Kausalitatsbegriff Und Evolutionstheorie: Die Entwicklung Des Kausalitatsbegriffes Im Rahmen Des Evolutionsgedankens (Erfahrung Und Denken) (German Edition) [1 ed.] 3428046536, 9783428046539


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German Pages 133 [134] Year 1980

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Kausalitatsbegriff Und Evolutionstheorie: Die Entwicklung Des Kausalitatsbegriffes Im Rahmen Des Evolutionsgedankens (Erfahrung Und Denken) (German Edition) [1 ed.]
 3428046536, 9783428046539

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FRANZ M. WUKETITS

Kausalitätsbegriff und Evolutionstheorie

ERFAHRUNG

UND

DENKEN

Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissen8chaften

Band 58

Ka us ali tä tsb e griff und Evolutionstheorie Die Entwicklung des Kausalitätsbegriffes im Rahmen des Evolutionsgedankens

Von

Dr. Franz M. Wuketits

DUN CKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany

© 1980

ISBN 3 428 04653 6

Vorwort Spätestens seit der empirischen Begründung der Evolutionstheorie durch Darwin und seine Vorläufer zeigt das Gesicht der Biologie viele Züge, die eine wissenschaftstheoretische Analyse nicht nur herausfordern, sondern geradezu als dringlich erscheinen lassen. Eine unter der Ägide der Wissenschaftstheorie durchgeführte Untersuchung der Wissenschaft vom Lebendigen ist heute ob der Bedeutung der Erkenntnisse dieser Wissenschaft für das moderne Weltbild mehr denn je vonnöten. Hat sich die Wissenschaftstheorie bisher zu einem erheblichen Teil an der Physik orientiert, was seine "sachlichen" und (wissenschafts-)psychologischen Gründe hat, ist die adäquate wissenschafts theoretische Behandlung der Biologie - welche ja zugleich auf die Wissenschaftstheorie selbst zurückwirkt - als wichtiges Postulat hinzustellen. Freilich: des Theorien- und Begriffssystems zeitgenössischer Biologie ansichtig werdend wird der Wissenschaftstheoretiker nicht immer ermutigt, eben dieses System unter die Lupe zu nehmen. Ist schon der Forschungsbereich der Biologie überaus umfangreich und sind die ihm zugrunde liegenden Gegenstände (also belebte Systeme) höchst kompliziert, so ist auch das biologische Begriffs- und Theoriengebäude keineswegs als einfach zu bezeichnen. Was die Terminologie betrifft: in der Biologie oder zumindest in vielen ihrer Teilbereiche liegt nach wie vor bedauerlicherweise eine ziemlich konfuse Situation vor. In meinem Buch "Wissenschaftstheoretische Probleme der modernen Biologie" (siehe Literaturverzeichnis) habe ich versucht, eine Synopsis all jener Probleme gegenwärtiger Biologie zu geben, die eine Approximation unter wissenschaftstheoretischem Gesichtspunkt rechtfertigen und darüber hinaus als notwendig erscheinen lassen. Eine generelle Wissenschaftstheorie der Biologie kann aber erst dann etabliert werden, wenn die Ergebnisse zahlreicher Detailuntersuchungen vorliegen, die sich auf biologische Begriffs- und Denkformen beziehen. Solche Detailuntersuchungen sind als Fallstudien zu bewerten. Für diese wiederum ist die offenbar günstigste Ausgangsbasis eine Rekonstruktion der in der Geschichte liegenden Formationsprozesse, die zu den jeweils in Frage stehenden Konzepten geführt haben.

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine derartige Fallstudie. Keine Analyse kann wohl besser die Problematik der Kausalität in der Evolutionstheorie transparent machen, als jene der (rationalen) Rekonstruktion derselben. Wenn sich dieses Buch schon allein zum Zwecke der Bewahrung einer gewissen übersichtlichkeit auf die markantesten historischen Elemente beschränken mußte, so hoffe ich dennoch, damit jene Kraftlinien aufgezeigt zu haben, welche sich in der Geschichte dieses Problems entfaltet haben. übrigens ist dieser Band ohnedies nicht als ein schlechthin wissenschaftshistorisches Buch zu lesen. Vielmehr soll die Ausbreitung geschichtlichen Materials den "Rohbau" für die intendierte Konzeptualisierung des Kausalitätsbegriffes in der Evolutionstheorie auf einer Metaebene abgeben. Was dabei vorerst zu kurz kommen mußte, ist die Behandlung der Frage, wie die Biologie das Kausalitätsproblem lösen kann, wie also eine Naturwissenschaft die Strategie für die Lösung eines in der Philosophie formulierten Problems zu entwickeln vermag. Den ersten Ansatz dazu hat Riedl (1978/79) präsentiert, womit zugleich die Impulse für weitere Arbeiten in dieser Richtung gegeben sind. Es ist fast überflüssig zu bemerken, daß mit dieser Thematik noch weitestgehend offenes Land betreten wird. Die hier noch vorhandene Lücke zu schließen muß daher als ein weiteres Desiderat nicht nur der Wissenschaftstheorie, sondern auch - und primär! - der Biologie empfunden werden. Konnte ich mich in dieser Arbeit mit einigen eingestreuten Bemerkungen dazu begnügen, so habe ich in einem weiteren Buch, welches unter dem Titel "Biologie und Kausalität" demnächst erscheinen soll, eben diese - bis zu Ansätzen für eine biologische Lösung des Problems der Willensfreiheit gehende - Thematik in Angriff genommen. Es sei noch vermerkt, daß das vorliegende Buch auf meine Dissertation zurückgeht, die 1978 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien approbiert worden war. Die Arbeit entstand seinerzeit unter der Betreuung meines Lehrers Prof. Dr. Erhard Oeser. Die Bearbeitung der Entwicklung des Kausalitätsbegriffes im Rahmen des Evolutionsgedankens in Form einer Dissertation geht auf eine Anregung meines Lehrers Prof. Dr. Rupert Riedl zurück. Beiden auch an dieser Stelle recht herzlich zu danken, ist mir eine angenehme Pflicht. Ich gedenke gerne der vielen gemeinsamen Gespräche, die für meine Arbeit stets förderlich waren. Dieser Band ist aber eine in mehrfacher Hinsicht geänderte Fassung jener als Dissertation vorgelegten Arbeit. Verschiedene, nachträglich

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Vorwort

weniger wichtig scheinende Einzelheiten wurden gestrichen; dafür sind aber an anderen Stellen Ergänzungen vorgenommen worden. Wo es vorteilhaft schien, sind einigen Textstellen weitere, ergänzende Literaturzitate beigefügt worden. Herrn Kurt Schelldorfer sowie dem Verlagshaus Duncker & Humblot danke ich für das meinen Bemühungen nunmehr zum zweiten Male entgegengebrachte Interesse. Januar 1980

Franz M. Wuketits

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11

A. Grundsatzerärterungen .......................................

15

1. Problemstellung und Begriffsbestimmung ....................

Gegenstand der Arbeit ................................ Evolution ........................................... Kausalität ........................................... Kausalforschung und Naturforschung .................... Kausalanalyse und Strukturanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

15 15 17 19 21 23

II. Methodik .............................................. 1. Der wissenschafl:stheoretische Rahmen der Arbeit .......... 2. Die rekonstruktive Vorgangsweise der Wissenschafl:stheorie

25 25 27

B. Zur Geschichte der Kausalitätsproblematik ......................

30

Vorbemerkung ..............................................

30

1. Die vier Ursachen des Aristoteles .......................... 1. Einige allgemeine Bemerkungen zur aristotelischen Naturbetrachtung ............................................ 2. Die vier Ursachen ....................................

30

1. 2. 3. 4. 5.

30 33

3. Schopenhauers "vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" ............................................

38

11. Der Kausalitätsbegriff in der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschafl: .......................................... 1. Die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschafl: ........ 2. Die vier Ursachen im neuzeitlichen Bewußtsein ............ 3. Kausalität und wissenschafl:liche Erklärung . . . . . . . . . . . . . . ..

41 41 46 53

C. Evolutionstheorie und Kausalität ..............................

57

1. Der Evolutionsgedanke und das Postulat einer kausalen Erklärung der Evolution ......................................

57

10

Inhaltsverzeichnis 1. Die Vorstufen evolutiven Denkens und der geistesgesehiehtliehe Hintergrund der Biologie im 19. Jahrhundert........

57

2. Charles Lyell und die »actual causes" .................... 3. Die Evolutionstheorie bei Lamarck und Darwin . . . . . . . . . . ..

65 69

11. Die Synthetische Theorie und das zentrale Dogma der Genetik .. 84 1. Die Bedeutung des Populationsdenkens für die Evolutionstheorie .............................................. 84 2. Die Synthetische Theorie als pluralistische Evolutionstheorie und die Begründung einer Evolutionsbiologie ....... . . . . . . . 87 3. Die exekutive Kausalität als Erklärungsgrundlage für die Synthetische Theorie ... . ............................. . 91 4. »Offene Probleme" der Evolution im Rahmen der Synthetischen Theorie ....................................... 95 IH. Evolution als Systemgesehehen - Die Systemtheorie der Evolution ................................................. 101 1. Allgemeine Problematik einer Kausalanalyse der Evolution aus m~d.~rner Sicht und die Unzulänglichkeit der exekutiven Kausahtat ........................................... 2. Der Systembegriff in der Biologie ...................... 3. Die Systemtheorie der Evolution ..... . .................. 4. Die vier Ursachen im Lichte der Systemtheorie ............ 5. Das Evolutionsgefüge als »poststabilisierte Harmonie" ....

101 105 106

110 113

Ausblick

118

Literatur

120

Autorenregister .............................•.................. 127 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130

Einleitung Kausalbetrachtung und Kausalforschung sind vielfach zur Domäne der Naturforschung erhoben worden, ja es scheint, daß jenen naturwissenschaftlichen Disziplinen eine geringere Bedeutung zukommt, in die das Kausalitätsprinzip noch keinen Eingang gefunden hat. Trotz verschiedener Intentionen, die auf eine Leugnung der Gültigkeit des Kausalitätsprinzips hinauslaufen, überzeugen die Methoden und Frageweisen gegenwärtiger Naturwissenschaft von der Notwendigkeit einer Implikation des Kausalitätsbegriffes und der Kausalforschung. In Anbetracht dieser Situation tritt immer mehr die Grundsatzfrage nach der Bedeutung des Kausalitätsbegriffes und der Kausalforschung in den Vordergrund. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage muß nicht zuletzt dem historischen Zustandekommen des gegenwärtigen Kausalitätsbegriffes Rechnung tragen. Dies schon allein deshalb, um dessen vielfältige und mitunter heterogene Ausgestaltung und Applikation beurteilen zu können, zumal der Terminus "Kausalität" eine facettenreiche Problematik repräsentiert und Fragen aufwirft, welche von jeher dazu geeignet sind, die Gemüter zu erhitzen (Stegmüller 1970). Die Analyse des Kausalitätsbegriffes und seiner Akzentuierungen in der naturwissenschaftlichen Forschung ist also von ihrer Bedeutung her nicht zu unterschätzen. Dabei muß es sich streng genommen um eine Analyse handeln, die 1. historische, 2. erkenntnistheoretische und 3. wissenschaftstheoretische Momente berücksichtigt und die Basis für ein Verdikt über die Tragweite der Kausalität darstellt. Im Rahmen der Biologie erhebt die Kausalität doppelten Anspruch auf eine derartige Analyse. Einerseits sind die funktionell orientierten (physiologischen) Disziplinen längst durch das Postulat einer kausalen Erklärung geprägt, andererseits bringt es die Biologie im allgemeinen - bedingt durch ihr "evolutionäres Fundament" - mit sich, daß die Kausalforschung entsprechende Konzessionen zu erteilt bekommt. Mit Recht darf nämlich die zeitgenössische Biologie durch das Prädikat "evolutionär" oder "evolutionistisch" gekennzeichnet werden, weil erst die Theorie der Evolution der Organismen die wissenschaftstheoretische Begründung der Biologie im Sinne einer Gesamtwissenschaft vom Leben-

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Einleitung

digen ermöglicht hat. Wir kommen darauf noch zurück. Die in der Evolutionstheorie dekretierte VerwandtschaA: der Lebewesen macht in spezifischer Weise das Postulat einer kausalen Erklärung geltend, welche wiederum rückläufig die Struktur der Evolutionstheorie bestimmt. So ist denn auch die Frage nach einer kausalen "Begründung" des Evolutionsphänomens eine der Kardinalfragen der Biologie geworden. Sie schließt verschiedene Teilfragen ein, z. B. die Frage, "wieweit die Evolution als kausal gesetzlich bestimmt betrachtet werden kann" (Rensch 1961, p. 289). Dabei geht es vorrangig darum, den Versuch zu machen, "die Entstehung der Mannigfaltigkeit der Organismen mit ihren jeweils spezifischen Eigenschaften zu erklären" (Osche 1972, p. 10). Die im Zuge jener Versuche, dieser Problematik gerecht zu werden, sich profilierende Evolutionstheorie bzw. Evolutionsforschung oder Evolutionsbiologie hat seit Lamarck und Darwin, seit ihren eigentlichen Promotoren, sich zu einem derartigen Gedankenkomplex rekrutiert, daß sie eine Herausforderung aller Art metatheoretischer Reflexionen bedeutet. Als ein Zentralproblem in diesem Kontext kann die Frage nach der Entwicklung des Kausalitätsbegriffes im Rahmen des Evolutionsgedankens formuliert werden. Generell handelt es sich dabei um das Verhältnis der Kausalforschung zur Evolutionsforschung. Schon eine oberflächliche Betrachtung dieser Problemstellung dürfte zeigen, daß dieses Verhältnis ein wechselseitiges ist. Spielt auf der einen Seite die Kausalität eine große Rolle in der Evolutionstheorie, so ist es andererseits eben diese Theorie, deren jeweilige "Form" im Verlauf der Geschichte das Kausalitätsdenken adäquat beeinflußt hat. Die neueren, umfassenderen Evolutionstheorien bewirken nämlich ein Umdenken in der uns von Kindheit an vertrauten Operationalisierung der Kausalität, welche in der Auffassung einer Linearität von Ursache und Wirkung manifest wird. Und gerade diese, schon in unseren Schulbüchern verankerte Linearität, diese im Begriff der linearen oder exekutiven Kausalität verbalisierte Anschauung bedarf einer Ergänzung; und zwar einer Ergänzung zum Konzept der vernetzten oder funktionellen Kausalität. Die Tatsache, daß die Biologie einen derartigen Umbruch wesentlich mitprägt, bringt natürlich gravierende, in ihrer potentiellen Auswirkung heute wahrscheinlich noch nicht zur Gänze überschaubare Konsequenzen mit sich, deren Quintessenz sich darin zeigen dürfte, daß der Biologie eine weit größere Bedeutung bei der Bewältigung der im herkömmlichen Sinne als " philosophisch " apostrophierten Probleme zu konzedieren ist, als man es gegenwärtig noch zu tun pflegt.

Einleitung

13

Zwischen den Zeilen gelesen heißt das, daß wir zur Zeit einer Untersuchung der Beziehungen zwischen Biologie und Philosophie große Relevanz bei räumen müssen, wobei wir der überzeugung sind, daß die Biologie - ohne einem trivialen Biologismus zu huldigen - durch ihre Erkenntnisse neues Licht auf klassische philosophische Probleme zu werfen vermag. Ausgehend von dieser überzeugung ist vorliegende Untersuchung unter zweifachem Gesichtspunkt zu sehen. Zunächst geht es hier um die Diskussion des Kausalitätsbegriffes bzw. der Kausalitätsproblematik auf historischer, d. h. wissenschaA:sgeschichtlicher Grundlage im allgemeinen und auf der Basis der Geschichte der Biowissenschaften im besonderen. Wir werden uns also in weiten Teilen dieser SchriA: mit der Rekonstruktion historischer Entwicklungstendenzen beschäftigen. Gerade diese Rekonstruktion dürfte in letzter Konsequenz deutlich machen, welche enge Verflechtung - und das ist der zweite Gesichtspunkt - zwischen naturwissenschaA:lichen (hier: biologichen) und philosophischen Fragestellungen und Problemen gegeben ist. Es bleibt zu hoffen, daß es in der folgenden Darstellung gelingt, zugleich ein Stück Problem geschichte zur Biologie abzugeben. Denn es ist die Geschichte der Probleme (und nicht bloß die "Faktengeschichte"), die den Werdegang einer WissenschaA: oder eines Teilbereichs von ihr lebendig macht. So wie Windelband (1921) für die Geschichte der Philosophie die Geschichte der Probleme und Begriffe hervorhebt, kann man für jede wissenschaA:1iche Disziplin den problemgeschichtlichen als jenen Aspekt hervorheben, der sowohl die fachspezifischen als auch die über das fragliche Fach hinausgreifenden Elemente transparent macht. Unter diesen Voraussetzungen kann eine Untersuchung wie die hier vorgelegte einen Beitrag zur Veranschaulichung der historischen Vorbedingungen zur Problemsituation der gegenwärtigen Evolutionsvorstellungen ableisten, wobei, wie gesagt, der Kausalitätsproblematik eine zentrale Position zukommt. Den Blick auf "größere Zusammenhänge" gerichtet können wir so letztlich auch den zum Anklang gebrachten Umbruch in der Beziehung zwischen Biologie und Philosophie auf ein neues Fundament stellen; also jenen Umbruch, der möglicherweise die tiefwurzelnde, längst institutionell manifest gewordene Zäsur zwischen einzelnen wissenschaA:lichen Disziplinen theoretisch zu überbrücken vermag. Die Herstellung einer solchen überbrückung steht im Zeichen der überwindung alter Gegensätze und einseitiger Denkweisen. Sie kann als

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Einleitung

Motto für die folgende Darstellung gelten. Wir können dazu nachstehende Worte von Whitehead (1920, vgl. 1971, p. 30) strapazieren: "Natural philosophy should never ask, wh at is in the mind and what is in nature. To do so is a confession that it has failed to express relations between things perceptively known, namely to express those natural relations whose expression is natural philosophy."

Auch darf man den Umstand nicht übersehen, daß in der Biologie gewissermaßen naturwissenschaftliche Frageweisen und Probleme und solche der Geisteswissenschaften einander begegnen (vgl. Sachsse 1968), womit der Biologie wiederum die Aufgabe zukommt, einen Beitrag zu der erwähnten überbrückung zu liefern. Die Evolutionstheorie kann dabei wie kaum eine andere Theorie ein Beispiel abgeben - ein Beispiel für die gegenseitige Durchdringung geisteswissenschaftlicher und philosophischer Fragestellungen und naturwissenschaftlicher Antworten. Obwohl mit einer Analyse des Kausalitätsbegriffes im Rahmen des Evolutionsgedankens nur ein Teilproblem thematisiert wird, kann schon diese auf ein relativ schmales Untersuchungsgebiet zugeschnittene Diskussion einen Zugang zum komplizierten Netzwerk der Biologiegeschichte und darüber hinaus der Geschichte der Naturwissenschaften schlechthin freimachen, d. h. also der Geschichte der Naturwissenschaften in Beziehung mit philosophischen Denkweisen. Damit sei gesagt, daß es gar nicht so sehr auf die "Breite" eines Themas ankommt, sondern daß es vor allem wichtig ist, sich die Tiefendimensionen einer Thematik vor Augen zu führen und sich die Konsequenzen des betreffenden Problems zu vergegenwärtigen. Es wird sich herausstellen, daß die Kausalitätsproblematik in der Geschichte der Evolutionstheorie auf einem überaus umfassenden und weitgespannten, in der Tiefe abendländischer Geistesgeschichte liegenden Geflecht von Problemen und Lösungsversuchen liegt. Es sei schon an dieser Stelle auf das auf p. 41 gegebene Schema verwiesen, wo der Versuch gemacht wird, einige im Verlaufe der Geschichte der Philosophie und der Naturwissenschaften ausgeprägte Linien im Sinne bestimmter Grundhaltungen zu skizzieren, die man mit einer verschiedenen Handhabung des Kausalitätsbegriffes korrelieren kann.

A. Grundsatzerörterungen "Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit führen kann." (Kant)

I. Problemstellung und Begriffsbestimmung 1. Gegenstand der Arbeit

Das Thema vorliegender Untersuchung ist die historische Entwicklung des Kausalitätsbegriffes im Rahmen des Evolutionsgedankens. Die Begriffe "Evolution" und "Kausalität" stehen im Zentrum der Abhandlung und werden vor allem auch im Hinblick auf ihre wechselseitige Beziehung zu diskutieren sein. Zwei Problemkomplexe sind dabei zu behandeln: (1) Inwieweit bietet das Kausalitätskonzept die theoretischen Grundlagen für die Etablierung der Evolutionstheorie und für die Erklärung des Evolutionsphänomens? (2) Worin zeigt sich die Rückwirkung der Evolutionstheorie auf das Kausalitätskonzept? Der Begriff "Kausalitätskonzept" ist hier noch in ziemlich neutraler Weise und bar einer terminologischen Festlegung der Kausalität selbst verwendet. In I. 3 wird eine nähere Bestimmung der Kausalität zu geben sein. Schon die Art der Fragestellung macht die Vielschichtigkeit des Problems deutlich. Zum Ausdruck gebracht wird diese noch durch zwei weiter unten genauer zu behandelnde - historische Tatsachen: (1) Seit Aristoteles ist der Begriff" Ursache" (und damit gewissermaßen auch jener der Kausalität) gevierteilt. Daraus läßt sich folgende Frage ableiten: Genügt für eine (kausale) Erklärung der Evolution die Beanspruchung nur einer der vier Ursachenformen? Oder kann die Evolution nur durch eine Synthese der vier aristotelischen Ursachen adäquat (kausal) erklärt werden? (Dabei sei vorerst auch von einer

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A. Grundsatzerörterungen

Präzisierung des Begriffes "Erklärung" abgesehen; siehe B. 11. 3.) Falls ersteres zutrifft, ist es Aufgabe der Wissenschaftstheorie, zu prüfen, welche Formationsprozesse im Verlauf der Geschichte die Handhabung bestimmter Ursachenformen in die Wege geleitet haben, und Aufgabe fachspezifischer Untersuchungen der Naturwissenschaften, herauszufinden, ob das Walten eben dieser bestimmten Ursachenform für das Eintreffen eines bestimmten Ereignisses jeweils allein verantwortlich ist. (2) Seit Lamarck ist nicht nur die Evolutionstheorie schlechthin vertreten worden, d. h. nicht nur eine bestimmte Erklärungsmodalität für das Evolutionsgeschehen, sondern es haben sich im Verlaufe der Geschichte des Evolutionsgedankens mehrere Theorien der evolutiven Knderung der Organismen und damit mehrere Erklärungen dafür abgezeichnet. Wiederum besteht hier die Aufgabe der Wissenschaftstheorie in einer Analyse und Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung dieser Theorien und Erklärungen, bzw. Erklärungsversuche, während die diesbezügliche Aufgabe der Naturwissenschaften (hier: der Biologie) in der Konfrontation empirisch gewonnener Materialien mit den betreffenden Theorien (Erklärungen) zu erfüllen ist. Diese beiden Sachverhalte lassen für nachstehende Darstellung folgende Vorgangsweise praktikabel erscheinen: (1) Erörterung begrifflicher Fragen. Vor allem müssen zunächst die beiden Begriffe "Evolution" und "Kausalität" unzweideutig festgelegt werden (1. 2., 3). Für den Kausalitätsbegriff gilt ferner, daß seine wichtigsten "Abwandlungen", auf ihn gegründete und in ihm verankerte Termini zumindest skizzenhaft dargelegt werden (z. B. "Kausalprinzip"). Weiters empfiehlt sich ein Ausblick auf die Applikationen des Kausalitätsbegriffes in der "Kausalforschung" und der "Kausalanalyse" und auf die dadurch hervorgerufenen Kontroversen (1. 4., 5). (2) Präzisierung der Untersuchungsmethode (11.). (3) Retrospektive Betrachtung und Rekonstruktion des Kausalitätsbegriffes in der Geschichte mit einer Schwerpunktverlagerung auf die eigentliche historische Wurzel der Problematik, gegeben in den aristotelischen Ursachenformen (B. 1.). (4) Diskussion der Stellung des Kausalitätsbegriffes in der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschaft unter Berücksichtigung der wich-

I. Problemstellung und Begriffsbestimmung

17

tigsten historischen Elemente und der wesentlichen damit im Zusammenhang stehenden allgemeinen Innovationen in der Wissenschaft (B. II.). (5) Erörterung historischer und methodologischer Grundlagen des Evolutionsgedankens unter Implikation des Kausalitätskonzeptes jeweiliger Evolutionstheorien (C. 1., II.). (6) Skizzierung des Problemkreises "Kausalitätsbegriff und Evolution" aus der Perspektive neuerer biologischer Arbeiten. Die Quintessenz da von wird sich in der Relevanz der Biologie für die Lösung des Kausalitätsbegriffes zeigen (C. III.). 2. Evolution

Ungeachtet der ursprünglichen - noch auszuführenden - Divergenzen in den Erklärungen des Evolutionsphänomens und der auch heute noch existenten vielfachen Meinungsverschiedenheiten läßt sich, dank vieler konvergierender Forschungsergebnisse im 20. Jahrhundert, eine einigermaßen präzise Definition für das Phänomen der Evolution als solches angeben. "Evolution ist ein Naturvorgang", schreibt Zimmermann (1968, p.20), "eine Transformation der Organismen in Gestalt und Lebensweise, wodurch in Ahnenreihen die Nachfahren andersartig gegenüber den Vorfahren werden." Ergänzend kann man zu dieser Definition im Sinne von Osche (1972, p. 9/10) folgendes hinzufügen: "Ausgehend von gemeinsamen Ahnen muß es ... im Verlauf der Stammesgeschichte (Phylogenese) der Organismen zu einer Transformation von deren Gestalt, Funktion und Lebensweise, und das heißt zur Bildung neuer Arten und Organisationstypen, gekommen sein. Diesen Prozeß, der im Hinblick auf die Eigenschaften dazu führt, daß im Laufe der Generationenfolge die Nachfahren einer Tierart ,andersartig' werden im Vergleich zu ihren Vorfahren, nennen wir Evolution.«

Evolution ist somit Ausdruck für die Variabilität der Lebewesen, der Tiere in gleicher Weise wie der Pflanzen. Sie bedeutet die Verwandtschaft der Organismen und schließlich die "Einheit des Lebendigen". Im Rahmen biologischer oder - im weiteren Sinne - naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen ist die Evolution unbestritten, ein Faktum, an dem nicht zu zweifeln ist. "Nicht die Frage, ob es Evolution gibt, sondern wie sie im einzelnen verlief und welche Faktoren ihr zugrunde 2 Wuketits

18

A. Grundsatzerörterungen

lagen und liegen, ist daher heute Gegenstand der Evolutionsforschung" (Osche 1972, p.ll). Es geht also gegenwärtig - wie prinzipiell in jeder Evolutionstheorie - insbesondere um die zwei folgenden Fragen (vgl. Remane 1972): 1. Wie verlief die Stammesgeschichte des Organismenreiches im allgemeinen und der einzelnen Arten im besonderen? 2. Was sind die Ursachen der Evolution, d. h. welche Faktoren steuern die evolutiven Wandlungen der Organismen? Sofern es im Rahmen der Naturwissenschaften, der Biologie zumal, im Hinblick auf die Evolution heute noch Meinungsverschiedenheiten gibt, so beziehen sich diese primär auf die zweitgenannte Frage. Für den Historiker der Biologie (und natürlich nicht nur für ihn) gilt Darwins monumentales Opus "The Origin of Species" (1859) als jenes Werk, das die Evolutionstheorie als naturwissenschaftliche Theorie erstmals in einer Weise dertjffentlichkeit präsentierte, daß die entsprechende Wirkung nicht ausbleiben konnte. Merkwürdig genug, daß Darwin selbst in den frühen Auflagen seines Werkes den Begriff "Evolution" nicht gebrauchte, obwohl ihn der Philosoph Spencer, ein Landsmann und Zeitgenosse Darwins, schon Jahre vorher verwendet hatte (vgl. z. B. J. Huxley 1960). Es ist freilich auch unbestritten, daß dem Evolutionsgedanken schon vor Darwin Platz beige räumt worden war, wofür neben Lamarck mehrere, zum Teil schon in Vergessenheit geratene Forscher in ihren Arbeiten Zeugnis ablegen (vgl. C. I. 1). Während also die prinzipielle Richtigkeit der Evolutionstheorie, der Vorstellung einer genealogischen Verwandtschaft und einer Transformation der Lebewesen nicht in Zweifel gezogen werden kann, bestehen hinsichtlich verschiedener Erklärungen der Evolution nach wie vor Bedenken. Hat man heute offenbar längst jene Evolutionsvorstellungen überwunden, welche in nur einem einzigen Evolutionsfaktor, in einer einzigen Ursache für die Evolution eine Erklärung derselben intendieren (monistische Evolutionstheorien), wirft auch die zur Zeit scheinbar am besten untermauerte Evolutionstheorie, die sog. Synthetische Theorie, wissenschaftstheoretisch gesehen nicht unbedeutende Probleme auf, wenngleich sie gegenüber vielen älteren Evolutionstheorien im buchstäblichen Sinne eine pluralistische Theorie repräsentiert. Die Synthetische Theorie war jenen um die Mitte unseres Jahrhunderts besonders forcierten Bestrebungen entsprungen, die eine einheitliche, verschiedene Faktoren miteinander kombinierende Theorie der evolutiven Wandlung des Lebenden

1. Problemstellung und Begriffsbestimmung

19

zu induzieren suchten. Wir werden uns damit noch eingehender zu beschäftigen haben (vgl. C. H.). Die Synthetische Theorie spiegelt - und so viel sei schon hier angemerkt - die Vorstellung eines einseitigen Ursache-Wirkung-Zusammenhanges, eines auf Linearität basierenden Kausalitätskonzeptes. Im Klartext: Es wird im wesentlichen nur die "Richtung" von der Ursache zur Wirkung berücksichtigt, ja die Synthetische Theorie beruht definitionsgemäß auf der linearen Abfolge von Ursache(n) und Wirkung(en), wobei der Rückwirkung von Wirkungen auf ihre eigene(n) Ursache(n) nicht oder kaum Rechnung getragen wird. Einige der molekularbiologischen Grundsätze haben dieses in der Synthetischen Theorie dekretierte Kausalitätskonzept entsprechend beeinflußtl. Damit sollen nun schon die entscheidenden Kontroversen gegenwärtiger Biologie zum Thema "Evolutionstheorie und Kausalität" angedeutet worden sein. Die prinzipielle Kontroverse besteht also heute, um es nochmals hervorzuheben, in einer kausalen Erklärung der Evolution. Daß diese Streitfrage keine bloße Angelegenheit der Biologie bedeutet, liegt auf der Hand. Wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Untersuchungen sind in gleicher Weise heranzuziehen, womit der Umfang der Problematik einmal mehr unterstrichen wäre. 3. Kausalität Kausalität paraphrasiert zunächst simpel gesprochen den "Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung" (Eder 1963, p.25) und bedeutet in erster Linie einen theoretischen Term, einen Begriff der Denkökonomie (vgl. Wuketits i. Vorb.). Sie repräsentiert "ein Gedankenprinzip, das die notwendige objektive Beziehung zwischen zwei Erscheinungen er faßt, von denen die eine die Ursache und die zweite die Folge ist"2 (Skotnicky 1976, p.161). "Da zeigt sich nun sogleich", schreibt Riedl (1976, p. 92), "daß wir gar nicht wissen können, ob jenem Zusammenhang von Ursache Vor allem der sog. "Erste Hauptsatz der Molekularbiologie" (vgl. C. II. 3). Hier müßte man statt "Folge" wiederum "Wirkung" sagen. Zwischen den Begriffspaaren "Ursache - Wirkung" und "Grund - Folge" besteht ein Unterschied, auf den z. B. Wright (1974) hingewiesen hat: Ursache und Wirkung beziehen sich auf (empirische) Tatsachen, Grund und Folge hingegen auf Begriffe. Auf der einen Seite kommt also die Empirie zum Tragen, auf der anderen Seite haben wir es mit Logik zu tun. 1

2

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A. Grundsatzerörterungen

und Wirkung, den wir als kausal erleben, überhaupt eine reale Sache in der Natur entspricht". Und bei Hume kommen schon die grundsätzlichen Bedenken gegen die Kausalität zum Vorschein, wenn er meint: " ... these relations are nothing else but qua li ti es, by which the imagination is conveyed from one idea to another" (Hume 1739/40, vgl. 1972, p. 62).

Für Kant zählt Kausalität bekanntlich als ein A-priori der Vernunft und ist als solches in seiner Kategorientafel festgelegt. In Kants "Kritik der reinen Vernunft" liest man: "Das Schema der Ursache und der Kausalität eines Dinges überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt. Es besteht also in der Sukzession des Mannigfaltigen, insofern sie einer Regel unterworfen ist" (Kant 1787, vgl. 1966, p. 219).

Der Kausalitätsbegriff hat im Rahmen verschiedenster Forschungsrichtungen mutatis mutandis Kontroversen ausgelöst, und es gibt wohl kaum ein Gebiet vor allem der Naturwissenschaft, das nicht in irgendeiner Weise mit dem Kausalitätsbegriff konfrontiert wäre. Das Spektrum diesbezüglicher Diskussionen reicht tief in "Weltanschauungsfragen" hinein, bis zur Kontroverse "Determinismus versus Indeterminismus" und gipfelt im Problem der menschlichen Willensfreiheit. Der Biologe sieht sich - wie schon angedeutet - vor einem doppelten Zugang der Kausalitätsproblematik. M. Hartmann (1965) hat die Kausalität neben der Wechselwirkung und der Gesetzlichkeit zu den Hauptkategorien biologischer Erkenntnis schlechthin gestellt, wobei wir heute freilich sagen müssen, daß ein Zusammenhang zwischen diesen "Kategorien" evident ist, daß die eine stets die beiden anderen in gewissem Sinne mit einbegreift. Der zweifache Zugang zur Kausalitätsproblematik in der Biologie (unter anderen Gesichtspunkten ließen sich gewiß noch weitere Zugänge dazu finden) ist nicht zuletzt mit der evolutionären oder evolutionistischen Erkenntnistheorie eng verknüpft, die in neuerer Zeit besonders biologischen Reflexionen zum Erkenntnisproblem entsprungen ist und mögliche Strategien zu einer Lösung der Kausalitätsprobleme enthält. In diesem Rahmen können wir darauf nicht näher eingehen. Man orientiere sich dazu z. B. in den Arbeiten von Lorenz (1973), Oeser (1976, Bd. 2), Popper (1972), Riedl (1976, 1980), Vollmer (1975), Wuketits (1978) u. a. Wie auf dieser Basis die Kausalitätsproblematik seitens der Biologie approximiert werden kann, hat jüngst Riedl (1978/79) gezeigt. Wir beschäftigen uns damit an anderer Stelle (vgl. Wuketits i. Vorb.).

I. Problemstellung und Begriffsbestimmung

21

4. Kausalforschung und Naturforschung N. Hartmann (zit. nach M. Hartmann 1959) hat postuliert, jede Naturforschung müsse zugleich Kausalforschung sein. Schon eine oberflächliche Betrachtung der Methodologie gegenwärtiger Naturwissenschaft scheint zu bestätigen, daß dieser Forderung weitgehend Genüge geleistet wurde und wird. Wo dies nicht der Fall ist, wird die betreffende Disziplin nicht selten aus dem Kanon der Naturwissenschaften ausgeklammert, worauf wir weiter unten noch kurz zurückkommen werden. Die großen Erfolge neuzeitlicher Naturwissenschaft, insbesondere der Physik und Biologie, wären ohne Kausalforschung in der Tat wahrscheinlich nicht zu verzeichnen. Bei M. Hartmann (1959, p. 110) ist dazu folgendes nachzulesen: "Trotz der Einwendungen positivistischer Physiker und Philosophen gegen die allgemeine Geltung des Kausalprinzips auf Grund von Heisenbergs Unschärferelation ist das Kausalprinzip nach wie vor besonders auch in methodologischer Hinsicht die wichtigste Kategorie der modernen Naturwissenschafl:."

Im vorwissenschaftlichen Bereich, in der Alltagssprache, findet das Kausalprinzip seine Entsprechung in dem Idiom "alles muß seinen Grund haben", wobei die vorhin (Fußnote 2) erwähnte Unterscheidung zwischen Ursache und Grund noch nicht berücksichtigt wird. Was ist nun eigentlich das Kausalprinzip? "Es ist bestimmt durch die Notwendigkeit der inneren Verknüpfung, die geschlossen (kontinuierlich) ist", schreibt Diemer (1967, p.219), "und durch den eindeutigen Richtungssinn der Begründung, wobei dieser nicht unbedingt durch die zeitliche Folge bestimmt sein muß." Vom Kausalprinzip ist der Begriff der Kausalgesetzlichkeit oder des Kausalgesetzes zu trennen. Die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung läßt sich schon aus terminologischen Gründen einsehen. Spricht man davon, daß jedes Ereignis seine Ursache hat, so meint man damit in der Philosophie das Kausalitätsgesetz, wofür eben der Terminus "Kausalprinzip" in Anspruch genommen wird. Wo wir in dieser Arbeit im weiteren vom Kausalprinzip sprechen, so in diesem Sinne. In der Naturwissenschaft hingegen werden oft bestimmte Gesetze als Kausalgesetze bezeichnet, z. B. die Gesetze der klassischen Mechanik. Während in der Philosophie vom Kausalgesetz nur im Singular gesprochen werden kann (als vom Kausalprinzip), läßt sich das naturwissenschaftliche Kausalgesetz im Plural verwenden, da dabei ein Typenbegriff vorliegt (v gl. Stegmüller 1969, 1970).

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A. Grundsatzerörterungen

Versucht man z. B. in der Biologie eine kausale Erklärung der Evolution zu liefern, intendiert man damit nicht zuletzt auch das Aufstellen von "Evolutionsgesetzen", wobei es sich bei dieser Bestimmung der Evolutionsgesetzlichkeit (Bionomogenesis im Sinne von Rensch 1968) um die Bestimmung einer Kausalgesetzlichkeit, also die Konstituierung von Kausalgesetzen im obigen Wortsinn handelt. Die Evolutionsforschung als Kausalforschung bezieht sich hier primär auf jenen schon angedeuteten und noch zu diskutierenden Ursache-Wirkung-Zusammenhang in der Evolution der Organismen. Bringt man dabei einen einseitigen Kausalnexus zum Ausdruck, so hat man damit das Probleem auf eine zu kleine Bandbreite zugeschnitten und provoziert verschiedene "offene Probleme". Kein Wunder, daß sich entgegen der orthodoxen Evolutionsauffassung, die bei Darwin wurzelt, eine vitalistische Deutung des Lebendigen entwickelt hat. Der Vitalismus, in dem verschiedene Denker immer wieder - bis in unsere Tage - Zuflucht suchen, ist daher als Reaktion auf solcherart Evolutionsforschung mechanistischer Provenienz psychologisch verständlich zu machen; seine Annahmen erweisen sich im Rahmen moderner Biologie aber als gründlich falsch, seine Postulate als illegitim. Wir kommen auch darauf noch zurück (vgl. C. H.). Also: Naturforschung als Kausalforschung? Diese Frage ist zu bejahen; allerdings darf die Kausalforschung nicht auf einseitigen Prinzipien basieren und nicht auf der Auffassung einer Linearität von Ursache und Wirkung aufbauen 3 • Kausalforschung in der Evolutionslehre hat diesem Postulat in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Eine besondere Position in diesem Spannungsfeld zwischen mechanistischer und vitalistischer "Kausalforschung" kann der von V erworn (1912) vertretene Konditionismus oder Konditionalismus in Anspruch nehmen. Anstelle von Ursachen prätendiert diese Lehre nur Bedingungskonstellationen und kann damit auch als eine Art Substitut für die Kausalforschung angesehen werden. Dies vor allem dann, wenn man seine impliciten Versuche zur überwindung der einseitigen mechanistischen und vitalistischen Applikationen des Ursachenbegriffes berücksichtigt. In diesem Sinne macht auch Zimmermann (1953, 1968) dem Konditionismus große Konzessionen. 3 Wie in B. 11 noch dargestellt werden soll, hat sich die neuzeitliche Naturwissenschaft vor allem an der aristotelischen Wirkursache orientiert, wodurch die~c Eingleisigkeit deutlich wird.

I. Problemstellung und Begriffsbestimmung

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"Wenn wir so als Ursache nur eine Bedingungskonstellation anerkennen, ist auch in einer naturwissenschaftlich eingestellten Biologie für eine Umdichtung zu individuierten Ursachen (entweder vitalistisch als Psychoid, oder mechanistisch als Roboter) kein Platz mehr (Zimmermann 1968, p. 122). (Eine gewisse Ähnlichkeit damit zeigt auch der Ansatz von Kaspar i. Vorb.).

Inwieweit nun die Ursache(n) eines Ereignisses de facto als Bedingungskonstellation zu verstehen ist, wird noch weiter unten näher auszuführen sein (vgl. B. 1. 3). 5. Kausalanalyse und Strukturanalyse

Im Verlaufe der Geschichte der Biowissenschaften hat sich eine Trennung zwischen zwei Gebieten vollzogen, resultierend aus der scheinbaren Kluft zwischen Struktur und Funktion, die in einer Aufteilung der Biologie in Struktur- und Gesetzeswissenschaften manifest geworden ist und zugleich einer mehr oder weniger strengen Unterscheidung zwischen deskriptiver und experimenteller Biologie, zwischen morphologischen und physiologischen Disziplinen. Konnte sich - wie schon einleitend bemerkt - die Physiologie als Kausalforschung profilieren, scheint die kausale Betrachtungsweise in den morphologischen Disziplinen noch nicht Fuß gefaßt zu haben4 • Grund genug, der Morphologie mit Skepsis zu begegnen, oder zumindest Vorsicht bei ihrer Beurteilung als Naturwissenschaft walten zu lassen so ist jedenfalls die Einstellung vieler Vertreter experimenteller Disziplinen zu charakterisieren; jener Disziplinen, die der zeitgenössischen Biologie den Glanz verliehen haben, den sie nach außen hin aufzuweisen hat. So versuchte denn auch Hassenstein (1951) in einer Analyse der Morphologie Goethes darzulegen, daß der Morphologe nichts über Ursache und Wirkung aussagen könne, wonach freilich sein Verfahren von dem der physiologisch ausgerichteten Forscher zu trennen wäre. Auf der anderen Seite kann aber heute, wie Riedl (1975) demonstriert hat, eine kausale Morphologie entwickelt werden, und es ist zu bemerken, daß heute immer mehr Intentionen sich zu profilieren beginnen, die auf eine Stabilisierung kausaler Ansätze in der Morphologie hinauslaufen, so daß von einer kausalen Strukturforschung expressis verbis die Rede sein kann (vgl. Wuketits 1977b). 4 Allerdings hat schon Haeckel in den Kausalerklärungen das Ziel der Morphologie gesehen, d. h. also in Kausalerklärungen für die Strukturen der Organismen (vgl. Mason 1974).

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A. Grundsatzerörterungen

Für das Gesamtgebiet der Naturforschung gilt offenbar immer noch eine Zäsur zwischen Struktur- und Kausalanalyse, was mit einer Ambivalenz unserer Veranlagung, die Natur zu erfassen, korreliert sein mag. Der Mensch zeigt sowohl einen Hang zum Analysieren, zum "Zergliedern" der Erscheinungen, als auch eine Neigung zum Synthetisieren, zum Ganzheits- oder Strukturdenken, wobei dann folgende Antinomie signifikant ist: "Die Orientierung des analytisch diskursiv denkenden Menschen am Konkreten, am Element, am Detail, sein Bestreben, übergänge zu suchen, seine erklärte Beschränkung auf das eindeutig Wißbare .... Auf der anderen Seite die Tendenz des synthetisch ausgerichteten Charakters zum Ideel-Abstrakten, zur Gestalterfassung, zum Ganzen, d. h. zur Zusammenschau multipler Systeme, zur Wertung der Form- und Ereignisfolgen als Diskontinuum, ihrer Typik auf Kosten definitorisch scharfer Abgrenzung; die Neigung, Irrationales einzubeziehen mit der Konsequenz eines Geborgenheitsgefühls" (Vogel 1972, p. 153).

Ersteres hatte offenbar für den an der Kausalanalyse orientierten Forscher von vornherein Gültigkeit, während die zweitgenannte Tendenz bei jenen anzutreffen ist, die an der Strukturforschung orientiert sind. Gewiß sind diese beiden komplementären Aspekte der Erkenntnis der Natur im Menschen gepaart, doch zeigt sich in der Regel die eine der beiden Komponenten als dominant. Wohl bestünde die wissenschaftstheoretische Konklusion aus dieser Antinomie in unserer Verrechnung der Welt in einer Trennung der Struktur- von der Kausalanalyse, ließe sich dem nicht die Tatsache überordnen, daß die Natur apriori nicht in zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Seinsweisen zerlegt ist. Der Kausalanalyse läßt sich die Vermittlung von Kausalnotwendigkeiten eines Phänomens beiräumen, der Strukturanalyse die von Strukturnotwendigkeiten. Dem einen Weg liegt die Erforschung der Natur in kausal bedingter Naturnotwendigkeit zugrunde, dem anderen in strukturell bedingter Wesensnotwendigkeit (Hocevar 1974). Hingegen muß eine Synthese von Kausal- und Strukturforschung, von Gesetzes- und Strukturwissenschaften, von nomothetischen und idiographischen Methoden angestrebt werden oder zumindest als erstrebenswertes Ziel der Forschung angesehen werden können. Die Gesamtwirklichkeit zu erfassen und dabei beiden Seiten gerecht zu werden ist als Postulat für die Naturforschung geltend zu machen, wenngleich der Naturwissenschaft dieser doppelbödige Ansatz konzediert werden darf. Denn: Zunächst hat es den Anschein, daß sich die

II. Methodik

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beiden Antipoden wohl durchdringen, rational aber inkommensurabel sind (vgl. Sachsse 1968, Vogel 1972). So liegt der Weg einer Zusammenführung, einer Zusammenschau dort, wo wir gelernt haben, unsere Denkweisen bis zu ihrer Wurzel zurückzuverfolgen, d. h. dort, wo wir um unsere Veranlagungen zum dichotomen Denken, zur Tendenz, Trennungen durchzuführen - sei es zwischen Form und Funktion oder anderen Entitäten - wissen, und sie überwinden können, wodurch "übergreifenden" Aspekten Platz gemacht wird. Einen Weg dazu bietet die Systembetrachtung der Natur, insbesondere des Lebendigen (hierzu vgl. W uketits 1978).

H. Methodik 1. Der wissenschaflstheoretische Rahmen der Arbeit Vorliegende Arbeit rekurriert methodisch gesehen auf die Wissenschaftstheorie; ihr methodischer "Unterbau" ist als schlechthin wissenschaftstheoretisch zu apostrophieren. Natürlich können wir uns hier nicht mit verschiedenen, innerhalb der Wissenschaftstheorie selbst entstandenen Kontroversen beschäftigen, sondern wollen in der Folge zunächst nur zum Ausdruck bringen, inwieweit wir uns der Wissenschaftstheorie bedienen werden. Aus der Sicht des "externen Beobachters", als welcher der Wissenschaftstheoretiker ausgezeichnet werden kann (vgl. Oeser 1976, Bd. 1) vermag man die Entwicklung des Kausalitätsbegriffes im Rahmen der Evolutionstheorie in einer zweiten Rationalisierungsphase nachzuvollziehen. Das bedeutet die Sichtung der im Verlaufe der Geschichte ziemlich vielfältig gewordenen "Anwendungen" des Kausalitätsbegriffes resp. des Kausalprinzips in der Evolutionstheorie. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Wissenschafts geschichte, und zwar hier insbesondere die Geschichte der Biowissenschaften. Der wissenschaftstheoretische Rahmen einer Diskussion des Kausalitätsbegriffes in der Evolutionstheorie läßt sich zunächst in zwei großen Problemkomplexen angeben: (1) Die Entwicklung des Kausalitätsbegriffes. (2) Die Entwicklung der Evolutionstheorie. Es handelt sich also um zwei historische Problemkreise oder - wenn man so will - um die Entwicklung zweier Problemgruppen. Vom

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A. Grundsatzerörterungen

Gegenstand der Arbeit her gesehen sind beide miteinander in Verbindung zu bringen. Das Kausalitätskonzept im allgemeinsten Sinne des Wortes, das Desiderat einer kausalen Erklärung belebter Systeme und ihres historischen Werdens und Gewordenseins sind quasi Prämissen für die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie. Und umgekehrt führte der Wandel unserer Auffassungen über Evolution, wie erwähnt, auch zu entsprechenden Umkonstruktionen des Kausalprinzips. Es ist gerade das Studium der Organismen, welches eine Erweiterung des in den Naturwissenschaften seit Beginn der Neuzeit üblich gewordenen Kausalitätskonzeptes herbeigeführt bzw. nahe gelegt (vgl. C. IH.). Sofern die Wissenschaftstheorie mit der Evolutionsproblematik konfrontiert wird, ergeben sich aus dieser Auseinandersetzung naturgemäß für sie selbst entscheidende Konsequenzen. Die Analyse des Evolutionsgedankens aus der Sicht der Wissenschaftstheorie bedeutet gleichsam eine Rückwirkung auf wissenschaftstheoretische Reflexionen, eine Rückanwendung der Evolutionstheorie auf die Wissenschaftstheorie (vgl. Oeser 1974). Simpel gesprochen geht es dabei um die Bewältigung des Problems der Evolution wissenschaftlichen Wissens und damit um die Applikation diesbezüglich relevanter biologischer Begriffe und Denkweisen, also um die Anwendung der in der biologischen Evolutionstheorie etablierten Konzepte auf die Darstellung der Entwicklung der Wissenschaft und selbst metawissenschaftlicher Betrachtungsweisen wie sie in der Wissenschaftstheorie per definitionem gegeben sind. Dieser Regelkreis ist von vornherein ins Auge zu fassen, um die Ausrichtung dieser Arbeit beurteilen zu können, um zu sehen, daß damit keine bloß faktengeschichtlich dokumentierte, sondern auf die Verflechtung der Probleme miteinander ausgerichtete Analyse bezweckt ist. Die Vielschichtigkeit der Problematik des Evolutionsgedankens aus wissenschaftstheoretischer Sicht - insbesondere im Hinblick auf die darin verwurzelte Kausalitätsproblematik - liegt nicht zuletzt an der Evolution selbst, in die der Mensch als jene Species, die kraft ihrer Ratio diese Probleme zu durchdringen sucht, integriert ist und dabei ein Subjekt und ein Objekt zugleich darstellt. Es mag nicht unwesentlich sein, hier auf dieses evidente, ja geradezu triviale, aber immer brisante Phänomen explicite hinzuweisen. Oeser (1974, p.154) schreibt dazu: "Als hypothetisches Erklärungsprinzip stellt der Evolutionsgedanke ... ein notwendiges Postulat aller erfahrungswissenschafHicher Erkenntnis dar, die in allen ihren Disziplinen auf diese entwicklungsgeschichtliche Erklärung konvergiert, da diese die einzige ist, die uns das letzte, wahre Verständnis von den

H. Methodik

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Erscheinungen der Wirklichkeit vermitteln kann. Eine derartige vollständige Erkenntnis kann jedoch niemals erreicht werden, weil das reale Subjekt der Erfahrungswissenschaft, der Mensch selbst, nicht außerhalb jenes Entwicklungsprozesses steht, dessen Grenzen den Horizont seiner Erfahrung überschrei ten. "

Die Evolutionstheorie kann selbstverständlich als Erklärungsprinzip der Erfahrungswissenschaft par excellence zum Ausdruck gebracht werden. Es ist keineswegs eine Beschränkung des Evolutionsgedankens auf die Biologie gegeben, wenngleich die wesentlichen Impulse dazu von der Biologie des 19. Jahrhunderts gekommen sind. Letzteres mag denn auch die inhaltliche Einschränkung vorliegenden Buches rechtfertigen. In dem wir uns auf eine spezifische wissenschaftstheoretische Methode festlegen, gewinnt der Begriff der (rationalen) Rekonstruktion an Bedeutung. Ohne daß wir, wie gesagt, verschiedene Probleme der Wissenschaftstheorie selbst hier abhandeln, können wir als für diese Arbeit maßgebende Methode die Rekonstruktion hervorheben. Der wissenschaftstheoretische Rahmen der Untersuchung ist demnach in der Rekonstruktion des Kausalitätsbegriffes vor dem Hintergrund des Evolutionsgedankens gegeben. Mit anderen Worten: In der Rekonstruktion des der Evolutionstheorie inhärenten Kausalitätsdenkens. Da das Problem der Kausalität älter ist als die explicite vertretene Evolutionstheorie (diese geht auf das 19. Jahrhundert zurück, jenes reicht bis zu den Anfängen der europäischen Philosophie) muß sich diese Darstellung im wesentlichen zwar auf jene historischen Epochen beschränken, in denen von einer Evolution expressis verbis die Rede ist, muß aber auf der anderen Seite zeitlich einen weiteren Bogen umspannen. 2. Die rekonstruktive Vorgangsweise der Wissenschaftstheorie

Mit dem Begriff "Rekonstruktion" ist schon jenes Schlagwort gefallen, welches hier in methodischer Hinsicht leitend sein wird. Die Methode der Wissenschaftstheorie kann oberflächlich - ungeachtet der hier entstandenen Streitfragen - als eine rekonstruktive charakterisiert werden (vgl. bes. Oeser 1976 und Stegmüller 1973). Sie empfiehlt sich - wie schon an anderer Stelle ausgeführt (vgl. Wuketits 1978) - für die Bearbeitung wissenschaftstheoretischer Probleme der Biologie im allgemeinen und kann zugleich auf die Analyse biologischer Teildisziplinen und Theorien angewendet werden.

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A. Grundsatzerörterungen

Zunächst erhebt sich freilich noch die Frage, mit welchen Ansprüchen die Wissenschaftstheorie gegenüber den Einzelwissenschaften als metatheoretische Disziplin auftreten kann - eine Frage, die wir auch an dieser Stelle zumindest streifen müssen. Wissenschaftstheorie bedeutet eine Metatheorie einzelwissenschaftlicher Disziplinen (bzw. einzelwissenschaftlicher Erkenntnis) im Sinne der im englischen Sprachraum gebräuchlichen Bezeichnung "metascience of science" (vgl. Stegmüller 1973). Sie ist eine Theorie der Theorien und Theoriensysteme und in gewisser Hinsicht eine Untersuchung der "Logik der Forschung" (v gl. Popper 1959), also eine Untersuchung der Erkenntnisgewinnung in den empirischen Wissenschaften unter Rückgriff auf die Logik. Wird die Rekonstruktion als Methode der Wissenschaftstheorie ausgezeichnet, so läuft dies auf eine Vorwegnahme der Antwort auf folgende Frage hinaus: Beschreibt die Wissenschaftstheorie die Struktur faktisch vorliegender Theorien oder begründet sie Normen für die Konstruktion von solchen? Die Antwort darauf müßte unter besagter Prämisse lauten: Primär tut sie weder das eine noch das andere, primär ist die Wissenschaftstheorie weder rein deskriptiv noch rein normativ, sondern rekonstruktiv. Als Gegenstand der Wissenschaftstheorie kann ex definitione die faktisch vorhandene Wissenschaft angesehen werden, deren theoretische Erklärung eben durch die Wissenschaftstheorie zu liefern ist. Dies impliziert sehr wohl auch deskriptive und normative Elemente, doch kommt diesen keineswegs das Primat zu. "Daß in diese Rekonstruktion auch deskriptive Elemente eingehen müssen, ist selbstverständlich. Denn die Rekonstruktion der Wissenschaft hat die deskriptive Analyse ihrer Elemente zur Voraussetzung. Umgekehrt kann aber die Wissenschaftstheorie auch normativen Charakter annehmen, da die Rekonstruktion der Wissenschaft bestimmter Konstruktionsprinzipien bedarf, die aus der deskriptiven Analyse allein nicht zu gewinnen sind und somit über die bloße Deskription eines empirischen Faktums hinausgehen." (Oeser 1976, Bd. 1, p. 19; vgl. auch Stegmüller 1973).

Da sich der Gegenstandsbereich der Wissenschaftstheorie aus der Faktizität der Wissenschaft ergibt, kann sie den Einzelwissenschaften in keiner Weise vor- oder übergeordnet werden. Vielmehr hat sich die Wissenschaftstheorie mit den einzelnen Wissenschaften, ihren Hypothesen, Theorien, Aussagen etc. sukzessive entwickelt, hervorgegangen sowohl aus der Reflexion fachspezifischer Methodologien (in der Physik,

11. Methodik

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der Biologie usw.) als auch aus entsprechenden philosophischen Kontemplationen (Oeser 1976, Bd. 1). Die Rekonstruktion der der Wissenschaftsentwicklung zugrunde liegenden Logik auf der Basis historischer Erfahrung ist daher als Aufgabe der Wissenschaftstheorie sui generis zu definieren. Wissenschaftstheorie wird so zur Rekonstruktion der Geschichte der Wissenschaften, die anhand diverser Fallstudien aus verschiedenen Gebieten ausgearbeitet werden kann (vgl. Oeser 1979). übertragen auf die hier zur Diskussion stehende Thematik bedeutet dies zweierlei: (1) Die Rekonstruktion der Entwicklung des Evolutionsgedankens. (2) Die Rekonstruktion der Entwicklung des Kausalitätsbegriffes. Will man der eingangs erwähnten Zirkularität Rechnung tragen, so müssen beide Seiten entsprechend Berücksichtigung finden. Ziehen wir also die Konsequenz aus der hier der Wissenschaftstheorie konzedierten Methode, dann bedeutet dies für vorliegende Arbeit in methodischer Hinsicht die Rekonstruktion jener in der Geschichte liegenden Formationsprozesse spezifischer Ausprägungen des Kausalitätsbegriffes in der Evolutionstheorie. Die damit gegebene Rationalisierung kann nachträglich wieder ein Verdikt über die Bedeutung und Tragweite jeweiliger Operationalisierungen in den adäquaten Theorien evolutiver Knderung der Organismen herbeiführen. Letztendlich impliziert dies die potentielle Beurteilung gegenwärtiger Evolutionstheorien und damit gegebenenfalls den Nachweis logischer Mängel theoretischer Systeme über die Evolution, woraus auch Postulate für die Struktur einer Evolutionstheorie im allgemeinen ableitbar sind. Will man Kriterien für die Konsistenz der in der Geschichte liegenden Theorien über Evolution erarbeiten, so ist abermals auf die Rekonstruktion Bezug zu nehmen. Denn die Wissenschaftsgeschichte ist "jener Ort der Gerechtigkeit, an dem die objektive Entscheidung über die Wahrheit einer Theorie fällt" (Oeser 1976, Bd.3, p.142) - und tatsächlich gefallen ist, wofür die vielen aufgegebenen Theorien der Evolution der Lebewesen Zeugnis ablegen.

B. Zur Geschichte der Kausalitätsproblematik "Und deines Geistes höchster Feuerpflug Hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug." (Goethe)

Vorbemerkung Wir beginnen diesen historischen Rückblick auf die Kausalitätsproblematik mit einer kurzen Erörterung des aristotelischen Systems. Dies soll nicht heißen, daß man sich vor Aristoteles noch nicht mit dieser Problematik beschäftigt hat. Die Frage nach der Ursache bestimmter Erscheinungen in der Welt und der Welt schlechthin ist tief in der Geistesgeschichte verwurzelt. Sie ist vielfach ein zentrales Element der Philosophie gewesen. Platon (vgl. 1959, Bd. 5, p. 154) läßt Timaios die Worte sagen: " ... von dem Gewordenen aber behaupten wir ferner, daß es notwendig aus einer Ursache hervorging." Schon vor der Blütezeit der griechischen Philosophie hat man sich mit den Ursachen des Naturgeschehens eingehend befaßt und versucht, Erklärungen für dasselbe abzugeben. Beachtung verdient dabei die Erklärung des Naturgeschehens durch Schuld und Sühne, die von den Vorsokratikern und schon von den Babyioniern herangezogen worden war und sich in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes für "Ursache", at"eta, spiegelt, das soviel wie Schuld bedeutet. (Vgl. z. B. Mason 1974). Die philosophie geschichtliche Bedeutung des aristotelischen Systems für vorliegende Arbeit ist aber unbestritten, insbesondere angesichts der Beobachtungen und Gedanken des Aristoteles zur Entwicklung und Gestaltung lebendiger Systeme.

I. Die vier Ursachen des Aristoteles 1. Einige allgemeine Bemerkungen zur aristotelischen Naturbetrachtung

Die Naturforschung Aristoteles' ist in vieler Hinsicht über eineinhalb Jahrtausende für die abendländische Naturbetrachtung schlechthin richtungsweisend gewesen. Mit Recht wird heute Aristoteles oft als der eigentliche Begründer verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen gesehen, mögen sich viele seiner Ansätze auch längst als unhaltbar erwiesen haben.

I. Die vier Ursachen des Aristoteles

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Gegenüber der dualistischen Weltauffassung Platons lag für Aristoteles das die Welt ordnende "Wesen" in den Naturdingen, in der Welt selbst. So war denn auch seine Methode der Naturbetrachtung streng "diesseits gerichtet", auf die Beobachtung, die Empirie abzielend, dem Grundsatz folgend, man müsse der Beobachtung mehr Glauben schenken als dem l.6yo