identifizierung „neuer Märkte" im Bereich der Telekommunikation sowie zu deren regulatorischer Behandlung mit zahlreichen Stellungnahmen, abrufbar unter: www.bundesnetzagentur.de; aus ökonomischer Sicht Elsenbast, Ökonomische Konzepte zur Regulierung „neuer Märkte" in der Telekommunikation, MMR 2006, 575 ff. 7 Sievert, Probleme des Ubergangs von einer sozialistischen zur marktwirtschaftlichen Ordnung, in Dichmann/Fels, Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen des Privateigentums, 1993, S. 206 ff.; Möschel, Funktionen einer Eigentumsordnung, O R D O 53 (2002), S. 145 ff.

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das betrifft den optimalen Umgang mit Kapitalgütern, die Maximierung Rentabilität von Investitionen" 8 . Ein Landwirt pflanzt heute einen Baum, erst in 120 Jahren so gewachsen sein wird, dass er gefällt werden kann, nur gen der Dauerhaftigkeit seines Eigentums. Er vermehrt schon am Tage Pflanzens den Wert seines Grundstücks. •

der der wedes

Die Zuordnung sollte schließlich möglichst verlässlich sein, damit Unsicherheit des Wirtschaftens, namentlich des in die Zukunft gerichteten Teils, dem wir vor allem unseren Wohlstand verdanken, möglichst vermieden wird.

Unterwirft man Investitionen der hier infrage stehenden Art der allgemeinen Exante-Preis- und Zugangsregulierung des T K G , so führt das dazu, dass weder das regulierte Unternehmen noch dessen Wettbewerber investieren: Das regulierte Unternehmen investiert nicht, weil die Ertragsanreize fehlen. Es muss davon ausgehen, dass ein wesentlicher Teil seiner Investition nicht ihm, sondern seinen Wettbewerbern zugute kommt. Die Wettbewerber investieren nicht, weil sie darauf hoffen, eine vom regulierten Investor geschaffene Infrastruktur mitbenutzen zu können, gewiss auf Kostenbasis, aber ohne jedes Investitionsrisiko. Überdies verkehrt sich der sog. First-Mover-Advantage, der Markterschließungsvorteil des Erstinvestors, in sein Gegenteil. Der Erstinvestor gerät in die Fänge der Regulierung. Ein Zweitinvestor hätte alle Chancen, nicht reguliert zu werden. Auch kann er ggf. auf jede Investition verzichten und — regulierungsbedingt — die vom Investor aufgebaute Netzinfrastruktur mitbenutzen. Das sind Anreize zum Attentismus. Wer dies generell infrage stellt, weil sonst Wettbewerb prinzipiell eine Investitionsbremse darstelle,9 zeigt nur, dass er von den Funktionen von property rights innerhalb einer Verkehrswirtschaft nichts versteht. III. Rechtfertigung einer Regulierung Wenn man solche Regulierung beibehalten will, muss man schon sehr gute Gründe haben. Dabei darf man sich in den Worten des unvergessenen Wolfgang Stützel im Grundsätzlichen keine Millimeterunschärfen leisten: Nicht infrage steht der Einsatz der allgemeinen wettbewerblichen Regeln gegen Behinderungsmissbräuche marktstarker Unternehmen. Dies sind Regulierungen, die eine wettbewerbliche Wirtschaftsordnung erst ermöglichen. Man spricht von sog. konstitutiven Regulierungen

8 Sievert (Fn. 7), S. 210. So das Bundeskartellamt in seiner Stellungnahme zur Anhörung der Bundesnetzagentur vom 22. 2. 2006 (Fn. 6), S. 2.

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wie das Eigentumsrecht, das Strafrecht usf.10 Ohne sie ist ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen kaum möglich. Worum es hier geht, sind spezifische Regulierungen, Investitionskontrollen ex ante mit den genannten schädlichen Wirkungen. Man rechtfertigt sie in der Substanz als Übergangsregeln: Die überkommenen Telekommunikationsorganisationen waren echte Monopolunternehmen in einer Vielzahl miteinander verflochtener Märkte, obendrein staatliche Unternehmen und beides zusammen über Generationen hinweg. Die Aufgabe, solche Unternehmen in einen wettbewerblich geordneten Wirtschaftssektor überzuführen, erschien so gewaltig, dass man meinte, nicht ohne positiv gestaltende Regulierung nach dem Muster des TKG auskommen zu können. In der Tat: Es gibt Strukturen, bei denen das bloße Wegräumen von Hindernissen, die Untersagung von Wettbewerbsbeschränkungen nicht ausreicht. Natürliche Monopole, wie etwa bei der Durchleitung von Strom und Gas, sind das wichtigste Beispiel dafür. Die Telekommunikationsmärkte sind von anderer Qualität. Hier ist aufgrund der technischen Entwicklung heute auf allen Ebenen Wettbewerb möglich, auch beim Zugang über die letzte Meile. Neben das traditionelle Kupferkabel treten Glasfaserverbindungen, Fernsehkabel, Mobilfunkanschlüsse, Satellitenverbindungen. Mit einer Aktivierung der Stromleitungen für Übertragungszwecke wird experimentiert (Powerline-Technik). Dem entspricht die tatsächliche Entwicklung nach der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Wettbewerb auf diesen Märkten hat zugenommen, teilweise dramatisch zugenommen. Das gilt gerade für Deutschland. Unter dem Aspekt der Regulierungsgründe bedeutet dies: Eine Argumentation mit den Monopolstrukturen der alten Telekommunikationsorganisationen würde sich auf einen Zustand beziehen, der heute nicht mehr besteht. Von der Sache her gibt es keinen Grund mehr für die Annahme, eine Anwendung der allgemeinen Wettbewerbsregeln, der konstituierenden Regulierungen, reichte nicht aus. So hat die DTAG z. B. auf dem Gesamtmarkt der Breitband-Anschlüsse, gegenwärtig 12 Millionen Teilnehmer, einen Anteil, der bei ca. 51 % liegt. Im Jahre 2005 lag er noch bei 60 Prozent. Die Dynamik dieser Entwicklung zeigt, wie wettbewerbsintensiv dieser Markt in Deutschland mittlerweile geworden ist.

Dazu Möschel, Regulierung und Deregulierung. Versuch einer theoretischen Grundlegung, in FS für Ulrich Immenga, 2004, S. 277 ff.; grundlegend Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, 1991, Tz. 2-5. 10

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IV. Der europäische Rechtsrahmen Der europäische Rechtsrahmen, 11 an den der deutsche Gesetzgeber gebunden ist, soweit ihm keine RegelungsSpielräume verbleiben, folgt im Kern einem identischen ordnungspolitischen Ansatz. Er ermöglicht es, bei „Neuen Märkten" von jeder sektorspezifischen Regulierung abzusehen. Dahinter steht die beifallswerte Einsicht, dass solche Märkte mit den früheren Zuständen nichts mehr zu tun haben und allein schon aus diesem Grunde die sektorspezifische Zugangs- und Preisregulierung keine Rechtfertigungsbasis finden kann. So heißt es im Erwägungsgrund 27 der sog. Rahmenrichtlinie aus dem Jahre 2002: „Vorabverpflichtungen sollten nur auferlegt werden, wenn kein wirksamer Wettbewerb besteht, d. h. auf Märkten, auf denen es ein oder mehrere Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht gibt, und die Instrumente des nationalen und gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts nicht ausreichen, um das Problem zu lösen. Daher ist es erforderlich, dass die Kommission im Einklang mit den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts Leit-

11 Er besteht aus sechs Einzelrichtlinien: Richtlinie 2002/21 /EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie), ABl. EG L 108 vom 24. 4. 2002, S. 33 ff.; Richtlinie 2002/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung (Zugangsrichtlinie), ABl. EG L 108 vom 24. 4. 2002, S. 7 ff.; Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. EG L 108 vom 24. 4. 2002, S. 51 ff.; Richtlinie 2002/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste (Genehmigungsrichtlinie), ABl. EG L 108 vom 24.4.2002, S. 21 ff.; Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation), ABl. EG L 201 vom 31. 7. 2002, S. 37 ff. sowie die Richtlinie 2002/77/EG der Kommission vom 16. September 2002 über den Wettbewerb auf den Märkten für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. EG L 249 vom 17. 9. 2002, S. 21 ff. Der gesamte neue EG-Rechtsrahmen umfasst darüber hinaus die noch fortgeltende Verordnung (EG) Nr. 2887/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 über den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss, ABl. EG L 336 vom 30. 12. 2000, S. 4 ff. und die Entscheidung Nr. 676/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen Rechtsrahmen für die Funkfrequenzpolitik in der Europäischen Gemeinschaft (Frequenzentscheidung), ABl. EG L 108 vom 24. 4. 2002, S. 1 ff. Ergänzend: Empfehlung 2003/311/EG der Kommission vom 11. Februar 2003 über relevante Produkt- und Dienstmärkte des elektronischen Kommunikationssektors, die aufgrund der Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste für eine Vorabregulierung in Betracht kommen, ABl. EG L 114 vom 8. 5. 2003, S. 45 ff., sowie die Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht nach dem gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. EG C 165 vom 11.7. 2002, S. 6 ff.

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linien auf Gemeinschaftsebene festlegt, die von den nationalen Regulierungsbehörden bei der Beurteilung der Frage, ob auf einem bestimmten Markt wirksamer Wettbewerb herrscht und eine beträchtliche Marktmacht vorliegt, eingehalten werden müssen. Die nationalen Regulierungsbehörden sollten untersuchen, ob auf dem Markt für bestimmte Produkte oder Dienste in einem bestimmten geografischen Gebiet ein wirksamer Wettbewerb herrscht, wobei sich dieses Gebiet auf die Gesamtheit oder einen Teil des Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats oder auf als Ganzes betrachtete benachbarte Gebiete von Mitgliedstaaten erstrecken könnte. Die Untersuchung der tatsächlichen Wettbewerbssituation sollte auch eine Klärung der Frage umfassen, ob der Markt potenziell wettbewerbsorientiert ist und somit ob das Fehlen eines wirksamen Wettbewerbs ein dauerhaftes Phänomen ist. In diesen Leitlinien ist auch die Frage neu entstehender Märkte zu behandeln, auf denen der Marktführer über einen beträchtlichen Marktanteil verfügen dürfte, ohne dass ihm jedoch unangemessene Verpflichtungen auferlegt werden sollten. Die Kommission sollte die Leitlinien regelmäßig überprüfen, damit diese in einem sich rasch entwickelnden Markt auf Dauer angemessen sind. Die nationalen Regulierungsbehörden müssen zusammenarbeiten, wenn es sich bei dem betreffenden Markt um einen länderübergreifenden Markt handelt." In R2. 32 der Leitlinien der Kommission heißt es: „In Bezug auf neu entstehende Märkte, auf denen der Marktführer über einen beträchtlichen Marktanteil verfügen dürfte, wird in Erwägungsgrund 27 der Rahmenrichtlinie gesagt, dass diesem keine unangemessenen Verpflichtungen auferlegt werden sollten. Eine verfrühte Ex-ante-Regulierung könnte die Wettbewerbsbedingungen auf einem neu entstehenden Markt unverhältnismäßig stark beeinflussen. Gleichzeitig sollte jedoch auf solchen neu entstehenden Märkten ein Wettbewerbsausschluss durch das führende Unternehmen verhindert werden. Unbeschadet der Tatsache, dass eine Intervention der Wettbewerbsbehörden in Einzelfällen gerechtfertigt sein mag, sollten die NRB sicherstellen, dass sie jede Form einer frühen Ex-ante-Intervention auf einem neu entstehenden Markt begründen können, insbesondere da sie im Rahmen der regelmäßigen Neubewertung der relevanten Märkte die Möglichkeit haben, auch noch zu einem späteren Zeitpunkt zu intervenieren." Im Erwägungsgrund 9 der Märkteempfehlung der Kommission wird eine vorgängige spezifische Regulierung von einem Dreikriterien-Test abhängig gemacht: „Die Identifikation von Märkten in Übereinstimmung mit Grundsätzen des Wettbewerbsrechts soll auf Grundlage der folgenden drei Kriterien erfolgen, i) Es bestehen beträchtliche, anhaltende strukturell oder rechtlich bedingte Zugangshindernisse. Angesichts des dynamischen Charakters und der Funktionsweise der Märkte für elektronische Kommunikation sind jedoch bei der Erstellung einer vorausschauenden Analyse zur

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Ermittlung der relevanten Märkte für eine etwaige Vorabregulierung die Möglichkeiten zum Abbau der Hindernisse vor einem bestimmten Zeithorizont zu berücksichtigen. Daher sind ii) nur diejenigen Märkte aufzuführen, die nicht innerhalb des betreffenden Zeitraums zu wirksamem Wettbewerb tendieren. Bei der Zugrundelegung dieses Kriteriums ist der Stand des Wettbewerbs hinter den Zugangsschranken zu prüfen, iii) Dem betreffenden Marktversagen kann mit Hilfe des Wettbewerbsrechts allein nicht entgegengewirkt werden." Im Hinblick auf „Neue Märkte" heißt es im Erwägungsgrund 15 der Märkteempfehlung: „Die Festlegung eines Marktes, der eine Vorabregulierung rechtfertigt, richtet sich ferner danach, ob das Wettbewerbsrecht ausreicht, um derartige Hindernisse abzubauen bzw. zu beseitigen oder einen echten Wettbewerb wiederherzustellen. Überdies kommen neue und sich abzeichnende Märkte, auf denen Marktmacht aufgrund von „Vorreitervorteilen" besteht, grundsätzlich nicht für eine Vorabregulierung in Betracht." Diese Erwägungen sind immerhin so weit eindeutig, dass sektorspezifische Vorabregulierungen nur bei einem Versagen des allgemeinen Wettbewerbsrechts in Betracht kommen sollen und dass neue Märkte, auf denen Marktmacht aufgrund von Vorreitervorteilen entstehen kann, für eine Vorabregulierung grundsätzlich ausscheiden. Richtlinien binden dabei den deutschen Gesetzgeber nur hinsichtlich der damit verfolgten Ziele, nicht bei der Wahl der Mittel. Leitlinien und Empfehlungen haben keine direkt bindende Rechtsqualität. Sie wirken auf den nationalen Gesetzgeber nur mittelbar über den Grundsatz des Art. 10 des EG-Vertrages ein. Danach treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus dem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben, und sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele des Vertrags gefährden können. Allerdings kann ein nationaler Gesetzgeber zusätzliche Selbstverpflichtungen übernehmen. Im TKG ist dies teilweise geschehen, etwa wenn es in § 10 Abs. 2 TKG zur Marktdefinition heißt, die Regulierungsbehörde berücksichtigt dabei „weitestgehend" die Märkteempfehlung der Kommission. Aber selbst hier verbleibt dem Gesetzgeber bzw. nach entsprechender Ermächtigung der Regulierungsbehörde ein Beurteilungsspielraum. Andernfalls würde man einer Empfehlung die Rechtsqualität einer EG-Verordnung beimessen.

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V. Zur Kategorie der „Neuen Märkte " Dieser hier gezeichnete teleologische Hintergrund muss das Verständnis der Kategorie der „Neuen Märkte" prägen. Alles andere wäre ein methodisch unzulängliches Hantieren mit Begriffen. Es gilt der alte Satz: Der Sinn einer Norm ist nicht an ihrem Wortlaut zu messen, sondern umgekehrt der Wortlaut einer Norm an ihrem Sinn.12 Dies relativiert von vornherein einen Rückgriff auf Kategorien der Betriebswirtschaftslehre beim Verständnis von Investitionen 13 oder einen Rekurs auf Stereotypen der Marktabgrenzung, wie man sie von den kartellrechtlichen Missbrauchstatbeständen 14 oder von der Fusionskontrolle her kennt. Das erkenntnisleitende Interesse dort ist nicht völlig identisch mit dem Zweck, um den es hier geht, nämlich um die Sinnfälligkeit einer im Grundsatz systemfremden weitgehenden Investitionsregulierung. Zwar gehen Art. 15 Abs. 1 Rahmenrichtlinie wie die Erwägungsgründe 5 ff. in der Märkteempfehlung der Kommission von einer Anlehnung der telekommunikationsspezifischen Marktabgrenzung an die Grundsätze des Wettbewerbsrechts aus. Doch ist dies nur ein allgemeiner Ausgangspunkt, der von speziellen Gesichtspunkten überlagert werden kann, und der nationale Gesetzgeber oder Rechtsanwender behält hier, wie gezeigt, einen sachgebotenen Beurteilungsspielraum. Von daher ist für die Kategorie der „Neuen Märkte" ein teleologischer Ausschlusstest bestimmend: Ist eine Regulierung in Anwendung der allgemeinen Wettbewerbsregeln erfolgversprechend und damit ausreichend, oder sind die Marktverhältnisse derart gestört, dass man die Hoffnung auf die — vom Recht vor Behinderungen geschützten — Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs realistischerweise aufgibt? Dabei ist die Aussage der Kommission, dass Marktmacht, die aufgrund von Vorreitervorteilen in neuen Märkten besteht, „grundsätzlich nicht für eine Vorabregulierung in Betracht kommt", ein beifallswerter Fixpunkt. Dies stimmt mit der allgemeinen Auffassung überein, dass höhere Effizienz eines Marktbeherrschers für sich niemals den Vorwurf des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung begründen kann. 15 Das wäre die Perversion eines Wettbewerbsrechts. Damit werden Umfang und Qualität von Investitionen im Hinblick auf die Markt- und Wettbewerbsprozesse entscheidende Gesichtspunkte. Ihr Zusammenhang mit traditionellen Kategorien der Produktmärkte ist nachrangig und eher lose. Er gerät ins normative Blickfeld eher unter

12 Vgl. dazu Möschel, Die rechtliche Behandlung der Paralleleinfuhr von Markenware innerhalb der EWG, 1968, S. 172 ff. mit Nachweisen. 13 Vgl. hierzu z.B. Dietlein/ Brandenberger {Fn. 6). 14 Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Anwendung dieser Tatbestände den allgemeinen Kartellbehörden oder — wie nach überwiegender Meinung in Deutschland — im Sektor Telekommunikation der Bundesnetzagentur zugewiesen ist. 15 Vgl. nur Möschel, in Immenga/Mestmäcker, GWB, 3. Aufl 2001, § 19 Rn. 13 mit Nachweisen.

136 Die marktwirtschaftliche Ordnung

dem Aspekt zu erwartender oder möglicher Auswirkungen der Investitionen auf die Nachfrager. VI. Optionen des Gesetzgebers Aus dieser Perspektive drängt sich die Schlussfolgerung nachgerade auf: Eine sektorspezifische Vorabregulierung im Hinblick auf Investitionen der hier erörterten Art sollte unterbleiben. Der Gesetzgeber, der dies ausweislich des § 9 a Entwurf zu einer Änderung des TKG einzusehen scheint, gibt mit seiner Uberantwortung des Problems an die Bundesnetzagentur mit einem mehr oder minder gebundenen Beurteilungsspielraum den Unternehmen freilich Steine statt Brot. Entscheidungen der Netzagentur sind auch bei legislativen Vorgaben im Letzten nicht sicher kalkulierbar. Insbesondere liegen Vorstellungen neben der Sache, man könnte bei einer Zugangsverpflichtung und Preisregulierung zu Lasten des Erstinvestors in den Preis eine Komponente einrechnen, die dessen Investitionsrisiko abbildet. Eine solche Komponente ist praktisch nicht ermittelbar. Wichtiger noch: Regulierungsentscheidungen sind von Konkurrenten vor Gerichten anfechtbar. Der praktisch Erfahrene weiß, dass solcher Privatrechtsschutz allzu häufig zu strategischen Zwecken eingesetzt wird. D. h., es geht nicht wirklich um Klärung einer Rechtsfrage, sondern es werden dem Wettbewerber, der einen Vorsprung erlangen könnte, juristische Knüppel zwischen die Beine geworfen. Der Rechtsschutz wird zum Parameter einer Wettbewerbsbehinderung. Solche Streitigkeiten lassen sich über Jahre ausdehnen, während deren keine Rechtssicherheit zu erlangen ist. Der oben genannte Gesichtspunkt der Verlässlichkeit der Zuordnung von Verfügungsrechten, hier von Investitionsmöglichkeiten, wäre gröblich missachtet. Auch eine zeitlich begrenzte Freistellung von einer Regulierung macht nur wenig Sinn, wenn nach Ablauf der Frist das Fallbeil einer spezifischen Preis- und Zugangsregulierung zuschlägt. Konkurrenten warten dann den Ablauf der Frist ab, um im Anschluss daran die risikolose Position von Trittbrettfahrern einnehmen zu können. Mindestens sollte es bei dieser Option nicht ausgeschlossen sein, dass die Freistellung nach Ablauf der Frist endgültig bestätigt wird. Die Unsicherheit darüber beeinträchtigt ebenfalls die erwünschte Verlässlichkeit des Rechtsrahmens. Der Gesetzgeber sollte versuchen, selbst „Neue Märkte" als subsumtionsfahigen Rechtsbegriff zu definieren. Man kann zweifeln, ob ihm dies gelingen wird. Falls er sich auf diesen Weg begibt, sollte nach dem Innovationspotential gefragt werden, das sich mit der ins Auge gefassten Investition verbindet. Nicht technische Kategorien alleine sollten im Vordergrund stehen, sondern Bedürfnisse der Nutzer, die sich etwa in der Qualität, der Kapazität oder der Leistungsfähigkeit der Produkte widerspiegeln. Wie schon bei Missbrauchstatbeständen nach allgemeinem Wettbewerbsrecht

Wernhard Möschel: Investitionsfreiheit ist ein hohes Gut 137

ist dabei der Selbstverständlichkeit Rechnung zu tragen, dass ein marktstarkes Unternehmen nicht daran gehindert werden sollte, überlegene Effizienz zur Geltung zu bringen. Für solche Effizienz sollte es nicht mit einer spezifischen Regulierung bestraft werden. Eine andere Lösung wäre, wenn der Gesetzgeber bezüglich neuer Märkte den europäischen Rechtsrahmen innerhalb der TKG-Novellierung schlicht wiederholt. In der Begründung dazu könnte dann der Gesetzgeber klarstellen, weshalb Investitionen der hier erörterten Art keiner spezifischen Regulierung bedürfen. Dies wäre keine lex Deutsche Telekom. Die Lösung gälte auch für andere Netzinvestoren wie Kabelbetreiber, City-Carrier oder Mobilfunkanbieter. Für einen Liberalen drängt sich die alte Erkenntnis auf: Wer einmal den Pfad der Investitionsfreiheit verlässt, kann nur mit zusätzlichen Anstrengungen vermeiden, sich nicht in eine Sackgasse zu verirren.

138 Die marktwirtschaftliche Ordnung

Das Dilemma der Sozialen Marktwirtschaft Viktor J. Vanberg* Das „Lambsdorff-Papier", das 1982 den Anstoß zur Auflösung der seit 1969 regierenden sozialliberalen Koalition gab, war ein Aufruf zur Korrektur politischer Entwicklungen, die dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft zunehmend die Dynamik genommen hatten, der es seinen einstigen Ruf als Quelle des „Wirtschaftswunders" verdankte. Fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Veröffentlichung muss man ernüchtert feststellen, dass das vom damaligen Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff vorgelegte „Konzept für eine Politik zur Uberwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" kaum an Aktualität eingebüsst hat. Wie die heute wiederum intensiv geführte Diskussion um die Notwendigkeit grundlegender Reformen illustriert, ist die seinerzeit im Lambsdorff-Papier angemahnte Kurskorrektur zu einer Revitalisierung marktwirtschaftlicher Kräfte nicht ernsthaft vollzogen worden, mit der Konsequenz, dass die zu überwindende Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit zu einer dauerhaften Begleiterscheinung unseres Wirtschaftslebens geworden sind. Die Schwierigkeiten, mit denen sich heute wie damals eine auf die Stärkung marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien gerichtete Reformpolitik konfrontiert sieht, speisen sich, so meine These, nicht zuletzt aus einem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft, das die Illusion nährt, in einer Marktwirtschaft seien Formen sozialer Sicherheit und Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit durchsetzbar, die mit ihren Funktionsprinzipien grundsätzlich inkompatibel sind. Diese These möchte ich im Folgenden näher erläutern. Die Marktwirtschaft ist wie der Mitbegründer der Freiburger Schule, Franz Böhm, es einmal ausgedrückt hat, die Zwillingsschwester der Privatrechtsgesellschaft. Sie ist die Wirtschaftsordnung, die sich unter gleich freien und gleichberechtigten Personen einstellt, die sich im Rahmen einer Privatrechtsordnung als in ihren Eigentumsrechten und in ihrer Vertragsfreiheit geschützte Privatrechtssubjekte begegnen und mit Partnern ihrer Wahl in Austausch treten oder sich zu gemeinsamen Unternehmungen zusammenschließen können. Die Wahlfreiheit, die eine solche rechtlich .eingehegte' Arena freiwilligen Austauschs und freiwilliger Kooperation sichert, bietet dem einzelnen Schutz vor Abhängigkeiten, legt ihm jedoch zugleich Beschränkungen auf, die aus der gleichen Wahlfreiheit aller anderen erwachsen. Er genießt insofern Schutz vor Abhängigkeiten, als diejeni* Prof. Dr. Viktor J. Vanberg ist Leiter des Walter Eucken Instituts der Universität Freiburg.

Viktor J. Vanberg: Das Dilemma der Sozialen Marktwirtschaft 139

gen, an deren Leistungsangeboten er interessiert ist, dem Wettbewerb ausgesetzt sind. Aber er unterliegt auch wiederum seinerseits mit seinen eigenen Leistungsangeboten den Zwängen des Wettbewerbs, der aus der Wahlfreiheit der Leistungsnachfrager und anderer Anbieter resultiert. Friedrich von Hayek hat den Vergleich mit einem Spiel herangezogen, um den Charakter der Marktwirtschaft zu verdeutlichen. Die Marktwirtschaft kann man, so sein Argument, als Wettbewerbs- oder „Tauschspiel" bezeichnen, und er erläutert: „Wie alle Spiele hat es Regeln, die das Handeln der einzelnen Teilnehmer leiten, deren Ziele, Geschick und Wissen verschieden sind, mit der Folge, dass das Ergebnis unvorhersehbar ist und dass es regelmäßig Gewinner und Verlierer geben wird." Die Menschen haben, so Hayek, guten Grund, sich auf dieses Spiel einzulassen, weil es „ein Wohlstand schaffendes Spiel (ist) ..., das heißt, eines, das eine ... Verbesserung der Aussichten aller Teilnehmer auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse bewirkt." Mit der Metapher des Spiels und seinem Hinweis darauf, dass es im Wettbewerbsspiel des Marktes „regelmäßig Gewinner und Verlierer" geben wird, zeigt Hayek eine Hauptquelle der Schwierigkeiten auf, die Menschen mit der Marktwirtschaft haben. Wie bei jedem Spiel, so muss man auch beim Wettbewerbsspiel des Marktes zwischen zwei Fragen unterscheiden, nämlich einerseits der Frage, ob es für alle Beteiligten wünschenswert ist, sich gemeinsam darauf einzulassen, das betreffende Spiel zu spielen, und andererseits der Frage, ob alles, was im Verlauf des Spiels geschieht, immer allen Beteiligten zur Freude gereicht. Wird die erste Frage verneint, so spricht dies offenkundig dagegen, sich überhaupt auf das betreffende Spiel einzulassen. Wird sie bejaht, haben also die Beteiligten deshalb guten Grund sich auf das Spiel einzulassen, so schließt dies keineswegs aus, dass sie im Verlauf des Spiels gelegentlich auf der Verliererseite sein werden. Anders gesagt, dass ein Spiel allen Beteiligten insgesamt Vorteile bringt, steht nicht zu der Tatsache im Widerspruch, dass es im Verlauf des Spiels immer wieder Gewinner und Verlierer geben wird. Nun bestehen selbstverständlich zwischen der Marktwirtschaft und einem zur bloßen Unterhaltung gespielten Spiel offenkundige Unterschiede. Dennoch ist die Spielmetapher hilfreich, um grundlegende Eigenschaften marktwirtschaftlicher Ordnungen deutlich zu machen. Die Marktwirtschaft ist, wie Hayek es ausdrückt, ein „Wohlstand schaffendes Spiel", ein „Spiel", das für alle Beteiligten vorteilhaft ist, da es allen eine bessere Versorgung mit Gütern und Leistungen ihres Bedarfs verspricht als alternative bekannte Wirtschaftsordnungen. Das bedeutet freilich nicht, dass den Beteiligten im Verlauf des Spiels Enttäuschungen und Verluste erspart blieben. Was für den Anbieter eines neuen Produkts, den Nutzer einer besseren Vertriebsmethode oder den Entdecker einer günstigeren Einkaufsquelle einen Wettbewerbsvorteil bedeutet, bringt seine Konkurrenten in Bedrängnis und zwingt sie zur Neuorientierung. Das, was die Dynamik und das Wohlstandschaffungspotential der Marktwirt-

140 Die marktwirtschaftliche Ordnung

schaft ausmacht und ihre Leistungsfähigkeit begründet, ist gleichzeitig auch die Quelle von Unbill. Dass ihre Einkommenssituation ständig dem Risiko der Beeinträchtigung durch Geschehnisse unterliegt, über die sie keinerlei Kontrolle haben und von denen sie zumeist nicht einmal Kenntnis haben, widerstrebt dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Und dass sie für ihre Leistung aufgrund irgendwelcher Änderungen in den Marktbedingungen weniger Entlohnung bekommen als zuvor, obwohl sie in ihrer Anstrengung und Sorgfalt nicht nachgelassen haben, verletzt ihr Gefühl von „sozialer Gerechtigkeit". Die Aussage, dass das Wettbewerbsspiel des Marktes das Sicherheitsbedürfnis der Menschen und ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit verletzt, bedarf der Präzisierung. Wie ich im Folgenden erläutern werde, gerät die Marktwirtschaft nur mit bestimmten Vorstellungen von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit in Konflikt. Man kann soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit aber durchaus auch in einer Weise verstehen, die mit der Marktwirtschaft völlig kompatibel, ja für sie konstitutiv ist. Es wird häufig und zu Recht auf die Problematik von Fällen hingewiesen, in denen Menschen nicht in der Lage sind, sich am marktwirtschaftlichen Leistungstausch in einer Weise zu beteiligen, die ihnen einen ausreichenden Lebensunterhalt sichert, sei es aufgrund von Krankheit, Behinderungen, mangelnder Begabung oder was auch immer die Ursache sein mag. Als, in Hayeks Worten, „Tauschspiel" ermöglicht der Markt in der Tat den Beteiligten die Erzielung von Einkommen nur in dem Maße, in dem sie Leistungen anbieten, für die andere zu zahlen bereit sind. Wer nichts anbieten kann, was andere kaufen wollen, erzielt kein Einkommen, und wer mit seinem Leistungsangebot nur auf eine geringe Zahlungswilligkeit stößt, erzielt nur ein entsprechend geringes Einkommen. Angesichts dieser Tatsache kann es für die Bürger eines politischen Gemeinwesens durchaus gute Gründe geben, miteinander einen Pakt zu schließen, in dem sie sich wechselseitig Hilfe für den Fall zusichern, dass sie in die oben angesprochene Lage geraten. Soziale Sicherheit im Sinne der Einrichtung eines Solidarfonds, aus dem im Bedarfsfalle allen Bürgern ein bestimmtes Grundeinkommen gesichert wird, ist mit einer Marktwirtschaft ganz und gar vereinbar. Eine Marktwirtschaft ist aber nicht vereinbar mit einem Verständnis von sozialer Sicherheit, das darauf hinausläuft, dem einzelnen einen einmal erreichten Lebensstandard oder den Arbeitsplatz, den er einmal eingenommen hat, auch für die Zukunft zu garantieren. Diese Art der sozialen Sicherung ist mit einer privilegienfreien Wettbewerbsordnung, also einer Ordnung unter Rechtsgleichen, grundsätzlich nicht vereinbar. Gewährt man sie allen, hebt man das Wettbewerbsspiel völlig auf - ohne freilich das intendierte Ziel erreichen zu können. Gewährt man sie ausgewählten Gruppen, bedeutet dies, dass man ihnen ein Privileg zu Lasten anderer einräumt.

Viktor J. Vanberg: Das Dilemma der Sozialen Marktwirtschaft 141

Was die Frage der .sozialen Gerechtigkeit' anbelangt, so erfordert eine funktionsfähige Marktwirtschaft Gerechtigkeit in dem Sinne, dass das Wettbewerbsspiel unter für alle gleichen und fairen Regeln gespielt wird und sich auch alle an die Regeln halten. .Soziale Gerechtigkeit' in der Marktwirtschaft ist insofern Pra^jjgerechtigkeit. Sie steht im Kontrast zu Vorstellungen von .sozialer Gerechtigkeit' als Etgebnisgerechtigkeit, die die im Markt erzielten Einkommen an vordefinierten Kriterien dafür messen, was den Beteiligten aufgrund ihrer — wie auch immer definierten — Verdienste zusteht oder gebührt. Solchen direkt auf die Marktergebnisse bezogenen Vorstellungen von Gerechtigkeit kann die Marktwirtschaft als ergebnisoffenes .Wettbewerbsspiel' in der Tat nicht entsprechen. Marktpreise stellen zwar die .Belohnungen' dar, die die Marktteilnehmer für erbrachte Leistungen erhalten. Die Funktion, die sie in der Marktwirtschaft erfüllen, liegt jedoch nicht darin, eine ,angemessene' Belohnung vergangener Anstrengungen sicherzustellen. Marktpreise fungieren vielmehr als Signale, die den Menschen anzeigen, in welche Richtung sie ihre zukünftigen Anstrengungen lenken sollen. Dass sie auf diese Weise die Menschen dazu anhalten, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten den sich ständig ändernden Bedingungen anzupassen, ist die wesentliche Quelle der Produktivität der Marktwirtschaft. Wenn der Staat ausgewählten Gruppen die Lasten solcher Anpassung durch Subventionen oder Protektionismus zu ersparen sucht, so bedeutet dies nichts anderes, als dass er solchen Gruppen ein Privileg auf Kosten anderer, seien es Steuerzahler oder Konsumenten, einräumt. Ein an Ergebniskriterien orientiertes Gerechtigkeitsempfinden, das solche Praxis im Namen der .sozialen Gerechtigkeit' gut heißt, muss in Konflikt geraten mit dem prozessorientierten Gerechtigkeitsprinzip der Privilegienfreiheit, das für die Marktwirtschaft konstitutiv ist. Wir haben es hier, so meine These, mit einem strukturellen Problem — oder einem Dilemma — der Sozialen Marktwirtschaft zu tun. Unter Berufung auf ihre soziale Komponente werden Erwartungen bezüglich sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit an sie herangetragen, die mit marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien unvereinbar sind. In dem Maße, in dem die Politik solchen Erwartungen nachzukommen sucht — oder sie aufgrund ideologischer Präferenzen für eine andere Ordnung sogar fördert - , in dem Maße trägt sie dazu bei, die Funktionsprinzipien einer Marktwirtschaft zu beeinträchtigen und zunehmend außer Kraft zu setzen. Der Vater des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, ging seinerzeit von der Diagnose aus, dass es der Marktwirtschaft trotz ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wegen der ihr innewohnenden Wettbewerbsrisiken an gesellschaftlicher Akzeptanz mangeln würde. Um politisch stabil zu sein, so folgerte er, müsse sie durch eine Sozialpolitik begleitet werden, die dem Bedürfnis der Menschen nach sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit Rechnung entgegen kommt. Auf eben diesen Gedanken baute das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft auf. Nach

142 Die marktwirtschaftliche Ordnung

einem halben Jahrhundert Gesetzgebung und Rechtsprechung, die unter dem Anspruch standen, das deutsche Modell einer mit sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit verbundenen Marktwirtschaft zu gestalten, muss man wohl die ernüchternde Bilanz ziehen, dass die solchermaßen umgestaltete Marktwirtschaft nicht nur an Dynamik sondern — bedenkt man die Intention der .Umgestaltung' — paradoxerweise auch an Akzeptanz verloren hat. Eine Kehrtwende, wie sie das Lambsdorff-Papier seinerzeit anmahnte, ist überfällig. Weiterhin wie bisher den Versuch zu unternehmen, die Marktwirtschaft dadurch politisch akzeptabel zu machen, dass man den Wettbewerb zugunsten verbreiteter Vorstellungen von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit beschränkt oder ausschaltet, kann nur zu weiterer Erosion der Kräfte führen, denen die Marktwirtschaft ihr Wohlstand schaffendes Potential verdankt, ohne dass das, was als Ergebnis herauskommt, den Menschen größere soziale Sicherheit oder soziale Gerechtigkeit bringen wird. Soll die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft um ihrer allgemein geschätzten Leistungsfähigkeit willen gesichert werden, so wird man den mühevollen Weg beschreiten müssen, die gesellschaftliche Akzeptanz der Marktwirtschaft durch Aufklärung zu fördern, durch Aufklärung darüber, welche Erwartungen an soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit in einer Marktwirtschaft erfüllt werden können und welche nicht. Dies bedeutet nicht, dass es nicht Spielraum in der Gestaltung der Rahmenbedingungen einer Marktwirtschaft gibt, oder dass die Menschen ihr Zusammenleben nicht nach anderen Ordnungsprinzipien gestalten können sollten, wo dies ihren Lebenswünschen zuträglicher ist. Es bedeutet aber, dass man der Illusion entgegentreten muss, man könne die Früchte der Produktivität der Marktwirtschaft genießen, ohne sich den Anforderungen des Wettbewerbs auszusetzen.

Michael Walker: Germany and Economic Freedom

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Germany and Economic Freedom Michael Walker* Introduction It is a great honor and pleasure to have the opportunity to write a paper to mark the 80th birthday of Otto Graf Lambsdorff. As a member of the Bundestag, as a Minister of Government and as the Chairman of the Friedrich Naumann Foundation, Count Lambsdorff has been a courageous defender of economic freedom and through the Foundation a welcomed partner in the Fraser Institute's Economic Freedom of the World Network. Under the leadership of Count Lambsdorff, the Friedrich Naumann Foundation has been the most effective partner of the Fraser Institute in promoting economic freedom around the world. The Count's career in public life encompasses one of the most interesting epochs in human history from the point of view of what economic lecturers referred to as comparative economic systems. Most of the industrialized countries of the world entered the post second world war era bent on reducing the size of government back to the modest levels it had enjoyed prior to the Great Depression and the war. The prevailing ideology had not yet reflected the influence of the Keynesian Revolution and there was still considerable confidence in the invisible hand of the market. But as Keynes himself had predicted when the older economists and politicians trained in the classical economic tradition passed on they were replaced by Keynesian disciples inclined towards solving the world's economic problems using the very visible hand of government. And so the second half of the 20th century was predominantly characterized by an increased influence of the public sector and a declining influence of the private sector. Not only did governments increase the extent to which they owned the means of production they also sought to regulate and direct an increasing amount of the activity which was still being accomplished in the private sector. By the 1980s, this generalized move to the left of the political spectrum in the practical politics of much of the industrialized world had ground to a halt. The failure of government institutions to perform effectively was increasingly evident in the countries of the West and profoundly obvious in the Communist countries of Europe, Asia and the Indian subcontinent. Evidence of this failure changed the receptivity of

* Dr. Michael Walker ist Präsident und Senior Fellow der Fraser Institute Foundation, in Vancouver, Kanada.

144 Germany and Economic Freedom

voters to promises of expanded government and in consequence political leaders began to wind back expansion of the public sector. In this brief paper I want to examine the path which Germany took in that part of the postwar period for which we have accurate information enabling us to assess the comparative performance of countries with regard to the role of government. During the last 25 years of the millennium Lambsdorff was the economic spokesman for the Free Democratic Party and for the period from 1977 to 1984 was the economics minister of the German government. As we reflect upon his career it is useful to see what effect his views may have had on the course of German economic policy. Count Lambsdorff has never described himself as an ideologue. Perhaps reflecting his legal training he has ever been a man susceptible to changing his mind in the face of new evidence. Not knowing that I once asked him about his ideology and he replied that he did not have an overarching belief system about economic matters with the single exception that he firmly believed in the power and the necessity of free trade. Germany's Economic Freedom Performance Germany was the home of the original economic miracle. In 1948 the then Economic administrator of the Bizone, Ludwig Erhard, in a bold and courageous move for which he had not gotten prior permission, abolished the system of price controls and other regulations with which the post war German economy was encrusted. The resulting economic freedom ignited the remarkable explosion in growth and affluence which for decades was the economic wonder of the world. By the time our measure, The Economic Freedom of the World Index (www.Freetheworld.com), can record the progress of nations with respect to economic freedom in 1970, Germany was the 6th most free nation on earth and had risen from a bombed out husk to one of the twenty richest countries in the world. As Chart 1 records, Germany maintained its rank amongst the top ten most free countries until 1995 after which point its ranking began to decline. In part this was because of the aggressive pursuit of freedom enhancing policies in countries like the United Kingdom, New Zealand, Iceland and Ireland. But the decline also reflected changes in the policy attitude of Germany away from the spirit of Chancellor Erhard. The Economic Freedom of the World Index which decomposes a country's policy stance into 38 different policy indicators provides an interesting perspective on this change in German policy.

Michael Walker: G e r m a n y and E c o n o m i c F r e e d o m

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Chart 1: Germany and the top ten - 4 - Canada - • - H o n g Kong -ic~ Iceland Ireland Luxembourg New Zealand —•—Singapore -•-Switzerland United Kingdom - • - United States - • - Average of Top 10 -àr- Germany

Source: The Fraser Institute The following five sections discuss Germany's comparative performance relative to the top 10 countries in the world in five categories of public policy: the size of government; property rights and the rule of law; sound money; freedom to trade with foreigners and the regulation of business credit markets and labor markets. Controlling the si%e of Government Chart 2 depicts the comparative size-of-government ranking of the countries which in the latest measurement are in the top 10 in overall economic freedom. The general pattern in the chart is for the countries to experience in increase in their ranking over the period of measurement. This increasing ranking reflects the pursuit by these countries of policies reducing the role of government in the economy by controlling public expenditures, reducing public ownership of the means of production and reducing the level of taxation.

146 Germany and Economic Freedom

Chart: 2 Controlling the size of Government — —Canada — • — H o n g Kong —*—Iceland — * — Ireland — • — Luxembourg — • — N e w Zealand —I—Singapore Switzerland



United Kingdom •

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Germany

It is striking that both Germany and Luxembourg have had dramatic declines in their ranking in this aspect of policy. In Germany's case it is clear that the public sector has ever been a problem area for policymakers. Starting from a rank of 60th in 1970 Germany declined to a rank of 86th before enjoying a resurgence in the most recent measurement interval. The nature of Germany's long-standing problem in controlling the size of the public sector is more evident in Chart 2A. There we see Germany's policy toward the public sector in stark comparison to the trend over the period in the average policy of those countries which are currendy the ten most free overall. While the current top performers have gradually and collectively improved their control over spending, enjoyed success in the privatization of public sector assets and reduce their taxes, Germany shows very litde capacity for accomplishing any of those tasks.

Michael Walker: Germany and Economic Freedom 147

Chart: 2A Controlling the size of Government « c R a a

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Source: The Fraser Institute

In reflecting on Germany's historic poor performance in the control of the public sector it would not be surprising to find Germany having difficulty maintaining its position amongst the most economically free countries. In fact it is more sensible to remark on how Germany has been able to perform as well as it has in the overall economic freedom scoring given its poor performance in this crucial area of public sector control. Part of the explanation for Germany's continuing top quintile performer status is to be found in its rather better performance in the area of the Legal System and Property Rights. A Reliable Ijegal System and Property Rights Chart 3 displays the historic rankings of the current top 10 and Germany with regard to the legal system and property rights.

148 Germany and Economic Freedom

Chart 3:Legal System and Property Rights —Canada -O—Hong Kong •A— Iceland -X— Ireland •¡8 - Luxembourg • — N e w Zealand H—Singapore Switzerland United Kingdom - 0 — United States -O— Average of Top 10

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-A— Germany

Source: The Fraser Institute

Chart 3A:Legal System and Property

^ ^ f f f f f f f f ^ Source: The Fraser Institute

As can be seen from this chart and more clearly seen in Chart 3A, Germany has clearly improved its performance in regard to the legal system and the maintenance of property rights.

Michael Walker: Germany and Economic Freedom 149

In fact over the past 35 years Germany has consistently outperformed the average of the top 10 countries. And like the top performers, Germany has consistendy improved its comparative performance in the area of the legal system and property rights. Sound Money

Regrettably Germany's performance in the legal system area has not been replicated in the realm of monetary policy. The Deutsche Mark was created in 1948. Erhard correcdy saw the deregulation program and the creation of a new reliable currency as being inextricably linked. The stability of the new currency would not be achieved by attempts to control wages and prices but rather by the pursuit of a sound monetary policy. In fact, the pursuit of sound money by successive governors of the Deutsche Bundesbank is one of the most well-known features of European economic development in the postwar period. Until the mid-1980s Germany could boast that it had the best monetary policy in the world. By 1990 Germany had fallen out of the top 10 group and following the establishment of the Euro and the abolition of the Deutschemark in 2002 was decidedly declining in the area of monetary control.

Chart 4 Sound Money and the Top 10 o w c (0 tr a>



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Source: The Fraser Institute

Chart 6A: Freedom to Trade Internationally and the Top 10

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Source: The Fraser Institute Conclusion and Prologue The foregoing brief analysis of Germany's economic freedom performance leads to a very mixed conclusion and could provoke a feeling of deep despair. However it is in the nature of these sorts of measurements that the criticism of current policy which they provide on the one hand creates a program for future improvement on the other. The recognition that there is a problem is the prologue to its solution and

Michael Walker: Germany and Economic Freedom 155

economic freedom of the world rankings provide the roadmap for every country that wishes to do better. There is another conclusion which is suggested by this analysis which cannot be scientific in nature but is I think interesting to conjecture. That is the role that individuals play in influencing the course which countries take in which often can only be observed historically. It has been noticed by many observers that the ideas which are adopted as practical policy by governments usually have a champion. To be successful the champion must be well-informed must be persuasive and must have deep credibility with the citizens and the members of the Legislature. Certainly Count Lambsdorff has all of the characteristics of such a champion. And as the economic spokesman for the FDP for quarter of a century he certainly had the opportunity to advance policy prescriptions and to attempt to persuade his colleagues in the Bundestag to support them. And finally he had the essential ingredient for a policy champion — he has always firmly believed in the importance and benefits of free trade. Perhaps it is mere coincidence that during the Count's public life the only economic policy area where Germany has consistently outperformed virtually every other country in the world is in the area of free trade. Perhaps. But I must say that I am not a great believer in coincidences.

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Der Staat

158 Der Staat

Was wir vom Wiederaufbau der Frauenkirche lernen können Hans-Olaf Henkel* Als im Oktober 2005 die wieder aufgebaute Frauenkirche feierlich eingeweiht wurde, wussten nur Wenige, dass dieser Wiederaufbau ein Verdienst ganz weniger Personen war. Zu diesen ganz Wenigen gehören vor allem zwei Persönlichkeiten: Professor Ludwig Güttier und Eberhard Burger. Die Widerstände, die diese beiden und einige andere überwinden mussten, sind Legende und sollen hier nicht wiederholt werden. Ich für meinen Teil habe aber immer wieder aus der Tatsache Kraft gezogen, dass es diesen Personen gelungen ist, ihren Traum gegen so viele Widerstände zu verwirklichen. Auch ich habe einen Traum: den einer wettbewerbsfähigen deutschen Gesellschaft. Leider ist den meisten Deutschen immer noch nicht klar, dass die Zukunft unseres Landes gerade von seiner Wettbewerbsfähigkeit abhängt. Die Globalisierung bringt nicht nur Unternehmen, sondern auch Nationen in Wettbewerb miteinander. Die Regeln dieses Wettbewerbs zwischen Gesellschaften sind die gleichen wie die des Wettbewerbs im Sport, in der Kultur oder zwischen Unternehmen: Selbst wer sich bewegt, kann zurückfallen, wenn andere schneller sind. Wir bewegen uns, andere sind schneller, wir fallen immer weiter zurück. Die für den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden Verantwortlichen haben nach drei Rezepten gehandelt — nicht unbedingt bewusst, aber faktisch: 1. Um Platz für den Wiederaufbau zu schaffen, mussten sie erst die Trümmer wegräumen lassen. 2. Sie haben die Steine verwendet, die noch brauchbar waren, und damit das Bewahrenswerte aufgehoben und wieder verwendet. 3. Sie hatten eine Vision: die Silhouette der Stadt Dresden so wiederherzustellen, wie Canaletto sie gesehen und gemalt hatte. Auch unsere Gesellschaft sollte so wie diejenigen vorgehen, die die Dresdner Frauenkirche wiederaufgebaut haben: in drei Stufen.

* Dr. h. c. Hans-Olaf Henkel war in den Jahren 1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Von 2001 bis 2005 war er Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. Seit November 2000 lehrt er als Honorarprofessor am Lehrstuhl für Internationales Management der Universität Mannheim.

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Die Trümmer wegräumen So wie zuerst die Trümmer der Frauenkirche entfernt werden mussten, um Platz für den Wiederaufbau zu schaffen, müssen wir in unserer Gesellschaft auch erst einmal einige Trümmer beiseite räumen. An erster Stelle steht für mich hier die Uberbetonung der Gleichheit zu Lasten von Individualität und Freiheit. Mir ist nach 17 Jahren beruflichen Auslandsaufenthaltes und vielen Reisen immer klarer geworden, dass unsere Gesellschaft besonders stark darunter leidet, dass in ihr das Gebäude der Gleichheit übermächtig, gleichzeitig das Fundament der Freiheit immer brüchiger geworden ist. Die Gefahr besteht, das alles einstürzt, Freiheit und Gleichheit mit sich reißend. Dass die Freiheit bei uns immer mehr unter die Räder gerät, lässt sich an vielen Symptomen festmachen. Wir leiden an einer überbordenden Bürokratie, die auch immer ein Entzug von Freiheit ist. Wir leiden an einem übermächtigen Staat, der mit seinen hohen Kosten Existenzen gefährdet und Arbeitsplätze ins Ausland treibt. Wir leiden an einem Übermaß an Fürsorge, die die Leistungskraft des Einzelnen langsam verkümmern lässt und dadurch immer wieder neue Ansprüche an staatliche Fürsorge schafft. Wir leiden an einer unsäglichen Gleichmacherei, die dazu führt, dass bei uns meist der Langsamste das Tempo der gesamten Gesellschaft bestimmt. Nicht umsonst hat man schon vor der Bildung der Großen Koalition mit Fug und Recht von der Sozialdemokratisierung ganz Deutschlands gesprochen. Und kaum hatte Angela Merkel die Parole „mehr Freiheit wagen" ausgegeben, da kassierten sowohl ihre eigenen Sozialpolitiker als auch die Sozialdemokraten alle Versuche in Richtung von mehr Freiheit wieder ein. Stattdessen hat sich ein Schlagwort durchgesetzt, das in keiner Politikerrede fehlen darf: „Soziale Gerechtigkeit". Ich gestehe, mir ist dieses Begriffspaar zutiefst zuwider. Schon weil die Verknüpfung von „sozial" mit „Gerechtigkeit" überflüssig erscheint: Ist denn nicht Gerechtigkeit von vornherein nur in einem sozialen Kontext möglich? Gerechtigkeit ist unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren einer jeden Gesellschaft. Die Parole der „sozialen Gerechtigkeit" unterstellt entweder, dass Gerechtigkeit als Ziel allein nicht ausreiche, oder dass es sie nicht gibt. In der Folge wird die Freiheit weiter ausgehöhlt und am Ende die Gleichheit mit. Nicht umsonst sagte Ludwig Erhard einmal: „Zu sozial ist unsozial". Das Bewahrenswerte erhalten Von Anfang an hatten die Verantwortlichen für den Wiederaufbau der Frauenkirche die Idee, möglichst viele der Steine zu verwenden, die im Trümmerberg und anderswo seit Jahrzehnten lagerten. Gerade das macht aus der Frauenkirche ein bauhistorisch besonders interessantes Experiment. Es entstand eine ausgesprochen gelungene Kombination zwischen altem, bewährtem, und neuem Material.

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Auch beim Wiederaufbau unserer Gesellschaft sollten wir so vorgehen. Es ist ja nicht so, dass Deutschland alle seine Tugenden über Bord geworfen und dass wir nichts mehr zu bieten hätten, was nicht auch im Zeitalter der Globalisierung einzusetzen wäre. Beispielhaft dafür ist unser „Made in Germany". Bildlich gesprochen, ist „Made in Germany" zwar ein alter schwarzer Stein, aber ein eminent wichtiger für das ganze Gebäude unserer Gesellschaft. Die immer noch bestehende Exportweltmeisterschaft bei den Handelswaren ist vor allem dem guten Ruf geschuldet, den deutsche Produkte durch ihre Qualität in vielen Jahrzehnten begründet haben. Berücksichtigt man allerdings auch Produkte wie Software, Copyrights, Patente, Lizenzen, industrielle Lizenzen etc. — also Dinge, die man nicht anfassen kann —, dann fallen wir deutlich auf den zweiten Platz hinter den USA zurück. Gerade bei diesen Produkten, die man nicht anfassen kann, ist das Wachstum besonders stark. Meist ist damit auch mehr Geld zu verdienen. Betrachtet man Deutschlands Volkswirtschaft einmal als ein einziges Unternehmen, müssen wir selbstkritisch feststellen, dass wir unser Geld mit reifen, ja, teilweise auslaufenden Produkten verdienen. Um „Made in Germany" zu bewahren, müssen wir in der ganzen deutschen Gesellschaft das Bewusstsein für Qualität wieder schärfen. Dazu gehört auch, dass die Bedeutung so genannter Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit wieder erkannt wird. Das beginnt mit einer Verbesserung unseres Schulsystems, umfasst die Notwendigkeit, auch in Deutschland Elite-Universitäten zu schaffen, die sich im internationalen Vergleich messen und halten können, und geht bis hin zu den deutschen Vorstandsetagen, in denen nach meiner Beobachtung die Behandlung des Themas „Qualität" zu oft nach unten delegiert wird. Meine Oma sagte immer: „Eine Treppe kehrt man von oben!". Beim Wiederaufbau unserer Gesellschaft müssen wir, genau wie die Baumeister der Frauenkirche, auch auf Bewährtes setzen. Eine Vision verfolgen Mir ist klar, dass viele Menschen mit dem Begriff „Vision" nichts anfangen können. Auch in der Wirtschaft gibt es große Skepsis gegenüber Visionen. Wenn man sich an einige dramatische Bauchlandungen visionärer Vorstände erinnert, ist das verständlich. Trotzdem braucht eine Gesellschaft eine Vision. Burger, Gütder und ihre Mitstreiter hatten eine: die Vision, die Dresdner Stadtsilhouette wieder zu vervollkommnen. Es war diese Vision, die viele Menschen und Organisationen dazu beflügelte, sich am

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Projekt des Wiederaufbaus der Frauenkirche zu beteiligen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ohne die visionäre Vorstellung einer wieder aufgebauten Frauenkirche das Projekt nicht einmal hätte gestartet werden können. Aber welche Vision braucht Deutschland? Meine ist die einer „wettbewerbsfähigen Gesellschaft". Ich bin fest davon überzeugt, dass die Deutschen mit dieser Vision auch etwas anfangen können, obwohl sie schon seit Jahrzehnten in vielen Bereichen an Wettbewerb nicht mehr gewöhnt sind. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn eine Bevölkerung, die sich jeden Samstagabend vor der Sportschau für ihre Bundesliga-Mannschaft begeistert oder den deutschen Olympioniken die Daumen drückt, nicht imstande wäre, auch in anderen Bereichen den Wettbewerb als Anreizsystem für mehr Leistung zu akzeptieren. Die von der Großen Koalition beschlossene Reform des deutschen föderalen Systems ist ein erster richtiger Schritt - und ein besonders wichtiger dazu. Die Diskussion um das Für und Wider ist dabei aber auch typisch für den erwähnten Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit. Überspitzt formuliert, wollen die Gegner der Reform, dass in allen Schulen das Gleiche gelehrt und wohl auch geleistet wird; die Befürworter dagegen wollen durch den Wettbewerb ein insgesamt leistungsfähigeres Niveau erreichen. Die Neuordnung unseres föderalen Systems ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Wiederherstellung des Wettbewerbs in unserem Land und damit die Wiederherstellung unserer Wettbewerbsfähigkeit. Dazu gehört nicht nur die Neuordnung von Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern, wie bei der Föderalismusreform beschlossen, dazu gehört auch als nächster Schritt eine Reform unserer Finanzverfassung. Ein Grund für die Uberschuldung von Bund, Ländern und Kommunen ist die wild durcheinander geratene Verantwortung für die jeweiligen Finanzierungsaufgaben. Man kann eher von organisierter Verantwortungslosigkeit sprechen, wenn jeder jedem in die Tasche greifen kann, niemand aber für die weiter steigenden Schuldenberge verantwortlich zu machen ist. Im Länderfinanzausgleich sind inzwischen elf von sechzehn Bundesländern zu Nehmerländern geworden, zwölf der sechzehn Bundesländer haben verfassungswidrige Haushalte. Schon lange hat kein Bundesland (mit Ausnahme Bayerns im Jahr 2006) mehr einen ausgeglichenen Haushalt zustande gebracht. Nach dem Saarland und Bremen wollte sich nun auch Berlin vor dem Bundesverfassungsgericht zusätzliche Finanzhilfen erstreiten. Spätestens wenn sich die Einsicht durchsetzt, dass auch das Bundesverfassungsgericht kein Geld hat, wird man um eine Neuordnung der Finanz Verfassung nicht herumkommen. Diese Einsicht sollten wir uns heute schon zumuten. Das deutsche politische Entscheidungssystem, 1948/49 im Schnellgang unter alliierter Oberaufsicht zustande gekommen, war darauf angelegt, zu verhindern, dass sich

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unser Land noch einmal so schnell wie zwischen 1933 und 1945 bewegen konnte. Es sorgte für Langsamkeit und gab uns damit paradoxerweise einen großen Standortvorteil: Stabilität. Wir hatten die geringste Arbeitslosigkeit, im August 1963 waren weniger Menschen arbeitslos als die Nürnberger Arbeitsbehörde heute zur Verwaltung der Arbeitslosen beschäftigt. Die Deutsche Mark war die stabilste Währung in Europa. Gestreikt wurde selten. Der erste deutsche Finanzminister erwirtschaftete im immer noch zerstörten Westdeutschland Haushaltsüberschüsse, die er in seinem imaginären „Juliusturm" versteckte. Heute werden Jahr für Jahr neue Rekorde in der Gesamtverschuldung aufgestellt. Deutschland hat seine Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, nicht etwa weil es sich geändert hat, sondern weil es sich nicht geändert hat. Durch permanenten technologischen Wandel und zunehmende Globalisierung hat sich aber um uns herum alles verändert. So wurde aus dem klassischen deutschen Standortvorteil „Stabilität" der inzwischen auch schon wieder klassische deutsche Standortnachteil „Unbeweglichkeit". Weil nicht wir, sondern alle und alles um uns herum sich geändert haben, haben wir den Verlust unserer Wettbewerbsfähigkeit kaum bemerkt. Das Fazit aus all dem ist, dass wir nicht einfach Schwierigkeiten mit der einen oder anderen Reform haben — unser eigentliches Problem liegt in der mangelhaften Reformfähigkeit selbst. Um die Reformfähigkeit Deutschlands wiederherzustellen, haben sich im Jahre 2003 dreizehn Deutsche zu einem „Konvent für Deutschland" zusammengetan. Diese Gruppe, angeführt von Roman Herzog und seinem Stellvertreter Klaus von Dohnanyi, will den Politikern Vorschläge zur „Mutter aller Reformen" - der Reform der Reformfähigkeit — machen. Die von der Großen Koalition beschlossene Föderalismusreform wäre nach meiner Uberzeugung ohne die Vorarbeit einiger am Konvent beteiligter Personen nicht zustande gekommen. Über die Ziele, Strategien und Mitglieder des Konvents kann man sich unter www.konvent-fuer-deutschland.de im Internet informieren. Was viele nicht verstehen: Der Wettbewerb zwischen kleinen Einheiten führt immer zu einem stärkeren Ganzen, das gilt in der Wirtschaft; das gilt im Sport, in der Kultur, und selbstverständlich gilt das auch in der Bildung. Wenn Deutschland weiterhin mit dem Tempo des Langsamsten marschieren will, um sicherzustellen, dass alle mitkommen, wird es seinen Wohlstand noch ganz aufs Spiel setzen. Wie man wettbewerbsfähig wird? Ganz einfach: durch Wettbewerb. Es gilt, in Deutschland den Wettbewerb wieder zu organisieren und dadurch insgesamt wieder leistungsfähiger zu werden. Das ist eine Vision, die für den Wiederaufbau unseres Landes ebenso zielführend ist wie die Vision der Wiederherstellung der Dresdner Stadtsilhouette nach dem von Canaletto gemalten Bild.

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Was Visionen vermögen, zeigt eine kleine Geschichte, die sich vor einigen Jahrhunderten mitten in Dresden zugetragen haben könnte. Damals sah ein Fremder drei Steinmetze bei ihrer Arbeit. Ihm fiel auf, dass der erste offensichtlich verdrießlich und missgelaunt bei der Arbeit war, der zweite relativ emotionslos auf den gerade bearbeiteten Stein hämmerte. Der dritte war offenbar mit großer Begeisterung dabei, einem Stein eine schöne neue Form zu geben. Der Fremde fragte den ersten: „Sag, was machst du da?" Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Herr, Sie sehen das doch. Ich haue auf einen Stein." Dann fragte er den zweiten, der offensichtlich ohne Widerwillen, aber auch ohne Freude seine Arbeit machte, „Und du?" — „Ich verdiene hier mein Brot." Dann fragte er den dritten, der mit Begeisterung bei der Sache war und offensichtlich auch bessere Arbeit ablieferte: „Und was machst du?" Dieser antwortete ihm lächelnd: „Ich arbeite an der Frauenkirche." Wir sollten uns alle für eine wettbewerbsfähige deutsche Gesellschaft engagieren.

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Individuelle Freiheit und staatliche Kultur des Maßes Paul Kirchhof* I. Freiheitsvertrauen und Optimierungsstrategien Otto Graf Lambsdorff steht für eine freiheitliche Politik. Er stützt sein Handeln auf politische Erfahrung mit den Gestaltungsmöglichkeiten in einer Demokratie, den Beharrungskräften in Verbänden und Parteien, auch der Begegnung mit Unrecht. Er ist geprägt durch politische Ämter und Aufgaben, insbesondere der des Bundeswirtschaftsministers, setzt sich nachdenklich und belesen mit Grundsatzfragen der Freiheit und insbesondere des Wirtschaftsliberalismus auseinander, kämpft aus einer durch die Menschenrechte geprägten Grundüberzeugung in der Politik des Alltags wie der langfristigen Struktur des Staates für die Freiheit, insbesondere für die Berufs- und Eigentümerfreiheit, die die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit strukturell in privater Hand belassen, also den Staat und seine Aufgabenkst zurückdrängen. Daraus folgt nicht der schwache Staat, sondern im Gegenteil der in seiner Schlankheit starke Staat, der die Rahmenordnung für Frieden und Freiheit sichert, in Bildung und Ausbildung Freiheitskraft und Menschlichkeit vermittelt, im Kampf gegen Protektionismus und Kartell Wohlstand und Freiheit für alle sichert. Diese Freiheit ist verfassungsrechtlich garantiert, aber deshalb nicht schon alltägliche Realität. Sie wird gegenwärtig vor allem bedroht durch eine Überforderung des Staates. Freiheit baut auf den Menschen, der seines Glückes1 Schmied ist, die Maßstäbe und Handlungsmaximen seines Lebens selbst definiert. Heute aber wachsen die Erwartungen an den Staat ins schier Unermessliche. Der Staat scheint der Vordenker für die Gestaltung des individuellen Lebens, ein unerschöpflicher Quell staatlicher Finanzleistungen, der Löser fast aller Probleme. Der Staat soll gegenwärtig die Lohnnebenkosten senken, aber die soziale Sicherung erhalten und verbessern. Er soll die Steuern vermindern, aber die Leistung für Bildung und Forschung steigern. Er soll den Terrorismus bekämpfen, aber eine staatliche Beobachtung der Privatsphäre strikt unterlassen. Er soll die Staatsverschuldung verringern, aber die Zuwendungen an die Familie vermehren. Alle diese Forderungen sind für sich genommen verständlich, schließen sich aber als gegenläufige Zielsetzungen aus.

* Professor Dr. Dr. h. c. Paul Kirchhof ist Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg, von 1987 bis 1999 war er Richter am Bundesverfassungsgericht. 1 Zur Tradition dieses Rechts und Staatsziels, Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., 1980; Hans Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 28 Rn. 10.

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Diese Erwartungen treffen auf einen Staat, der sich in Optimierungsstrategien der Aufgabe verschrieben hat, das Beste zu leisten, damit aber die Kultur des Maßes verfehlt. Das Bemühen um das Beste gehört in den Bereich der privaten Freiheit, des Wollens, Hoffens und Empfehlens, nicht in die staatliche Sphäre, in der das Recht verbindlich den Rahmen individueller Freiheit beschreibt. Wer einem anderen das Beste wünscht, ist ein guter Mensch. Wer das Beste befiehlt, ist ein Tyrann. Wenn ich meinem Freund beim Aufbruch in den Urlaub wünsche, er möge viele Gipfel ersteigen, wecke ich die Vorstellung von sonnigen, sportlichen Ferien. Befiehlt der Staat hingegen, der Bürger müsse täglich einen Berg erklimmen, riecht dieser Befehl nach Trimmanstalt. Das klassische Menschenrecht auf Glück meint das Recht jedes einzelnen, sein Glück zu suchen, ermächtigt nicht den Staat, den Bürgern ihr Glück vorzuschreiben. Freiheit herrscht nur dort, wo jeder sein Leben nach eigenem Gutdünken plant und führt, er selbst das für ihn Beste bestimmen darf. Deswegen treffen alle rechtlichen Superlativtatbestände auf grundsätzliche Bedenken: Wenn der Richter den „schonendsten" Ausgleich2 unter Grundrechtspositionen sucht, der Chirurg nach „neuestem" Stand von Wissenschaft und Technik operieren soll3, wenn der Kraftfahrer mit „größtmöglicher" Sorgfalt4 sein Auto zu lenken hat, der Steuerpflichtige seine Erklärung „nach bestem Wissen und Gewissen" abgeben muss5, das Europarecht eine „immer engere" Union6 der Völker vorschreibt, stellt das Recht zwar etwas Erhofftes in Aussicht, regelt im Ergebnis jedoch Pflichten ohne Haltepunkt, die letztlich unerfüllbar sind. Der Rechtsstaat verliert die Kultur des Maßes, fordert Unmögliches, widerlegt sich selbst. Selbstverständlich erwartet gerade der Verfassungsstaat von Parlament, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung Leistungen, weist den Beamten zurück, dessen Amtsführung in verlässlicher Durchschnittlichkeit erblüht, erklärt aber nicht das Alltägliche und Menschliche im Amt für rechtswidrig. Der Verfassungsstaat führt mit seinem Recht nicht ins Paradies, sondern bietet eine Ordnung nach der Vertreibung aus dem Paradies. Wenn er die Ideale von Menschenrechten, Herrschaft des Rechts, Legitimation durch Demokratie, Verbindlichkeit des sozialen Staatsziels verkündet, aber gleichzeitig im Bewusstsein, dass diese Ideale nicht ständig verwirklicht werden, eine Gewaltenteilung zur Hemmung und Kontrolle staatlicher Mächtigkeit, eine Gerichtsbarkeit zur Korrektur staatlicher Fehler, eine Staatshaftung als 2 Das „Prinzip des schonendsten Ausgleichs" formuliert das Bundesverfassungsgericht etwa in: BVerfGE 39,1 (43) - Schwangerschaftsabbruch I - ; 41, 88 (109) - Gemeinschaftsschule 3 Vgl. BGHZ 1 0 2 , 1 7 (24); NJW 1992, S. 754. 4 Zum „Sorgfaltsmaßstab im Straßenverkehrsrecht" vgl. Peter Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., 2005, § 47 Rn. 34. 5 Vgl. § 150 Abs. 2 Satz 1 Abgabenordnung. 6

Die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" sieht Art 1 Abs. 2 EUV vor.

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Einstehenmüssen für staatliches Unrecht vorsieht, so verfolgt die Verfassung stets hohe Ziele, handelt aber in ihren Maßstäben vom fehlerhaften Menschen. Das ist kein Widerspruch, sondern Klugheit. II. Der freiheitliche Auftrag des Gesetzgebers Diese bei flüchtigem Blick so sympathisch klingende Optimierungsstrategie fuhrt den Staat im Ergebnis in ein Misstrauen gegenüber der Freiheitskraft und Urteilsfähigkeit des Menschen. Im Streben nach dem staatlich definierten Besten schwindet das Vertrauen in die individuelle Freiheit, damit aber auch die alltägliche Bereitschaft des Staates, auf die individuelle Freiheit zu bauen. Der Staat setzt sich weniger zum Ziel, vernünftige Rahmenbedingungen für den freien Menschen zu schaffen, und trachtet mehr danach, den irrenden Menschen rechtlich zu binden, ihn zu umsorgen und zu pflegen, gelegentlich ihn in Fürsorge fast zu erdrücken. Dieses staatliche Vernunftvertrauen baut mehr auf das Recht und kaum auf die individuelle Fähigkeit zur Freiheit. Das zeigt das neue Gleichbehandlungsgesetz7, das die Vertragsfreiheit durch eine Diskriminierungsvermutung zurückdrängt, die Freiheit ohne Rechtfertigungspflicht durch eine Unterscheidungsbefugnis bei hinreichender Begründung ersetzt. Das Gesetz traut dem erwerbswirtschaftlich tätigen Menschen nicht mehr die Selbstverständlichkeit der Nichtdiskriminierung zu, nimmt dem Unternehmer deshalb ein wesentliches Stück seiner Freiheit, über Vertragspartner und über Vertragsinhalt zu entscheiden, schreibt dem Anbieter vor, mit wem er zu welchen Inhalten den Vertrag zu schließen hat. Bisher berechtigt die Freiheit den Anbieter, den anderen nach eigenem Gutdünken als Vertragspartner abzulehnen. Nun muss der Anbieter von Massenverträgen vor einer Antidiskriminierungsbehörde und einem Antidiskriminie-

Das Gesetz zur Umsetzung Europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) dient der Umsetzung der Richtlinien 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. E G Nr. LI 80, 29. 06. 2000, S. 22), - 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. E G Nr. L 303, 29. 06. 2000, S. 16.), - 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. E G Nr. L 269, 29. 06. 2000, S. 15) und - 2 0 0 4 / 1 1 3 / E G des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. E G Nr. L 373, 29. 06. 2000, S. 37). Das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot findet nur auf Vermieter Anwendung, die mehr als 50 Wohnungen vermieten ( § 1 9 Abs. 5 A G G ) . 7

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rungsverband rechtfertigen, warum er dem einen Nachfrager einen Vertrag angeboten, dem anderen verweigert hat. Aus dem Prinzip der Vertragsfreiheit — bis zur Grenze von Wucher und Sittenwidrigkeit — droht ein prinzipielles Differenzierungsverbot zu werden, von dem es wiederum — begründungsbedürftig — Ausnahmen gibt. Diese gesetzliche Intervention geht an die Wurzeln unseres freiheitlichen Wirtschaftssystems. Bisher fordert die Vernunft des Rechts die Vertragsfreiheit, die auf die gleiche Vernunft der Vertragspartner setzt und deshalb im Konsens dieser Beteiligten Rechtsverbindlichkeiten hervorbringt. Diese Freiheit scheint nun als Bedrohung der Vernunft verstanden zu werden. Der europäische Gesetzgeber und mehr noch das deutsche Gesetz vertrauen nicht mehr der Freiheit der Vertragspartner, sondern beanspruchen Vernünftigkeit nur für Gesetzgeber und Gesetz. Zwar werden wir auch in Zukunft in einem individuellen Ehevertrag den Ehepartner seines Geschlechts, seines Alters, seiner Schönheit und seiner Herkunft willen wählen dürfen. Auch sollte der Fußballbundestrainer weiterhin seine Nationalmannschaft aus Menschen bilden dürfen, die jung, deutsch und ausschließlich Männer sind. Dem Großvermieter von Wohnungen oder dem Arbeitgeber aber käme eine Auswahl seiner Vertragspartner nach gleichen Kriterien teuer zu stehen. Selbstverständlich ist der Kampf gegen die Diskriminierung ein berechtigtes Anliegen. Die Übertreibung aber ist der Feind des Guten. Eine besonders enge Form der Freiheitsbevormundung hat der ursprüngliche Entwurf der Europäischen Sonnenscheinrichtlinie8 entwickelt, die den Menschen insbesondere für die Arbeitsrechtsverhältnisse vorschreiben wollte, wie lange jemand sich der Sonne aussetzen darf. Dieses haben wir bisher selber gewusst: Wann es uns im Sonnenschein zu heiß wird und wann wir unsere Haut im Schatten schützen wollen, lehrt die Lebenserfahrung. Nunmehr schreibt der Richtlinienentwurf auf 28 Seiten in naturwissenschaftlichen Formeln vor, wann die Sonne zu meiden und Schatten zu suchen sei. Doch das europäische Recht hatte gerade noch ein Einsehen: Die Richtlinie ist heute nur auf künstliche optische Strahlung anzuwenden. Wir dürfen also weiterhin in der Sonne unsere Freiheit genießen und dort der wachsenden Bürokratie für Strahlenlabors entfliehen. Das Steuergesetz traut dem Steuerpflichtigen nicht einmal zu, dass er selbst entscheiden könne, was er mit seinem selbstverdienten Einkommen zu tun habe. Deswegen sieht der Steuergesetzgeber Anreize vor, um in den Schiffsbau zu investieren, Denkmäler zu erneuern, in Unternehmen mit geringer Ertragsaussicht zu investieren,

8 Die Richtlinie 2006/25/EG über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefahrdung durch physikalische Einwirkungen (künstliche optische Strahlung) (ABl. E G Nr. L 114, 27. 04. 2006, S. 38) wurde im Entwurfstadium als „Sonnenscheinrichtlinie" bezeichnet.

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das Kapital in unübersichtlichen Fonds oder in Abschreibungsgesellschaften anzulegen. Umgekehrt verteuert der Steuergesetzgeber staatlich unerwünschte Verhaltensweisen, belegt ein umweltschädliches Verhalten mit einer besonderen Ökosteuer oder belastet den Konsum von Tabak und Alkohol mit Sondersteuern, erzielt dabei allerdings oft keine gesundheitspolitischen Lenkungswirkungen, sondern vielfach nur einen schlichten Steuerertrag. Der Bundesgerichtshof hatte jüngst über die vertragsrechtlichen Folgen von steuerlichen Anreizen zu entscheiden, die den Anleger verlockt hatten, unvermietbare, deswegen unveräußerliche Grundstücke zu erwerben. Der Steuerpflichtige hat im Wahn, Steuern zu sparen, „Schrottimmobilien"9 gekauft, also Kapital verbrannt. Auch hier müssen wir uns auf die Grundidee der Freiheit besinnen, wieder unser Freiheitsvertrauen bekräftigen, wonach die verantwortliche Entscheidung des Freien Diskriminierungen ausschließt, den vernünftigen Umgang mit Natur und Wetter sichert, die privatnützige Verwendung des eigenen Einkommens gewährleistet und dadurch den allgemeinen Wohlstand fördert. III. Der Gegenstand des Wettbewerbs Die Ausübung von Freiheit führt zu Wettbewerb, wenn mehrere Freiheitsberechtigte sich um denselben Erfolg bemühen. Der wirtschaftliche Wettbewerber verdrängt den Konkurrenten im Bemühen um den Kunden, der Sporder sucht schneller zu laufen als der Mitbewerber, die Partei will den Wähler für sich und nicht für die andere Partei gewinnen. Dieser Wettbewerb kann zur Leistung anspornen, Ermüdung überwinden, Besitzstände lockern, Neugierde, Erfindergeist und Wagemut entfalten. Im Wettbewerb bietet der Freie einem anderen eine Leistung an, die im Vergleich zum Mitbewerber die bessere sein solle. Streben mehrere Wettbewerber nach demselben Ziel, das nur einer erreichen kann, entfaltet sich ein Wettstreit um die bessere Lösung, werden Einsatzfreude, Tatkraft, Gestaltungswille gefördert. In diesem Ziel bin ich mit Graf Lambsdorff einig. Wir haben allerdings eine Diskussion über den Anwendungsbereich des Freiheits- und Wettbewerbsprinzips. Wettbewerb ereignet sich auf dem wirtschaftlichen Markt, bei politischen Wahlen, im sportlichen Wettstreit, auch im Bemühen von Kunst und Wissenschaft um die beste Leistung. Nach meiner Auffassung allerdings ist für Wettbewerb kein Platz, wenn es um die Anwendung des Rechts geht10. Deshalb ist das Stichwort „SteuerwettbeSchrottimmobilie: Zu steuerfinanzierten Schrottimmobilien: BGH vom 14. Juni 2004 - II ZR 395/01, NJW 2004, 2731; BGH, Urt. v. 25. 04. 2006 - XI ZR 193/04; BGH Urt. v. 16.05.2006, XI ZR 6/04. 10 Vgl. Paul Kirchhof, Gemeinwohl und Wettbewerb (Hrsg.), 2005; ders., Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie, ORDO 56, S. 39 ff. 9

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werb" unter Staaten, oft auch „Bildungswettbewerb" unter den Ländern oder „Standortwettbewerb" unter den Gemeinden verfehlt. Selbstverständlich gibt es auch im Vergleich von Hoheitsträgern beim Angebot von Recht einen Anpassungszwang, der für das Bemühen um das bessere Recht förderlich sein kann. Die im Wettbewerb angelegte Rechtfertigung, dass der Erfolgreiche den anderen verdrängen darf, trifft das Recht jedoch nicht. Wettbewerb schafft Sieger und Besiegte, das Recht meidet diese Differenzierung. Brot ist käuflich, Recht nicht. Der sachliche Anwendungsbereich des Wettbewerbsprinzips bestimmt sich nach der Unterscheidung von freiheitsberechtigter Gesellschaft und freiheitsverpflichtetem Staat. Wettbewerb ist Wahrnehmung von Freiheit. Nur wenn Menschen die Freiheit haben, unter mehreren Anbietern von Leistungen zu wählen, und ebenso frei unter mehreren Nachfragern entscheiden dürfen, gibt es Wettbewerb. Dieses Freiheitsprinzip gilt für die Wirtschaft, nicht aber für den Staat: Die Wirtschaft ist freiheitsberechtigt, der Staat freiheitsverpflichtet. Dieses habe ich als Richter immer wieder erlebt. Der Richter gibt mit dem Anziehen seiner Robe seine Freiheit an der Garderobe ab, dient danach der Freiheit des Rechtsuchenden, und kehrt mit dem Ausziehen wieder in den Kreis der Freiheitsberechtigten zurück. Der Richter darf nicht unter den Rechtsuchenden auswählen, sondern bietet jedem ein faires Verfahren. Er darf nicht dem Nobelpreisträger, der viel für dieses Gemeinwesen getan hat, mehr Recht geben als dem Taugenichts, sondern schuldet Jedermann gleiches Recht. Er darf nicht den finanziell unergiebigen Asylprozess liegen lassen und sich vorrangig dem steuerrechtlichen Millionenprozess zuwenden. Stets steht der Staat für eine Kultur des Maßes, während der Wettbewerb der Maximierung dient, also die Maßstablosigkeit und damit die Maßlosigkeit erlaubt. Der demokratische Staat sucht auch nicht einen fremden Staatsangehörigen abzuwerben, sondern ist seinen Staatsbürgern verantwortlich. Diese sind durch das Staatsangehörigkeitsrecht auf Dauer zugeordnet, sollen in ihrem Staat, in ihrer eigenen Kultur sesshaft sein, nicht wie ein Käufer frei unter dem Angebot der unterschiedlichen Rechtsordnungen der Staaten wählen. Der Staat ist auch gegenüber dem ausländischen Investor an Gleichheit und Verhältnismäßigkeit gebunden. Das Steuerprivileg bleibt gleichheitswidrig, mag es der inländischen oder ausländischen Gesellschaft zugesprochen werden. Der Zugriff auf den Staatshaushalt bleibt dreist, mag dabei die inländische oder die ausländische Lobbyistengruppe ihren Vorteil suchen. Der Staat wahrt sein Gesicht als verfasster Rechtsstaat nur, wenn er gegenüber Jedermann nach gleichen Maßstäben handelt, er schlechthin unbefangen und unbestechlich ist.

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Deshalb unterscheidet sich staatliche Autonomie - Selbstverantwortung in Bindung an Gesetz und Recht — grundlegend vom Wettbewerb. Wettbewerb meint Angebot und Nachfrage, Verhandeln im gegenseitigen Geben und Nehmen, vertragliche Verständigung im Konsens der Freien, nicht in der Vorbestimmung durch ein allgemeines und gleiches Gesetz. Für die wechselseitige Annäherung, die einen Leistungszuschlag oder einen Preisnachlass im Einzelfall erlaubt, ist das Recht nicht zugänglich. Der vereinbarte Vorteil wird bei der Setzung von Recht zu Privileg, Ungleichheit, Korrumpierung. Zudem sind die Gemeinden, die Bundesländer und auch die Staaten miteinander verbunden und vernetzt, so dass sie sich nicht als Wettbewerber einander gegenüberstehen. In Europa und innerhalb eines Bundesstaates sind die Gebietskörperschaften zum Finanzausgleich verpflichtet, müssen also die Schwäche ihres „Konkurrenten" mittragen und auffangen. Eine feindliche Übernahme des Konkurrenten ist nach UN-Statut schlechthin ausgeschlossen. Viele staatliche Initiativen sind auf gemeinschaftliche Wahrnehmung unter den Gebietskörperschaften angelegt, das Umsatzsteuerrecht im Rahmen der EU, das Bildungsrecht innerhalb der Kultusministerkonferenz, staatliche Fernsehangebote in einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts, ohne dass deshalb eine Kartellbehörde in Aufregung geraten müsste. Selbstverständlich bemühen sich auch Staaten im Vergleich untereinander um die bessere Lösung. Dabei suchen sie aber nicht wettbewerblich in Annäherung und Entgegenkommen gegenüber dem einzelnen Menschen den vertraglichen Konsens, sondern beanspruchen Autonomie. In diesem Begriff der Autonomie klingt die Verallgemeinerungsfähigkeit des Kant'schen kategorischen Imperativs an, wird die innere Bindung der autonomen, zur Sittlichkeit fähigen Person vorausgesetzt, eine Unabhängigkeit von Fremdbestimmung gefordert, die Selbstgesetzgebung ins Werk gesetzt. Im Ergebnis garantiert der Staat, dass die verfassungsrechtliche Statusgleichheit Jedermanns als Mensch, Person und Persönlichkeit nicht zur Verfugung eines anderen steht, wettbewerblich deshalb nicht veränderbar ist. Demokratie baut auf ein Staatsvolk, das ein demokratisches Gemeinwesen grundsätzlich ein Leben lang entwickelt und kulturell trägt. Das Staatsziel sichert auch dem wettbewerblich Erfolglosen eine Zugehörigkeit, eine Teilhabe an den jeweils erreichten kulturellen, freiheitlichen und ökonomischen Standards. Die Friedensgemeinschaft des Staates erlaubt kein individuelles Abweichen von den Elementarerfordernissen des menschlichen Zusammenlebens, versagt sich insoweit Anreizen, Entmachtungen, Neuentdeckungen. Wettbewerb ist ein faszinierender Ausdruck wahrgenommener Freiheit. Freiheitsrechte aber sind jeweils definiert, begrenzt, unterscheiden sich darin von der Willkür. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, diese definierten Freiheitsrechte zur Entfaltung zu bringen, aber auch ihre Grenzen zu gewährleisten. Er ist der Garant von Freiheit und Wettbewerb, nicht Freiheitsberechtigter und Wettbewerbsteilnehmer.

Leon Louw: Miraculous Misconceptions

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The State Leon Louw*

Miraculous Misconceptions "Why", I asked Count Lambsdorff many years ago, "is Germany's post-war Wirtschaftswunder called an 'economic miracle'?" "Surely," I suggested, "there is nothing miraculous about the liberalism you espouse, and Germany implemented under the influence of Ludwig Erhard, Wilhelm Ropke and their kindred spirits, resulting in prosperity?" "And why", I added, "are repetitions elsewhere, such as the Asian Tigers, called 'economic miracles'?" After all, so-called economic miracles have one thing in common: high freedom scores on indices produced by Economic Freedom of the World Network, Freedom House, International Freedom Network, Transparency International, World Economic Forum, Heritage-WSJ and others. In other words, there is prosperity when the state has fewer functions and powers defined by political, social, jurisprudential or economic criteria. "That", I suggested, "is no miracle; it's natural, automatic and predictable." "Because", he replied with Lambsdorffian eloquence, dignity and wisdom, "most people are so convinced that prosperity is caused by the actions rather then omissions of benign governments that, when there's spontaneous prosperity, they think it's miraculous." Maximising Poverty Years later, recalling the conversation, it occurred to me that, if prosperity is no 'economic miracle', perhaps poverty is. That most governments in most countries successfully keep most people poor is truly astonishing for at least three reasons: firstly, that they want to do so; secondly, that they succeed and, thirdly, that they retain power and prestige notwithstanding the first two. When I meet the Count again I will, as always, have many more questions for him, such as: "Why do people, especially liberals1, regard governments as inefficient when, according to established criteria for judging success, they are spectacularly successful?" and "Why do people call inevitable and recurrent negative effects of bad policies 'unintended conse" Leon Louw ist Executive Director, Free Market Foundation of Southern Africa. In this text 'liberal' is used in the European or 'classical liberal' sense (in accordance with values espoused by the Friedrich Naumann Foundation), not the American sense, where the word applies to opponents of classical liberty. 1

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quences? Surely, if comparable policies consistently have comparable consequences, one must regard them as intended?" Regarding the first question, the paradox is that the state and governments (which are the principal organs of state) may be the most efficient institutions ever conceived. They are /«efficient only if their purpose is regarded as the promotion of liberty, peace and prosperity. But, if we judge them by criteria used for other institutions (companies, churches, clubs, causes, political parties and so on), namely popularity, influence and market share, they are spectacular successes. Governments have increased their employment, budgets, assets, status and power more than any other institution. That they have succeeded at making poverty the norm for most people in most countries notwithstanding the natural propensity of people to produce and exchange wealth, and that they enjoy the respect if not adulation of people who's liberty they curtail, is, in a perverse sense, one of the most remarkable accomplishments of modern times. Destitution under the yoke of third world depots might have a short shelf-life where it not for the fact that a tiny minority of countries classified as rich or developed spend billions perpetuating poverty in poor countries. Readers might not believe this at first - it sounds like an implausible conspiracy theory - but the fact is that there is a sophisticated global system of perverse incentives whereby governments of rich countries reward repressive governments in accordance with how much poverty they cause. They say, in effect, "The more poverty you cause the more we will reward you." Citizens of rich countries think 'aid' goes to poor people, whereas almost all aid is 'government-to-government', a matter about which liberals ought to be better informed and more vociferous. Africa without Aid A recent statistical analysis done for the Law Review Project in South Africa of the characteristics of winners and losers at achieving policy objectives, Habits of Highly Effective Countries, found better scores on every readily available index of human and environmental welfare in countries with higher scores on indices of liberal institutions, such as the rule of law, property rights, judicial independence, free markets and 'western' democracy. Now that a growing number of African countries are improving their scores on liberal values, the continent is not only achieving sustained positive growth for the first time since decolonisation, but is likely to be the world's highest growth continent this year. Some African countries now have the world's fastest growing economies. The second highest average growth over twenty years has been achieved by one of Africa's land-locked and historically poorest countries, Botswana. It is no coincidence that it is 'black' Africa's oldest multi-party democracy

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which opted for liberal capitalism whilst most African countries chose illiberal socialism. Sadly, Africa's belated growth has scarcely started than it is under severe threat by calls for more 'aid'. Recent years have been characterised by heads of state in the first and third world, pop and movie stars, and coundess other do-gooders demanding an African Marshall Plan or New Deal. It is extremely improbable that those propagating such programmes have the slightest idea what they entailed and that they contributed litde or nothing to prosperity attributed to them. The evidence suggests that Roosevelt's New Deal probably delayed America's recovery from the Great Depression. As with the Marshall Plan, levels of foreign 'aid' envisaged for Africa are insignificant compared with either the size of the economies concerned or with market-driven annual additions to the GDPs of high-growth countries like India, Chile and China. Economist William Easterly is one the economists to have shown that, as liberal theory predicts, less aid coincides with higher growth (http://www.washingtonpost. com/wp-dyn/content/article/2006/02/12/AR2006021201150.html). The way for aid-seeking despots to maximise poverty to get more aid is obvious: adopt maximally illiberal political, social and economic policies. Even so, there are many examples of poor countries becoming free, democratic and prosperous. Pop stars and politicians could say instead: "We will reward you only if you liberate your victims. If you do, there will be no need for aid because your citizens will enrich themselves more generously and expeditiously than we could ever do." Poverty activists can do more by doing less. The State My contribution to this Festschrift is not about government, economics or development specifically, but about 'the state'. Its responsibility for poverty is just one of thousands of examples of why its size, functions and powers should be limited. The question is, to what it should be limited, and how. The second part of the question is relatively easily answered: by maximal constitutional, institutional and attitudinal checks and balances against the abuse of power. Since constitutional reform is not under consideration in most countries, this contribution is confined to institutional and attitudinal aspects. The first part of the question is much more complex for liberals than for dirigistes, because only liberals are concerned about the inevitable conflict between the liberty they value and the desire for coercive state action2.

2 Non-liberal conceptions of the state entail whatever is considered expedient regardless of the implications for liberty. Needless to say, most people are on a spectrum from being concerned

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It is important for liberals to understand the distinction between such terms as 'state', 'government', 'society' and 'nation', and why such terms are used interchangeably. The state is essentially the set of institutions with ultimate legitimised authority to make and enforce rules governing people in a sovereignty territory. Max Weber (http://en.wikipedia.org/wiki/State) famously defined it as a 'monopoly on legitimate violence'. The conception of the state as a legitimised aggressor presents liberals with a challenging conundrum according to which they want a contradiction: a coercive state and liberty. On the face of it, these are mutually exclusive. Within the liberal family, there is a continuum from extreme liberals ('libertarian anarchists') who hold that true liberty can exist only if there are no states at all (or if states have no coercive powers), through 'minarchists' wanting a minimal state, and moderate liberals for a 'night watchman' or 'safety net' state, to social liberals inclined towards conservatism on the right or socialism on the left, for whom big government is acceptable within a general paradigm of freedom. The Spectrum Liberals near the 'pure' end of the spectrum, reconcile the apparent liberal contradiction by holding that state coercion should be confined to protecting people from criminal coercion. They distinguish initiation from protection and retaliation - to which end liberals want the state to have such 'core' functions as courts, police, prisons and armies. This 'limited government' conception of the state is that it can and should exist without the right or need to initiate or threaten violence. The more conventional liberal idea is that the state should have additional 'core' functions with commensurate powers. Extended state powers and functions make it increasingly difficult to reconcile liberty with the state. Consider a practical everyday example: if the state has the welfare function of ensuring health care, it may be appropriate for it to mandate healthy living. Can the state, which means tax payers, be expected to treat accident victims, yet not require them to wear seat belts, or lung cancer victims, without passing draconian anti-tobacco laws, or drug addicts in the absence of prohibition? Personal health and safety have been nationalised to a remarkable extent. What people may eat, what medication they may take, how food is to be processed, packaged, labelled and stored, who may produce or supply food, how buildings are to be ventilated, what psychoactive substances are allowed, who may scuba dive, and much much more, are areas where the state routinely initiates coercion.

primarily with liberty at the liberal end of the spectrum to those for whom it has no distinctive merit at the authoritarian end.

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If such violations of personal liberty are legitimate, are there limits? Without intensified liberal vigilance, there seem to be no limits. The South African government is considering restrictions on selling and marketing 'junk food' starting with restrictions of the kind that characterised early anti-tobacco and anti-liquor laws. Restrictions on using perfume and deodorants in public have been proposed in California to protect 'passive' users with chemical sensitivity. Children have been removed from obese mothers in Sweden. Communist countries, notably China, mandated physical exercise which was regarded in western countries as dictatorial and comical, though many of them have mandatory 'physical training' or 'PT' in schools. Compulsory education has been around for so long that few question its coercive one-size-fits-all nature. One of justifications for such coercion is that state care for the unemployed entitles it to teach skills. Legitímate Coerríon? That these coercions are legitimised on the grounds that they entail trade-offs is problematic for liberals, but the bigger problem is that most of what modern states do is purely a matter of initiated violence or the threat thereof — where thousands of laws force people to do or not do a fantastic range of things. People are told what they must or may not agree to in contracts, what they may import and how much interest they may pay; they are forced to deal with state monopolies and they are prohibited from dealing with private ones; they are told which working conditions and wages they may accept, and so on. There are so many coercive intrusions into every sphere of life that no person is capable of knowing all the laws governing them. The nanny state is presumed to know better than supposedly emancipated adults what's best for them. The erosion of liberal values has gone so far that it is hard for liberals to imagine let alone defend a truly liberal state. liberal concepts have been corrupted to the point where despots like Saddam Hussein to Robert Mugabe protest that they respect the rule of law. That they feel obliged to do is a victory of liberal values; that few people, even professors of law, let alone government statutory drafters, can define the term in ways that distinguish the 'rule of law' from the 'rule of man' is a tragedy. There is no country of which I am aware where the separation of powers is understood or upheld, where administrative discretion has not replaced legal certainty or where due process is a requirement of all adjudication. Their great challenge for modern liberals is to restore the concept of liberty perse as a criterion for limiting the leviathan state, to shift the debate from crude conceptions of expediency to sophisticated conceptions of liberty. The challenge is compounded by the post-9/11 'war on terrorism', in which many more violations of personal liberty are condoned.

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In the context of the modern omniscient omnipresent deified state which has become a general state of mind, liberals need to advance on two distinct fronts. On one hand, there is a need to promote a general liberal paradigm or climate of opinion within and subject to which the state will operate and be limited. On the other hand, there should be a vigorous debate about the precise extent to which the state should be limited and individuals emancipated. Consensus amongst liberals is not only unnecessary, but counter-productive. Hegel, and subsequently Marx, were right about there being a dialectic imperative, whereby the polity embraces only two schools of thought. Instead of the debate being between dirigiste alternatives, as it is now, it can be shifted towards moderate versus radical liberalism. There is now such overwhelming empirical evidence that liberal economic policies coincide with prosperity that it is no longer seriously debatable. There is already a great deal of effort devoted to disseminating the facts. What is missing is corresponding effort devoted to promoting other aspects of liberalism, such as its political, social and jurisprudential dimensions. To restore the separation of powers, it is necessary to understand and explain the philosophical and, more importantly, practical, reasons for it. My view is that the single most important and urgent challenge for liberalism is the restoration of liberal jurisprudence and political science. The case for personal and social liberty is hard to present compellingly and seldom high on the classical liberal agenda. Most people, including most liberals, seem to want Big Brother state to protect people from their own supposed folly by forcing them to live differently. That lifestyle entails extraordinarily complex person-specific trade-offs is difficult to comprehend in a world bombarded with propaganda about the cosmic evils of tobacco, liquor, junk food, obesity, recreational drugs, sedentary habits, driving without seat belts, and the like. What makes it too complex for simplistic omnibus solutions is that every individual not only has unique physiology, but psychology. How can anyone possibly know whether the benefits of smoking for a given individual — and there are considerable benefits! — exceeds risks? Who can claim to know that every obese person would be better off slim, given the unique physiology and psychology of every human? If liberty is to be taken seriously, more is needed than the liberal belief that people should be free as an end in itself. It has to be shown that liberty is efficient, that it produces the best results in the real world, and that there is a heavy burden of proof that benefits will exceed expected and unexpected costs when it is compromised. More Questions The next question I would ask Count Lambsdorff is why it no longer feasible for liberal parties like his FDP to espouse returning the state to the comparatively minimal si2e,

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powers and functions that characterised first world countries when they became rich, and why backward countries — by far the majority of all countries — shouldn't be told that they will be rich within a generation if, and only if, they replicate the historic rather than the present role of the state in rich countries. Instead they are encouraged, often forced, to mimic the post-development state in rich countries. With first world aid and scarce resources taxed from their own citizens, governments of poor countries, like my own, South Africa, send 'fact finding' missions to rich countries to replicate what rich countries do and can afford to do by virtue of being rich. What they learn is how to do things that increase the size and cost of the state, and the regulatory burden it imposes on citizens, enormously, to an extent that would have kept ensured perpetual poverty in rich countries had they imposed those measures when they were at comparable stages of development. All is not bad. There is growing rhetoric about the need for some liberal institutions in poor countries such as 'the rule of law" and 'good governance'. Sadly, this rhetoric is not accompanied by substance. There is virtually no content regarding what the rule of law means in practice. The Count lived to see the liberalism to which he dedicated his life's work triumph, at least for now and in part, in his beloved Germany and globally, in the Hegelian sense described by Francis Fukayama in The End of History. Yet liberals are prevented by a seemingly omnipotent tyranny of political correctness from espousing liberalism in anything approaching it's relatively pure form that served the free world so well for so long. Why can mainstream liberals no longer espouse the degree to which the state was limited within his lifetime, let alone before? Si%e and power When he was born the state in capitalist countries consumed and accounted for a much smaller proportion of gross domestic product (GDP), and, more importandy, the role and powers of government were a small fraction of what they are now. During his youth he witnessed the Nazi assault on liberalism. The degree to which liberty was curtailed by the Nazis was remarkable. All manifestations of civil society were prohibited or regulated, even stamp collector's clubs. By the time he was in Germany's Bundestag (1972—98) and its Economy Minister (1977-84), the state had grown substantially, but was still much smaller than now. Needless to say, the state in all its manifestations grew substantially under Nazi socialism. It took Ludwig Erhard's controversial liberalisation to limit the state and restore prosperity. I could not find hard data in the time at my disposal, but it is trite knowledge that the number of laws, and regulations, the degree to which they regulated the economic and social lives of citizens and the proportion of economically active people employed by the state was comparatively minimal. The intelligence of ordinary peo-

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pie enjoyed more respect when they were less educated with much less information at their disposal. Entrepreneurs fixed conditions on which customers and employees could enter their property. Business premises were private and are now perversely called 'public'. The modern omnipresent intrusive state dictates whether proprietors may allow smoking or drinking; who they must admit and exclude; minimum qualifications for people they employ; whether they may be in business at all; what they may charge; the terms of their contracts; what private information they must disclose; with whom they may invest, and so on. It tells consumers how much credit they may incur, what ingredients are allowed in what they buy; what interest they may pay; that they may not buy products that are cheap because they are imported or fall short of arbitrary minimum standards; which electronic media they may enjoy ... all under a complex web of measures misleadingly called 'consumer protection'. It prohibits the unemployed from working unless they can find employers willing and able to pay more or lavish them with costly working conditions: precludes qualifications with which employers and consumers rather than pretentious bureaucrats are satisfied, et al. By virtue of the strange assumption that there are cost-free benefits (the 'precautionary principle'), it panders to the contrived catastrophism of environmental elites and naive activists by imposing prohibitive safety and environmental costs on the world's poor. Through confiscatory taxes and other imposts, it transfers more private wealth than ever from owners to would-be supporters. It concentrates benefits at an unprecedented scale in the hands of small vested interests, reminiscent of medieval guilds, at the expense of the masses. All this and much more is new and illiberal. I the post-Berlin Wall world in which liberalism has triumphed in profound senses, it has also lost ground surreptitiously by what has been called 'the salami technique', whereby liberty is lost in small slices, none of which seems serious by itself, but where the cumulative impact would have been as unconscionable historically as returning control over their lives and wealth to citizens seems now. Needless to say, there are expectations, but they are exceptions that prove the proverbial rule. To remain relevant, liberals have shifted their expectations away from their essential beliefs towards authoritarian democracy. With few exceptions, they no longer espouse limiting the state to what it was 80 or more years ago when the Count was bom. The adverse paradigm shift means that most liberals no longer promote, or even want, true liberty. Perhaps the time will come when liberals can reclaim the moral high ground by espousing liberty per se and popularising the hard evidence which speak to non-liberals that it achieves for them more of what they want than their own policies — better material, social, economic and environmental conditions.

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Der liberale Staatsdiener - ein Widerspruch in sich selbst? Hans Willgerodt

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Ludwig von Mises, einem der bedeutendsten liberalen Ökonomen, wird der Satz zugeschrieben: „Eine liberale Regierung ist eine contradictio in adjecto", also ein Widerspruch in sich selbst. In der Tat ist jede Regierung eine Institution, die Macht ausübt und ihren Willen auch gegen Widerstreben durchsetzt, also Handlungsräume einschränkt und insoweit nicht „liberal" ist. Hätte von Mises recht, dann könnten Liberale nicht Staatsdiener werden, ohne liberale Überzeugungen zu opfern. Liberale unterscheiden sich aber von Anarchisten dadurch, dass sie, wenn auch unter Bedingungen, mindestens die Notwendigkeit von als Recht anerkannten Verhaltensregeln bejahen, deren Geltung notfalls vom Staat erzwungen werden muss. Ohne solches Recht, dessen Verletzung verboten ist, gibt es keine Freiheit für jedermann. Das hat auch von Mises anerkannt, sondern nur gemeint, dass der Staat dazu neigt, seine Macht zu missbrauchen. Wenn trotzdem außer Anarchisten und Einsiedlern niemand die Notwendigkeit eines Staates leugnet, muss es Staatsdiener geben, — auch solche, die Macht anwenden. Macht aber hat nach einem Wort des katholischen Liberalen Lord Acton die Tendenz zu korrumpieren und absolute Macht korrumpiere absolut. Deshalb müssen Macht anwendende Staatsdiener am Machtmissbrauch gehindert werden. Ein populäres Misstrauen hält dies für schwierig und richtet sich gegen den öffentlichen Dienst schlechthin, mit besonderer Intensität gegen Beamte und manchmal auch gegen Richter. Für unzulängliche Wächter gegen Machtmissbrauch gelten oft ebenso die für den Staat verantwortlichen Politiker, auch wenn sie demokratisch gewählt worden sind. Denn demokratische Wahlen sind immer ein unvollkommenes Kontrollinstrument. Die Bediensteten der öffentlichen Verwaltung sind aber wie andere Arbeitnehmer in ihrem Dienst nicht völlig frei, sondern Anweisungen unterworfen. Der öffentliche Dienstherr besitzt sogar ein Gewaltmonopol. Seine Bediensteten waren einst der Willkür von Fürsten und sind heute Zumutungen demokratisch legitimierter Politiker ausgesetzt. Können in diesem Sinne unfreie Staatsdiener gleichwohl bei ihren

Professor Dr. Hans Willgerodt war von 1963 bis 1989 Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln.

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Anordnungen und Vorschlägen an der Freiheit der Bürger orientiert sein und anderen Bestrebungen ihrer Vorgesetzten widersprechen? Dies ist sehr wohl möglich. Historisch haben sich Recht und Pflicht der Staatsdiener zu einem von ihnen zu begründenden internen Widerspruch gegen Anordnungen übergeordneter Instanzen allmählich im Laufe sich verfestigender legitimer Herrschaft herausgebildet. Zunächst wurde dies erleichtert, indem die Staatsdiener materiell gesichert wurden. Sie sollten unter anderem von dem Dilemma befreit werden, Mut auf Kosten ihrer Existenz oder von Frau und Kindern beweisen zu müssen. Beamte waren und sind gleichwohl nicht nur in ihren täglichen Aufgaben in der Regel weisungsgebunden, sondern auch bei ihren Aufstiegsmöglichkeiten von Urteilen ihrer Vorgesetzten abhängig. Das erhöht ihre Neigung, selbst bei sachlich gebotenem Widerspruch zurückhaltend zu sein. Gemildert war dies früher insoweit, wie Beamte aus vermögenden Kreisen, etwa des Adels, rekrutiert wurden und ihr Eigentum auch dann gesichert war, wenn sie den Staatsdienst im Unfrieden verlassen hatten. In Marktwirtschaften könnte es außerdem einen freien Arbeitsmarkt geben, in dem unzufriedene oder missliebig gewordene Angehörige der Staatsverwaltung Zuflucht finden könnten. In Deutschland wird solche Abwanderung durch Verlust von Pensionsansprüchen und andere Hindernisse erschwert. Was die Möglichkeit der Staatsdiener bedeutet, auf den nichtstaatlichen Bereich auszuweichen, zeigt ein Vergleich mit der Sowjetwirtschaft. Dort bestand so gut wie die ganze Bevölkerung aus Staatsdienern, die formal nicht arbeitslos wurden, aber auch nicht kündigen konnten. Denn private Beschäftigung im Inland war ebenso genehmigungspflichtig wie die Arbeitssuche im Ausland. Der Staat als einziger Arbeitgeber konnte unbequemen Widerspruch durch den Grundsatz beschränken, dass die Einheitspartei immer Recht hat. Sein privates Eigentum und ein freier Arbeitsmarkt, soweit es ihn gibt, schützen den Staatsdiener zwar, aber das genügt nicht. Zusätzlich müssen der Staat als Vorgesetzter und das Handeln seiner Diener durch Verfassung und Recht gebunden werden. Denn dann können sich seine Bediensteten ihren Vorgesetzten gegenüber auf die Rechtslage berufen. Das Recht soll nicht nur die Bürger voreinander und vor den Staatsdienern schützen, sondern auch die gesetzestreuen Staatsdiener vor willkürlichen Sanktionen für ihr Verhalten. Freilich wird dies in dem heutigen uferlos regierenden Staat immer fragwürdiger. Der sich selbst überlastende Gesetzgeber verleiht den Staatsdienern in wachsendem Umfang die Befugnis zur Rechtsetzung, sei es, dass der eigentliche Gesetzgeber Verordnungs- und Satzungsrechte delegiert, sei es, dass der zeitlich und fachlich überforderte Gesetzgeber wenig geprüfte Rechtstexte absegnet, die ihm von der Verwaltungs-

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bürokratie vorgelegt werden. Diese rechtliche Selbstbedienung der Staatsverwaltung kann die Bürgerfreiheit mindern. Sie führt trotzdem kaum zu einer größeren Handlungsfreiheit der Verwaltung, solange alle Rechtssätze nachträglich gerichtlich angefochten werden können. Es kommt zu Unklarheiten und Blockaden, bei denen der Beamte mehr „politisch" lavieren muss, als sich auf gefestigtes Recht berufen zu können. Der moderne Regierungsstil mit seinen umfassenden merkantilisrischen Zuständigkeitsvermutungen und den entsprechenden Konvoluten der Rechtssetzungen und täglichen Rechtsänderungen belastet diejenigen Staatsdiener, die an der Front der realen Staatsaufgaben stehen. Sie müssen immer mehr Zeit aufwenden, um sich mit der anschwellenden Regulierungs- und Rechtsmaterie vertraut zu machen, oder dies weniger genau nehmen, um nicht ihre eigentlichen Aufgaben zu vernachlässigen. Ein Musterbeispiel hierfür ist die deutsche Hochschulpolitik, bei der Förderung der Wissenschaft mit Förderung von ständigen Reorganisationen der Wissenschaft verwechselt wird. Bei diesem Regierungsstil werden nicht nur die Bürger, sondern auch die diesem System ausgesetzten Staatsdiener immer unsicherer und stehen, wenn sie ihre Pflicht tun, mit einem Bein im Gefängnis wegen Verletzung ihnen unbekannter oder abwegiger Vorschriften, die von anderen Staatsdienern erfunden worden sind. Trotzdem ist und bleibt das staatliche Gewaltverhältnis zunächst immer ein Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen und dann erst ein Verhältnis aller Staatsdiener gegenüber anderen Bürgern. Ohne Vermittlung durch ihre amtlichen Gehilfen ist die Regierung machdos. Auch in freiheitlichen Staatswesen bestimmen letztlich Gesetzgebung und Regierung, was die Staatsdiener tun sollen, die im Normalfall auch dann zum Gehorsam verpflichtet sind, wenn sie pflichtgemäß begründete Gegenargumente vorgetragen haben. Aber weder ist der freiheitliche Staat trotz aller Träume von staatlicher Daseinsvorsorge allzuständig, noch kann er ein Meinungsmonopol in Anspruch nehmen. Ob es einen liberalen Staat gibt, hängt also nicht von dem Bestehen oder Fehlen von Unterordnungsverhältnissen ab, sondern von den Alternativen, die nicht nur den Bürgern, sondern auch den Staatsdienern zustehen. In einer Ordnung mit offenen Märkten gibt es mehr Freiheit vor allem dann, wenn verschiedene Staaten und ihre Gliederungen miteinander konkurrieren. Der zentralistische Einheitsstaat, den viele auch in Europa anstreben, mindert dagegen die Zahl der Alternativen. In der Europäischen Gemeinschaft war es zunächst vorrangig die Absicht, freiheitsbeschränkende Strukturen ihrer Mitglieder zu beseitigen. Dies wird aber zugunsten aktiv eingreifenden Regierens immer mehr verdrängt. Die Gefahr des Zentralismus besteht vor allem darin, dass er den Wettbewerb zwischen den staatlichen Einrichtungen um bürgernahe und sinnvolle Lösungen aufhebt. Der Bürger begegnet dann überall derselben Staatsgewalt. Für Demagogen und Diktatoren wird

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es leichter, wenn sie nur eine einzige Regierungszentrale erobern müssen, um die Bürgerfreiheit abzuschaffen. Welche Funktion kommt in diesem Drama denen zu, die Staatsdiener besonderer Art sind, nämlich den Politikern, die unmittelbar oder mittelbar den Staatsdienst bestimmen, aber auch von seiner Eigenart bestimmt werden? Adam Smith hat von „that insidious and crafty animal, vulgarly called a statesman or politician" gesprochen, „whose councils are directed by the momentary fluctuations of affairs". Es fallt schwer, diese Kennzeichnung für unrealistisch zu halten. Die Kunst, in der Politik Wesentliches vom Sekundären zu unterscheiden, wird im Drang der Alltagsgeschäfte des Regierens nur selten geübt. Eine erste liberale Folgerung ist, den Bereich des alltäglichen Details nicht an der Regierungsspitze überwuchern zu lassen, sondern möglichst weit regionalen und lokalen Gliederungen zu überlassen. Die zweite Folgerung ist, das Interesse an ständigen Erweiterungen des Bereichs der Politik auch dann zurückzustauen, wenn es als „Demokratisierung aller Lebensbereiche" plakatiert wird, und die Illusion zu bekämpfen, in der Regierung und der Politik lasse sich umfassendes Besserwissen über alle Angelegenheiten des Volkes konzentrieren und anwenden. Einige, sich „liberal" Nennende wenden sich angewidert vom sündhaften Bereich des Staates ab und überlassen damit das Feld den Illiberalen. Sie wissen nicht, dass trotz aller Mängel, die dem Bereich des Politischen anhaften, alle nicht gering zu schätzenden liberalen Erfolge bisher dadurch erzielt worden sind, dass sich Liberale um den Staat gekümmert haben. Die großen bürgerlichen Reformen des 19. Jahrhunderts, von der Bauernbefreiung über die kommunale Selbstverwaltung, die Gewerbefreiheit, die Befreiung des Außenhandels, das Ende der merkantilistischen Währungsunsicherheit, die Pressefreiheit und das allgemeine Wahlrecht, den Rechtsstaat und die langfristig geltenden Straf- und Zivilgesetze sowie die Festigung von Grundrechten sind von liberal denkenden Beamten und Staatsmännern durchgesetzt worden. Namen wie vom Stein, von Hardenberg mit dem preußischen Reformbeamtentum und Wilhelm von Humboldt stehen in Deutschland für viele. In England hat Robert Peel eine Tradition begründet, die bis zu Margaret Thatcher reicht. Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg verdankt Ludwig Erhard und seinen amtlichen Mitarbeitern Entscheidendes. Die liberale Tradition seines Ministeriums hat sich lange gehalten. Dass damit sogar ein notwendiger Regierungswechsel verbunden gewesen ist, verdanken wir jenem liberalen Minister, dem wir jetzt zu seinem 80. Geburtstag gratulieren.

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Steuern und Steuerpolitik

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Steuerstrukturen reformieren statt an Steuersätzen schrauben Michael Eilfort* Deutschlands Steuersystem ist Weltspitze, allerdings nur in Sachen Kompliziertheit, Unverständlichkeit und letztlich Ungerechtigkeit. Es schreckt Investoren eher ab und verhindert Wachstumschancen, als dass es Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze schafft. In einem Länderranking des World Economic Forums von 2004 liegt das deutsche Steuersystem bei der Untersuchung seiner Effizienz auf dem letzten Platz von über einhundert untersuchten Ländern. Es fehlt schlichtweg an Wettbewerbsfähigkeit. Über Jahrzehnte ist es unentwegt zu einem Anstieg der Einnahmen gekommen und dennoch konnten diese nicht mit den Ausgaben Schritt halten. Wenn anstelle der Strukturen dann als Reaktion auf die Misere wieder nur die Sätze verändert werden, ist das Land von einer zukunftsfahigen Lösung für den Standort Deutschland weit, sehr weit entfernt. Die von Otto Graf Lambsdorff vor wenigen Jahren aufgeworfene Frage, ob Deutschland den Reformstau überwindet, entscheidet sich nach den Reformfeldern Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung auch an der Gestaltung des Steuersystems. Die Krise des von ihm so benannten „Steuerstaates" ist nur mit einer Reform zu beheben, die einen solchen Namen auch verdient. Deutschland braucht unzweifelhaft ein besseres Steuersystem. Allem voran muss das Steuerrecht dringend wieder klar und deutlich am Grundprinzip der Neutralität und der Leistungsfähigkeit ausgerichtet werden. Der Beitrag des Einzelnen zur Gemeinschaft muss die individuelle Leistungsfähigkeit widerspiegeln. Zugleich darf aber nur die wirkliche individuelle Leistungsfähigkeit Maßstab der Besteuerung sein. Daneben ist es erforderlich, Ausnahmen und Sonderstellungen zu beseitigen und eine einheitliche und transparente Besteuerung wieder sicher zu stellen. Nur auf diesen tragenden Prinzipien können gesellschaftlicher Konsens, Akzeptanz und damit Bereitschaft zur Steuerehrlichkeit ruhen. Die Unternehmen sind von einer ansteigenden Rechts- und Planungsunsicherheit betroffen und fortwährenden Änderungen ausgesetzt. Dieser Zustand des Steuerrechts fördert erst Steuervermeidungsmentalität und dann die Verlagerung von Arbeitsplätzen oder gar das Einstellen wirtschaftlicher Tätigkeit. So entsteht kein Wachstum, das Arbeitsplätze schafft, weil Anreize zu Leistungsbereitschaft und

* Prof. Dr. Michael Eilfort ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an den Universitäten Tübingen und Freiburg und gehört dem Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft in Berlin an.

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Eigenverantwortung ebenso wie Vertrauen und Rechtssicherheit fehlen. Letztere bilden jedoch die notwendigen Voraussetzungen für Investitionen der Unternehmen und für Konsum der Bürger. Deshalb ist ein stimmiges Konzept, das die zentralen Bereiche der Steuerpolitik aufgreift und Schnittstellen angemessen berücksichtigt, erforderlich. Deutschland steht in einem Steuerwettbewerb der Systeme und der Länder. Steuerwettbewerb sollte dabei als die Chance verstanden werden, die Vorteile eines jeden Standortes bestmöglich zu erkennen und zu entwickeln. Im Rahmen der Arbeit der Kommission „Steuergesetzbuch" unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft hatten 76 Experten aus Rechtsprechung, Wissenschaft, Wirtschaft und Beratung, aus allen Parteien und Gebietskörperschaften, aus Bundesfinanzministerium, Ländern und Gemeinden diese Herausforderung angenommen; parallel dazu hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einen umfassenden Vorschlag entwickelt. Zentraler Ausgangspunkt der Überlegungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung in Deutschland war die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich. Mit einer nominellen Steuerbelastung der Gewinne von Kapitalgesellschaften in Höhe von ca. 39 % im Jahr 2006, die sich aus Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Solidaritätszuschlag zusammensetzt, findet sich Deutschland in der unrühmlichen Rolle des Spitzenreiters in Europa wieder. Das deutsche Steuerrecht ist jedoch seit jeher in internationale Normensysteme eingebettet. In besonderer Weise gilt dies für den gemeinsamen europäischen Markt. Hier muss es gelingen, die insbesondere im Unternehmensteuerrecht liegenden Konflikte mit europäischem Recht zu lösen und ein international kompatibles Steuerrecht zu schaffen. Vor diesem Hintergrund hat die Kommission „Steuergesetzbuch" ein Steuerkon2ept entwickelt, das sich allein mit dem Herumschrauben an Steuersätzen nicht zufrieden gibt und Systembrüche oder Kompensationsbedarf vermeidet. Stattdessen ist das Augenmerk auf eine Vereinfachung des Systems gerichtet, das nicht nur „technisch" in sich schlüssig sein muss, sondern auch gerecht. Die Priorität der Umsetzung sieht die Kommission in der Reform der Unternehmensbesteuerung zusammen mit der Neuordnung der Kommunalfinanzen. Ziel ist die Sicherung eines stetigen und planbaren Steueraufkommens für die Kommunen. Schließlich ist eine Reform der Einkommensbesteuerung unausweichlich. Im Rahmen der Reform der Unternehmensbesteuerung wurden bereits zwei Gesetzentwürfe erarbeitet und vorgestellt. Ziel des Allgemeinen Unternehmensteuergesetzes (UntStG) ist eine von der Rechtsform des Unternehmensträgers weitgehend unabhängige Besteuerung der Unternehmen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig,

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neben Körperschaften auch Personengesellschaften und Einzelunternehmer in die Unternehmensteuer einzubeziehen. Damit überwindet dieses Konzept den nach wie vor bestehenden Dualismus der deutschen Unternehmensbesteuerung, ohne am zivilrechtlichen Status von Unternehmen Änderungen erforderlich zu machen. Zentraler Ansatz ist der Vorschlag, thesaurierte Gewinne im Interesse von Eigenkapitalbildung, Wachstum und Arbeitsplätzen niedriger zu besteuern und bei Ausschüttung nachzubelasten. Erst bei einer Uberführung des Gewinns aus der Unternehmens- in die Unternehmersphäre durch Ausschüttung oder Entnahme, kommt es beim Unternehmer zu einer Nachbelastung, die den steuerlichen Thesaurierungsvorteil kompensiert und auf diese Weise eine synthetische Einkommensbesteuerung realisiert. Eine Unternehmensteuerreform kann nur in Verbindung mit einer Reform der Kommunalfinanzen nachhaltig erfolgreich sein. Kernpunkt ist daher die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer durch eine ertragsorientiertere Unternehmensbesteuerung auf Gemeindeebene. Beruhend auf vier Finanzierungssäulen (Kommunale Unternehmensteuer, Bürgersteuer, Grundsteuer, Anteil am Lohnsteueraufkommen) wird sowohl Steuertransparenz aus Unternehmens- und Bürgersicht erreicht, als auch ein stetiges und ausgabensicherndes Aufkommen für die kommunalen Haushalte. Weite Kreise der Fachöffentlichkeit als auch der Sachverständigenrat loben die Vorzüge dieses 4-Säulen-Modells, das endlich einen gangbaren Weg zur zukunftsgerichteten Finanzierung der Kommunen eröffnet. Es ist ein modernes und v. a. stabiles Element eines Steuersystems, das Subsidiarität ernst nimmt und den Kommunen eine wettbewerbskontrollierte Besteuerungskompetenz zuweist. Der Lösungsansatz der Kommission „Steuergesetzbuch" bei der Steuerlichen Gewinnermitdung besteht in der Schaffung eines eigenständigen Gesetzes, mit dem die formelle Anknüpfung der Steuerbilanz an die nach nationalen Regeln erstellte Handelsbilanz beendet und eine stärkere Europäisierung der steuerlichen Gewinnermittlung angestrebt wird. Die internationalen Rechnungslegungsregeln (IAS/IFRS) stellen sich als nicht ausreichend heraus, um in die steuerliche Gewinnermittlung inkorporiert zu werden und als Grundlage für einen hoheitlichen Steuereingriff zu dienen. Sie werden zwar als Ausgangspunkt für die Uberprüfung der Tragfähigkeit der Lösungsvorschläge herangezogen, weil das LAS/IFRS-Regelwerk, soweit es das Endorsement-Verfahren der EU durchlaufen hat, die einzige Rechnungslegungskonvention darstellt, die als EU-Recht in allen Mitgliedstaaten Akzeptanz findet. Eine formale Anknüpfung an ein IAS/IFRS-Rechenwerk ist jedoch nicht vorgesehen. Grundvoraussetzung einer steuerlichen Gewinnermittlung bleiben die Ziele der Objektivierbarkeit und der Eigentumsschonung der Besteuerung.

Michael Eilfort: Steuerstrukturen reformieren statt an Steuersätzen schrauben 187

Das Gesetz zur Steuerlichen Gewinnermittlung (StGEG) fuhrt mit einer einheitlich geordneten und stringent nach Prinzipien ausgerichteten Systematik wesentlich zu einer Vereinfachung des deutschen Steuerrechts. Zugleich leistet es einen Beitrag zur Fortentwicklung der steuerlichen Harmonisierung innerhalb Europas unter aktiver Beteiligung Deutschlands. Insgesamt steht es für mehr Transparenz und Wettbewerb im Sinne einer identischen Bemessungsgrundlage und nicht gleicher Steuertarife mit dem Ziel einer eigentumsschonenden und objektivierbaren Besteuerung. Das Einkommensteuerrecht verkörpert indessen in der Steuerlehre das zentrale Recht der Leistungsgerechtigkeit und der Solidarität. Diese Prinzipien — Leistungsfähigkeit, Gleichbehandlung, Neutralität und Transparenz — müssen wieder hervortreten. Das Einkommensteuergesetz muss einfacher, klarer und damit verständlich werden. Auf diese Weise kann es Gerechtigkeit schaffen und Akzeptanz finden. Über das Verhältnis von direkten und indirekten Steuern am Gesamtaufkommen nachzudenken darf kein Tabu sein. Viele intensive Reformdiskussionen sind entstanden, und verdienstvolle Vorschläge wurden gemacht. Entscheidende Schritte sind bislang jedoch seitens der Politik ausgeblieben. Der Steuerdschungel hat sich noch nicht gelichtet. Das mag daran liegen, dass bislang zuviel über Steuersätze und zuwenig über Steuerstrukturen gesprochen wurde. Vielleicht überlagerte zu oft das Wunschdenken und Streben, mit dem Steuersystem Gesellschaftspolitik zu betreiben, die wirtschaftliche Vernunft. Allzu lange haben wir uns der Illusion von herstellbarer Einzelfallgerechtigkeit hingegeben und zu häufig tagespolitischer Kurzatmigkeit unterworfen. Der Standort Deutschland hat dabei verloren und die Menschen auch: Alle fühlen sich heute benachteiligt. Eine wirkliche Vereinfachung hat genauso wenig stattgefunden wie die notwendige europäische Harmonisierung wichtiger Kernbausteine. Es gilt also die Chance zu nutzen, dass endlich ein breites öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit einer weitgehenden Steuerreform besteht — dank der Vorarbeiten vieler Initiativen, der Wissenschaft und der Politik. Nicht zuletzt durch die Arbeit der Kommission „Steuergesetzbuch" unter dem Dach der Stiftung Martktwirtschaft liegen konkrete Vorschläge vor, die im Sinne einer Vereinfachung des Steuersystems und somit für mehr Wettbewerbsfähigkeit stehen. Mit dieser Arbeit wurde zu einem Klima in der Bevölkerung beigetragen, das längst — und unabhängig von der politischen Couleur — von breiterer Einsicht getragen ist als das Handeln betroffener Interessengruppen. Es ist nun an der Politik, das steuersystematisch Gebotene sowie ökonomisch Sinnvolle mit dem Finanzierbaren zu verbinden. Dafür ist ein Steuersystem vonnöten, das Freiheit zulässt, Wettbewerb ermöglicht und Leistung belohnt.

188 Steuern und Steuerpolitik

Vorreiter eines freiheitlichen Steuersystems Hermann Otto Solms* Steuern als konfiszierte Freiheit — so hat Otto Graf Lambsdorff einmal den Zugriff des Staates auf privates Einkommen beschrieben. Das ist der prononcierte Ausdruck einer Haltung, die immer eintrat für eine maßvolle Besteuerung, für ein Beschränken des Staates. Zweierlei Ausgangspunkte werden ihn in dieser Haltung bestärkt haben: Da ist zum einen sein freiheitliches, liberales Menschenbild und Staatsverständnis. Zum anderen sind es Prinzipien und Überzeugungen, die in einer wirtschaftspolitischen Tradition wurzeln, die wir als Ordnungspolitik kennen und welche die Aufgaben des Staates seit jeher kritisch beleuchtete. Beide Aspekte mündeten schließlich in eine konkrete Politik: Die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Auch hier spielt die Reduzierung der Steuerlast eine bedeutende Rolle. /. Die Unersättlichkeit des Steuerstaates „Der Verfassungsstaat sollte den Staat — auch den demokratischen Staat — so begrenzen, dass er nicht die Freiheit des Einzelnen verletzt. Er hat dies in vielen Bereichen auch geschafft. Im Bereich der Sozialsysteme, der Besteuerung und der Finanzpolitik hat er es eindeutig nicht." So der zutreffende Befund von Otto Graf Lambsdorff. Er hat sich vielfach zu den Ursachen geäußert. Eine liegt in der Eigenart der Steuer als staatlicher Einnahmequelle begründet. Bei der Besteuerung besteht ex definitione keinerlei Verbindung zwischen der zwangsweisen Abgabe und dem, was der Staat als Gegenleistung dafür anbietet. Der Zwangscharakter und das enteignende Moment beschneiden unweigerlich das individuelle Recht auf Selbstbestimmung und schränken den privaten Spielraum ein. Im Verhältnis Staat und Individuum hat daher der Liberale stets die Tendenz, den Zugriff des Staates abzuwehren. Sein Ausgangspunkt ist der Anspruch des Individuums. Ein kollektiver Anspruch des Staates kann für ihn nicht Ausgangspunkt sein, denn „der Staat kann nichts tun, kann nichts leisten, was nicht aus der Kraft seiner Bürger fließt" (Ludwig Erhard). Wie berechtigt diese Abwehrhaltung ist, zeigt sich, wenn man die Eigendynamik des Steuerstaates beobachtet. Bereits 1893 hat der zur Gruppe der „Kathedersozialisten" zugehörende Finanzwissenschafder Adolph Wagner ein „Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit" entwickelt und für den Fall der „fortschreitenden Kulturvölker" * Dr. Hermann Otto Solms, MdB, ist finanzpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und Bundesschatzmeister der FDP.

Hermann Otto Solms: Vorreiter eines freiheitlichen Steuersystems 189

begründet. Zumindest seit dem 1. Weltkrieg hat sich das Wagner'sche Gesetz über die Jahre hinweg als zutreffend erwiesen. Der Anteil des Staates am Sozialprodukt ist beständig gestiegen, immer neue Aufgaben, insbesondere im sozialen Bereich kamen hinzu. Alle modernen Wohlfahrtsstaaten haben eine Tendenz des Ausuferns. Ihre Umverteilungsmechanismen sind bürokratisiert und anonymisiert. Es gibt keinen unmittelbaren und spürbaren Zusammenhang zwischen Abgabenzahlung und Gegenleistung. Die undurchschaubaren Umverteilungsmechanismen des deutschen Steuer- und Sozialsystems geben systematisch falsche Anreize. Es gibt eine Asymmetrie der Interessenslagen. In einem demokratischen Staat befindet sich jeder Bürger prinzipiell in einer Doppelrolle: als „tax payer" und als „tax eater". Unser Steuersystem ist jedoch so strukturiert, dass es die Lasten anders verteilt als die Leistungen. Zehn Prozent der Steuerzahler finanzieren über fünfzig Prozent des Aufkommens. Demgegenüber ist die Stimmenanzahl der „tax eater" an der Wahlurne erheblich höher. Für den Nutznießer ist es ökonomisch rational, mehr Leistungen vom Staat zu verlangen. Für den Politiker ist es im Kampf um Stimmenanteile politisch rational, diese Wünsche zu bedienen. Die negativen Folgen dieser kurzfristigen Gefälligkeitspolitik zeigen sich erst viel später. Die kurzfristigen, besser gesagt: kurzsichtigen Interessenlagen treiben den Staatsanteil in die Höhe. Wohin uns das führt, hat Gerald R. Ford prägnant beschrieben: „A government big enough to give you everything you want is a government big enough to take from you everything you have. " 2. Steuerpolitik als Ordnungspolitik Die Gründe der Abgabendynamik sind vielfältig. Der Wirtschaftspolitiker Otto Graf Lambsdorff stand immer in der vordersten Front derer, die diese Auswüchse bekämpfen wollten. Dabei war er durchaus realistisch: „Der Kampf gegen den Steuerstaat wird nie enden", befand er. Stets war sein wirtschaftspolitisches Handeln den Grundsätzen der Ordnungspolitik verpflichtet. Die Steuerpolitik sah er nicht isoliert, sondern stellte sie in den Gesamtzusammenhang der freiheitlichen Ordnung der sozialen Marktwirtschaft. Steuerpolitik dient nicht allein fiskalischen Zwecken oder staatlichen Umverteilungszielen. Das Steuerrecht ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. „Welch Geistes Kind ein Volk ist, auf welcher Kulturstufe es steht, wie seine soziale Struktur aussieht, was seine Politik für Unternehmungen vorbereiten mag — das und viel anderes steht phrasenbefreit in der Finanzgeschichte." Diese Worte stammen von Joseph Schumpeter. Das Steuerrecht definiert den Rahmen für wirtschaftliche Dynamik, für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Anders ausgedrückt: Steuerpolitik ist Ordnungspolitik.

190 Steuern und Steuerpolitik

Als Otto Graf Lambsdorff 1977 Wirtschaftsminister der sozial-liberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt wurde, war die Ordnungspolitik seit geraumer Zeit ins Hintertreffen geraten. Es ist sein Verdienst, dass sie wieder als Maßstab des wirtschaftspolitischen Handelns in das öffentliche Bewusstsein rückte. Vorangegangen war eine Epoche, die von den Ideen einer keynesianisch orientierten Machbarkeitspolitik geprägt war. Die Ausweitung der Staatstätigkeit wurde nicht als Risiko, sie wurde als Chance gesehen. Die Sozialdemokraten wollten „den Staatskorridor" ausweiten, den Wohlfahrtsstaat ausbauen. Der linke Flügel der Sozialdemokraten war angetreten, die Belastbarkeit der Wirtschaft auszutesten. Das so genannte Lambsdorff-Papier, das 1982 die wirtschaftspolitische Wende einleitete, setzte Maßstäbe, die eine neue Regierungskoalition erforderten. Das Denken in ordnungspolitischen Bezügen erlebte nun eine Renaissance — im neuen Gewand der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Beflügelt von den wirtschaftspolitischen Erfolgen der Reaganomics in den USA oder auch des Thatcherismus in Großbritannien, fand die angebotsorientierte Politik in Deutschland ihren wirtschaftspolitischen Niederschlag. Wir verdanken es Otto Graf Lambsdorff, dass die Angebotspolitik ihren Weg aus den Studierzimmern der Wissenschaft in die reale Politik nahm. Eine Verbesserung der Angebotsbedingungen muss an vielen Punkten ansetzen, und sie muss dies konsistent, kohärent und stetig tun. Diesen Grundsatz hat sich Otto Graf Lambsdorff als Wirtschaftspolitiker zu eigen gemacht. Das Wendepapier war als ein schlüssiges Gesamtkonzept formuliert, auf mehrere Jahre angelegt und sollte in den Eckwerten gesetzlich abgesichert werden. Die Überwindung der Wachstumsschwäche und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurden ins Zentrum gestellt. Es zielte zum einen auf alles, was den individuellen Ertrag des Wirtschaftens beeinflusst und damit auf die Neigung oder Fähigkeit zu arbeiten, zu sparen, innovativ zu sein oder Risiken zu übernehmen, zum anderen auf alles, was die Bewältigung des Strukturwandels, die Anpassung an veränderte Rahmendaten oder Marktgegebenheiten mitbestimmt. Dazu gehörte neben anderen Aspekten die zu hohe Steuer- und Abgabenlast. Denn in der Steuerpolitik liegt mittel- und langfristig ein wichtiger Schlüssel zu mehr Wachstum und Beschäftigung, wenn sie eingebettet ist in ein stimmiges wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept. Die Flexibilität des Arbeitsmarktes, die Tarifpolitik und die Anreize zur Arbeitsaufnahme, die von den sozialen SicherungsSystemen ausgehen, können die Wirkungen der Steuerpolitik auf Wachstum und Beschäftigung bremsen oder fördern. Das Lambsdorff-Papier enthielt im Kern bereits eine neue Ausrichtung der Steuerpolitik, die sich in den nächsten Jahren mehr und mehr durchsetzte: Die Wachstumsorientierung der Steuerpolitik. Eine wachsende Wirtschaft fuhrt aber letztlich auch zu wachsenden Steuereinnahmen.

Hermann Otto Solms: Votreiter eines freiheitlichen Steuersystems 191

3. Wachstumsorientierte Steuerpolitik Es lässt sich auch für die Steuerpolitik seit Anfang der 80er Jahre ein Paradigmenwechsel beobachten. Statt weiterhin die Grenzen auszuloten, bis wohin man die Besteuerung ausdehnen kann, ohne die Leistungsbereitschaft völlig „abzuwürgen", setzten sich vielmehr Gesichtspunkte durch, die das Steuersystem als Standortfaktor im internationalen Wettbewerb anerkannten. Mittlerweile betrachten alle ernstzunehmenden Reformvorschläge das Steuerrecht unter dem Blickwinkel der Wachstumspolitik. Die individuelle Leistungsbereitschaft gilt nicht mehr als begrenzender Faktor einer möglichst hohen Besteuerung, sondern als Wachstumspotential, das es anzuregen gilt. Welches sind die wichtigsten Forderungen an eine wachstumsorientierte Steuerreform? •

Um Arbeits- und Investitionsanreize zu stärken, müssen die Steuern auf Einkommen oder Erträge gesenkt werden. Sinkende Grenzsteuersätze bewirken hier starke Leistungs- oder Sparanreize und sind damit die Voraussetzung für zusätzliches Einkommen. Das wiederum bedeutet in der Summe eine breitere Steuerbasis. Auf diese Weise wird es möglich, wirtschaftliche Aktivität lohnender zu machen, aus der Schattenwirtschaft zurückzuholen und die Ansiedlung von Unternehmen in Deutschland attraktiver zu machen.



Das Steuersystem muss vereinfacht werden. Das ist nicht nur psychologisch wichtig, sondern senkt auch in erheblichen Umfang die Kosten der Steuererhebung für Steuerzahler und Steuerverwaltung. Vereinfachung führt zu größerer Planbarkeit und Verlässlichkeit und ist eine zentrale Voraussetzung, das Vertrauen der Bürger in einen fairen Steuerstaat zurückzugewinnen.



Das Steuerrecht muss neutral sein. Das gilt im Hinblick auf die persönliche Lebensführung wie auf wirtschaftliche Entscheidungen in Unternehmen, die nicht durch das Steuerrecht verzerrt werden dürfen. So werden fehlgeleitete, ineffiziente Entwicklungen vermieden.



Die Steuerpolitik muss mit einer soliden und nachhaltigen Haushaltspolitik verbunden sein. Die Ausgaben müssen sich nach den Einnahmen richten - nicht umgekehrt. Die Struktur der staatlichen Ausgaben muss verbessert werden. Der Anteil der konsumtiven Ausgaben muss reduziert werden.



Eine Umschichtung des Steuersystems hin zu mehr indirekten Steuern kann weitere Wachstumsimpulse geben. Indirekte Steuern sind aus zwei Gründen nicht so wachstumsfeindlich: sie wirken weniger progressiv als direkte Steuern und beeinträchtigen daher die Arbeits- und Investitionsanreize weniger. Zweitens sind sie weniger fühlbar und provozieren daher weniger Ausweichreaktionen.

192 Steuern und Steuerpolitik

Diese Kriterien, die den heutigen Stand der Diskussion kennzeichnen, waren bereits im Lambsdorff-Papier von 1982 enthalten. Seine steuerpolitischen Leitlinien waren damals: Kein weiterer Anstieg der Steuerlastquote, Korrektur investitionsschädlicher Strukturen, dazu gehört die Rückführung ertragsunabhängiger Steuern, die Reform der Gewerbesteuer und die Abschaffung der Vermögensteuer. Außerdem war geplant, die übermäßige Belastung der Löhne und sonstiger Einkommen durch „normale" und „inflationsbedingte" Progressionswirkung der Einkommensteuer zurückzuführen. Das zielte auf den Tarifverlauf. Als Kompensation der Steuermindereinnahmen, soweit sinnvoll, war an eine Anhebung der Mehrwertsteuer gedacht. Das Gewicht der indirekten gegenüber den direkten Steuern sollte gestärkt werden. Diese Vorstellungen fanden schließlich ihre konkrete Ausformulierung in der dreistufigen Großen Steuer-Reform 1986/1988/1990, die die Koalition aus Christdemokraten und Liberalen durchsetzte. 4. Beispiel einer wachstumsorientierten Steuerreform 1986/1988/1990 In den achtziger Jahren war die Finanzpolitik gefordert, die Staatsfinanzen zu sanieren, insbesondere galt es, das Finanzierungsdefizit zu beseitigen. Das ging nur mit einer konsequenten Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, die auf der Ausgabenseite ansetzte. Das strukturelle Defizit ging zurück und konnte bis zum Jahr 1989 vollständig abgebaut werden. Die Staatsquote wurde um 4,3 Prozent auf 45,8 reduziert. Die dreistufige Steuerreform hatte vor allem angebotsorientierte Wirkungen. Das Kernstück der Steuerreform war die Änderung des Steuertarifs. Er war bis 1985 durch einen gewölbten Verlauf gekennzeichnet, den so genannten Mittelstandsbauch. Die Folge war, dass besonders im mitderen Bereich die Einkommenszuwächse einem steil ansteigenden Grenzsteuersatz unterlagen. Diese leistungsfeindliche Tarifstruktur wurde mit einem linear-progressiven Tarif beseitigt. Es trat eine Steuerentlastung auf breiter Front ein, wobei der Schwerpunkt bei den unteren und mitderen Einkommen lag. Durch gezielte Steuerendastung wurde das Wachstum nachhaltig gefördert und generierte mittelfristig ein deutlich höheres Steueraufkommen. Die Steuerzahler wurden um rund 60 Milliarden DM endastet. Von 1983 bis 1990 stieg die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 19,9 Millionen auf 22,2. Das Steuermehraufkommen betrug trotz der Senkung der Steuersätze 100 Mrd. DM. Diese erfolgreiche Steuerreformpolitik verbesserte die Leistungsbereitschaft des Einzelnen und die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Wirtschaft. Sie entsprach der Grundidee ordnungspolitischen Denkens: Die Aufgabe des Staates ist es, mit verlässlichen ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen private Initiative zu ermuntern. Neue wirtschaftliche Dynamik kann nur vom privaten Sektor ausgehen. Deshalb ist es richtig, den Zugriff des Staates auf die gesamtwirtschaftliche Produk-

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tion zu beschränken. Otto Graf Lambsdorff ließ sich immer von dieser Grundüberzeugung leiten. Eine Politik, die auf Marktwirtschaft und Wettbewerb setzt, dient der Freiheit des Einzelnen und erfüllt zugleich einen übergeordneten Zweck, indem sie Wachstumskräfte freisetzt. Steuerreformpolitik, die sich diesen Leitgedanken zu Eigen macht, ist im Interesse aller. Das gilt uneingeschränkt auch heute. Das ordnungspolitische Leit- und Vorbild Otto Graf Lambsdorffs war uns Ansporn, einen in diesem Sinne radikalen Steuerreformvorschlag für die Liberalen zu entwickeln, im Bundestagswahlkampf 2005 vorzustellen und schließlich 2006 in das Parlament einzubringen, auch wenn die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse die Verwirklichung einer solchen Reform erneut verhindern.

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Der Sozialstaat in der Krise

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Bürgergeld versus Kombilohn? Joachim Mitschke

*

Niemand im politischen Raum hat die Beschäftigungs- und Grundsicherungsvorzüge einer integrierten Neuordnung von direkten Steuern und steuerfinanzierten Sozialleistungen früher erkannt und das Konzept energischer gegen Widerstände vertreten und intensiver gefördert als Graf Lambsdorff. 1 Der Vorschlag der nachgelagerten Besteuerung von Unternehmensgewinnen und sonstigen Einkünften wendet sich vorrangig gegen die konjunktur- und wachstumsbedingte Beschäftigungsschwäche in Deutschland, der Entwurf des steuerintegrierten Bürgergelds gegen die strukturbedingte Arbeitslosigkeit und Existenznot beruflich geringqualifizierter Mitbürger im Niedriglohnsegment. Bei diesen Vorschlägen habe ich indes mindestens zwei politische Fehler gemacht. Zum einen habe ich das Konzept der durchgängig nachgelagerten Gewinn- und Einkommensbesteuerung aus dem verengten Blickwinkel der wissenschaftlichen Erörterung ein Konsumsteuer-Konzept genannt. Dies war und ist zwar inhaltlich zutreffend, hat aber neben den mittlerweile ausgeräumten Finanzierungsbedenken 2 als Etikett in der Öffentlichkeit irrige Vorstellungen und Assoziationen über die Art und Methodik der Besteuerung hervorgerufen. Und zum zweiten habe ich beim * Prof. Dr. Joachim Mitschke hat den Lehrstuhl für Wirtschaftsforschung und Wirtschaftsberatung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. inne. 1 Aus der Fülle von einschlägigen Lambsdorff-Beiträgen: Bürgergeld schafft Anreize für reguläre Erwerbsarbeit, in: Handelsblatt, Nr. 105 vom 03./04. 06. 1994; Hätten wir doch eine Job Crearion Machine — Lohn und Beschäftigung: Lehren aus Amerika/Eine Alternative: Bürgergeld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 28 vom 02. 02. 1996; Manchmal fasse ich mich an den Kopf: Steuerreform, Koalition, Arbeitslosigkeit, der Euro und der Streit mit Frankreich: ein ZEIT-Gespräch mit Otto Graf Lambsdorff, in: DIE ZEIT, Nr. 6 vom 31. 01. 1997; Deutschland muss wieder ordnungspolitische Nummer eins werden - Das Erbe Ludwig Erhards/Soziale Marktwirtschaft als weltoffene Wettbewerbsordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 205 vom 04. 09. 2001; Liberalismus und soziale Verantwortung, in: liberal-Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 43. Jg., Heft 2/Juni 2001, S. 6-9; Politik als Kunst des Unmöglichen? Aus Visionen eine liberale Bürgergesellschaft schmieden, in: Perspektiven eines modernen Steuerrechts. Festschrift für Hermann Otto Solms (Hrsg. P. Kirchhof, Otto Graf Lambsdorff, A. Pinkwart), Berlin 2005, S. 347353, insbes. S. 353, Anm. 10. 2 Fuest, C., Peichl, A., Schaefer, Th.: Steueraufkommens-, Beschäftigungs- und Wachstumswirkungen einer Steuerreform nach dem Vorschlag von Joachim Mitschke (2004). Gutachten im Auftrag der Humanistischen Stiftung, Frankfurt a. Main. Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln. Köln 2005 (Mikrosimulation auf der Basis von nahezu 3 Millionen amtlichen Steuerfällen). Der entsprechende Vorschlag findet sich in: Mitschke, J.: Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts. Gesetzestextentwurf und Begründung. Mit einer Grundsicherungsvariante. Köln 2004.

Joachim Mitschke: Bürgergeld versus Kombilohn? 197

steuerintegrierten Bürgergeld unterschätzt, dass ich es mit den Widerständen gleich zweier Klassen von Fachpolitikern und Bedenkenträgern zu tun bekomme: den Steuer- und Finanzpolitikern einerseits und den Sozialpolitikern andererseits. Die ersteren kümmern sich nur am Rande um die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ihres Inkassogeschäfts und die letzteren widmen der Finanzierung ihrer Wohltaten nur flüchtige Aufmerksamkeit. Solche Ressortverengung macht es fachübergreifenden, vernetzten Neuordnungskonzepten besonders schwer. Trotz der fundamentalen Gleichrichtung der wirtschaftspolitischen Agenda von Lambsdorff und meinen wissenschaftsgeprägten Neuordnungsvorstellungen kommt es doch zu einer Reihe von konkreten Gestaltungsdivergenzen, die zu verschweigen dem aufrechten und aufrichtigen Lebenswerk von Lambsdorff schlecht anstünde. Die Ursache solcher Auffassungsunterschiede ist nicht zuletzt darin zu suchen, dass die Gewichtung von Argumenten im politisch-parlamentarischen Koordinationsund Beschlussprozess anders ausfallt als in einem von Systematik und sachbezogener Wirkungsanalyse geleiteten Wissenschaftskonstrukt. Ich will solche Gestaltungsdivergenzen an einem der jüngsten Aufsätze von Lambsdorff „Bürgergeld statt Kombilohn" vom März 20063 exemplarisch aufzeigen. Zunächst bedarf es einiger begrifflicher Klarstellungen, wie sie auch Lambsdorff einleitend für nötig befindet. Zu Recht merkt er an, dass eine Kombination von Markdohn und staatlicher Transferleistung nicht ein Kombilohn-Konzept, sondern ein Kombieinkommen-Konzept genannt werden sollte. So hatte es auch der Schöpfer des Ausdrucks, das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, in einer Folgeanalyse meines ersten detaillierten Entwurfs einer integrierten Steuer- und Transferordnung4 im Jahre 1994 bezeichnet.5 Da sich aber der Ausdruck „Kombilohn" eingebürgert hat, will ich es dabei belassen. Missverständlicher ist freilich der Umgang mit der Bezeichnung „Bürgergeld". Nicht nur, dass in der anderweitigen öffentlichen Diskussion das Etikett bis zur Bezeichnung von Ideen eines bedingungslosen, pauschalen und unfinanzierbaren6 Grundeinkommens verschludert wird, es ist auch zu unterscheiden zwischen einer allumCicero-Magazin für politische Kultur. Online Exklusiv www.cicero-global.com vom 05. 03. 2006, S. 1-3. 4 Mitschke, J.: Steuer- und Transferordnung aus einem Guß. Entwurf einer Neugestaltung der direkten Steuern und Sozialtransfers in der Bundesrepublik Deutschland. Schriften zur Ordnungspolitik, Hrsg. Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung e. V. und Kronberger Kreis, Bd. 2. Baden-Baden 1985. 5 iwd (Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft): Untere Lohngruppen - Das Kombi-Einkommen, Nr. 12 vom 24.03.1994, S. 4-5. 6 Bereits ein ungenügender Grundbetrag von durchschnittlich 500 € pro Monat erfordert bei 82,5 Millionen Bundesbürgern ein jährliches Transfervolumen von 500 x 12 x 82,5 Mio. = 495 Mrd. €. Das gesamte Steueraufkommen der Republik betrug 2005 489,2 Mrd. €. 3

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fassenden, steuerfinanzierten und nach typisierten Bedürfnismerkmalen differenzierten Grundsicherung und der nur auf den Niedriglohnsektor abzielenden, verschlankten Bürgergeldversion, wie ich sie 2001 als eine auf der Lohnsteuerkarte zu vermerkende Steuergutschrift vorgestellt habe.7 Das umfassende Bürgergeldkonzept, das die heutigen steuerfinanzierten Sozialleistungen (Kindergeld, Erziehungsgeld, Wohngeld, Ausbildungsförderung, Alters-Grundsicherung, Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe) als einen mit der Einkommens- und Lohnbesteuerung verbundenen, differenzierten Universaltransfer ersetzen soll, ist natürlich im Niedriglohnbereich zugleich ein Kombilohn-Modell, beschränkt sich aber nicht auf Leichtlohnempfänger, sondern erfasst alle Fälle von Einkommens- und Vermögensarmut. Mir wurde schnell deutlich, dass es wegen der gewaltigen politischen Hindernisse einer integrierten Neuordnung des Steuer- und Transfersystems notwendig war, den Umbau der steuerfinanzierten Grundsicherung von der über Jahre vernachlässigten und öffentlich nicht diskutierten Steuerreform abzukoppeln. Es stellte sich indes mit der Wiederabschaffung der eingeführten Finanzamtslösung beim Kindergeld weiter heraus, dass auch für die Umsetzung einer in die bestehende Einkommens- und Lohnbesteuerung eingebauten Bürgergeldversion („duales Integrationsmodell")8 die Überzeugungen und Kräfte einer Partei nicht ausreichen. So lassen sich politische Durchsetzungschancen allenfalls für ein auf den Niedriglohnsektor beschränktes, auf dem Bürgergeldgedanken fußendes Kombilohn-Modell absehen. Dass aber selbst diese abgemagerte Bürgergeld-Variante den wirtschafts- und sozialpolitischen Marginalismus schwarz-gelber, rot-grüner und jetzt schwarz-roter Regierungskoalitionen überfordert, erhellt der Umstand, dass sowohl der Bundesarbeitsminister, die CDU/CSU als auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen eine Beschränkung der jetzt geplanten Kombilohn-Maßnahmen auf Arbeitslose unter 25 und/oder über 50 Jahre oder Langzeitarbeitslose ohne Schulabschluss vorsehen. Aus solchen Gründen stellt die im Lambsdorff-Aufsatz „Bürgergeld statt Kombilohn" angedeutete Problemlösung entweder eine unscharf formulierte oder vorläufig politisch nicht durchsetzbare Alternative dar. Der beobachtbare und vorhersehbare Misserfolg amtlicher Kombilohn-Experimente und Kombilohn-Pläne (Mainzer Modell, Saar-Modell, Elemente von Hartz IV, so etwa das Einstiegsgeld nach § 29 SGB II, geplante Kombilohn-Modelle des BundesPolitische Optionen der Bürgergeld-Konzeption, liberal Report des Liberalen Instituts. Potsdam 2001, S. 18-25. 8 Mitschke, J.: Steuer- und Sozialpolitik für mehr reguläre Beschäftigung, in: Wirtschaftsdienst, 75. Jg., 1995, Heft 2, S. 81-82. Auch das „Liberale Bürgergeld" der Pinkwart-Kommission verbindet die Neuordnung der Grundsicherung nicht systemimmanent mit einer Steuerreform: KoBüNE (Kommission Bürgergeld/Negative Einkommensteuer): Das liberale Bürgergeld: aktivierend, transparent und gerecht. Ergebnispapier der Kommission. Berlin 2005. 7

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arbeitsministers, des Landes Nordrhein-Westfalen und der CDU/CSU) spricht nicht gegen die Modellrichtung, sondern erklärt sich aus gravierenden Gestaltungsdefiziten. Folgende Gestaltungsmerkmale sind erfolgsentscheidend: 1. Die staatliche Lohnergänzung sollte präventiv wirken und nicht erst greifen, wenn Arbeitslosigkeit bereits entstanden ist. Dazu muss sie bedarfsorientiert, ermessensfrei, transparent und einfach kalkulierbar sowie bürokratiearm sein. Und wenn schon nicht unbefristet, so hat sie doch dem längerfristigen Dispositionshorizont von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu entsprechen (mindestens 5 Jahre), damit sich noch beschäftigte, geringqualifizierte Arbeitnehmer vor der drohenden Kündigung auf produktivitätsgemäße, niedrige Löhne einlassen können. Die bisherigen und geplanten Modelle reparieren notdürftig, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, können im übrigen auch nicht die soziale Ausgrenzung verhindern. Prävention anstatt Reparatur ist gefragt. 2. Beim Lohnzuschuss an den Arbeitnehmer muss es ihm tarifrechtlich erlaubt sein, seine Lohnforderung entsprechend zu senken, zumindest nicht zu erhöhen. Dies setzt, wo noch nicht geschehen, eine Tariföffnung in den Grenzen des Niedriglohnbereichs voraus. Über sie können nach vorliegenden Schätzungen 1 V2 bis 2 Millionen Arbeitsplätze vorwiegend im Dienstleistungsbereich erschlossen werden. 3. Die gewerkschaftliche Maxime, dass Arbeit ihre Frau oder ihren Mann ernähren muss, ist arbeits- und sozialethisch wohlbegründet, wird allerdings der globalisierten Arbeitsmarkdage nicht gerecht. Dort, wo der Lohn nicht zur Existenzsicherung reicht, greift als gesetzlich verankerte Vorbedingung eine Lohnergänzung mit den hier geforderten Merkmalen. Der Lohnzuschuss muss bedeutsam sein, damit sich der Arbeitsplatz für das Unternehmen rechnet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Bruttolohnzuschuss von beispielsweise 30 % die Arbeitskosten wegen der Lohnnebenkosten nur zu 17,6 % senkt (30 : 1,7). 4. Wer arbeitet, muss sich finanziell deutlich besser stellen als der, der sich nur auf Transferleistungen der staatlichen Gemeinschaft verlässt. 5. Mitnahmeeffekte zu Lasten der Steuerzahler sind durch geeignete und bekannte selbstregulative Vorkehrungen zu vermeiden. 6. Die staatliche Lohnergänzung sollte sich nicht nur, wie in Regierungs- und Parteiplänen, an jugendliche Arbeitslose unter 25 Jahre und/oder an ältere Arbeitslose über 50 Jahre richten. Dies schöpft die Beschäftigungschancen nur zu einem bescheidenen Bruchteil aus und ist außerdem finanzpolitisch nicht erforderlich (siehe unten 8.).

200 Der Sozialstaat in der Krise

7. Transparenz und Bürokratiearmut sind über den finanzamtlichen Eintrag einer von Sozialmerkmalen, Bruttolohn und Steuerklasse abhängigen Steuergutschrift auf der Lohnsteuerkarte erreichbar (siehe auch den beschäftigungswirksamen amerikanischen Earned Income Tax Credit oder den erfolgreichen britischen Working Families Tax Credit). Der Arbeitgeber zahlt die Steuergutschrift mit dem Lohn des Arbeitnehmers aus und verrechnet die Steuergutschrift mit der für die anderen Arbeitnehmer abzuführenden Lohnsteuer. 8. Die Lohnergänzung ist aus Steuern zu finanzieren. Da 100.000 anspruchsberechtigte Arbeitslose nach den Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit 1,9 Milliarden Euro an direkten Transferleistungen sowie an Beitrags- und Steuerausfällen kosten9, steht bereits bei nur 500.000 in Arbeit belassenen oder in Arbeit gebrachten Leichtlohnempfangern ein Finanzierungsvolumen von 9,5 Mrd. € zur Verfügung. Die Gesellschaft finanziert Arbeit statt Arbeitslosigkeit, und dies weit kostengünstiger: So erforderte etwa ein durchschnittlicher Lohnzuschuss von 400 € pro Monat für 500.000 anspruchsberechtigte Leichtlohnempfanger ein Finanzierungsvolumen (ohne Administrationskosten) von 2,4 Mrd. €. Freilich beschränkt sich das finanzpolitische Reform-Raisonnement zu Lasten der Gesellschaft regelmäßig auf die etatistischen Einzelergebnisse der jeweils vertretenen Gebiets- oder Versicherungskörperschaft, anstatt dass eine Neuordnung sich auf ein angebrachtes gesamtwirtschaftliches und periodenübergreifendes Haushaltskalkül stützt. Mindestlöhne unterhalb von produktivitätsgerechten, wettbewerbstauglichen und markträumenden Löhnen sind wirkungslos. Liegen sie darüber, vernichten sie Arbeitsplätze. Die Schutzfunktion von Mindestlöhnen übernimmt die hier umrissene staatliche Lohnergänzungsleistung mit den geforderten Merkmalen. Die Erfahrungen mit Mindestlöhnen in anderen Ländern sind unerheblich, weil diese Erfahrungen auf abweichenden Sozialsystemen und Arbeitsmarktregelungen beruhen. Lambsdorff erkennt den entscheidenden Mangel ungenügender unternehmerischer Arbeitsnachfrage zu geltenden Tariflöhnen, macht dann aber doch Konzessionen an den wirtschaftspolitischen und wirtschaftsliterarischen Zeitgeist einer auf das Arbeitsangebot (die Arbeitssuche) fokussierten Arbeitsmarktpolitik.10 So unzweifelhaft es geboten ist, dass die Arbeitsmarkt- und Sozialordnung Anreize zur Aufnahme und Fortsetzung von Arbeit setzt sowie Vorbeuge gegen Missbrauch von staatlichen Lohnergänzungs- und Sozialleistungen unter erträglichen Bedingungen vorsieht, so zweitrangig ist die ganze

9 Zahlen-Fibel. Übersicht 7.1.1: Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit in Deutschland in den Jahren 1 9 9 7 - 2 0 0 3 ; Stand Mai 2004 10 Cicero (Anm. 3), S. 2 und 3.

Joachim Mitschke: Bürgergeld versus Kombilohn? 201

Stoßrichtung. Schließlich mangelt es in Deutschland nicht an Bürgern, von denen mindestens 6 Millionen händeringend eine Arbeit suchen, sondern an Unternehmen, die Arbeitsplätze stellen. Den Mangel an solcher Arbeitsnachfrage verantwortet im Niedriglohnbereich nicht Konjunktur- und Wachstumsschwäche, sondern die Disparität zwischen der Arbeitsproduktivität beruflich Geringqualifizierter und den entsprechenden tariflichen Arbeitskosten der Unternehmen, bei denen sich zum Bruttolohn 62 % in Ostdeutschland und 71 % in Westdeutschland an Lohnnebenkosten addieren. Ohne eine flächendeckende, nicht nur auf einzelne Betriebe oder Branchen bezogene Tariföffnung im Niedriglohnsegment, welche niedrige, produktivitätsorientierte und markträumende Löhne erlaubt, richten auch Kombilohn-Modelle nichts aus. Da aber liegt der politische Haken: Wenn die Gewerkschaften von einer solchen partiellen Tariföffnung selbst bei Gewährleistung einer existenzsichernden, transparenten, bürokratiearmen und unbefristeten Lohnergänzungsleistung des Staates nicht zu überzeugen sind, welche Partei wagt dann eine verfassungsgemäße gesetzliche Beschränkung der Tarifautonomie11, die Wahlstimmen kostet? Die diffusen Erklärungen der schwarz-roten Regierungskoalitionäre zum gewerkschaftlich geforderten Mindestlohn, der nach der Einschätzung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium 2,4 Millionen Arbeitsplätze gefährden würde12, lassen da nicht auf einen entschiedenen Willen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit schließen.

Der erste Leitsatz zum BVerfG-Beschluß des Ersten Senats vom 27.04.1999 - 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95 lautet: „Gesetzliche Regelungen, die befristet Zuschüsse für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an die Vereinbarung von untertariflichen Entgelten knüpfen (Lohnabstandsklauseln), greifen zwar in die Tarifautonomie der Arbeitnehmerkoalitionen ein, können aber zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gerechtfertigt sein." 12 iwd (Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft): Gesetzlicher MindestlohnFörderprogramm für Schwarzarbeit, Nr. 21 vom 25. 05. 2006, S. 5. 11

202 Der Sozialstaat in der Krise

Anreizsysteme und die Reform der Krankenversicherung Einige Anmerkungen aus ökonomischer Sicht Hubertus Müller-Groeling* Mit meinen Anmerkungen in dieser Festschrift für Graf Lambsdorff möchte ich einen — wenn auch unvollkommenen — Beitrag dazu leisten, einen ganz außergewöhnlichen Mann zu ehren, ihm meine Bewunderung und meinen Dank auszudrücken. Die Weite seines Blicks, seine Verstandesschärfe und die fundamentale Offenheit für neue Ideen, aber auch seine Standfestigkeit in principüs haben sein Wirken für die deutsche und internationale Politik, für die liberale Bewegung und ganz besonders auch für die Friedrich-Naumann-Stiftung außerordentlich wertvoll gemacht. 1. Der Moral Hasard als Problem der Krankenversicherung. Die Kunst staatlicher Ordnungspolitik — und auf diesem Gebiet liegen ganz besondere Verdienste Graf Lambsdorffs — besteht darin, den Bürgern möglichst viel ihrer Freiheit zu lassen, andererseits aber die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass der Einzelne das Allgemeinwohl fördert, zumindest aber nicht dagegen verstößt, wenn er nach seinem eigenen Nutzen handelt. Wer die Krankenversicherung reformieren will, darf ihre Anreizsysteme nicht außer acht lassen. Und er muss sich eingestehen, dass eine der stärksten Triebfedern menschlichen Handelns der eigene Nutzen ist. Ohne dieses Eingeständnis, ohne einen kritischen Blick auf die Anreizsysteme, wird es nicht möglich sein, eine Reform der Krankenversicherung durchzuführen, die einerseits zur Beschränkung unproduktiver Kostendynamik beiträgt und andererseits die Wahlfreiheit auf diesem essentiellen Gebiet menschlicher Wohlfahrt erhält beziehungsweise einführt. Das Gruppenziel derjenigen, die sich gegen die wirtschaftlichen Risiken der Krankheit absichern, ist es, die Versicherungsbeiträge bei gegebenen Versicherungsleistungen möglichst gering zu halten. Allerdings besteht für den Versicherten nach Abschluss des Versicherungsvertrages ein Widerspruch zwischen dem Gruppenziel und seiner individuellen Anreizsituation (das sog. Isolierungsparadoxon).1 Die Leistungen sind für den Versicherten kosten* Prof. Dr. Hubertus Müller-Groeling war bis 1994 Vizepräsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Seit 1987 ist er Mitglied des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung. 1 s. M.Olson, The Logic of Collective Action, Cambridge/Mass. 1965, H.Müller-Groeling, Kollektivgutproblematik und Isolierungsparadoxon in der Krankenversicherung in: Külp/Stützel (Hrsg.), Beiträge zu einer Theorie der Sozialpolitik, Tübingen 1973.

Hubertus Müller-Groeling: Anreizsysteme und die Reform der Krankenversicherung 203

los, jedenfalls wenn man den Aufwand des Arztbesuches nicht rechnet. Daher bestehen für ihn der Anreiz zu einer verstärkten Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen (der sog. Moral Hazard) und die Tendenz, gegen das Gruppenziel zu verstoßen. Der in einer gesetzlichen Krankenkasse Versicherte erfährt (mit Ausnahme von Medikamentenpreisen und Praxisgebühr) noch nicht einmal etwas über seine Behandlungskosten. In der Krankenversicherung sind die Auswirkungen des Moral Hazard besonders gravierend, weil hier der Eintritt des Schadensfalles stärker subjektiv beeinflussbar ist als in anderen Versicherungen. Neben der Alterung der Bevölkerung, dem mangelnden Wettbewerb unter den Versicherungen und auf dem Markt für Medikamente sowie möglicherweise dem medizintechnischen Fortschritt (der allerdings durchaus auch kostensparend sein kann) ist der Moral Hazard einer der wichtigsten Gründe für die Dynamik von Ressourcenverbrauch und Kosten in Krankenversicherungssystemen. Besonders unter dem Gesichtspunkt der Kostendynamik ist die prozentuale Selbstbeteiligung das effektivste Mittel für eine Änderung der Anreiz Situation des Versicherten. Sie muss allerdings so ausgestaltet werden, dass sie Einkommensschwachen oder chronisch Kranken den Zugang zu ärztlichen Leistungen nicht verwehrt. Auch für den Arzt besteht ein Anreiz dazu, den Ressourcenverbrauch zu erhöhen. Er entscheidet auf Kosten der Versicherung darüber, ob und wie ausgiebig er seinen Patienten behandelt. Ohne Selbstbeteiligung ist der übliche wirtschaftliche Gegensatz zwischen Anbieter und Nachfrager auf dem Markt aufgehoben, weil der Nachfrager durch die Kosten nicht direkt betroffen ist. Das lässt auch dem niedergelassenen Arzt, der mit seiner Praxis normalerweise in Konkurrenz zu anderen Arztpraxen steht, viel Freiraum in seinen Entscheidungen. Jedenfalls gehen die Anreize klar in Richtung einer Erhöhung der Kostendynamik. Ökonomisch betrachtet, steht dem Arzt z. B. die Verschreibung medizinischer Leistungen, insbesondere auch von Medikamenten als - für ihn kostenloses — .Werbemittel' zur Verfügung. Ein niedergelassener Arzt, der sich bei Verschreibung von Medikamenten, beim Einsatz technischer Mittel (Apparatemedizin), aber etwa auch bei der Krankschreibung besonderer Zurückhaltung befleißigte, würde gegenüber seiner Konkurrenz in Nachteil geraten. Dass der Arzt dem Patienten in der GKV keine Auskunft über die von ihm verursachten Kosten zu geben braucht, dürfte nicht immer ohne Einfluss auf die Abrechnung bleiben. Das Honorarsystem, wie es in der GKV (zurzeit noch) angewendet wird, imitiert den marktmäßigen Zusammenhang zwischen Leistungsvermehrung und Preissenkung. Der Wert der vom Arzt erzielten Leistungspunkte wird erst nachträglich entsprechend der von der Kassenärztlichen Vereinigung ausgehandelten Honorarbudgets

204 Der Sozialstaat in der Krise

und der Gesamtzahl der ärztlicherseits erbrachten Leistungspunkte errechnet, so dass die Ärzte durch Ausdehnung ihres Leistungsangebots — analog zur Konkurrenz auf den Märkten — ihre eigenen Leistungen verbilligen. Allerdings - und das ist der entscheidende Nachteil — erfahren sie die Bewertung erst nachträglich. Außerdem versucht die Kassenärztliche Vereinigung, die Leistungsabgabe über das Anlegen von Quartalsdurchschnitten einzudämmen, ein Verfahren, das aber gegen eine allgemeine Tendenz der Leistungssteigerung nicht wirkungsvoll ist. Der Ersatz dieses ungerechten und ineffizienten Verfahrens durch eine neue Gebührenordnung mit fest bewerteten Leistungen, wie sie die geplante Gesundheitsreform vorsehen soll, wird ohne eine prozentuale Selbstbeteiligung weitere finanzielle Belastungen der Kassen zur Folge haben. Verstärkt wird dies durch die steigende Zahl der niedergelassenen Ärzte, die seit 1991 um ca. 33 % zugenommen hat. Dies zeigt zwar, dass der Arztberuf noch immer ökonomisch attraktiv ist, dürfte aber nicht ohne Auswirkungen auf die Leistungs- und Kostendynamik in der Krankenversicherung bleiben, weil die Ärzte versucht sein werden, ihre Leistungen auszuweiten. Die Meldungen über ärztliche Unterversorgung beziehen sich auf ländliche Gebiete; hier sollen endlich wirtschaftliche Anreize statt Zulassungsdirigismus eine flächendeckende Versorgung sichern. 2. Wettbewerbsbeschränkungen und Kostendynamik Ein gravierender ordnungspolitischer Nachteil des Systems der Krankenversicherung in Deutschland ist der mangelnde Wettbewerb. Dies gilt nicht nur für die Teilung des Marktes in gesetzliche und private Versicherungen und den stark eingeschränkten Wettbewerb unter den Kassen, es gilt auch für den Arzneimittelmarkt. Ohne einen intensiven Wettbewerb bleiben Kostensenkungen und Innovationen hinter dem an sich Möglichen zurück. So sind die Verwaltungskosten der gesetzlichen Kassen in den letzten 10 Jahren nach Angaben des BMG um mehr als 34 % auf 8,5 Mrd. Euro (5,8 % der Beitragseinnahmen) gestiegen. Von offizieller Seite werden dafür unter anderem Zahl und geringe Größe der Kassen verantwortlich gemacht. Dabei ist die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen stark zurückgegangen, nämlich von 1223 (1992) auf 253 Kassen (2006), davon sind ca. 200 Betriebskrankenkassen. Interessanterweise liegen die Verwaltungskosten bei den Betriebskrankenkassen mit 122 € je Mitglied niedriger als bei den (größeren) Ortskrankenkassen (170 € je Mitglied).2 Auch das zeigt: Zahl und vor allem Größe der Kassen sollte sich (möglichst unter Einbeziehung der privaten

2

Quelle: BMG/BKK Faktenspiegel Mai 2006, S. 4, Angaben für 2005.

Hubertus Müller-Groeling: Anreizsysteme und die Reform der Krankenversicherung 205

Versicherungen nach Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze) aus dem Wettbewerbsprozess ergeben. Ein funktionierender Wettbewerb unter den Krankenversicherungen erfordert jedoch zumindest ein Kapitaldeckungsverfahren mit individuell zurechenbaren und übertragbaren Altersrückstellungen. Erst dann kann der Versicherte in voller persönlicher Freiheit die Krankenkasse zu zumutbaren Tarifen wechseln.3 Andererseits müsste die freie Co-Versicherung der GKV wegfallen bzw. extern finanziert werden. Ob der Wettbewerb mehr durch einen Kontrahierungszwang oder durch einen individuellen und portierbaren Risikoausgleich gefördert würde, scheint mir eine offene Frage. Eine wichtige Aufgabe der Ordnungspolitik im Gesundheitswesen besteht darin, die Überregulierung für den Arzneimittelmarkt und bei den Apotheken abzuschaffen. Es ist nicht einzusehen, warum die Reform bei der Preisderegulierung für Medikamente so zögerlich vorgehen will. Außerdem sollten Apothekenketten zugelassen und Kapitalgesellschaften sollte erlaubt werden, Apotheken zu betreiben (in den USA vertreiben Apothekenketten nahezu die Hälfte aller verschreibungspflichtigen Medikamente) .4 Ein wirklicher Wettbewerb auf dem Markt für Arzneimittel könnte die Krankenversicherung finanziell beträchtlich entlasten, zumal die Kosten für Arzneimittel nicht nur einen großen Anteil an ihrem Budget ausmachen, sondern auch eine beträchtliche Dynamik besitzen. Sie waren bei der GKV im Jahre 2005 mit 16,5 % der Ausgaben höher als die Kosten der ärztlichen Behandlung mit ca. 15 % und sind seit 1991 trotz Budgetierung und Zuzahlung um ca. 60 % gestiegen. Wie sehr der Wettbewerb wirken kann, zeigen die Auswirkungen des (keineswegs idealen) „Gesetzes zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung". Mit seiner Gültigkeit brach auf dem Markt für Generika ein Preiskampf der führenden Anbieter mit Preissenkungen von mehr als 20 % bis über 50 % aus, der den Kassen zweistellige Millionenbeträge ersparen dürfte. Ein fundamentaler Fehler der geplanten Reform für die GKV ist es, dass durch sie der Wettbewerb nicht gefördert, sondern eher eingeschränkt werden würde. Die Umrisse der Reformpläne der Bundesregierung, die über einen neuen Superfonds eine weitere Verwaltungsebene einzuführen plant und so den Krankenkassen sogar

Es wäre zu erwägen, ob die G K V , bei der der Übergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren ein Riesendefizit offenlegen würde, die Kapitaldeckung wenigstens bei den neu zu versichernden Kohorten einführen könnte. 4 Das GKV-Modernisierungsgesetz ging im Arzneimittelbereich mit Zuzahlung und Erweiterung der Festbetragsregelung wohl in die richtige Richtung (s. SVR Jahresgutachten 2004/05, S. 248), ließ aber den Apothekenbereich weitgehend unverändert. 3

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die Beitragsautonomie durch einen von oben festzusetzenden Einheitsbeitrag nehmen will, deuten jedenfalls trotz aller Lippenbekenntnisse in Richtung weiterer Wettbewerbsbeschränkungen. Den einzelnen Kassen Rückerstattungen und Zusatzprämien gewissermaßen als Wettbewerbsersatz zu ermöglichen ist ein wenig überzeugender Kompromiss, zumal die möglichen Zuschläge ihrerseits wieder eng begrenzt sind. Was wäre, wenn ein Teil der wegen der ungebremsten Kostendynamik erforderlichen Beitragserhöhungen von der Politik den Kassen und ihren Zusatzprämien aufgehalst würde? Jedenfalls steht zu erwarten, dass die Errichtung eines solchen Superfonds, wenn er denn nun wirklich kommen sollte (und es gelingen sollte, die Vorraussetzungen dafür mit der Schuldentilgung bei den einzelnen Kassen zu schaffen), praktisch das Ende des Wettbewerbs in der GKV bedeuten und zu einer erheblichen Zunahme der Verwaltungskosten fuhren würde. Die Versicherungsverbände gehen jedenfalls entgegen den Ankündigungen der Bundesregierung bis 2007 von einem Beitragsanstieg auf 15,2 % aus. Sie errechnen unter Berücksichtigung der quantifizierbaren Eckpunkte der Reform eine Finanzierungslücke von 13,1 Milliarden Euro und erwarten für das Jahr 2009 mit der erforderlichen Schuldentilgung einen Beitragsanstieg auf 15,6 %. Über ihre Superfondspläne hinaus beabsichtigt die Bundesregierung aber zusätzlich, auch in die Autonomie der Privaten Krankenversicherung einzugreifen. Sie plant den Kassen — mit einer verfassungsrechtlich höchst zweifelhaften Maßnahme — einen Basistarif vorzuschreiben, der den GKV-Höchstbeitrag nicht überschreiten darf. Dies würde zu einer beträchtlichen Zusatzbelastung für die Privatversicherten führen, zumal der Beitrag zu diesem Tarif bei Bedürftigkeit auch noch halbiert werden soll. Damit legt die Bundesregierung gegen alle ordnungspolitischen Vorstellungen die Axt an die Wurzel der PKV. 3. GKV und Einkommensumverteilung. Die Praxis, die gesetzliche Krankenversicherung durch an den Einkommen ausgerichtete Beiträge zu einem Instrument der doppelten Umverteilung zu machen, ist ordnungspolitisch verfehlt. Eine Krankenversicherung, die ihre Beiträge am Äquivalenzprinzip ausrichtet, ist per se ein Instrument der Einkommensumverteilung , da sie - ihrer Funktion gemäß die Mittel von den Gesunden zu den Kranken umverteilt (Umverteilung ex post). Als Instrument der doppelten Umverteilung über Beiträge, die an den Einkommen und nicht am Versicherungsrisiko ausgerichtet sind (Umverteilung ex ante), ist sie dem

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zielgenaueren Steuersystem unterlegen. Es geht darum, die Steuererhebung im Sinne von mehr Transparenz und Gerechtigkeit wieder den Finanzämtern zu überlassen.5 Ganz besonders unverständlich wird die Ausrichtung der Beiträge an den Einkommen, wenn zu dieser Einkommensumverteilung (ex ante) nur ein Teil der Bevölkerung, und zwar die weniger Verdienenden, herangezogen wird. Hier zeigt sich bereits der ganze Widersinn der Aufteilung der Krankenversicherung in einen privaten und einen gesetzlichen Teil und der Einschränkung der freien Wahl der Krankenkasse. Mit der Einfuhrung eines Superfonds mit Inkassoagentur wird noch weniger einleuchtend, warum man in der gesetzlichen Krankenversicherung an einkommensbezogenen Beiträgen festhält, statt endlich zum Aquivalenzprinzip überzugehen und die notwendige Ex-ante-Umverteilung dem Steuersystem zu überlassen. Ein weiterer wichtiger ordnungspolitischer Schritt wäre es, durch die Umfinanzierung der versicherungsfremden Beitragsanteile den „beschäftigungsfeindlichen Steueranteil"6 in den Beiträgen zu reduzieren und damit zugleich die Beschäftigung von der Kostendynamik der Krankenversicherung etwas zu entlasten. 4. Obligatorische Mindestsicherung und Wahlfreiheit. Die Respektierung der Wahlfreiheit und der Gewerbefreiheit ist in den meisten Systemen der Sozialen Sicherung ein Problem — so auch in der Krankenversicherung. Natürlich muss die Gesellschaft ein Interesse daran haben, dass alle Bürger gegen die wichtigsten wirtschaftlichen Risiken der Krankheit gesichert sind: dies nicht etwa nur aus altruistischen Motiven, sondern durchaus auch aus Eigeninteresse. Dieses legt nahe, die Versicherung eines bestimmten Grundleistungskatalogs für alle vorzuschreiben, um zu verhindern, dass die notwendige Sicherung im Vertrauen auf die spätere Hilfe des Staates unterlassen wird (Free Rider Problem). Zu diesem Katalog müsste gewiss auch die Versicherung eines sozialen Minimums an Krankengeld gehören, der Zahnersatz nicht unbedingt. Aber über diesen Mindestkatalog der Absicherung hinaus ist sowohl die Einschränkung der Wahlfreiheit als auch des Wettbewerbs unter den Kassen unnötig, ja kontraproduktiv. Keineswegs brauchte die gesetzlich vorgeschriebene Mindestsicherung bei einer staatlichen Kasse abgeschlossen zu werden.7 Über die Mindestsicherung hinaus würden die Versicherungen eine Vielzahl von Zusatztarifen anbieten, aus denen die Bürger in voller Autonomie ihre Krankenversicherung zusammenstellen könnten.

S. SVR Jahresgutachten 2004/05, S. 390 f. und S. 397 ff. S. SVR Gutachten 2005/06, S 387. 7 Das Beispiel der Kfz-Haftpflichtversicherung mag als Illustration dienen. 5 6

208 Der Sozialstaat in der Krise

Besonders unverständlich ist, dass die Gewerbe- und Wettbewerbsfreiheit im Bereich des Arzneimittelvertriebs bisher nicht hergestellt wurde. Anstelle des Preiswettbewerbs existiert immer noch eine Unzahl von Vorschriften für bestimmte Gruppen von Medikamenten und auf dem Markt der Apotheken bestehen immer noch wichtige Einschränkungen der Gewerbefreiheit. Auf dem Markt für Arzneimittel ist eine Deregulierung dringend erforderlich. Die Forderung nach einer größeren Autonomie der Bürger bei der Versicherung der wirtschaftlichen Risiken der Krankheit und auf dem Markt für medizinische Leistungen wird häufig mit dem Schlagwort der Zweiklassenmedizin abgewehrt. Aus der völlig berechtigten Forderung, dass jedermann Zugang zu der erforderlichen medizinischen Behandlung haben sollte, notfalls mit Hilfe der Gemeinschaft, folgt aber nicht, dass niemand für seine Gesundheit mehr ausgeben dürfe als andere. Mit dem Schlagwort von der Zweiklassenmedizin (die ja in Wirklichkeit eine N-Klassenmedizin ist) wird versucht, die Freiheit des Einzelnen einzuschränken, sein Geld — mehr Geld — für medizinische Leistungen auszugeben. Die Freiheit, einen Porsche oder einen van Gogh zu kaufen, ist unbestritten. In der Medizin - für eines der wichtigsten Güter schlechthin, die Gesundheit - sollen die Bürger zusätzliche medizinische Behandlung, sei sie hilfreich oder unnötig, nicht einkaufen dürfen. Wollen wir denn wirklich jemanden daran hindern, mit seinem Leiden, sei es echt oder eingebildet, den berühmtesten Chirurgen der Welt, das anerkannteste Krankenhaus in New York oder auch den bekanntesten Wunderheiler aufzusuchen, wenn er dafür sein Geld ausgeben kann und will? Wollen wir die Konsumfreiheit auf dem Markt für medizinische Leistungen beschränken? Ist eine solche Freiheit notwendigerweise unsolidarisch?

C. Christian von Weizsäcker: Freudloser Sozialstaat - Freudloses Wachstum 209

Freudloser Sozialstaat - Freudloses Wachstum: Glauben wir noch an den Fortschritt? C. Christian von Weizsäcker* „Limits to Growth", „No-Growth", „Small is Beautiful", „The Greening Of America" waren wirkungsmächtige Parolen der siebziger Jahre. Sie feuerten eine Jugend an, eine Grüne Bewegung zu gründen, die dann in den achtziger und neunziger Jahren zunehmend Einfluss auf die praktische Politik gewann. In dem Maße allerdings, in dem diese Grüne Bewegung Regierungsverantwortung übernehmen konnte, wandelte sich ihre Rhetorik. Das wirtschaftliche Wachstum wurde nicht mehr ausschließlich und immer weniger als Krebsgeschwür der kapitalistischen Wirtschaftsform und immer mehr als notwendige Voraussetzung zur Durchsetzung konkreter Projekte einer ökologischen und sozialen Politik gesehen. Heute müssen Grüne Parteien, die Regierungsverantwortung haben, zum wirtschaftlichen Wettergott der Konjunktur beten, dass er für die nächste Wahl gutes Wetter, sprich wirtschaftliches Wachstum bringe. Aus einer „No-Growth"- Partei ist eine Partei geworden, die dem wirtschaftlichen Wachstum im Kern positiv gegenübersteht. Wenn wir uns fragen, weshalb dieser Sinneswandel, dann ist es vor allem die Erkenntnis, dass ohne wirtschaftliches Wachstum der Sozialstaat heutigen Zuschnitts nicht zu finanzieren ist. Dieser ist ein Kind der Epoche starken wirtschaftlichen Wachstums im vergangen Jahrhundert und ist in seinen institutionellen Strukturen auf wirtschaftliches Wachstum angelegt. Es ist ja bemerkenswert, wie viel rascher das „Sozialbudget" in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist als das Sozialprodukt. Der Hauptgrund dafür, dass die Stabilität des Sozialstaats auf das wirtschaftliche Wachstum angewiesen ist, ist die durchgängige Dynamisierung der Leistungen. Indem Altersrente, Sozialhilfe, Arbeitslosenversicherung, an das jeweilige Lohnniveau angepasst werden, entsteht eine Abgabenbelastung, die mit dem Sozialprodukt mitwächst. Kommen nun Strukturveränderungen hinzu, wie zum Beispiel die steigende Lebenserwartung, dann ergibt sich die Perspektive eines jeweils steigenden Anteils der Sozialleistungen am Sozialprodukt. Diese Perspektive ist quasi „nicht mehrheitsfahig". Sie kann dann immer nur dadurch verändert werden, dass man sich von einem wachsenden Sozialprodukt für die jeweils nächsten Jahre eine Entlastung erhofft, da die Einnahmen der öffentlichen Hand inklusive der Sozialversicherungen sehr sensitiv auf wirtschaftliches Wachstum reagieren. So bleibt es für die mittelfris-

* Professor Dr. C. Christian Freiherr von Weizsäcker ist emeritierter Direktor des Energie-wirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln.

210 Der Sozialstaat in der Krise

tige Finanzplanung immer unabweisbar, in ihren Planzahlen wirtschaftliches Wachstum zu unterstellen. Andernfalls sähen die Zahlen zu schrecklich aus, um konsensfahig zu werden. Die Dynamisierung der Sozialleistungen, etwa die Dynamisierung der Armutsgrenze, ist Ausdruck eines Denkens, das Wohlfahrt oder auch menschenwürdige Existenz definiert im Vergleich zum gesellschaftlichen Umfeld. Wenn ein gleichberechtigter Zugang zu den Leistungen des Gesundheitssystems („keine Zwei-KlassenMedizin"!) gefordert wird, dann wird ein Mensch, was die gesundheitsbezogenen Komponenten seines Lebensstandards betrifft, „ärmer", sofern sich der Abstand seiner Gesundheitschancen zu den durchschnittlichen Gesundheitschancen zu seinen Ungunsten verändert, selbst wenn seine Gesundheitschancen und seine Lebenserwartung im Zeitverlauf steigen. Wenn sich die Armutsgrenze in irgendeiner Form an einem Durchschnittseinkommen derjenigen orientiert, die nicht unter die Armutsgrenze fallen, dann kann die Wirtschaft so schnell wachsen wie sie will: derjenige, dessen Einkommen nicht mitwächst, sondern stagniert, mag zuerst ein gutes Einkommen bezogen haben, auf die Dauer fallt er unter die Armutsgrenze. Der materielle Lebensstandard des heutigen „Armen" liegt bekanntlich weitaus höher als der eines Studienrats im Jahre 1955. Dennoch ist jener „zu bedauern", während dieser sich ein solches „Bedauern" verbeten hätte. Wohlfahrt wird in dieser Philosophie definiert aus dem Vergleich mit den anderen zeitgleichen Mitbürgern, nicht aus dem Vergleich mit der Vergangenheit. Nun entspricht es aber genau dieser Philosophie, dass Wachstum letztlich zur Wohlfahrt gar nichts beiträgt. Denn wenn die Wohlfahrt des Einzelnen sich nur aus dem Vergleich mit den anderen definiert, dann ist ein gleichmäßiges Wachstum des Einkommens aller Bürger um den gleichen Prozentsatz kein Zuwachs an Wohlfahrt. Dies nenne ich das Wachstumsparadoxon: wir sind in der modernen Demokratie im Kern genau deshalb auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen, weil dieses Wachstum gar keinen wohlfahrtssteigernden Effekt hat. Dieser vorherrschenden Ideologie ist die grüne Bewegung in starkem Maße verfallen. Ihre Zugehörigkeit zum Lager der Linken macht dies deutlich. Denn es ist gerade die sozialdemokratische Tradition, die in der erfolgreichen Dynamisierung der Sozialleistungen gipfelt, und die von dieser wohl nicht aufgegeben werden will. Auch die Kirchen, deren Weltsicht doch im Geistigen wurzelt, halten zäh an dieser Sicht des materiellen Lebensstandards fest. Es ist interessant, den inneren Widerspruch der christlichen Ethik oder Moraltheologie aufzuzeigen, der diesem Wachstumsparadox entspricht. Es gibt in einem sehr bekannten Lied, „Die güldne Sonne" von Paul Gerhard die zwei schönen Strophen:

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„Lass mich mit Freuden ohn alles Neiden sehen den Segen den du wirst legen in meines Bruders und Nähesten Haus Geiziges Brennen Unchristliches Rennen Nach Gut mit Sünde Das tilge geschwinde Von meinem Herzen und wirf es hinaus" Wie für unsere Zeit geschrieben scheinen mir die Zeilen: „Geiziges Brennen — unchristliches Rennen". Hier also aus der Tiefe der Zeit - nach dem Erleben des Dreißigjährigen Kriegs - eine christliche No Growth Theologie. Der christliche oder allgemein religiöse Gedanke der Askese findet sich hier gedichtet und wird bis heute in vielen Gottesdiensten gesungen. Wem aber die mönchische Askese als Lebensform verwehrt ist, dem wird, um Gott nahe zu sein, die Nächstenliebe, die Hilfe, auch gerade die materielle Hilfe empfohlen. Wir alle kennen die dichterische Form, die dieser Rat in Hofmannsthals „Jedermann" gefunden hat. Es mag nicht zuletzt die protestantische Wende in der Entwicklung der Neuzeit gewesen sein, die den Gedanken der Nächstenhilfe mit dem der Effi2ien2 verbunden hat. Die katholische Kirche ist ihm dann ebenfalls gefolgt. Damit aber wurde aus einer Individualethik der tätigen Hilfe eine Sozialethik, die in der Verwirklichung des Sozialstaates gipfelte, den heute die Kirchen mit christlich- theologischen Argumenten verteidigen, dessen weiteren Ausbau sie auch heute noch fordern. Sieht man aber den Sozialstaat als die „Vergesellschaftung" der einstmals individuellen christlichen Pflicht zur Hilfe für die Armen und Schwachen, dann muss man sich nur daran erinnern, dass die tätige Hilfe natürlich auch nach der Individualethik bis heute mit dem wachsenden Wohlstand Schritt halten muss. Die Nähe zu Gott würde verloren gehen, wenn die Leistung für die Bedürftigen bei wachsendem Wohlstand stagnierte. Sie muss um des Seelenheils des Gebenden willen mit dessen Wohlstand mitwachsen. Rockefeiler hat einen konstanten Anteil seines wachsenden Einkommens seiner Kirche und den Armen zukommen lassen.

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Nun aber entsteht mit der Vergesellschaftung dieses Gebens ein zusätzlicher Gerechtigkeitsaspekt. Die Gabe muss gerecht vereilt werden, nicht willkürlich. Aus diesem Gerechtigkeitsempfinden aber entsteht der Anspruch auf einen gerechten Anteil an der Gabe. Wenn aber das Volumen der Gabe steigt, weil der Wohlstand der Gebenden steigt, steigt somit der Anspruch der Beschenkten. Ihr Anspruch wächst mit dem Wohlstand des Landes mit. Von hier ist es dann ein kleiner Schritt, zu sagen, dass die Bedürftigkeit mit dem Wohlstand mitwächst. So hält die Armutsgrenze mit dem Wohlstand Schritt. Aus der Pflicht des Reichen zum Teilen um seiner eigenen Nähe zu Gott willen ist durch die Vergesellschaftung ein Recht des Ärmeren geworden, seinen gerechten Anteil an dem zu erhalten, was umverteilt werden soll. Die christliche Ambivalenz und Distanz zum Reichtum sind erhalten geblieben. Aber aus der christlichen Ablehnung des Neids ist durch die Verrechtüchung und Vergesellschaftung des Gebens und Empfangens ein Zustand gewachsen, in dem der Neid das konstitutive Prinzip darstellt: Armut definiert sich nicht mehr aus der Nähe zum Tod, sondern aus dem Vergleich mit dem Mitbürger. Ich bin nicht erst dann arm, wenn ich nicht genug zu essen habe, sondern schon dann, wenn es anderen wesentlich besser geht als mir. Wachstum des Wohlstands ist aus der Sicht christlicher Weltüberwindung sinnlos. Das ist geblieben. Aber daraus folgt nicht mehr der Verzicht, die Askese; sondern die Forderung nach einer proportional mit dem Wohlstand mitwachsenden Versorgung mit materiellen Gütern. Ich bin kein Theologe; aber ich frage mich, ob man in der christlichen Sozialethik schon darüber nachgedacht hat, wie es kommen konnte, dass man ein System verteidigt, welches den so ganz und gar unchristlichen Charakterzug des Neides zum Eckpfeiler genommen hat. Die Folge dieser Entwicklung ist, wie gesagt, paradoxerweise der Zwang zum Wachstum, ist das „unchristliche Rennen", das „geizige Brennen". Ohne diesen Charakter unserer Zeit wäre der Sozialstaat schon zahlungsunfähig geworden. Diesem Grundwiderspruch im vorherrschenden Denken, im „politisch korrekten" Denken ist aber natürlich nicht nur das rot-grüne Programm verfallen, sondern auch die „Postmoderne", in der der Gedanke des Fortschritts letztlich verächtlich gemacht, abgelehnt wird - im Übrigen mit guten Argumenten, solange man im Namen der sozialen Gerechtigkeit an dem Wohlfahrtskriterium des Vergleichs mit den Mitbürgern festhält. Aus dem Widerspruch findet man im liberalen Denken, so altvaterisch es klingen mag, eben dadurch heraus, dass Wohlfahrt und Wohlstand gemessen werden am Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nur, wer an dem Begriff des Fortschritts festhält, den wir aus dem Zeitalter der Aufklärung ererbt haben, befreit

C. Christian von Weizsäcker: Freudloser Sozialstaat - Freudloses Wachstum 213

sich von dem Zwang zu einem ungeliebten wirtschaftlichen Wachstum. Nur, wer im Namen des real existierenden Fortschritts, etwa des Lebensstandards, die Rücknahme der Dynamisierung der Sozialleistungen propagiert, erlöst sich von dem Wachstumszwang - und kann sich andererseits an dem Wachstum, wenn es denn ohne Zwang doch eintritt, im Namen des Fortschritts auch wieder freuen. Nur in einer Gesellschaft ohne das konstitutive Prinzip des Neides ist es psychisch und ökonomisch für den Einzelnen möglich, auf Wachstum seines materiellen Wohlstands zugunsten anderer Güter zu verzichten, von dem „geizigen Brennen", dem „unchristlichen Rennen" Abstand zu nehmen — und dennoch in humaner Weise teilzuhaben an einer Gesellschaft, in der andere sich dem materiellen Wachstum, der Steigerung ihres Wohlstands widmen. In einer solchen — liberalen — Gesellschaft muss natürlich die Umverteilung von Reich zu Arm nicht aufhören. Es ist durchaus mit dem Gedanken des Fortschritts kompatibel, wenn wir gemäß der Gerechtigkeitstheorie von Rawls das größte Wohl des Schlechtestgestellten zur Zielschnur einer neuen Sozial- und Steuerpolitik machen. Aber dem größten Wohl des Schlechtestgestellten steht eine Sozialpolitik bisheriger Art gerade entgegen. Die neue Unterschichtdebatte zeigt dies. Der Sozialstaat heutiger Prägung generiert eine Schicht, die den Antrieb verliert, sich mit eigener Leistung um eine Verbesserung der eigenen Lage zu bemühen und damit der Gemeinschaft nicht mehr zur Last zu fallen. Es ist dies ein entfremdetes Dasein der gesellschaftlichen Isolation. Es ähnelt dem Dasein des Süchtigen, der trotz der Unzufriedenheit mit seinem Zustand aus diesem nicht herauskommt. Unser moderner Sozialstaat, unser überregulierter Arbeitsmarkt (reguliert angeblich zum „Schutze des Schwächeren") baut die Hürden auf, die zu der Einsperrung und Aussperrung dieser Schicht der lebenslangen Sozialhilfeempfänger führt. Auch eine liberale Gesellschaft muss Einrichtungen und Menschen haben, die andere Menschen führen. Mündig ist, wer dieser Führung nicht bedarf, wer zu seinem eigenen Wohl autonome Entscheidungen fallen kann. Mündig ist, wer der Gesellschaft nicht zur Last fällt, sondern im Austausch der arbeitsteiligen Leistungen der Gesellschaft dieser von Nutzen ist. Wer der Gesellschaft zur Last fallt, ist unmündig. Er muss von anderen Menschen geführt werden, aus diesem Zustand heraus geführt werden. Der Anspruch des Einzelnen auf Leistung der Gemeinschaft in der Not kann kein einseitiger Anspruch bleiben. Ihm steht gleichwertig gegenüber der Anspruch der Gesellschaft, ihn aus diesem Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu führen.

215

Föderalismus in Deutschland und Europa

2 1 6 Föderalismus in Deutschland und Europa

Gulliver und der deutsche Föderalismus Charles B. Blankart*

Die Länder-Fusionitis-Idee Die Debatte um Länderfusionen will nicht verstummen. Mit dem Berlin-Urteil des Bundesverfassungsgerichts scheint sie neuen Wind erhalten zu haben. Ich möchte in diesem Beitrag darlegen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Länder nicht in ihrer Größe, sondern in ihrer Autonomie liegt. Ich schreibe dies in Erinnerung an die Diskussionen in der Föderalismuskommission der Friedrich-Naumann-Stiftung, die Graf Lambsdorff Vorjahren initiiert hat und durch die er einer wichtigen Diskussion den Anstoß gegeben hat. Ein großer Teil der Länderfusionsdiskussion wird optisch geführt. Der Blick wird wie durch ein Kaleidoskop auf die Karte Deutschlands gerichtet. Es zeigt sich, dass dort unter den „ansehnlichen" großen Bundesländern wie Bayern, BadenWürttemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen auch einige „unansehnliche" Winzlinge wie Berlin, Bremen, Hamburg und das Saarland angesiedelt sind. Diese hässlichen kleinen Flecken sollen von der Landkarte verschwinden und durch eine stärker homogene Farbkomposition ersetzt werden. Wer jedoch das Kaleidoskop etwas dreht, sieht ein ganz anderes Bild. Die deutschen Bundesländer erscheinen im Vergleich zu ihren Nachbarstaaten Belgien, Luxemburg, Niederlande, Dänemark, Tschechien, Österreich, Ungarn, Schweiz usw. als gar nicht besonders klein (vgl. Tabelle 1). Das gilt nicht nur für die großen, sondern auch für die kleinen Bundesländer. Das Saarland ist mit 1,06 Millionen Einwohnern mehr als doppelt so groß wie Luxemburg mit seinen 468 000 Einwohnern. Noch niemand ist auf die Idee gekommen zu fordern, Luxemburg solle sich wegen seiner Kleinheit mit Belgien vereinigen. Mit welchem Argument lässt sich also fordern, das Saarland müsse sich wegen seiner geringen Größe an ein anderes Bundesland anschließen? Im Weiteren sind die genannten Nachbarstaaten ihrerseits in Gliedstaaten aufgeteilt. Belgien besteht aus den drei Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel mit sechs, drei und einer Million Einwohnern, die ihrerseits sehr klein sind im Vergleich zu den deutschen Bundesländern.

* Prof. Dr. Charles B. Blankart ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliche Finanzen an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 217

Die Gleichmacher könnten ihr Ziel auch erreichen, indem sie den Median zum Maßstab nehmen. Dieser liegt bei den Staaten und Ländern der Tabelle 1 bei einer Bevölkerung von 6,10 Millionen Einwohnern in Hessen und 5,40 Millionen Einwohnern in Dänemark. Danach wären die großen Länder wie Nordrhein-Westfalen und Bayern zu teilen und die kleinen zu fusionieren. Dies zeigt, wie willkürlich die Länderfusionsdiskussion geführt wird. Letztlich ist kein Land oder Staat „zu groß" oder „zu klein". Der größte Staat der Welt, die Volksrepublik China hat 1,3 Milliarden Einwohner, der kleinste, Tuvalu 12.000 Einwohner. Weder dem einen noch dem anderen wird die Lebensfähigkeit abgesprochen. Wenn Staaten oder Länder als nicht lebensfähig erscheinen, wie dies für manche deutsche Bundesländer behauptet wird, so hat dies andere Gründe, wie aus der nachfolgenden Geschichte hervorgeht. Tabelle 1: Die Bevölkerung der deutschen Bundesländer und ihrer Nachbarn 2004 Staat/Bundesland

Bevölkerung

Staat/Bundesland

Bevölkerung

Frankreich

60,66

Dänemark

5,40

Polen

39,20

Sachsen

4,30

Nordrhein-Westfalen

18,08

Rheinland-Pfalz

4,06

Niederlande

16,26

Berlin

3,39

Bayern

12,44

Schleswig-Holstein

2,83

Baden-Württemberg

10,72

Brandenburg

2,57

Belgien

10,4

Sachsen-Anhalt

2,49

Tschechische Republik

10,21

Thüringen

2,36

Ungarn

10,12

Hamburg

1,73

Osterreich

8,09

MecklenburgVorpommern

1,72

Niedersachsen

8,00

Saarland

1,06

Schweif

7,36

Bremen

0,66

Hessen

6,10

hMxemburg

0,47

Quelle: Stat. Bundesamt, Bundesamtfür Statistik

218 Föderalismus in Deutschland und Europa

II. Des deutschen Gullivers Leidensweg In einem kürzlich entdeckten Manuskript des irischen Schriftstellers Jonathan Smith findet sich eine weitere, bisher unbekannte Reisebeschreibung seines Gulliver. Danach hatte Gulliver anfanglich neun, dann zehn und schließlich fünfzehn Brüder. Sie alle erlitten das gleiche Schicksal, als ihr Schiff, die „Antilope", in der Südsee unterging und sie auf eine Insel gespült wurden und sich dort eine neue Existenz aufbauen wollten. Gullivers Erlebnisse werden wie folgt wiedergegeben: „... Zuerst mussten wir uns organisieren. Jeder erhielt Grund und Boden zugeteilt, schuf Kapital und konnte sich so mit viel Fleiß einigermaßen einrichten. Als Krönung über alles schufen wir ein Grundgesetz in dem wir unsere fechte, Pflichten und Entscheidungsverfahren niedergelegten. Dann wollten wir und erst einmal ausruhen. Ich, Gulliver, streckte mich auf den Boden undfiel sogleich in tiefen langen Schlaf. ... Wieder erwacht wollte ich mich aufrichten, das konnte ich aber nicht, denn %u meinem Schrecken fand ich, dass nicht nur meine Arme und Beine, sondern auch mein Kopf unverrückbar an den Boden gefesselt waren, letzterer vermittelst meines langen Haares, das man auf irgend eine Weise straff im Erdboden verankert %u haben schien. Neben mir sah ich ein menschliches Wesen stehen, so windig klein, dass es keine sechs Zollgemessen haben konnte. Das Männlein trug Pfeil und Bogen in den Händen und einen Köcher auf dem Rücken. Während ich den Wicht betrachtete, merkte ich, wie noch mindestens vierzig andere von derselben Art auf meinem Leibe heranrückten. Sie sagten alle: „ Wir sind die Interessen, wir sind die Interessen." Ich wollte meinen Empfindungen Luft machen und stieß ein lautes Gebrüll aus. Sie rannten davon. Doch es dauerte aber nicht lange, da krabbelten sie von neuem heran; meine Gliedmaßen waren mit unzähligen Schnüren an den Boden festgepflockt, worauf wohl an hundert Pfeile zugleich auf meine linke Hand abgeschossen wurden, was ich wie ebenso viele Nadelstiche empfand. Sie schrieen unentwegt: „ Wir sind die Interessen, Interessen." Noch einmal strengte ich alle meine Kraft an, mich loszureißen, da überschütteten sie mich mit einem neuen Pfeilregen und schrieen immerzu: „Interessen, Interessen!" Nach einer Weile rückte eine Mannschaft etwas größerer Zwerge heran. Sie nannten sich Benelux, DK, PL CZ, A, H, SL CH, FL u.a.m. Vor Ihnen fürchteten sich die Interessen und rannten davon. Doch für mich war die Lage nicht weniger gefährlich. Denn dieseriefenfortan: „Sjstemwettbewerb, Systemwettbewerb!" Da ich durch die kleinen Zwerge gefesselt war, konnte ich mich nicht wehren. Die größeren Zwerge luchsten mir alles ab, was ich an Wertvollem Kapital und Knowhow auf mir trug: DM, Gentech, Kernenergie, KMUs, Kapitalerträge HQMs. Am Schluss war ich ein nackter kraftloser Riese."1

1

http://www.jadu.de/jadukids/personen/pers/gulliver/index.htm

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 219

III. Das Wettbewerbsverbot der deutschen Bundesländer Die Parabel von Gulliver beschreibt die Situation der sechzehn deutschen Bundesländer. Eingebunden in das strikte Korsett der bundesstaatlichen Regulierung, sind sie nicht in der Lage, als aktive Partner am Systemwettbewerb untereinander und mit den umliegenden Staaten teilzunehmen. Sie sind Opfer ihrer kollektiven Gesetzgebung. Unter der Flagge „gleichwertiger Lebensverhältnisse" und der „Rechts- oder Wirtschaftseinheit" nach Art. 72 Abs. 2 G G binden sie sich und werden dadurch unfähig, auf das Wettbewerbsverhaken ihrer Nachbarn der Niederländer, Belgier, Luxemburger, Polen, Tschechen, Österreicher, Liechtensteiner, Schweizer usw. flexibel zu reagieren. Die Niederlande senkten per 2006 ihre Körperschaftsteuer von 34,5 auf 25,5 Prozent mit einer weiteren Option auf bis zu 20 Prozent. Doch das benachbarte Nordrhein-Westfalen hat keine Chance, dieser Herausforderung elastisch entgegenzutreten. Ebenso ist Bayern machtlos, wenn Finanz- und Realkapital nach Österreich auswandert. Auch innerhalb Deutschlands wird der Wettbewerb nur einseitig geführt. Mecklenburg-Vorpommern hat keine Chance, seine öffentlichen Leistungen so zu bündeln, dass es in einer Marktnische ein attraktives SteuerLeistungspaket gegenüber Hamburg anbieten kann. Das Grundgesetz verlangt, dass

220 Föderalismus in Deutschland und Europa

wegen der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse überall das gleiche Leistungsbündel angeboten werden muss — zum Nachteil von Mecklenburg-Vorpommern und zum Vorteil für Hamburg. Fazit: Mit Länder-Fusionitis, wie sie im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes angesprochen worden ist, lässt sich die Wettbewerbsschwäche der deutschen Bundesländer nicht bekämpfen. Der amerikanische Ökonom Paul Krugman hat unter dem Titel Increasing Returns and Economic Geographj anfangs der neunziger Jahre eine Reihe von Modellen entwickelt, in denen die kritischen Variablen der Regionalentwicklung hervorgearbeitet werden. Ausgangsausstattung und Transportkosten (im Sinne von Bewegungskosten) können sich selbst verstärkende Prozesse auslösen, weil durch sie zunehmende Skalenerträge wirksam werden. Demgegenüber haben Entscheidungsträger von Zentrum und Peripherie eine Reihe strategischer Variablen in ihrer Hand, durch die sie kumulative Prozesse auslösen können. Im Folgemodell von Ludema und Wooton (2000) sind dies „monopolistische" Steuersätze in den Zentrumsorten und Wettbewerbsverbesserungsstrategien durch Investitionen in die Infrastruktur in der Peripherie.2 Sobald das Kernland den gleichgewichtigen Steuersatz überschreitet, eröffnen sich positive Entwicklungschancen für die Peripherieländer, wohingegen solche Chancen verbaut werden, wenn die Steuern zentralstaatlich reguliert werden. Genau hier liegt ein zentrales Problem der deutschen Bundesländer. Weder untereinander noch mit Dritten dürfen oder können sie an diesem Wettbewerb teilnehmen. Das „Wettbewerbsverbot" wird damit gerechtfertigt, das die Zeit noch nicht reif sei. Der Wohlstandsunterschied unter den Bundesländern sei noch zu groß, als dass mit dem Wettbewerb schon begonnen werden könne. Nach diesem seltsamen Verständnis von Wettbewerb müssen sich offenbar alle potentiellen Wettbewerber zuerst in einer Linie aufstellen, dann erhalten sie alle die gleichen Turnschuhe als Startkapital, und es wird los gepfiffen. Wenn dann ein Land gewinnt, dann kann die zweite Runde nicht starten, bevor nicht die Ausgangesbedingungen erneut ausgeglichen werden. Die Länder müssen sich also erneut auf einer Linie aufstellen usw. Ein solcher bundeseinheitlich administrierter Wettbewerb ist offensichtlich unsinnig. Gulliver kann nie gewinnen, weil er mit tausend Fäden festgebunden ist, während seine ausländischen Wettbewerber diesen Regeln nicht unterworfen sind und frei agieren können.

2 L.

Feld, H. Zimmermann und Th. Döring (2003).

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 221

B. Die politische Ökonomik der deutschen Finan^yerfassung' Weshalb eigentlich, lässt sich fragen, haben sich die Deutschen das Handicap einer so Kräfte lähmenden Form des Föderalismus gegeben? Verstehen lässt sich dies teilweise aus dem politisch-ökonomischen Kräfteverhältnis, das sich in den ersten Nachkriegsjahren in Westdeutschland einstellte und das hier kurz beleuchtet werden soll. Drei wichtige politische Spieler lassen sich unterscheiden: erstens die westalliierten Mächte vertreten durch ihre Gouverneure, zweitens die Ministerpräsidenten der Länder als Männer der ersten Stunde, drittens die von den Alliierten berufenen Mitglieder des Parlamentarischen Rates, denen die Aufgabe oblag, eine neue Verfassung für die drei West-Zonen zu entwerfen. 1. Das Konzept der westalliierten Mächte Die Westalliierten waren zunächst bestrebt, Deutschland zu dezentralisieren. Dezentralisierung sollte dazu dienen, seine politische Macht nicht wieder aufkommen zu lassen.4 Nicht nur die großen Unternehmen wurden entflochten, auch der Staatsaufbau wurde zergliedert. Äußerlich ist dies an der Zerschlagung des Landes Preußen in mehrere kleinere Nachfolgestaaten zu erkennen. Entsprechend musste auch die Finanzverfassung angepasst werden. Die Westalliierten gingen davon aus, dass, wer über die Finanzen verfügt, auch das Sagen im Staat hat. Um jede Machtballung zu verhindern, strebten sie eine Finanzverfassung nach dem Autonomieprin^ip an. Jedes der neu- oder wieder entstandenen Bundesländer sollte seine eigene Steuerautonomie besitzen. Alle Steuern sollten nach dem Prinzip des örtlichen Aufkommens der jeweiligen Landesregierung zufließen. Hierfür wurden gleich zu Beginn die alten Reichsfinanzverwaltungen zerschlagen und an die neuen Ländergrenzen angepasst. Im Jahr 1947 wurden die Länder der amerikanischen und der britischen Zone zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet zusammengefasst und der Wirtschaftsverwaltung in Frankfurt, einer Art Bundesverwaltung, unterstellt. Diese deckte ihren Finanzbedarf aus den Ablieferungen von Bahn und Post, aus Zöllen und Verbrauchsteuern sowie falls notwendig - im Sinne von Matrikularbeiträgen — aus Zugriffen auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer der Länder.

Die nachfolgenden Abschnitte sind in veränderter Form teilweise entnommen aus Ch. B. Blankart (2006). 4 Die Grundlagen für diese Maßnahmen wurden in der Londoner Sechsmächte-Konferenz (der Beneluxstaaten Frankreichs, Großbritanniens und der USA) zwischen Februar und Juni 1948 gelegt. 3

222 Föderalismus in Deutschland und Europa

2. Die Ministerpräsidenten der händer Bei den Ministerpräsidenten lag naturgemäß der Rest an Staatsmacht, nachdem das Reich als Organisationseinheit aufgehört hatte zu existieren. Ihren Interessen entsprechend versuchten sie, den neuen Staat föderalistisch, d.h. von unten nach oben, nach dem Autonomieprinzip, aufzubauen. Zu diesem Zweck beriefen sie Vertreter aller Bundesländer im Sommer 19485 zu einem Verfassungskonvent auf die Insel Herrenchiemsee. Der Konvent, der vom 10. bis zum 23. August 1948 tagte, erarbeitete einen Entwurf, der erwartungsgemäß stark föderalistische Charakterzüge trägt, im ganzen aber nicht zum Bismarckschen System der Matrikularbeiträge zurückkehrt. Überschrieben ist er mit dem bezeichnenden Titel: „Entwurf eines Grundgesetzes für den ,Bund deutscher Länder' ".6 Die Finanzverfassung dieses Entwurfs geht von der Yinan^autonomie der Länder aus. „Bund u. Länder führen eine gesonderte Finanzwirtschaft", heißt es dort in Art. 37. D.h. sie sind für die Beschaffung der Einnahmen zur Bestreitung der Ausgaben und den Haushaltsausgleich selbst verantwortlich, wofür sie innerhalb bundesgesetzlicher Schranken, insbesondere bei der Einkommensteuer, eigene Steuer-, Hebesätze und Freigrenzen fesüegen (Art. 38, Nr. 1, Art 122).7 Der Bund erhält die Kompetenz, ein Gesetz über „den finanziellen Ausgleich unter den Ländern" zu beschließen (Art. 38 Nr. 6).

3. Der Parlamentarische Rat Diese Vorstellung eines lockeren Bundesstaates änderte sich mit der Einberufung des Parlamentarischen Rates zum 1. September 1948. Aus dem landsmannschaftlichakademisch zusammengesetzten Gremium von Herrenchiemsee wurde eine Versammlung politisch interessierter Repräsentanten der Länder. Manche von ihnen wollten im neuen Staat Karriere machen und waren daher, anders als die Ministerpräsidenten, an einer Kompetenzkonzentration beim Bund und nicht bei den Ländern interessiert. Diese Gruppe gewann im Rat alsbald die Oberhand, während die süddeutsche Gruppe der Föderalisten in die Minderheit abgedrängt wurde. So wurde der Herrenchiemseer Entwurf nicht als Verhandlungsvorlage, sondern nur noch als Arbeitspapier eingestuft. Von Bedeutung war vor allem der Wortführer der Zentralisten, der Berichterstatter des Finanzausschusses, Hermann Höpker-Aschoff von der F.D.P., der in der Weimarer Republik preußischer Finanzminister war und Ambitionen auf das Amt des Finanz5

Damals war die Verfassungsgebende Versammlung des Parlamentarischen Rates schon beschlossen. 6 Herrenchiemseer Verfassungsentwurf (1951). 7 Damit ist die engere Variante angesprochen. Die weitere Variante überlässt sie Einkommenssteuer gänzlich den Ländern (38 und 122).

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 223

ministers in der neuen Bundesrepublik hatte.8 Er vertrat in den zwanziger und dreißiger Jahren die so genannte Reichsreform-Idee eines in Reichsprovinzen gegliederten, praktisch nach dem Verwaltungsprinzip aufgebauten Einheitsstaates. Folglich lehnte er das Konzept der Herrenchiemseer Konferenz rundweg ab und plädierte für eine zentralistische Finanzverfassung. Der Staat sollte von oben nach unten aufgebaut sein. Er konnte mit der Theorie überzeugen, dass es für den Zusammenhalt des geplanten Bundesstaates wichtig sei, ein einheitliches Steuersystem festzulegen — aus der Sicht des gefesselten Gulliver eine eher fragwürdige Theorie. Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenz sollten im Wesentlichen beim Bund liegen. Der Bund sollte dann die Länder und Gemeinden mit Finanzen versorgen. Sein Konzept einer zentralistischen Finanzverfassung nach dem Verwaltungsprinzip wurde zunächst vom Parlamentarischen Rat angenommen. 9 4. Parlamentarischer Rat versus Westalliierte. Die Entstehung des Mischsystems™ Für die alliierten Gouverneure, die diesbezüglich gerade entgegen gesetzte Ziele verfolgten, war dieses Ansinnen unakzeptabel. Das von ihnen angestrebte und in den Grundzügen schon umgesetzte Autonomieprinzip erforderte die Beibehaltung der länderweisen Gesetzgebung und Verwaltung, insbesondere die Vereinnahmung der Steuern nach dem Prinzip des örtlichen Aufkommens (und gerade nicht die Zusammenführung der Steuererträge in den großen Topf und damit die Zentralisierung der Finanzmacht beim Bund). Hier musste der Parlamentarische Rat nachgeben. Folgender Kompromiss wurde gefunden: •

8

Die Gesetzgebungskompetenzen für die Einkommen- und Körperschaftsteuer (wie auch die für die Verbrauch- und Verkehrsteuern) wurden dem Bund in der konkurrierenden Bundesgesetzgebung unterstellt (Art. 105 Abs. 2 G G a.F.). D.h. sie waren noch Ländersache, konnten aber unter Anrufung von Art. 72 Abs. 2 G G relativ leicht der Bundesgesetzgebung unterstellt werden. Allerdings war dies gar nicht mehr nötig. Denn versteckt in Art. 125 der Übergangsbestimmungen des Grundgesetzes wurde schon gesichert, dass im Besatzungsregime geltende Gesetze der konkurrierenden Gesetzgebung im neuen Staat zu Bundesgesetzen werden. Somit traten zunächst einmal mit Hilfe von Art. 125 G G die alten

Leider können hier nur einige Akzente gesetzt werden. Mehr wäre notwendig, um ein Gegengewicht zu der m.E. ziemlich verfehlten elegischen Darstellung Höpker-Aschoffs bei F. Spieker (2004) zu setzen. 9 Bayerischen Opponenten wurden dafür Mitentscheidungsrechte im Bundesrat eingeräumt. 10 Einige Element dieses Abschnitts stammen aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BundesministeriumfiirWirtschaft und Technologie (2005), an dem der Autor federführend mitgewirkt hat.

224 Föderalismus in Deutschland und Europa

Reichsgesetze als Bundesgesetze wieder in Kraft, namentlich das Einkommensteuergesetz von 1934 und das Körperschaftsteuergesetz aus demselben Jahr, wenn auch mit angepassten Sätzen. •

Bei der Steuerverwaltung, d. h. der Vereinnahmung der Steuern, setzten sich die dezentralen Prinzipien der Alliierten durch. Daher gilt bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer noch heute das Prinzip des örtlichen Aufkommens. Den Ländern gehört zunächst, was in ihrem Gebiet vereinnahmt wird (Art. 106 und 108 GG a.F.) Dies wiederum erfordert eine Steuerzerlegung11, damit bei mehreren beteiligten Ländern das „richtige" Land in den Genuss des Steuerertrages kommt (Art. 107 Abs. 1). Doch dies bedeutet noch nicht, dass das Land das Aufkommen der Steuern, die in seinem Territorium anfallen, vollumfanglich behalten darf. Vielmehr wurde dem Bund das Recht zugestanden, mit Zustimmung des Bundesrates Teile der Einkommen- und Körperschaftsteuer der Länder in Anspruch zu nehmen (Art. 106 Abs. 3 GG a.F. und n.F.). Damit wurde die Einkommen- und Körperschaftsteuer indirekt doch wieder eine Art Bundessteuer.



Derartige Konstruktionen waren bei den Verbrauch- und Verkehrsteuern, insbesondere der Umsatzsteuer (heute: Mehrwertsteuer), nicht erforderlich. Denn für diese wurde von den Alliierten dem Bund die Gesetzgebung, Vereinnahmung und Verwendung von Anfang an zugestanden (108 Abs. 1 GG a.F.).



Sollten einzelne Länder mit ihren Mitteln nicht auskommen, so sollten die Länder untereinander im Rahmen eines horizontalen Finanzausgleichs aushelfen (Art. 106 Abs. 4 GG a.F.). Ebenso wurde ein vertikaler Finanzausgleich vorgesehen.

Damit sind die Gefahren, die von der Einnahmenseite des Mischsystems ausgehen, charakterisiert: Die Länder sind in fast allen Steuereinnahmen durch die Bundesgesetzgebung beschränkt. Nur in der Verschuldung sind sie frei; denn da gilt die Unabhängigkeit Haushaltswirtschaft (Art. 109 GG a.F.). Somit ist die Budgetbeschränkung, der sich die Länder auf der Einnahmenseite gegenübersehen, weich und nicht strikt bindend. Es bleibt stets der Ausweg der Verschuldung. 5. Aufgaben- und Ausgabenverfassung Die Gesetzgebungskompetenz für die Aufgaben und Ausgaben sollte nach der Absicht der Väter des Grundgesetzes eigentlich schwergewichtig bei den Ländern lie11 Die Lohnsteuer wird nach dem Wohnsitz-, die Körperschaftsteuer nach dem Betriebstättenprinzip aufgeteilt.

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 225

gen. Art. 30 GG lautet: Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder. Die Länder sollten bestimmen, wie sie die ihnen zugewiesenen Steuern und Steueranteile einsetzen wollen. Der Bund beschränkt sich auf ihm zugewiesenen, ausschließlichen Bundeskompetenzen wie Außenpolitik, Geld, Währung und Verkehrsnetze (Art. 73 GG a.F.), die er großteils in eigener Verwaltung betreibt. Dass es nicht dabei geblieben ist, liegt an der konkurrierenden Bundesgesetzgebung (Art. 74 GG a.F.), die der Bund wahrnimmt, die aber von den Ländern durchgeführt wird. Beispiele sind der Wohnungsbau, die sektorale Wirtschaftspolitik, das Arbeitsrecht, die Sozialhilfe u. a. m. Triebkraft dieses Prozesses ist von Anfang an der Wählerstimmemvettbewerb, den die jeweilige Bundesregierung nur gewinnen kann, wenn sie ihre Gesetzgebung auf die Länder ausdehnt und durch gezielte Subventionierung Stimmen vor Ort sammelt. Die erlassenen Bundesgesetze werden jeweils von Bund und Ländern gemeinsam ausgeführt. D.h. die Bundesregierung subventioniert unter Inanspruchnahme von Einkommen- und Körperschaftsteueranteilen Ausgabenprojekte in den Ländern. Der Druck des Wettbewerbs um Wählerstimmen ist so mächtig, dass sich die Bundesregierungen nicht scheuen, darüber hinaus auch in umstrittenen Bereichen jenseits der Verfassung in die Länderkompetenzen einzugreifen. So legt die Bundesregierung in den 50er und 60er Jahren eine Reihe von Programmen in der damals gesetzesfreien Verwaltung, z.B. für Hochschulbau, Forschungsförderung, Verbesserung der Agrar- und Marktstruktur (so genannte „Grüne Pläne"), für regionale Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsstruktur (Emslandprogramm, Nordlandprogramm), für Verkehrsinfrastruktur auf, wie auch die Projekte für den Wohnungsbau weitergeführt werden. Der Bund beteiligt sich an deren Finanzierung, indem er über Fonds aus der Mineralölsteuer beispielsweise den Verkehrsausbau im kommunalen Bereich fördert und mit so genannten Dotationsauflagen versieht. Auch zahlreiche Subventionsprogramme, die aus der Einkommensteuer gemischt durch Bund und Länder finanziert wurden, werden aufgelegt, z. B. Bergmannsprämien, Berlinhilfe, Wohnbauprämien, Sparprämien usw.12-13 Langsam entwickelt sich der Föderalismus, der heute beschönigend kooperativer Föderalismus oder Mischverwaltung genannt wird: Eine Verwischung der Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern.

W. Heckt (1973) S. 36 f. Hierzu Maunz, Dürig, Herzog: „Die Fondsverwaltung des Bundes hatte sich lange vor der Finanzreform von 1969 ohne eigentliche verfassungsrechtliche Grundlage entwickelt. Es wurden Bundesmittel an die Länder oder an kommunale Träger zweckgebunden und vielfach mit der Auflage zugewiesen, dass sie nur für einen bestimmten Zweck, innerhalb einer bestimmten Zeit, für bestimmte Personen unter bestimmten Voraussetzungen verwendet werden durften. Der Bund nahm damit weitgehenden Einfluss auf die von ihm mitfinanzierten Länderaufgaben (Dotationsauflagen)" (Maunz, Dürig, Herzog Art. 109 Rdnr. 13) 12 13

226 Föderalismus in Deutschland und Europa

In der Tendenz bezahlt jeder für jeden. Dieser Föderalismus kontrastiert sich mit dem idealtypischen Modell des Föderalismus der „institutionellen Kongruenz", bei dem Bund, Länder und Gemeinden jeweils konzentrische sich genau deckende Kreise von Nutznießern, Entscheidungsträgern und Steuerzahlern bilden, so dass jede Gebietskörperschaft für die Kosten ihrer Entscheidungen selbst aufkommt (Ch. B. Blankart, 2005, 26. Kapitel). Die Eigentumsrechte sind genau festgelegt, so dass durch Wettbewerb, Verhandlungen und Tausch, wie einst 'R.oland Coase (1960) aufgezeigt hat, ein effizientes Bundesstaatssystem entsteht. Doch die institutionelle Kongruenz ist angreifbar. Wird sie nicht durch die Verfassung (z. B. durch qualifizierte Mehrheit) geschützt, sondern steht sie dem Mehrheitswahlsystem offen, so werden es die Parteien, wie T. Beslej und S. Coate (2003) demonstriert haben, als attraktiv ansehen, zentrale Steuerpools zu bilden, aus denen die einzelnen Gebietskörperschaften Geld für ihre lokalen Projekte erhalten. Es können dann gezielt Gruppen aus zentralen Mitteln subventioniert werden oder umgekehrt können sich lokale Entscheidungsträger aus dem zentralen Topf bedienen, wodurch eine Partei, die dieses Muster verfolgt, gegenüber einer anderen, die nach dem Prinzip der institutionellen Kongruenz verfährt, die Wahlen gewinnt. Weil es aber viele Interessengruppen gibt, die auf diese Weise befriedigt werden, wird nach mehreren Runden des Parteienwettbewerbs letztlich das System der institutionellen Inkongruenz entstehen, bei dem wie gesagt jeder für jeden bezahlt. 6. Die große Finan^reform von 1969 und der heutige Finanzausgleich Etwas vereinfachend lässt sich sagen: Der kooperative Föderalismus war schon vorhanden, bevor er im Zuge der großen Finanzreform von 1969 eingeführt wurde. Diese Reform war nicht Ursache, sondern Folge der Mischfinanzierung, sozusagen Reflex dessen, dass die para-konstitutionelle Mischverwaltung rechtsstaatlich immer fragwürdiger wurde und daher nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. In der ersten Rundfünkentscheidung von 196114 (als der Bund sich anschickte, ein eigenes Deutschland-Fernsehen zu betreiben) stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass das Grundgesetz dem Bund nicht gestattet, sich nach Opportunität in die Zuständigkeiten der Länder einzumischen. Was aber für das Fernsehen gilt, muss auch für alle anderen Verwaltungsbereiche der Mischverwaltung zutreffen. Verfassungswirklichkeit und Verfassung müssen wieder in Einklang gebracht werden. Innerhalb der bestehenden Regeln wäre es richtig gewesen, die Mischfinanzierungen schrittweise abzubauen und so die Politik an die Verfassung anzupassen. Doch unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs um Wählerstimmen und politische Macht scheint es opportun, die Verfassung an die Wirklichkeit anzupassen, d. h. die bestehenden 14

BVerfGE 12, 205

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 227

Mischfinanzierungen zu belassen, den Ländern in der Mitentscheidung entgegenzukommen und Steuern und Finanzausgleich an die so verteilten Ausgaben anzupassen. Dies geschieht in da großen Finan^reform von 1969.15 Zur Finanzkraft: In der Finanzreform von 1969 werden die Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie die Umsatz- bzw. Mehrwertsteuer als Gemeinschafts- oder Verbundsteuern definiert und auf Bund, Länder und Gemeinden aufgeteilt. Darüber hinaus verfügen Bund, Länder und Gemeinden über eigene Steuern. Dem Bund stehen Steuern wie die Mineralölsteuer, die Tabaksteuer, die Versicherungsteuer usw. zu, den Ländern insbesondere die die Kraftfahrzeug- Erbschaft- Schenkung- und Grunderwerbsteuern, den Gemeinden die Gewerbe- und Grundsteuer. Zum Finanzbedarf und Finanzausgleich: Die genannten Steuern sind in der Finanzreform so verteilt, dass ein durchschnittliches Land mit seiner so erzielten Finan^kraft in der Lage sein sollte, die ihm obliegenden Staatsaufgaben im Wesentlichen selbst zu finanzieren. Im Einzelfall ergeben sich aber Abweichungen. Sie sollen durch den Finanzausgleich ausgeglichen werden. Die damaligen Verfassungsschmiede haben offenbar nicht erkannt, dass sie durch diese Aufteilung eine Momentaufnahme in Verfassung und Gesetz festschreiben, während die Realität sich sukzessive davon entfernt und immer neue Reformen des Finanzausgleichs erfordert. So folgt eine Reform der anderen. Die Länder beginnen sich darauf einzustellen. Sie können nunmehr damit rechnen, bei schlechter eigener Finanzlage eine Auslösung, einen bailout, aus ihren Schulden zu erhalten. 7. Vom ungeschriebenen Verfassungsrecht %um Bailoutprin^ip des Bundesverfassungsgerichts von 1992 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem 1992er Urteil zum Normenkontrollantrag des Saarlandes und Bremens auf Zahlungen zur Überwindung ihrer Haushaltsnotlage Öl ins Feuer dieser fragwürdigen Entwicklung geworfen. Es stützt die Bailout-These mit den Worten: „Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen Gemeinschaft — sei es der Bund, sei es ein Land — in einer extremen Haushaltsnotlage, so erfahrt das bundesstaatliche Prinzip seine Konkretisierung in der Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten." (BVerfGE 86,148, S. 149)

15 Es zeigt sich, dass selbst die für eine Verfassungsänderung erforderliche qualifizierte Mehrheitsregel nicht ausreicht, um das Grundgesetz gegen eine derartige Aushöhlung der institutionellen Kongruenz zu schützen.

228 Föderalismus in Deutschland und Europa

Das Gericht lässt im Unklaren, was es unter der Pflicht zur Hilfe „auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen" „mit dem Ziel der haushaltswirtschafitlichen Stabilisierung" versteht. Zwar kämen nicht nur Bundesergänzungszuweisungen, sondern, wie weiter unten im Urteil angeführt wird, auch Maßnahmen nach dem Haushaltsgrundsätzegesetz, Investitionshilfen und Gemeinschaftsaufgaben und dergleichen in Frage. Ferner werden Verfahrensregelungen angemahnt, die der Entstehung einer solchen Krise zuvorkommen sollen (BVerfGE 86, 248, 266—272). Offenbar ist beabsichtigt, „Hilfe" nicht als bloßen Bailout, sondern als Weg zur Ursachentherapie darzustellen. Das Gericht macht es sich hier aber leicht, indem es diffuse Alternativen ohne konkreten Inhalt empfiehlt. Dem Haushaltsgrundsätzegesetz fehlen die Sanktionsmöglichkeiten; Investitionshilfen und Gemeinschaftsaufgaben laufen auf Subventionen hinaus, Verfahrensregelungen wie Maßnahmen nach Art. 115 Grundgesetz haben sich als ineffektiv erwiesen. Folglich läuft das 1992er Urteil eben doch auf die schlichte Formel hinaus, dass extreme Haushaltsnodagen Geldzahlungen des Bundesstaates, faktisch des Bundes auslösen, und so hat die Bundesregierung im Fall Saar/Bremen auch gehandelt. Die vom Bundesverfassungsgericht angesprochene Pflicht zur Hilfe leitet sich aus dem Prinzip der Bundestreue (auch Bündisches Prinzip genannt) ab. Dieses findet sich freilich nicht im Grundgesetz verankert, sondern wird vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Schritten einer Theorie des Staatsrechtslehrers Rudolf Smend (1916) folgend auf „ungeschriebenes Verfassungsrecht" zurückgeführt (im einzelnen Stefan Oeter, 1998, S. 213 ff.). Wie Stefan Korioth (1990, S. 83-85) in einer Arbeit über Smend ausführt, handelt es sich bei der Bundestreue im Sinne von Smend um ein föderatives Prinzip. Der Bund hält die Glieder des Staates — anders als in Einheitsstaaten — nicht durch zentralstaatliche Maßnahmen, sondern durch die Treue der Gliedstaaten ihrem Bund zusammen. Weiter soll unter den Gliedstaaten ein nicht hegemonialer Föderalismus praktiziert werden (gemeint war, dass sich der ehedem weitaus größte Gliedstaat Preußen Zurückhaltung auferlegen muss und die anderen Gliedstaaten nicht dominieren darf). Alle Bundesgenossen seien grundsätzlich gleich gestellte Partner. Einen Bailout, wie ihn das Bundesverfassungsgericht zulässt, implizit in seinem 1992er Urteil faktisch sogar fordert, lässt sich jedoch aus der Smendschen Theorie nicht nur nicht ableiten, er würde dieser Theorie sogar widersprechen. Denn nach Smend soll die Bundestreue den Föderalismus stärken. Eine Praxis der Schuldenauslösung würde aber unwillkürlich das Ende des Föderalismus und den Übergang zum Einheitsstaat einleiten. Denn einerseits kann sich kein Bundesstaat eine Politik des permanenten Bailout leisten, sondern er muss Vorsorgen, dass nicht die erste Haushaltskrise eine zweite, eine dritte, eine vierte Haushaltskrise usw. nach sich zieht. Dies würde den Bundesstaat in den Ruin treiben. Bei bestehender Hilfepflicht im Sinne des Bundesverfassungsgerichts bliebe ihm nichts anderes übrig, als durch zent-

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 229

raistaatliche Maßnahmen die Haushaltsautonomie so stark einzugreifen, dass es keine Haushaltskrisen mehr gibt. Solche Budgetkontrollen stehen aber der föderalen Autonomie und damit den Intentionen von Smettd, die dem Bundesverfassungsgericht offenbar als Entscheidungsgrundlage dienen, entgegen. Soll aber der Föderalismus bestehen bleiben, wie ihn Smend aus dem Prinzip der Bundestreue ableitet und wie ihn auch das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 vorsieht, so muss das Insolvenzrisiko (wenigstens zum Teil) bei den Gebietskörperschaften bleiben. Es wäre widersinnig, durch ausgreifende Auslösungen zugunsten einiger Bundesglieder den finanziellen Bestand des Bundes zu gefährden, infolgedessen zentralstaatliche Kontrollen einzuführen und dadurch die anderen Bundesglieder dazu zu zwingen, den Föderalismus zugunsten eines Einheitsstaates preiszugeben. Daher schlage ich (wie auch schon der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Wirtschaft und Technologe, 2005) einen Föderalismus mit beschränkter Haftung vor. 5. Bedingter oder unbedingter Bailout? Während die orakelhaften Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts manchen Streit unter Rechtsgelehrten hervorrufen, sehen Ökonomen eine ziemlich eindeutige Interpretation. Sie fragen: Wie beurteilen jene die Auslösepflicht, die an deren korrekter Einschätzung das höchste Interesse haben? Aus ökonomischer Sicht sind dies die Marktteilnehmer, insbesondere die Gläubiger. Denn sie haben am meisten Geld zu verlieren, wenn sie die Folgen einer extremen Haushaltsnotlage eines Bundeslandes falsch einschätzen. Sie sind bestrebt, unter Verwendung aller verfugbaren Informationen zu einer möglichst wirklichkeitsnahen Einschätzung der Äußerungen des Gerichts und der daraus folgenden politischen Entscheidungen zu gelangen. Daher muss ihre Interpretation als die bestmögliche angesehen werden. Bezogen auf die deutschen Bundesländer sehen die Gläubiger im Jahr 2005 keine unmittelbare Gefahr für ihre Schulden. Faktisch verlangen sie von keinem Bundesland höhere Zinssätze als vom sichersten Schuldner unter den Gebietskörperschaften, dem Bund.16 Auf die beträchtlichen Unterschiede der Haushaltsdefizite der Länder achten sie offenbar nicht, sondern davon auszugehen, dass der Bund alle Länderschulden garantiert und auch zu garantieren in der Lage ist. Daher besteht kein Grund, die Zinssätze unter den Schuldnern wesentlich zu differenzieren. Besonders deutlich tritt dieses Ergebnis aus den Veröffentlichungen der RatingAgenturen hervor, vgl. Tabelle 2. Nach Standard Poor's liegen alle Länder im Jahr 2005 im Bereich von AAA bis AA , genießen also beste Bonität. Ahnliches gilt für Moody's. Fitch schätzt sogar alle Länder einheitlich mit AAA ein. Die Agenturen be-

16

Unterschiede aus technischen Gründen ausgenommen.

230 Föderalismus in Deutschland und Europa

ziehen sich auch explizit auf den Länderfinanzausgleich und letztlich auf das erwartete Einspringen des Bundes, wonach selbst Zinszahlungsverzögerungen als unwahrscheinlich angesehen werden. Der Glaube der Agenturen an die bundesstaatlichen Sicherungsinstitutionen ist offenbar so stark, dass sie selbst über die sehr unterschiedlichen Haushaltsdefizite der Länder hinwegsehen. Es lässt sich sagen: Die Länderratings widerspiegeln das AAA Rating des Bundes. Tabelle 2: Die Bonitätsratings der Bundesländer 2005 Land

Standard & Poor's

Moody's

Fitch

Baden-Württemberg

AA+

Aaa

AAA

Bayern

AAA

Aaa

AAA

Berlin Brandenburg Bremen

-

AA~ -

-

Aa2

AAA AAA

-

AAA

Hamburg

AA~

-

AAA

Hessen

AA+

-

AAA

-

-

AAA

-

-

AAA

MecklenburgVorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen

AA~

Aa2

AAA

Rheinland-Pfalz

-

-

AAA

Saarland

-

-

AAA

Sachsen

-

-

AAA

Sachsen-Anhalt

AA"

Schleswig-Holstein

-

Thüringen

-

Aa3

AAA

A~

AAA

-

AAA

Quelle: IFestLB Wenn die Gläubiger Grund haben, davon auszugehen, dass ihre Kredite notfalls durch den Bundesstaat als ganzen, faktisch den Bund, garantiert werden, so wird sich dies auch auf die Haltung der Schuldner auswirken. Sie werden sich sagen: So ernst kann die Lage für uns nicht sein. Unter der gegebenen Verfassungslage gibt es wenig Handhaben, gegenüber uns Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. So werden ernsthaf-

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 231

te Restrukturierungsmaßnahmen hinausgeschoben und weiterhin Schulden aufgenommen. 6. Das Berlin-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2006 An dieser Haltung wird sich auch nach dem Berlin-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006 vorerst nichts ändern. Das Gericht legt dar, dass es Berlin gar nicht so schlecht geht und dass auch gegenüber Hamburgs Ausgaben die von Berlin reichlich sind. Berlin könne noch einsparen, heißt es. Im Übrigen gäbe es noch Einnahmemöglichkeiten, etwa bei der Gewerbesteuer. Damit schlüpft das Bundesverfassungsgericht in die Rolle eines Unternehmensberaters, der seine Kunden über die Uberlebensfahigkeit einer Gebietskörperschaft informiert. Das entspricht nicht seiner Aufgabe. Doch wann ist denn Berlin wirklich pleite? Dies muss nach Meinung des Gerichts angenommen werden, wenn ein Land seine verfassungsmäßigen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, genauer: „wenn die Haushaltsnodage eines Landes ... ein so extremes Ausmaß erreicht hat, dass ein bundesstaatlicher Notstand ... eingetreten ist." (172). Dann „ist bundesstaatliche Hilfeleistung durch Mittel zur Sanierung als ultima ratio erlaubt und dann auch bundesstaatlich geboten." Wann diese Notlage gegeben ist — und hier beißt sich die Katze in den Schwanz - hängt wiederum vom Bundesverfassungsgericht ab. Indem es erklärt, dass Hilfeleistung am Ende doch „bundesstaatlich geboten" ist, gibt es ein Signal an die Gläubiger, dass Berlin kreditwürdig ist, und der Berliner Senat sieht, dass er sich so über Wasser halten und die Nodage vermeiden kann. Auch die Rating Agenturen sehen dies so. Sie geben Berlin die besten Noten, nämlich Fitch AAA und Moody's Aa3 wie vor dem Urteil. C. Gullivers Befreiung Die geringe Fähigkeit der deutschen Bundesländer, im europäischen Systemwettbewerb an der Spitze zu stehen, ist das Ergebnis von 57 Jahren interessenpolitisch motivierter Regulierung. Immer weniger können die Bundesländer auf den von außen auf sie zu kommenden Wettbewerb reagieren. Gulliver im Lande Lilliput hatte demgegenüber Glück im Unglück. Die Interessen^werge, die ihn bis %ur völligen Bewegungslosigkeit gefesselt hatten, rannten voll Stol^ ihrem Kaiser, um ihm ihr Werk geigen. Dieser erkannte umgehend die Sinnlosigkeit einer solchen Regulierung. Er rief seine Palastwachen und befahl ihnen, ohne Rücksicht auf den Protest der „Interessen", sämtliche Schnüre, mit denen sie Gulliver gefesselt hatten verschneiden. Dann entließ er Gulliver mit mahnenden Worten in die Freiheit: „Sehen Sie, ich habe Siejettg befreit und Sie in die Selbstverantwortung entlassen. Hüten Sie sich in Zukunft vor den „Interessen". Vor

232 Föderalismus in Deutschland und Europa

allem legen Sie sich nicht achtlos %ur Ruhe, auch wenn Sie noch so müde sind. Denn unverhofft werden die „Interessen" wieder kommen und Ihnen ¥ essein anlegen. Ein %weites Mal werde ich Sie nicht mehr retten. Und damit Sie sehen, dass meine Mahnung glaubwürdig ist, befehle ich Ihnen und ihren von mir ebenfalls befreiten 15 Brüdern, mein Reich auf immer verlassen. Gulliver und seine Brüder dankten dem Kaiser, trogen in ihre Heimat, gaben sich ein neues Grundgesetz in dem der Nobailout bankrotter Gebietskörperschaften auf ewig verankert war, sie wurden wohlhabend und leben glücklich bis %um heutigen Tag. Die Frage der Fusion kleiner Bundesländer legen sie ein für allemal als irrelevante Frage beiseite.

Literatur T. Besley und Coate, Centralized versus Decentralized Provision of Local Public Goods: A Political Economy Analysis, Journal of Public Economics 87, 2003, S. 2611—2637. Ch. B. Blankart, Die schleichende Zentralisierung der Staatstätigkeit: Eine Fallstudie, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 119,1999, S. 331-350. Ch. B. Blankart, Föderalismus in Deutschland und in Europa. Chancen ergreifen und Risiken bewältigen, Baden-Baden (Nomos) 2006.

Charles B. Blankart: Gulliver und der deutsche Föderalismus 233

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234 Föderalismus in Deutschland und Europa

Die Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland Ernst Burgbacher* Das föderale System der Bundesrepublik Deutschland hat seinen Anfang in der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches Anfang Mai 1945 und der nach dem Ende des „Dritten Reiches" wiedereinsetzenden demokratischen Entwicklung in Deutschland. Die Reaktion der deutschen Politik und der Alliierten auf die Herrschaft des NSRegimes und der hierunter erfolgten weitgehenden Zentralisierung Deutschlands führte zu einer Renaissance des Föderalismus. Der deutschen Staatslehre keineswegs fremd - und auch in der Zeit der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 bei aller unitarischen Ausrichtung vorhanden — konnte der Föderalismus erst nach dem Zweiten Weltkrieg von den neu bzw. wieder entstandenen Ländern etabliert werden. Das Interesse der Besatzungsmächte bestand naturgemäß darin, einem besiegten Deutschland in der Mitte Europas kein allzu großes Gewicht zu geben — ein Vorbehalt, der auch bei der deutschen Wiedervereinigung, insbesondere auf britischer Seite, noch vorhanden war. Diesem Ziel dienten die Vorgaben der Alliierten bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die an erster Stelle eine föderale Organisation mit starken Ländern vorgesehen hatten. Jedoch war im Jahre 1948 auch zu berücksichtigen, dass die Ministerpräsidenten der Länder zunächst die Hauptakteure waren und die Gründung eines Gesamtstaates nur mit ihnen erfolgen konnte. Auf ihre starke Stellung hatte der Parlamentarische Rat Rücksicht zu nehmen, und der Föderalismus musste aus den Ländern heraus entwickelt werden. Es entsprach deutscher Tradition, bestimmte Politikbereiche den Ländern zu übertragen. Noch aus der Zeit des deutschen Kaiserreiches war eine weitgehende Autonomie der Einzelstaaten bekannt und die Zuständigkeit der Länder für Bereiche wie beispielsweise die Kultur- und Bildungspolitik weitgehend unumstritten. Mit der Annahme des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war ein System etabliert, das auf Wettbewerb zwischen den Ländern und eine strikte Aufgabentrennung zwischen Bund und Ländern setzte. Rahmenkompetenz und Ausgleichsmechanismen gab es zunächst nicht.

* Ernst Burgbacher, MdB, Oberstudienrat a. D., ist Parlamentarischer Geschäftsführer der FDPBundestagsfraktion und Vertreter der FDP in der Bundesstaatskommission.

Ernst Burgbacher: Die Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland 235

Vor allem in den 1960er Jahren verstärkte sich die Entwicklung, dass in allen Bereichen der Politik und auf allen staatlichen Ebenen die Zusammenarbeit verstärkt und verbessert wurde. Diese Entwicklung fand einen Höhepunkt mit den Änderungen des Grundgesetzes vom 12. Mai 1969 und den hierdurch eingeführten Gemeinschaftsaufgaben. Die große Finanzreform von 1969 führte zu einer Verstärkung und Verselbständigung der umfassenden Aufgaben- und Finanzverflechtung zwischen Bund und Ländern, — die föderale Politikverflechtung und der kooperative Föderalismus wurden zum „Markenzeichen" des deutschen föderalen Systems. Selbst in dem Kernbereich der Länderzuständigkeit, der Bildungspolitik, etablierte sich ein kooperativer Föderalismus, der zu einer Selbstkoordination und Selbstbeschränkung der Länder führte. Die Folge von Gemeinschaftsaufgaben und weit reichenden Zustimmungsrechten seitens des Bundesrates war und ist eine Verflechtung der föderalen Ebenen der Bundesrepublik und eine Lähmung staatlichen Handelns — sowohl in den Ländern als auch im Bund. Gegen diese Lähmung des Staates und die weit reichende Handlungsunfähigkeit haben sich wichtige Stimmen erhoben und darauf hingewiesen, dass die Handlungsfähigkeit Deutschlands im Inneren wie im Äußeren gefährdet sei. Diese stets wachen und mahnenden Stimmen haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder eine grundlegende Reform des föderalen Systems angemahnt und dazu aufgerufen, Eigenverantwortung sowohl des Bundes als auch der Länder zu stärken. Die Grundausrichtung des föderalen Systems müsste so beschaffen sein, dass die Grundprinzipien der Autonomie, der Subsidiarität und der Freiheit, aber auch der Solidarität und des Wettbewerbs innerhalb der Bundesrepublik grundlegend und umfassend berücksichtigt werden. Seit dem Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stellt die Reform der bundesstaatlichen Ordnung ein Dauerthema von Politik, Wissenschaft und Verwaltung dar, welches durch die politischen Entwicklungen am Ende der achtziger Jahre und durch die Wiedervereinigung neuen Schwung bekam und in den Vordergrund der Reformdiskussionen rückte. Ein Grundgedanke der Reformbefürworter, die lange Zeit gleichsam „gegen Windmühlen zu kämpfen" schienen, war dabei stets das Konzept des Wettbewerbsföderalismus. Zwar erfolgte 1994 eine Änderung des Grundgesetzes, mit welcher auf die veränderten Bedingungen durch die Wiedervereinigung und die fortschreitende europäische Einigung reagiert werden sollte, jedoch wurde eine Entflechtung der beiden föderalen Ebenen nicht erreicht.

236 Föderalismus in Deutschland und Europa

Seit 1997 wurden seitens der Friedrich-Naumann-Stiftung die Reformbemühungen vorangetrieben. Am 4. Februar 1998 wurde das erste Föderalismus-Manifest „Wider die Erstarrung in unserem Staat — Für eine Erneuerung des Föderalismus" veröffentlicht. Die einsetzende Diskussion und das Vordringen der Gewissheit, dass eine Reform des Föderalismus notwendig sein würde, um den deutschen Staat in einer veränderten Welt handlungsfähig zu erhalten, führten zu Konkretisierungen und Ergänzungen dieses ersten Föderalismusmanifests durch die Manifeste „Für eine Neuordnung der Finanzverantwortung von Bund und Ländern", „Für eine neue Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden: Subsidiarität ohne Wenn und Aber!", „Für einen reformfähigen Bundesstaat: Landtage stärken, Bundesrat erneuern" und „Für ein Europa der Freiheit und der Bürger". Diese Reformüberlegungen, die auch in der Diskussion über eine Neuordnung der bundesstaatlichen Ordnung durch die Föderalismuskommission von 2003 eine wichtige Rolle spielten, wurden unter Leitung von Otto Graf Lambsdorff erarbeitet. Fachleute aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, die bereits die Dringlichkeit der Reform des föderalen Systems erkannten, haben sich parteiübergreifend der Erarbeitung dieser wegweisenden Manifeste angeschlossen und die Ausrichtung an den oben beschriebenen Grundparametern von Freiheit, Wettbewerb und Subsidiarität angemahnt. Dabei kann die Rolle von Otto Graf Lambsdorff, dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister und überzeugten „Marktgrafen", nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Föderalismuskommission des Jahres 2003 ließ die übergreifend für notwendig erachteten Ziele, wie sie in den Föderalismus-Manifesten zum Ausdruck kamen, jedoch in weiten Teilen außer Acht. Bereits die Einsetzung einer Reformkommission, bestehend aus Mitgliedern der zu reformierenden Körperschaften, musste allzu große Erwartungen in die Reform begrenzen. Zwar war bei den Mitgliedern der Kommission der Wille zur Reform ausgeprägt und die Sacharbeit vorherrschend, jedoch verfing sich die Arbeit der Föderalismuskommission selbst in den allzu engen Maschen des kooperativen Föderalismus und endete in der „Verflechtungs-Falle". Die beschränkten Möglichkeiten von Bundestag und Bundesrat, sich gleichsam wie Münchhausen selbst am Schöpfe aus der Misere zu ziehen, scheiterten. Ein unabhängiger und vor allem umfassend legitimierter Konvent - der über alle reformbedürftigen Themen hätte verhandeln können — wäre geeigneter gewesen, die notwendige Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Es bleibt abzuwarten, ob die vom Deutschen Bundestag am 30. Juni 2006 und vom Bundesrat am 7. Juli 2006 beschlossenen Änderungen des Grundgesetzes zu einer (ersten) Entflechtung des föderalen Systems führen.

Ernst Burgbacher: Die Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland 237

Notwendig ist nun die Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Sie hätte eigentlich am Anfang der Reform stehen müssen. Noch mehr als in der ersten Stufe wird sich dabei der Gegensatz zwischen denen, die das System des kooperativen Föderalismus erhalten oder gar ausbauen wollen, und denen, die auf Wettbewerbsföderalismus setzen, zeigen. In den Beratungen der Föderalismuskommission wurde an vielen Stellen deutlich, dass der tiefere Grund für viele Meinungsunterschiede im Verständnis von Wettbewerb lag. So wurde den liberalen Vorschlägen immer wieder unterstellt, sie führten zu „ruinösem" Wettbewerb; Gewinner im Wettbewerbsföderalismus könnten per se nur die reichen Länder sein. Die Grundfrage für die zweite Stufe der Föderalismusreform wird also sein, ob ein Ansatz gefunden wird, der auch die bisherigen Gegner von den Chancen, die sich aus mehr Wettbewerb ergeben, überzeugen kann. Die Vorteile des Wettbewerbs können jedoch nur dann vermittelt werden, wenn auch den heute wirtschaftlich schwächeren Ländern die Möglichkeit eines Neuanfangs geboten werden kann, ohne die Länder aus der Verantwortung für wirtschaftliches Handeln zu entlassen. Die Aufnahme eines Neuverschuldungsverbots in das Grundgesetz, die Reduzierung oder besser Abschaffung des horizontalen Länderfinanzausgleichs und die Reduzierung der gegenseitigen Haftung sind unverzichtbare Bestandteile einer zweiten Reformstufe. Die teilweise oder gesamte Übernahme der Schulden der Länder und Gemeinden in einen Bundesschuldentopf könnte ein Schlüssel zur Durchsetzung sein. Die Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland wird jedoch nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn auch künftig die Diskussion über eine Neuordnung der Finanzverfassung von Autoritäten wie Otto Graf Lambsdorff begleitet wird. Die Notwendigkeit zu einer tief greifenden Veränderung besteht. Handeln wir nach dieser Erkenntnis und fragen wir nicht länger, „ob das schöne deutsche Wort .notwendig' bedeutet, dass immer erst die ,Not' etwas .wendet'!" (Otto Graf Lambsdorff).

238 Föderalismus in Deutschland und Europa

Gefesselte Freiheit - das Schicksal des deutschen Föderalismus Klaus von Dohnanyi* Der deutsche Föderalismus hat keine freiheitlichen Wurzeln. Was wir heute mit positivem Beiklang Föderalismus nennen, das hieß in seinem Ursprung sehr viel weniger positiv: deutsche Kleinstaaterei. Und noch heute prägt im politischen Streit um die Zuständigkeiten von Bund und Ländern dieser Begriff häufig das Debattenklima. „Zaunkönige" nannte Helmut Schmidt gern die Ministerpräsidenten der Länder, und Gerhard Schröder war nur ein widerwillig skeptischer Betrachter jener zu Beginn des neuen Jahrhunderts aufkeimenden Föderalismusdebatte; er fürchtete ein Abgleiten vom Bundesstaat in einen „Staatenbund". Dabei hatte historisch — allerdings nur organisatorisch betrachtet — scheinbar kein anderes Land in Europa so gute Voraussetzungen für einen lebendigen und produktiven Föderalismus wie Deutschland. Über Jahrhunderte blieb dem großen deutschen Sprachraum in der Mitte Europas die nationale Einheit verwehrt. Zu groß war das Gewicht dieser deutschsprachigen Mitte, zu störend ein deutscher Nationalstaat im Gleichgewicht der europäischen Mächte. So bildeten sich im Streit der großen Nachbarn um die Herrschaft über den deutschen Raum, und im Niedergang des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation", bei uns obrigkeitliche Kleinstaaten heraus, die schon vor — und noch intensiver seit dem Westfälischen Frieden von 1648 — bemüht waren, ihre schmalbrüstige Souveränität in einem sicherheitsgetriebenen, diplomatischen Verwirrspiel zu behaupten. Nicht Bürger, sondern Fürsten also schufen und trugen diese deutschen Kleinstaaten. Die Bürger wählten dann die Sicherheit im Staat statt der Bürgerrechte eigener Verantwortung. Die jeweiligen Landesherren blieben natürlich zu schwach, um sich im europäischen Konzert der großen Mächte zu behaupten. Die Friedensakte von 1648 erlaubte es ihnen zwar, mit fremden Mächten, die nicht zum „Heiligen Römischen Reich" gehörten, Bündnisse einzugehen: gegen einander und notfalls auch gegen Kaiser und Reich. Aber miteinander für die deutsche Einheit — das war ihnen seit 1648 völkerrechtlich untersagt. Solche Kleinstaaten deutscher Nation fand Napoleon dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor, keiner davon in der Lage, Frankreich Paroli zu bieten, aber mancher schnell zum Bündnis mit Napoleon bereit. Auch das seit An-

* Dr. Klaus von Dohnanyi, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft a. D. und Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg a. D., ist stellvertretender Vorsitzender des Konvents für Deutschland.

Maus von Dohnanyi: Gefesselte Freiheit - Das Schicksal des deutschen Föderalismus 239

fang des 18. Jahrhunderts aufstrebende Preußen fiel 1806 mit dem Reich. Aus der historisch gewachsenen Vielzahl von Einzelstaaten formte der französische Kaiser dann neue Staatsgebilde; kleinere Einheiten wurden entsprechend den hegemonialen Interessen des französischen Eroberers größeren Einheiten beliebig zugeschlagen oder mit anderen verbunden. So entstanden neue, organisatorisch vielleicht effizientere Staatsgebilde, denen aber bis auf wenige Ausnahmen wie z. B. Bayern, Brandenburg-Preußen, Württemberg oder auch Sachsen der Kern landsmannschaftlichter Identität meist fehlte. Etwas ähnlich Unhistorisches haben heute diejenigen deutschen Politiker oder Journalisten im Auge, die aus 16 deutschen Ländern zum Beispiel einfach mal acht Länder machen wollen, Gebilde mit Namen, die dann niemand mehr kennt, mit denen sich niemand mehr identifizieren wird. Warum würden wir solche Länder dann nicht einfach — wie bei George Orwell — mit Nummern bezeichnen, Land 1, Land 2, Land 3 und so weiter — statt Bayern, Sachsen, Thüringen, Hamburg oder Mecklenburg-Vorpommern? Doch zurück zur Geschichte: Angesichts der Lage im europäischen Machtgefuge kann es kaum Wunder nehmen, dass die Bürger der vielen Kleinstaaten auch die damals von fremder, imperialer Macht gestalteten neuen deutschen Staatsgebilde nicht als ihre eigene Verantwortung annahmen. Sie begnügten sich weiterhin, tüchtige, pfliehtbewusste und gut ausgebildete Untertanen zu sein — eben Bildungsbürger, meist in staatlichem Dienst. Wie sehr das wechselnde Schicksal der Grenzen zwischen den deutschen Kleinstaaten diese unpolitische Tendenz zum Bildungsbürger beförderte, zeigt ein Vergleich mit den historisch stabileren Stadtstaaten wie Hamburg oder Bremen. Aber auch die bis heute starke landsmannschaftlichte Identität der auf eine lange staatliche Geschichte zurückschauenden Bürger von Bayern, Württemberg oder Sachsen. Ist es ein Zufall, dass auch diese Bundesländer einen Bürgerstolz entwickelten, der manchen von den Alliierten 1947 zusammengewürfelten westdeutschen Staatsgebilden bis heute fehlt? Ein solches Bürgerbewusstsein gab es übrigens auch in Brandenburg-Preußen, das aber im Gefolge des 2. Weltkrieges vollständig, sogar mit seinem Namen Preußen, von der Landkarte getilgt wurde: ein Unding. Während die deutschen Staaten wegen ihres wechselhaften Grenzschicksals also wenig dazu beitragen konnten, eine historisch fundierte, bürgerliche Identität wachsen zu lassen, war dies in den deutschen Städten ganz anders. Vielleicht gerade, weil das Landesschicksal so wechselhaft war, entstand in den Hansestädten, den freien Reichsstädten und Kommunen ein selbstbewussteres Bürgertum und damit auch ein Sinn für kommunale Eigenverantwortung. Diese Tradition wurde dann zu Beginn

240 Föderalismus in Deutschland und Europa

des 19. Jahrhunderts und nach dem Zusammenbruch Preußens durch die großen Reformen des Freiherrn von Stein sogar wieder erweckt und erneuert. Mit dieser Geschichte im Gepäck konnte das kleindeutsche Bismarck-Reich kaum auf einem bürgerlich-freiheitlichen Föderalismus gründen. Der Bundesstaat von 1871 fußte zwar auf einem verbreiteten nationalen Einheitswillen, aber die föderale Organisation gründete letztlich doch wiederum auf einem Fürstenvertrag und politisch opportunem Grenzgeschacher. Das Bismarck-Reich war föderal, kannte aber keinen von selbstbewussten Bürgern getragenen Föderalismus, wie er etwa den Staaten der USA oder den Kantonen der Schweiz noch heute eigen ist. Dieses Reich von 1871 war im Wesentlichen organisatorisch (und nicht demokratisch) dezentral und föderal orientiert; es brach 1918 zusammen. Die kurzlebige Weimarer Republik trug bereits einen stärker zentralistischen Zug, den dann die Nationalsozialisten konsequent zu Ende führten: so sehr, dass nach dem Ende der Hider-Herrschaft die Siegermächte das Erzübel der deutschen Geschichte in einem preußisch-dominierten Zentralismus erblickten. Sie zerschlugen Preußen und bestanden im Westen 1949 bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf einer extremen Dezentralisation: Keinerlei Vollzugsbefugnisse durften Bundesgesetzgeber und Bundesregierung auf Landes- und kommunaler Ebene haben. Weder für Gerichte, noch für die Eintreibung der Steuern; nicht für die Polizei oder den Verfassungsschutz; schon gar nicht für Schulen oder Universitäten. Wiederum ganz anders, zum Beispiel, als die Strukturen der demokratisch-föderalen USA. Es waren im westlichen, geteilten Deutschland ja auch die Länder, die letztlich die Republik gründeten; sie waren der Ausgangspunkt für das neue, demokratische Deutschland; sie hatten sich bereits 1947 demokratisch etabliert. Jetzt hätte die Nation wirkliche eine Chance für einen echten demokratischen Föderalismus gehabt. Mit klaren und notwendigen Bundeszuständigkeiten, aber eben auch mit ebenso deutlicher Eigenverantwortung der Länder. Hätte es nun auch einen wirklichen Sinn für Eigenverantwortung und Selbstbestimmung bei den Bürgern der neu geschaffenen Länder gegeben, dann wäre das Grundgesetz nicht schrittweise zu einer immer weiter ausgedehnten Mischverantwortung von Bund und Ländern degeneriert. Aber um die föderale Chance nach 1949 zur Wirklichkeit werden zu lassen, hätte es eben dieses föderalen Bürgerbewusstseins bedurft: Eines Sinnes der Bürger für Freiheit, Verantwortung und Selbstbehauptung ihrer Region, ihrer Kommune, ihres Landes. Eines Bewusstseins, wie es in den Schweizer Kantonen oder den Mitgliedstaaten der USA vorherrscht: Eines Selbstvertrauens zur politischen Eigenverantwortung und einer kritischen Aufmerksamkeit gegenüber jeder überflüssigen zentralistischen Bevormundung. Kein Bürger des Kantons Zürich würde es sich nämlich

Klaus von Dohnanyi: Gefesselte Freiheit - Das Schicksal des deutschen Föderalismus 241

gefallen lassen, dass ihm aus der Bundeshauptstadt Bern vorgeschrieben würde, wie in Zürich die Hebesätze zur Einkommensteuer angesetzt werden! Und wenn jemand in den USA auf die verrückte Idee käme, den kleinen Staat Vermont wegen seiner nur gerade 600-Tausend Einwohner mit der Begründung verwaltungstechnischer Einsparungen einfach dem Nachbarstaat zuzuschlagen — wer so etwas vorschlagen würde, den würde man schlicht aus jedem Parlament der USA heraus lachen. Oder meint jemand die New Yorker würden für ein Rauchverbot in ihren Kneipen auf eine Anordnung aus Washington warten? Nicht so bei uns. Wir halten wenig von regionaler Identität und bürgerlicher Eigenverantwortung als Basis des deutschen Föderalismus. Wir haben eine Tradition der Kleinstaaten, nicht eines wahren, bürgerlichen Föderalismus. Für uns ist Föderalismus eben nicht ein Prinzip der politischen Gestaltung in regionaler Verantwortung und damit der Selbstbehauptung gegenüber zentralistischen Ubergriffen. Wir halten in den Ländern aber auch nichts von klaren Bundeszuständigkeiten dort, wo sie notwendig sind. Für die große Mehrheit der Deutschen ist deswegen Föderalismus auch heute noch nichts anderes als ein eher lästiges Organisationsprinzip; man würde ihn am liebsten abschaffen. Und gerade diejenigen, die die Vertretung bürgerlicher Freiheitsansprüche für sich am lautstärksten reklamieren, neigen oft am deutlichsten zur zentralstaatlichen Kompetenz und damit doch letztlich zur Bevormundung der Bürger: Die meisten Sozialdemokraten und, für lange Zeit, (oder heute noch immer mehrheitlich?) auch die Freien Demokraten. Und natürlich die im Zentralismus geschulte PDS. Was aber soll aus einem Föderalismus werden, der nicht getragen wird von einem tiefen Sinn freiheitlich bürgerlicher Eigenverantwortung? Aus einer Gesellschaft, die nur nolens volens in einem föderalen Staat mit seinen unvermeidlichen Schwerfälligkeiten lebt und die eine aus der Zentrale verordnete Sicherheit noch immer der Chance freiheitlicher politischer Gestaltung im kleineren Raum vorzieht, weil sie nämlich die Folgen regionalen Wettbewerbes scheut? Freiheit ohne Wettbewerb? Eine Schnapsidee! Wie soll ein Föderalismus gedeihen mit Politikern, die ohne Rücksicht auf regionale Identität immer wieder für eine „Arrondierung" der Ländergrenzen durch eine sogenannte „Neugliederung" plädieren, nur um ein paar Verwaltungseuros zu sparen? Kann es also in Deutschland überhaupt einen lebendigen Föderalismus geben? Eine Hoffnung allein sehe ich: Nur wenn wir weiter konsequent politische Verantwortungen auf die kleineren Einheiten verlagern und dort dann im Rahmen eines gerechten Finanzausgleichs Risiko, Verantwortung, aber eben auch Erfolgserlebnisse erfahren werden - dann könnten die Bürger am Ende vielleicht doch Gefallen an den Chancen gestaltender Eigenverantwortung finden. Insofern war die Föderalismusreform 2006 nur ein Anfang - wenn wir denn Föderalismus wirklich wollen. Wir brauchen

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nicht nur eine dem Föderalismus angemessene Finanzverfassung - wir brauchen auch noch weitere, materielle Schritte der Entflechtung von Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Die damit verbundenen Erfolgserlebnisse der Eigenverantwortung könnten dann vielleicht auch ein beständiges, bürgerliches Selbstvertrauen wachsen lassen, das die „German Angst" aus unserem Land vertreiben und so ein demokratisches Fundament für einen wirklichen deutschen Föderalismus bilden könnte. Einen Föderalismus nämlich, der auf Freiheit und Verantwortung und nicht auf organisatorischen Tüfteleien gründet. Let's hope!

Roman Herzog: Europäische Verfassungsgebung 243

Europäische Verfassungsgebung Roman Herzog* Die Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden, die im Jahre 2005 statt gefunden und zu eindeutig negativen Ergebnissen gefuhrt haben, sollten die Verantwortlichen, wenn auch verhältnismäßig spät, zum Nachdenken veranlassen. Weder darf das, was da geschehen ist, als Panne qualifiziert werden, die sich in günstigeren Zeiten ohne weiteres durch Ansetzung neuer Volksabstimmungen beheben lässt, noch darf sich die Sorglosigkeit wiederholen, mit der im Vorfeld mit dem Begriff der Verfassung umgegangen wurde. Eine bloße Panne war der Vorgang ganz bestimmt nicht. Wer nicht sehr weit vom berühmten Mann auf der Straße lebte, der konnte wissen, wie fremd Europa — oder sagen wir es deutlich: wie fremd die Europäische Union — ihm inzwischen geworden ist. Die großen Vorteile, die sie ihm tagtäglich bringt, hat er, wie man so sagt, verinnerlicht, d.h. er nimmt sie als gegeben hin und verspürt dafür nicht einmal mehr eine Dankesschuld. Die immer krasser werdende Bürokratie, die bis ins Lächerliche gehende Normierungswut und die anachronistische Haushaltspolitik, die am Ende eines Industriezeitalters fast die Hälfte ihres Geldes noch in die Landwirtschaft steckt, sieht er aber fast täglich. Je nach Temperament schüttelt er darüber den Kopf oder ballt die Faust in der Tasche. Ein Verfassungstext, der volle 488 Artikel umfasst und den daher kein Bürger versteht, hätte daran auch im Fall seiner Annahme nichts geändert. Wo die Bürger selbst zur Entscheidung berufen waren, lag es aber nahe, dass sie es gar nicht so weit würden kommen lassen, und wenn es hier ein Rätsel gibt, dann besteht es darin, warum die Verantwortlichen das nicht auch wussten. Mag das bereits ärgerlich sein, so ist es doch nichts im Vergleich damit, wie unqualifiziert im Vorfeld des Entscheidungsverfahrens mit dem Begriff der Verfassung umgegangen wurde. Wer die Geschichte Europas auch nur ein bisschen kennt, der weiß, dass es hier nicht um einen schönen Ausdruck geht, sondern um einen Gegenstand von höchster Bedeutung für das demokratische Innenleben der verfassten Gemeinschaft. Nach europäischer Rechtstradition ist nicht das eine Verfassung, was irgendjemand aus welchen Gründen auch immer Verfassung nennt, sondern es handelt sich dabei um einen Text, der entweder von der beteiligten Gemeinschaft, im staatlichen Bereich von einer Nation, beschlossen worden ist — oder zumindest von einer verfassungsgebenden Versammlung („Konstituante"), die genau zu diesem

* Professor Dr. Dr. hc. mult. Roman Herzog war von 1987 bis 1994 Präsident des Bundesverfassungsgerichts und von 1994 bis 1999 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

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Zweck durch Volkswahl eingesetzt worden ist. (Die deutschen Besonderheiten sollen hier nicht verschwiegen, aber auch nicht zum wiederholten Male diskutiert werden.) Weder das eine noch das andere war bei der geplanten Europäischen Verfassung der Fall. Es handelte sich um einen Vertragsentwurf, der zwar zu einer materiellen, auf keinen Fall aber zu einer förmlichen Verfassung im Sinne der demokratischen Verfassungstradition hätte werden können. Die Brüsseler Vorkämpfer wussten das zwar auch, aber sie rückten damit erst heraus, als das Kind bereits im Brunnen lag und es nur noch um Schadensbegrenzung ging — es sei ja gar nicht eine Verfassung, sondern „nur" der Entwurf eines Verfassungsvertrages gescheitert. Difficile est saturam non scribere. Der Konvent für Deutschland, in dem ich mit Otto Graf Lambsdorff seit Jahren zusammen arbeite, hat rechtzeitig versucht, den Verantwortlichen wenigstens in Deutschland dieses Dilemma zu ersparen, indem er vorschlug, den Brüsseler Entwurf auch hierzulande dem Volk zur Entscheidung zu unterbreiten. Natürlich wurde uns entgegen gehalten, dass das nach geltendem Verfassungsrecht nicht möglich sei. Aber das wussten wir selbst. Nur kann man Verfassungen auch ändern, und das wäre ein so wichtiger Akt wie die erste gemeineuropäische Verfassung demokratischer Provenienz allemal wert gewesen. Der vorliegende Beitrag könnte damit abgebrochen werden, wenn es ihm nur um die Beleuchtung der Vergangenheit ginge. Aber so ist er nicht gemeint. Wer nach einem europäischen Verfassungsreferendum ruft, muss ja wohl etwas präziser sagen, wie ein solches aussehen könnte. Am einfachsten wäre es selbstverständlich, den Bürgern Europas einen auf dem bisherigen Entwurf aufbauenden, aber wesentlich gekürzten Entwurf zur Abstimmung vorzulegen und diese dann mit Mehrheit entscheiden zu lassen; so sind in der Vergangenheit die meisten nationalen Verfassungen entstanden. Das Dilemma ist nur, dass es in den Staaten, in denen das geschah, vorher schon Nationen gab, die sich als einheitliche — und einige! — Schicksals- und Handlungsgemeinschaften verstanden. Man wird Europa und der Europäischen Union nicht Unrecht tun, wenn man hier behauptet, dass es eine solche gesamteuropäische Nation bislang nicht gibt. Das wird zwar so nicht immer klar ausgesprochen, weil man sich mit dem Begriff der Nation überhaupt recht schwer tut. Die üblichen Feststellungen, dass es keine europäische „Zivilgesellschaft" oder auch keine europäische „Öffentlichkeit" gebe, besagen aber doch wohl nichts anderes, und der empirische Befund ist insoweit eindeutig — man mag das bedauern oder auch nicht.

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Das ist nicht nur eine Frage der Begrifflichkeit, sondern es fuhrt ins Zentrum des Problems. Es sagt sich nämlich so leicht, dass in der Demokratie halt die Mehrheit entscheide, wie es ja auch der Beschreibung der hier diskutierten Variante zu Grunde liegt. Aber warum soll sich die unterlegene Minderheit eigentlich der Mehrheit beugen? Die früher oft zu hörende Behauptung, dass für die Mehrheit eben die Vermutung der größeren Vernunft spreche, können wir angesichts unserer deutschen Erfahrungen wohl zur Seite legen. Dann bleibt aber genau genommen nur noch der Rekurs auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das stärker ist als der Dissens in einzelnen Fragen und zu einzelnen Entscheidungen — auf der Ebene der hergebrachten europäischen Staaten eben auf das Nationalgefühl. Genau daran fehlt es im gemeineuropäischen Kontext aber noch, wie immer sich die Zukunft entwickeln mag. Europa hat keine eigene Öffentlichkeit, es hat keine eigene Zivilgesellschaft und es hat — sagen wir es deutlich — auch keine eigene Nation. Ich glaube nicht, dass es unter den 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nur einen gibt, dessen Bürger sich durch eine - beispielsweise - aus deutschen, französischen, spanischen und polnischen Stimmen gebildete Mehrheit überstimmen ließen. Der Weg der gesamteuropäischen Volksabstimmung, des „Durchzählens" also, ist infolgedessen verbaut, und das wohl noch auf geraume Zeit. Das dürfte übrigens ganz besonders für die Nationen Ostmitteleuropas gelten, die, wie jedermann verstehen muss, nur geringe Neigung zeigen, noch zusätzliche Stücke der Souveränität, die sie so lange entbehren mussten und nur unter Opfern wieder erlangt haben, nach Brüssel weiter zu reichen. Auch in dieser Frage hat sich Europa durch ihr Hinzutreten in einem wichtigen Punkt gewandelt. Wenn das so ist, dann bleibt eigentlich nur der andere Weg: Volksabstimmungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Dass dieser Weg in vielen Staaten Verfassungsänderungen voraus setzt, ist hier schon dargelegt worden, braucht also nicht weiter ausgeführt zu werden. Von zentraler Bedeutung ist etwas ganz anderes: Bei diesem Verfahren ist es natürlich denkbar, dass einzelne Staaten einer vorgeschlagenen Verfassung zustimmen, andere dagegen nicht. Was aber dann? Prinzipiell wäre ein solches „Europa der unterschiedlichen Tempi" kein unlösbares Problem. Dem wird in der politischen Diskussion zwar heftig widersprochen. Gehandelt wird aber durchaus so, sonst dürfte es weder ein Schengener Abkommen noch eine Europäische Währungsunion geben; das Nebeneinander von NATO und EU in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik wäre zumindest sehr bedenklich, und wahrscheinlich müsste sogar die Gründung der Europäischen Gemeinschaften durch die Sechs von 1956/57 statt durch die Fünfundzwanzig von heute noch nachträglich scharf verurteilt werden. M. E. ist das Gegenteil richtig: Je größer die Union wird (und das ist für die Zukunft Europas entscheidend), desto notwendiger wird es,

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wenigstens Spielraum für unterschiedliche Geschwindigkeiten des Mitmachens zu geben. Freilich ist das in Fragen, wo es „nur" um gemeinsame Sachpolitiken geht, ungleich leichter als in Verfassungsfragen, die gemeinsame Verfassungsorgane, ihre Organisation, ihre Mitgliedschaft und ihr Entscheidungsverfahren zum Gegenstand haben. Prinzipiell wäre die Folge einer nur partiell gültigen Verfassung ja, dass an ihren Organen von Fall zu Fall ganz verschiedene Ratsmitglieder, Abgeordnete und Kommissare teilnehmen dürften, und da könnte im Einzelfall guter Rat durchaus teuer werden. Das hätte zwar auch im vorgesehenen Ratifikationsverfahren passieren können; Regierungen und Parlamente pflegen vor solchen Problemen aber leichter zurück zu schrecken (und also trotz Bedenken zu ratifizieren) als ihre Völker selbst. Das Konfliktspotenzial wäre also doch wohl erheblich größer. Immerhin enthielte das Regelwerk zur Europäischen Währungsunion wenigstens Handreichungen, wie Probleme dieser Art zu bewältigen wären. Die Geschichte bietet einige Beispiele für das Zustandekommen bundesstaatlicher Verfassungen, bei dem naturgemäß ähnliche Probleme auftreten konnten. Diese Verfassungen enthielten Vorschriften, die die schroffe Alternative zwischen den beiden bisher dargestellten Extremen abmildern sollten. Der bekannteste Beispielsfall ist die Verfassung der USA von 1783, in der angeordnet war, dass sie und damit die von ihr gegründete Union zustande kommen sollten, wenn neun von den damals dreizehn potenziellen Mitgliedstaaten ratifiziert hätten, das alles dann freilich nur mit Wirkung zwischen den Staaten, die ratifiziert hatten — die anderen wären also gewissermaßen „außen vor" geblieben. An ein derartiges Verfahren kann man natürlich auch bei der Entscheidung über eine EU-Verfassung denken. Nur wäre damit, wie schon angedeutet, die Frage der weiteren Zusammenarbeit zwischen der neu verfassten EU und den verfassungsfern gebliebenen Mitgliedsstaaten nicht gelöst. Man könnte sich zwar vorstellen, dass diese von einer qualifizierten Mehrheit einfach überstimmt werden könnten. Aber dazu bedürfte es nach allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts wenigstens der Erklärung der Überstimmten, sich der Mehrheitsentscheidung unterwerfen zu wollen, und damit läge dasselbe Problem wieder auf dem Tisch, nur in einer etwas anderen Formulierung. Für diese Frage kann man übrigens aus der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einiges lernen. Nach Art. 144 Abs. 1 des Grundgesetzes sollte dieses in Kraft treten, wenn es in zwei Dritteln der bestehenden Landtage die Zustimmung gefunden hatte — und dann natürlich in allen westdeutschen Ländern. In den meisten Ländern machte das keine Probleme, wohl aber in Bayern, das sich zwar immer zum deutschen Bundesstaat bekannte, das dem Grundgesetz aber nicht zu-

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stimmen wollte, weil es ihm zu zentralistisch geraten war. Auf den Automatismus des Art. 144 Abs. 1 wollte man sich in München aber nicht ohne weiteres einlassen; denn der war durch die Alliierten in den Verfassungstext gekommen, und man konnte nicht wollen, dass die entstehende Bundesrepublik nach den Interventionen der Alliierten während der Verfassungsberatungen im Rechtssinne auch noch als Ganzes auf der Besatzungsgewalt der drei Westmächte beruhte. Also fasste der Bayerische Landtag zwei Beschlüsse. Erstens verweigerte er dem Grundgesetz seine Zustimmung und zweitens anerkannte er — gewissermaßen aus eigener Souveränität — den in Art. 144 vorgesehenen Automatismus. In der öffentlichen Debatte ist das nur selten verstanden, ja meist als eine spezifisch bayerische Posse interpretiert worden. Nach den Regeln der völker- und staatsrechtlichen Logik war es aber richtig, und heute ist es ein Beweis dafür, dass man bei einer gemeineuropäischen Verfassungsgebung jedenfalls jene mildere Form der Zustimmung von dissentierenden Staatsvölkern verlangen muss, die seinerzeit der Bayerische Landtag ausgesprochen hat.

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Eine europäische Föderalismusreform Alexander Graf Lambsdorff* Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat sich unter dem Vorsitz von Otto Graf Lambsdorff in besonderer Weise für den Erfolg des Föderalismus als Grundprinzip staatlicher Organisation eingesetzt. Diese Schwerpunktsetzung in der politischen Arbeit entspringt der Erkenntnis, dass bürgernahe und dezentrale Entscheidungen entscheidende Voraussetzungen dafür sind, der Freiheit zur Blüte zu verhelfen. Von besonderer Bedeutung ist der Einsatz für den Föderalismus auf europäischer Ebene, verbindet man mit der Europäischen Union doch allzu oft die Adjektive „bürokratisch", „intransparent" oder „bürgerfern". Dies sollte eigentlich erstaunen. Denn dem europäischen Einigungsprozess lagen von Anfang an liberale Wertvorstellungen zugrunde, die seinen Erfolg ausgemacht haben: Demokratie, wirtschaftliche Freiheit und Rechtstaatlichkeit haben den Menschen Freiheit, Frieden und Wohlstand gebracht. Die aus liberaler Sicht ebenso wichtige Komponente des Föderalismus ist hingegen nicht in vergleichbarer Weise zum Kennzeichen der EU geworden, obwohl es an politischen Bekenntnissen zur Dezentralität nicht mangelt. So ist der Grundsatz der Subsidiarität in Art. 11 des Entwurfs des Verfassungsvertrages als Grundprinzip der Union genannt und in einem eigenen Protokoll für die Mitgliedsstaaten einklagbar ausgestaltet worden. In der Praxis kann jedoch keine Rede davon sein, dass die Europäische Union nur in den Fällen handelt, in denen einzelstaatliche Maßnahmen keinen Erfolg versprechen. Die Zentralisierung der Kompetenzen in Brüssel ist im Gegenteil einer der Gründe für die oft beklagte Bürgerferne der europäischen Institutionen. I. Die Europäische Union alsföderales System sui generis Die Ursachen für diesen Befund sind in der Besonderheit eines politischen Systems begründet, das keinem Vorbild folgt und seit mehr als fünfzig Jahren zugleich Projekt, Experiment und Wirklichkeit ist. Der frühere Außenminister Fischer hat in seiner „Humboldt-Rede" die Besonderheit der europäischen Ebene begrifflich plastisch gekennzeichnet. Er sprach von der EU als „Staaten- und Bürgerunion" zur Umschreibung von intergouvernementalem und supranationalem Handeln. Die EU ist also einerseits ein Bund von Staaten, die bei der Entscheidungsfindung durch ihre Regierungen vertreten werden. Praktisch hat dies den täglichen Reiseverkehr von

* Alexander Graf Lambsdorff ist Mitglied des Europäischen Parlaments in Straßburg.

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Ministern und Beamten aus allen europäischen Hauptstädten nach Brüssel zur Folge, die dort im Ministerrat über europaweit geltende Regeln auf den unterschiedlichsten Gebieten verhandeln. Ein wenig erinnert dies an das konföderalistische Staatenmodell, das schon der amerikanischer Senator John C. Calhorn 1832 entwarf. Er folgte der Annahme, dass die Vereinigten Staaten 1787 von den einzelnen Staaten durch einen Vertrag gegründet wurden, dem die Bevölkerung jedes Staates als souveräne Gemeinschaft zugestimmt habe und durch den die Souveränität der Glieder des Bundes weder übertragen noch geteilt worden sei. Später versuchte der bayerische Staatsrechder Max von Seydel, dieses Modell auf Deutschland zu übertragen — vergeblich, denn hier setzte sich die Vorstellung des Bundesstaates durch. Da der Charakter der EU als Konföderation unzutreffend beschrieben wäre, muss des weiteren der Begriff der Bürgerunion Berücksichtigung finden. In Kommission, Parlament und Europäischem Gerichtshof hat die EU eigene supranationale Organe, deren Mitglieder nach ihrer Ernennung von niemandem abhängen außer der Zustimmung der Bürger. In der Praxis ist diese Rückkopplung verbesserungswürdig — im Grundsatz besteht sie aber unangefochten. Sucht man auch hier die Übertragung zur Verfassungstheorie, so fällt einem das Werk James Madisons ein, der in dem Ganzen kein alleiniges Produkt der Gliedstaaten, sondern eine selbständige Union sieht, die sich mit ihren Gliedern die Souveränität teilt. Während in den Vereinigen Staaten der Sezessionskrieg 1865 die Entscheidung zugunsten der letztgenannten Denkweise brachte, steht eine abschließende Festschreibung für die Europäische Union noch aus. Wir wissen — nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — nur, was die EU nicht ist: sie ist nämlich weder eine Konföderation noch ein Bundesstaat. Was aber ist unter der „Union" europäischer Bauweise zu verstehen? Die Einpassung in bestehende Modelle ist hier nicht weiterführend. Die EU ist ein Konstrukt sui generis, was bei der Übertragung tradierter Föderalismusideen stets im Hinterkopf zu behalten ist. Die Adaption eines national erfolgreichen Systems auf supranationaler Ebene kann nicht eins zu eins gelingen. Das Projekt der europäischen Einigung ist ein in der Geschichte einzigartiges, für das es keine Vorbilder gibt. Es wäre daher ein Fehler, in der notwendigen Finalitätsdebatte um Europas Ziele die Schaffung eines „Bundesstaates Europa" als Vision auszugeben. Eine solche Politik verfiele dem Fehler, die nicht tragfahige Vision dem der realistischen Lage angepassten Handeln vorzuziehen. Wie der „Bund Europa", also die Vision eines plurinationalen föderalen Zusammenschlusses, zu gestalten sein wird, muss dagegen Gegentand der Debatte sein und bleiben.

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Derzeit gilt, dass der zweigleisige Denkansatz von Staaten- und Bürgerunion den Charakter der Union zutreffend beschreibt. In funktionsfähiger Ausgestaltung vermittelt er den nationalen Willen mit seinen notwendig zu berücksichtigenden Besonderheiten und vermeidet dabei, dass sich einzelstaatliche Egoismen rücksichtslos durchsetzen. Wenn nun aber unbestreitbar in der europäischen Öffentlichkeit kein großer Enthusiasmus mehr für die EU aufkommt, scheint das Gleichgewicht der beiden Pole gestört zu sein. Die Herausforderung besteht darin, die Staaten- und die Bürgerunion so auszugestalten, dass sie in Kompetenzverteilung und Entscheidungsfindung funktioniert und Integrationsfortschritte immer dann leistet, wo sie der Sache nach gefordert sind - aber auch nur in diesem Fall. Es gilt, die Balance zwischen einheitsstaatlichem Zentralismus und staatenbündischer Zersplitterung zu finden. II. Die Besonderheiten der europäischen Gewaltenteilung Otto Graf Lambsdorff hat zu Recht stets betont, dass das Problem nicht in der Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene an sich liegt. Es ist vielmehr die durch Kompetenzvermischungen entstehende Intransparenz, die den Bürgern eine Identifikation mit „Brüssel" erschwert. Dabei geht es weniger um die klassische „horizontale" Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, als vielmehr um die „vertikale" Abgrenzung der verschiedenen Ebenen staatlichen Handelns. So, wie die deutsche Föderalismusreform erste zögerliche Schritte hin zu mehr Verantwortlichkeit des Bundes und der Länder macht, sollte auch in Europa jeweils klar zu erkennen sein, wer für welches Vorhaben geradezustehen hat. Das Subsidiaritätsprinzip, das auf diese Frage eigentlich eine klare Antwort gibt, indem es im Zweifel der unteren Ebene den Vorrang einräumt, hat in seiner heutigen Ausgestaltung mehr die Eigenschaften eines Placebo. Die Ausgestaltung der Subsidiaritätsklage vor dem bislang immer integrationsfreundlich judizierenden Europäischen Gerichtshof lässt nicht vermuten, dass den nationalen Parlamenten hier ein scharfes Schwert in die Hand gegeben wurde. Zudem steht die Subsidiarität nicht allein im Kreis der europäischen Prinzipien. Unter Heranziehung peripherer und unter Ausnutzung von eigentlich eng begrenzten spezifischen Zuständigkeiten fällt es der Kommission nicht schwer, stets die passende Begründung für die Aushebelung dezentraler Regeln zu finden. Für Liberale wie den Jubilar ist hingegen klar, dass Subsidiarität nicht erst bei der Ausgestaltung staatlicher Entscheidungsfindungsprozesse beginnen darf. Bevor sich der Staat, und sei es auch nur die unterste, bürgernahe Ebene, zum Handeln berufen fühlt, ist zu prüfen, ob nicht private Initiative bessere Lösungen erbringen kann.

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III. Die Erforderlichkeit klarer Kompeten^uweisungen Das Subsidiaritätsprinzip heutiger Form, das in seiner Unscharfe an allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen erinnert, hat sich als ungeeignet erwiesen, um im komplizierten europäischen Entscheidungsverfahren die von ihm auszufüllende Rolle zu spielen. Es bedarf daher klarerer Regeln, die die Handlungskompetenzen eindeutig zuweisen. Der Friedrich-Naumann-Stiftung gebührt große Anerkennung für ihre im 5. Föderalismus-Manifest 2002 unternommene Analyse der Kernbereiche, in denen der Gemeinschaft eine eigene Kompetenz zukommen muss. Unverändert kann die dort genannte Reihung von Sicherung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts, Geldund Währungspolitik, Außenwirtschaftspolitik und Wettbewerbspolitik Geltung beanspruchen. In diesen Bereichen sollte der EU die alleinige und unbestreitbare Gesetzgebungskompetenz zugestanden werden. Die Herausforderungen, vor denen Europa im globalen Wettbewerb steht, erlauben hier keine nationalen Alleingänge mehr. Die Zuordnung von ungeteilten Kompetenzen zur Union hat auch eine Kehrseite. Zur Ordnung des heutigen Durcheinanders der Befugnisse müssen unnötige Kompetenzen zur Streichung freigegeben werden. Mit Sorge betrachten liberale, wie die EU in den letzten Jahren das Prinzip des Wettbewerbs zugunsten eines ineffektiven Verteilungssystems in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aufgegeben hat. Die Harmonisierung der teilweise verkrusteten nationalen Gesellschaftsmodelle auf europäischer Ebene exportiert die Probleme der reformfeindlichen Länder sogar in reformbereite andere Mitgliedsstaaten. Flächendeckende Subventionen in Techniken der Vergangenheit anstelle von Forschung und Entwicklung müssen ebenso beendet werden wie die Versuche der Harmonisierung direkter Steuern, die letztlich nur zu einer europäischen Hochsteuerpolitik fuhren. Trotz des Versuchs der klaren Zuordnung von Kompetenzen erfordert die realpolitische Betrachtung die Erkenntnis, dass zur Zeit in der zweiten und dritten Säule der Union einige geteilte Zuständigkeiten erforderlich sind. Sowohl in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als auch in der Innen- und Rechtspolitik stehen wir vor europäischen, ja globalen Herausforderungen. Konflikte in Europa und seiner Nachbarschaft, die terroristische Bedrohung, globale Epidemien wie SARS oder HIV/AIDS, der Migrationsdruck aus den Entwicklungsländern - all dies verlangt nach einer gemeinsamen Antwort der Europäer, die aus Brüssel mit einer Stimme sprechen müssen. In der Bevölkerung wird dies erkannt, wie Umfragen regelmäßig zeigen. Jedoch blockieren nationale Eliten auf den Gebieten der inneren und äußeren Sicherheit den Weg zur einer Vergemeinschaftung. Diese Blockade der Mitgliedsstaaten muss überwunden, gerade auf diesen Gebieten muss in den kommenden Jahren der Boden für mehr Supranationalität bereitet werden.

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IV. Das Demokratiedefi^it beseitigen Die Bedeutung der Kompetenzfrage als Dreh- und Angelpunkt der föderalen Ausgestaltung Europas kann nicht überschätzt werden. Otto Graf Lambsdorff nannte Kompetenzvermischungen nachdrücklich „den Tod aller Transparenz in der Politik". Wo Verantwortlichkeiten nicht mehr klar erkennbar sind, können an der Öffentlichkeit vorbei Fakten geschaffen werden, für die niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann. Bestes Beispiel ist das europaweite Antidiskriminierungsregime, für das es im Deutschen Bundestag vermutlich keine Mehrheit gegeben hätte, wenn nicht Rat und Parlament Jahre vorher — ohne auch nur eine Reaktion in den Medien zu provozieren — verbindlich den Rahmen der entsprechenden Richtlinie festgelegt hätten. Inzwischen ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für Brüsseler Entscheidungen höher. Das Beispiel der Diensdeistungsrichtlinie unterstreicht das Potenzial eines solch politisierten europäischen Diskurses zu einem Sachthema des Binnenmarkts, das früher nicht für möglich gehalten worden wäre — auch wenn das Ergebnis im erwähnten Fall aus liberaler Sicht zu bedauern war. Es ist von jeher Kernanliegen liberaler Politik, diese Rückkoppelung zum Bürger noch stärker zu entwickeln. Hierbei ist allerdings zu betonen, dass es gerade hier in den vergangenen Jahren auch Fortschritte gegeben hat. Das Europaparlament hat eine deutliche Kompetenzausweitung im Mitentscheidungsverfahren und neben dieser Stärkung dejure auch de facto seine Macht ausgebaut. Die Kommission hat dies bereits zweimal erfahren. 1999 wurde die damalige Kommission unter Jacques Santer nach einer Reihe von Skandalen heftig kritisiert und schließlich vom Europäischen Parlament zum Rücktritt gezwungen - obwohl mehrere Regierungen noch zu ihr hielten. 2004 gelang es den Mitgliedsstaaten nicht, zwei von ihnen benannte Kandidaten gegen den Widerstand des Parlaments zu Kommissaren zu machen. V. Ausblick: Eine Chanceßr Europa — eine Chanceßr den Föderalismus Wie steht es nun um den europäischen Föderalismus wirklich? Nach der Ablehnung des Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden werden viele positive Veränderungen bis auf weiteres nicht in Kraft treten können. Denn der Vertrag wird in der heutigen Form den Franzosen und Niederländern nicht erneut zur Abstimmung gestellt werden können, so dass gewisse Änderungen in der Struktur unverzichtbar sind. In diesen Anpassungen liegt aber auch die Chance, den Bürgern doch noch ein „europäisches Grundgesetz" an die Hand zu geben, das in überschaubarer Länge Bestimmungen enthält, die auch von Verfassungsgegnern nicht angetastet wurden - also Regelungen zu Mitgliedschaft, Organen, Kompetenzen und Verfahren. Dies ist auch eine Chance für den europäischen Föderalismus. So richtig der Entwurf des Verfassungsvertrages in seiner Gesamtheit ist, so verbesserungswürdig

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ist er hinsichtlich der Klarheit der Kompetenzzuweisung. In welchem Verfahren auch immer seine Anpassung betrieben werden wird - die Tauglichkeit der Konventsmethode ist noch zu erweisen, obgleich intergouvernementales Verhandeln in Nizza an sein Ende geraten war —, hier bietet sich die Möglichkeit, im Interesse eines bürgernahen Europas nachzubessern. Ein solcher Erfolg des Föderalismus in Europa wäre nicht zuletzt der Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung und Otto Graf Lambsdorffs zu verdanken, die in stetiger Betonung seiner Bedeutung den Boden für eine bürgernahe und effektivere Europäische Union bereitet haben.

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Die Zukunft des Europäischen Verfassungsvertrages Roland Vaubel* Uber den Europäischen Verfassungsvertrag will der Europäische Rat in der zweiten Hälfte 2008, wenn Frankreich den Vorsitz hat, neu entscheiden. Folgt auf den Vertrag von Nizza nun der Verfassungsvertrag von Paris? Der neue französische Präsident, dessen Wahl im Juni 2007 ansteht, wird den Franzosen nicht denselben Text noch einmal zur Abstimmung vorlegen wollen, den sie bereits einmal mit deutlicher Mehrheit abgelehnt haben. Das gleiche gilt für die neue niederländische Regierung. Der Verfassungsvertrag muss daher zumindest abgeändert werden. Nicolas Sarkozy, Präsident der gaullistischen Regierungspartei UMP und Kandidat für die Nachfolge Chiracs, hat sich dafür ausgesprochen, den Text auf zehn bis fünfzehn Artikel zu kürzen und eine Erklärung über die soziale Dimension der Europäischen Union voranzustellen. Den dritten Teil will er ganz weglassen. Andere wollen auch auf den zweiten Teil — die Charta der Grundrechte — und die Bezeichnung „Verfassungsvertrag" verzichten. Es sollte klar sein, dass jede Änderung, aber auch jede Kürzung des Textes eine Neueröffnung des Ratifizierungsprozesses notwendig macht. Auch diejenigen Mitgliedstaaten, die den alten Text ratifiziert haben, müssten über einen gekürzten Vertrag neu entscheiden. Es ist ja sogar immer wieder argumentiert worden, der von der Regierungskonferenz verabschiedete Text sei ein sorgsam austarierter Kompromiss, der nicht in einzelnen Punkten verändert werden könne, ohne dass das ganze Gebäude zusammenfalle. Wenn sich die Regierung oder Volksvertretung eines Mitgliedstaates auf den Standpunkt stellen würde, die Ratifizierung des vollständigen Textes beinhalte zugleich die Ratifizierung des gekürzten Textes, so wäre ihr die Niederlage vor dem Verfassungsgericht gewiss. Was den Ratifizierungsaufwand angeht, besteht daher zwischen einer Kürzung und einer Änderung oder Neukonzeption des Vertragsentwurfs kein Unterschied. Der neue französische Präsident und die neue niederländische Regierung werden ihren Wählern lieber einen im wesentlichen neuen als einen nur gekürzten und ergänzten Vertragstext zur erneuten Abstimmung vorlegen wollen. Je größer der Anteil des Neuen, desto geringer der Unmut der Bürger über die Wiedervorlage. Ein in großen Teilen neuer Text kann aber nicht innerhalb eines halben Jahres — während * Prof. Dr. Roland Vaubel hat den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim inne.

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der französischen Ratspräsidentschaft — erarbeitet werden. Deshalb haben sich die Regierenden in Paris und Berlin darauf geeinigt - und der Rest des Rates hat dies akzeptiert - , dass der Revisionsprozess bereits von der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 in Gang gebracht werden soll. Der neue Text sollte kurz und klar genug sein, um den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt werden zu können, und er sollte die inhaltlichen Mängel des ersten Entwurfes vermeiden. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um fünf Punkte: 1. die Generalermächtigung des Artikels 1-18, die den Parlamenten der Mitgliedstaaten endgültig die Kontrolle über die europäische Kompetenzverteilung entzogen hätte; 2. die im alten Entwurf vorgesehenen zusätzlichen EU-Kompetenzen; 3. die Absenkung des obersten Entscheidungsquorums von etwa 73 auf 65 Prozent, die dem Subsidiaritätsprinzip1 zuwider laufen und uns noch mehr EURegulierungen und industriepolitische Abenteuer bescheren würde; 4. der Versuch, auch auf wichtigen Politikfeldern die einvernehmliche Einigung durch die Macht der Mehrheit zu ersetzen; 5. die Charta der Grundrechte, die nicht nur Freiheitsrechte, sondern auch eine Reihe höchst problematischer Anspruchsrechte begründet hätte — zum Beispiel einen Anspruch auf „gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen", der vom Europäischen Gerichtshof beliebig interpretiert werden könnte. Ein Vertragsentwurf, der diese Fehler vermeidet und sogar weniger Artikel als die amerikanische Verfassung enthält, zugleich aber das Erhaltenswerte aus dem Ratsentwurf übernimmt, ist im April 2006 von der European Constitutional Group (vgl. ihre Homepage) vorgelegt worden. Eine erste Möglichkeit bestünde zweifellos darin, den Europäischen Verfassungskonvent, auf dessen Vorschlag der derzeitige Ratsentwurf ja im wesentlichen beruht, im Jahr 2007 noch einmal einzuberufen und mit der Kürzung und Überarbeitung zu betrauen. Dagegen sprechen jedoch die schwerwiegenden Legitimationsmängel dieses Gremiums. Denn die Konventsmitglieder sind ja nicht — wie die Mitglieder der amerikanischen Constitutional Convention von 1787 oder der französischen Assemblée Constituante von 1789-91 - von den Bürgern oder ihren Abgeordneten gewählt worden. Stattdessen hat der Europäische Rat - ein Gremium der Regierenden, der Exekutive — in mehr oder weniger willkürlicher Weise Korporationsquoten 1 Zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf die Europäische Union vgl. das Europa-Gutachten der Lambsdorff-Kommission („Für ein Europa der Freiheit und der Bürger", in: Hubertus MüllerGroeling (Hrsg.): Reform des Föderalismus. Kleine Festgabe für Otto Graf Lambsdorff, liberal Verlag 2002, S. 107-122.

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für verschiedene Institutionen (Europäische Kommission, Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Parlamente der Mitgliedstaaten) festgelegt und noch einen Präsidenten (Giscard d'Estaing) und zwei Vizepräsidenten (Amato und Dehaene) hinzugefügt. Die Mitglieder der Parlamente der Mitgliedstaaten befanden sich dabei hoffnungslos in der Minderheit. Im Übrigen wurden die Entscheidungen nicht vom Plenum, sondern ausschließlich von einem Präsidium getroffen, das nicht der Konvent gewählt, sondern der Europäische Rat bestellt hatte. Das Konventsplenum hat nie über inhaltliche Alternativen abstimmen dürfen. In dem zwölfköpfigen Präsidium saßen nur zwei nationale Parlamentarier, ansonsten aber zwei Vertreter der Europäischen Kommission, zwei Vertreter des Europa-Parlaments, drei Vertreter der Regierungen sowie der Präsident und die beiden Vizepräsidenten des Konvents. Die Parlamentarier waren klar in der Minderheit. Von einer Neuauflage des alten Verfassungskonvents ist daher mangels demokratischer Legitimation abzuraten. Die European Constitutional Group schlägt in ihrem neuen Entwurf eines EUVerfassungsvertrages vor, dass Vertragsänderungen nicht von einer Regierungskonferenz, sondern von einer interparlamentarischen Konferenz — Vertretern der Parlamente der Mitgliedstaaten — vorgeschlagen werden sollten. Für einen Vertrag, der den Anspruch erhebt, ein „Verfassungsvertrag" zu sein, gilt dies erst recht. Vor allem darf ein Europäischer Verfassungskonvent nicht Vertreter der Europäischen Institutionen enthalten. Die Spielregeln dürfen nicht von denjenigen gemacht werden, die diese Spielregeln später einhalten sollen. Sonst geben sie sich mehr Macht, als den Bürgern lieb ist. Es ist zum Beispiel offensichtlich, dass die Mitglieder der Europäischen Kommission ein durchaus eigennütziges Interesse daran haben, dass die Europäische Union immer mehr Kompetenzen erhält und möglichst schwach kontrolliert wird. Auch die Europa-Parlamentarier sind persönlich an einer Stärkung der Macht der Europäischen Union interessiert. Wie die European Representation Study gezeigt hat, befürworten die Europa-Parlamentarier eine viel weiter gehende Zentralisierung Europas als die Bürger selbst (und als die nationalen Abgeordneten).2 Ihre Präferenzen sind in Richtung Zentralisierung verzerrt. Von den Regierungsvertretern kann man das nicht so allgemein sagen, aber es gibt doch drei typische Fälle, in denen sie nicht im Interesse der Bürger, sondern im eigenen Interesse für europaweite Regelungen eintreten. Zum ersten sind dies Fälle, in denen internationale Absprachen den regierenden Politikern dazu dienen, die Steuern zu erhöhen oder die Vertragsfreiheit (zum Beispiel am Arbeitsmarkt) durch Regulierungen zu beschränken. Wenn die Politiker eines Vgl. die Umfrageergebnisse in: Hermann Schmitt, Jacques Thomassen (Hrsg.), Political Representation and Legitimacy in the European Union, Oxford University Press 1999, Table 3.1.

2

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Landes im Alleingang die Steuern erhöhen oder die Regulierungen verschärfen, kann die Wettbewerbsfähigkeit erheblich leiden. Wenn es die Politiker aller Länder tun, bleibt die Wettbewerbsfähigkeit - innerhalb der Europäischen Union - gewahrt. Vereint sind die Herrschenden daher gegenüber ihren Bürgern stark. Sie schmieden Besteuerungs- und Regulierungs-Kartelle. Man denke zum Beispiel an die europäische Mehrwertsteuerrichtlinie von 1991, die zur Folge hatte, dass der Mehrwertsteuersatz in Deutschland von 14 auf 15 Prozent stieg, und an die meisten der über 40 sozialpolitischen Regulierungen, die die Europäische Gemeinschaft und Union bis heute in Kraft gesetzt hat.3 Da im Bereich der Sozialpolitik seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) und vor allem seit dem Vertrag von Maastricht (1993) qualifizierte Mehrheitsentscheidungen möglich sind, kann die europäische Gesetzgebung zweitens der Mehrheit der hochregulierten Mitgliedstaaten dazu dienen, der liberaleren Minderheit das Regulierungsniveau der Mehrheit aufzwingen und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Minderheit zu schwächen. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird dies als die „strategy of raising rivals' costs" bezeichnet. Das Phänomen ist aus der Geschichte verschiedener Bundesstaaten (z. B. der USA und des wilhelminischen Kaiserreichs), aber auch anderer internationaler Organisationen (z. B. der International Labor Organization) bekannt.4 Unter Bismarck litten darunter vor allem die liberalen Gliedstaaten im Nord- und Südwesten (die Hansestädte Hamburg und Bremen, Oldenburg, Hessen, Baden und Württemberg). Sie wurden im Bundesrat von der von Preußen angeführten Mehrheitskoalition immer wieder überstimmt. Wie mehrere Untersuchungen zeigen, wird im Ministerrat der EU am häufigsten eine Gruppe von Nordstaaten überstimmt, zu der auch Deutschland gehört. In einer dieser Untersuchungen heißt es dazu: „A clear majority (44 issues or 73 per cent) of the 60 issues where there are significant divisions between Northern and Southern delegations concern choices between free-

Einen Überblick und eine Analyse des kartellarischen Kalküls bietet mein Aufsatz „Die Politische Ökonomie der sozialpolitischen Regulierung in der Europäischen Union" (erscheint 2007 in einem von Wolfgang Kerber herausgegebenen Band). 4 Einen Uberblick bietet mein Aufsatz „Federation with Majority Decisions: Economic Lessons from the History of the United States, Germany and the European Union", Economic Affairs, 24, Dec. 2004, S. 53—59. Den Nachweis für die International Labor Organization (ILO) erbringt die noch nicht veröffentlichte Untersuchung „The Theory of Raising Rivals' Costs and Evidence from the International Labor Organization", die Bernhard Boockmann und ich vorgelegt haben. Weitere Untersuchungen für die USA, Kanada, die Schweiz und das deutsche Kaiserreich erscheinen 2007 in dem von Peter Bernholz und mir herausgegebenen Band „Political Competition and Economic Regulation" (Routledge, London). 3

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market and regulatory alternatives... In general, the Northern delegations tend to support more market-based solutions than the Southern delegations".5 Drittens sind die Regierungen dann aus zweifelhaften Motiven an einer Verlagerung der Entscheidungen nach Brüssel interessiert, wenn sie sich dadurch der parlamentarischen Kontrolle entziehen können. Ein schlimmes Beispiel ist wiederum die europäische Mehrwertsteuerrichtlinie von 1991: Die Mehrwertsteuererhöhung wäre in Deutschland am Widerspruch des Bundesrates gescheitert, in Brüssel aber konnte sie der Ministerrat ohne parlamentarische Kontrolle beschließen. Deshalb spricht viel für den Vorschlag der European Constitutional Group, dass der nächste Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrages von einem Konvent erarbeitet werden sollte, dem nur Parlamentarier der Mitgliedstaaten angehören. Nicolas Sarkozy hat bereits erklärt, dass ihm ein neuer, parlamentarischer Verfassungskonvent recht wäre. Es wäre die Aufgabe der deutschen Bundesregierung, während ihrer Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 die Weichen für die Einberufung eines solchen Konvents zu stellen.

5 R. Thomson, J. Bourefijn, F. Stokman, „Actor Alignments in European Union Decision Making", European Journal of Political Research, 43,2004, S. 251, 255 f.

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Kultur und Geschichte

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Intellektuelle und Kapitalismus? Frits Bolkestein* In diesem Artikel geht es mir um die Unabhängigkeit des Geistes der Intellektuellen, vor allem in Bezug auf den Kapitalismus. Ich habe meine Darlegungen wie folgt aufgebaut. Zuerst werde ich etwas über die Bedeutung von Ideen sagen, dann über Intellektuelle, danach über den Kapitalismus, um dann mit der Sicht von Intellektuellen auf den Kapitalismus zu enden. 1. Bedeutung von Ideen Das Zitat des bedeutenden britischen Ökonomen John Maynard Keynes ist sehr bekannt: „Die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen sind stärker, als meistens angenommen wird. Die Welt wird vollkommen von ihnen beherrscht." Das Gedankengut von Keynes ist dafür beispielhaft. An die zwanzig Jahre war es in den Niederlanden und anderswo sehr gegenwärtig. Als das jedoch zur Stagflation, eine Kombination aus Stagnation und Inflation, führte, entwickelte sich eine Gegenkraft. Wer die Macht von Ideen im niederländischen Kontext betrachten will, braucht sich nur mit der Säkularisierung zu beschäftigen. Deren Höhepunkt fiel in die sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie hatte zur Folge, dass Gefühle von persönlicher Schuld als soziale Mängel und strukturelle Gewalt verallgemeinert wurden. Oder, wie der amerikanische Soziologe Daniel Patrick Moyniham erklärte: Die Gesellschaft wird für schuldig erklärt, solange ihre Unschuld nicht bewiesen wurde. Die Schuldgefühle des Individuums wurden auf die Umgebung projiziert. Dadurch wurde der Mensch an sich gut. Eine Zeit lang war das der Kernsatz der niederländischen Politik. Wenn er nicht gut zu sein schien, musste das wohl an seiner Vergangenheit (Freud) oder an den Umständen (Marx) liegen. Dieser Kernsatz steht natürlich in einem klaren Widerspruch zum Heidelberger Katechismus, der Basis des niederländischen Protestantismus, laut dem der Mensch zu keinem Guten in der Lage ist und zu allem Schlechten neigt. Es hat noch niemand geklärt, wann die Veränderung vom Pessimismus des Heidelberger Katechismus zum marxistischen Fortschrittsoptimismus stattgefunden hat. Trotzdem hat der Standpunkt: „Der Mensch ist gut" in der niederländischen Politik tiefe Spuren hinterlassen, vor allem hinsichtlich der sozialen Sicherheit und der Kriminologie. Und um tiefe Spuren geht es mir jetzt auch, allerdings in Bezug auf den Kapitalismus. * Der niederländischer Politiker Frits Bolkestein ( W D ) war von 1999 bis 2004 Mitglied der Europäischen Kommission.

Frits Bolkestein: Intellektuelle und Kapitalismus? 261

2. Intellektuelle Es gibt viele Definitionen für Intellektuelle. Vor fünfzehn Jahren hat Gerry van der List die Intellektuellen mit Schlüsselbegriffen wie Erudition, Generalismus, Fundamentalismus, Elitedenken und Unabhängigkeit charakterisiert. Er führte das Folgende aus: „Ein Intellektueller ist (...) jemand, der unter anderem über eine große Belesenheit verfügt, Kenntnisse von vielen Themenbereichen hat (...), sich für grundsätzliche Fragen interessiert, zu einer geistigen Vorhut gehört und sich ein eigenes Urteil bilden will."1 Er schlussfolgerte daraus, dass es fast selbstverständlich ist, dass sich ein Intellektueller in dem politischen Geschäft, wie wir es in den Niederlanden kennen, nicht zu Hause fühlt. Meine Schlussfolgerung lautet, dass er die Messlatte wohl sehr hoch gelegt hat, dass nicht sehr viele Intellektuelle seinen Kriterien entsprechen werden und dass sich Intellektuelle auch anderswo nicht von der Politik angezogen fühlen. Van der List skizziert den Idealtyp. Man kann auch eine funktionelle Charakteristik abgeben. So sagte Jean Paul Sartre: „Intellektuelle sind Menschen, die sich um Dinge kümmern, die sie nichts angehen." Diese Definition geht allerdings etwas weit, denn viele Menschen kümmern sich um anderer Leute Dinge, ohne dass sie intellektuell sind. Ich ziehe dann auch lieber einen anderen Franzosen, Alexis de Tocqueville, zu Rate. Im ersten Kapitel des dritten Teils seines Buches über das Anden Regime und die Revolution geht er auch auf die politische Funktion der „hommes de lettres" ein, d. h. auf jene, die wir als Intellektuelle bezeichnen würden. Diese Menschen, so schreibt Tocqueville, sind durch die Tatsache gekennzeichnet, dass sie nicht ein öffentliches Amt einnehmen. Und doch sind sie andauernd mit dem Regieren beschäftigt. Sie vertreten eine abstrakte und literarische Politik. Alle wollen traditionelle Regeln durch einfache Regeln ersetzen, die auf Verstand und Natur basieren. Sie wollen die Gesellschaft ihrer Zeit nach einem vollkommen neuen Plan, auf den sie sich blind verlassen, umbauen. Nicht eine Erfahrung konnte damals ihre Begeisterung mäßigen. Nichts warnte sie vor den Hindernissen, die ihren Reformen im Wege standen. Es war so, als ob die gesamte Konstitution des Landes vernichtet werden sollte. So bestand die politische Welt in Frankreich aus zwei getrennten Provinzen: in der ersten erledigte man die Dinge, in der zweiten beschäftigte man sich mit den abstrakten Grundsätzen. In dieser zweiten Provinz interessierte man sich nicht für Bestehendes, sondern man träumte davon, was sein könnte. Es war ein beängstigendes Schauspiel, denn, so endet Tocqueville, eine gute Eigenschaft bei einem Schriftsteller ist oft eine schlechte bei einem Staatsmann.

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G. van der List: „Über Intellektuelle, Politik und Joop den Uyl", Civis Mundi, Mai 1991, S. 61.

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Zwei Eigenschaften kennzeichneten also die Intellektuellen in Frankreich vor der Revolution: ein Mangel an Erfahrungen und eine übermäßige Begeisterung für abstrakte Grundsätze. Diese Eigenschaften trifft man heutzutage auch bei vielen Intellektuellen an. Dazu kommt aber noch eine dritte Eigenschaft, nämlich der Drang zur Kommunikation. Daher spricht man wohl auch von public intellectuals. In der Wissenschaft arbeiten viele begabte Forscher. Bei großen Unternehmen arbeiten viele kluge Menschen. Sie beschränken ihre Kenntnisse aber auf das Unternehmen, für das sie arbeiten. Sie kommunizieren nicht, jedenfalls nicht nach außen. Sie mögen einen ausgezeichneten Intellekt haben, sind aber dennoch keine public intellectuals. Mit ihnen will ich mich hier nicht beschäftigen, sondern mit den vielen Schriftstellern, Dichtern, Literaturkritikern, Cartoonisten, Professoren, Journalisten und anderen Medienvertretern, die keine Erfahrungen mit dem Regieren haben, aufgrund allgemeiner Grundsätze über besondere Probleme urteilen und die die Welt wissen lassen wollen, was sie darüber denken. Ein Merkmal der Intellektuellen, das Van der List nennt, ist die Unabhängigkeit. Sind Intellektuelle unabhängig? Hier möchte ich auf die Sokal-Affare eingehen. Alan Sokal ist ein amerikanischer Physiker, der sich lange über die Wichtigtuerei vor allem der französischen Philosophen geärgert hat, die quasi-wissenschaftliche Begriffe gebrauchten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was die Begriffe eigentlich beinhalteten. So schrieb Jean Baudrillard nach dem ersten Golfkrieg (1990/1991): „Der Raum des Krieges ist jetzt endgültig nichteuklidisch geworden". In seiner Verärgerung konnte Sokal nun zwei Dinge tun: in einem argumentierenden Artikel den Unsinn widerlegen oder eine Parodie publizieren. Er hat sich für Letzteres entschieden, vermutlich mit dem französischen „c'est le ridicule qui tue"im Hinterkopf. So schrieb er einen Artikel mit dem schwergewichtig klingenden Titel „Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation,,. (Transgressing the Boundaries: Tomrds a Transformative Hemeneutics of Quantum Gravity). In diesem Artikel reihte er eine Ansammlung unsinniger Zitate von postmodernen Philosophen mit ebenso unsinnigen Bemerkungen aneinander, versah das Ganze mit beeindruckenden Fußnoten und schickte ihn an die amerikanische Zeitschrift Social Text. Sein Artikel kam unverändert in eine Sondernummer, die erschien, um der Kritik von Wissenschaftlern gegenüber der Postmodeme zu begegnen. Es war zu schön, um wahr zu sein. Als die Parodie bekannt wurde, lachten sich viele krank. In Frankreich blieb es lange still, bis Le Monde der Sokal-Affäre eine Reihe von Artikeln widmete. Es gab eine große Aufregung, weil der Artikel von Sokal, nicht zu Unrecht, als ein Angriff auf französische Schriftsteller angesehen wurde. Die Sokal-Affäre ist ein Beispiel für die Art und Weise, wie sich Intellektuelle von einer Mode, in diesem Fall der Postmoderne, ins Schlepptau nehmen lassen. Es gibt auch andere Beispiele, speziell in Bezug auf den Kommunismus. Es ist kennzeichnend, dass

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die Bewunderung der Sowjetunion durch westliche Intellektuelle am größten war, als die Repressionen dort ihren Höhepunkt erreicht hatten, nämlich während der Säuberungsaktionen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Obwohl die Untaten des Stalinismus damals schon bekannt waren. Es schien so, als würden viele denken: , J bave mode up my mind, soplease do not confuse me witb the facts". Genauso war es mit China. Der Höhepunkt des Maoismus bei uns fiel zusammen mit der dortigen Kulturrevolution, die einen tragischen Tiefpunkt in der Geschichte dieses großen Landes darstellte. In unserem Land sahen wir dieselbe Entwicklung in den siebziger Jahren, als viele, die von sich behaupteten, zu der sogenannten „kritischen Generation" zu gehören, sich zum Kommunismus bekehrten, wodurch sie bewiesen, dass sie alles andere als kritisch waren. Viele wärmten sich behaglich an einem Wir-Geßhl. Natürlich gab es auch unabhängige Denker wie André Gide, den französischen Nobelpreisträger für Literatur, der sich zuerst zum Kommunismus bekehrt hatte, allerdings nach dem Besuch in der Sowjetunion seinen Glauben verlor und, entgegen dem Rat anderer, darüber ein Buch publÌ2Ìerte. Im Allgemeinen kann man allerdings sagen, dass Intellektuelle größte Mühe damit haben, nicht mit den herrschenden Ideen konform zu gehen. Das erinnert an Goethes Worte: „Eine Idee, deren Zeit gekommen ist, besitzt eine unüberwindliche Kraft." Was das anbelangt, ähnelt diese Erscheinung der Kleidermode. Viele Mädchen und junge Frauen tragen nabelfreie Pullover. Warum? „Weil es alle machen." Niemand will zurückbleiben. So sagte man damals in Paris: „Commentpeut-on être anti-communiste?". 3. Der Kapitalismus Man spricht oft vom Kapitalismus als System. Ist er das eigentlich auch? Er hat im Laufe seiner langen Geschichte schließlich viele Formen angenommen, vom römischen Eigentümer der privatisierten Kanalisation, der „pecunia non okt" ausrief, über die Aktiengesellschaft der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC), bis zur Sozialen Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard. Ein paar Dinge scheinen jedoch essentiell zu sein. An erster Stelle das Privateigentum, das Marx abschaffen wollte. An zweiter Stelle der freie An- und Verkauf auf freien Märkten für Waren, Diensdeistungen, Kapital und Arbeit. Also der freie Wettbewerb und eine Preisbildung, die durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Den Kapitalismus in seiner reinen Form hat es nie gegeben. Große Teile des Weltmarktes sind auch jetzt alles andere als frei. Denken wir an die OPEC oder an die Gemeinschaftliche Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union. Trotzdem bleiben die freie Auswahl, der freie Wettbewerb und die Eigenverantwortung essentielle Merkmale.

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Wie hat sich der Kapitalismus entwickelt? Abgesehen von den Vorläufern, wie die vorgenannte VOC, gab es die Anfangsphase des Manchester-Kapitalismus, die von Dickens so eindringlich beschrieben wurde. Zu denken sei da an „the dark satanic mills" vom Dichter William Blake (1757-1827) oder an den Roman „De Kapellekensbaan" von Louis Paul Boon über Textilarbeiter im flämischen Aalst. Eine Ubergangsphase war durch eine sich entwickelnde soziale Sicherheit gekennzeichnet, die in den Niederlanden bis 1970 andauerte, mit einem Einschnitt, dem II. Weltkrieg. Drittens folgte der moderne Kapitalismus in zwei Varianten: dem rheinländischen mit seinen vielen runden Tischen und Beratungen und dem angelsächsischen mit mehr Wettbewerb, also mehr Risiken. Hinsichtlich der Folgen des Kapitalismus stehe ich auf dem Standpunkt, dass er zu einem hohen, in der Welt nie gekanntem Maß an Wohlstand und Freiheit geführt hat. Hier möchte ich den Schweden Johan Norberg zitieren: „Zwischen 1965 und 1998 hat sich das Durchschnitteinkommen eines Normalverdieners auf der Welt praktisch verdoppelt, von 2497 auf 4839 Dollar, kaufkraft- und inflationsbereinigt. ... In diesem Zeitraum hat sich das Durchschnittseinkommen für das reichste Fünftel der Weltbevölkerung von 8315 auf 14623 Dollar erhöht. ... Für das ärmste Fünftel der Weltbevölkerung war die Steigerung noch rasanter. Im gleichen Zeitraum hat sich sein Durchschnittseinkommen von 551 auf 1137 Dollar erhöht".2 Laut dem United Nations Development Programme (UNDP) hat sich die Armut in der Welt in den letzten 50 Jahren insgesamt stärker verringert, als das in den davor liegenden 500 Jahren der Fall war. Das ist vor allem der freien, unternehmerischen Produktionsweise zu verdanken. Was hat der Kapitalismus für die Entwicklungsländer bedeutet? Ob man nun die Lebenserwartung, die Unterernährung, den Analphabetismus oder die Verfügbarkeit von sauberem Wasser betrachtet, überall sind große Fortschritte zu erkennen. Ich kenne kein demokratisch regiertes Land, bei dem die Wirtschaft nicht auf Basis der einen oder anderen Form von Kapitalismus funktioniert. Dagegen sind alle Länder mit einer Kommandowirtschaft sowohl undemokratisch als auch arm. Der amerikanisch-indische Ökonom Amartya Sen hat zu Recht bemerkt, dass es noch nie eine Hungersnot in einem demokratisch regierten Land gegeben hat. Die große Ausnahme ist natürlich Afrika, dort gibt es allerdings auch wenig Demokratie, also wenig Kapitalismus. Auch in Lateinamerika gibt es viel Armut, das kommt aber eher durch ein Zuwenig an Kapitalismus als ein Zuviel.

2 Johan Norberg, Das kapitalistische Manifest, Warum allein die globalisierte Marktwirtschaft den Wohlstand der Menschheit sichert, Frankfurt am Main 2003, S. 31.

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Die Analysen des UNDP und der Weltbank zeigen, dass sich die Ungleichheit zwischen Ländern (Kaufkraftparitäten) seit Anfang der siebziger Jahre unaufhörlich verringert hat, vor allem zwischen 1993 und 1998, als die Globalisierung richtig in Fahrt kam. Der Unterschied zwischen den Einkommen der ärmsten und reichsten 20 Prozent in den Entwicklungsländern ist in der Tat groß, er verringert sich aber in allen Teilen der Welt. Gab es eigentlich nie Missstände? Natürlich. Vor allem im Manchester-Kapitalismus, auf den ich so eben verwiesen haben. Oder in der Finanzwelt von heute mit ihren Enron-, Worldcom-, Ahold- und Parmalat-Skandalen. Natürlich sind diese Skandale auffällig. Was allerdings auch auffällt, ist die Möglichkeit, die eine freie Gesellschaft hat, um sich selbst zu korrigieren. Die Korrektur hat stattgefunden und war vor allem in den USA nicht sanftmütig. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Wohlstand, den uns der Kapitalismus gebracht hat, nicht nur den Aktionären zu Gute gekommen ist, sondern den gesamten quaternären Sektor finanziert hat: die soziale Sicherheit, das Gesundheits- und Bildungswesen. Nun ja: man erkennt den Baum an seinen Früchten. Natürlich gibt es immer Probleme. Die Politik ist voll davon. Der allgemeine Zustand in den Niederlanden ist aber gut, und somit ist der liberale Kapitalismus, wie wir ihn kennen, auch gut Was braucht der Kapitalismus um richtig funktionieren zu können? In erster Linie klare Regeln, die vom Staat aufzustellen sind: zum Schutz des Eigentums, zur Einhaltung von Verträgen, zur Förderung des Wettbewerbs, zur Gewährleistung der Grundsicherung, zum Schutz der Umwelt, usw. Und zweitens kann der Kapitalismus bestimmter persönlicher Verhaltensregeln, die auf Konventionen beruhen, nicht entbehren. Zu denken sei an: durch Verträge entstehen Schuldverhältnisse, Respekt vor dem Eigentum anderer, Fähigkeiten zur Selbsthilfe und Eigenverantwortung. Die persönliche Freiheit blüht nur in einem stabilen Ganzen der sozialen Verhältnisse. Im Allgemeinen kann der Kapitalismus bestimmter ethischer Normen, also einer gewissen Moral, nicht entbehren. Das ist die Moral des Marktes. Speziell für diese Zeit interessant ist Voltaires Beschreibung (in seinen philosophischen Briefen) von der Londoner Aktienbörse: „Gehen Sie zur Londoner Börse, ein ehrenwerterer Ort als viele Höfe. Sie werden dort Vertreter vieler Nationen zum Vorteile der Menschheit vereint antreffen. Hier handeln Juden, Islamiten und Christen miteinander, als hätten sie denselben Glauben und als bewahrten sie den Namen „Ungläubige" für die, die bankrott gingen."

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Der Kapitalismus schafft also auch Anreize, um mit denjenigen zusammenzuarbeiten, die an andere endgültige Lebensziele glauben.3 4. Intellektuelle und Kapitalismus Ich betrachte mich von der Verpflichtung befreit, nachweisen zu müssen, dass sich die Intellektuellen gegenüber dem Kapitalismus schlecht verhalten. Unter Ministerpräsident Wim Kok hat die Partei der Arbeit in den Niederlanden ihre ideologischen Federn abgeworfen. In den Vereinigten Staaten gibt es eine starke Strömung, die sich für den Kapitalismus einsetzt. Das sind die sogenannten Neokonservativen. Aber im Allgemeinen wenden sich Intellektuelle vom Kapitalismus ab, ganz sicher in Europa. Warum wenden sich die meisten Intellektuellen vom Kapitalismus ab? Es gibt nicht nur eine Ursache für eine derart weit verbreitete Erscheinung. Ich werde versuchen, die unterschiedlichen Aspekte einzeln zu benennen. Warum hat der Kapitalismus so einen schlechten Namen? Erstens wegen der Erinnerungen an den Manchester-Kapitalismus, der so eindringlich von zahlreichen viktorianischen Autoren beschrieben wurde. Marx meinte, dass das Kapital „von Kopf bis Fuß, aus jeder Pore triefend, aus Blut und Unrat geboren wird". 4 Oder die Missstände in der amerikanischen Industrie, z. B. der Fleischindustrie in Chicago. Oder das Elend während der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren, das Hans Fallada in „Kleiner Mann — was nun?" beschrieb. Zweitens aufgrund der Unternehmern unterstellten Motive, wobei das Gewinnmotiv natürlich das wichtigste ist. Gewinn lässt an Egoismus, Geiz und Habgier denken und das sind schlechte Eigenschaften, auch wenn die Unternehmen zum Untergang verurteilt sind, wenn sie keinen Gewinn machen. Hier geht es um einen Fall von Gesinnungsethik gegen Verantwortungsethik. Die Kulturrevolution in den Jahren um 1968 und danach litt in erheblichem Maße an Gesinnungsethik, was unsere Wirtschaft fast in eine Sackgasse geführt hat. Was wenig gesehen wird, ist das dem Wettbewerb eigene spielerische Element. Speziell in der modernen Gesellschaft, wo oft eine klare Trennlinie zwischen Eigentum und Management gezogen wird, wird der Wettbewerb oft als Spiel angesehen. Man möchte der Größte, der Beste oder Schnellste sein, nicht nur wegen des finanziellen Gewinns, sondern auch, weil man es gut findet, den anderen den Rang abzulaufen. Die Geschichte und die vermeintlichen Motive der Unternehmer sind wichtige Ursachen. Man darf allerdings nicht den Hintergrund fast aller Intellektuellen übersehen, nämlich die Bildung. 3 4

J.Z. Muller: „The Morality of the Market", Tech Central Station, 2005. Aus „Das Kapital", Kapitel 31.

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Ich möchte zwei Zitate des Philosophen Ernest Gellner nennen: „An der Basis der modernen Sozialordnung steht nicht der Henker, sondern der Professor" (Der Henker ist natürlich ein Verweis auf De Maistre). Und „Bildung ist weitaus die teuerste Investition des Menschen, und faktisch gibt sie ihm seine Identität".5 Wir durchlaufen alle das Schulsystem. Dort lernen wird die Bedeutung von Sprache und Ideen. Die Schule belohnt den Intellekt. Kluge Kinder stehen oben in der Pyramide, dumme oder faule Kinder ganz unten. Nach der Schule werden die meisten Schüler in einem Unternehmen oder in der Bürokratie arbeiten. Eine Minderheit wird sich eine Arbeit als Intellektueller suchen. Sie geben uns die Sätze, mit denen wir unsere Gefühle zum Ausdruck bringen können. Oft sind es die besten Schüler, die das tun. In der Schule genossen sie das höchste Ansehen. Welchen Empfang bereitet ihnen die Gesellschaft? Der amerikanische Philosoph Robert Nozick hat sich mit dieser Frage beschäftigt.6 Laut Nozick erwarten Intellektuelle in der Gesellschaft dasselbe Ansehen, also auch denselben Status wie in der Schule und an der Universität. Im Allgemeinen gesteht die Gesellschaft diesen Status aber nicht zu. Einen hohen Status haben Spitzenunternehmer, die sogenannten captains of industty, Hochschullehrer und Universitätsprofessoren, die eine Koryphäe in ihrem Fach sind, Mitglieder von Gerichtsbarkeit, Fußballer und so weiter. Das sind jedoch nicht die Leute, die Zeitungen voll schreiben, die uns erzählen, wie wir zu denken haben. Erhalten Intellektuelle diesen hohen gesellschaftlichen Status nicht, beginnen sie, Ressentiments gegen die Gesellschaft zu entwickeln, die ihnen das vorenthält, worauf sie glauben, ein Recht zu haben. i Nozick und Gellner haben Recht, wenn sie auf Schulen und Universitäten als vermeintliche Faktoren verweisen. Doch überzeugt mich Nozick nicht ganz. Erstens glaube ich nicht, dass es per se die besten Schüler sind, die später einen intellektuellen Beruf wählen. Manche Intellektuelle kommen vielleicht gerade aus der Hintermannschaft der Schulen und Universitäten, und sie agieren aufgrund von Ressentiments, weil sie von niemandem dort bemerkt wurden. Im Übrigen hat Nozick gut daran getan, um Aufmerksamkeit für das Ressentiment, das so ein wichtiger Faktor in der Politik ist, zu bitten. Zu denken sei an die deutschen Philosophen Herder und Fichte, die unter einem doppelten Ressentiment litten: aufgrund ihrer kleinbürgerlichen Herkunft, die ihnen wenig Ansehen in der Ständegesellschaft ihrer Tage verschaffte, und gegenüber der französischen Kultur, die an den deutschen Höfen dominant war. Der Einfluss von Herder und Fichte war

Ernest Gellner: „Nations and Nationalism", Cornell UP 1983, S. 34 und 36. Robert Nozick: „Why D o Intellectuals Oppose Capitalism". (Cato Online Policy Report, vol XX, no 1, Jan/Feb 1998). 5 6

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sehr groß. Denken wir auch an den Moslem-Terrorismus, dessen Basis, meiner Meinung nach, das Ressentiment bildet. Zweitens frage ich mich, ob Intellektuelle tatsächlich das Ansehen in der Gesellschaft so sehr vermissen, wie Nozick vorgibt. Vielleicht stimmt dies in den Vereinigten Staaten, wo der Slogan gilt: „Intelkctuals are on tap but not ort top ". Aber in Europa? Wie stand es um den Status von Sartre? Um den von Günter Grass? Wer erhält Stipendien von der Guggenheim- oder Rockefeller-Foundation? Auf wen trifft man als Visiting Professor an der Universität von New York und Kalifornien? Das Phänomen behält seine Faszination. Der englische Schriftsteller J. B. Priestiey sagte: „Mein Vater hatte nie viel Geld. So dachte er auch nicht an Geld, sondern an andere und bessere Dinge".7 Nozick verweist auf die enorme Bedeutung von Bildung, wo Lernende von einer zentralen Macht beurteilt werden und lernen logisch, geradlinig und konsistent zu denken. Dadurch wird eine Herangehensweise geschaffen, die bei denjenigen, die keinen intellektuellen Beruf wählen, von der Gesellschaft korrigiert wird. Bei vielen Intellektuellen findet diese Korrektur allerdings nie statt. Das führt dann zu folgenden Voreingenommenheiten. Erstens die des Rationalismus. Den zeigten die ,hommes de lettres' des achtzehnten Jahrhunderts: Geister, die sich dem Konzeptualisieren und Rationalisieren widmeten, ohne viel Kenntnis von der Sache zu haben. Zweitens, die Voreingenommenheit der Systematisierung, die mit dem Vorgenannten zusammenhängt. Das Prestige der Naturwissenschaften ist so groß, dass auch alle möglichen Intellektuellen die naturwissenschaftlichen Methoden anwenden wollen. Drittens die Voreingenommenheit des Etatismus. Viele Intellektuelle haben Probleme zu akzeptieren, dass das, was der Staat vermag, begrenzt sein muss. 5. Schlussfolgerung Ich denke, dass wir jetzt Elemente in Händen haben, die uns in die Lage versetzen, die Frage zu beantworten, warum Intellektuelle nichts vom Kapitalismus halten. Ein wichtiger Grund ist der Standpunkt von Karl Marx, die Einbildungskraft der Romanschriftsteller der Anfangsphase des Kapitalismus und der Krise in den dreißiger Jahren und eine nicht nachlassende Desinformation durch die Sozialisten, die den Kapitalismus als eine Bedrohung ihrer Planwirtschaft ansahen. Eine zweite Ursache hängt mit den vermeintlich unsympathischen Motiven der Unternehmer und dem augenscheinlichen Chaos auf dem Markt zusammen, auf dem Intellektuelle nicht Fuß fassen können. Diese Äußerung ist das Motto des Buches von David Marsland: „Seeds of Bankruptcy. Sociological Bias against Business and Freedom" (The Claridge Press). 7

Frits Bolkestein: Intellektuelle und Kapitalismus? 269

Und drittens gibt es eben die besonderen Merkmale vieler Intellektueller. Sie haben die Neigung, sich auf der Grundlage allgemeiner Grundsätze und ungehindert durch Erfahrungen zu zahlreichen speziellen Themen zu äußern, was häufig in eitles Theoretisieren entartet, wodurch die Sicht auf die Realität blockiert wird. Ideen beschränken das Wahrnehmungsvermögen. Des Weiteren die frustrierten Erwartungen vieler Intellektueller, dass sie etwas zu sagen haben, weil sie am meisten wissen. Dann auch ihre große Empfänglichkeit für bestimmte Trends, die in politische Korrektheit entarten kann. Denn mit wem haben Intellektuelle Kontakt? Mit anderen Intellektuellen. Sie sind so abhängig von ihrer peer-group. Ich schließe mit Vaclav Havel. „Intellektuelle sind geneigt, der Verleitung nachzugeben, die Welt als ein Ganzes zu sehen, um sie in ihrer Gesamtheit zu erklären und universelle Lösungen für ihre Probleme vorzuschlagen. Eine geistige Ungeduld und eine Vielfalt an intellektuellen shortcuts sind gewöhnlich die Ursache dafür, dass Intellektuelle dazu tendieren, sich holistische Ideologien auszudenken und der verleitenden Kraft des holistischen social engineerings nachzugeben." 8 Aber schließlich gewinnt die Wirklichkeit, die sich nicht vernachlässigen lässt und allen überspannten Erwartungen den Boden nimmt. War es nicht Mao, der sagte, es sei besser, rot zu sein, als ein Spezialist? War es nicht Deng Xiaoping, der wenige Jahre danach sagte, es mache nichts aus, ob eine Katze weiß oder schwarz sei, solange sie nur die Mäuse fange? Übersetzt aus dem Niederländischen von Ruth Notowicz

New York Review of Books, 22-6-1995.

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Vom Manchestertum lernen, heißt... ... den Freihandel zur progressiven Agenda zu erheben! Detmar Doering* Wir schreiben das Jahr 1846: Jubel bricht aus im britischen Unterhaus. Es ist der 16. Mai. Ein 7jähriger Kampf geht zu Ende. Die Getreidezölle (Com Laws) sind gefallen. Um diese Zölle, die das Leben der Arbeiter in den Städten bis an das Existenzminimum verteuerten, zu beseidgen, hatte 1839 Richard Cobden zusammen mit John Bright die „Anti-Corn Law League" gegründet. Es folgen Jahre der Agitation. Das politische Gewicht dieser Vereinigung wird 1841 durch die Wahl Cobdens ins Unterhaus gestärkt. Die Bewegung ist nun nicht mehr ohne Redner und ohne Appell an die Massen. Mit unermüdlichem Eifer und hohem finanziellem Aufwand — er kann alleine 1844 die damals ungeheure Summe von 100.000 Pfund an Spenden aufbringen, obwohl gerade viele Industrielle auf Seiten der Protektionisten stehen — gelingt es Cobden mit Unterstützung von Bright, einen Agitations-Apparat von bisher unbekanntem Ausmaß und großem Erfindungsreichtum aufzubauen. Über 9 Millionen Broschüren zur Volksaufklärung werden verteilt. Unzählige Veranstaltungen finden im ganzen Inselreich statt, darunter eine wöchentliche Massenversammlung im Londoner Covent Garden. In Manchester wird eine riesige Freihandelshalle errichtet. Das Parlament wird mit Petitionen aus allen Volksschichten förmlich bombardiert - 1842 sind es 2880 Petitionen mit insgesamt mehr als 1,5 Millionen Unterschriften. Nicht nur die liberalen Whigs und Radikalen, die dem Prinzip des Freihandels generell offenstehen, werden von der Wucht der Bewegung beeindruckt. Selbst bei den regierenden Tories bewirkt der Druck der öffentlichen Meinung ein Umdenken. Es ist schließlich der konservative Premier Sir Robert Peel, der den entscheidenden politischen Schritt unternimmt. Von nun an geht es Schlag auf Schlag. Peel wird wegen seines "Verrates' an den feudalistisch-protektionistischen Prinzipien der Tory-Partei von seinen eigenen Parteifreunden, die sich nun um Disraeli zu scharen beginnen, gestürzt. Die neue liberale Whig-Regierung unter Lord Russell schafft 1849 die 'Navigationsakte' von 1651 ab und stellt damit die Freiheit des Schiffsverkehrs für England her. Andere Maßnahmen folgen. Schließlich, 1860, wagen sich die Freihändler auf das diplomatische Parkett. Der Abschluß des Freihandelsabkommens mit Frankreich, das zurecht als der 'Cobden-Vertrag' in die Geschichte eingeht, stellt mit der Abschaffung von 371 verschiedenen Zöllen alleine auf englischer Seite einen neuen Höhepunkt in der * Dr. Detmar Doering ist Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung.

Detmar Doering: Vom Manchestertum lernen 271

Entwicklung dar. Ein System von Freihandelsverträgen breitet sich auf dem Kontinent aus: Für Jahr2ehnte in Großbritannien im Speziellen und Europa im Allgemeinen ein freihändlerisch ausgerichteter Wirtschaftsraum. Wir schreiben das Jahr 2006: 160 Jahre nach dem Fall der „Com Laws" dümpelt die Doha-Runde der WTO, die den Freihandel als Entwicklungsinstrument stärken soll, siech vor sich hin. Niemand jubelt — mit der Ausnahme der Antiglobalisierungsbewegung, die das Scheitern der WTO-Ministerkonferenzen in Seatde (1999) und Cancun (2003) beklatscht, und die nicht zu ahnen scheint, dass das Scheitern vor allem jene Menschen in den Entwicklungsländern schädigt, deren Anwalt man zu sein glaubt. Die USA sind unter Präsident Bush erheblich protektionistischer geworden. Sollte die Opposition die nächsten Wahlen gewinnen, wird diese sich noch protektionistischer gebärden. In der EU wird über strategischen Bilateralismus, „nationale Champions" und die Positionierung als Gegenmacht zu den USA diskutiert. In Lateinamerika bestimmen demagogische Zwielichtsgestalten wie Hugo Chavez den Diskurs. Dem Freihandel fehlt weltweit zunehmend der politische Rückhalt. Auch die Vergangenheit wurde inzwischen einschlägig uminterpretiert. Der Sieg der Freihändler von 1846 und seine Hauptprotagonisten Cobden und Bright, die einst die Hoffnung vieler Menschen in Not waren, werden als „Manchestertum" diffamiert (bezeichnet übrigens nach ihrer Heimatstadt). Dabei könnte man gerade von diesem angeblich so unsozial agierenden „Manchestertum", das in Wirklichkeit ausgesprochen sozialreformerisch war, viel lernen. Man könnte lernen, wie man — um Otto Graf Lambsdorff zu zitieren — „für den Freihandel begeistert." Worin liegt der Unterschied zwischen 1846 und 2006? Er liegt wohl keineswegs im unmittelbaren wirtschaftlichen Effekt des Erreichten. Es mag sogar sein, dass das Wirtschaftsvolumen, das mit den multilateralen Kleinstliberalisierungen der letzten Jahre „befreit" wurde, das von der Abschaffung der „Com Laws" betroffene weit übertrifft. Der unmittelbare Effekt der — im Übrigen schrittweise vollzogenen — Abschaffung der „Corn Laws" war kaum messbar. Eine wirkliche Verbilligung des Brotes setzte in nur geringem Umfang ein. Viele Wirtschaftshistoriker sind sogar der Meinung, sie habe allenfalls eine weitere Verteuerung verhindert. So zu argumentieren heißt das Wesentliche zu übersehen. Es war weniger die faktische wirtschaftliche Bedeutung des Falls der „Corn Laws" selbst von zentraler Bedeutung, sondern die politische Entwicklung, die dieser Fall einleitete. Die 1830er und 1840er Jahre waren von wirtschaftlicher Stagnation, von der Hungerkatastrophe in Irland, von zunehmender Not der Arbeiter in den Städten geprägt. Die Sieg von 1846 hatte nicht nur die oben erwähnten Handelsliberalisierungen zur Folge, er leite-

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te generell ein Ende der politischen Stagnation ein, und das, was Historiker heute fast einhellig das viktorianische „age of reform" nennen. In anderen Worten: Er leitete eine lang anhaltende Periode wirtschaftlichen und so2ialen Fortschritts ein. Es waren die Arbeiter in den Industriezentren, die besonders von der neuen Politik profitierten. Fest steht: Selbst pessimistische Schätzungen gehen davon aus, dass die reale Einkommenssteigerung zwischen 1850 und 1870 bei den Arbeitern über 10 % betrug. Die „Royal Statistical Society", die 1909 die Reallohnentwicklung des 19. Jahrhunderts in England erfasste, stellt für diesen Zeitraum eine Zunahme von 18 % fest. Damit wurde eine sich verstetigende Entwicklung eingeleitet. 1880 lag der durchschnittliche Reallohn bereits 3 2 % über dem von 1850; 1900 bereits 84%! Zudem scheinen sich die Steigerungen hauptsächlich in denjenigen Branchen abgespielt zu haben, die vorher besonders schlecht bezahlte Arbeit zu vergeben hatten. Dass dies wirklich bedeutete, dass sich die Arbeiterschaft über das ihnen zuvor als geradezu naturgesetzlich hinzunehmende Existenzminimum erhoben hatte, zeigt auch ein anderer Indikator: Die Arbeiter wurden nämlich auf einmal in die Lage versetzt, Rücklagen und Ersparnisse zu erwirtschaften. Das von der Post betriebene Bankensystem für Kleinsparer alleine vermerkte schon 1862 insgesamt 180.000 Sparkonten mit Einlagen im Wert von ca. £ 1.750.000, die sich aber im Jahre 1874 bereits auf 1.373.000 Einlagen im Wert von £ 18.000.000 gesteigert hatten. Alles dies war Ausdruck einer allgemeinen Wohlstandszunahme in Großbritannien. Der Abschaffung der „Corn Laws" lässt sich das nicht direkt zuschreiben, wohl aber ihrer symbolischen Wirkung. Diese symbolische Wirkung — von Cobden, Bright und ihren vielen Mitstreitern geschickt „inszeniert" — war das Entscheidende. Woraus speiste sich diese Symbolik? Da war zunächst einmal die Glaubwürdigkeit in Bezug auf das soziale Anliegen hinter dem Kampf für den Freihandel. Richard Cobden, der Anführer der Bewegung, entstammte selbst aus ärmsten Verhältnissen, bevor er sich sein Textilunternehmen aufbaute. Er wusste, wovon er redete, wenn er 1844 meinte: „Nun, der erste und schwerwiegendste Anklagepunkt in meinem Urteil gegen den Getreidezoll ist, dass er eine Ungerechtigkeit gegen die Arbeiter in diesem und jedem anderen Land darstellt." Studiert man die Reden Cobdens und Brights und die Pamphletliteratur der Kampagne, so fällt auf, dass sie sich meist jener ökonomistischen Sprache enthält, die heute für die Freihändler so charakteristisch ist. Erklärungen zur ricardianischen Theorie des „komparativen Vorteils" findet man selten. Vielmehr handelt es sich um eine geradezu Sozialrevolutionäre Sprache, voll klassenkämpferischer Anspielungen gegen die herrschende Landaristokratie.

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Hinzu kam in den folgenden Jahren eine Agenda in anderen Politikfeldern, die diesen hochidealistischen Charakter unterstrich: Genossenschaftswesen, allgemeine Bildung, Abrüstung und Antikolonialismus. Das echte „Manchestertum" hat wenig mit dem heute imaginierten zu tun. Der Kämpfer für den Freihandel erscheint in diesem Licht keineswegs mehr als der Vertreter des „Establishments", der im grauen Anzug an Konferenzen des IMF teilnimmt. Er erscheint eher als ein Radikaler, der eine feudale, ausbeuterische Struktur ändern will. Ein echter „Progressiver", ein Kämpfer gegen Privilegierung - denn nichts anderes war und ist schließlich der Protektionismus. Aus heutiger Sicht wäre der Kämpfer für den Freihandel als politischer Typus für viele ein klassischer „Linker". Das symbolische Schlüsseldatum „1846" veränderte also nicht nur eine politische Wirtschaftsdoktrin, sondern ein gesamtes Kultur- und Geschichtsverständnis. Dieses Geschichtsverständnis prägte die englische Politik in einem so hohen Maße, dass der Freihandel nicht nur bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 die praktizierte Ausrichtung der Handelspolitik blieb, sondern auch zum Teil der Nationalidentität wurde. Er war mit Bildern verbunden, die von Cobden und seiner Bewegung geschaffen worden waren, die wiederkehrend verwertbar waren. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die um Joseph Chamberlain versammelten Dissidenten der Liberalen Partei sich abspalteten, um sich als sozialreformistische Bewegung zu etablieren, die gegen den Freihandel kämpfte, da war es für die Liberalen leicht, bei den Wählern weiterhin für ihre soziale Kompetenz anerkannt zu werden. Chamberlain (inzwischen zu den Konservativen übergelaufen) lag falsch. Freihandel wurde nicht als Gegensatz zu einer sozialen Politik gesehen, sondern zu einer ihrer Voraussetzungen. Die Liberalen fuhren mit einer Freihandelskampagne einen überwältigenden Sieg ein. Die Konservativen verloren nicht trotz, sondern wegen ihrer Gegnerschaft zum Freihandel breite Wählerschichten — vor allem unter den Arbeitern. Interessant ist in diesem Kontext, dass die liberale Wahlkampagne dabei massiv auf „Bilder" zurückgriff, die auf Cobden, das Manchestertum und „1846" zurückfuhrbar waren. Schaurige Bilder des Elends vor der Freihandelsära, die an Dickens Schriften erinnerten, wurden angeführt. „Remember the Hungry Forties!", hieß das Motto. In Anspielung auf Cobdens Ausdruck von „cheap l o a f , dem billigen Brotlaib, der den Arbeitern zukommen müsse, sah man auf den liberalen Wahlplakaten einen kleinen und einen großen Brotlaib, die als „free trade loaf (der große Laib!) und „tiny tariff reform l o a f bezeichnet wurden. Hier nutzte man ein volkstümliches Bild vom Freihandel und von seinen Segnungen.

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Nebenbei: Dieses Bild strahlte auch nach Deutschland aus - bis Ende des 19. Jahrhunderts die wilhelminische Propaganda den Begriff „Manchestertum" zum unsozialen Zerrbild (oft mit antisemitischen Klischees verbunden) umkehrte. Sozialreformer konnten auch hier lange Zeit gegen die „Brotverteurer" wettern. Auch hier blieb Freihandel eine „progressive" Agenda, von der Friedrich Naumann sagen konnte: „Die Frage des Freihandels ist nicht eine Teilfrage der Volkswirtschaft, sondern ist die Frage der volkswirtschaftlichen Willensrichtung überhaupt." Das symbolische Jahr 1846 hatte ein fast universelles Beispiel gesetzt. Noch 1906 konnte in Deutschland Naumann schreiben: „ Was dort geschehen ist, geschah uns zur Lehre." Der in London lehrende Historiker Frank Trentmann meint zu diesem Erbe des „Manchestertums": „The insertion of ,1846' into a story of Britain's quasi-biblical mission elevated Free Trade from economics to the larger plane of the social. Free trade was a natural mark of human progress." Die Lehre für heute ist eindeutig. Der soziale Impetus ist den Freihändlern in der öffentlichen Wahrnehmung heute weitgehend abhanden gekommen, oder besser gesagt: Es ist das volkstümliche Bild abhanden gekommen. Freihandel ist nicht immer leicht vermittelbar. Umso mehr beeindrucken die — eigentlich recht einfachen — politischen Mechanismen, mit denen Cobden und die „Manchester-Männer" ihn für Jahrzehnte im Herzen der Menschen verankern konnten. Die Aufgabe von heute ist es, diesen Impetus wiederherzustellen. Das mag etwas schwieriger sein als zu Cobdens Zeiten, weil die politisch gewichtigen Länder — die USA, die EU-Staaten, Japan — wirtschaftlich so saturiert sind, dass die durchaus beträchtlichen wirtschaftlichen Opportunitätskosten der Beschränkung des freien Handels in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr als so existentiell bedrohlich erfahren werden. Aber dies gilt schließlich nicht für die ganze Welt. Die Lehre von 1846 war schließlich nicht, dass man penible wirtschaftliche Berechnungen (die andernorts natürlich als Argumentationsgrundlage unerlässlich sind) präsentierte, sondern auch effektvolle Symbolik nutzte. Das Bild vom „teueren Brot" war ein solches Bild, das in Europa seinerzeit einen hohen emotionalen Gehalt innehatte. Heute ist eigentlich jedermann bewusst, dass der Agrarprotektionismus der Industrieländer für große Teile der Welt eine ähnlich symbolische Negativwirkung entfaltet wie es die „Corn Laws" in den 1840er Jahren taten. Dabei spielt es eine geringe Rolle, dass eine etwaige Abschaffung der Agrarzölle und -Subventionen in der „Ersten Welt" wahrscheinlich nur wenigen Ländern (z. B. Argentinien) wirklich dramatische Wohlstandszunahmen erbringen würde. Auch würde unmittelbar übersehen, dass heute der „Süd-Süd-Protektionismus" vieler Entwicklungsländer untereinander für diese Länder oft das größere Entwicklungshemmnis darstellt.

Detmar Doering: Vom Manchestertum lernen 275

Der entscheidende Punkt ist, dass der Protektionismus der Reichen gegen die Armen auf einer ganz nicht-ökonomischen Ebene als Ungerechtigkeit wahrgenommen wird. Er eignet sich für viele Entwicklungsländer und deren Regierungen als Vorwand, es mit umfassenden Liberalisierungen in der eigenen Region gar nicht erst ernsthaft zu versuchen. Er belegt darüber hinaus jeden Liberalisierungsvorschlag seitens der Industrieländer mit dem Zweifel an deren Aufrichtigkeit und Fairness. Nicht zu vergessen ist, dass man entwicklungspolitische Lobbyorganisationen, die heute die öffentliche Diskussion mit ausgesprochen freihandelsaversen Vorstellungen dominieren, auf seine Seite ziehen könnte — ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Politik. So warb die „Caritas" vor einiger Zeit mit eine Zeitungsannonce: „Wäre Jean Hateki eine Kuh, würde er doppelt so viel verdienen." Zutreffend wird am Beispiel des ruandischen Bauern aufgezeigt, dass Kühe in Europa heute mit zwei Dollar pro Kuh pro Tag subventioniert würden, während 1,2 Milliarden Menschen mit einem Dollar pro Tag auszukommen hätten. Dieser skandalträchtige Umstand darf nicht nur dazu instrumentalisiert werden, die Entwicklungstransfers zu erhöhen. Er sollte als Argument dienen, unsinnige und ungerechte Subventionen abzuschaffen. Es war richtig, dass man 2001 im Banne des Terrors die Doha-Runde der WTO als eine Entwicklungsrunde definierte. Handelsliberalisierungen sollten auf die „Armen" zugeschnitten sein. Die von den Anschlägen des 11. Septembers ausgehende Symbolwirkung, die diese Runde initiierte, ist indes spätestens mit dem Irakkrieg verbraucht. Sie war zudem nie direkt mit der WTO und dem Freihandel verknüpft. Die Abschaffung der Agrarprotektion besäße diese Verknüpfung. Es mag binnenpolitisch opportun sein, dass die EU hier eine (durchaus respektable) Politik der kleinen Schritte betreibt. Eine entscheidende Wirkung - ein umfassender Fortschritt bei der Entwicklungsrunde — stellt sich so aber nicht ein. Es fehlt die „revolutionäre" Signalwirkung. Und noch eine zweite Lektion ergibt sich aus dem Zeitalter des „Manchestertums": Das System der multilateralen Handelspolitik (WTO) ist der Königsweg zum Freihandel. Der sich durch die gegenwärtige Schwäche der WTO ergebende Trend zum Bilateralismus ist gefahrlich, weil er zu einer Vermachtung der Handelspolitik und damit zu noch mehr Asymmetrie zulasten der Entwicklungsländer führt. Solange aber die Schwäche des Multilateralismus anhält, werden einseitige Initiativen von USA, EU, China etc. unvermeidbar sein. Auch hier lohnt sich ein Blick zurück. Im 19. Jahrhundert gab es keine multilaterale Handelspolitikorganisation wie die WTO. Der „Cobden-Vertrag" von 1860 läutete ein System von einzelnen Handelsverträgen ein, das überaus erfolgreich in Europa eine Art Freihandelszone schuf. Einige sahen dies schon als Vorstufe zur Zollunion (auf die man 100 Jahre warten musste). Warum funktionierte dies? Weil Cobden und seine Mitstreiter 1860 erstmals ein multila-

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terales Element in ihre Handelsverträge einbauten, nämlich die Meistbegünstigungsklausel, mit der allen anderen Dritt-Ländern ebenfalls die gewährten Vorteile zukamen. Es war ein Akt von Großzügigkeit und Weitsicht, dies zu tun. Und sie zeigt uns heute, dass die Krise der WTO nicht notwendig zu kleinlicher Interessenpolitik in Handelsfragen fuhren muss. Wir mögen heute die Handelspolitiker des „Manchestertums" mit negativen Klischees belegen oder belächeln, doch sie verstanden ihr Handwerk noch. Wir sollten ihnen nacheifern.

Patrick Meinhardt: Bildung der Zukunft - Die selbstständige Schule 277

Bildung der Zukunft - Die selbstständige Schule Patrick Meinhardt* „Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht in der Fabrikhalle oder im Forschungslabor. Sie beginnt im Klassenzimmer." Henry Ford (1863-1947) Bildung ist einer der zentralen Bereiche liberaler Politik. Eine gute Bildung ist der Schlüssel zu einem Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung gegenüber sich selbst und der Gesellschaft. Nur eine gute Bildung ermöglicht den Menschen individuelle Entfaltung und persönliche Förderung. Nur eine gute Bildung ermöglicht technischen Fortschritt und sichert unseren Wohlstand. Spätestens seit dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler bei internationalen Bildungsstudien wissen wir, dass die Bildung in Deutschland in einer tiefen Krise steckt. Die Problemliste des deutschen Bildungssystems ist lang. Sie beginnt damit, dass Kindergärten zu lange nicht als erste Bildungseinrichtung verstanden wurden, und geht weiter bei den fehlenden Bildungschancen von Kindern aus Migrantenfamilien, der Ausbildungsunreife von Hauptschülern am Ende der Schulzeit und generell den zu langen Ausbildungs- und Studienzeiten. Hinzu kommt, dass die Ausbildungs- und Studienprofile oftmals zu theorielastig sind. Und Lehrer, die mehr erreichen wollen, werden durch die Bildungsbürokratie und durch ein Besoldungssystem ohne Anreize allzu oft ausgebremst. Unser Bildungssystem ist staatsdominiert, wettbewerbsfeindlich und überreguliert. Aus dem wichtigen Ziel der Chancengleichheit am Start wurde ein überregulierter und bürokratischer Einheitsbrei, der den Rohstoff Bildung nicht fördert, sondern verklebt und träge macht. Wir leisten uns eine Kultusministerkonferenz, die bei ihrer Gründung 1948 einzig und allein das Ziel hatte, für die gegenseitige Anerkennung der Bildungsabschlüsse in den verschiedenen Bundesländern zu sorgen. Was wir heute haben ist ein aufgeblähter Apparat mit über 200 Beamten (1949 waren es gerade mal eine handvoll), der Chancengleichheit mit Ergebnisgleichheit verwechselt. Es muss endlich Schluss sein mit dem Diktat von Bürokraten, die meinen man könnte die individuelle Förderung von Kindern zentralstaatlich regeln.

* Patrick Meinhardt, MdB, ist bildungspolirischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

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Was wir brauchen, ist Wettbewerb in der Bildung — und zwar Wettbewerb um die besten Köpfe und Wettbewerb um das Beste in den Köpfen. Zentralistische Bundeskompetenz hat uns in der Bildungspolitik in eine Sackgasse geführt und uns lediglich Konsens auf niedrigem Niveau beschert. Es überrascht nicht, dass Leute, die Wettbewerb generell kritisch sehen, diesen erst Recht in der Bildung ablehnen. Immer wieder werden Schreckenszenarien von der Zersplitterung des deutschen Bildungswesens heraufbeschworen. Dabei wird vergessen, dass unsere politische Stabilität, unsere wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen nicht auf bürokratischer und zentralistischer Einförmigkeit und Gleichheit beruhen, sondern auf staatlicher und kultureller Vielfalt. Vergessen wird aber auch, dass Wettbewerb um die besten bildungspolitischen Konzepte sehr wohl mit gesamtstaatlicher Verantwortung vereinbart werden kann, sogar muss. Deutschland braucht keine Vereinheitlichung von oben, sondern Vielfalt vor Ort. Wettbewerb auch in der Bildung erhöht nicht die Risiken, sondern die Chancen. Wenn 16 Bundesländer um die beste Bildung konkurrieren, ist die Chance, die beste Lösung zu finden, sehr viel größer als bei einer Einheitslösung von oben. Vielfalt ist produktiv und kann auch zu einer anderen Art von Einheitlichkeit führen: Wenn alle anderen Länder die beste Lösung nachahmen. Wir Liberale haben außerdem den Vorteil, dass wir schon längst erkannt haben, dass die Menschen nun mal verschieden sind. Daher kann eine Lösung für die Menschen beispielsweise in Berlin funktionieren, in Niedersachsen aber nicht. Wieso sollen wir dann den Menschen in Niedersachsen die Bildungspolitik von Berlin aufzwingen? Wer die Menschen in Freiheit leben lassen und zu mehr Eigenverantwortung erziehen will, muss anerkennen, dass Freiheit in jedem eigenen Kopf beginnt. Wenn Freiheit und Eigenverantwortung etwas so Nahes und Persönliches sind, müssen wir auch dafür sorgen, dass Bildung und Erziehung dort statt finden, wo die Menschen sind. Wir brauchen deshalb mehr Selbstständigkeit für die einzelnen Schulen. Denn die Menschen vor Ort wissen am besten, was gut für sie ist. Wir brauchen die freie Entscheidung der Schulen vor Ort; Schulen müssen selbst über ihre Bildungsschwerpunkte entscheiden können. Es muss im Entscheidungsbereich einer Schule liegen, ob sie einen beispielsweise naturwissenschaftlichen oder sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt setzt. Schulen müssen selbstständig über die Verwendung Ihres Budgets entscheiden können. Sie müssen selbst über die Anstellung und auch die Entlassung ihres Lehrpersonals entscheiden können. Sie müssen selbst über ihre eigene Organisationsstruktur entscheiden können. Je selbstständiger eine Schule ist, desto mehr kann eine lebendige Gemeinschaft nach innen entstehen.

Patrick Meinhardt: Bildung der Zukunft - Die selbstständige Schule 279

Schulen müssen viel mehr als bisher in die Lage versetzt werden, in enger Kooperation mit allen Beteiligten — Lehrern, Schülern und Eltern - Entscheidungen zu treffen, die sie selbst betreffen. Nur so entsteht in der Schullandschaft eine neue Dynamik, ein neuer Teamgeist, ein neues schulisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir haben in Deutschland viel zu lange versucht alles von oben herab zentral und im Konsens zu regeln. Wir können aber zukünftig nicht so lange warten, bis wir in Diskutierrunden voller Kuschelpädagogen und Gutmenschen zu Ergebnissen kommen, die unsere Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich nur mittelmäßig ausbilden. Wir befinden uns nicht im Wettbewerb zwischen 16 Bundesländern. Wir befinden uns im Wettbewerb um die beste Bildung mit dem Rest der Welt. Wer dabei immer noch glaubt, wir könnten mit den gleichen bildungspolitischen Maßnahmen wie in den letzten 40 Jahren, die uns nicht mehr als Mittelmaß eingebracht haben, an die internationale Spitze gelangen, täuscht sich. Nur wenn wir uns selbst mit Wettbewerb anspornen, werden wir den internationalen Bildungswettbewerb gewinnen. Nur wenn wir die Menschen auch und gerade in der Bildungspolitik in die Freiheit entlassen, werden wir langfristig Erfolg haben. Wettbewerbsföderalisten sind Menschen, die auf den gesunden Menschenverstand vertrauen.

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Innovationen brauchen Freiheit Andreas Pinkwart* Im Juni 2004 hat Otto Graf Lambsdorff in seiner Rede anlässlich der Verleihung der Hayek-Medaille einen ordnungspolitischen Aufbruch für Deutschland gefordert. Wenn dieser Band erscheint, ist das zweieinhalb Jahre her. Gut, der erste Schritt der Föderalismusreform ist getan, eine der zentralen Lambsdorffschen Forderungen damals. Auf allen anderen Feldern, von Steuersystem bis Arbeitsmarkt, von Alterssicherung bis Gesundheitssystem, herrscht weiter Stillstand. Schlimmer. Wer in Deutschland einen neuen Anfang wagt, muss ihn gegen eine Politik der „Flickschusterei" aus Berlin durchsetzen, wie Graf Lambsdorff schon 2004 kritisierte. Kein Wunder also, dass immer drängender gefragt wird: Wie viel Reformkraft steckt in unserem Land? Und wer ist in der Lage, sie zu mobilisieren? In diesem Beitrag gebe ich Antworten mit besonderem Bezug auf die liberale Innovationspolitik für Nordrhein-Westfalen. 1. Innovationen schaffen Freiheit Innovationen spielen eine entscheidende Rolle für das Wohlergehen unserer Gesellschaft. Zuallererst, weil Innovationen Freiheit schaffen, für den Einzelnen und für die Bürgergesellschaft insgesamt. Technische Neuerungen ermöglichen uns heute, in Wohlstand und Sicherheit und damit auch in großer Freiheit zu leben. Sie haben dazu geführt, dass eine wachsende Zahl von Menschen länger und gesünder lebt und ein früher unvorstellbar hohes Maß an persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten nutzt. Zugleich sind Innovationen der Schlüssel für Wachstum und mehr Arbeit in unserem Land. Nur durch neue Produkte und Produktionsverfahren können wir als rohstoffarmes Hochlohnland in einer globalisierten Welt unseren Wohlstand und unsere Sozialsysteme dauerhaft sichern. Erfolgreiche Innovationspolitik schafft die Basis für den sozialen Frieden. Um das Potenzial von Innovationen für unsere Gesellschaft zu erschließen, brauchen wir allerdings einen grundlegenden Wandel der Mentalität und der Rahmenbedingungen. Es geht nicht nur darum, wie man die Investition in Wissen durch Produktneuheiten wieder in Geld verwandeln kann. Wir müssen klären, wie wir in einer spannungsgeladenen Zeit in einer Gesellschaft zusammenleben. Es geht darum, was

* Prof. Dr. Andreas Pinkwart ist Minister für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen.

Andreas Pinkwart: Innovationen brauchen Freiheit 281

unsere Kinder in der Schule lernen, mit welcher Ausrüstung wir sie in die Wissensgesellschaft entlassen. Es geht darum, wo Menschen auch künftig wettbewerbsfähige Arbeitsplätze finden, wie Regionen aus der Alimentation herausfinden und echte Perspektiven gewinnen. Es geht auch um ein neues Verhältnis zwischen Staat und Privat. Diese Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen, ist ein Kraftakt. Wie gehen wir ihn an? 2. Innovationen brauchen Freiheit Die scheinbare Reformunfahigkeit unserer Gesellschaft beruht zu einem Gutteil darauf, dass die Politik sich anmaßt, Dinge zu regeln, die sie nicht regeln kann. Wir mögen den Geburtenrückgang beklagen, aber der Staat setzt keine Kinder in die Welt. Der Staat kann das Rauchen am Arbeitsplatz verbieten, Soldaten in den Libanon schicken und die Mehrwertsteuer erhöhen. Aber er kann nicht anordnen, dass Unternehmer investieren und dass Wissenschaftler neue Erkenntnisse gewinnen. Überall da, wo Wandel von der Kreativität, dem Engagement, der Tatkraft und der Risikobereitschaft der Menschen abhängt: Überall da scheitert staatlicher Dirigismus und kleinkarierter Programmaktivismus. Je hartnäckiger sich das gewünschte Ergebnis nicht einstellt, umso schneller schießen aber offenbar die Gesetze und Bestimmungen, die Programme und Initiativen ins Kraut. Ein Teufelskreis und Gift für den Innovationsstandort. Denn der Staat macht keine Innovation. Schlechtestenfalls kann er sie durch Überregulierung und Bürokratismus verhindern. Innovationen brauchen Freiheit. Das heißt nicht, die Politik habe hier keine Aufgabe. Politik kann und muss wesentlich dazu beitragen, dass der Innovationsprozess gelingt. Sie darf sich aber keine falsche Rolle anmaßen. Und sie darf umgekehrt auch nicht kapitulieren mit dem Hinweis, politische Entscheidungen verlagerten sich ohnehin zunehmend auf private Akteure oder die internationale Ebene. Wir müssen die demotivierenden Bedingungen beseitigen und in der Tat den Menschen in den Hochschulen, den Forschungseinrichtungen und den Unternehmen wieder etwas zutrauen. Dazu müssen wir das Regelungsdickicht lichten, das die Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen einengt. An seine Stelle muss ein stimulierender Rahmen treten, der Freiräume für die Investition in Wissen und Innovationen schafft. Schluss sein muss auch mit der Ideologisierung der Forschungs- und Technologiepolitik. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die Forschung und Entwicklung — insbesondere auch der Firmen — wieder anregen, statt sie zu strangulieren. Die Blockade wichtiger Zukunftsfelder durch Barrieren und Denkverbote müssen wir abbauen, ob in der Stammzellforschung, der Energie- oder in der Biotechnologie.

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Wir brauchen einen klaren Kurswechsel hin zu einer forschungsfreundlichen Politik und zu einem zukunftsbejahenden Klima, in dem Forschergeist und Kreativität gedeihen können. 3. Innovationspolitik ist Ordnungspolitik Innovationspolitik ist der Spielraum, den die Politik Wissenschaft und Wirtschaft endlich wieder einräumen muss. Denn in den Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen arbeiten die Menschen, auf deren Engagement, Kompetenz und Kreativität wir angewiesen sind, wenn wir wieder Innovationsland Nummer 1 werden wollen. Innovationspolitik ist daher zuallererst Ordnungspolitik. Es geht nicht darum, Spielregeln der Wirtschaft eins zu eins auf Wissenschaft und Forschung auszudehnen. Was wir erreichen wollen, ist vielmehr ein Rahmen, der den gesamten Raum umspannt, in dem sich Innovation vollzieht. Es geht um eine neue Statik, die Hochschulen, Forschung und Unternehmen in ihrem Zusammenwirken als Innovationspartner trägt. Graf Lambsdorff hat mit Bezug auf die Innovationspolitik bereits vor Jahrzehnten das schöne Bild von einer Badeanstalt gebraucht. Es geht nach meiner Erinnerung etwa so: Wer ein Schwimmbad betritt, der kann erwarten, dass er ein Becken vorfindet, warmes Wasser und einen Bademeister; sinnvollerweise sollte es auch eine Schwimmer- und eine Nichtschwimmerzone geben. Aber schwimmen muss er selbst. Die meisten Badegäste können und wollen das auch. Die zentrale politische Grundüberzeugung, die wir aus der ökonomischen Sphäre der Ordnungspolitik übernehmen, ist das Vertrauen in die Kompetenz der Akteure. Was wir nicht übertragen, sind Rollen, Aufgaben, Ziele und Kurs. Denn Wissenschaft und Wirtschaft haben nicht die gleichen Aufgaben in unserer Gesellschaft. Aber sie wirken in einem Prozess zusammen, der für unser Wohlergehen entscheidend ist. Darauf richtet sich unsere Innovationspolitik als Ordnungspolitik. Nehmen wir das Beispiel Hochschulen. Denn hier ist die Sorge am größten, es gehe letztlich doch um nichts anderes als eine mühsam verbrämte Ökonomisierung der Wissenschaft. 4. Hochschulen sind Schlüssel-Akteure für den Innovationsstandort. Drei zentrale Aufgaben müssen Hochschulen erfolgreich wahrnehmen, um dieser Rolle gerecht zu werden: hervorragende Ausbildung des Nachwuchses, Forschung auf internationalem Niveau, intensiver Wissenstransfer in Gesellschaft und Wirtschaft. Damit sie dieser Rolle gerecht werden können, tun wir in Nordrhein-

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Westfalen zwei Dinge gleichzeitig: Wir sichern die Gestaltungskraft der Hochschulen - und wir geben ihnen zugleich Gestaltungsfreiheit in einer Dimension, wie sie bisher in Deutschland nirgendwo erreicht ist. Was heißt Gestaltungskraft sichern? Fast alle Hochschulen in NRW haben die neue Option gewählt, Studienbeiträge zu erheben. Das sind erhebliche zusätzliche Einnahmen, die sie zweckgebunden für bessere Lehre und Studienbedingungen einsetzen können. Zusammen mit dem Studienbeitragsgesetz hat der Landtag einen Zukunftspakt beschlossen, der die Landeszuschüsse an die Hochschulen per Parlamentsbeschluss bis 2010 sichert - das ist so viel Finanzierungssicherheit wie noch nie für die Hochschulen in NRW. Und es macht klar, dass die Studienbeiträge nicht den Zweck erfüllen, Finanzierungsverantwortung der öffentlichen Hand abzuwälzen. Was heißt Gestaltungsfreiheit geben? Zentrale Rahmenbedingungen für die Hochschulen sind ihre Organisationsstrukturen und Entscheidungskompetenzen. Wenn Innovationen Freiheit brauchen, darf man Hochschulen nicht wie nachgeordnete Behörden führen. Deshalb schaffen wir für die Hochschulen in NRW das freiheitlichste Hochschulrecht in Deutschland. Wir erreichen damit einen Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Staat und Hochschule. Das bedeutet: Kompletter Rückzug aus der Detailsteuerung. Umfassende Kompetenzen für die Hochschulen und Verantwortung für Finanzen, Personal und Organisadon; neue Möglichkeiten für die Hochschulen, mit der Wirtschaft als starke Partner zu kooperieren. Das ist die notwendige Gestaltungsfreiheit, um im globalen Wettbewerb mitzuhalten. 5. Ex^ellen^ braucht Wettbewerb. Wer mehr Qualität in den Hochschulen will, muss Exzellenz fördern und Mittelmäßigkeit sanktionieren. Qualität kristallisiert sich nur im Wettbewerb heraus. Wettbewerb ist nicht das Ziel. Er ist das Prinzip, um Qualität zu erreichen. Und er macht nur Sinn, wenn man akzeptiert, dass es künftig Aufsteiger, aber auch Absteiger geben wird. Aufgabe der Politik ist es, dafür einzustehen, dass dieser Wettbewerb nach fairen und wissenschaftsadäquaten Kriterien abläuft, differenziert für die unterschiedlichen Disziplinen, anpassungsfähig an unterschiedliche Schwerpunkte und Profile der Hochschulen. Wir werden künftig mehr Differenzierung und auch mehr Dynamik in unserer Hochschullandschaft haben. Gut so. Denn verordnete Mittelmäßigkeit, der nur wenige Ausreißer trotzig widerstehen, ist eine Zumutung. Entscheidend ist: Jede Hochschule wird die faire Chance haben, sich in überschaubarer Zeit erfolgreich zu verändern. Aufgabe der Politik ist es, diese Chance zu garantieren. Aufgabe der Hochschulen ist es, sie zu ergreifen.

284 Kultur und Geschichte

6. Ex%e/kn% muss sich %um Nutzen bekennen. Exzellenz ist nicht Gewinnorientierung. Was der Staat aber fordern muss, ist Qualität der wissenschaftlichen Arbeit, Relevanz dieser Arbeit für die Gesellschaft und ein vernünftiges Verhältnis von Aufwand und möglichem Ertrag in Gestalt von Erkenntnisfortschritt. Das ist die Gestaltungsverantwortung der Hochschulen. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass adäquate Evaluation der Wissenschaft erfolgt und dass ihre Ergebnisse Konsequenzen haben. Trotz der Absage an die Gewinnorientierung: Es muss ein Bekenntnis der Hochschulen zum Nutzen geben. Der wettbewerbsentscheidende Vorteil einer Volkswirtschaft in der globalen Welt sind zwei Dinge: die Qualifikation der Menschen und die Fähigkeit, Erkenntnisvorsprung in Qualitätsvorsprung zu übersetzen. Das betrifft die Hochschulen; sie sind davon nicht abgekoppelt. Wir machen diese Tatsache zum Angelpunkt moderner Hochschulpolitik in NRW: zum Wohle einer Wissenschaftslandschaft mit vielen exzellenten Hochschulen, von denen auch in Zukunft keine ein Unternehmen sein wird. 7. Politik für Innovatoren Wer optimale Bedingungen für Innovation schaffen will, muss Politik für Innovatoren machen. Wir tun das. Es ist Politik für Unternehmer, die forschen und in Innovation investieren wollen. Es ist Politik für Hochschulen, die sich als Treiber des Fortschritts verstehen. Es ist Politik, die den Forschungseinrichtungen in der Konkurrenz mit anderen Standorten die besseren Bedingungen bietet. Es ist keine Politik nach dem Motto: Hier pumpen wir jetzt richtig Geld rein, dann werden wir in ein paar Jahren ein toller Innovationsstandort sein. Wir schaffen Rahmenbedingungen, die den Standort NRW in der Konkurrenz um Exzellenz nachhaltig verbessern. Denn wir wollen in fünf bis zehn Jahren ein echter Magnet für Innovatoren sein: Abzulesen an der öffentlichen und! privaten Investition in Forschung und Entwicklung, an der nachgewiesenen herausragenden Leistung unserer Hochschulen in Forschung und Lehre, an der Attraktivität des Standortes für herausragende außeruniversitäre Forschung und an der Dynamik des Wissenstransfers — und nicht zuletzt auch abzulesen an der Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich mit dem Neuen auseinanderzusetzen.

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Außen- und Europapolitik

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Ein Atlantiker der ersten Stunde Werner Hoyer* Otto Graf Lambsdorff ist ohne jeden Zweifel ein herausragender deutscher Atlantiker der ersten Stunde. Er gehört zu der leider immer mehr ins zweite Glied zurücktretenden Generation deutscher Politiker, die den Marshall-Plan, die Care-Pakete und die Berliner Luftbrücke noch bewusst miterlebt haben und die nicht nur aus den Geschichtsbüchern wissen, was die deutsche Demokratie den USA verdankt. Hinzu kommen seine umfassende Kenntnis des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Amerika sowie seine über Jahrzehnte kontinuierlich gepflegten Gesprächskontakte und Freundschaften. Schließlich ist Graf Lambsdorff als Liberaler selbst geprägt von einer Grundhaltung, die sich im „amerikanischen Traum" mit dem Glauben an die Fähigkeiten und die Freiheit des Individuums und gleichzeitig an die individuelle Verantwortung für die Gesellschaft als Ganzes gut wieder findet. (So lässt sich mit dem Kennedy-Zitat „Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, sondern was Du für Dein Land tun kannst" sicher auch die politische Lebenshaltung von Graf Lambsdorff gut umschreiben.) Aus dieser Kombination aus historischer Dankbarkeit, persönlicher Nähe und politischer Grundübereinstimmung hat sich bei Graf Lambsdorff ein Gefühl der Verbundenheit zu den USA entwickelt, das auch über politische Differenzen hinweg tragfähig bleibt. Das ist wichtig — denn auch von diesen Differenzen weiß Graf Lambsdorff ein Lied zu singen. „Der G r a f , der bis heute unter den politischen Eliten Amerikas einen Ruf wie Donnerhall genießt, war und ist seinen transatlantischen Partnern über die Jahrzehnte und die unterschiedlichen beruflichen Funktionen hinweg alles andere als ein bequemer Gesprächspartner geblieben. Aber die Amerikaner haben ihm das nie verübelt. Sie pflegen eine hohe Streitkultur, sie sind offen für Kritik und unterschiedliche Meinungen — vor allem, wenn Loyalität und Verlässlichkeit gegeben sind und im konkreten Streit die Basis der Beziehungen und des Vertrauensverhältnisses nicht gleich mit in Frage gestellt wird. In der Geschichte der transatlantischen Beziehungen hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder tief greifende Differenzen gegeben — als Stichworte sei nur auf den Vietnam-Krieg oder die Stationierung nuklearer Kurzstreckenraketen verwiesen. Trotzdem waren die transatlantischen Partner in der Lage, über alle Differenzen hinweg das Verhältnis intakt zu halten und die Grundpfeiler der Beziehun-

* Dr. Werner Hoyer, MdB, ist stellvertretender Vorsitzender und außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

Werner Hoyer: Ein Atlantiker der ersten Stunde 287

gen nicht in Frage zu stellen. Mit dem Streit über den zweiten Irak-Krieg 2003 scheinen die transatlantischen Auseinandersetzungen allerdings eine andere Qualität gewonnen zu haben. Graf Lambsdorff selbst hat damals mehr Verständnis für die amerikanischen Motive gezeigt, die hinter diesem Krieg standen, als die meisten anderen Deutschen. Aber auch Graf Lambsdorff hat öffentlich in erster Linie nicht die deutsche Ablehnung des Krieges an sich, sondern die Art und Weise dieser Ablehnung kritisiert. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat den Irak-Krieg innenpolitisch missbraucht, hat Wahlkampf betrieben mit anti-amerikanischer Stimmungsmache. Anti-amerikanische Ressentiments, die in Teilen der deutschen Bevölkerung auch schon bei früheren Streitigkeiten zu Tage getreten waren, wurden diesmal von der politischen Führung Deutschlands nicht aufgefangen, sondern im Gegenteil sogar instrumentalisiert und noch geschürt. Das hat bei vielen USAmerikanern — und nicht nur bei Anhängern der Bush-Administration — Verletzungen hervorgerufen. Und das hat zudem dazu geführt, dass bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung heute die empfundene Verbundenheit und Nähe etwa gegenüber dem Russland Wladimir Putins größer zu sein scheint als gegenüber dem Amerika George W. Bushs. Dieser Befund muss überzeugten Atlantikern vom Schlage Graf Lambsdorffs, und zwar auf beiden Seiten des „großen Teiches", Anlass zur Sorge sein. Die transatlantische Freundschaft muss immer wieder neu definiert und neu begründet werden. Die historische Erfahrung der Berliner Luftbrücke allein trägt nicht mehr. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die gemeinsame Bedrohung durch den hochgerüsteten und zum Westen antagonistischen Ostblock, die Nordamerika und Westeuropa über vier Jahrzehnte zusammengeschweißt hatte, verschwunden. Weggefallen oder zumindest drastisch reduziert ist auch die ständige Präsenz von Hunderttausenden von US-Soldaten in Europa. Diese „GIs" waren mit ihrer ganz persönlichen Deutschland-Erfahrung ein wichtiges Bindeglied, das wird heute immer deutlicher. Die traumatische Erfahrung des 11. September, die den Amerikanern bis heute das Gefühl vermittelt, sich „im Krieg" zu befinden, wurde in Europa und auch in Deutschland ganz anders und vor allem viel weniger nachhaltig wahrgenommen. Die ursprüngliche Solidarisierung der damaligen Bundesregierung und vor allem der deutschen Bevölkerung mit den Amerikanern war echt — daran besteht kein Zweifel. Aber Europäer und Deutsche fühlen sich selbst durch den islamistischen Terrorismus nicht unmittelbar bedroht - eigenartigerweise haben daran auch die Terroranschläge von Madrid und London wenig geändert. Fünf Jahre nach 9/11 kann man in Europa kaum mehr nachvollziehen, dass die Bedrohung andauert und dass sich ähnliche Anschläge jederzeit (und eben auch hier) wiederholen können. Und die Maßnahmen, zu denen Washington im Kampf gegen den Terror greift, werden fast

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einhellig als zu eindimensional militärisch, wenig Erfolg versprechend und mit viel zu hohen „Kollateralschäden" verbunden betrachtet. Tatsächlich macht es die gegenwärtige Bush-Administration mit ihrem aus deutscher und europäischer Sicht nicht immer nachvollziehbaren Vorgehen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus auch den Freunden Nordamerikas auf unserer Seite nicht immer leicht. Die rechtsstaatlich unhaltbaren Vorgänge um Guantanamo, um Abu Ghraib oder auch um die CIA-Rendition-Flights können von liberal denkenden Europäern nicht kritiklos und unwidersprochen hingenommen werden. Aber beruhigend ist eben, dass diese Vorgänge auch in den USA selbst heiß umstritten sind. Amerika ist und bleibt eine offene und zutiefst demokratische Gesellschaft, und die „Selbstheilungskräfte" der amerikanischen Demokratie lassen eine Verstetigung von rechtsstaatlich zweifelhaften Vorgehensweisen auch unter den besonderen Bedingungen eines „Kriegszustandes" nicht zu. Wichtig für eine Neubelebung der transatiantischen Beziehungen ist jetzt eine nüchterne Analyse dessen, was uns verbindet. Die Wertegemeinschaft trägt weiter, trotz aller Kritik an Aspekten der Politik der Bush-Administration bleiben Westeuropa und Nordamerika einander politisch, wirtschaftlich und kulturell ähnlicher und enger verbunden, als alle anderen Weltregionen. Diese Wertegemeinschaft als Basis für die transadantische Freundschaft muss aber ergänzt werden um die Interessen, die auf beiden Seiten an der Erhaltung und Pflege dieser Freundschaft bestehen. Sicherheitspolitisch liegen diese Interessen im Grunde auf der Hand. Die Bedrohung des fundamentalistisch-islamistischen Terrorismus richtet sich eben nicht nur gegen die USA, sondern gegen den Westen und seine freiheitliches politisches und wirtschaftliches System. Diese Sicherheitsbedrohung ist nicht mehr regional, sondern funktional definiert. Aber das macht sie nicht weniger „transadantisch". Die Suche nach Antworten auf diese gemeinsame Sicherheitsbedrohung, die derzeit eher trennend wirkt, muss wieder zu einer gemeinsamen Suche werden. Dazu steht mit der NATO der notwendige institutionelle Rahmen eigentlich zur Verfügung. Nur muss diese NATO eben auf beiden Seiten des Adantiks wieder viel stärker als politischstrategisches Abstimmungsgremium verstanden und auch genutzt werden. Das transadantische Bündnis muss sich weiter von einer regionalen Verteidigungsallianz transformieren hin zu einem stärker politisch-funktionalen Bündnis, das sich die globale Projektion von Sicherheit und Stabilität, aber durchaus auch von Modernisierung und Demokratisierung, auf die Fahnen schreibt. Diese Entwicklung ist eingeleitet — Afghanistan ist das wichtigste Beispiel. Aber das wird nicht reichen. Die wichtigsten Konfliktherde auf der Welt verlangen gemeinsame transadantische Antworten. Der Nahe Osten, der Umgang mit den iranischen Nuklearwaffenambitionen, Nordkorea, natürlich weiter Afghanistan, auch die Krisenbewältigung und -prävention in Afrika und perspektivisch vielleicht in Asien — der Umgang mit all

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diesen Herausforderungen wird der transatlantischen Werte- und Interessengemeinschaft leichter fallen und besser gelingen, wenn Interessen und Strategien abgeglichen und Ressourcen gebündelt werden. Und zwar nicht über „Koalitionen der Willigen", sondern über einen Diskussions- und Entscheidungsprozess im Atlantischen Bündnis. In den USA ist nach den Problemen im Irak ein Umdenken in diese Richtung zu verzeichnen — die Europäer scheinen bisweilen zu verschlafen, dass der Paradigmenwechsel in den Vereinigten Staaten im vollen Gange ist. Das müssen die europäischen NATO-Partner jetzt aufgreifen und mit einer Initiative zur Repolitisierung der Allianz beschleunigen. Sicherheit ist eine tragende Säule der transatlantischen Beziehungen — aber nicht die einzige. Von zentraler Bedeutung ist auch die wirtschaftliche Dimension. Graf Lambsdorff hat immer wieder auf die Bedeutung der florierenden wirtschaftlichen Beziehungen über den Atlantik hingewiesen. Viele Europäer hatten nach dem Ende des Kalten Krieges befürchtet, dass sich die USA jetzt zunehmend in Richtung Pazifik orientieren würden. Aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache. In den letzten anderthalb Jahrzehnten wurde über dem Atlantik ein Ausmaß an Wirtschaftskooperation erreicht, das alles vorher Gewesene bei weitem in den Schatten stellt. Und selbst (oder ausgerechnet) das durch den Irak-Krieg politisch schwierige Jahr 2003 war mit Blick auf den transatlantischen Handel ein Rekordjahr. Selbstverständlich gibt es auch und gerade auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeziehungen transatlantische Auseinandersetzungen. Auch das ist nichts Neues: Graf Lambsdorff selbst kennt beispielsweise die bis heute andauernden Streitereien über Subventionen im Flugzeugbau noch aus seiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister, also 1977 bis 1984. Ökonomische Streitpunkte müssen politisch ausgeräumt werden, dazu braucht es gute politische Beziehungen. Aber gerade Graf Lambsdorff macht immer wieder mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass das wirkliche ökonomische Problem für den transatlantischen Handel einerseits in der Kombination eines gewaltigen Haushaltsdefizits und eines gleichzeitig atemberaubendem Leistungsbilanzdefizits der USA und andererseits in der gegenwärtigen Schwäche der meisten europäischen Volkswirtschaften besteht. Die Volkswirtschaften Nordamerikas und Europas sehen sich im Zeitalter der Globalisierung gleichermaßen, ja eigentlich sogar gemeinsam mit aufstrebenden Wettbewerbern in Asien konfrontiert. Das Angewiesensein auf Energieimporte, die Abhängigkeit der vom Außenhandel dominierten Volkswirtschaften vom freien Welthandel und von einer funktionierenden Welthandelsordnung, das gemeinsame Interesse an der und die gemeinsame Verantwortung für die Überwindung der Armut in der Welt — all das sollte und könnte die transatlantischen Partner eher verbinden als trennen.

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Um diese Interessen- und Verantwortungsgemeinschaft, die über den Adantik weiter besteht, über tagespolitische Differenzen hinweg zu erkennen, zu bewahren und in gemeinsame Politik umzusetzen, bedarf es politischer Führungsstärke, Grundsatztreue, Weitsicht und Vernunft. Deshalb ist es nicht zuletzt für die Zukunft der transatlantischen Beziehungen so wichtig, dass uns Otto Graf Lambsdorff — und sein transatlantisches Engagement - noch möglichst lange aktiv erhalten bleiben.

Grigori Jawlinski: Europa und Russland - Eine Strategie für Europa 291

Europa und Russland Eine Strategie für Europa

Grigori jawlinski* Aus der Spezifik der prinzipiellen Veränderungen in der Innenpolitik Russlands und der unbestreitbaren Tatsache, dass sie nur von innen durchgeführt werden können, folgt nicht, dass die demokratischen Staaten diese Veränderungen nur beobachten und abwarten sollen. Sie können bei vorhandenem politischen Willen aktiv zu diesen Veränderungen beitragen. Doch sicher haben die in realistischer Sichtweise Erfolg versprechenden Einflusswege auf die Situation in Russland nichts mit dem gemein, was heutzutage in Kreisen des politisierten und unzufriedenen Publikums besprochen wird - harte politische Appelle, Ausschluss des autoritären Russland aus der G 8, kollektives Verurteilen Putins etc. Das, was in Wirklichkeit für Russland nützlich und wichtig ist, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Zuallererst sollten die demokratischen Staaten wirklich mit den demokratischen und rechtlichen Standards, dem Wertekatalog im Einklang stehen, die für Russland anstrebenswert sind. Für meine Landsleute ist nicht der materielle Überfluss wichtig, sondern vor allem die reale, mit eigenen Kräften erschaffene, Möglichkeit, in Würde zu leben. Gerade dieses Bestreben von Millionen von Bürgern nach einem würdevollen Leben, und nicht die Wirtschaftskrise in Folge des Preisverfalls bei Energieträgern, war die entscheidende Veränderungskraft für die friedliche Demontage des totalitären Sowjetsystems. Der zweite notwendige Punkt zur Integration der russischen Partner ist das Vorhandensein einer genauen strategischen Vision der zukünftigen Beziehungen mit Russland, einer speziellen langfristigen Integrationsstrategie. Das Ziel, das das politische Leben der europäischen Staaten bis vor kurzem bestimmt hatte, war nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert worden — das gemeinsame Europa. Mit dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 wurde dieses Ziel erreicht, die Strategie war erschöpft. Die Erweiterung der EU um immer neue Länder von den 90er Jahren an bis heute stellt nur die technische Vollendung dieses Prozesses dar.

' Grigori Jawlinski ist Vorsitzender der liberalen russischen Partei „Jabloko".

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„Das Ende einer Strategie" in Europa und nicht „das Ende der Geschichte" liegt der Krise zu Grunde, welche die Europäische Union und die Machtstrukturen der „Realpolitik" zurzeit erleben. Im Grunde genommen braucht Europa eine neue Strategie nicht nur in Richtung Russland, sondern eine gänzlich neue europäische Strategie: einen Plan für Jahrzehnte, eine Antwort darauf, wie das zukünftige Europa werden soll, wohin es sich bewegen muss. Nach meiner Vorstellung ist die Integration von Europa und Russland eine Aufgabe, deren Lösung dem vereinten Europa ermöglichen würde, eine führende Rolle weltweit zu spielen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden im XXI. Jahrhundert zwei Zentren der Wirtschaftsmacht entstehen: Nordamerika und Südost-Asien. Die Europäische Union kann ein gleichstarker Konkurrent werden, wenn sie Wege zur organischen Vereinigung des eigenen Wirtschaftspotentials mit den Möglichkeiten Russlands findet: mit den natürlichen und den Humanressourcen, der Geographie des euroasiatischen Raums, dem russischen wirtschaftlichen und intellektuellen Potential. Das ist natürlich nur unter der Bedingung möglich, dass sich in Russland während seiner Entwicklung nach und nach das gemeinsame europäische Wertesystem und eine Politik, die auf der Demokratie und der Priorität für die Rechte und die Freiheit des Menschen basiert, durchsetzen. Aber am Anfang muss die Bestimmung des Ziels stehen. Es geht nicht um den formalen EU-Beitritt Russlands nach den Regeln Brüssels. Die Aufgabe besteht darin, Märkte, Kulturen und Menschen zu vereinigen, natürlich nicht zu einem Staat, was absurd wäre, sondern zu einem System ohne lästige Barrieren, mit gemeinsamen Grundprinzipien und bedingungsloser Achtung von nationaler Souveränität, Kultur, Sprache und Traditionen. Eine solche Strategie ebnet den Weg sowohl zum wirtschaftlichen Wohlstand als auch zur Stabilität. Sie schließt die Wahrscheinlichkeit von irgendwelchen gefährlichen Konflikten in der Zukunft aus. Es muss zur Aufgabe werden, eine neue Architektonik für ein ausgedehntes vereinigtes Europas zu entwerfen und neue Mechanismen zur Verbreitung der europäischen Zivilisation nach Eurasien zu schaffen. Das ist lebenswichtig nicht nur für die weitere Entwicklung der Europäischen Union unter dem Aspekt ihrer räumlichen Vergrößerung, sondern auch, um ihre Grundlagen und Grundprinzipien zu verfestigen und zu vertiefen, um ihre historische Mission auszuführen. Die Absage an eine weitere Entwicklungsstrategie, der Versuch sich in der heutigen Form zu verpuppen und zu verschließen, würden Stagnation und Schwächung, Verstärkung des Nationalismus und einen gefahrlichen Zuwachs an bürokratischer Politik bedeuten.

Grigori Jawlinski: Europa und Russland — Eine Strategie für Europa 293

Es ist verständlich, dass eine vollwertige Integration Russlands in den europäischen Raum ein Prozess ist, der sich völlig vom Beitritt zur Europäischen Union eines Landes wie zum Beispiel Sloweniens, unterscheidet. Die Lösung dieser Aufgabe erfordert, den Rahmen der heutigen Beziehungen zwischen der EU und meinem Land zu verlassen. Darin muss die neue Strategie Europas fiir die nächsten 25—30 Jahre bestehen. Eine langwierige Strategie ist unabdingbar, vor allem für Europa selbst, für seine Zukunft. Eine solche Strategie muss klar formuliert und Russland und der ganzen Welt vorgeschlagen werden. Ohne strategische Zukunftsvision, ohne ihre sorgfaltige Diskussion und die Ausarbeitung von konkreten taktischen Wegen, ist die russisch-europäische Politik zu kurzfristigen, meistens nur auf Papier festgehaltenen Abmachungen und kleinen Auseinandersetzungen verdammt. Und wie kann man eigentlich Russland zum Einhalten von Regeln des Clubs auffordern, ohne es in diesen Club einzuladen, nicht einmal als Option in der fernen Zukunft? Skeptiker möchte ich daran erinnern, dass die Strategie für ein vereintes Europa beinahe sofort nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und praktisch umgesetzt worden ist. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen waren damals, leicht untertrieben gesagt, komplizierter als die heutigen Beziehungen zwischen Russland und Europa. Im alltäglichen Bewusstsein konnte sich damals niemand vorstellen, dass eine solche Strategie innerhalb von 60 Jahren zu einem unbestreitbaren historischen Erfolg führen würde. Noch vor 35 Jahren gab es in der EU nur sechs Mitgliedsstaaten, und heute sind es fünfundzwanzig und schon bald dreißig Mitglieder. Stellte die Kontrolle der stalinistischen UdSSR über die osteuropäischen Länder kein unüberwindliches Hindernis für die Formulierung neuer Strategien für ein einheitliches Europa dar, so ist auch das heutige autoritäre Regime Russlands kein Hindernis für die Formulierung einer seriösen evolutionären Strategie für die weiteren Jahrzehnte. Warum sollte es nicht vorstellbar sein, dass die Europäische Union in fünfzehn Jahren mit einer Bevölkerung von mehr als 600 Millionen Menschen den Beitritt von Russland, der Ukraine und Weißrussland nicht verwehren wird, wenn in diesen Ländern Menschenrechte und Freiheiten geachtet, die Gesetze respektiert und demokratische Verfahren befolgt werden würden? Die Frage stellt sich heute nicht. Der Versuch, diese Frage nicht auf strategischer, sondern auf praktischer Ebene zu stellen, wäre gegenwärtig sinnlos oder gar schädlich. Doch diese Perspektive außer Acht zu lassen, sie nicht anzustreben, Russland zum „anderen, immer von Europa abgegrenzten Pol" zu erklären, ist nicht nur kurzsichtig, sondern, in Anbetracht der heutigen Tendenzen der politischen Entwicklung in Russland, wirklich gefährlich.

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Ungeachtet der Tatsache, dass der Integrationsprozess Russlands sich als sehr kompliziert, widerspruchsvoll und langwierig darstellt, wäre jede Alternative zu ihm äußerst abwegig. Russland ist zu groß und zu wichtig, um mit diesem Land langfristig Pläne auf der Grundlage des unbestimmten Status „weder Freund noch Feind" zu schmieden. Ohne genaue demokratische Orientierung wird sein Regime weiter in einer unklaren und unvorhersagbaren Richtung abdriften. Das gegenseitige Unverständnis wird sich mit der Zeit immer mehr vertiefen, die Entfremdung wird wachsen, was unvermeintlich zu neuen Konflikten, auch in den sachlichen Beziehungen, führen wird. Die Kommentare von russischer Seite zum Platzen des Geschäfts zwischen „Severstal" und „Arcelor" erscheinen da als sehr bezeichnend: Es sind keine Vertreter von „Severstal", sondern die der russischen Regierung, die nun von „doppelten Standards" sprechen - also den Begriff benutzen, der sonst häufig von den Europäern in Bezug auf Russland verwendet wird. Uber den sachlichen Beziehungen wird immer wieder die Gefahr schweben, die Wirtschaft zu politischen Zwecken zu missbrauchen, was vollkommen in den Rahmen der russischen Auslegung von „Realpolitik" hineinpasst. Die ständigen Konflikte und gegensätzlichen Einschätzungen werden in der nahen Zukunft im postsowjetischen Raum Ereignisse hervorrufen, bei deren Auswertungen die russische Elite auf der einen und die europäischen Politiker auf der anderen Seite von diametral gegenseitigen Positionen ausgehen. Hierbei ist besonders zu beachten, dass der Unterschied in der Sichtweise nicht oberflächlich, sondern weltanschaulich ist: Die russische Seite hält faire Wahlen und Gewaltenteilung für eine reale Bedrohung der eigenen nationalen Sicherheit, und nicht die kulissenartigen eigenen demokratischen Institutionen. Schließlich können weder Russland noch Europa mit einem richtigen wirtschaftlichen Durchbruch rechnen, solange auf der russisch-europäischen Tagesordnung nur das Gasgeschäft steht wird und nicht die vollwertige Integration Russlands mit seinem territorialen und Humanpotential sowie seinen natürlichen Ressourcen. Die Aufgaben Russlands Heutzutage glauben nur sehr wenige Menschen in unserem Land und außerhalb daran, dass eine vollwertige europäische Integration Russlands vom Prinzip her möglich wäre. Putin schlägt Europa eine kommerzielle Basis der Beziehungen vor: Es werden Gas gegen hochwertige Technologien, Zugang zu Rohstofflagerstätten gegen Anteile an Rohrleitungen, ein Platz im Aufsichtsrat gegen öffentliche Unterstützung usw. getauscht.

Grigori Jawlinski: Europa und Russland - Eine Strategie für Europa 295

Ein Teil der westlichen Partner Russlands hat diese Spielregeln akzeptiert. Sie gehen davon aus, dass es in Russland nicht mehr zu holen gibt, dass alle früher vorhandenen Chancen für den Aufbau einer realen Demokratie verpasst wurden. Deshalb soll man sich damit zufrieden geben, was da ist. Aus diesem Blickwinkel erscheint das Bild Russlands als NATO- oder EU-Mitglied als unrealistisch, gar furchteinflößend, besonders unter Berücksichtigung des heutigen politischen Kurses des Landes. Eine solche Position widerspiegelt die Verunsicherung der westlichen Politiker angesichts des russischen Autoritarismus und macht das Fehlen von realen Instrumenten, mit denen sie auf die Situation Einfluss nehmen könnten, in ihrer Vorstellungskraft deutlich. Das Kalkül Putins, die Rückständigkeit des Landes durch das Tauschgeschäft russische Naturschätze gegen moderne europäische Technologie aufzubrechen, ist aber unrealistisch. Europa wird keinem seinem Wesen fremden Staat den Zugang zu seinen fortschrittlichen Technologien und der gesamten Wirtschaft öffnen, die Technologien alleine würden Russland auch nicht unbedingt zum Durchbruch verhelfen. Auf der Expertenebene gibt es auch diejenigen, die meinen, dass Russland zum organischen Teil der westlichen Welt werden kann und werden muss, dass die vollwertige Integration Russlands nicht nur den besten, sondern auch den einzigen strategisch perspektivreichen Entwicklungsweg für beide Seiten darstellt. Insbesondere auf dieser Ansicht basiert der vor kurzem veröffentlichte Russlandbericht der Trilateralen Kommission. Darin wird darüber gesprochen, Russland als Teil Europas zu empfinden — und nicht als fremdes Territorium, das nur wegen seiner Bodenschätze, die man nutzen solle, und wegen seiner Gefährlichkeit, der man vorbeugen müsse, von Interesse wäre. Doch wenn in dem Bericht die Rede davon ist, was unternommen werden muss, damit Russland zum vollwertigen Teil Europas wird, sprengt er in der Regel nicht den Rahmen der heutigen Situation. Die ehemaligen Politiker und Diplomaten, die Mitglieder der Trilateralen Kommission sind, schlagen vor, zu warten und darauf zu vertrauen, dass bereits existierende Kontakte zwischen Europa und Russland, Europäern und Russen (Reisen, Medienlandschaft, Bildung) sich positiv auf die Situation in unserem Land auswirken werden. Sie sprechen sich für vorsichtige, aber nachdrückliche Uberzeugungsgespräche seitens der Kollegen innerhalb der G 8 aus, die möglicherweise den russischen Präsidenten dazu bewegen könnten (wenn nicht in Sankt Petersburg, dann beim nächsten Treffen), die Notwendigkeit der Rückkehr zur realen Demokratie einzusehen.

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Auf die langsame Europäisierung Russlands zu setzen, ist nicht sehr erfolgversprechend. Unter den Bedingungen der modernen Welt reicht die Zeit nicht dafür aus, auf die allmählichen Veränderungen zu hoffen, die durch unbestimmte, amorphe Fristsetzungen herausgezögert werden. Wenn ganz Russland (und nicht nur einzelne Menschen oder Gruppen dort) nicht damit beginnt, sich in die erforderliche Richtung zu bewegen, werden die Aussichten, das Niveau Europas und des Westens in ökonomischer Hinsicht und im Ganzen zu erreichen, verloren gehen. Russland wird von der „anderen", nicht europäischen Welt angezogen werden. Und das wird für Russland den Anfang vom schnellen Ende bedeuten. Die vollwertige europäische Integration Russlands kann nur als Ergebnis einer bewussten, aufeinander zu gerichteten Bewegung erreicht werden, was auf beiden Seiten eine Strategie für diesen Prozess voraussetzt. Gerade die Orientierung Europas auf eine volle Integration Russlands kann und muss zur Basis für eine langfristige russische Strategie werden. Zur Hauptaufgabe auf diesem Weg wird eine klare kulturell-historische Selbstidentifikation Russlands. Es ist notwendig, endgültig folgende Fragen zu beantworten: Zu welcher Zivilisation gehören wir? Wie ist unsere Beziehung zum über 70 Jahre lang herrschenden Kommunismus und noch mehr zur in unserer Geschichte verwurzelten Großmacht-Idee? Wie sehen wir unsere Zukunft? Die einheimische politische Elite verweigert die Antworten auf diese Fragen, versucht eine ideologisch-politische Kollage zu erschaffen, legt die Bilder vom idealisierten zaristischen Russland, „das wir verloren haben", die „Ordnung" des stalinschen totalitären Imperiums und die „Stabilität" der breschnewschen 70er Jahre aufeinander und möchte das Ganze mit dem Wunsch vereinbaren, in den europäischen Kurorten ihren Urlaub zu verbringen. Natürlicher wäre für unser Land vielmehr die bewusste Wahl des europäischen demokratischen Weges, die volle europäische Integration. Russland ist kulturell, historisch und mental viel näher an Europa als an irgendetwas anderem sonst. Noch vor ein paar Jahren stellte sich die Frage nicht, ob Russland die europäische Wahl treffen soll, das erschien als selbstverständlich. Übersetzt aus dem Russischen von Yulia Cichon

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Fighting for 4 Freedoms Siim Kallas* Otto Count Lambsdorff has always been a beacon of liberalism, both in Germany and in Europe. He personifies a liberal politician who defends his views with tenacity and resolve. He always stood firm in the eye of the storm. Otto Count Lambsdorff is not the kind of person who concedes to plans and ideas which seem appealing in the short-term but prove counterproductive in the long-term. The current crisis of the German welfare state stems from overregulation of markets and from lack of entrepreneurial freedom. Corporatist interests prevail over public interests; small closeknit circles determine the fate of complete economic sectors and companies at the expense of their capacity to cope with the effects of global competition. Otto Count Lambsdorff always had the courage to sail close to the wind in defending liberalism because he knows — through personal experience of his generation — that entrepreneurial freedom provides the basis for political liberties. Free markets produce democracies. Freedom is also the guiding principle of European integration, but unfortunately it is eroding. In 2004 the European Union enlarged from 15 to 25 members. During enlargement we often discussed the opportunity of exporting European values, like democracy, freedom and the market economy. These are values which generate civil liberties and economic prosperity. Enlargement is also about the export of these values which are cornerstones of European civilisation. These values are enshrined in the European Treaties and made operational through the four freedoms: the free movement of goods, services, people and capital. The export of these 4 freedoms turns the European Union into the most liberal project ever. But what is the content of these values if you look at the receiving end of the process; if you look at the importer, for example, the new member states? What is the quality of the widely praised imported product today? Unfortunately there are pressures and forces which tend to undermine all four freedoms. Red tape hinders the free movement of workers, the Internal European capital market is not yet implemented and the directive to establish free movement of services has been watered down beyond recognition. During the campaign on the European Constitution, one very important leader of Europe pointed out that liberalism is a threat. He said that in the future liberalism will become a danger as once communism was. Needless to

* Dr. Siim Kailas ist Vizepräsident der Europäischen Kommission sowie Kommissar für Verwaltung, Audit und Betrugsbekämpfung.

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say, this leader does not know what liberalism is and never experienced communism sufficiendy to understand what it meant. The core of liberalism is freedom; the core of communism is full state control. Some people say that Europe needs a new vision, a new ideal. I agree. There is need to give European integration a sense of direction. That ideal is freedom. That is why we have to fight for the 4 freedoms. However, we do not have to invent the wheel. We have to make clear what freedom stands for. The population of France and The Netherlands rejected the European Constitution. Why did they do that? Perhaps they rejected the Constitution out of fear. They regarded 'Brussels' as a bureaucratic monster rather than the protector of the four freedoms. They equalled 'Brussels' to danger; not to new opportunities on a European scale. The erosion of freedom is not like a highly visible total onslaught, it is rather the work of creeping poison. Freedoms are not abolished overnight; they are sliced off gradually. That is why we often fail to notice. Freedom is undermined by fundamentalists and by economic protection. Fundamentalists try to achieve their goals by spreading fear. They carry out attacks in order to frighten the whole population. And in some cases, like the terrorist attacks in Madrid and London, they are successful in promoting their strategy of fear. Terrorism puts European democracies under pressure. On the one hand we have to limit the free movement of persons or some civil liberties to increase security, but on the other hand we have to be sure that we do not touch upon fundamental freedoms of our citizens. The terrorists want us to push too far and abolish freedoms altogether so they can declare the superiority of their views. Liberals are the first to identify that trap. We have to prevent societies falling into it. Liberals have instinctive reflexes against attempts to impose authoritarian rule and against the limitation of fundamental freedoms. Therefore we have to make sure that more security for our societies will create more liberty for our citizens. European integration is also endangered by economic protectionism which is quickly spreading throughout Europe. Look at the directive to establish free movement of services which the Commission proposed in 2004. It started as the Services Directive, then became the Bolkestein Directive, and is meanwhile re-named by its opponents as the Frankenstein Directive. Free movement of services is one of the pillars of the European Treaties, but apparendy some people just heard about it for the first time. Europe needs more growth for more employment. We are talking a lot about the 'social model of Europe' and the need to provide solidarity. Nobody is against that principle. On the contrary, liberals support social development in Europe because it is at the heart of a sound and living democracy. But Europe has to earn the means to sustain the social model. Nobody will bring prosperity to us on a golden plate, we have to work for it ourselves. The services sector is the biggest growing

Siim Kallas: Fighting for 4 Freedoms 299

part of our economy. It caters for innovation, employment, growth and exports. Now the services sector is still split up in 25 compartments protected by bureaucratic proclivity, and therefore deprived from the advantages of European scale. The forces of protectionists want to keep it this way. They want to keep the 'Polish plumber' in Poland in order to safeguard social privileges at home. There is a clear distinction, social solidarity is a leading principle but it must not turn into protectionism of social privileges. Protectionism is genuinely antisocial. It undermines sound, productive employment and goes against consumer interests. Protectionism is the strategy of a narrow minded self-interest. Europe is at the crossroads of economic modernisation and economic conservatism. Liberals are on the side of modernisation. Some 'outdated forces' in the old Europe are on the side of economic conservatism, and therefore on the wrong side of history. Defending our core tasks - the four freedoms - the European Union has to be more selective in what it is doing. Often the European Union is doing too many things at the same time, simply because it is a good cause. The more we try to do, the more we dilute our core tasks and the more we expend our energy. How can we be credible if we neglect the four freedoms? We cannot. Subsidiarity has to be a much greater leading principle. I think this was also one of the messages which came out from the vote on the European Constitution in France and The Netherlands. People feared that Europe was infringing upon their identity by regulating all sorts of details in all sorts of sectors. Now the Commission is looking at all its proposals with a fresh eye and will scrap proposals which are regarded as unnecessary. We regulate too often through detailed proposals in an attempt to harmonise all aspects, whereas 'mutual recognition' is a much better principle to arrive at a level playing field. We should deregulate rules which are not needed. We have to ensure that citizens and businesses do not get stuck in rules and regulations. We have to deregulate to achieve greater freedom. The Commission appeals for good advice on the regulatory machinery. Citizens did not reject the European Constitution because they are against Europe. No, they fear a Europe which is too big and not transparent. They want to be assured that they can be whoever they want to be in Europe. And they also want to know what is going on. They demand an accountable and transparent Europe. That is why we have launched the 'European Transparency Initiative' which aims at increasing transparency throughout the European institutions. Citizens have a right to know what Europe does with taxpayer's money. That is why I want to strengthen transparency in the field of end beneficiaries of European subsidies. Who gets money from the Common Agricultural Policy or the Structural Funds? Now, nobody has a general overview. In the field of shared management in Common Agricultural Policy, Member States did not disclose information on the amounts received by

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beneficiaries until recently. Thanks to the European Transparency Initiative they changed and start disclosing the data of end beneficiaries. People have a right to know where their money goes. We also propose to improve 'common ethical standards' in the European Institutions. Now there is a variety of rules and codes of conduct but the standards differ widely. We can only increase credibility of European Institutions when citizens are assured that Europe is subject to high ethical standards. We also want to have a closer look at the activities of lobbyists and NGOs. At the moment the picture is very unclear because there are various voluntary registers. The activities of lobbies and NGOs should be more transparent and more visible so that we all know who is doing what. We have to defend the four freedoms more than ever. They are under threat. We have to take action because the four freedoms are not only the four guiding principles of the European treaties, they are the four cornerstones of European civilisation. The four freedoms are undermined by four dangers: protectionism, terrorism, overregulation and lack of transparency. In the field of each danger we have to have a good, lasting reply. We have nothing to fear, but the fear to lose the four freedoms. The erosion of the four freedoms will lead to economic decay, unemployment, authoritarian rule, state control and secret government. There is great fear that the EU creates paralysis by creating conflict and blockage. We stand firm to prevent this from happening.

Annemie Neyts-Uyttebroeck: Europe and the European Union 301

Europe and the European Union Annemie Neyts-Uyttebroeck* Otto Count Lambsdorff belongs in the gallery of the Great Europeans. Stemming from a noble Baltic family, he paid a heavy personal toll to the horrors of the Second World War. He has greatly contributed to the renaissance of Germany and has helped her regain her rightful place in the concert of the nations both on the European scene and on the world stage. As all truly great people, he is modest to a fault about his own achievements and endeavors. Count Lambsdorff is a man of few words. He has understood better than most people that words are weapons in foreign policy and that they should be used sparingly for that very reason. Better than most, he has also understood that foreign policy is not about grand stands and lofty declarations, but about results. He has always acted accordingly, in public and in private spheres, in Government and in non governmental organisations like Liberal International and the Friedrich Naumann Foundation. To him however, caution is not another word for petty mindedness or, heavens forbid, for cowardice. He fully appreciates the importance of China, but that has not prevented him from making it very clear that he deeply disapproves of the way China treats Tibet, and to make it known, fully aware of the possible consequences. My one single chagrin about Otto Count Lambsdorff is that he has never shared my enthusiasm for the European Union. He accepts her critically, but the Union seems to have always failed to evoke in him anything other than distant acceptance. Only he holds the answer, but I have come to suspect that he has understood much sooner than I did that the Union should not be confused with Europe. Allow me to explain this. While Europe is a cultural, historic and geographic given, the European Union is a political construction. I still believe that the construction of the European Union is a unique achievement in human history. Never before indeed have twenty seven nations, inhabited by

* Die belgische Politikerin Annemie Neyts-Uyttebroeck MdEP ist Präsidentin der European Liberal, Democrat and Reform Party (ELDR).

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490 millions of people peacefully and voluntarily undertaken to build a new sovereignty in which they all participate. What is even more interesting, this new sovereignty does not replace the individual national sovereignties, it complements them. But it is a political construction, and I have come to see that political constructions should not pretend to be loved. Now this is precisely what the EU authorities have been doing: clamouring to be loved and appreciated and moaning when love wasn't forthcoming. Obviously, the European Union could not exist if Europe didn't exist. But just as obviously, Europe as a cultural, historic and geographic given existed long before the EU was founded, and will to all probability continue to exist after the eventual floundering of the EU. The distinction I am trying to establish may seem far fetched and Byzantine, but that is not so. Most European countries have a historic and cultural identity that is much older, and often much stronger than their present day political make up. Their political leaders, just like the EU-leaders, try to make the most of this state of affairs, and identify themselves with the entire cultural and historic legacy of the nation they are currendy leading. They do so because it enhances their standing and status. The exercise is not too difficult when the political structure they are leading neatly coincides with the cultural country. The French Republic for instance coincides almost seamlessly with „la France". Therefore presidents of the French Republic can easily speak on behalf of „la France", without running the risk of being contradicted. But that is not always the case. European history has seen to it that only a few nations can claim a similar coincidence of their political and cultural make up. Smart and prudent political leaders are keenly aware of such distinctions and handle them with great care, delicately balancing the political and cultural circumstances of the countries they are leading. This tacit distinction between the political make up of a country and its nationhood explains why most diplomacies carefully distinguish between the recognition of a nation and the recognition of its political regime. The general public is just as able to make this distinction, as is reflected in often heard sayings like „1 love the Americans, or Britons, or Spaniards, but I don't like their present Prime Minister or Administration." As the public confidence in the EU declined, EU bodies and authorities have increasingly identified themselves with Europe, loudly proclaiming to be the special

Annemie Neyts-Uyttebroeck: Europe and the European Union 303

guardians of her values, and implying that those who don't share their views somehow aren't „good" Europeans. Such claims are preposterous. To begin with, modesty would be more becoming to citizens of a continent that has twice plunged the entire world in horrendous conflict, and that has only painfully disentangled itself from its colonial past. Secondly and more basically, the Union cannot and should not claim to be the sole guardian of European values. Such a claim is not only preposterous, it is also self defeating. With just one percent of the GDP of all member states to spend, the EU can never really compete with the member states that spend on average 35 to 45 % of their respective GDP's. Nor can she by herself compensate the policy shortcomings of the member states. In spite of that, EU authorities continue to proclaim their ambition to turn the EU into the first knowledge society of the universe by 2010. To achieve this, all member states should have fully engaged into this undertaking, which they haven't done. Worse, they don't hesitate to lay their own shortcomings at the doorstep of the EU, blaming her for their own dithering. This example demonstrates that the relationship between the EU and the member states is probably as problematic as the relationship between the EU and Europe. It seems to me that this relationship has become too competitive, with the EU claiming the European high ground, implying a sort of political if not moral superiority over the member states. The EU is not identical with the sum of the member states. She does not, she cannot and she should not replace them, if only because that has never been the intention of the founding fathers, because it still is not the intention of the member states, and because the immense majority of citizens don't want to see their states disappear. Complementarity, not substitution should be the EU's guideline. The more the Commission for instance pretends to speak on behalf of all Europeans, the more the Commission has engaged in public chastising of the member states and their governments, the more the latter have disengaged themselves from the common undertaking; the less they have been willing to acknowledge what they owe to this common undertaking, and the less they are willing to publicly acknowledge the part they are playing in EU decision making. The consequences are disastrous. As EU heads of state and prime ministers are less and less willing to acknowledge that they are participating in every single EU decision, their peoples and voters have come to believe that EU decision making is an arcane, mysterious and secret affair, which threatens their very national substance and identity.

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No treaty has been negotiated in as open a manner as the Constitutional Treaty. Its opponents have nevertheless had a field day pretending that it had been concocted in utter secrecy and that it would deprive the citizens of the member states of the possibility to define their futures. Just as disquieting is the fact that precious few of the heads of state and prime ministers who have negotiated the treaty seem willing to defend it. What then is to be done? For a start, it would be nice if everybody got real again. The European Union remains one of the most worthwhile political undertakings in human history. No less, and no more. Because nothing political is irreversible, we must actively continue to preserve it, lest the Union unravels and we are returned to our traditional European ways, were wars have been all too frequent, and that until very recently. To preserve the Union, and allow it to develop, a new compact between the Union and its member states would be very welcome, one which would lay the foundation for a less competitive, a more cooperative relationship, with more mutual recognition than has recently been the case. Europe, our common house of culture, tradition, languages, religions and spirituality, deserves our love and appreciation and the recognition that all has not been well in its history. We might take pride from our currendy prevalent European values, but we should never forget that we learned the hard way, and that humankind in Europe is no better than the rest of humankind. The Spanish republic for instance encompasses the Basque region, and Catalonia, the Canary Islands and the Baleares, all of which are passionately attached to their distinct cultural identities and languages. Less prudent political personalities don't always resist the temptation to play out the disparities between the political configuration in which they operate, and the cultural or linguistic realities in their region. Most Europeans have first hand experience of having multiple identities: a national one, a regional one, a linguistic one, and a spiritual or religious one. It never is entirely simple to juggle them all and to prevent them to clash within our own conscience.

Kristiina Ojuland: Reflections on Europe AD 2006 through the Eyes of an Estonian 305

Reflections on Europe AD 2006 through the Eyes of an Estonian Kristiina Ojuland* Expectations were high when the Treaty constituting the European Coal and Steel Community came into force 50 years ago and the first formal link was created between six states' citizens — never again should there be a war between European states. Undeniably, it was an unprecedented triumph for the generation of that time and citizens had high hopes for the economy to be rebuilt and security to be ensured. The confidence to succeed in a tight economic cooperation was the crucial driving force for the citizens of the time. With similar emotions, 20 years ago we Estonians were on the way back to freedom. We would all sing bravely that we were „proud and happy to be Estonian". The end of the eighties certainly witnessed the peak of Estonians' rediscovering and becoming aware of their national identity. Now we have been a full member of the European Union for two years. We believe in Europe and are „proud and happy to be European". Alas, our long-awaited membership to the club came at the time when the Union itself is lost in self-contemplation. Europe is searching for its identity. A union of 25 states is faced with a serious question - quo vadis Europa? After the Constitutional Treaty was rejected at the referenda in Holland and France international press was inundated with essays, articles and reports proclaiming that Europe is in crisis. While some have attempted to take advantage of the moment and prove that the only way forward is through the formation of "the United States of Europe", others have tried to find answers to questions about the boundaries of Europe, its role in the world and the right social model. Yet the main question is often neglected — who would need all this? Complaints are made that citizens have distanced themselves from politics, particularly at the EU level. We hear people speaking about Europe with confused feelings. What is to be done to turn that attitude to a more optimistic thinking on our future? Primarily, our political leaders in the EU member states should depart first and foremost from people's interests and proceed from the premise that the EU is for the citizens and not the other way round. We should depart from what is good for the citizens and what has a direct impact on their lives.

* Kristiina Ojuland war von 2002 bis 2005 Außenministerin Estlands.

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Jari Viién wrote at the eve of the Finnish presidency that the EU does not need a PR campaign but real action.1 I concur that defining EU's objectives along with its boundaries and its role in the world should only be easier while following this principle. However, we should not forget one important thing that follows us in every single area of life. That is identity. That is the issue of our values, attitudes, culture, language and traditions. The identity of each nation has evolved along its own lines and we cannot neglect this fact. This is why defining a common European identity is a difficult task. Identity applies to our daily political decision-making in each member state. There have been allegations that the current heads of state and government lack the necessary willpower and courage to throw off their habit of seeing Brussels as a battlefield for national interests. Does anybody believe that this can be changed? I do not. I do not believe that any of the EU members can give up their interests that are so intertwined with their identity. We should rather learn to live with that and learn to make political decisions in these circumstances. Allow me to give you a simple example on how different approach Europeans may have in their daily livings. In his speech in January 2006 the French Prime Minister Dominique de Villepin quoted George Steiner according to whom Europeans feel at home in any place where there are cafés.2 That is because cafés have throughout time been cosmopolitan places where people have read newspapers from all over the world, exchanged views and philosophized. This is a very romantic approach to envisioning a European identity, in fact it is a true European approach. However, this romanticism may sound rather odd to the younger generation since internet and web-journals constitute their room for communication. Furthermore, not all Europeans can automatically be portrayed under the café people category. Whereas the French may have the habit of dropping by a corner café and indulging in a croissant and a cup of strong coffee on their way to work, the Estonians rather eat their sausage or cheese sandwich in all tranquillity of home. Surely, many Estonians experience a true cultural shock when coming to terms with the every morning croissant and jam while exploring the Southern European cultural space. The habit of having savoury food for breakfast is immense. Does this imply that we Estonians are less European?

1 Jari Vilen. Soome alustab uue hooga. Postimees (30 June 2006),13 at http://mm.postimees.ee/ 300606! esikbtl arvamus!207626.php 2 Dominique de Villepin. Keynote speech at the conference „The Sound of Europe" in Saltzbourg. (27 January 2006) , at http:/ / ue2006.at/ en/News/ Speeches_Intervien>s/2701villepin.html

Kristiina Ojuland: Reflections on Europe AD 2006 through the Eyes of an Estonian 307

Similar differences can be seen at the table of making Common Foreign and Security Policy. For some the question of Iraq was taken through the eyes of a cafetarian but to others through their kitchen window... Undoubtedly, we all share the common values such as democratic freedoms, respect for human rights and the rule of law principle. Nevertheless, there are cases when we keep our national interests first and the others should understand that. And that should apply regardless of the size of the member state. Why I say all this? Because our national identity defines our daily policy-making in Europe. We Europeans compare ourselves continuously with the USA. We dream of becoming as strong and powerful as they are. But we forget too often that the EU is not a state and should never become one. Therefore, I would call on Europeans to see all the positive that we have. We are strong in the field for what the Community was founded more than half a century ago. We are strong as an economic union. EU is the biggest exporter in the world. We have the largest internal market. Most of the biggest corporations are located in Europe, not elsewhere. We are leaders in the main industrial activities. Most of the largest banks are based in Europe. We are frontrunners in the field of insurance, construction, machinery building, chemistry, food industry, real estate business and retail trade. Our living quality is the best balanced in the world. Still, a lot needs to be done. We should deepen our economic cooperation guaranteeing the functioning of the internal market. We have a long way to go in order to build the pan-European networks of transportation, communication, energy, and electricity. And of course, we should move forward with completing the internal market 20 years after the Single European Act was signed guaranteeing that all four freedoms of the market will be fully implemented. We should not hesitate to become bigger - the enlargement of the EU should continue. Thus, we should not spend our time only philosophizing in cafés. We have to act. We have to concentrate on more tangible things and if there is time, we may dream about political Europe. Robert Schuman and Jean Monnet equally wished for the European Community to transform into a political entity. The aim of moving towards a political union cannot be unplausible in itself. However, in order to achieve it, a clear vision and time is required. Most importandy, it needs to be supported by the citizens. A political Europe cannot and should not be a backroom deal. This European process needs to be utterly fair and transparent in order for a serious move forward to be made.

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Der Euro - eine Zwischenbilanz nach acht Jahren Hans Tietmeyer* In Deutschland und auch weltweit ist Otto Graf Lambsdorff als überzeugender Anwalt für die Marktwirtschaft sowie für eine rationale und zukunftsorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik bekannt. Vor allem in seinen politischen Funktionen als Bundestagsabgeordneter, als Bundesminister für Wirtschaft sowie als Parteivorsitzender hat er sich stets nachdrücklich für die Erhaltung und den Ausbau der Marktwirtschaft sowie für eine nachhaltig funktionsfähige und freiheitliche Gestaltung der Sozialordnung eingesetzt. Besonders bekannt und anerkannt ist auch sein Engagement für eine stabilitätsorientierte Geldordnung und Währungspolitik. Insbesondere die Deutsche Bundesbank konnte sich bei ihrer gelegentlich auch in deutschen politischen Kreisen umstrittenen Geldpolitik sowie der Abwehr von stabilitätsgefährdenden Wechselkursbindungen stets auf seine Unterstützung — auch in der Öffentlichkeit — verlassen. Aus der langen Vorgeschichte des Euro soll hier nur kurz an zwei Vorgänge erinnert werden: die Kontroverse zwischen Bundesregierung und Bundesbank im Jahre 1987 über das Ausmaß der Interventionsverpflichtungen im Europäischen Währungssystem (EWS) sowie die in den 90er Jahren anhaltende öffentliche Diskussion über die vor allem von der Bundesbank geforderte Einhaltung der Qualifikationskriterien des Maastricht-Vertrages für den Eintritt in die Währungsunion. In beiden Fällen hat er durch seine klare und hartnäckige Position wesentlich dazu beigetragen, dass sich letztlich eine stabilitätsgerechte Lösung weitgehend durchgesetzt hat, auch wenn er persönlich sich im April 1998 bei der Abstimmung im Bundestag zunächst noch der Stimme enthalten und die Begründung dafür eigens zu Protokoll gegeben hat. Das im Maastricht-Vertrag festgelegte Regelwerk für das Europäische Zentralbank-System sowie den darin vorgesehenen Übergang zum Euro hat Graf Lambsdorff jedoch stets eindeutig unterstützt. Er war nie ein Gegner, sondern im Gegenteil ein grundsätzlicher Befürworter der Europäischen Währungsunion — allerdings auf solider Grundlage. Und durch sein nachhaltiges öffentliches Eintreten dafür hat er entscheidend zur Schaffung der unerlässlichen Voraussetzungen und damit zum bisherigen Erfolg des Euro beigetragen. Der Euro hat bekanntlich eine lange und sehr wechselvolle Vorgeschichte, deren wichtigste Stationen der Verfasser in seinem Buch Herausforderung Europa (HanserVerlag, München 2005) aufgezeigt und bewertet hat. Deswegen kann und soll hier auf die Darstellung und Analyse der mehr als dreißigjährigen Historie verzichtet

* Dr. Hans Tietmeyer war von von 1993 bis 1999 Präsident der Deutschen Bundesbank.

Hans Tietmeyer: Der Euro — eine Zwischenbilanz nach acht Jahren 309

werden. Währungsunion und Euro sind seit ihrem Beginn 1999 schon nahezu acht Jahre Realität. Nach einer solchen Erprobungszeit dürfte es eher angemessen sein, eine Zwischenbilanz über die bisherigen Ergebnisse und Erfahrungen zu erstellen. Akyeptan^ und Anerkennung des Euro als stabile Währung Entgegen vielen Befürchtungen und Prophezeiungen wurde der Euro schon früh sowohl in Europa als auch weltweit als stabile Währung anerkannt. Das gilt nicht nur für große Teile der nationalen und internationalen Märkte, die den Euro schon seit Anfang 1999 parallel zu den nationalen Währungen nutzen konnten. Auch die Bevölkerung, für die der Euro erst Anfang 2002 mit der Einführung der EuroBanknoten und -Münzen konkret fassbare Realität wurde, hat die neue Währung in allen Teilnehmerländern ohne größeres Zögern akzeptiert und inzwischen auch ihre Stabilität schätzen gelernt. Wohl hat gerade auch in Deutschland die sog. TeuroDiskussion, die sich zunächst insbesondere auf die missbräuchliche Nutzung der Währungsumstellung für übermäßige Preisanhebungen bezog, zeitweise negative Reaktionen in der Bevölkerung ausgelöst. Nähere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass es — neben offenkundigen Missbräuchen vor allem in der Anfangszeit — auch Unterschiede zwischen der vom Kunden „gefühlten" und der „statistisch gemessenen" Inflation gab und teilweise bis heute noch gibt, wobei die „gefühlten" Inflationsraten zumeist die „statistisch erfassbaren" erheblich übersteigen. Diese — vor allem unmittelbar nach dem Noten- und Münzentausch — negativen emotionalen Reaktionen sind jedoch in der deutschen Bevölkerung inzwischen weitgehend abgeklungen. Der Euro wird heute in Deutschland ebenso wie in den anderen Teilnehmerländern von der überwiegenden Mehrheit nicht nur wegen der praktischen Vorteile im grenzüberschreitenden Reiseverkehr sowie im Waren- und Leistungskauf, sondern auch als relativ stabile Währung geschätzt. Gemessen an den statistisch erfassten Werten kann der Euro in den ersten acht Jahren mit Durchschnittswerten von geringfügig über 2 % sogar ein leicht besseres Ergebnis aufweisen als die D-Mark in den drei Dekaden zuvor, in denen die Inflationsrate in Deutschland im Durchschnitt leicht über 3 % lag. Vor allem in den ersten Jahren divergierten allerdings die Inflationsraten zwischen den Teilnehmerländern teilweise recht deutlich. Inzwischen hat sich diese Divergenz zwar verringert, die unterschiedlichen Preisentwicklungen sind jedoch noch immer ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotential für die gemeinsame Geldpolitik. Auch international ist der Euro heute weitgehend als stabile Währung anerkannt, wie die Entwicklung seines Außenwertes deutlich zeigt. Wohl hatte der effektive Wechselkurs des Euro in den ersten Jahren nach seiner Einführung sowohl nominal als auch real zunächst nachgegeben. Seit 2002 ist er jedoch wieder nachhaltig angestie-

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gen und hat inzwischen seinen Anfangskurs - insbesondere auch gegenüber dem Dollar - deutlich überstiegen. Er hat damit auch international die frühere Rolle der D-Mark übernommen und ausgebaut. Der Euro ist heute weltweit eindeutig als zweitgrößte Währung anerkannt und gilt dabei auch als Alternativwährung zum Dollar, eine Rolle, die neben offenkundigen Vorteilen allerdings — bei übersteigerter Bewertung - gelegentlich auch Wettbewerbsprobleme für die Wirtschaft im EuroGebiet bringen kann. Die aus einer Überbewertung entstehenden Probleme sind jedoch im größeren Euro-Gebiet leichter zu ertragen als in den früheren nationalen Währungsgebieten. Klare Stabilitätsorientierung undpolitische Unabhängigkeit der EZB Die Europäische Zentralbank konnte zwar — nicht zuletzt auch wegen der zeitweise extraordinären Preisentwicklungen an den Weltmärkten für Energie und Rohstoffe — ihr eigenes Stabilitätsziel — eine Verbraucherpreisentwicklung von unter 2 % — bisher nicht voll erreichen. Im weltweiten Vergleich lagen die Inflationsraten für die Verbraucherpreise im Euro-Gebiet jedoch bisher stets im unteren Bereich. Und was mindestens ebenso wichtig ist: Auch die Statistiken über die an den Märkten vorherrschenden Inflationserwartungen haben bisher stets insgesamt relativ niedrige Werte ausgewiesen. Trotz der teilweise divergierenden Traditionen der beteiligten nationalen Zentralbanken und auch der problematischen politischen Kontroversen bei der Berufung des ersten Präsidenten im Frühjahr 1998 ist es der EZB offenbar schon relativ früh gelungen, sowohl in den Euro-Ländern selbst als auch weltweit ein hohes Maß an stabilitätspolitischer Anerkennung zu gewinnen. Das zunächst vielfach kritisierte sog. Zwei-Säulen-Konzept (Orientierung an den allgemeinen Wirtschaftsdaten sowie den besonderen monetären Daten) findet inzwischen auch unter den früheren wissenschaftlichen und publizistischen Kritikern mehr Zustimmung. Dabei wird zunehmend auch anerkannt, dass die EZB durch ihre Politik nicht nur zu den bisherigen positiven Stabilitätsergebnissen, sondern vor allem auch zur weitgehenden Verankerung der Stabilitätserwartungen entscheidend beigetragen hat. Die inzwischen aufgebaute Stabilitätsreputation der EZB basiert dabei zugleich auch auf ihrer schon mehrfach bewiesenen Unabhängigkeit von der Politik, insbesondere von Einflüssen seitens der Regierungen und Parlamente. Wohl gab es und gibt es gelegentlich immer wieder Versuche von — insbesondere indirekten — politischen Einflussnahmen. Die bisherigen Amtsinhaber in der EZB haben sich derartigen Versuchen jedoch stets eindeutig widersetzt — ein Ergebnis, das gerade auch in Anbetracht der unterschiedlichen nationalen „Traditionen" für die Reputation der neuen Institution besonders wichtig war und ist.

Hans Tietmeyer: Der Euro - eine Zwischenbilanz nach acht Jahren 311

Positive Handelseffekte und verschärfter Standortwettbewerb Erwartungsgemäß hat der Übergang zum Euro neben dem Wegfall früherer Wechselkursrisiken und Transaktionskosten auch die Kosten- und Preistransparenz zwischen den Mitgliedsländern erheblich verbessert. Sowohl der Waren- als auch der Dienstleistungsverkehr haben davon im gesamten Euro-Gebiet beträchtlich profitiert, wenngleich sich neben den positiven Effekten durch den Wegfall von früher üblichen Abwertungen (z. B. der Lira) in einzelnen Ländern wegen nicht genügend angepasster Kostenentwicklungen partiell auch nachteilige Wirkungen gezeigt haben und noch zeigen. Insgesamt kommen die bisher vorliegenden Schätzungen über die Handel schaffenden Effekte zwar zu quantitativ unterschiedlichen, überwiegend jedoch deutlich positiven Werten. Allein für Deutschland hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2006 einen Handelszuwachs durch die Euro-Einführung von fast 18 % geschätzt. Neben diesen insgesamt zweifellos positiven Handelseffekten darf allerdings andererseits auch der durch die Währungsunion verschärfte Standortwettbewerb nicht unterschätzt werden. So hat z. B. der Übergang zum Euro und zur gemeinsamen Geldpolitik für die deutsche Wirtschaft neben den Handel schaffenden Effekten auch den Wegfall früherer D-Mark-Privilegien gebracht. Nicht nur das Zinsniveau ist heute im gesamten Euro-Gebiet weitgehend gleich; auch sind zur Absicherung von Währungsrisiken spezielle Investitionen in Deutschland nicht mehr notwendig. Die Zins- und Währungsrisiken sind heute nämlich — anders als zuvor — in allen EuroLändern gleich. Diese weitgehende Egalisierung der Zins- und Währungsbedingungen hat anderen Faktoren wie Arbeitskosten, Steuern sowie gesetzlichen Vorschriften und bürokratischem Aufwand bei der Auswahl des Standortes für wirtschaftliche Aktivitäten ein relativ höheres Gewicht gegeben als zuvor. Insbesondere für den Standort Deutschland war und ist dies auch weiterhin eine nicht zu unterschätzende neue politische Herausforderung. Zunehmende, aber unterschiedlich intensive Integration der Finan^märkte Insbesondere der Anfang 1999 erfolgte Übergang zu einer gemeinsamen Geldpolitik sowie die Einführung des gemeinschaftlichen Zahlungsverkehrssystems („Target") haben die europäischen Finanzmärkte in wichtigen Segmenten schon früh breiter und liquider gemacht. Vor allem die Geld- und Rentenmärkte sind dabei zunehmend zusammengewachsen. So liegt die Standardabweichung an den Geldmärkten im Euro-Länder-Vergleich heute bei etwa einem Basispunkt, während sie vor der Währungsunion nahezu 100 Basispunkte ausmachte. Eine deutlich integrative Wirkung zeigt sich auch an den Anleihemärkten. Vor allem Staatsanleihen, aber zunehmend

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auch Unternehmensanleihen haben sich im Euro-Gebiet in ihren Renditen weitgehend angenähert. Deutlich schwächer ist dieser Prozess bisher allerdings an den Aktienmärkten im Euro-Bereich zu spüren, wo offenkundig noch immer Heimatlandpräferenzen eine wichtige Rolle spielen. Erstaunlich langsam hat sich der Integrationsprozess bisher jedoch im Bankenbereich selbst vollzogen. Wohl haben die grenzüberschreitenden Käufe und Verkäufe von Anleihen und Sicherheiten der Finanzinstitute im Euro-Bereich untereinander generell von 16 % (1997) auf nunmehr über 40 % zugenommen. Vor allem im Privatkunden- und Mengengeschäft der Banken ist der Integrationsprozess jedoch bisher noch relativ wenig fortgeschritten. Die Konsolidierung im Bankensektor vollzog sich bis heute vor allem auf den Heimatmärkten oder durch Ausweitung von Beteiligungen und Kooperationen außerhalb des Euro-Gebietes. Im Euro-Gebiet selbst besteht hier ganz offensichtlich noch ein deutlicher Nachholbedarf, der neben einem Abbau von nationalen Präferenzen vor allem auch offenere nationale Strukturen sowie eine größere internationale Offenheit einzelner nationaler Aufsichtsbehörden voraussetzen dürfte. Offenkundige Harmonisierungsdefizite bestehen wohl auch noch bei vielen nationalen Rechtsvorschriften und ihrer Anwendung. Die EZB hat jüngst in einen Bericht zu Recht erhebliche Defizite bei der Integration des Bankensektors in der Euro-Zone festgestellt und ihn als noch zu „fragmentiert" bezeichnet. Offenkundige Mängel in der Fiskaldis^plin der Mitgliedstaaten Zu Recht sind die bereits im Maastricht-Vertrag enthaltenen Grundregeln für die Einhaltung der Fiskaldisziplin insbesondere durch die an der Endstufe der Währungsunion beteiligten Mitgliedstaaten 1997 durch den sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzt und konkretisiert worden. Schon ein Blick in die Historie zeigt, dass selbst nationale Währungen meist am stärksten durch Mängel in der Fiskaldisziplin der jeweiligen Staaten gefährdet worden sind. Dieses Risiko ist heute noch deutlich größer, weil die Anteile des Fiskus am Sozialprodukt heute überall viel größer sind als früher. In einer Währungsunion mit ansonsten weitgehender Beibehaltung der nationalen Souveränität sind die hier liegenden Risiken besonders deswegen groß, weil sich die negativen Konsequenzen eines fiskalischen Fehlverhaltens einzelner Staaten nicht mehr — wie im Falle der nationalen Währung - in einer entsprechenden Zins- und Wechselkursentwicklung der eigenen Währung niederschlagen. Etwaige negative Effekte im Zins- und Wechselkursbereich betreffen in einer solchen Währungsunion letztlich alle beteiligten Länder und Volkswirtschaften, weswegen hier auch ein gefährliches Moral-Hazard-Problem entstehen kann. Die deswegen vor dem endgültigen Eintritt in die Währungsunion von allen Teilnehmerländern übernommenen gemeinsamen Regeln für die nationale Fiskaldiszi-

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plin sind jedoch bisher von einer Reihe von Mitgliedsländern - nicht zuletzt auch von Deutschland selbst — nur teilweise und unvollständig eingehalten worden. Die schon früh von Graf Lambsdorff diesbezüglich geäußerte Sorge hat sich leider als begründet erwiesen. Entgegen dem ursprünglich vereinbarten Regelwerk sowie abweichend von den oft wiederholten Korrekturversprechen kam es bisher zu einer Reihe von schwerwiegenden Verstößen, die inzwischen — neben einer Verbesserung einzelner Verfahrensvorschriften — auch zu einer gewissen Aufweichung der ursprünglichen Regeln des ursprünglichen Paktes und insbesondere der Sanktionsverfahren geführt haben. Wohl haben sich die kurzfristigen Aussichten für eine Einhaltung der zentralen Defizitbegrenzungsregel durch das größte Teilnehmerland Deutschland und einige andere Mitgliedsländer inzwischen verbessert. Doch gibt es bisher noch keine hinreichende Sicherheit dafür, dass die Verpflichtung zur nachhaltigen Fiskaldisziplin künftig tatsächlich von allen beteiligten Ländern angemessen realisiert werden wird. Kommt es jedoch in den nächsten Jahren — und zwar insbesondere in den größeren Teilnehmerländern — nicht tatsächlich zu einer wirklich nachhaltigen Korrektur der öffentlichen Finanzen, könnte sich an dieser Stelle ein erhebliches Gefährdungspotential für die weitere Stabilität des Euro und den weiteren internen Zusammenhalt der Währungsunion aufbauen. Eine nicht genügende Rückführung der größtenteils strukturell bedingten und damit auf weitere Eskalation angelegten öffentlichen Budgetdefizite könnte sowohl den nachhaltigen Wachstumsprozess der betroffenen Länder gefährden als auch erhebliche Konflikte mit der Geldpolitik der EZB auslösen. Gelegentlich deuten schon jetzt verbale Attacken aus Kreisen der nationalen Politiken auf das sich hier aufbauende Konflikt- und Risikopotential hin. Aufdeckung und Verschärfung von Wettbewerbs- und Strukturproblemen Hinter den nicht zu unterschätzenden ßskalischen Konfliktpotentialen verbergen sich in den meisten Euro-Ländern auch erhebliche, in den letzten Jahren zunehmend deutlicher und schärfer gewordene, bisher jedoch noch nicht hinreichend angegangene Wettbewerbs- und Strukturprobleme. Insbesondere der technologische Fortschritt, die fortschreitende Globalisierung, die Öffnung der Ostgrenzen sowie der Wegfall früherer Währungsgrenzen im Euro-Gebiet haben viele, z. T. schon seit längerem in den betroffenen Ländern aufgelaufene, Wettbewerbsschwächen offen gelegt und vergrößert. Infolge der Verzögerung von hinreichenden und zukunftsorientierten Reformschritten sind inzwischen insbesondere mehrere größere EuroLänder in nicht unerhebliche Wachstums- und Beschäftigungsprobleme mit entsprechenden Folgen für die Finanzierung ihrer Sozialsysteme hineingeraten. Die weltweite Wachstumsdynamik der letzten Jahre hat sich im Euro-Gebiet zwar in einem steigenden Außenhandel niedergeschlagen. Die Multiplikatoreffekte für die binnen-

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wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Gebiet selbst waren jedoch längere Zeit relativ begrenzt. Erst in jüngster Zeit ist auch ein stärkeres Wachstum im gesamten EuroGebiet selbst zu beobachten. Diese lange verzögerte konjunkturelle Belebung darf jedoch nicht über die noch immer nicht hinreichend gelösten Strukturprobleme im Euro-Gebiet hinwegtäuschen. Insbesondere in den großen kontinental-europäischen Ländern sind noch erhebliche strukturpolitische Anstrengungen notwendig, um die öffentlichen Haushalte nachhaltig zu sanieren sowie die Steuersysteme wettbewerbsfähiger, die Sozialsysteme leistungsfähiger und die Arbeitsmärkte flexibler zu machen. Ohne überzeugende Fortschritte könnten die wirtschaftlichen und politischen Spannungen innerhalb des Euro-Raumes und auch im Außenverhältnis in den nächsten Jahren noch erheblich wachsen. Dabei könnte gerade auch die in den letzten Jahren teilweise recht unterschiedliche Entwicklung der Arbeitskosten eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Während sich z. B. in Deutschland die Lohnkosten zuletzt eher verringert haben, sind sie zur gleichen Zeit in Spanien und Italien deutlich weiter gestiegen. Anders als vor der Währungsunion können jetzt jedoch nachhaltige Divergenzen in der Kostenentwicklung nicht mehr wie früher untereinander durch Ab- und Aufwertungen der nationalen Währungen kompensiert werden. Sie müssen vielmehr durch nachhaltige Reformpolitiken und Korrekturen in den betroffenen Ländern selbst überwunden werden. Zwischenbilanz mitpositiven Ergebnissen und wichtigen Herausforderungen Diese kurze Zwischenbilanz nach acht Jahren Wirtschafts- und Währungsunion fallt zwar überwiegend positiv aus. Der Euro ist heute eine stabile und weltweit anerkannte Währung, und die EZB gilt als eindeutig stabilitätsorientierte und politisch unabhängige Zentralbank. Die bisherigen Handelseffekte sind insgesamt positiv; und die Integration der Finanzmärkte hat teilweise bereits große Fortschritte gemacht. Zugleich sind jedoch im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie im Verhalten der Tarifpartner nach Eintritt in die Währungsunion auch nicht unerhebliche und sogar noch wachsende Spannungen zwischen den Mitgliedsländern entstanden. Vor allem haben sich in wachsendem Maße erhebliche strukturelle Defizite bei der Fiskaldisziplin der öffentlichen Haushalte sowie der gerade in einer Währungsunion besonders erforderlichen Flexibilität der Arbeitsmärkte gezeigt. Die insbesondere im Vorfeld des Eintrittes in die dritte Stufe vielfach beschworene Katalysator-Funktion der Währungsunion in Richtung einer Weiterentwicklung der Wirtschaftsunion zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit hinreichend koordinierten nationalen Politiken und zu einer effizienteren politisch-institutionellen Struktur der EU hat bisher jedoch noch keine überzeugenden und weiterführenden

Hans Tietmeyer: Der Euro - eine Zwischenbilanz nach acht Jahren 3 1 5

Erfolge ausgelöst. Die EU-Kommission ist zwar offenkundig bemüht, die nationalen Märkte weiter zu öffnen und die nationalen Politiken — unter Beachtung des Prinzips der Subsidiarität - möglichst weitgehend zu koordinieren. Die dabei oft nur mühsam erreichten Kompromisse haben sich jedoch nicht selten als nur verbal und an der Alltagsrealität vorbeigehend erwiesen. Insbesondere die bisherigen Misserfolge der sog. Lissabon-Agenda 2000 sind dafür ein deutliches Beispiel. So richtig die Wachstums- und modernisierungspolitische Grundorientierung dieser Agenda war und ist, ihre konkreten Ziele und Forderungen gingen bisher weitgehend an der politischen Realität der meisten Mitgliedstaaten vorbei. Hier hat sich erneut gezeigt: Großartige gemeinsame Erklärungen bewirken allein ebenso wenig eine neue Wachstums- und Beschäftigungsdynamik in der EU wie die oft sehr umfangreichen und detaillierten Richtlinientexte der Fachministerräte. Notwendig ist vor allem eine nachhaltige Orientierung der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitiken hin auf mehr Freiraum für Wachstum und Beschäftigung. Gemeinschaftliche Kompromissformulierungen in Form von mehr Kommuniques, Richtlinien und Vorschriften helfen da im Regelfall kaum weiter. Im Gegenteil: In vielen Bereichen hilft nachhaltig nur ein effizienter Wettbewerb der nationalen Politiken. Ein regelmäßiges öffentliches Ranking anhand von objektiv erfassten Daten könnte dabei in bestimmten Politikbereichen durchaus nützlich sein. Darüber hinaus sind aber auch neue Bemühungen um eine sinnvolle politischinstitutionelle Weiterentwicklung auf Gemeinschaftsebene notwendig. Eine einfache Neueinbringung des in Frankreich und den Niederlanden abgelehnten sog. Verfassungsvertrages in verkürzter Form und unter einem anderen Titel dürfte dabei allein jedoch kaum ausreichen. So nützlich und notwendig die meisten der dort vorgesehenen Verbesserungen auch sein können: Sie werden in ihrer bisherigen Form weder die politisch-institutionelle Struktur der gesamten EU hinreichend verbessern noch für die Überwindung der Defizite bei der Realisierung angemessener nationaler Politiken im Euro-Raum besonders hilfreich sein. Die EU hat inzwischen eine so weit reichende regionale Größe und eine so große Vielfalt der nationalstaatlichen Prioritäten, dass das bekannte Monnet-Prinzip der Orientierung am Ziel der immer fortschreitenden Integration immer dringlicher auch eine Konkretisierung der gemeinsamen Zielvorstellungen und letztlich der vertraglichen Vereinbarungen und Strukturen erfordert. Schon seit einiger Zeit gehen die Zielvorstellungen zwischen den Mitgliedsländern über den weiteren gemeinsamen Weg und die dafür notwendigen Strukturen erkennbar auseinander. Ohne eine weiterreichende und zugleich weiterführende Klärung der Integrationsziele und -strukturen könnte — insbesondere bei einer immer weiter fortschreitenden Erweiterung der Mitgliedschaft — das bisherige Einigungswerk durch die unterschiedlichen Zielvorstellungen der Mitgliedstaaten zunehmend in Schwierigkeiten geraten und

316 Außen- und Europapolitik

zugleich jede Weiterentwicklung gefährden. Vor einer weitergehenden Klärung über die gemeinsamen Ziele und die dafür notwendigen Strukturen sollte man deswegen mit weiteren Mitgliedschaften sowohl der EU als auch der WWU vorsichtig sein. Das gilt natürlich insbesondere für die Erweiterung der EU insgesamt, aber auch für die Vergrößerung der Mitgliedschaft in der WWU. Eine weitere Aufnahme der bisherigen EU-Staaten in die WWU ist dabei nur so lange relativ unproblematisch, wie diese Länder tatsächlich die erforderlichen Eintrittskriterien ohne Abstriche erfüllen und eine zugleich hinreichende Garantie für die künftige Einhaltung aller geltenden Regeln bieten. Im Zweifelsfall sollte deshalb das Prinzip Vorsicht gelten. Zugleich müssen die bisherigen WWU-Länder aber auch selbst mehr als bisher dafür Gewähr bieten, dass sowohl die bereits erkennbaren als auch die z. T. noch verdeckten Spannungen im bisherigen Euro-Gebiet nachhaltig reduziert werden und das vereinbarte Regelwerk tatsächlich auch vollständig angewandt wird. Diese Zwischenbilanz nach acht Jahren macht deutlich: Bei allen erreichten Fortschritten bleibt für den nachhaltigen Erfolg des Euro sowohl in einer Reihe von bisherigen und künftigen Teilnehmerländern als auch auf der Gemeinschaftsebene noch viel zu tun. Der Euro ist und bleibt kein Ruhekissen. Er ist vielmehr eine bleibende Herausforderung für alle Beteiligten, wie Otto Graf Lambsdorff schon früh immer wieder betont hat.

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Sechs liberale Außenminister Waltet Scheel* Aus Anlass eines so schönen Jubiläums, nämlich des 80sten Geburtstages von Otto Graf Lambsdorff, möchte ich zurückblicken auf die Außenminister Deutschlands, die durch die liberalen Parteien gestellt wurden. Zählen wir die liberalen Minister des Auswärtigen unseres Landes auf, so komme ich auf insgesamt sechs. Drei Außenminister in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und drei in der zweiten. Otto Graf Lambsdorff ist einer der bedeutenden Wirtschaftspolitiker des Landes. Er hat Deutschland immer im internationalen, vor allem im europäischen Rahmen, verstanden. Und gerade deshalb hat er bei vielen Kollegen weltweit den Ruf des internationalen Politikers. Viele Beispiele lassen sich hierbei aufführen, länger zurückliegende Handlungen und ebenso ganz aktuelle Aktivitäten. Mir wird dies gerade deutlich, wenn ich mich an Otto Graf Lambsdorffs politisches Handeln als Parteivorsitzender während der Wiedervereinigung unseres geteilten Staates zurückerinnere. Otto Graf Lambsdorff erkannte schon sehr früh und nicht erst 1989, dass eine Vereinigung nur Erfolg haben kann, wenn sie im Miteinander mit den Verbündeten und eingebettet in ein funktionierendes Europa erfolgt. Und hierbei kommt sein internationales finanz- und wirtschaftspolitisches Gewicht zur vollen Auswirkung. Dadurch wird bewusst, dass die Außenpolitik auch immer abhängig von den anderen Politikfeldern ist. Insofern waren auch die sechs liberalen Außenminister, auf die ich zu sprechen kommen will, immer in den jeweiligen Abhängigkeiten zu sehen. Fangen wir bei Rathenau und Stresemann in der Weimarer Republik an. Als logische Konsequenz aus der politischen Lage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg entschied sich Gustav Stresemann für eine Politik der Verständigung mit den Siegermächten. Durch Kooperation, nicht durch Aggression, hoffte er, Deutschland wieder als Großmacht zu etablieren. Die meisten Deutschen dachten indes anders. Sie waren überzeugt davon, dass Deutschland nur durch die Demonstration von Stärke wieder als Großmacht akzeptiert würde, und hielten die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Gegner für ein Zeichen von Schwäche.

* Dr. h. c. mult. Walter Scheel war von 1969 bis 1974 Außenminister und von 1974 bis 1979 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

318 Außen-und Europapolitik

Schon Walther Rathenau, der als sechster Außenminister der Weimarer Republik und erster liberaler Außenminister ebenfalls eine vom Willen zur Verständigung geprägte Außenpolitik eingeleitet hatte, wurde deswegen als „Erfüllungspolitiker'' diffamiert. Am 24. Juni 1922 wurde er von einem Angehörigen der rechtsextremen Organisation Consul auf der Grunewalder Königsallee erschossen. Mit dem deutschrussischen Vertrag von Rapallo gelang es ihm aber, im Osten einen entlastenden und konstruktiven Weg einzuschlagen, den Stresemann dann zu Ende gehen sollte. Im August 1923 wurde Gustav Stresemann Reichskanzler (bis November) und Außenminister. Er war damit der achte Außenminister der Weimarer Republik und zweiter liberaler Minister des Auswärtigen. Schon zwei Jahre später, 1925, konnte er mit den Außenministern von Frankreich, Großbritannien, Italien und Belgien die Locarno-Verträge unterzeichnen, in denen Deutschland, Frankreich und Belgien auf eine gewaltsame Veränderung ihrer gemeinsamen Grenzen verzichteten. Damit wurden die Grundzüge eines europäischen Sicherheitssystems entworfen. Der Durchbruch in der deutsch-französischen Entspannungspolitik war damit erreicht. Mit dem Berliner Vertrag vertiefte Stresemann 1926 die deutsch-russischen Verbindungen, die Rathenau in Rapallo angeknüpft hatte. Die Verträge von Locarno und der Berliner Vertrag beendeten die Isolation Deutschlands nach Ost und West — endgültig, hoffte man damals — aber das erwies sich leider bald als Illusion. Deutschland zählte nun wieder zu den Großmächten ein Beweis dafür, dass Stresemann Recht hatte und man mit Selbstbeschränkung viel, ja, mehr erreichen kann. Mit Hilfe der Vereinigten Staaten gelang es ihm auch, das Problem der erdrückenden Reparationszahlungen zu lösen. Den Höhepunkt seines außenpolitischen Wirkens erreichte er 1926, als Deutschland dem Völkerbund beitrat. Das Ausmaß dessen, was Stresemann innerhalb weniger Jahre bewirkt hatte, wurde durch den Friedensnobelpreis gewürdigt, den er und sein französischer Amtskollege Aristide Briand für ihre Politik der Verständigung und Versöhnung gemeinsam erhielten. Nur ein Konflikt blieb ungelöst und trübte das strahlende Bild der Stresemannschen Verständigungspolitik: Es gelang ihm trotz ehrlicher Bemühungen nicht, das Verhältnis zu Polen zu entspannen, da er, wie die übrige deutsche Bevölkerung auch, die Ziehung der Ostgrenzen als ungerecht empfand und daher nicht als endgültig anerkennen wollte. Gustav Stresemann starb 1929. Mit dem liberalen Politiker endete auch die deutsche Entspannungspolitik. Ein überwunden geglaubter, aggressiver Tonfall kehrte in die Außenpolitik zurück. Das Land wurde von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erschüttert. Der Nationalsozialismus erstarkte, und innerhalb weniger Jahre war

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das Werk Stresemanns vernichtet — endgültig, musste man damals furchten, und doch haben wir an seine Leistungen anknüpfen können. Zwar folgte auf Gustav Stresemann mit Julius Curtius (DVP) ein weiterer liberaler Außenminister, der von 1926 bis 1929 Reichswirtschaftsminister gewesen war. In seine Amtszeit fallt aber schon der Abschied von der verständigungsorientierten Locarno-Politik seines Vorgängers und der Übergang zu einer deutlicheren Revisionspolitik. Curtius hat auf die Außenpolitik keinen großen Einfluss genommen, da Reichskanzler Brüning sich die wichtigsten Entscheidungen und vor allem die bedeutsame Reparationspolitik selbst vorbehielt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gingen die Ängste der europäischen Nachbarn vor einem Wiedererstarken der ehemaligen Großmacht tiefer als je zuvor. Doch waren diese Ängste nicht mehr rational begründet: Die Welt wurde jetzt von zwei Supermächten beherrscht, die Deutschland militärisch weit überlegen waren. Es sollte lange dauern, bis Deutschland ein zweites Mal die Chance erhielt, in die Völkergemeinschaft aufgenommen zu werden. Wieder war es der Außenminister einer liberalen Partei, der die Integration in die Völkergemeinschaft umsetzen konnte. Erst 28 Jahre nach Kriegsende trat Deutschland den Vereinten Nationen bei - als geteiltes Land, vertreten durch zwei Außenminister. Für die DDR war Otto Winzer gekommen. Ich hatte das Glück, die Bundesrepublik vertreten zu dürfen. Ironischerweise saß Herr Winzer rechts des Ganges, der uns beide trennte, während man mir einen Platz auf der linken Seite zugewiesen hatte. Am 19. September 1973 konnte ich unseren Teil Deutschlands in die Vereinten Nationen einfuhren — diesmal, wie ich hoffe, endgültig. Die Ansprache vor der Generalversammlung ist mir als erhebender Augenblick in Erinnerung. Nach Gustav Stresemann fiel das Privileg, Deutschland in die Gemeinschaft der Völker zurückzufuhren, nun zum zweiten Mal einem liberalen Außenminister zu. Stresemann hatte Deutschland damals nach unendlichen Mühen und zahllosen Anfeindungen endlich in jene Gemeinschaft integriert, die 1918 ausgerechnet von Völkern gegründet worden war, deren Bündnis aus der Gegnerschaft zu Deutschland entstanden war. Das gleiche galt für die UNO. Und nun, nachdem wir einen grausamen Krieg gefuhrt hatten, in dessen Folge die Nation für Jahrzehnte durch ihre Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen politischen Systemen getrennt blieb, waren wir endlich vollgültige Mitglieder der Staatengemeinschaft geworden. Die Diskussion über den Beitritt hatte in Deutschland heftige Konfrontationen hervorgerufen, in denen die zivilen Formen der politischen Auseinandersetzung durchaus nicht immer gewahrt wurden. Die Tatsache, dass durch unseren Beitritt auch die DDR Mitglied würde, rief starken Widerstand hervor. Noch immer hielt die Mehr-

320 Außen- und Europapolitik

heit an der Ansicht fest, dass nur die Bundesrepublik Anspruch darauf habe, das deutsche Volk zu vertreten. Der fünfte liberale Außenminister war der Außenminister mit der längsten Dienstzeit. Hans-Dietrich Genscher folgte mir 1974 in den Ämtern des Parteivorsitzenden und des Außenministers, nachdem ich Bundespräsident wurde. Als Außenminister stand er für eine Ausgleichspolitik zwischen Ost und West und entwickelte eigene Strategien für eine aktive Entspannungspolitik. Und unter seiner Amtsführung vollzog sich das Wunder. Von August 1989 an trafen sich immer mehr Bürger der DDR zu gemeinsamen Gebeten und zu Demonstrationen gegen das verhasste Regime. Als Hans Dietrich Genscher dann am 30. September 1989 auf den Balkon der deutschen Botschaft in Prag heraustrat, um die dort wartenden Menschen zu informieren, dass eine Ausreise möglich geworden war, da war klar, dass die Freiheitsbewegung in der DDR einen Stand erreicht hatte, der unumkehrbar war. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war der 9. November 1989. An diesem Tag hat das deutsche Volk, im Aggregatzustand der Bürger der DDR, am Brandenburger Tor in Berlin streng nach dem Wortlaut unserer Verfassung „in freier Selbstbestimmung" die Einheit und Freiheit Deutschlands erlangt. Die völkerrechtliche Absicherung des Erreichten wurde vom Außenminister Genscher in kurzer Zeit verhandelt. Sicher haben von unseren westlichen Verbündeten nur die Vereinigten Staaten der Wiedervereinigung aus vollem Herzen zugestimmt. Mitterand und Thatcher waren bis wenige Tage vor der friedlichen Revolution noch durchaus gegen eine Wiedervereinigung, wenn auch vielleicht nur gegen eine Wiedervereinigung ohne Bedingungen. Das französische Volk allerdings bejahte die deutsche Einheit. Aber wer hätte in dieser Zeit wohl von der Weltöffentlichkeit Einwände dagegen vorbringen wollen, dass ein Volk in einer friedlichen Revolution sich vom Joch einer sozialistischen Diktatur befreit? Die einzige Macht, die wirklich Einspruch hätte erheben können, war die Sowjetunion. Dass sie es nicht tat, hatte sicher mehrere Gründe. Es war wohl ihre von außen noch nicht in ihrem vollen Ausmaß erkannte Schwäche — aber auch die schon in den Jahren nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrages erkennbare Hoffnung der Sowjetunion auf wachsende wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik. Rein formal könnte man auch sagen, es war die konkrete Anwendung des Moskauer Vertrages. Hans-Dietrich Genscher hatte darüber hinaus großen Anteil an der europäischen Einigung und am Gelingen der deutschen Wiedervereinigung, über die er 1990 mit seinem DDR-Amtskollegen Markus Meckel verhandelte.

Walter Scheel: Sechs liberale Außenminister 321

Daneben unterstützte er wirksam die politischen Reformprozesse, vor allem in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei. Die dafür eingesetzten Mittel führten dazu, dass seine und Bundeskanzler Helmut Kohls Politik mitunter auch abfällig als Scheckbuchdiplomatie bezeichnet wurde. Am 18. Mai 1992 schied Genscher auf eigenen Wunsch aus der Bundesregierung aus, der er insgesamt 23 Jahre angehört hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er Europas dienstältester Außenminister. Nach dem Rücktritt von Hans-Dietrich Genscher wurde Klaus Kinkel zum sechsten liberalen Außenminister ernannt. 1993 fasste er die Herausforderungen der deutschen Innen- und Außenpolitik wie folgt zusammen: „Zwei Aufgaben gilt es parallel zu meistern: Im Inneren müssen wir wieder zu einem Volk werden, nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potenzial entspricht. Die Rückkehr zur Normalität im Inneren wie nach außen entspricht einem tiefen Wunsch unserer Bevölkerung seit Kriegsende. Sie ist jetzt auch notwendig, wenn wir in der Völkergemeinschaft respektiert bleiben wollen." Wie 1923 waren es auch Ende der 60er Jahre die Liberalen, die außenpolitisch auf Dialog und Völkerverständigung setzten. Und wie damals geschah das auch diesmal mit Hilfe der SPD, die schon die Stresemannsche Politik im Parlament unterstützt hatte. Durch die Koalition gelang es unserer kleinen Partei, das festgefahrene Verhältnis zur Sowjetunion in einen konstruktiven Dialog zu verwandeln. Und diesmal wurde der Kurs der Verständigung von den nachfolgenden Regierungen nicht rückgängig gemacht. Die Ostgrenze zu Polen, mit der Stresemann sich nicht abfinden wollte, haben wir im Moskauer Vertrag korrekt in ihrem damaligen Verlauf beschrieben, uns jedoch zu ihrer Rechtmäßigkeit nicht geäußert. Für diese sachliche Beschreibung der Tatsachen sind wir merkwürdigerweise besonders von jener Partei als „Verräter" diffamiert worden, die im November 1990 die Regierung stellte, als die polnische Grenze endgültig vertraglich festgelegt wurde. Wir können heute auf insgesamt 39 Jahre liberaler Außenpolitik zurückblicken. Das Ergebnis, so finde ich, kann sich sehen lassen. Deutschland ist in Europa und in die Weltgemeinschaft integriert. Wir können jetzt unseren Blick den Aufgaben zuwenden, die es in Zukunft gemeinsam mit unseren Partnern zu lösen gilt. Dazu gehört, dass die Europäische Union einschließlich der Beitrittsländer außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen lernt, indem Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit an Stelle der bisherigen Konsultations- und Abstimmungsmechanismen treten. Dazu gehört auch — kurzfristiger - eine europäische Verfassung mit Grundrechten und vor allem eine demokratische Legitimation der Unionsinstitutionen. Dazu gehört, dass die Zuständigkeiten der Union klarer definiert, ihre Instrumente

322 Außen- und Europapolitik

und Entscheidungsverfahren stark vereinfacht und alle Verfahren für den Bürger transparenter werden. Denn der Wille zur Integration fehlt heute vielen Europäern deshalb, weil sie in der Europäischen Kommission eher einen bürokratischen Moloch als ein nützliches Organ sehen. Leider haben sie damit nicht immer Unrecht. Der Konvent ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zu jenen grundlegenden strukturellen Verbesserungen, die wir brauchen, um in Zukunft Demokratie, Menschenrechte, Stabilität und Bürgernähe auch in einer erweiterten Union garantieren beziehungsweise erreichen zu können. Abschließend möchte ich zusammenfassen. Sechs liberale Außenminister gab es in der Geschichte Deutschlands, drei nach dem ersten Weltkrieg und drei nach dem letzten Weltkrieg. Die liberale Handschrift hat dem Volk und dem Staat gut getan. Besonders deutlich wird dies bei der Integration in die Völkergemeinschaft. Zweimal gelang es liberalen Ministern des Auswärtigen, in schwierigsten Phasen deutscher Politik, sowohl nach dem 1. Weltkrieg als auch nach dem 2. Weltkrieg, Deutschland wieder in die Staatengemeinschaft einzuführen und zu einem anerkannten Partner in der Weltpolitik zu machen. Die Liberalen können stolz auf Ihre außenpolitische Vergangenheit sein.

Otto Graf Lambsdorff

Der Freiheit verpflichtet

Reden und Aufsätze 1995-2006 herausgegeben von Jürgen Morlok 2006. 415 S., geb., 5 8 - € / 98,- sFr. ISBN 978-3-8282-0361-7 Als Wirtschaftsminister und wirtschaftspolitischer Sprecher der FDPBundestagsfraktion erwarb sich Otto Graf Lambsdorff durch die Schärfe seiner Analysen und die Klarheit seines an ordnungspolitischen Grundsätzen ausgerichteten Kampfes für die Marktwirtschaft große Anerkennung, auch bei den politischen Gegnern und in der Öffentlichkeit. Die im vorliegenden Band "Reden und Aufsätze" gesammelten Beiträge, in denen er als streitbarer Liberaler für eine Ordnung der Freiheit und Verantwortung überall auf der Welt eintritt, spiegeln die aktuellen politischen Auseinandersetzungen in Deutschland und in der internationalen Politik ebenso wider. Schwerpunkte des Bandes sind Freiheit und Menschenrechte, marktwirtschaftliche Ordnung, Staat, Sozialstaat und Föderalismus sowie Außen- und Europapolitik. Der Band enthält u.a. folgende Beiträge: Freiheit und Menschenrechte Mehr Menschenrechte, weniger Staatenrecht Marktwirtschaft und Menschenrechte - ein Widerspruch? Freiheit als höchster Verfassungswert. Gegen die Inflation von Rechten Für Freihandel Protektionismus: Der moderne Imperialismus Auch bei der Globalisierung ist die Politik das Problem und nicht die Lösung Die marktwirtschaftliche Ordnung Liberale Konzepte gegen die Armut: Marktwirtschaft und Freiheit Der Konsument und seine Freiheit Die liberale Marktwirtschaft. Möglichkeiten und Grenzen im Sozialstaat Die moralische Verantwortung in der Marktwirtschaft Ein ordnungspolitischer Aufbruch für Deutschland Globalisierung. Mächtige Wirtschaft machtlose Politik?

LUCIUS LUCIUS

Steuern und Steuerpolitik Die konfiszierte Freiheit. Die Krise des Steuerstaates und die Grenzen der Machbarkeit Politik als Kunst des Unmöglichen? Aus Visionen eine liberale Bürgergesellschaft schmieden Der Sozialstaat in der Krise Föderalismus in Deutschland und Europa Brauchen wir einen neuen Föderalismus? Subsidiarität ernst genommen! Liberale Prinzipien einer europäischen Verfassungsordnung Kultur und Geschichte 150 Jahre liberale Revolution in Europa Wirtschaftspolitik für den Menschen. Vor 100 Jahren wurde Wilhelm Röpke geboren Bildung als Grundlage einer freien Gesellschaft Kunst und Kultur als Wirtschafts- und Standortfaktor Außen- und Europapolitik Transatlantische Beziehungen vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Amerikabildes in Europa

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Wettbewerbspolitik Walter Hamm Selbstverantwortung in ordnungspolitischer Sicht Guido Schröder Preise auf Grenzkostenniveau - optimal, aber unmöglich? Hubertus Bardt und Juliane Bardt Kunstunternehmer im Spannungsfeld zwischen Kunst und Marktwirtschaft Peter Oberender und Jürgen Zerth Soziale Ziele und marktwirtschaftliches Gesundheitswesen - schlußendlich kein Gegensatz! Alfred Schüller Saint-Simonismus als Integrationsmethode: Idee und Wirklichkeit - Lehren für die EU Richard Senti Argumente für und wider die Reziprozität in der WTO - Die Reziprozität als merkantilistisches Erbe in der geltenden Welthandelsordnung Ingo Pies und Peter Sass Korruptionsprävention als Ordnungsproblem - Wirtschaftsethische Perspektiven für Corporate Citizenship als Integritätsmanagement Erich Weede Globale Ordnungspolitik im Zeitalter amerikanischer Hegemonie

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