Johann Karl Vietor (1861–1934): Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum 3515108378, 9783515108379

Johann Karl Vietor zählt zu den führenden Vertretern einer alternativen, reformistischen Kolonialpolitik, die sich seit

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German Pages 624 [626] Year 2014

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Table of contents :
VORWORT DES REIHENHERAUSGEBERS
VORWORT
INHALT
1 EINLEITUNG
INHALT UND ERKENNTNISINTERESSE
FORSCHUNGSSTAND
METHODISCHES VORGEHEN UND AUFBAU
QUELLENLAGE
2 FAMILIENHINTERGRUND UND ERSTE BERUFSJAHRE
(1861–1888)
ELTERNHAUS UND FAMILIÄRER HINTERGRUND
KINDHEIT, JUGEND UND AUSBILDUNG
ERSTE JAHRE IN AFRIKA ALS MITARBEITER DER FIRMA F. M. VIETOR SÖHNE
3 AUFBAU DES FIRMENNETZES BIS ZUM AUSBRUCH DES
ERSTEN WELTKRIEGES
ETABLIERUNG UND EXPANSION DER FIRMA J. K. VIETOR BIS ZUR JAHRHUNDERTWENDE
AUFNAHME VON PARTNERN UND AUSBAU DES FIRMENNETZES BIS 1914
BETEILIGUNG AN KAPITALUNTERNEHMEN, KARTELLEN UND PLANTAGENGESELLSCHAFTEN
4 KOLONIALPOLITISCHES ENGAGEMENT BIS ZUM AUSBRUCH DES ERSTEN WELTKRIEGES
EINDÄMMUNG DES SPIRITUOSENHANDELS IN WESTAFRIKA
WIRKEN IM KOLONIALRAT 1901 BIS 1906
VIETOR UND DIE KOLONIALDEBATTE IM REICHSTAG 1913/14
5 DAS HÖHERE ZIEL: CHRISTLICHES
SENDUNGSBEWUSSTSEIN UND TÄTIGER GLAUBE
LEITBILD DES CHRISTLICHEN UNTERNEHMERS
J. K. VIETOR UND DIE NORDDEUTSCHE MISSIONSGESELLSCHAFT BIS 1914
VIETOR ALS FÜHRENDER KOLONIALPOLITIKER DER CHRISTLICH–SOZIALEN PARTEI (CSP)
„WÜTENDER BODENREFORMER“
DER DEUTSCHE EVANGELISCHE VOLKSBUND UND DIE ÖFFENTLICHE MISSION DER KIRCHE
6 WELTKRIEG UND UNTERNEHMERISCHER
ÜBERLEBENSKAMPF
KRIEG UND UNTERNEHMERISCHE IMPROVISATIONEN
ZWISCHEN INNENPOLITISCHER KONTINUITÄT UND AUSSENPOLITISCHER FLEXIBILITÄT
7 POLITISCHE VERHÄRTUNG
UND WIRTSCHAFTLICHER RUIN
VOM PROGRESSIVEN SOZIALREFORMER ZUM VERDROSSENEN REAKTIONÄR
DER KAMPF UM DEN NMG BESITZ IN TOGO
NEUAUFBAU DES KOLONIALHANDELS UND UNTERGANG DER FIRMA
SCHLUSSBETRACHTUNG
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN UND TABELLEN
ANHANG
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Johann Karl Vietor (1861–1934): Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum
 3515108378, 9783515108379

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Bernhard Olpen

Johann Karl Vietor (1861–1934) Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum Geschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte 102

Bernhard Olpen Johann Karl Vietor (1861–1934)

beiträge zur europäischen überseegeschichte vormals: Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte

Im Auftrag der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte herausgegeben von Markus A. Denzel, Hermann Joseph Hiery und Eberhard Schmitt Band 102

Bernhard Olpen

Johann Karl Vietor (1861–1934) Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Johann Karl Vietor (1861–1934), Vietor Privatarchiv Hude Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10837-9 (Print) ISBN 978-3-515-10840-9 (E-Book)

Für meinen Vater

VORWORT DES REIHENHERAUSGEBERS Geschichtsschreibung ist immer wieder der Versuch, einer weitverbreiteten Tendenz nach einseitiger Schwarz-weiß-Kategorisierung die Realität des Beobachtbaren und Beobachteten entgegen zu halten. Licht und Schatten finden sich überall in der menschlichen Geschichte. Aber häufig stößt der Historiker bei genauerem Hinsehen eben auf das berühmte Sowohl als Auch, auf Mischformen, die beides enthalten – Licht und Schatten. Gerade im Bereich der Kolonialgeschichte sind Schwarzweiß-Zeichnungen nicht selten. Versuche, aus politischen und ökonomischen Erwägungen Ausbeutung und Unterdrückung klischeehaft wegzudisputieren stehen gegen andere, die Vergangenheit einseitig zu usurpieren, um von Verantwortlichkeiten für die Gegenwart abzulenken. Bernhard Olpen hat in der vorliegenden Untersuchung versucht, der Biographie von Johann Karl Vietor nachzuspüren. Vietor war einerseits deutscher Kolonialunternehmer, andererseits entstammte er einer pietistisch geprägten Familie, die christliche und humanitäre Prinzipien zu ihrem Leitbild erhob. Wie ging Vietor mit diesem ganz offensichtlichen Widerspruch um? Inwieweit konnte ein Unternehmen, ein koloniales zumal, christliche Leitsätze im Tagesgeschäft umsetzen? Wie Olpen nachweisen kann, wäre es auch hier falsch, aus der doppelten Abhängigkeit, in der sich afrikanische Angestellte und Arbeiter gegenüber einem deutschen Kolonialunternehmer befanden, von vornherein auf ein simples Ausbeutungsverhältnis zu schließen. Die Unterschiede in Vietors Unternehmenspolitik zu der anderer Kolonialfirmen werden deutlich, ebenso wie die Gemeinsamkeiten, aus denen auch Vietor nicht ausbrechen konnte oder wollte. Auffällig ist die rigorose Gegnerschaft des Bremers zum sogenannten Schnapshandel. In seinem Einsatz gegen den Alkoholismus war der konservative deutsche Kolonialunternehmer sogar bereit, Afrikanern demokratische Partizipation, ja ein plebiszitäres Endurteil zuzugestehen. Und im Einsatz für die Abschaffung von Körperstrafen in der Kolonie konnte der vielfach vernetzte Vietor zumindest Teilerfolge erzielen. Als einer der wenigen deutschen Kolonialunternehmer, die nach dem Ersten Weltkrieg wieder nach Afrika zurückkehren konnten, scheiterte er letztendlich doch – ökonomisch. Bayreuth, im Mai 2014

Hermann Hiery

Vorschläge zur Veröffentlichung in der Reihe werden jederzeit entgegengenommen. Interessenten wenden sich an Prof. Dr. Hermann J. Hiery Lehrstuhl für Neueste Geschichte Universität Bayreuth Universitätsstraße 30 95440 Bayreuth email: [email protected]

VORWORT Vorliegende Untersuchung wurde am 17.7.2013 von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation angenommen. Sie wurde entscheidend angeregt durch das von meinen Doktorvater, Prof. Dr. Hermann Hiery, im Sommersemester 2008 an der Universität Bayreuth durchgeführte Hauptseminar Deutsche Kolonialgeschichte. Prof. Dr. Hermann Hiery bin ich zudem für seine Begleitung während des Promotionsvorhabens sowie die Aufnahme des Bandes in die Reihe Beiträge zur europäischen Überseegeschichte zu besonderem Dank verpflichtet. Herrn Prof. Dr. Dr. Frieder Ludwig danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Herrn Dr. habil. Peter Sebald gilt ein herzlicher Dank für seine persönliche Einführung in das Nationalarchiv in Lome (Togo) sowie die Nutzung seiner digitalisierten Archivalien. Den Mitarbeitern am Lehrstuhl für Neueste Geschichte in Bayreuth, Dr. des. Marcus Mühlnickel und Dr. des. Marco Hedler, danke ich für Anregungen und Kritik sowie die Gegenlesung und Kommentierung eines Teils des Manuskriptes. Der Sekretärin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte in Bayreuth, Frau Gabi Krampf, gilt mein Dank für die zeitintensive Formatierung für den Buchdruck. Herrn Eckehard Meyer möchte ich herzlich danken für den Zugang zum Privatarchiv der Familie Vietor in Hude und die Überlassung des Bildmaterials. Zu danken habe ich außerdem sehr herzlich meinen Freunden Dr. Martin und Antje Stötzel, Dr. Klaus und Monika Eber, Carlo und Christiane Macrini, Hartmut und Brigitte Knorr, Lothar und Heike Krauss, Gotthard und Regina Lesch, Helmut und Silvia Schlicht und Eva Hermann, ohne deren persönliche und finanzielle Unterstützung diese Arbeit nicht hätte entstehen können. Meiner Frau und meinen Kindern gilt mein besonderer Dank für allen geleisteten Verzicht und alle Geduld. Bayreuth im April 2014

Bernhard Olpen

INHALT Vorwort des Reihenherausgebers Vorwort

7 9

1

Einleitung Inhalt und Erkenntnisinteresse Forschungsstand Methodisches Vorgehen und Aufbau Quellenlage

15 15 22 25 28

2

Familienhintergrund und erste Berufsjahre (1861–1888) Elternhaus und familiärer Hintergrund Die Bedeutung der Familie Vietor für das öffentliche und kirchliche Leben Bremens in der Mitte des 19.Jahrhunderts Die Bedeutung der Familie Vietor für die Neukonstituierung der Norddeutschen Missionsgesellschaft (NMG) Kindheit, Jugend und Ausbildung Erste Jahre in Afrika als Mitarbeiter der Firma F. M. Vietor Söhne

31 31

Aufbau des Firmennetzes bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Etablierung und Expansion der Firma J. K.Vietor bis zur Jahrhundertwende Festigung des Geschäftes bis Mitte der 1890er Jahre Stagnation und Rückschläge bis zur Jahrhundertwende Aufnahme von Partnern und Ausbau des Firmennetzes bis 1914 Beteiligung an Kapitalunternehmen, Kartellen und Plantagengesellschaften Beteiligung an der Südwestafrikanischen Schäfereigesellschaft Beteiligung am Diamantengeschäft in Südwestafrika Beteiligung an der Deutschen Tabakbaugesellschaft Kamerun (TBG) Beteiligung an Handelskartellen

75

3

4

Kolonialpolitisches Engagement bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Eindämmung des Spirituosenhandels in Westafrika Wirken im Kolonialrat 1901 bis 1906 Die Arbeiterfrage in den westafrikanischen Schutzgebieten Die Landfrage in Kamerun Die Landfrage in Togo und der Konflikt mit der DTG „Total verfehlte Eingeborenenpolitik“

31 42 59 64

75 75 91 106 130 130 133 137 140 145 145 174 174 197 225 244

12

Inhalt

Strukturelle Reformbemühungen und das Ende des Kolonialrats Vietor und die Kolonialdebatte im Reichstag 1913/14 Der Streit um die amtliche Arbeiteranwerbung in Kamerun 1913/14 Von der Kongoliga zur Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenschutz 5

Das höhere Ziel: Christliches Sendungsbewusstsein und tätiger Glaube Leitbild des christlichen Unternehmers J. K.Vietor und die Norddeutsche Missionsgesellschaft bis 1914 Die Mission als „Weltmacht“ Vietor und die Entwicklung der Missionsarbeit in Togo Vietor als führender Kolonialpolitiker der Christlich-Sozialen Partei (CSP) Die CSP als parteipolitische Erscheinung des sozialkonservativen Spektrums im Kaiserreich Sozialpolitisches Engagement in der CSP Vietor als führender Kolonialpolitiker der CSP „Wütender Bodenreformer“ Adolf Damaschkes Einfluß auf Vietors kolonial- und sozialpolitisches Denken Die Forderung nach einem Krieger- und Heimstättenrecht Der Deutsche Evangelische Volksbund und die öffentliche Mission der Kirche Gründung und Ziele des DEVB Praktische Arbeit und Entwicklung bis zum Ausscheiden 1926

276 290 290 316 325 325 337 337 343 355 355 369 378 386 386 399 409 409 420

6

Weltkrieg und unternehmerischer Überlebenskampf Krieg und unternehmerische Improvisationen Zwischen innenpolitischer Kontinuität und außenpolitischer Flexibilität

439 439 449

7

Politische Verhärtung und wirtschaftlicher Ruin Vom progressiven Sozialreformer zum verdrossenen Reaktionär Der Kampf um den NMG Besitz in Togo Neuaufbau des Kolonialhandels und Untergang der Firma Erfolgreiche Rückkehr nach Liberia und an die Goldküste Die Rolle der Reichsentschädigungen Weltwirtschaftskrise und Vergleichsverfahren

471 471 512 527 527 534 555

Schlussbetrachtung

565

Inhalt

8

Quellen- und Literaturverzeichnis Verzeichnis der Archivalien Interviews in Togo Veröffentlichungen, Reden und Manuskripte von J. K. Vietor Lexika und Nachschlagewerke Periodika Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur bis 1934 Verwendete Literatur

13 571 571 577 577 580 581 581 585

Abkürzungsverzeichnis

599

Personenregister

603

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

614

Anhang

615

Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können!1

1 EINLEITUNG INHALT UND ERKENNTNISINTERESSE In Johann Karl Vietor (1861–1934) begegnen wir dem wohl bedeutendsten Vertreter der im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert im Im- und Export führenden Bremer Familie Vietor.2 Die Familie, die eng mit dem Erweckungschristentum Bremens und der Neukonstituierung der Norddeutschen Missionsgesellschaft (NMG) in Bremen 1850/51 verbunden war, gehörte zu den hanseatischen Wirtschaftspionieren, die lange vor der kolonialen Besitzergreifung an der Westküste Afrikas Handel trieb und dadurch zu Wohlstand und Reichtum kam. Ohne die wirtschaftliche Tätigkeit der Familie Vietor sowie drei weiterer hanseatischer Handelshäuser im Küstengebiet des späteren Togos, wäre die Errichtung eines deutschen Protektorates 1884 kaum möglich gewesen.3 Nur wenige Wochen nach Unterzeichnung des Schutzvertrages vom 5.7.1884 traf J. K. Vietor als vietorscher Handelsagent im Togogebiet ein, blieb bis 1893 fast ununterbrochen in der neuen deutschen Kolonie und hielt durch mehrere ausgedehnte Inspektionsreisen bis zum Ersten Weltkrieg den unmittelbaren Bezug zu Kolonie und Niederlassungen aufrecht. Die Entwicklung dieses kleinsten deutschen Schutzgebietes in Afrika ist daher eng mit seinem Namen und Wirken verbunden. Nach Gründung einer eigenen Handelsfirma 1888, dehnte sich seine Firmengruppe bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf weite Teile Westafrikas aus und konnte eine führende Rolle unter den selbständigen Kaufmannshäusern erringen. Als einer ihrer wichtigsten Wortführer war er ein Vorkämpfer für den kolonialen Freihandel und stand in schroffer Fronthaltung zu monopolistischen Wirtschaftsstrukturen, die sich seit den 1890er Jahren insbesondere in Kamerun und Südwestafrika in Form kapitalstarker Konzessionsgesellschaften breitmachten. Als Mann im Hintergrund, der über vielfältige Informanten und Netzwerke verfügte, spielte er als Zubringer detaillierter „vor Ort Berichte“ eine nicht unwesentliche Rolle in den öffentlichen Diskussionen über die Kolonial1 2 3

Johann Buddenbrook an seinen Sohn Thomas, in: Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt46 1999, S. 174. In der Familie Vietor wird Johann Karl Vietor meist I. K. Vietor genannt, vorliegende Arbeit verwendet abweichend davon die Abkürzung J. K. Vietor. Vgl. Sebald, Peter: Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ auf der Grundlage amtlicher Quellen (Studien über Asien, Afrika und Lateinamerika, Band 29), Berlin (Ost) 1988, S. 39f.

16

1 Einleitung

skandale und in den entsprechenden Reichstagsdebatten soweit sie Kamerun oder Togo betrafen. Sowohl bei der ersten Protestwelle gegen Missstände bei der Arbeiter-Anwerbung in Kamerun um die Jahrhundertwende, als auch bei der Koalition gegen die Politik Gouverneur von Puttkamers war Vietors Beitrag von Bedeutung, ebenso bei der letzten großen Kolonialdebatte vor dem Krieg im Frühjahr 1914. Während seine Rolle in diesen Prozessen bereits beschrieben wurde,4 blieben seine Strategie hinter den Kulissen und seine Auseinandersetzungen mit den eigenen informellen Netzwerken bislang weitgehend unberücksichtigt. Immerhin liegt mit Norbert Friedrichs Arbeit über den christlich-sozialen Politiker und Reichstagsabgeordneten Reinhard Mumm inzwischen eine Untersuchung vor, die zumindest einen ersten Einblick in die politischen Querverbindungen Vietors zum Reichstag ab 1912 bieten.5 J. K. Vietor wird in der Forschungsliteratur als Vertreter des kolonialen Freihandels beschrieben und als Protagonist einer alternativen Kolonialpolitik, die insbesondere die wirtschaftliche Eigenständigkeit und Leistungsfähigkeit der indigenen Bevölkerung forderte. Wieweit er damit als Vertreter des Handels in erster Linie eigene wirtschaftliche Vorteile verfolgte und sich aus rein ökonomischen Gründen für marktfähige, kaufkräftige Kunden in Afrika einsetzte und wieweit sein Handeln auf christlich-humanitäre Motive zurückzuführen ist, bleibt dabei umstritten. Ähnlich unterschiedlich fallen die Bewertungen seiner Rolle als führender Abolutionist in Fragen des Alkoholhandels in Westafrika aus. Während konkurrierende Handelsfirmen wie das Hamburger Haus C. Woermann einen Großteil ihres Handelsgewinnes aus dem schwunghaften Alkoholhandel bezogen, verzichtete sowohl das Vietorsche Stammhaus Friedrich Martin Vietor Söhne (F. M. Vietor Söhne) wie auch J. K. Vietors eigene Firmengruppe auf diese Erwerbsform. Bereits seit Ende der 1890er Jahre und vollends nach dem Tod Franz Michael Zahns 1900, des langjährigen Missionsinspektors der Norddeutschen Missionsgesellschaft, der in den 1880er Jahren wegen des Alkoholhandels einen aufsehenerregenden, öffentlichen Disput mit dem Reichstagsabgeordneten Adolph Woermann geführt hatte,6 rückte J. K. Vietor zu einem führenden Vertreter der Antialkoholbewegung im Kontext des Kolonialhandels auf. Er gehörte zu jenen Kreisen, die zumindest auf eine deutliche Erhöhung des Importzolles drängten, da ein völliges Verbot des Alkoholhandels in 4

5 6

Winkler, Hella: Das Kameruner Proletariat 1906–1914, in: Stoecker, Helmuth (Hrsg.): Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft/1 (Schriftenreihe des Instituts für allgemeine Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin; 5), Berlin (Ost) 1960, S. 243–286; Hausen, Karin: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 6), Zürich [u.a.] 1970; S. 285–290; Gründer, Horst: Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit (1884–1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), München 1982, S. 141–153. Friedrich, Norbert: „Die christlich-soziale Fahne empor!“. Reinhard Mumm und die christlichsoziale Bewegung (Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte; 14), Stuttgart 1997. Vgl. dazu Zahn, Michael: Der westafrikanische Branntweinhandel: Erwiderung auf die Offene Antwort des Herrn Reichstagsabgeordneten A. Woermann, Gütersloh 1886.

Inhalt und Erkenntnisinteresse

17

Westafrika nicht zu erreichen war. Dieses Ziel wurde zumindest partiell durch die Brüsseler Antisklavereikonferenz 1890 und ihre Folgekonferenzen schrittweise erreicht. 1901 wurde er in den Kolonialrat berufen, in dem er von Anfang an eine Minderheitenposition einnahm, die eine grundlegende Korrektur der vorherrschenden Kolonialpolitik forderte. Welche Motive bei seiner Berufung ausschlaggebend waren, blieben bislang unberücksichtigt und drängen zu der Frage, ob nicht gerade seine alternativen kolonialpolitischen Vorstellungen ein Hauptargument für Kolonialdirektor Oskar Stuebel darstellten. Fest steht, dass die sogenannte Wende in der deutschen Kolonialpolitik unter Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg 1906/07 von einer längeren „Wendezeit“ vorbereitet wurde,7 die als solche noch einer eingehenden Untersuchung entgegensieht. Die Zeit Oskar Stuebels, der zwischen 1900 und 1905 die Kolonialabteilung leitete, weist bereits zahlreiche Ansätze zu einer Reform der Kolonialpolitik auf, die jedoch weitgehend steckenblieben. Vietor zeichnete sich in dieser Zeit als einer der vehementesten Gegner der Konzessionspolitik von Stuebels Vorgänger von Buchka aus, der 1898/99 zwei weitreichende Landkonzessionen in Kamerun vergeben hatte, die jeweils ein Gebiet betrafen, das etwa der Größe des Bundeslandes Bayern entsprach und damit zusammen etwa ein Viertel der damaligen Gesamtfläche Kameruns ausmachten. Vietor war im Verein mit der NMG auch hauptverantwortlich für die Auseinandersetzungen zwischen dem Gouvernement von Togo und der Deutschen Togogesellschaft (DTG) wegen deren umfangreichen, aber unter zweifelhaften Bedingungen zustande gekommenen Landerwerbungen. Eine breit angelegte publizistische Kampagne begleitete seine Bemühungen im Kolonialrat, in dem sich die Fronten freilich mehr und mehr verhärteten und zu einem immer deutlicher spürbaren Patt der Kräfte führten, zwischen denen nicht zuletzt Stuebel als Kolonialdirektor zerrieben wurde. Vietor dagegen avancierte rasch zu einer der wichtigsten Personen der nicht einflusslosen und, je länger je mehr, von der öffentlichen Meinung getragenen Minderheit im Kolonialrat. Die Abschaffung dieses ursprünglich als „Expertenkreis“ gedachten Gremiums, das faktisch eher einer Lobbyistenvereinigung glich, war daher unter Dernburg nur eine folgerichtige Entscheidung.8 Vietor wurde dadurch eine wichtige Bühne genommen, um seine kolonialpolitischen Vorstellungen öffentlich einzubringen, was jedoch durch seine breitgefächerte Vertretung in Vorständen und Aufsichtsräten einflussreicher Unternehmen und Institutionen kompensiert wurde. So brachten ihm etwa seine Mitarbeit im Hauptvorstand der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG), sein Aufsichtsratsmandat beim Norddeutschen Lloyd, sein Sitz in der Bremer Bürgerschaft sowie seine Stellung in der Bremer Handelskammer, deren Präses er 1909 war, umfangreiche, persönliche Kontakte zu Spitzenpolitkern, Wirtschaftslobbyisten und führenden Vertretern der Kolonialbewegung ein, die einen wichtigen Teil seines Einflussradiuses deutlich machen. 7 8

Otto Diehn: Kaufmannschaft und deutsche Eingeborenenpolitik in Togo und Kamerun von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Bremer Afrikahauses J. K. Vietor., Phil. Diss., Hamburg 1956, S. 113. Zum Kolonialrat vgl. Pogge Strandmann, Hartmut von: Imperialismus vom Grünen Tisch. Deutsche Kolonialpolitik zwischen wirtschaftlicher Ausbeutung und „zivilisatorischen“ Bemühungen (Studien zur Kolonialgeschichte; 1), Berlin 2009.

18

1 Einleitung

Diese vielfältigen Verflechtungen und Kontaktflächen gilt es in einer Gesamtdarstellung nachzuzeichnen und dabei strukturelle gesellschaftliche Faktoren transparent zu machen, die eine kollektive Wirkung entfalteten. So ist etwa J. K. Vietors Engagement in der Bodenreformbewegung um Adolf Damaschke bislang nicht beachtet worden, obwohl die Bewegung, die sich an die Gedanken Henry Georges anlehnte, dessen Arbeiten seit den 1880er Jahren in Deutschland rezipiert wurden, im bürgerlichen Lager mehr und mehr Anhänger gewinnen konnte.9 Wesentliche Impulse für das bürgerlich-konservative Lager kamen auch von Adolph Wagner,10 der als Parteigänger des Hofpredigers Adolf Stoecker einem Staatssozialismus anhing. Für die Kolonialpolitik hatten die Ideen Damaschkes insofern unmittelbare Bedeutung, als er Alfred Tirpitz und führende Offiziere der Marine für seine Gedanken gewinnen konnte, was zur Folge hatte, dass die Bodenpolitik des von der Reichsmarine verwalteten Pachtgebietes Kiautschou nach den Ideen Henrys und Damaschkes organisiert wurde. Das gab Damaschke die Gelegenheit, die Konzessionspolitik von Buchkas dem Entwurf der Reichsmarine entgegenzustellen und ihn unter Druck zu bringen.11 Vietors vehemente Agitation gegen die Konzessionspolitik muss stärker aus diesem Blickwinkel wahrgenommen werden, da er für sein kolonial- und sozialpolitisches Verständnis grundlegend ist. Wie Vietors Engagement bei der Bodenreformbewegung ist auch seine Rolle im Deutsch-Evangelischen Volksbund (DEVB) bislang so gut wie gar nicht wahrgenommen worden.12 Als der Volksbund auf Betreiben Heinrich Stuhrmanns im Juli 1911 gegründet wurde, trug man Vietor den Vorsitz an. Die neue Organisation machte sich den Ruf Adolf Stoeckers nach der „öffentlichen Mission“ der Kirche zu eigen und zielte auf Schaffung möglichst vieler öffentlicher Foren zur Propagierung des christlichen 9

10

11

12

Zu den wichtigen Werken, die bereits in den 1880er Jahren in deutscher Sprache vorlagen gehören: George, Henry: Fortschritt und Armuth. Eine Untersuchung über die Ursache der industriellen Krisen und der Zunahme der Armuth bei zunehmenden Reichthum, Berlin 1881. Das Werk wurde allein bis 1920 sechsmal aufgelegt; ders.: Sociale Probleme, Berlin 1885; ders: Schutz oder Freihandel. Untersuchung der Zollfrage mit besonderer Rücksicht auf die Interessen der Arbeit, Berlin 1887. Über Henry George vgl.: Schratz, Sabine: Das Gift des alten Europa und die Arbeiter der Neuen Welt. Zum amerikanischen Hintergrund der Enzyklika Rerum novarum (1891), Paderborn u.a. 2001, S. 35–47; Onken, Werner: Henry George – ein Sozialreformer des Gedankens und der Tat, in: Fragen der Freiheit; 245 (1997), S. 3–18. Zu Adolph Wagner vgl. Schefold, Bertram, Häuser/Karl, Grüske/Karl-Dieter: Einleitung zu Adolph Wagners „Grundlegungen“. Adolph Wagner – Leben und Werk. Wagners „Grundlegung“ im Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Sozialismus, Düsseldorf 1991; Hoppe, Katharina: Eigentum, Erbrecht und Vertragsrecht – die Reformvorstellungen des Nationalökonomen Adolph Wagner (1835–1917) (Berliner Juristische Universitätsschriften: Reihe Grundlagen des Rechts; 26), Berlin 2003, hier v.a. S. 39–252. Damaschke, Adolf: Kamerun oder Kiautschou? Eine Entscheidung über die Zukunft der deutschen Kolonialpolitik (Soziale Streitfragen; 8), Berlin [1900]. Zur Entwicklung Kiatschous in deutscher Zeit vgl. Biener, Annette S.: Das deutsche Pachtgebiet Tsingtau in Schantung, 1897– 1914. Institutioneller Wandel durch Kolonialisierung (Studien und Quellen zur Geschichte Schantungs und Tsingtaus; 6), Bonn 2001. Zum DEVB liegt bislang nur eine knappe, einführende Darstellung vor, Siekmann, Birgit: Der Deutsche Evangelische Volksbund für öffentliche Mission des Christentums, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 2007, S. 171–192.

Inhalt und Erkenntnisinteresse

19

Glaubens und christlicher Werte. Im Vordergrund stand das Ziel der Gründung und erfolgreichen Führung einer oder mehrerer großer christlicher Tageszeitungen, um mit ihrer Hilfe eindeutig christliche Positionen zu tagespolitischen Themen in den öffentlichen Meinungsbildungsprozess einzubringen. Bis Ende der 1920er Jahre konnte der DEVB über 100.000 Mitglieder gewinnen und nahm zeitweise direkten Einfluss auf Kandidatenlisten für Landtags- oder Reichstagswahlen, insbesondere der DNVP. Vietor war eingewoben in ein mehr oder weniger miteinander verbundenes christliches Netzwerk, das sowohl den DEVB, die Christlich-Soziale Partei (CSP), die Freie Kirchlich-Soziale Konferenz (FKSK), die christlich-nationale Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung sowie die Innere und Äußere Mission umspannte, aber auch Berührungen zum zerklüfteten Milieu der Gemeinschaftsbewegung und der die evangelischen Freikirchen einbindenden Evangelischen Allianz aufwies. Vorliegende Untersuchung will Vietors Lebensweg vor dem Hintergrund dieses sozialen Milieus neu bewerten und nachvollziehen. Auf das erweckte positiv-christliche Umfeld seines Elternhauses wurde dabei in der Forschung bereits hingewiesen.13 Sein Vater Cornelius Rudolf Vietor gehörte zu den führenden erweckten, positiven Pastoren Bremens, deren religiöses Anliegen durch eine ausgedehnte caritative Tätigkeit begleitet wurde. Als Freund Wicherns hat er mit seinen beiden Brüdern Karl und Friedrich Martin, den Geschäftsführern des Vietor’schen Stammhauses F. M. Vietor Söhne, maßgeblichen Einfluss auf das gesellschaftliche und religiöse Leben Bremens nach der Revolution von 1848 genommen. An der Auseinandersetzung um die gegensätzlichen, politisch-religiösen Standpunkte, die in dieser Zeit in Bremen mit scharfer Klinge geführt wurden, waren mehrere engste Familienangehörige als Abgeordnete der Bremer Bürgerschaft direkt beteiligt. Cornelius Rudolf übernahm, nach der Suspendierung Rudolph Dulons, dem Führer der demokratischen Linken und der bis an die Grenze zur Häresie gehenden freigeistigen Bewegung innerhalb der Evangelischen Kirche, 1855 dessen Pfarramt einer der Hauptkirchen Bremens, „Unser lieben Frauen“, und bekämpfte liberale und unorthodoxe Strömungen unermüdlich in Schriften und Veröffentlichungen.14 Von besonderem Interesse für die Bewertung des Lebens J. K. Vietors ist die Entwicklung des Arbeitsethos seiner Elterngeneration. Für sie war klar, dass das kaufmännische Geschäft kein Selbstzweck sein durfte, sondern sich in den Dienst der Verbreitung des Evangeliums zu stellen hatte. Zahlreiche bislang nicht beachtete Schriften und Vorträge Vietors, etwa zum Thema der Ethik im Erwerbsleben oder der Ethik in der 13

14

Vgl. dazu v.a. die Arbeiten Werner Ustorfs: Ustorf, Werner: Norddeutsche Mission und Wirklichkeitsbewältigung. Bremen, Afrika und der „Sclavenfreikauf“, in: Ustorf, Werner (Hrsg.): Mission im Kontext. Beiträge zur Sozialgeschichte der Norddeutschen Missionsgesellschaft im 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen aus dem Übersee-Museum Bremen, Reihe F: Bremer Afrikaarchiv; 23), Bremen 1986, S. 121–236; Ustorf, Werner: Die Missionsmethode Franz Michael Zahns und der Aufbau kirchlicher Strukturen in Westafrika (1862–1900) Eine missionsgeschichtliche Untersuchung (Erlanger Monographien aus Mission und Ökumene; 7), Erlangen 1989, S. 31–50. Zu den religiös-politischen Auseinandersetzungen in Bremen während der Revolutionszeit von 1848/49 vgl. Wenig, Otto: Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen. Vorgeschichte. Geschichte und theologischer Gehalt der Bremer Kirchenstreitigkeiten von 1830 bis 1852. Sonderveröffentlichung der Kommission für Bremische Kirchengeschichte, Bonn 1966.

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1 Einleitung

Kolonialpolitik, geben Aufschluss über die Nachhaltigkeit dieser Sozialisation. Bislang wurden in der neueren Forschung die entsprechenden Lebenskonsequenzen überwiegend in der Unterstützung der Äußeren Mission, respektive der NMG, verortet. Tatsächlich waren seine praktischen Vernetzungen mit der Szene des bekenntnistreuen, orthodoxen Protestantismus aber viel weitreichender, umfassender und bestimmender. Innerhalb dieses Bezugsrahmens, der traditionell eher apolitisch war, findet man Vietor bei der kleinen, politisch aktiven Gruppe der Christen konservativ-sozialer Prägung, die soziale Veränderungen ohne Systemwechsel erstrebten. Ein Teil von ihnen sammelte sich in der 1896 von Adolf Stoecker neu als eigenständige Partei gegründeten CSP. Nachdem das politische Anliegen der Christlich-Sozialen von Wilhelm II. als unsinnig und überflüssig abgetan worden war, blieb für sie zunächst nur eine äußerst schmale Basis für einen Neustart, umso mehr als sich Stoecker gleich am Anfang von Friedrich Naumann und den sogenannten „jüngeren“ Christlich-Sozialen trennte. Nach der Jahrhundertwende gelang jedoch der Anschluss an die aufstrebende christlich-nationale Gewerkschaftsbewegung, was eine potentielle Ausweitung der Parteibasis möglich machte. Das dokumentierte sich in immerhin drei Reichstagssitzen zwischen 1907–1909 und dann wieder ab 1912. Vietor, der 1909 in den Vorstand der Partei gewählt wurde und von da an eine tragende Rolle in der Partei übernahm, förderte die christlichen Gewerkschaftsbemühungen nach Kräften und konnte dafür teilweise seine wirtschaftlichen Kontakte in Industrie und Handel nutzbar machen. Seine kolonialpolitischen Vorstellungen konnte er umfänglich in die Partei einbringen, die von Reinhard Mumm ab 1912 im Reichstag vertreten wurden.15 Für seine kolonialpolitische Betätigung blieb für ihn nach dem Ende des Kolonialrats zunächst jedoch vor allem der von ihm 1902 mitgegründete Verein Westafrikanischer Kaufleute (VWK) von größter Bedeutung. Der VWK konnte zumindest für das Handelsgebiet Westafrika zeitweise weitgehend die Funktion des ehemaligen Kolonialrats übernehmen. Auf den politischen Druck gegenüber dem Kongofreistaat in Fragen des Freihandels und der humanen Eingeborenenbehandlung konnte Vietor über die 1910 von ihm mitgegründete deutsche Sektion der Kongoliga, deren erster Vorsitzender er zunächst war, Einfluss gewinnen. Nach deren Auflösung Ende 1913 hatte er wesentlichen Anteil an der Fortführung als „Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenschutz“ (DGES), die das Problem der Entvölkerung ganzer Landstriche besonders in Kamerun und Deutsch-Ostafrika infolge von Zwangsarbeit und grassierenden Krankheiten ins öffentliche Bewusstsein rief. Seine aufrüttelnden Zahlen und Daten, die er in die öffentliche Debatte warf, blieben dabei in der zeitgenössischen Reaktion nicht unumstritten, ebenso wenig wie seine Darstellungen über das Ausmaß der Abwanderung breiter Schichten Südwest-Togos in die Goldküstenkolonie. Sie führten unter anderem aber dazu, dass 15

Zur CSP vgl. Fricke, Dieter: Christlichsoziale Partei 1878–1918, in: Fricke, Dieter (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland, 1789–1945. Alldeutscher Verband – Deutsche Liga für Menschenrechte, Köln 1983–1986, S. 440–454.; Buchheim, Karl: Stoecker und die Christlich-Sozialen, in: Buchheim, Karl (Hrsg.): Geschichte der christlichen Parteien in Deutschland, München 1953, S. 239–295.

Inhalt und Erkenntnisinteresse

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seine Äußerungen in der kolonialpolitischen Agitation Englands am Ende des Ersten Weltkrieges aufgegriffen und als Beweis für Deutschlands Unfähigkeit, Kolonien zu verwalten, angeführt wurden.16 Dabei hatte Vietor nach Antritt Bernhard Dernburgs als stellvertretender Kolonialdirektor und ab 1907 als Kolonialstaatssekretär seine Meinung zur deutschen Kolonialpolitik grundlegend geändert und beurteilte sie bis kurz vor dem Krieg als positiv.17 Erst nach Veröffentlichung seiner Monographie über die Entwicklung und den aktuellen Stand der deutschen Schutzgebiete 1913, revidierte er diese positive Bewertung im Zusammenhang mit der erneuten Auseinandersetzung um die Frage der amtlichen Arbeiteranwerbung in Kamerun und dem Bekanntwerden besorgniserregender Entvölkerungstendenzen. Für eine neue Agitation gegen Fehler in der deutschen Kolonialpolitik verblieb ihm damit vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur eine kurze Zeitspanne, die er aber als führender Kolonialexperte der CSP mit großer Energie nutzte und einen spürbaren politischen Einfluss auf den Reichstag nehmen konnte. Eine chronologische Gesamtdarstellung seines Lebens gibt auch den Zugang frei, die Schwelle des Ersten Weltkrieges zu überschreiten und nach der Situation der Kolonialkaufleute während und nach dem Krieg zu fragen. Ausführliche Darstellungen dazu fehlen in der neueren Forschung, nicht zuletzt wegen der enormen Probleme, vor die sich der koloniale Handel Deutschlands nach dem Verlust der Kolonien und der vorübergehenden Aussperrung aus den kolonialen Gebieten der Kriegsgegner gestellt sah. J. K. Vietor gehört zu den Handelshäusern, die trotz der vielfältigen Handelsbeschränkungen der Siegermächte früh die Rückkehr auf den afrikanischen Markt schafften, wenn auch auf keiner ausreichend soliden Grundlage, wie die Weltwirtschaftskrise, die das Ende des Unternehmens markiert, zeigte. Hatte seine Firmengruppe unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Höhepunkt wirtschaftlicher Expansion erreicht, verlor er, wie die anderen deutschen Unternehmen, mit dem Verlust der Schutzgebiete und der Liquidation des Eigentums in Fremdkolonien seine gesamte kolonialwirtschaftliche Grundlage. Zu den Bedingungen des Neuanfangs gehörte ganz wesentlich der Aspekt der Entschädigungen, die nach den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages in die Verantwortung der deutschen Regierung gestellt waren. An Vietors Beispiel lassen sich die grundlegenden Rahmenbedingungen dieses Komplexes aufzeigen und geben einen exemplarischen Blick auf die gesamte Lage des kolonialen Handels nach 1918 und wieder nach 1926, dem Jahr des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund, der nun deutschen Firmen auch den Zutritt in französische Mandatsgebiete ermöglichte. Die unzureichende finanzielle Ausstattung führte beim Neubeginn zu einer verhängnisvollen und übermäßigen Abhängigkeit von Fremdkapital, die schließlich zu einem der wesentlichen Gründe für den Zusammenbruch der Firma Vietor wurde. Vietors Lebensweg nach dem Krieg bietet auch einen Blick in die schwierige Lage der deutschen protestantischen Missionen in der Zwischenkriegszeit. Die 16 17

Die wirkmächtige Streitschrift Lewins vom August 1918 beginnt mit einem Vietorzitat, vgl. Lewin, Evans: Deutsche Kolonisatoren in Afrika. Die Kolonisierung mit der Peitsche. Mit einem offenen Brief des Bischofs von Zanzibar, Frank Weston, Zürich 1918. Vietor, J. K.: Geschichtliche und kulturelle Entwicklung unserer Schutzgebiete, Bremen 1913, S. 94f.

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restriktiven politischen Rahmenbedingungen der Siegermächte erlaubten lange Zeit keine Rückkehr in die alten Arbeitsgebiete, was in der Folge einen immer stärker werdenden Druck auf sie ausübte, im Falle Togos ihre Arbeiten an französische oder englische Missionsgesellschaften abzutreten. Entsprechende Verhandlungen belasteten die internationalen Beziehungen der NMG aufs Schwerste und boten einen idealen Nährboden für Misstrauen und Missverständnisse. Sie führten schließlich, nach 30-jähriger Mitgliedschaft, zu einem Ausscheiden Vietors aus dem Missionsvorstand, das von Bitterkeit und Ressentiments gegen die ausländischen Partner geprägt war. Die verkrampften Beziehungen auf dem Missionssektor weisen auch auf die gesamte politische und mentale Entwicklung der deutschen Gesellschaft in der Weimarer Republik hin. An J. K. Vietors Leben kann man exemplarisch diese mentale und politische Verhärtung nachzeichnen, die sich in weiten Teilen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten nach 1918 einstellte. Gehörte Vietor bis 1914 zur zwar systemimmanenten doch zugleich progressiven Gruppe des konservativ-christlichen Spektrums, driftete er nach dem Krieg ins deutschnationale Fahrwasser ab und stand nun mit umgekehrten Vorzeichen in Oppositionshaltung zum politischen System. FORSCHUNGSSTAND Angesichts der Bedeutung, die das Haus Vietor und speziell J. K. Vietor für die Geschichte des deutschen Kolonialismus und des deutschen Kolonialhandels hat, überrascht es zunächst, dass bislang keine quellenkritische Gesamtdarstellung vorliegt. Die knappe 2012 erschienene Arbeit Wiebke Hoffmanns über das Leben J. K. Vietors bietet zwar einen guten ersten Überblick, konzentriert sich aber insbesondere auf die photographische Dokumentation und geht nicht vertiefend auf einzelne Themenschwerpunkte seines politischen und religiösen Werdegangs ein.18 Die unveröffentlichte Detailstudie Otto Diehns aus dem Jahre 1956,19 die immerhin Vietors Einbettung in die Klasse der selbständigen Kaufmannsgruppe und deren Konflikte mit den Konzessionsgesellschaften und Großplantagen untersucht, ist zum einen im Wesentlichen begrenzt auf das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Krieges 1914 sowie Vietors kolonialpolitisches Wirken, zum anderen konnte Diehn nicht auf die Akten des Reichskolonialamtes, die zu seiner 18

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Hoffmann, Wiebke: Ein alter Afrikaner. Der Kaufmann Johann Karl Vietor zwischen Bremen und Afrika (Volkskunde & Historische Anthropologie; 14), Bremen 2012. Hoffmanns Beitrag, der im Zusammenhang mit der Ausstellung „Handel und Religion – Zwischen Bremen und Afrika“ vom 12.1. bis 11.2.2012 in den Räumen der Bremer Bürgerschaft entstand, bietet auf 172 Seiten insgesamt 107 Photos aus Vietors Leben, teilweise ganzseitig. Die Photos stammen aus unterschiedlichen Archiven und wurden auf der Ausstellung teilweise zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Beitrag ist entsprechend überblicksartig gestaltet, durch die historischen Photographien und zahlreiche Zitate aus J. K. Vietors und Hedwig Vietors Privatbriefen jedoch außerordentlich anschaulich und lebensnah gehalten. Aufgrund der hier veröffentlichten Photographien zu Vietors Leben bietet die vorliegende Arbeit lediglich eine knappe, ausgewählte Photodokumentation im Anhang. Diehn, 1956 (wie Anm. 7)

Forschungsstand

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Zeit im Deutschen Zentralarchiv in Potsdam lagen, zurückgreifen. Auch auf die Akten des Nationalarchivs in Togo, die heute in Kopie im Bundesarchiv Berlin liegen, konnte er nicht zugreifen. Seine Quellenbasis war damit begrenzt. Für Diehn steht fest, dass die Bedeutung J. K. Vietors für die Entwicklung Togos kaum überschätzt werden kann, insbesondere im Hinblick auf die Abwehr einer möglichen Übertragung des Kameruner Konzessionsmodells auf Togo.20 Er sieht ihn eng an der Seite der Mission und mit dieser als hauptverantwortlich für die Vorbereitung der Dernburg’schen Refomen.21 Hartmut Müllers zweiteilige Untersuchung über den Bremer Afrikahandel zwischen 1841–1914 aus dem Jahr 1971/7322 schöpft zwar aus den Firmenakten der Vietorfirmen sowie dem Bestand der eng mit Vietor verbundenen NMG, beschäftigt sich aber nur unter anderem mit der Firma Vietor und fokussiert eng auf die Expansions- und Handelsgeschichte. Die Arbeiten Werner Ustorfs zur Geschichte der NMG und ihres Inspektors Franz Michael Zahn bieten wertvolle Einblicke in das geistige, religiöse und mentale Umfeld, vor allem der Elterngeneration J. K. Vietors.23 Birgit Tell und Uwe Heinrich bieten unter Berücksichtigung der Vietorfirmen einen Einblick in die Verflechtungen des kolonialen Handels und der missionarischen Praxis der NMG.24 Wenngleich Ustorf, wie Diehn, die Verhinderung einer Großplantagenpolitik in Togo in erster Linie Vietor und der NMG zuschreibt,25 ist für ihn mit Tell und Heinrich das wirtschaftliche und gewinnorientierte Interesse bei Vietor dominierend, bis dahin, dass seine Verbindung zur Mission in diesem Sinne als zweckentfremdet interpretiert wird. Das sieht auch Yawovi A. Ahadji so und ordnet sowohl Vietors Kampf gegen den Alkoholimport als auch sein Vorgehen gegen die DTG einem Gewinn- und Konkurrenzstreben zu26. Auch Sebald und Ustorf erkennen in Vietors Vorgehen gegen die DTG in erster Linie den ökonomisch motivierten Versuch der Abwehr eines Konkurrenten.27 Trotz der Sonderstellung, die Sebald Vietor zugesteht, sieht er in ihm schlussend20 21 22

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Diehn, 1956 (wie Anm. 7), S. 47. Diehn, 1956 (wie Anm. 7), S. 113. Müller, Hartmut: Bremen und Westafrika. Wirtschafts- und Handelsbeziehungen im Zeitalter des Früh- und Hochkolonialismus 1841–1914, Teil 1, in: Abel, Herbert (Hrsg.): Jahrbuch der Wittheit zu Bremen, Bremen 1971, S. 45–92; Müller, Hartmut: Bremen und Westafrika. Wirtschafts- und Handelsbeziehungen im Zeitalter des Früh- und Hochkolonialismus 1841–1914, Teil 2, in: Abel, Herbert (Hrsg.): Jahrbuch der Wittheit zu Bremen, Bremen 1973, S. 75–148. Ustorf, 1989 (wie Anm. 13), S. 31–50; Ustorf 1986 (wie Anm. 13), passim. Ustorf bietet auch einen Überblick über die Genealogie der Familie Vietor, Ustorf 1986 (wie Anm. 13), Einleitung, S. 2–18, nicht paginierte Beilage zwischen S. 8 und 9. Heinrich, Uwe/Tell, Birgit: Mission und Handel im missionarischen Selbstverständnis und in der konkreten Praxis, in: Ustorf 1986 (wie Anm. 13), S. 257–292. Ustorf, Werner: Humanität und Freihandel, in: Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hrsg.): Deutscher KolonialismuS. Materialien zur Jahrhundertfeier 1984 (EPK-Drucksache Nr. 1), Hamburg 1983, S. 81–92, 90. Ahadji, Yawovi A.: Rudolf Asmis et Johann Karl Vietor: deux défenseurs des Noirs au Togo?, in: Heine, Peter/ Heyden, Ulrich von der (Hrsg.): Studien zur Geschichte des deutschen Kolonialismus in Afrika. Festschrift zum 60. Geburtstag von Peter Sebald, Paffenweiler 1995, S. 43–58, 50f. Sebald, 1988 (wie Anm. 3); S. 378f.; Ustorf, Werner: Mission als Vorhut des Kolonialismus? Das Beispiel der Norddeutschen Mission, in: Nestvogel, Renate/Tetzlaff, Rainer (Hrsg.):

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lich einen Vertreter, der „in vielem den Vorstellungen der imperialistisch gesinnten Kolonialadministration und eines Puttkamer“ entsprach.28 Auch Hella Winkler weist auf das dominierende Gewinnstreben der Kolonialkaufleute hin, wenn sie ein humanistisches Motiv für deren Sorge um die hohe Sterblichkeitsrate unter der indigenen Bevölkerung Kameruns verwirft, wenngleich sie zumindest J. K. Vietor darüber hinaus auch „gewisse liberal-reformistische Tendenzen“ zugesteht,29 ähnlich wie Adolf Rüger, der Vietor als „bürgerlich-reformistisch“ bezeichnet.30 Rudin sieht in Vietor einen Vertreter des Freihandels und Freund der afrikanischen Völker,31 Hartmut von Pogge Strandmann bezeichnet ihn als Verfechter einer humanen Kolonialpolitik32 und Horst Gründer sieht in ihm einen missionsverbundenen „christlichen Kaufmann“, der beide Ziele zugleich verfolgte: religiöse und wirtschaftliche.33 Zugleich sieht er ihn als Sprachrohr der Missionsgesellschaften, der deren Gravamina öffentlichkeitswirksam vertrat34 und ordnet ihn in seiner Einstellung zu indigenen Völkern dem Lager der „humanitär-paternalistischen“ Vertreter zu.35 Den Versuch der Verbindung von eigenem Vorteil und Wohl der indigenen Bevölkerung bescheinigt auch Martin Pabst J. K. Vietor,36 ähnlich wie Karin Hausen.37 Auch Stefan Weißflog bejaht dieses doppelte Interesse Vietors und erklärt es mit der grundsätzlichen Übereinstimmung von Handel und Mission in Fragen der sozialpolitischen und ökonomischen Entwicklung der Schutzgebiete. Für die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges sieht er Vietor als führende progressive Gestalt der kolonialpolitischen Bühne.38 Vereinzelte Publikationen zur Familiengeschichte der Vietors wie Friedrich Prüsers Skizze aus dem Jahr 197139 oder der geschichtliche Überblick, den die Fa-

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Afrika und der deutsche Kolonialismus. Zivilisierung zwischen Schnapshandel und Bibelstunde (Hamburger Beiträge Zur Öffentlichen Wissenschaft; 2), Berlin 1987, S. 41–53, 49. Sebald, 1988 (wie Anm. 3), S. 113f. Winkler 1960 (wie Anm. 4); S. 261. Rüger, Adolf: Die Entstehung und Lage der Arbeiterklasse unter dem deutschen Kolonialregime in Kamerun (1895–1905), in: Stoecker 1960 (wie Anm. 4), S. 149–242, 231. Rudin, Harry Rudolph: Germans in the Cameroons, 1884–1914. A Case Study in Modern Imperialism, Hamden (Conn.)2 1968, S. 455. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 8), S. 443. Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn; München [u.a.]5 2004, S. 128, 132,149. Gründer, Horst: Deutsche Missionsgesellschaften auf dem Wege zur Kolonialmission, in: Bade, Klaus J. (Hrsg.): Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 22), Wiesbaden 1982, S. 68–102, 69. Gründer, Horst: „… da und dort ein junges Deutschland gründen“. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 1999, S. 248f. Pabst, Martin: „Mission und Kolonialpolitik. Die norddeutsche Missionsgesellschaft an der Goldküste und in Togo bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges“ (Verlagsgemeinschaft Anarche; 23), München 1988, passim. Hausen, 1970 (wie Anm. 4), S. 285. Weißflog, Stefan: J. K. Vietor und sein Konzept des leistungsfähigen Afrikaners, in: Ustorf, 1986 (wie Anm. 13), S. 293–306, 300, 302. Prüser, Friedrich: Die Vietor aus und in Bremen. Die Brüder Johann Carl (1810–1870) und Fritz Vietor (1821–1906) und ihr Neffe Johann Karl Vietor (1861–1934), in: Kalthoff, Edgar

Methodisches Vorgehen und Aufbau

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milie 1936 und in Neuauflage 1997 selbst vorgelegt hat,40 können keinen wissenschaftlichen Anforderungen genügen, geben aber interessante genealogische Hintergrundinformationen zu einzelnen Familienmitgliedern. Anders steht es um die 2009 veröffentlichte Darstellung Wiebke Hoffmanns, die die Lebenswelt hanseatischer Kaufmannsfrauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts untersucht.41 Ein Teil ihrer Arbeit ist dem Leben J. K. Vietors Frau Hedwig gewidmet. Diese frauen- und familiengeschichtliche Arbeit bietet insbesondere auf der Grundlage der Briefe Hedwig Vietors an ihren Mann einen vorwiegend alltagsgeschichtlichen Einblick in das Familienleben der Vietors. Wilhelm Vietors Anekdotenbuch aus dem Jahre 1969 beleuchtet ebenfalls alltägliche und charakteristische Szenen aus dem Leben der Vietors, allerdings rein auf Basis mündlicher Überlieferung.42 METHODISCHES VORGEHEN UND AUFBAU Die bisherige Zurückhaltung der Forschung, ein biographisches Werk über J. K. Vietor vorzulegen, mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass das Genre der Biographik der historischen Sozialwissenschaft in den 1960er und 1970er Jahren wegen seiner individualistischen Zuspitzung und mangelhaften theoretischen Grundlage als überholt galt, als „letzte Auffangstation des deutschen Historismus“,43 ja, als populärer „Bastard der Geschichtswissenschaften“.44 Man machte der Biographik den Vorwurf, kaum etwas „zum Verständnis von Kollektivphänomenen“ beizutragen, einem „methodisch unreflektierten personalistischen Geschichtsbild zu huldigen“45 und keine geschichtliche Erkenntnis formulieren zu können.46 Neben der Kritik an der Tendenz, die untersuchten Personen in eine vom geschichtlichen Hintergrund abgehobene Beziehung zu stellen und ihr Handeln als weitgehend unbeeinflusst vom Spiel der sie umgebenden gesellschaftlichen und kulturellen Kräfte

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(Hrsg.): Niedersächsische Lebensbilder 7 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen, Bremen und die ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe; 22), Hildesheim 1971, S. 310–329. Roehrig, Ernst Walter: Zur Geschichte der Familie Vietor aus Schwalenberg in Lippe, Essen (Privatdruck) 1936. Hoffmann, Wiebke: Auswandern und Zurückkehren. Kaufmannsfamilien zwischen Bremen und Übersee. Eine Mikrostudie 1860–1930 (Internationale Hochschulschriften; 523), Münster [u.a.] 2009. Vietor, Wilhelm: Unter der Speckflagge. Anekdoten aus einer bremischen Familie, Oldenburg2 1991. Oelkers, Jürgen: Biografik-Überlegungen zu einer unschuldigen Gattung, in: Neue Politische Literatur 3 (1974), S. 296–304, 299. Klein, Christian: Einleitung: Bioghraphik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Klein, Christian (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart [u.a.l 2002, S. 1–22, 1. Ähnlich drückte sich bereits Virginia Wolff 1934 aus, als sie das Genre der Biographie „a bastard, an impure art“ nannte, zit. nach: Fetz, Bernhard (Hrsg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin [u.a.l 2009, S. 7. Wehler, Hans Ulrich: Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, S. 9f. Hemecker, W./Kreutzer, W.: Die Biographie: Beiträge zu ihrer Geschichte 2009, S. 73.

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zu erklären, hielt man auch die narrative Darstellungsform der Biographik wissenschaftlichen Forderungen gegenüber für ungeeignet.47 Mit dem Aufkommen neuerer geschichtswissenschaftlicher Paradigmen wie der Kulturgeschichte, der Frauengeschichte, der Geschlechterforschung, der Alltagsgeschichte oder der Mentalitätsgeschichte konnte sich jedoch seit den 1980er Jahren auch wieder die Biographik Schritt für Schritt „rehabilitieren“, freilich nicht ohne grundlegende Innovation der theoretischen und methodischen Grundlagen.48 Im Unterschied zur individualistischen Biographie des Historismus unternimmt die neue reflektierte Biographie eine systemische Analyse der Bezüge der untersuchten Person zu ihren „Lebenswelten, ihrer Prägung und Wirkung auf Familie, Verwandtschaft, peer group, Klasse usw.“ Eine moderne biographische Forschung begreift Individuum und Gesellschaft nicht mehr als Dichotomie, vielmehr wird das Individuum als Teil einer Sozialgruppe interpretiert.49 Damit hat die neuere Biographik wesentliche Anstöße der historischen Sozialwissenschaften aufnehmen und Strukturgeschichte mit Personengeschichte zusammenführen können. Beide Dimensionen wirken gleichermaßen auf den Geschichtsverlauf ein. Zu Recht hat daher schon Theodor Schieder darauf hingewiesen, dass die Geschichtswissenschaft „in der Geschichte nicht ein System völliger sozialer Determiniertheit, sondern einen ständigen Kampf zwischen persönlicher Entscheidung und allgemeiner Notwendigkeit sehen“ muss.50 Der besondere Mehrwert der Biographik liegt daher in ihrer Fähigkeit, „zentrale Fragen der gegenwärtigen Kulturwissenschaften bündeln“ zu können.51 Obwohl die Biographie in der jüngsten Geschichtsschreibung wieder ihren Platz gefunden hat, liegen nach wie vor kaum neuere Gesamtdarstellungen führender Persönlichkeiten der deutschen Kolonialgeschichte vor. Besonders gilt das für die Gruppe der mittelständischen Kaufleute, aber auch Vertreter kolonialer Groß47 48 49 50

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Wehler, 1971 (wie Anm. 45), S. 10. Bödeker, Hans Erich: Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Diskussions- und Forschungsstand, in: Bödeker, Hans Erich (Hrsg.): Biographie schreiben (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft; 18), Göttingen 2003, S. 9–64, 16. Bödeker 2003 (wie Anm. 48), 20. Schieder, Theodor: Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: HZ, Nr.195 (1962), S. 265–296, 296. Zur Problematik und den Chancen der biographischen Geschichtsschreibung vgl. auch Zimmermann, Christian von: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940) (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 41), Berlin 2006; Hähner, Olaf: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften; 3), Frankfurt, New York 1999; Winkelbauer, Thomas: Plutarch, Sueton und die Folgen. Konturen und Konjunkturen der der historiographischen Biographie, in: Winkelbauer, Thomas (Hrsg.): Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Referate der Tagung „Vom Lebenslauf zur Biographie“ am 26. Oktober 1997 in Horn (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes; 40), Horn, Waidhofen/Thaya 2000, S. 9–46; van Dülmen, Richard: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln 2000; Runge, Anita: Wissenschaftliche Biographik, in: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart, Weimar 2009, S. 113–121. Fetz (Hrsg.), 2009 (wie Anm. 44), S. 6.

Methodisches Vorgehen und Aufbau

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konzerne wie Adolph Woermann, Julius Scharlach, Wilhelm Kemner oder Friedrich Hupfeld.52 Ähnlich verhält es sich mit Gesamtdarstellungen zu Persönlichkeiten der politischen Führungsschicht,53 insbesondere den Gouverneuren, deren unterschiedliche kolonialpolitische Ansätze nach wie vor zu wenig in die öffentliche Gesamtwahrnehmung der deutschen Kolonialära eingeflossen sind. Die vorliegende Arbeit möchte auf diese weitgehend nicht geschlossene Forschungslücke hinweisen und mit der ganzheitlichen Darstellung des Lebens von J. K. Vietor einen umfassenderen Zugang zu Teilaspekten der deutschen Kolonialgeschichte, aber auch zur Geschichte des politischen Protestantismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg bieten. Angesichts der vielfältigen Betätigungsfelder J. K. Vietors und der grundlegenden Zäsur des Ersten Weltkriegs bietet es sich an, einzelne herausragende Aspekte und Lebensabschnitte in den Vordergrund der Untersuchung zu stellen. Dabei notwendig werdende Schwerpunktsetzungen folgen der erkenntnisleitenden Fragestellung nach Motivations-, Persönlichkeits- und Werteentwicklung Vietors im Kontext und in Wechselwirkung mit seinen sozialen, politischen und zeitgeschichtlichen Bezugsräumen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, inwieweit das lebensweltliche Umfeld und der jeweilige historische Zeitabschnitt in Vietors Leben erhellt werden kann. Die Entwicklung der politischen und kolonialpolitischen Überzeugungen und die Beleuchtung der verschiedenen Faktoren der Meinungsbildung wie der praktischen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellen den ersten Schwerpunkt der Untersu52

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Theodor Bohners Arbeit über das Werden der Firma Woermann ist im Pathos der NS Zeit geschrieben; vgl. Bohner, Theodor: Die Woermanns. Vom Werden deutscher Größe, Berlin 1935. Die im Auftrag der Firma Woermann verfaßte Firmengeschichte aus dem Jahr 1987 bietet einen Überblick über das Werden des Woermannkonzerns, kann aber einzelne Personen der Familie nicht umfassend darstellen, vgl. Bavendamm, Dirk: Wagnis Westafrika. 150 Jahre C. Woermann. Die Geschichte eines Hamburger Handelshauses, 1837–1987, [Hamburg] 1987. Eine neuere Arbeit zu Wilhelm Solf liegt vor, sie gleicht aber eher einer Spurensuche, vgl. Hempenstall, P. J. / Mochida, P. T.: The Lost Man. Wilhelm Solf in German History (Quellen und Forschungen zur Südsee; 2), Wiesbaden 2005. Zu Solf vgl. weiter: Vietsch, Eberhard von: Wilhelm Solf. Botschafter zwischen den Zeiten, Tübingen 1961; Kundrus, Birthe: Das Reichskolonialamt zwischen nationalem Geltungsbewusstsein und Weltbügertum. Die Staatssekretäre Friedrich von Lindequist und Wilhelm Solf, in: van der Heyden, Ulrich / Zeller Joachim (Hrsg.): „… Macht und Anteil an der Weltherrschaft“. Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005, S. 14–21. Zu Bernhard Dernburg vgl. Schiefel, Werner: Bernhard Dernburg 1865–1937. Kolonialpolitiker und Bankier im wilhelminischen Deutschland, Zürich, Freiburg 1974. Die zweisprachig erschienene Arbeit über Graf von Götzen konzentriert sich im Wesentlichen und in knapper Form auf die Gouverneursjahre von Götzens, vgl. Bindseil, Reinhart: Ruanda im Lebensbild des Offiziers, Afrikaforschers und kaiserlichen Gouverneurs Gustav Adolf Graf von Götzen (1866–1910). Mit einem Abriß über die zeitgenössischen Forschungsreisenden Franz Stuhlmann, Oscar Baumann, Richard Kandt, Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg und Hans Meyer, Berlin 1992. Zu Albert Hahl vgl. Buschmann, Rainer: Colonizing Anthropology: Albert Hahl and the Ethnographic Frontier in German New Guinea, in: Penny, H. Glenn/Bunzl, Matti (Hrsg.): Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003, S. 230–255. Zu Graf Zech vgl. Smith, Woodruff D.: Julius Graf Zech auf Neuhofen (1868–1914), in: Gann, Lewis H. / Duignan, Peter (Hrsg.): African Proconsuls. European Governors in Africa, New York 1978, S. 473–491; Seemann, Markus: Julius Graf Zech: Ein deutscher Kolonialbeamter in Togo, Hamburg 2012.

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chung dar. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Frage nach der religiösen Betätigung in Innerer, Äußerer und Öffentlicher Mission bis zum Ausscheiden aus dem Vorstand der NMG 1930. Dieser Komplex wird wie die Untersuchung seiner politischen und mentalen Entwicklung, die tief von der Zeitenwende des Weltkriegs geprägt ist, berührt von der Frage nach dem Selbstverständnis als gläubiger Christ, christlicher Unternehmer und sozial eingestellter Arbeitgeber sowie der angestrebten soziologischen Konstruktion der Gesellschaft. Die Frage nach den Bedingungen eines Neuanfangs als Kolonialkaufmann und der Entwicklung des Unternehmens nach dem Ersten Weltkrieg führt zum letzten Schwerpunkt dieser Arbeit und beleuchtet die gesellschaftlichen Verwerfungen und Stimmungen dieser Zeit. QUELLENLAGE Die Quellenlage für die vorliegende Arbeit stellt sich nur zum Teil als befriedigend dar. Ein Teil des Nachlasses, dessen Umfang sich heute allein für die Firmenakten auf über 20 m beläuft und der seit den 1930er Jahren im Staatsarchiv Bremen liegt, ist infolge Kriegsschäden verloren gegangen, sodass der gesamte öffentliche und geschäftliche Briefverkehr vor 1910 nicht mehr vorliegt. Während der entsprechende Briefverkehr zwischen 1910 und 1914 von der Forschung wiederholt bearbeitet worden ist und unter anderem wertvolle Aufschlüsse über die Entwicklung der CSP bis zum Kriegsausbruch liefert, sind die Akten für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise bislang so gut wie gar nicht von der Forschung berücksichtigt worden. Sie enthalten neben Schriftverkehr im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Aktivitäten unter anderem auch eine große Anzahl an Dokumenten zur Geschichte des DEVBs bis 1926 sowie laufende Kommentare zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Deutschland nach 1919/20. Hier finden sich auch wertvolle Hintergrundinformationen zu den Verhandlungen der NMG sowohl mit der schottischen als auch mit der Pariser Mission bezüglich der Zukunft, respektive Übertragung der alten NMG Missionsgebiete in den beiden togoischen Mandatsgebieten. Die Lücke für die Zeit bis 1910 kann durch den Nachlassteil, der im Besitz der Familie Vietor geblieben ist und sich zum größten Teil im Privatarchiv in Hude befindet, leider nur sehr unzureichend geschlossen werden. Immerhin ist fast der gesamte Briefverkehr Vietors und seiner Frau während seiner Afrikareisen zwischen 1894 und 1913 erhalten geblieben, der auch interessante Details zu kolonialpolitischen Fragestellungen zum Vorschein bringt sowie ungeschminkte Bewertungen seines direkten, auch politischen, Umfeldes. Die hier liegende mehrmals ergänzte und immer wieder neu begonnene unveröffentlichte Sammlung von Erinnerungen stammt zum überwiegenden Teil aus der Zeit Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre, muss daher quellenkritisch allein schon wegen des großen zetilichen Abstands zu den eigentlichen Ereignissen mit Vorsicht behandelt werden. Präsenzexemplare seiner vielfältigen Zeitungsartikel, Reden und Aufsätze finden sich im Privatarchiv dagegen nur unvollständig oder verstreut. Leider fehlt hier auch weitgehend der politisch-öffentliche Schriftverkehr, der insbesondere für die Zeit seiner Kolonialratstätigkeit zwischen 1901–1906

Quellenlage

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von großem Interesse gewesen wäre. Trotz der Neuordnung, die Wiebke Hoffmann in den letzten Jahren begonnen hat, bleibt die Zuordnung vieler Aktenstücke infolge Fehlens eindeutiger Signierung und Ablagezuordnung noch sehr unbefriedigend, auch wenn inzwischen ein erstes Findbuch vorliegt.54 Akten zur Tätigkeit des Kolonialrats finden sich im Bundesarchiv Berlin, allerdings auch hier teilweise verstreut oder doppelt abgelegt. Von größerer Wichtigkeit sind darüber hinaus die Akten zur Tätigkeit der Landkommission in Togo im Zusammenhang mit dem DTGKonflikt sowie die Entwicklung der Entschädigungszahlungen an Vietor nach dem Krieg und die Akten im Zusammenhang des Vergleichsverfahrens beim Untergang der Firma 1931. Zum letzteren Komplex finden sich auch Schriftstücke im Privatarchiv in Hude. Der Nachlass Reinhard Mumms, der ebenfalls im Bundesarchiv Berlin liegt, bietet Details zur Geschichte der CSP. In Berlin finden sich daneben auch Nachweise zur Arbeit des VWK. Bedauerlicherweise ist der Aktenbestand hierzu, der bis zur internen Renovierung und Neuordnung vor einigen Jahren noch im Besitz des Afrikavereins in Hamburg war und aus dem Otto Diehn und Karin Hausen schöpfen konnten, verloren gegangen. Im Archiv der Hamburger Handelskammer findet sich zum VWK nur noch ein schmaler Ordner mit Protokollen. Im Nationalarchiv in Lome/Togo finden sich die erhalten gebliebenen amtlichen Akten zur Verwaltungsgeschichte der Kolonialzeit, ein kleinerer Teil liegt im Nationalarchiv in Accra/Ghana, der jedoch nicht gesichtet wurde. Die Akten aus Togo befinden sich als Kopie auch im Bundesarchiv Berlin. Soweit hier auf die Originalakten in Lome, die bereits in digitalisierter Form von Peter Sebald bearbeitet wurden, zurückgegriffen wird, werden sie unter dem Zusatzbegriff „Togo Collection Sebald“ (TCS) gekennzeichnet. Die Archivbestände der NMG befinden sich als Depositum ebenfalls im Staatsarchiv Bremen. Wie sie geben auch die Akten der Basler Mission, heute Mission 21, im Archiv der Basler Mission Aufschluss über das Zusammenwirken Vietors mit der Mission im Zusammenhang mit kolonialpolitischen Fragen und Anliegen der indigenen Völker. Die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen ist im Besitz einiger Jahresberichte der Bremer Sektion der Deutschen Kolonialgesellschaft, die einen, allerdings kleinen, Einblick in Vietors Engagement bei der DKG bieten. Das Archiv der Handelskammer Bremen verfügt über einige wenige Informationen zur Rolle der Firma F. M. Vietor bei der Besitzergreifung Togos durch das Deutsche Reich. Von großem Wert waren, neben der einschlägigen Literatur und den relevanten gedruckten Quellen, die stenographischen Berichte der Verhandlungen des Reichstags, Artikel aus dem christlich-sozialen Wochenblatt „Die Arbeit“ sowie das Periodikum des DEVBs „Kreuz und Kraft“. Vietors Monographie aus dem Jahr 1913 fasst die kolonialpolitischen Gedanken Vietors kompakt zusammen und stellt im Wesentlichen eine Zusammenstellung bereits an andern Orten veröffentlichter Gedanken dar.55 Auf den Kolonialroman von Lic. Johann Rump, alias Nathanel Jünger, Rodenkamp Söhne, aus dem Jahr 1924, für den die Lebensgeschichte J. K. Vietors die Vorlage bildete, wurde nur punktuell zurückge54 55

Dokumente, die nicht eindeutig einer Ablage zugeordnet werden konnten, werden hier lediglich mit der Angabe des Archivs (VPAH) wiedergegeben. Vietor, 1913 (wie Anm. 17).

30

1 Einleitung

griffen.56 In die Schlussbetrachtung fließen auch Ergebnisse einer nicht repräsentativen Umfrage unter Nachkommen des afrikanischen Vietor-Freundes und Mitarbeiters, Robert Sanvee, in die Arbeit ein, die im Februar 2010 in Lome und Anecho durchgeführt wurde.

56

Jünger, Nathanael: Rodenkampp Söhne. Deutscher Kolonialroman aus Bremens Vergangenheit und Zukunft, Wismar in Meckl. 1924.

2 FAMILIENHINTERGRUND UND ERSTE BERUFSJAHRE (1861–1888) ELTERNHAUS UND FAMILIÄRER HINTERGRUND Die Bedeutung der Familie Vietor für das öffentliche und kirchliche Leben Bremens in der Mitte des 19. Jahrhunderts Als Johann Karl Josef Vietor am 6. Mai 1861 als zehntes Kind des Pastors Cornelius Rudolph Vietor zur Welt kam, war die Familie bereits in der dritten Generation in Bremen ansässig und Teil der führenden Schicht der Stadt geworden. Der erste Bremer Vietor war der aus Kassel stammende Friedrich Martin Vietor (1776–1836), der 1798/99 die Stelle eines Handlungsgehilfen bei der Bremer Firma J. F. Krüger antrat. Bereits 1806/1807 konnte er seine eigene Firma, Friedrich Martin Vietor, gründen und das Bremer Bürgerrecht erwerben.1 Bei der Entscheidung nach Bremen zu gehen, war die konfessionelle Frage nicht unwichtig gewesen. Da die Familie Vietor ursprünglich aus dem reformierten lippischen Schwalenberg stammt, bot das überwiegend reformiert geprägte Bremen eine geeignete neue Heimat.2 Als 1

2

Prüser gibt als Zuwanderungsdatum 1799 und als Jahr der Firmengründung 1807 an, Prüser, Friedrich: Die Vietor aus und in Bremen. Die Brüder Johann Carl (1810–1870) und Fritz Vietor (182–1906) und ihr Neffe Johann Karl Vietor (1861–1934), in: Kalthoff, Edgar (Hrsg.): Niedersächsische Lebensbilder 7 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen, Bremen und die ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe; 22), Hildesheim 1971, S. 310–329, 314. Cornelius Rudolf Vietor gibt dagegen das Jahr 1806 als Gründungsdatum der Firma an und bemerkt, dass das Geschäft mit einem Kapital von 6.000 Goldtalern begonnen wurde. Das Geld, das wohl überwiegend leihweise von Familienangehörigen zur Verfügung gestellt worden war, musste verzinst zurückbezahlt werden, Vietor, Cornelius Rudolph: Erinnerungen aus meinem Leben. Für meine lieben Kinder, Bremen 1897, S. 9. Auch das Monatsblatt der NMG (MB) gibt in seinem Nachruf auf F. M. Vietor als Gründungsdatum der Firma 1806 an. Als Jahr des Zuzuges Friedrich Martin Vietors nach Bremen gibt es das Jahr 1798 an, [Nachruf auf] Friedrich Martin Vietor, in: MB 3 (1906). Zur konfessionellen und kirchenpolitischen Entwicklung Bremens seit der Reformation vgl. Rudloff, Ortwin: Bremen, in: Krause, Gerhard /Müller, Gerhard (Hrsg.): TRE 7 (Studienausgabe, Teil 1), Berlin 1993, S. 153–168. Otto Wenig gibt zwar an, dass um 1800 mehr als die Hälfte der Stadt, nämlich 18.000 Einwohner, zum lutherischen und nur 14.000 zum reformierten Bekenntnis zählten, wesit aber darauf hin, dass die Lutheraner lediglich über den Dom verfügten. Die anderen vier altstädtischen Hauptpfarreien waren in reformierter Hand. Dazu kamen drei weitere reformierte Pfarreien im Stadtbezirk, Wenig, Otto: Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen. Vorgeschichte. Geschichte und theologischer Gehalt der Bremer Kirchenstreitigkeiten von 1830 bis 1852. Sonderveröffentlichung der Kommission für Bremische Kirchengeschichte, Bonn 1966, S. 58. Rudloff ergänzt jedoch, dass seit 1804 auch lutherische Pfarrstellen an reformierten Stadtgemeinden eingerichtet wurden, Rudloff 1993 (wie Anm. 2), S. 161.

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2 Familienhintergrund und erste Berufsjahre (1861–1888)

Friedrich Martin 1809 die Bremerin Metta Helene Kompff heiratete,3 konnte von einem erweckten Glauben jedoch noch keine Rede sein. Erst als sein Schwager nach seiner theologischen Ausbildung aus Straßburg und Tübingen zurückkehrte, führte er das Ehepaar Vietor in den Kreis der Erweckten um Pastor Gottfried Menken (1768–1831) ein.4 Menken, der von 1811–1825 als Pastor primarius an der reformierten Pfarrkirche St. Martini wirkte, gilt als Begründer der Erweckungsbewegung in Bremen.5 Seit 1814 wurde er von Gottfried Treviranus als zweitem Prediger unterstützt, der ihm 1825 im Amt des Pastors primarius folgte.6 Menken trat für ein „entschiedenes, synergistisch gefärbtes Tatchristentum“ ein, was, neben persönlicher Heiligung, im Mittelpunkt seiner Verkündigung stand.7 Das Haus Vietor wurde bald zum Treffpunkt führender Männer der Erweckungsbewegung wie der Familie Blendermann und den Pastoren Mallet, Pauli, Meinertzhagen und dem älteren Krummacher.8 Nach der napoleonischen Zeit konzentrierte sich Vietor auf das Geschäft mit Rohrzucker aus Westindien und Tabak aus Virginia.9 Sein Neffe Friedrich und sein Cousin Theodor wurden nach erfolgter kaufmännischer Ausbildung in seinem Haus in den 1820er Jahren in die USA entsandt, um das Tabakgeschäft weiter voranzutreiben. Dort gründeten sie bald eigene Firmen, die eng mit dem Stammhaus kooperierten und ihrerseits drei Söhne Vietors zeitweise in ihr Geschäft aufnahmen.10 Sie konzentrierten sich aber zunehmend auf Webwaren und führten diese über die New Yorker Firma „Grabe & Vietor“ respektive „Vietor & Achelis“ als deutsche „Manufakturen“ in die USA ein. Nach dem Tod des Firmengründers 1836 übernahm der älteste Sohn, Johann Carl (1810–1870), zunächst zusammen mit seiner Mutter, ab Mitte der 1840er Jahre mit seinem jüngsten Bruder Friedrich Martin (1821–1906), die Leitung der Firma, die 1848 in Friedrich Martin Vietor Söhne umbenannt wurde. Das Geschäft nahm im Zuge des Aufblühens des Bremer Welthandels seit den 1830er Jahren einen starken Aufschwung und gehörte bald zu den führenden Im- und Exportfirmen Bremens. Ab 1840 unterhielt die Firma auch eigene Segelschiffe, am Auswanderergeschäft hatte sie aber keinen Anteil.11 Auch die zweite Bremer Vietorgeneration fühlte sich dem Erweckungschris3 4 5

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Vietor, Wilhelm/Schröck-Vietor, Walter: Familie Vietor aus Schwalenberg in Lippe, 1550–1997, Bremen, [Selbstverlag] 1997, Anhang 2, Seite 4. MB 3 (1906). Ustorf, Werner: Norddeutsche Mission und Wirklichkeitsbewältigung. Bremen, Afrika und der „Sclavenfreikauf“, in: Ustorf, Werner (Hrsg.): Mission im Kontext. Beiträge zur Sozialgeschichte der Norddeutschen Missionsgesellschaft im 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen aus dem Übersee-Museum Bremen, Reihe F: Bremer Afrikaarchiv, 23), Bremen 1986, S. 121–236, 154f. Voigt, Karl-Heinz: Treviranus, Georg Friedrich, in: BBKL 12 (1997), Sp. 474–479. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 155. MB 3 (1906). Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 315. Prüser, Friedrich: Die Vietor aus Bremen. Überseekaufleute und Kolonialpioniere, in: Der Schlüssel. Bremer Beiträge zur deutschen Kultur und Wirtschaft 11 (1940), S. 181–185, 181. Der erstgeborene Johann Carl war von 1832–1836 in den USA, der jüngste Sohn, Friedrich Martin, von 1842–1846, der zweitjüngste, Heinrich Gottfried war Anfang der 1840er Jahre in den USA, Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 316, 321f. Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 317f. Ustorf geht irrtümlicherweise davon aus, Vietors hätten am

Elternhaus und familiärer Hintergrund

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tentum Menkenscher Prägung eng verbunden. „In ihrer karitativen Tätigkeit [erblickte sie] die geeignete soziale Bewährung ihres Glaubenslebens.“12 So entstand auf gemeinsame Initiative Carl Vietors und der Pastoren Georg Gottfried Treviranus (1788–1868) und Friedrich Ludwig Mallet (1792–1865), 1839 der Evangelische Verein für deutsche Protestanten in (Nord) Amerika, dem es um die geistliche Betreuung der Auswanderer ging. 1849 gehörte Carl, wie sein Bruder Heinrich Gottfried (1820–1870), zu den Gründungsmitgliedern der Inneren Mission in Bremen und zählte hinfort zum Freundeskreis Johann Hinrich Wicherns.13 Mitte der 1850er Jahre gründete er zusammen mit seinem Bruder Friedrich Martin das Seemannsheim, 1865 gehörte er zu den Mitbegründern der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGRS).14 Auch privat zeichnete sich das Haus von Carl und Caroline Vietor, die kinderlos blieben, in „praktisch geübter Nächstenliebe für die Armen und Beladenen, die an seine Türe klopften“ aus. Mitunter nahm Carl auch verwaiste Lehrlinge in sein Haus auf.15 Stärker noch als seine kaufmännischen Brüder, engagierte sich jedoch Cornelius Rudolf Vietor (1814–1897), zweitältester der vier Söhne des ersten Bremer Vietors Friedrich Martin und Vater von J. K. Vietor, in der Inneren Mission. Auf seine Initiative entstanden „eine Fülle karitativer und mildtätiger Vereine“.16 1857 rief er den ersten kirchengemeindlichen Besuchsverein von Frauen in Bremen ins Leben, der sowohl physischen wie psychischen Nöten begegnen sollte. Durch die Gründung des „Wohnungsvereins“ 1859 widmete er sich früh der Wohnungsnot der „kleinen Leute“. 1861 berief er als erster eine Gemeindediakonisse nach Bremen und 1870/71 konnte er mit Hilfe einer Spende Johanna Spyris, der er zu einem ersten Bekanntheitsgrad in Deutschland verhalf, den Grundstein der Invalidenkasse der Liebfrauengemeinde für Gemeindediakonissen legen. Damals pflegten bereits drei Diakonissen Kranke in Lazaretten der Stadt.17 Während seines Theologiestudiums in Göttingen, Berlin und Bonn18 war er am stärksten vom Berliner Alttestamentler und Gründer der einflussreichen „Evangelischen Kirchenzeitung“, Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) geprägt worden.19 Hengstenbergs entschiedener und medial geführter Kampf gegen

12 13 14 15 16 17 18 19

lukrativen Auswanderergeschäft teilgehabt, vgl. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 153. Zwischen 1840–1885 gab die Firma F. M. Vietor Söhne resp. die Firma Bagelmann & Vietor 14 Schiffe in Auftrag oder erwarb sie. In den 1850er und 1860er Jahren bestand die Flotte aus bis zu acht Schiffen gleichzeitig. Das letzte Schiff wurde 1885 verkauft, Schiffsliste der Firma F. M. Vietor Söhne Bremen, VPAH. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 167. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 132f. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 153f. Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 318. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 164. Zum hundertjährigen Geburtstage des sel. D. C. R. Vietor, in: Bremer Kirchenblatt 43 (1914), S. 346f. Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 324. 1914 (wie Anm. 17), S. 347. Zu Hengstenberg vgl. Ranke, Otto von: Hengstenberg, Ernst Wilhelm, in: ADB, Hassenpflug-Hensel, Leipzig [u.a.] 1880, S. 737–747; Mehlhausen, Joachim: Hengstenberg, Ernst Wilhelm, in: TRE 15 (1986), S. 39–42; Kupisch, Karl: Hengstenberg, Ernst Wilhelm Theodor Herrmann, in: NDB, Hartmann-Heske, Berlin 1969, S. 522f. Mehlhausen weist auf die ältere Literatur hin, die davon ausgeht, dass sich Hengstenberg während seiner

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2 Familienhintergrund und erste Berufsjahre (1861–1888)

den theologischen Rationalismus wurde ihm Vorbild und Richtschnur. In die bereits seit Anfang des Jahrhunderts währenden „theologischen Richtungskämpfe“ Bremens, erst zwischen Aufklärung und Erweckung und in der zweiten Jahrhunderthälfte zwischen liberaler und positiver Theologie20 griff C. R. Vietor bereits in seiner Zeit als Hilfsprediger in Blumenthal (1843–1855) ein. Sowohl die politische wie auch die religiöse Krisenstimmung spitzte sich nach 1848 dramatisch zu, insbesondere durch das Wirken Rudolph Dulons, der am 22.8.1848 die Stelle als zweiter Pastor der Bremer Liebfrauengemeinde übernommen hatte.21 Dulon stand „mit ganzem Herzen auf der Seite der Lichtfreunde“,22 einer Gruppe rationalistischer Pfarrer, die die Autorität der Heiligen Schrift in Frage stellte.23 Theologisch gehörte er damit „zur äußersten rationalistischen Linken.“24 In seiner Bremer Zeit ging er vollends zum Subjektivismus über und erklärte, die Heilige Schrift sei „ein Zeugnis irrender, in der Entwicklung begriffener Menschen“, es sei „ein schlichtes Menschenwerk, nicht mehr und nicht weniger als die reformatorischen Bekenntnisschriften.“25 Er behauptete, die Bibel sei voller Widersprüche und manche biblischen Gebote seien unsittlich, roh und unwürdig. Wer an die wortwörtliche Inspiration der Bibel glaube, sei „entweder ein Mensch von absoluter Verstandlosigkeit und einer ins Fabelhafte und Unglaublich gehenden Unwissenheit oder – ein nichtswürdiger Heuchler.“ Er sprach von den Anhängern der Inneren Mission als den „entsetzlichen Menschen“, die die Erbsünde predigten statt die wahre Erlösung des Menschen in einem Bewusstseinswandel zu suchen. Er klagte die Erweckten an, sie wären der Obrigkeit hörig, trieben mit ihnen Götzendienst und schwiegen

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Zeit als Sprachlehrer im Missionshaus Basel 1823/24 bekehrt und unter dem Einfluss des Missionshauses einen „Durchbruch zum Glauben“ erlebt habe. Die neuere Literatur setzt den Beginn seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem theologischen Rationalismus jedoch erst für die sich anschließende Berliner Zeit an, ebd. S. 40. Kupisch rechnet mit Hengstenbergs Glaubensdurchbruch während der Basler Zeit und charakterisiert ihn als Vertreter des altlutherischen Lehrprinzips, „das er mit Elementen der Erweckung zu einer biblizistischen, kirchlichstrengen Orthodoxie verschmolzen wissen wollte“ und „der jede wissenschaftlich-kritische Methode bekämpfte.“ Hengstenberg stand in enger Verbindung zu Friedrich Julius Stahl, Heinrich Leo, den Brüdern Gerlach und war ein entscheidender Weichensteller dafür, dass die Erweckungsbewegung in konservative, lutherisch-orthodoxe Bahnen gelenkt wurde, ebd. Rudloff, 1993 (wie Anm. 2), S. 161. Zu Dulon vgl. Tidemann, Heinrich.: Pastor Rudolph Dulon. Ein Beitrag zur Geschichte der Märzrevolution in Bremen, Teil 1: Rudolph Dulon bis zu seiner Berufung nach Bremen, in: Bremisches Jahrbuch 33, Bremen 1931, S. 376–445; Tidemann, Heinrich: Pastor Rudolph Dulon. Ein Beitrag zur Geschichte der Märzrevolution in Bremen, Teil 2: Dulons Wirksamkeit in Bremen 1848–1852, in: Bremisches Jahrbuch 34, Bremen 1933, S. 162–261; Ustorf, Werner: Theologie im revolutionären Bremen, 1848–1852. Die Aktualität Rudolph Dulons (PahlRugenstein Hochschulschriften; 281), Bonn 1992. Tidemann, 1931 (wie Anm. 21), S. 432. So skizzierte der hallische Pfarrer Wislicensus 1844 seinen und den Standpunkt der Lichtfreunde: „Wir haben eine andere höchste Autorität. Sie ist der in uns selbst lebendige Geist“, zit. in: Wenig, 1966 (wie Anm. 2), S. 438. Wislicensus wurde 1845 zunächst vom Dienst suspendiert und 1846 seines Amtes enthoben. Wenig, 1966 (wie Anm. 2), S. 628. Dulon, Rudolph: Gruß und Handschlag. An meine Gemeinde in Süd und Nord, Hamburg 1853, S. 85, 131, zit. in Tidemann, 1931 (wie Anm. 21), S. 435.

Elternhaus und familiärer Hintergrund

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gegenüber den Verbrechen der Herrscher.26 Öffentlich warnte er vor ihnen: „Mann des Volkes, hüte dich vor den Männern der Inneren Mission. Unter ihnen sind die gefährlichsten der schaffellbekleideten Wölfe, die ekelerregendsten der übertünchten Gräber!“27 Diese schrillen Töne hatten einen ebenso theologischen wie auch politischen Hintergrund. Dulon gehörte nicht nur zur theologischen, sondern auch zur politischen Linken jener Jahre und von 1849–1851 zur Bremer Bürgerschaft.28 Sein Einfluss war nicht nur für Bremen bedeutend, sondern für die gesamte revolutionäre Bewegung in Deutschland 1848/49.29 Er wollte „für das Heiligste und Göttlichste kämpfen, was die Erde kennt, für demokratische Freiheit“30 und forderte freie Wahlen ohne Zensus sowie Pressefreiheit.31 Nachdem Friedrich Wilhelm IV. 1849 die ihm von der Paulskirche angetragene Krone ablehnte, radikalisierten sich Dulons Thesen und er rief zur Weiterführung der Revolution auf, die für ihn eine „Tochter des Himmels“ war und geradezu soteriologische Bedeutung gewann.32 Sein Einfluss und seine Beliebtheit waren so groß, dass selbst seine Gegner einräumen mussten, dass von den etwa 55.000 Bremer Einwohnern etwa 20.000 zu seinen Anhängern zählten.33 Für seine theologischen Gegner war es unerträglich, dass er für seine politische Agitation auch von der Kanzel Gebrauch machte und anfing „[…] die weitgehendsten Lehren der Demokratie, als Gottes Wort und Willen zu verkündigen […] Bald kam’s dahin, daß er fast nur noch über das Recht des kleinen Mannes, den Segen der Revolution und das Verderben der Großen predigte und die bedenklichsten Forderungen aus der Schrift begründete.“34

Auch wenn C. R. Vietor sich offen gegen die Revolution aussprach und 1848 mit einigen Männern die Gründung eines demokratischen Vereins in Blumenthal verhindern konnte,35 war sein direktes politisches Wirken doch nicht zu vergleichen mit dem seiner Brüder. Friedrich Martin gehörte der Bremer Bürgerschaft von 1848–1853 an, Carl von 1848–1867.36 1852 gehörte Carl auch der Verfassungsrevisionsdeputation an.37 Diese war nach den Neuwahlen zwischen dem 20.4. und 5.5.1852 eingesetzt worden. Vorausgegangen war ein ultimativer politischer und militärischer Druck des Deutschen Bundes zum vorrevolutionären Zustand zurück26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Dulon, Rudolph: Der Wecker und die innere Mission, in: Ustorf, 1992 (wie Anm. 21), S. 110– 116, 112. Dulon, Rudolph: Die innere Mission, in: Ustorf, 1992 (wie Anm. 21), S. 103–107, 106. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 144. Dulon arbeitete in der Schuldeputation mit. Tidemann, 1931 (wie Anm. 21), S. 377. Dulon, Rudolph: Vom Kampf um Völkerfreiheit. Ein Lesebuch für’s deutsche Volk, Heft 1, Bremen5 1850, S. X. Tidemann 1931 (wie Anm. 21), S. 439. Ustorf, 1992 (wie Anm. 21), S. 45. Ustorf, 1992 (wie Anm. 21), S. 44. Johann Friedrich Iken: Die Wirksamkeit von Pastor Rudolf Dulon in Bremen (1848–52). Ein kritisches Gedenkblatt aus der Revolutionszeit, Bremen 1853, S. 15, zitiert bei: Wenig, 1966 (wie Anm. 2), S. 464. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 164. Biebusch, Werner: Revolution und Staatsstreich. Verfassungskämpfe in Bremen von 1848 bis 1854. Bremen2 1974, S. 390. Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 301.

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zukehren, der am 29.3.1852 zur Auflösung der Bürgerschaft geführt hatte. Die Neuwahlen fanden nach einem Acht-Klassenwahlrecht statt, das im Prinzip bis zur Revolution 1918 in Kraft blieb. Von einem antidemokratischen Staatsstreich des Bürgermeister Smidts, wie es Ustorf nennt, kann daher nicht ohne weiteres die Rede sein. Smidt hatte sich energisch zur Wehr gesetzt, musste aber schließlich dem Druck preußischer Truppen nachgeben.38 Nach der Wahl konnte die Fraktion der Erweckten mit ungefähr zwanzig Abgeordneten in die neue Bürgerschaft einziehen. Das entsprach einem Anteil von etwa 13 %.39 Im November 1852 reichte Carl Vietor dem Senat eine Vorlage der Verfassungsrevisionsdeputation, die von Erweckten dominiert wurde, ein, in der die Einführung einer obersten Kirchenbehörde vorgeschlagen wurde. Damit sollten die Episkopalrechte, die bisher beim Senat lagen, abgelöst werden, was für die Kirche eine größere Selbstständigkeit bedeutet hätte. Die Bürgerschaft lehnte diesen Mehrheitsbeschluss der Verfassungskommission jedoch ab. Auch ein weiterer Vorstoß der erweckten Kreise, die Verfassung in ihrem Sinne zu gestalten, scheiterte. Am 25.1.1853 übergab Pastor Gottfried Treviranus dem Senat eine von Pastor Friedrich Mallet formulierte Petition „mit der Forderung nach verfassungsmäßigerAnerkennung der reformatorischen Bekenntnisschriften.“40 Dieser Schritt entsprach insofern reformierten Grundvorstellungen, als Kirche und Staat zwar streng voneinander zu trennen wären, sich aber gegenseitige Unterstützung respektive Loyalität zusagen sollten. Der Senat fürchtete jedoch offensichtlich einen zu großen Einfluss der Erweckten und lehnte ab. Eine dritte Initiative der bekenntnistreuen Kreise bemühte schließlich sogar den Bundestag in Frankfurt. Im Dezember 1853 hatte Gottfried Bagelmann (MdBü 1849–1869) dem Senat eine Petition vorgelegt, mit der vor dem „Eindringen jüdischer Elemente in die Bürgerschaft“ gewarnt wurde und die von 160 bekannten Persönlichkeiten unterzeichnet worden war.41 Juden hatten durch die Verfassung von 1849 staatsbürgerliche Rechte erhalten, waren in Bremen aber von geringem Einfluss. Auch dieser Vorstoß fand kein Gehör. Daraufhin entschlossen sich im Februar 1854 Gottfried Bagelmann, Friedrich Martin Vietor, Heinrich Gottfried Vietor, Johannes Hermann Stoevesandt und einige andere einflussreiche Persönlichkeiten, Klage beim Bundestag gegen den Bremer Senat und die neue Bremer Verfassung einzulegen. Dass die neue Verfassung prinzipiell nun auch „Nicht-Christen“ den Zugang zu Staatsämtern er38

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Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 346, vgl. Ustorf, Werner: Mission als Vorhut des Kolonialismus? Das Beispiel der Norddeutschen Mission, in: Nestvogel, Renate/Tetzlaff, Rainer (Hrsg.): Afrika und der deutsche Kolonialismus. Zivilisierung zwischen Schnapshandel und Bibelstunde (Hamburger Beiträge Zur Öffentlichen Wissenschaft; 2), Berlin 1987, S. 41–53, 44. Den entsprechenden politischen Druck auf Smidt räumt Ustorf jedoch später ein, ebd., S. 45. Ustorf, 1987 (wie Anm. 38), S. 44. Die Fraktion bezeichnete sich auch als „äußerste Rechte“ in der Bürgerschaft, Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 19, 99. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 150. Die von Mallet entworfene Forderung der orthodoxen Mehrheit der Bremer Pfarrerschaft wurde am 25.1.1853 von den Pastoren Treviranus und Müller dem Senat übergeben, Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 306. Nach Ansicht Bürgermeister Smidts lagen die kirchlichen Verhältnisse 1854 etwa so, dass die Mehrheit der Lutheraner in Bremen theologisch eher liberal geprägt waren, die Hälfte der Reformierten jedoch, und hier vornehmlich Frauen, dem Pietismus anhingen, ebd., S. 311. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 150f.

Elternhaus und familiärer Hintergrund

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laubte, war für sie nicht hinnehmbar.42 Sie befürchteten dadurch „eine allmähliche Zersetzung […], die Ruhe und Ordnung gefährdet und den Keim des Verderbens in sich schließt.“43 Ihr Leitbild war der „Christliche Staat“, weshalb die „Judenfrage“ nach Ansicht des Senators Smidt „nur die Schale und nicht der Kern der Sache“44 war. In den Augen der Erweckten war der politische Liberalismus und das kirchliche Pendant dazu, der „Rationalismus“, ursächlich verantwortlich für die Revolution und „hatte Unglauben und Sünde über die Menschheit gebracht.“45 Die Forderung der Mehrheit der Bremer Pfarrerschaft, des Venerandum Ministerium, die reformatorischen Bekenntnisschriften in der neuen Verfassung ausdrücklich und verbindlich anzuerkennen, dokumentiert diese tiefer liegende Stoßrichtung ebenso wie die Klugkist/Bagelmansche Eingabe ein Jahr später.46 Die antirevolutionären und antidemokratischen Bestrebungen der erweckten Abgeordneten wurden von einem großen Teil der Bremer Pfarrerschaft mitgetragen. Johann Carl Vietors enger Freund, Pastor Friedrich Ludwig Mallet, Pastor prim. an St. Stephanie, „eine geradezu charismatische, außerordentlich populäre Figur der Bremer Erweckungsszene“,47 brandmarkte die revolutionären Umtriebe 1848 bereits von Beginn an. Er sah im Wesentlichen zwei große Gefahren in der Revolution, die er die beiden „Ungeheuer“ nannte. Zum einen die Volkssouveränität, die „jede menschliche Ordnung unmöglich“ machen würde und damit „nothwendig zum Volksruin“ führte und zum anderen die Demokratie, die er mit einem Monstrum verglich, das „gern alles verschlingen möchte“. Die Demokratie be42

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Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 311. In der von streng calvinistischen Grundüberzeugungen getragenen „Klugkist/Bagelmann’schen Eingabe“ hieß es in Bezug auf die staatliche Wirklichkeit in Bremen: „Ein christlicher Geist soll alle ihre Institutionen durchdringen, eine christliche Obrigkeit soll dieselbe handhaben im Aufblick zu dem dreieinigen Gott, der ihr die Macht verliehen hat; Gesetzgebung und Verwaltung müssen daher auch von Christen im Einklange mit den Grundsätzen ihrer Religion geübt werden.“, zit. bei: ebd., S. 315. In ihrer Eingabe beklagten sie den schädlichen Einfluss des „Indifferentismus“, der „sich allen nivellierenden Bestrebungen mit Freuden anschließt“ und alles duldet. Neben egalitären politischen Ideen zielte das sicher auch auf den Rationalismus, insbesondere in der Form, wie sie Rudolph Dulon vorgetragen hatte und der in ihren Augen eindeutig eine „Irrlehre“ war. Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 316. S. Smidt aus Norderney an Bürgermeister Smidt in Frankfurt, 1.9.1854, zit. nach: Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 308. Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 308. Wie sehr die Bedenken des Kreises um Bagelmann das Denken führender Schichten in Deutschland widerspiegelten, beweist der Verhandlungsverlauf ihrer „Rechtsverwahrung“ im Frankfurter Bundestag. Nachdem Bismarck als preußischer Gesandter beim Bundestag die Bedenken der Bremer Eingabe im Kern für berechtigt hielt, verzögerte sich die abschließende Zustimmung jedoch erheblich. Bismarck hatte sich noch im Falle der Hamburger Verfassung gegen die Gleichstellung von Juden gewandt. Nachdem sich jedoch auch katholische Kreise gegen die Zubilligung staatsbürgerlicher Rechte an Juden gewandt hatten, hatte er in Frankfurt einer Regelung zugestimmt, die den Juden zumindest eine zahlenmäßig begrenzte Zulassung zur parlamentarischen Vertretung erlaubte. Erst nach längerem diplomatischem Ringen mit den Vertretern der Bundesstaaten wurde die Klugkist/Bagelmann’sche Eingabe schließlich, gegen die Stimme Preußens, am 17.8.1854 abgelehnt und die Bremer Verfassung in der vorliegenden Form akzeptiert, vgl. Biebusch, 1974 (wie Anm. 36), S. 313–321. Ustorf, 1987 (wie Anm. 38), S. 43.

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drohte für ihn den Ständestaat und hatte damit die Tendenz zur Anarchie. Ähnlich wie Johann Hinrich Wichern ging es Mallet und den Positiven um den christlichgermanischen Staat, den obrigkeitlich abgesicherten Bürgerstaat, der den „alten Bibelglauben“ schützen und durch ein karitatives Netz die unruhige Bevölkerung befrieden sollte.48 Entsprechend ordnet Ustorf auch C. R. Vietor ein, wenn er ihn als „Vertreter der ständischen Republik und radikale[n] Biblizist[en]“ bezeichnet.49 J. K. Vietor gibt ihm später zumindest in soweit Recht, als er darauf hinweist, dass sein Vater „als der strengst gerichtete Pastor Bremens“ galt50 und im Gedenkartikel zu seinem 100. Geburtstag wurde daran erinnert, dass er „als einer der markantesten Vertreter des alten Glaubens“ galt und von „unbeugsamer Überzeugungstreue [gewesen sei], die in Sachen des Evangeliums keine Kompromisse irgendwelcher Art duldete. Einen entschlosseneren Gegner als ihn hat die gemeinsame Bremer „Kirchenvertretung“ nie gehabt.“51 Tatsächlich sah sich C. R. Vietor als ein Wächter göttlicher Ordnungen im öffentlichen Leben und machte sich damit nicht nur Freunde. Als publik wurde, dass das Programm des 2. Bundesschießens der Schützenvereine, das 1865 in Bremen stattfand, bereits am Sonntagvormittag, den 16.7.1865, also zur Zeit der Gottesdienste, beginnen sollte, legte Vietor als Vorsitzender des Venerandum Ministeriums beim Senat der Stadt Einspruch ein. Ohne die Entscheidung abzuwarten veröffentlichte er parallel in dem von ihm redigierten „Bremer Kirchenblatt“ einen Artikel, der nicht nur den Beginn des Festes am Sonntagvormittag als „gröbliche Verletzung und Entweihung des Sonntags“ kritisierte, sondern den gesamten Charakter des Festes ablehnte, da es eine „für viele verderbliche Gelegenheit zum Vergnügen“ bot.52 Mit dieser scharfen Gangart stellte er sich freilich einer breiten Öffentlichkeit entgegen. Das patriotische Fest, das die deutsche Einheit beschwor, zog Gäste aus ganz Deutschland an und war ein „überdimensionales Volksfest, das den Bürgern jahrelang Gesprächsstoff lieferte“. Es „zog mehr Fremde an, als die Stadt vorher oder später in ihren Mauern sah.“53 Entsprechend negativ wurde Vietors Vorstoß von seinen Gegnern als „zelotischer Pietismus“ bezeichnet.54

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Ustorf, 1992 (wie Anm. 21), S. 57f. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 160. Vietor, J. K.: Bericht von J. K. Vietor, unv. Erinnerungen [1905/1930], VPAH, S. 7. Die hier zusammengestellten Erinnerungen aus dem Nachlass J. K. Vietors sind eine Sammlung mehrerer Anläufe zu einer Autobiographie, wobei die frühesten Abschnitte aus der Zeit um 1905/06 stammen, die letzten aus der Zeit um 1930/33. Die verschiedenen Anläufe beginnen jeweils mit neuer Zählung und wiederholen dabei teilweise Berichte zu den denselben Sachverhalten, z.T. mit kleineren inhaltlichen Abweichungen. Eine Version der Memoiren befindet sich auch im Staatsarchiv Bremen, 7,73-54. Bremer Kirchenblatt 43 (1914) (wie Anm. 17), S. 347. Bremer Kirchenblatt 27 (1865), zitiert bei Lührs, Wilhelm: Das zweite deutsche Bundesschießen in Bremen (1865), in: Abel, Herbert/Schwebel, Karl H. (Hrsg.): Jahrbuch der Wittheit zu Bremen. Festschrift Karl H. Schwebel [zur Vollendung des 60. Lebensjahres am 5. Sept. 1971], Bremen 1972, S. 125–166, 135. Lührs, 1972 (wie Anm. 52), S. 125. Courier vom 6.7.1865, zitiert bei: Lührs, 1972 (wie Anm. 52), S. 136.

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Man könnte aufgrund dieser peinlichen Gewissenhaftigkeit C. R. Vietor für einen verschrobenen, engherzigen, düsteren und freudlosen Fanatiker halten. Das Gegenteil scheint aber der Fall gewesen zu sein. Im Nachruf auf ihn hieß es entsprechend: „Wer ihn persönlich hat kennengelernt und seine muntre Rede hörte, mochte wohl zuweilen staunen, daß er Scherze machte und viele Scherze erzählte.“55 Auch Jahre später war er noch so in Erinnerung: „Durch seinen behaglichen, unerschöpften, volkstümlichen Humor, ein wahres Gottesgeschenk, durch seine herzliche Menschenliebe und Lebensklugheit“56 war seine Willensstärke und Prinzipienfestigkeit eingebunden in ein freundliches und fröhliches Wesen. Seine Frau hielt die Freude am Humor für ein derart kennzeichnendes Charakteristikum ihres Mannes, das sie mutmaßte, er würde sogar noch auf dem Sterbebett Witze machen.57 Leichtfertig ging Vietor jedoch nicht mit seinem Humor um und meinte, er hätte es sicher übertrieben damit.58 Sobald das Gespräch auf die Dinge „des Reiches Gottes“ kam, verschwand seine fröhliche Leichtigkeit schnell. Es ist also ebenso ein Irrtum anzunehmen, C. R. Vietor wäre ein freudloser kirchlicher Funktionär gewesen als „aus seiner Munterkeit zu schließen, er sei leicht und heiter durchs Leben gegangen; dieser heitere Muth war, wie so oft bei ernsten Männern, die innerlich viel durchzukämpfen haben, eine freundliche Gabe Gottes.“59 Carl Paul, der spätere Direktor der Leipziger Missionsgesellschaft, erlebte die Familienatmosphäre und das Wesen C. R. Vietors überaus positiv. Nach einem Essen bei der Familie schrieb er: „Ich habe einen genussreichen Abend erlebt. Ich war zum Abendbrot in Vietors Familie. Welch eine Liebe! Diesem Manne muss jeder gut sein, der ein hässliches Herz hat. Er spricht einfach und zum Herzen […]. Freilich werde ich wohl nie so stehen lernen, wie Vietor steht; das lässt sich nicht lernen. Aber ich möchte es.“60

Schnell wurde C. R. Vietor für Paul zu einem „väterlichen Freund“, in dessen Gesellschaft er „immer nur hören und lernen“ wollte.61 Seinen pastoralen Dienst erlebte er stets als ausgesprochen liebevoll.62 Zahn dagegen, den er ansonsten sehr schätzte, wirkte auf ihn in der persönlichen Begegnung, selbst bei einer Einladung zu ihm nach Hause, kühl, zurückhaltend und fast abweisend.63

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[Nachruf auf] Pastor C. R. Vietor, in: MB 2 (1897), S. 9–11, 10. Bremer Kirchenblatt 43 (1914) (wie Anm. 17), S. 347. So nach einer Notiz von Wilhelm Vietor, die sich auf der Innenseite des Buchrückens des Huder Exemplars von C. R. Vietor s Erinnerungen findet, vgl. Vietor, 1897 (wie Anm. 1). Vietor, 1897 (wie Anm. 1), S. 291. MB 2 (1897) (wie Anm. 55), S. 10. Paul, Carl: Tagebuch 1. Juli 1881 bis April 1882, URL: http://gaebler.info/ahnen/paul/carl-tagebuch-1.htm#01.07.1881“ (Aufruf am 23.10.2011), Tagebucheintrag vom 6.7.1881. Paul war von 1880–1882 Hauslehrer in der Familie des Bremer Großkaufmanns und Konsuls Johann Abraham Albers. Die Tagebücher Pauls sind nicht veröffentlicht worden und nur online zugänglich. Paul (wie Anm. 60), Tagebucheintrag vom 7.11.1881. Paul, Carl: Tagebuch 2. Mai 1882 bis Oktober 1883, URL: „http://gaebler.info/ahnen/paul/ carl-tagebuch-2.htm#05.05.1882“ (Aufruf am 23.10.2011), Tagebucheintrag vom 10.6.1882. Paul (wie Anm. 62), Tagebucheintrag vom 7.5.1882.

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Als die Kämpfe zwischen liberalen und erweckten Kreisen im Zuge der Revolution an Schärfe deutlich zunahmen, stand Vietor fest an der Seite Mallets, dem Wortführer der innerkirchlichen Opposition gegen Rudolph Dulon. Bereits am Anfang seines kirchlichen Dienstes hatte Vietor zu Mallets Jünglingsverein gehört und bildete mit ihm zusammen und weiteren Pastoren positiver Richtung die sogenannte „Montagsgesellschaft“.64 Ihnen ging es, wie Mallet, darum, den „alten Bibelglauben“ gegen die unorthodoxen Ideen Dulons zu verteidigen.65 Für Vietor stand fest, dass Dulon in „communistischem Sinne“ predigte.66 Auch in Dulons eigener Pfarrgemeinde regte sich nun Widerstand, zunächst noch ohne Erfolg. Die politische Aktivität und wohl auch die Politisierung des Gemeindelebens waren für einen innergemeindlichen Kreis um Gustav Kulenkampff nicht länger hinnehmbar. Ein entsprechender Vorstoß gegen Dulon im Herbst 1850 scheiterte jedoch an der Gemeindekonventsmehrheit der Dulonanhänger. Am 9.4.1851 reichten daraufhin 23 altgläubige Mitglieder der Liebfrauengemeinde unter Führung des Bauherrn von Liebfrauen, Gottfried Bagelmann, unter Umgehung des Gemeindekonvents eine Supplik an die Senatskommission für kirchliche Angelegenheiten ein, die letztlich auf die Absetzung Dulons zielte. Unterschrieben war sie unter anderem auch von Mitgliedern führender Bremer Familien wie Achelis, Kulenkampff und Noltenius. In der Eingabe machten sie Dulon schwerwiegende Vorwürfe: Sie verwarfen seine Idee „von einem nach seiner democratisch-socialistischen Idee construierten Reiche Gottes auf Erden“, unterstellten ihm „Abfall vom Christenthum“ und „Feindschaft gegen die Bibel“. Daraufhin ließ Bürgermeister Smidt Dulons Lehre von der theologischen Fakultät der Heidelberger Universität begutachten. Das Gutachten erbrachte in der Tat das Ergebnis, Dulon verkündige eine „Irrlehre“. Es folgte 1852 Dulons Suspendierung vom Dienst. 1853 wanderte Dulon in die USA aus.67 Hatte man 1848 noch, um das theologische Gleichgewicht in der Pfarrgemeinde zu wahren, Dulon für den ein Jahr zuvor verstorbenen 2. Pastor Ernst Friedrich Capelle berufen, der im Gegensatz zum Pastor primarius Pauli kein Orthodoxer war, so schlugen nun Bagelmann und Kulenkampf 1854 C. R. Vietor als Nachfolger Dulons vor. Damit kam der Liebfrauengemeinde hinfort eine führende Rolle als Hort des alten Glaubens zu. 1855 wurde Vietor in sein Amt eingeführt.68 Vietor entwickelte sich immer mehr zur führenden Stimme der Vertreter des alten Bibelglaubens. Als 1863 in Bremen der theologisch liberale „Protestantenverein“ gegründet wurde, der die Nagelschen Thesen wieder aufnahm,69 sammelten sich „Orthodoxe“ und „Pietisten“ im „Evangelischen Verein“, in dessen Vorstand 64 65 66 67 68 69

Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 158. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 145. Vietor, 1897 (wie Anm. 1), S. 191. Tidemann, 1933 (wie Anm. 21), S. 254; Ustorf, 1987 (wie Anm. 38), S. 45.1852 floh Dulon zunächst nach Helgoland, um von dort im September 1853 in die USA zu reisen. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 160. Nagel, der von 1842–1864 Pfarrer an St. Remberti war, hatte 1844 die Verlegung biblischer Szenarien wie das Jüngste Gericht „in das Innere des Individuums“ verteidigt und damit dessen historische Dimension geleugnet. In der Folge war es zu einem heftigen theologischen Streit der Bremer Kirche gekommen, Wenig, 1966 (wie Anm. 2), S. 372, Fußnote 41.

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später auch J. K. Vietor eintreten sollte.70 1864 gründete C. R. Vietor zusammen mit dem Missionsinspektor der NMG, Franz Michael Zahn, und Pfarrer Julius Thikötter das „Bremer Kirchenblatt“, das sich kritisch mit dem „Protestantenverein“ auseinandersetzte. C. R. Vietor gehörte bis 1873 zu den Herausgebern.71 Auch wenn die altgläubigen Kreise weder im kirchlichen noch im politischen Leben je eine Majorität erringen konnten, waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts „die führenden Männer der Erweckungsbewegung in Bremen […] im Reederei-, Handels- und Bankengeschäft wie in der Pastorenschaft zuhause und stellten eine kapitalkräftige und einflussreiche Minderheit dar.“72 Vietors spielten dabei eine bedeutende Rolle, war die Familie doch mit mehreren führenden Familien Bremens verwandt und verschwägert, etwa mit den Familien Stoevesandt, Achelis, Noltenius, Gildemeister, Duckwitz,73 Lahusen und Meyer.74 Auch die führenden Pastoren der Erweckungsbewegung gehörten zu diesem sozialen Netzwerk. Die Mutter von Pastor Gottfried G. Treviranus war eine geborene Duckwitz und sein Onkel war der langjährige Bürgermeister Smidt. Pastor Friedrich Mallet hatte 1817 in die Familie Achelis eingeheiratet.75 C. R. Vietor, der insgesamt dreimal verheiratet war, hatte in erster Ehe Katharina Noltenius (1819–1858) geheiratet, mit der er acht Kinder hatte.76 Sie entstammte der bremischen Patrizierfamilie Noltenius,77 während die Frau seines Bruders Friedrich Martin, Helene Noltenius, aus einem anderen Zweig der Familie Noltenius stammte, einer Pastorenfamilie. Sie war die Tochter von Pastor Bernhard Philipp Noltenius, Pfarrer im Bremer Vorort Horn78 und schrieb viele der Schriften Mallets nach dessen Diktat nieder.79 Die familiären Verflechtungen führten auch zu gemeinsamen Firmengründungen, teilweise in Übersee wie im Falle der New Yorker Firmen Duckwitz & Vietor sowie Fredk Vietor & Achelis.80 In Bremen gründete der Bankier Gottfried Bagelmann 1851 zusammen mit Heinrich Gottfried Vietor die Reederei und Handelsfirma Bagelmann

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Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 160. Bremer Kirchenblatt 43 (1914) (wie Anm. 17). Ustorf gibt 1868 an. Thikötter kam für den 1863 verstorbenen Pauli nach Liebfrauen. Von 1864–1887 gehörte er auch zum Vorstand der NMG, Ustorf 1986 (wie Anm. 5), S. 160f. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 136. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 130. Müller, Hartmut, 1971: Bremen und Westafrika, S. 45–92, 61, vgl. auch: Brandes, Erika: Gesellschaftliche Bedeutung „Geschlossener Heiratskreise“ (soziale Inzucht), gezeigt am Beispiel des „Bremer Überseekaufmanns“ in seiner Herkunft und sozialen Verknüpfung seit Aufnahme des großen Überseehandels, Hausarbeit zur Ablegung der wissenschaftlichen Prüfung (Teil A) für das Lehramt an Mittelschulen, Göttingen 1961, in: StAB, Die Maus, Gesellschaft für Familienforschung e.V., Bremen, VIII c 139, zit. bei ebd., S. 61. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 131. Vietor, Schröck-Vietor, 1997 (wie Anm. 3), S. 50. Bei den späteren Eherfrauen handelte es sich um Adelheid Henriette Luce (1831–1865), J. K. Vietors Mutter, und Henriette Amalie Stachow (1836–1910), ebd. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 160. Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 322. MB 3 (1906) (wie Anm. 1) Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 130.

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& Vietor.81 Prüser kommt, insbesondere bezogen auf die zweite Bremer Vietorgeneration, sicher zu Recht zu dem Ergebnis: „Die religiöse Durchdringung aller Lebensumstände und Lebenslagen steht bei den Bremer Vietor außer Zweifel.“82 Die Bedeutung der Familie Vietor für die Neukonstituierung der Norddeutschen Missionsgesellschaft (NMG) Für das Überleben und die Neukonstituierung der NMG83 in Bremen 1850/51 kommt der Familie Vietor eine entscheidende Rolle zu, insbesondere C. R. Vietor, den Ustorf zusammen mit den Pastoren Treviranus und Mallet als „zentrale Gestalt“ der NMG in der Phase des Übergangs nach Bremen sieht.84 Das Monatsblatt (MB) der NMG gesteht ihm im Nachruf zu: „Auf Menschen gesehen hat keiner mehr dazu beigetragen, dass die Gesellschaft […]“ überlebte als C. R. Vietor.85 Julius Richter sieht in der Familie Vietor als „Kollektivpersönlichkeit“ neben dem späteren Missionsinspektor Zahn den prägendsten Faktor der NMG–Geschichte vor dem Ersten Welkrieg.86 Die NMG war 1836 aus dem Zusammenschluss von 12 norddeutschen Missionsvereinen zunächst in Hamburg gegründet worden und verstand sich als „interkonfessionell“.87 Die Trägerschaft setzte sich dementsprechend aus lutherischen und reformierten Kreisen zusammen, entsprechend dem ursprünglichen Ansatz der Erweckungsbewegung, nach dem es nicht auf konfessionelle Gestaltung des Glaubens ankam, sondern primär auf lebendigen Herzensglauben und brüderliche Gemeinschaft. Was die Erweckten bewegte, war nicht der (preußische) Unionsgeist, sondern der Allianzgeist. In diesem Geist arbeiteten im Hamburger Missionsverein sogar Täufer und Independentisten mit.88 Bis 1836 hat81 82 83

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Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 129. Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 323. Zur Geschichte der NMG vgl.: Schlunk, Martin: Geschichte und Eigenart der Norddeutschen Missions-Gesellschaft (Bremer Missions-Schriften; 37), Bremen 1913; Schreiber, August Wilhelm: Heimatgeschichte der Norddeutschen Mission. Darstellung der Entwicklung der Hilfsvereine der Norddt. Mission und der mit ihr verbundenen Missionsvereinigungen (Bremer Missionsschriften; Neue Reihe; 7), Bremen 1936; Schreiber, August Wilhelm: Bausteine zur Geschichte der Norddeutschen Missions-Gesellschaft. Gesammelt zur Hundertjahrfeier, Bremen 1936; Lehmann, Hans: Geschichte des Evangelischen Missionsvereins und der Norddeutschen Mission in Hamburg. Ein Beitrag zur Hundertjahrfeier der Norddeutschen Missionsgesellschaft am 9. April 1936, Bremen 1936; Hahn, Ernst Joachim: Die Geschichte der Norddeutschen Missionsgesellschaft, Phil. Diss, Tübingen 1942; Bergner, Gerhard: Gehet hin. 125 Jahre Norddeutsche Mission, Bremen 1961; Pabst, Martin: „Mission und Kolonialpolitik. Die norddeutsche Missionsgesellschaft an der Goldküste und in Togo bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges“ (Verlagsgemeinschaft Anarche; 23), München 1988; Ustorf 1986 (wie Anm. 5); Ustorf, Werner, 1989: Die Missionsmethode Franz Michael Zahns. Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 130. MB 2 (1897) (wie Anm. 55). Richter, Julius: Die Bedeutung der Norddeutschen Missions-Gesellschaft für das Missionsleben Deutschlands (Bremer Missions-Schriften; 29), Bremen 1911, S. 2,11. Lehmann, 1936 83), S. 19. Lehmann, 1936 (wie Anm. 83), S. 20. Bevor Johann Gerhard Oncken 1834 die erste Baptisten-

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ten die Missionsvereine sich als reine Unterstützerkreise für die Basler und später auch die Rheinische Mission verstanden. Die Aktivitäten der Vereine, deren Mitglieder vorwiegend aus dem gehobenen Bürgertum kamen, beschränkten sich auf die Lektüre von Missionsberichten und die Aquirierung von Spenden. Abgesehen von einem kleinen Missionsverein in Ostfriesland, der bereits 1802 gegründet worden war, war der am 21.12.1819 gegründete Bremer Missionsverein der älteste aller Missionsvereine der späteren NMG zwischen Ostfriesland im Nord-Westen und Mecklenburg im Nord-Osten.89 Mit Gründung der eigenen Missionsgesellschaft 1836 konnte man nun selber die Missionsgebiete bestimmen. Parallel zu dieser gewachsenen gestalterischen Möglichkeit kam es jedoch bald zu starken konfessionellen Spannungen zwischen Lutheranern und Reformierten, die in den 1840er an Schärfe noch zunahmen.90 Die eigentliche Missionsarbeit konnte 1842 mit der Aussendung der ersten vier Missionare nach Neuseeland aufgenommen werden. Bis 1849 konnten dort zwei Stationen gegründet werden, 500 Personen wurden getauft. 1843 wurde ein weiterer Missionar nach Ostindien ausgesandt, der jedoch bis 1850 nur drei Taufen durchführen konnte. 1847 wurden die ersten vier Missionare nach Westafrika ausgesandt, von denen drei innerhalb kurzer Zeit an Fieber starben, der vierte jedoch noch 1847 die erste Missionsstation in Peki, unweit von Ho im unteren Voltagebiet, gründen konnte.91 1848 bekam er Verstärkung durch zwei weitere Missionare. 1850 geriet die NMG in eine existentielle Krise, als die Missionskasse ein Defizit von 150.000 Courantmark aufwies und parallel dazu neun lutherisch geprägte Missionsvereine trotz Mallets dringendem Bitten, „das Panier des Herrn nicht zu verlassen“, aus dem NMG Unterstützerkreis austraten.92 Als Konsequenz überließ man das ostindische Missionsgebiet den scheidenden Lutheranern, verlegte den Missionssitz nach Bremen und beschloss, die Missionssatzung zu ändern.93 Mallet drang nach der jahrelangen Kakophonie darauf, die bislang „demokratische Verfassung der Gesellschaft in eine monarchische“ zu verwandeln.94 Die-

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gemeinde in Deutschland gründete, war er ein eifriges Mitglied des Hamburger Missionsvereins gewesen, ebd. Lehmann, 1936 (wie Anm. 83), S. 8 Ustorf, 1987 (wie Anm. 38), S. 42f. Lehmann, 1936 (wie Anm. 83), S. 28f. A.W. Schreiber weist im Zusammenhang mit dem frühen Tod der ausgesandten Missionare auf den Predigttext bei der Aussendungsfeier am 11.3.1847 hin. Er lehnte sich an das Wort des Jüngers Thomas an, der angesichts des riskanten Weges Jesu nach Jerusalem gesagt hatte: „Lasset uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben“ (Johannes 11,16). Der erste Missionar, Bultmann, starb bereits am 5.6.1847, nur wenige Wochen nach dem Eintreffen der Missionare, Schreiber, A. W.: Die Norddeutsche Missionsgesellschaft an der Jahrhundertwende ihrer Geschichte (Bremer Missionsschriften, Neue Reihe; 14), Bremen 1936, S. 14f. Die ausscheidenden Missionsvereine waren: Celle, Elmshorn, Glückstadt, Heide, Lauenburg, Ludwigslust, Neustrelitz, Rostock und Stade, Lehmann, 1936 (wie Anm. 83), S. 30. Die meisten Lutheraner schlossen sich in der Folge den lutherischen Missionen in Leipzig und Hermannsburg an. Es blieben nur die „milden“ Lutheraner in Hamburg und Altona bei der NMG, Schreiber, 1936 (wie Anm. 91), S. 8. Lehmann, 1936 (wie Anm. 83), S. 30. Ustorf, Werner/Nestvogel, Renate: Einleitung, in: Ustorf, Werner, 1986: Mission im Kontext, S. 5. A.W. Schreiber begründet die neue „monarchische Stellung“ der NMG mit der Notwen-

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ses Lösungspaket der außerordentlichen Generalversammlung wurde in Bremen jedoch nicht ungeteilt gutgeheißen. Einige Vorstandsmitglieder des Bremer Missionsvereines traten wegen der desolaten finanziellen Lage aus dem Verein aus.95 Als selbst Gottfried Treviranus angesichts dieser prekären Lage schwankend wurde, beschwor ihn C. R. Vietor unbedingt fest zu bleiben: „Hoffentlich steht ihr doch fest! Unsre Flagge weht auf allen Meeren und wir wohnen in den reichsten Gegenden Deutschlands! Wenn irgendjemand in unsrem Vaterlande, so sind wir vom Herrn darauf gewiesen, das Werk der Mission zu treiben.“96 Für C. R. Vietor war darüber hinaus klar, dass insbesondere das afrikanische Missionsgebiet auf keinen Fall aufgegeben werden durfte. Im Rückblick erinnert Vietor an diese besondere moralische Pflicht: „Wenn ein Heidenland überhaupt, so habe die Sklavenküste ein Recht darauf vor Gott und Menschen, daß ihr, wie ihr von Namenchristen so viel Fluch, so nun von rechten Christen der Segen des Evangeliums gebracht werde.“97 Vietors Eifer für die Mission entstand nicht erst in der Krise der Gesellschaft. Bereits in seiner Studentenzeit hatte er sich mit dem späteren Missionsinspektor der Basler Mission, Josenhans, angefreundet, eine Beziehung, die ein Leben lang hielt.98 Als er 1843 sein Amt als Pastor adjunctus in Blumenthal antrat, konnte er bald durch seine leidenschaftliche Kollektenarbeit die Missionsspenden der Gemeinde verzehnfachen. Die vormals schläfrige Gemeinde hatte unter seiner Verkündigung eine Erweckung erlebt, in deren Folge die Kirche zu klein wurde und Emporen eingebaut werden mussten.99 Sowohl in Blumenthal als später auch in der Liebfrauengemeinde führte Vietor neben jährlichen Missionsfesten regelmäßige Missionsstunden ein. Kein Gebet, egal ob in der Kirche oder privat im Freundeskreis, schloss er, ohne an die Mission im Allgemeinen und die NMG im Besonderen zu denken. Für ihn waren die Missionsarbeit und der Aufruf zur Beteiligung daran eine Gewissensfrage, nicht zuletzt weil in den fast 30 Jahren seiner Zugehörigkeit zum Vorstand viele Missionare ihr Leben in Afrika lassen mussten.100 Wenn die Ausgesandten sogar ihr Leben einsetzten und oft genug damit bezahlen muss-

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digkeit, schlag- und entscheidungskräftiger zu werden, denn „Mission ist Krieg“, Schreiber, 1936 (wie Anm. 91), S. 10f. Ustorf 1986 (wie Anm. 5), S. 124. Vietor, 1897 (wie Anm. 1), S. 194, vgl. auch MB 1851, S. 32, zit., bei. Ustorf 1986 (wie Anm. 5), S. 125. AMZ 1886, S. 67, zit. bei Ustorf 1986 (wie Anm. 5), S. 125. MB 2 (1897) (wie Anm. 55), S. 9; Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 31. Auch sein Bruder Friedrich Martin und dessen Frau Helene pflegten engen Kontakt zu Josenhans und besuchten ihn öfters in Basel, MB 3 (1906) (wie Anm. 1). Schreiber, 1936 (wie Anm. 83), S. 102f. Die Missionskollekten stiegen umgerechnet von 100,RM auf 1.000,- RM im Jahr. MB 2 (1897) (wie Anm. 55), S. 10f. Das MB gibt hier die runde Zahl von 70 verstorbenen Missionaren an. A. W. Schreiber rechnet bis 1886, dem 50.Jahrestag der NMG, mit 54 verstorbenen Missionaren, darunter 36 Männer und 18 Frauen. Dazu kamen freilich noch weitere 30 Kindergräber, die zu beklagen waren. Weitere 40 der insgesamt 110 bis 1886 ausgesandten Missionare mussten wegen gebrochener Gesundheit aus dem Dienst ausscheiden. Angesichts dieser mörderischen Bilanz und der kümmerlichen Früchte der Arbeit erscheint Vietors Ernst und Gewissenhaftigkeit in einem anderen Licht. Bis 1882 hatte die Mission erst 250 Christen und weitere 120 Schüler sammeln können, Schreiber, 1936 (wie Anm. 91), S. 15f.

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ten, konnte man zu Hause unmöglich nachlässig, träge oder gleichgültig sein. Man konnte auch angesichts solcher Opfer unmöglich die Arbeit abbrechen und damit den Tod der Missionare vergebens sein lassen. Als er 1855 eine Zwischenbilanz des Einsatzes und des Ergebnisses zog, war für ihn klar: „Für die sieben im Kampfe gefallenen Missionare sind sieben Neger als Ersatz gegeben. Unserer geringen Arbeit sind sieben Seelen geschenkt. Welcher Lohn für alle Mühe, welcher Antrieb zur Weiterarbeit!“101 Schon während seiner Zeit in Blumenthal drängte C. R. Vietor seinen Bruder Karl unter Verweis auf den letzten Befehl von Jesus: „Karl, wir müssen der Mission noch ganz anders helfen!“ und hoffte auf dessen wirtschaftliche Kraft zugunsten der Mission.102 Für Vietor stand fest, dass die Kirche angesichts der zunehmenden Säkularisierung nie aufhören dürfe „eine erobernde Macht zu sein“. Nach innen durch die Innere Mission und nach außen durch die Äußere Mission. Dabei hoffte er, dass in den Missionsgebieten „dort das Licht wieder aufgeht, wenn sie es hier auslöschen wollen.“103 Im Januar 1851 wurde C. R. Vietor in den neuen Vorstand der NMG gewählt und übernahm die Redaktion des Monatsblattes, die er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Vorstand 1888 behielt und das seit 1847 nicht mehr herausgebracht worden war.104 Der neue Vorstand setzte sich aus fünf Pastoren und Predigern sowie sechs Kaufmännern zusammen, darunter vier führende Überseekaufleute. Zwei Vorstandsmitglieder gehörten auch der Bremer Bürgerschaft an.105 Die doppelte Vietor-Besetzung im Vorstand der NMG blieb bis 1930, mit einer Unterbrechung zwischen 1888–1900, fast ununterbrochen ein Kennzeichen der NMG. Johann Carl blieb bis 1867 im NMG Vorstand und wurde dann von seinem Bruder Friedrich Martin abgelöst, der bis zu seinem Tod 1906 im Vorstand blieb, wenngleich in den letzten Lebensjahren nur noch nominell.106 C. R. Vietor, der von 1868–1888 Präses 101 Schreiber, 1936 (wie Anm. 91), S. 15. 102 MB 3 (1906) (wie Anm. 1). Mit dem „letzten Befehl“ von Jesus ist der Missionsauftrag gemeint, wie er in Matthäus 28,19–20 und Markus 16,15 überliefert ist. 103 MB 1851, S. 35 und MB 1859, S. 459, zit. bei Ustorf 1987 (wie Anm. 38), S. 45. 104 MB 2 (1897) (wie Anm. 55), S. 9. Er übernahm das Blatt nach der zweiten Vorstandssitzung, der er beiwohnte. 105 Die Vorstandsmitglieder 1850/51 waren: Georg Gottfried Treviranus (Pastor prim. St. Martini), Cornelius Rudolf Vietor (Pastor adjunctus in Blumenthal, ab 1855 Pastor prim. an der Liebfrauenkirche), Friedrich Ludwig Mallet (Pastor prim. St. Stephanie), Johann Georg Karl Petri (Prediger), Hermann Müller (Kandidat der Theologie, später Pastor in Blumenthal), Heinrich Engelbert Haase (1851 Rechnungsführer, Kaufmann), Johann Carl Vietor (Überseekaufmann), Johannes Achelis (Überseekaufmann und amerikanischer Konsul), Carl Bartholomäus Ulrichs (Überseekaufmann und Konsul), Johannes Stoevesandt (Überseekaufmann), Hieronymus Thiele (Kaufmann), Ustorf 1986 (wie Anm. 5), S. 128. Mitglied der Bürgerschaft waren Johann Carl Vietor (1848–1867), Heinrich Engelbert Haase (1848–1851), Johannes Achelis (aber erst von 1855–63), ebd. S. 128f. 106 Altena, Thorsten: „Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils“. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918 (Internationale Hochschulschriften; 395), Münster [u.a.] 2003, Anhang Missionarsverzeichnis S. 62. Altena liefert im Anhang ein mehr als 600 Seiten großes Personenregister mit Kurzbeschreibungen zu allen über 800 ordinierten und nichtordinierten Mitarbeitern der deutschen protestantischen Missionen in den afrikanischen Kolonien Deutschlands zwischen 1884–1918.

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der NMG war, schied 1888 aus dem Vorstand aus, weil sein Gehör so schwach geworden war, dass er den Sitzungen nicht mehr recht folgen konnte.107 Spannungen mit Michael Zahn kamen hinzu. Der Kaufmann Johannes Schröder (1836–1916) löste ihn als Präses ab.108 J. K. Vietor trat dem Vorstand 1900 bei, in dem er bis 1930 verblieb,109 sein Bruder Cornelius Rudolf Vietor (1863–1932), seit 1894 Pastor an St. Stephanie, 1904.110 Durch die angespannte finanzielle Lage der Mission war es zunächst nicht mehr möglich, einen Missionsinspektor anzustellen, wie bis 1850 üblich. Die ehrenamtliche Geschäftsführung oblag daher bis zur Anstellung Franz Michael Zahns 1862 den Vorstandsmitgliedern C. R. Vietor, Carl Vietor und dem Präses Gottfried Treviranus.111 Nur drei Monate nach der Neukonstituierung und Vorstandsneuwahl geriet die NMG im April 1851 erneut in eine existentielle Krise, als herauskam, dass das Vorstandsmitglied Heinrich Engelbert Haase die NMG um 8000 Taler betrogen hatte.112 Haase, der nicht nur Vorstandsmitglied und Kassierer der NMG war, sondern auch Bauherr der St. Stephanie Gemeinde und Vorstandsmitglied der Bremer Bibelgesellschaft, gehörte von 1848–1851 als Rechnungsführer der Senatsdeputation für das Hauptschulwesen zur Bremer Bürgerschaft. Wegen Unterschlagung einer Summe von insgesamt 150.000 Talern wurde er 1852 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus der Mission war er bereits im September 1851 ausgeschieden.113 Die Entwicklung der Missionsarbeit verlief zunächst schleppend. Kurz nach seiner Rückkehr aus Afrika verstarb der letzte der vier 1847 ausgesandten Peki-Missionare, Lorenz Wolf, 1851 in Hamburg. Als im April 1852 Missionar Johann Menge in Peki verstarb, verlegte die Mission 1853 ihre Station nach Keta an der Küste. Ab 1856 nahm die Arbeit jedoch einen Aufschwung, auch wenn für 1857, nach zehn Jahren Missionsarbeit, erst vierzehn Personen insgesamt getauft worden waren. 1856 konnte in Waya, 1857 in Anyako und 1859 in Ho jeweils eine weitere Station eröffnet werden. Eine weitere Ausweitung der Arbeit gelang bis zur deutschen Kolonialzeit allerdings nicht mehr.114 Neben der finanziellen Unterstützung zeigte sich die dominierende Rolle der Familie Vietor bei der Entwicklung und Konsolidierung der NMG nach 1850 auch im logistischen Bereich. Bereits 1853 war der Gedanke diskutiert worden, ein eige107 Erbar, Ralph: Ein „Platz an der Sonne“? Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884–1914 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 51), Stuttgart 1991, S. 236; MB 2 (1897) (wie Anm. 55), S. 9. Nach Schreiber blieb Johann Carl Vietor bis zu seinem Tod 1870 im Comitee der NMG, Schreiber, 1936 (wie Anm. 83), S. 210. 108 Altena, 2003 (wie Anm. 106), Anhang S. 57. Altena gibt irrtümlich an, C. R. Vietor hätte bis zu seinem Tod, 1897, zum Vorstand der NMG gehört, ebd. S. 61. 109 J. K. Vietor trat am 21.1.1930 aus dem Vorstand der NMG aus, J. K. Vietor an Vorstand der NMG vom 21.1.1930, StAB 7,73-24. Altena gibt irrtümlich als Austrittsdatum das Jahr 1932 an, vgl. Altena, 2003 (wie Anm. 106), Anhang S. 62. 110 Altena, 2003 (wie Anm. 106), Anhang S. 61f. 111 Lehmann, 1936 (wie Anm. 83), S. 40. A. W. Schreiber nennt auch noch die Kaufleute Stoevesandt und Wilckens, Schreiber, 1936 (wie Anm. 91), S. 5. Treviranus war von 1851–1868 Präses der NMG, Schreiber, 1936 (wie Anm. 83), S. 210. 112 Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 125. 113 Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 129. 114 Ustorf, 1986 (wie Anm. 5), S. 186.

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nes Missionsschiff anzuschaffen. Mit der Eröffnung einer englischen Dampfschifffahrtslinie nach Westafrika erübrigte sich dieser Gedanke jedoch zunächst. Eigene Bremer Verbindungen nach Westafrika hatte es zwar vorübergehend zwischen 1841–1851 gegeben, sie waren aber seither eingestellt worden. 1856 tauchte der Gedanke eines Missionsschiffes erneut auf, da die Passagepreise bei der englischen Linie sehr hoch waren und auch die Frachtmodalitäten sich als ungünstig herausgestellt hatten. In dieser Situation machte Carl Vietor den Vorschlag, auf eigene Kosten ein Schiff zu bauen, das die NMG- und die Basler Missionare zu 40 % günstigeren Konditionen nach Westafrika bringen würde. Das Schiff sollte aber Eigentum der Firma bleiben und an der westafrikanischen Küste Handel treiben. Bereits am 2.2.1857 kam es zum Stapellauf der Dahomey, einem Namen, den die NMG offensichtlich gewünscht hatte, „denn jenes bluttriefende, mächtige Königreich ist das Ziel unserer Mission.“115 Am 26.10.1857 stach die Dahomey von Bremerhaven aus in See, unter anderem mit Waren für Accra, Keta und Lagos. Am 3.1.1858 legte sie in Keta an. Die Waren wurden vom neu eingestellten kaufmännischen Agenten der NMG, Christian Rottmann, in Empfang genommen, der bereits am 27.3.1857 eingetroffen war, um die Missionsstation für ihre neuen zusätzlichen Faktoreiaufgaben vorzubereiten. Die Dahomey setzte dann ihre Fahrt entlang der westafrikanischen Küste über Anecho, Ahgnay, Grand-Popo, Ouidah und Porto Novo fort, wo sie überall einheimische Waren aufnahm.116 Damit dürfte sie den von Bremer Reedern bereits in den 1840er Jahren praktizierten „fliegenden Tauschhandel“ fortgesetzt haben, der darin bestand, dass kleine Schiffe die westafrikanische Küste abfuhren und überall dort, wo Ware angeboten wurde, diese gegen eigene Produkte eintauschte. Der Tauschhandel fand dabei an Bord der Schiffe statt, da die westafrikanische Küste über keine geeigneten Anlegeplätze verfügte. Ein Grund der Einstellung dieser Fahrten dürfte darin bestanden haben, dass der Warenumsatz zu klein und die Fahrten daher nicht rentabel waren.117 Auch wenn mit dieser ersten Fahrt der Dahomey ohne Frage der Grundstock für das Vietorsche Engagement in West115 MB 1856, S. 302, zit. bei Müller 1971 (wie Anm. 74), S. 56. Müller weist daher zurecht darauf hin, dass sowohl Schramm als auch Abel fälschlicherweise aus dem Schiffsnamen auf eine bereits 1856 bestehende Faktorei der Firma Vietor in Anecho bzw. Dahomey schließen, vgl. Schramm, Percy Ernst: Deutschland und Übersee. Der deutsche Handel mit anderen Kontinenten, insbesondere Afrika, von Karl V. bis zu Bismarck. Ein Betrag zur Geschichte der Rivalität im Wirtschaftsleben, Braunschweig [u.a.] 1950, S. 523; Abel, Herbert: Bremen und die deutschen Kolonien, in: Knittermeyer, Hinrich/Steilen, Diedrich (Hrsg.): Bremen. Lebenskreis einer Hansestadt, Bremen 1940, S. 319f. Müller weist dagegen nach, dass eine erste Handelsniederlassung in Little Popo (Anecho) erst für das Jahr 1873/74 bezeugt ist, Müller, Hartmut, 1973: Bremen und Westafrika, S. 75–148, 83. 116 Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 58. Müller weist hier auch darauf hin, dass die Dahomey mit drei Flaggen behisst war, der Vietorschen Hausflagge, der Bremer Staatsflagge und der Missionsflagge. Für den Fall, dass die Dahomey nicht genügend Waren in Westafrika aufnehmen könne, hatte der Kapitän die Order „von Keta nach Rio de Janeiro zu gehen, um als Rückfracht Kaffee zu nehmen“, Schlunk, Martin: Die Norddeutsche Mission in Togo. Probleme und Aufgaben (Bd. 2), Bremen 1912, S. 159. Für Schlunk war die mittelfristig erfolgreiche Etablierung des Hauses Vietor in Westafrika ein Nebenprodukt der Unterstützung der Mission, keinesfalls Selbstzweck. 117 Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 50f.

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afrika gelegt wurde, konnte von Rentabilität der Fahrten, die in den nächsten Jahren folgten, keine Rede sein. Vielmehr brachte jede der zwei bis drei Fahrten im Jahr zunächst einen Verlust von 1500 bis 1600 Talern.118 Der Versuch Tells und Heinrichs, dem anfänglichen Westafrika–Engagement der Firma Vietor eine profitorientierte Motivation zu unterstellen, trifft daher bestenfalls einen Teil der Wahrheit. Tell und Heinrich gehen im Rückschluss auf Müllers Hinweis, die früheren Spekulationsfahrten Bremer Kaufleute nach Westafrika in den 1840er Jahren wären als unrentabel aufgegeben worden, da sie im Gegensatz zu englischen und französischen Unternehmen auf kein Faktoreinetz zurückgreifen konnten, davon aus, dass „die Firma Vietor […] auf Missionsstationen als Anlaufpunkte für den eigenen Handel [hoffte].“119 Wenngleich sie damit durchaus richtig liegen, verwechseln sie jedoch in ihrer Schlussfolgerung Ursache und Wirkung. Ähnlich argumentiert auch Ustorf teilweise, wenn er betont, die Mission hätte der Firma Vietor das Startrisiko abgenommen, allein deswegen hätte die Firma das Angebot der verbilligten Passage gemacht. Auch die Spenden und Kredite der Firma an die Mission interpretiert er in erster Linie im Licht eines wirtschaftlichen Gewinnstrebens.120 Eine rein ökonomische Deutung vernachlässigt jedoch das tiefe religiöse Sendungsbewusstsein der zweiten Bremer Vietor–Generation und unterschätzt die ideelle Grundmotivation der vom alten Bibelglauben durchdrungenen Kaufleute Carl und Friedrich Martin Vietor. Abgesehen davon sprechen die Abläufe eher dafür, dass die Reihenfolge umgekehrt war und die Firma Vietor in Vorleistung trat und sich die Mission dafür revanchierte, indem sie der Personalunion Christian Rottmanns zustimmte. Im Zusammenhang mit dem vietorschen Angebot des Schiffsbaus 1856 hatte die NMG zugestimmt, ihrem neu eingestellten kaufmännischen Agenten für die Missionsstationen, Christian Rottmann, eine nicht exakt definierte Freistellung für Dienste im Auftrag der Firma Vietor zu genehmigen. Der Anstellungsvertrag von 1856 besagte in § 7: „Wir geben ihm gern die Erlaubniß, seine freie Zeit zu verwenden im Interesse der Herren F. M. Vietor Söhne, die, so Gott will, durch ihr Schiff eine Handelsverbindung mit der Küste anknüpfen. Es ist ihm gestattet, in dieser Beziehung auch kleine Reisen in die Umgebung zu machen, doch berechnet er die Kosten derselben so wie andere, aus diesem Verhältniß entspringende Ausgaben natürlich jenem Handelshaus.“121

Der Hintergrund für die Einstellung Rottmanns muss zunächst im Lichte der schon 1851 diskutierten Überlegungen der NMG gesehen werden, eine eigene Reederei sowie eine Im- und Exportfirma ins Leben zu rufen. Gespräche mit der Basler Mission darüber hatten zwar deren Zustimmung erbracht, aber auch deren Abstand an 118 Treviranus an Josenhans vom 24.6.1860, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 34. 119 Heinrich, Uwe/Tell, Birgit: Mission und Handel im missionarischen Selbstverständnis und in der konkreten Praxis, in: Ustorf, Werner (Hrsg.): Mission im Kontext, Bremen 1986, S. 257– 292, 282; vgl. Müller 1971 (wie Anm. 74), S. 50–56. 120 Ustorf, 1987 (wie Anm. 38), S. 47. An anderer Stelle anerkennt Ustorf jedoch später das Hauptrisiko der Firma Vietor und betont, dass es sich „hier um ein Geschäft, das von frommen und wohlhabenden Bürgern als eine humanitär-kommerzielle Investition bewusst riskiert wurde“ handelte, Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 34. 121 Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 57.

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einer Beteiligung wegen des finanziellen Risikos.122 Zunächst war damit der Gedanke vom Tisch. 1854 ergriffen die Basler jedoch von sich aus die Initiative neu und beauftragten den Altonaer Kaufmann H. L. Rottmann, in Accra die Spedition der Basler Mission zu übernehmen. Seine Instruktionen für die dortige Aufgabe enthielten auch die Bemerkung, er solle „zugleich sehen, ob nicht ein kleiner Handel einen schönen ehrenhaften Gewinn abwerfen könnte.“123 Tatsächlich richtete Rottmann 1855 eine erste gut gehende Missionsfaktorei ein, die 1859 zur Keimzelle der Basler Missionshandelsgesellschaft wurde. Am finanziellen Risiko derselben beteiligte sich die Mission bis dahin nicht. Als dann Carl Vietor im April 1856 den Bau des „Missionsschiffes“ ankündigte, wollte er vorweg den Bruder Rottmanns, Christian Rottmann, nach Accra schicken, damit er sich dort das nötige Geschäftswissen aneignen könne, mit dem er später in Keta eine eigene Faktorei aufbauen sollte.124 Nach Bedenken aus Basel, das Unternehmen Rottmanns in Accra könne durch die Konkurrenz in Keta leiden, nahm er jedoch wieder Abstand von diesem Schritt und beteuerte: „Wir machen diese Unternehmung nach Africa warlich (sic) nicht aus Gewinnsucht, sondern einzig u. allein in der Hoffnung unserer u. eurer Mission zu dienen.“125 Zugleich bot er Basel an, die Route seines zu bauenden Schiffes über Accra zu legen und die Spedition der Waren für die Basler Stationen von der Firma Bagelmann & Vietor ausführen zu lassen, wie es dann später auch erfolgte. Somit kam auch die Basler Mission in den Genuss des um 40 % vergünstigten Transportes. Wenn die Firma Vietor nach ihrem Angebot an die beiden Missionen nach einer Lösung suchte, wie sich die Fahrten auch kaufmännisch rechnen könnten, kann man ihr nicht unterstellen, die Missionen für ihre Expansion missbraucht zu haben und daraus eine Umkehrung der Motivlage konstruieren.126 Es war für Carl Vietor als Kaufmann klar, dass sein Unternehmen auch die kommerziellen Gesichtspunkte im Auge behalten müsse. Die Fahrten nach Westafrika sollten daher auch von dem Versuch getragen sein, ins afrikanische Palmölgeschäft einzusteigen,127 denn die Nachfrage nach Palmöl für die Seifen- und Stearinkerzenproduktion, besonders aber als Schmiermittel für die Maschinen der aufstrebenden Industrie war seit den 1840er gestiegen.128 Carl und Friedrich Martin Vietor versicherten allerdings, dass es ihnen dabei nicht um die Expansion der Firma ginge, sondern lediglich um die Sicherstellung von Deckungsbeiträgen für ihre Flotte, indem sie auf jeglichen möglichen Gewinn aus dem Westafrikahandel von vornherein verzichteten: Josenhans an Treviranus vom 15.12.1855, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 33. Instruction für H. L. Rottmann, o. D., zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 32. Treviranus an Josenhans, vom 8. und 15.4.1856, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 33. C. Vietor an Josenhans vom 16.12.1856, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 33. Man muss aber auch nicht so weit gehen wie Schramm, der die Uneigennützigkeit Vietors mit dem ersten König Israels, Saul, vergleicht, der wegen verlorener Esel auszog und dann unverhofft vom Propheten zum König gesalbt wurde. Immerhin wurde schließlich die Chance, auf Dauer rentable Geschäfte zu machen, durchaus nicht ausgeschlossen, Schramm, 1950 (wie Anm. 115), S. 259. 127 Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 33. 128 Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 51. 122 123 124 125 126

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2 Familienhintergrund und erste Berufsjahre (1861–1888) „Da wir dieses Geschäft nicht zu uns. Vortheile od. aus Gewinnsucht, sondern einzig und allein im Interesse der Mission unternehmen wollen, so ist es unsere Absicht den etwaigen Gewinn, der sich sowohl beim Schiff wie beim Geschäfte herausstellen sollte, nicht für uns zu behalten, sondern der Missionskasse zufließen zu lassen. Es ist selbstredend, daß ein solcher Zeitpunkt erst dann eintreten kann, wenn das Schiff sich mit Gottes Hülfe frei gefahren hat.“129

Im Rückblick auf die Anfangszeit des Westafrikahandels betonte Friedrich Martin Vietor später gegenüber Friedrich von Bodelschwingh im Zusammenhang mit dessen Überlegungen, eine Missionsarbeit im deutschen Teil Togos aufzunehmen, die Firma sei überhaupt nur deswegen aufgebaut worden „[…] um mit dem Africa Geschäft und aus dem Gewinn desselben der Norddeutschen Mission und auch sonst dem Reiche Gottes zu dienen. Obgleich ganz unabhängig in geschäftlicher Hinsicht von der Mission – anders wie die Basler mit ihren Missionshandlungsgesellschaften, war es doch unser größtes Bestreben junge Leute hinauszusenden, die christlich gesinnt und draußen der Mission zumindesten (sic) keine Schande machen.“130

Auch wenn sich Tell und Heinrich in ihrer Bewertung der Motivlage der Vietorbrüder auf Franz Michael Zahn berufen, der vom Nutzen des Missionars für den Kaufmann meint, der Missionar „öffnet ihm die Wege, weil er den Schlüssel zu den misstrauischen heidnischen Herzen hat“,131 kann man diese Aussage kaum auf die Situation von 1856 beziehen. Die These Zahns muss überhaupt zumindest relativiert werden. Wolfgang Reinhard weist im Zusammenhang mit der katholischen Japan- und Chinamission darauf hin, dass die dortigen Regenten der Mission nur deshalb gewisse Wirkungsräume eröffneten, weil sie am Handel interessiert waren, der mit der Mission verknüpft war. „Selbst in Afrika konnte ein Missionar als Kontaktperson zum europäischen Handel attraktiver sein als in seiner Eigenschaft als Verkünder der frohen Botschaft.“132 Auch für die Situation in Togo war der Handel durchaus ein wichtiger Magnet für die Mission, um mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Gustav Müller weist im Zusammenhang mit der Personalunion Rottmanns darauf hin, dass der Handel der Mission die Türen zu den Menschen aufschloss: „ Erst als […] in Verbindung mit der Mission ein christlicher Handel eröffnet wurde, begannen die Eingeborenen den Platz aufzusuchen.“133 Bedenkt man weiter, dass die erfolgreichste Zeit der Mission erst mit Beginn der kolonialen Be129 Erklärung der Firma Friedrich Martin Vietor Söhne vom 8.7.1856, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 33. Eine spätere Übernahme Rottmanns in die Firma wurde in Aussicht gestellt. 130 F. M. Vietor an F. v. Bodelschwingh vom 9.6.1890, AVEM, M.I.9.30, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 35. Auf einen vorbildlichen, christlichen Lebenswandel der Vietorangestellten wurde streng geachtet, Instruktionen der Firma F. M. Vietor Söhne an europäisches Personal in Afrika o. D., VPAH, Konv. 3, Teil 2. Hier wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Geschäft der Mission dienen will. Daher müssten die Angestellten einen unanstößigen Lebenswandel führen, der den Heiden ein Vorbild sein soll. Eine Heirat war nur nach vorheriger Genehmigung der Geschäftsleitung möglich, ebd., S. 1f. 131 Zahn, Friedrich Martin: „Handel und Mission“, in: AMZ 1886, S. 481–502, 486, zit. bei Heinrich/Tell, 1986 (wie Anm. 119), S. 259. 132 Reinhard, Wolfgang: Christliche Mission und Dialektik des Kolonialismus, in: Boehm, Laetitia u.a (Hrsg.): Historisches Jahrbuch. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben, Freiburg, München 1989, S. 353–370, 359. 133 Müller, Gustav: Geschichte der Ewe-Mission, Bremen 1904, S. 103.

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sitzergreifung anbrach, wird deutlich, dass der Handel weniger von der Mission als vielmehr die Mission vom Handel und der neuen politischen Herrschaftslage profitierte. Handel und politische Machtausübung haben zumindest für den afrikanischen Kontinent ganz wesentlich die Arbeit der Mission beflügelt.134 Das Verhältnis von Handel und Mission beschäftigte die Firma Vietor und die NMG auch weiterhin. Bereits der Kontrakt mit Rottmann war bei einzelnen Missionaren auf Befürchtungen einer Vermischung der beiden Sphären gestoßen. Einige Wochen nach Eintreffen Rottmanns in Keta kommentierte Missionar Schlegel § 7 seines Vertrags in einem Schreiben an den Missionsvorstand in Bremen vom 27.4.1857 irritiert: „Dieser Artikel kommt uns übrigens etwas seltsam vor. Denn was soll man unter „freier Zeit“ (Herv.i.Orig.) verstehen, die jemand zu einem Handel an der Küste Afrikas verwenden darf, welcher noch nicht einmal angefangen ist? – So viel ist klar, will Rottmann einen Handel für die Herren Vietors (sic) anfangen, so muß er zuerst bauen, das Missionshaus kann wohl sein Wohnhaus, aber nicht zugleich Kaufhaus sein.“135

In Bremen sah man die Gefahr der unzulässigen Vermischung von Missions- und Handelsinteressen gelassener. Für C. R. Vietor bestand keine Gefahr, sah er doch die eigentliche Erfüllung eines christlichen Kaufmannes darin, „so für beides zu arbeiten, für Ausbreitung des Reiches des Herrn und für einen redlichen Handel, das ist alte Weise der Bremer Kaufleute.“136 Diese Sichtweise änderte sich jedoch nach der Berufung Franz Michael Zahns zum Missionsinspektor 1862. Er forderte eine strikte Trennung von Mission und Handel, weil er in der zu großen Nähe beider Sphären die Gefahr der Verweltlichung der Mission sah und befürchtete, die einheimische Bevölkerung könnte den Eindruck gewinnen, die Mission würde ein wirtschaftliches Eigeninteresse antreiben in ihrer Arbeit.137 1868 beendete Zahn schließlich die Personalunion Rottmanns und entließ ihn aus den Diensten der NMG.138 In der Folge arbeitete Rottmann nur noch als Agent der Firma Vietor. In134 Nicht ohne Grund verwies Alois Fürst zu Löwenstein, Zentrumsabgeordneter und von 1928– 1948 Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in seiner viel beachteten Rede auf dem Deutschen Katholikentag in Breslau 1909 auf die Chancen der kolonialen Missionssituation: „Heute haben wir eine Missionsgelegenheit wie vielleicht noch nie seit den Zeiten der Apostel“, zit. bei: Gründer, Horst: Koloniale Mission und kirchenpolitische Entwicklung im Deutschen Reich, in: Gründer, Horst / Post, Franz-Joseph (Hrsg.): Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht. Studien zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus. Gesammelte Aufsätze (Europa-Übersee, Historische Studien; 14), Münster 2004, S. 209–226, 214. 135 Zit. bei Heinrich, Tell 1986 (wie Anm. 119), S. 261. 136 MB 1857, S. 339. 137 Zahn, F.M.: Über die Verbindung merkantiler und gewerblicher Thätigkeiten mit der Mission, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 35. 138 Ustorf weist darauf hin, dass die näheren Umstände, die zur Auflösung Auflösung der Personalunion geführt hatten „noch sehr im Dunkeln liegen“, die Spannungen zwischen Missionaren und Kaufleuten aber wohl einen wichtigen Einfluss darauf hatten, Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 35. Möglicherweise spielte auch die 1863 geschlossene Ehe Rottmanns mit einer Mulattin dabei eine Rolle. Nach Theil war Rottmann der einzige Missionar der NMG, der je eine Mulattin oder Afrikanerin heiratete, Theil, Ilse: Reise in das Land des Todesschattens. Lebensläufe von Frauen der Missionare der Norddeutschen Mission in Togo /Westafrika (von 1849 bis 1899).

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zwischen hatte er neben Keta noch zwei weitere Faktoreien eröffnet. 1860 in Anyako, wo seit 1857 eine Missionsstation existierte, und 1862 in Ada an der Voltamündung, hier bestand keine Missionsstation. Mit der Entflechtung von Handel und Mission beschritt die NMG einen anderen Weg als die befreundete Basler Mission, die mit Gründung der Basler Missionshandelsgesellschaft 1859 einen eigenen wirtschaftlichen Zweig ins Leben gerufen hatte. Auch wenn dieser de jure selbständig war, lag die Geschäftsführung doch bis 1917 bei der Basler Mission,139 sodass die Trennung von Handelsgesellschaft und Mission oftmals nicht ausreichend erkennbar war und zu entsprechenden Vorwürfen der Vermischung führte.140 Für die finanzielle Basis der Basler Missionsarbeit erwies sich die Handelsgesellschaft jedoch als außerordentlich bedeutsam, brachte sie doch bis 1914 etwa die Hälfte des gesamten Missionsbudgets auf.141 Mit Gründung der Missionshandelsgesellschaft lief der Vorzugspreis Vietors für die Basler aus, sie mussten fortan normale Frachtpreise bezahlen, weil es sich jetzt um ein kommerzielles Unternehmen handelte.142 Ähn-

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Eine Analyse als Beitrag zur pädagogischen Erinnerungsarbeit (Beiträge zur Missionswissenschaft und interkulturellen Theologie; 23), Münster 2008, S. 209. Zwar heiratete auch Josua Leuze in den 1880er Jahren eine Mulattin, schied dann aber aus der NMG aus, um 1887 bei der Basler Mission als Generalkassierer in Kamerun anzufangen, ebd., S. 270. Altena gibt an, dass Leuze von 1878–1885 als Kaufmann bei der Firma Vietor angestellt gewesen sei, 1885 Missionar der NMG wurde und 1887 als Generalkassierer bei der Basler Mission eingestellt wurde. Hier war er mit ökonomischen Fragen beschäftigt. Er ertrank 1888, Altena, 2003 (wie Anm. 106), Anhang, S. 99. Altena irrt aber, wenn er Leuze als Angestellten der Firma J. K. Vietor beschreibt. Die Firma J. K. Vietor wurde erst 1888 gegründet, es muss daher F. M. Vietor Söhne heißen. Auch der Bruder Christian Rottmanns, Hermann Ludwig Rottmann, war bald nach seiner Ankunft in der Goldküste 1854 eine Mischehe eingegangen, die nur mit knapper Mehrheit im Basler Missionsvorstand nachträglich akzeptiert wurde, Lenzin, René: „Afrika macht oder bricht einen Mann“. Soziales Verhalten und politische Einschätzung einer Kolonialgesellschaft am Beispiel der Schweizer in Ghana (1945–1966), Basel2 2000, S. 51. Stettler, Niklaus: Basler Handelsgesellschaft, in: HLS 2 (2003). URL: http://www.hls-dhs-dss. ch/textes/d/D43012.php (15.8.2012). Baur, John: Christus kommt nach Afrika. 2000 Jahre Christentum auf dem Schwarzen Kontinent (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte; 6) 2006, S. 139. Wie schwierig die Unterscheidung von Handelsgesellschaft und Mission war, zeigt das Beispiel des Konfliktes zwischen der Basler Mission und der GNWK in Bali/Kamerun 1905. J. K. Vietor musste sich mehrmals nach dem eigentlichen Konflikthergang erkundigen, der auch deswegen so verworren war, weil keine Klarheit bestand, mit wem die GNWK 1903 ein Abkommen getroffen hatte, der Mission oder der Handelsgesellschaft, vgl. den Briefverkehr zwischen Vietor und Preiswerk, GNWK und Basler Miss. Handelsgesellschaft sowie Vietor und Würz, ABM, E–2,19, Bl. 18,19, 32. Gründer, Horst: Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit (1884–1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), München 1982, S. 31. Müller 1971 (wie Anm. 74), S. 57. Tell und Heinrich sehen den Grund für das Auslaufen der Bevorzugung durch Vietor in der nun entstandenen Handelskonkurrenz und „weil jetzt ihre Interessen gefährdet waren“, Heinrich/Tell 1986 (wie Anm. 119), S. 259. Dagegen spricht allerdings, dass die Basler Missionshandelsgesellschaft der Firma Bagelmann & Vietor 1859 „die gesamte europäische Handelsvertretung“ übertrug und 1866 auch die Bereederung des gerade gekauften Schoners „Palme“, Müller 1971 (wie Anm. 74), S. 62. Da Carl Vietor bereits

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lich reagierte die Firma Vietor als die Personalunion Rottmanns 1868 aufgelöst wurde. Von da an erhielt die Mission nicht mehr den gesamten Gewinn aus dem Afrikageschäft, sondern nur noch einen Teil davon.143 Eigentlich kann erst von diesem Zeitpunkt ab von einem eigenständigen Handelsgeschäft Vietors in Westafrika gesprochen werden. Das Unternehmen blieb unbeschadet von der Auflösung der Personalunion Rottmanns auch in der Folge größter Geldgeber der Mission, sodass Friedrich Martin Vietor 1890 mit Recht sagen konnte, dass „wir seit ca. 30 Jahren die Financiers der Nord.d.Missionsgesellschaft sind.“144 Die Gewinn- und Verlustrechnung der Firma F. M. Vietor Söhne für die Jahre 1879–1905 weist einen Gesamtgewinn von 789.868,63 Mark aus, was einem gemittelten jährlichen Gewinn von knapp 30.000,- Mark entspricht. In der gleichen Zeit gingen an die Mission 435.642,50 Mark, im jährlichen Durchschnitt damit rund 16.000,- Mark, also mehr als 50 % des Firmengewinns! Die absoluten Summen schwankten zwischen 12.000,- und 22.000,- Mark. Selbst in den sieben Verlustjahren zwischen 1895– 1901 wurden nie weniger als 12.000,- Mark an die Mission gespendet, im Jahr 1897 mit 22.700,- Mark sogar die höchste Summe insgesamt.145 Bei jährlichen Gesamteinnahmen der Mission von etwa 80.000,- Mark für den Zeitraum 1863–1890146 trug die Firma F. M. Vietor Söhne damit bis zu 25 % des Gesamthaushaltes. Diese Größenordnung bestätigte F. M. Zahn auch dem preußischen Kultusminister von Gossler, freilich ohne den Namen Vietor zu nennen, wenn er davon sprach, dass „aus einer Hand“ jährlich 18.000,- bis 20.000,- Mark an Spenden für die NMG eingingen, was etwa 40–50 % aller Einnahmen aus Bremen entspräche und 20–25 % des Gesamtspendenaufkommens der NMG. Hinzu kam, dass Vietor auch der einzige Gläubiger der NMG in dieser Zeit war.147 Bedenkt man, dass das Defizit der NMG Ende 1881 bei 45.000,- Mark lag und am 1.12.1893 bei 51.350,- Mark, wird deutlich wie weitgehend das finanzielle Engagements Vietors war.148 Wenn die Kolonialverwaltung in Togo jedoch 1887 der Meinung war, die NMG könne ohne die Zustimmung der Firma Vietor „nichts unternehmen [da sie] auf Leben und Tod von derselben abhängig ist“,149 so ging das sicher zu weit. Unter der ohne Frage unbestechlichen Leitung von Missionsinspektor Zahn hat die

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1856 die Abwicklung seines Angebotes über die Firma Bagelmann & Vietor in Aussicht gestellt hatte, wird kaum von einem Wechsel von der einen zur anderen Firma im Zusammenhang mit der Verteuerung der Frachtkosten 1859 auszugehen sein. Eine klare wirtschaftliche Abgrenzung der Firma F.M. Vietor Söhne und Bagelmann & Vietor lässt sich nach Müller nicht nachvollziehen, Müller 1971 (wie Anm. 74), S. 62. Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 35. F. M. Vietor an F. v. Bodelschwingh vom 9.6.1890, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 36. Gewinn- und Verlustrechnung der Firma F. M. Vietor Söhne von 1879–1905, VPAH, Konv. 5, Mappe 4. Zahlen nach Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 25. Zahn an von Gossler vom 15.6.1890, Beilage des Briefes von Zahn an Bodelschwingh vom 17.6.1890, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 26, 36. Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 26. Bereits 1869 war der Schuldenstand der NMG gegenüber der Firma Vietor auf 26.000 Taler (rund 78.000,- Mark) aufgelaufen, ebd. Der stellv. kais. Kommissar an Bismarck vom 26.7.1887, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 36.

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NMG, stärker als die meisten anderen Missionsgesellschaften in der Zeit nach Beginn der deutschen Kolonialära, einen eigenständigen Kurs wahren können.150 Das gilt auch gegenüber Kräften in den eigenen Reihen wie Präses C. R. Vietor. Vietors und Zahns unterschiedliche Einstellungen zur Frage des Verhältnisses von Mission und kolonialer Verwaltung prallten nach 1884 heftig aufeinander.151 Anders als Zahn stand C. R. Vietor, wie wohl der überwiegende Teil der Familie Vietor, politisch im konservativen, deutschnationalen Lager und begrüßte den Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte lebhaft.152 Bald rief er nach staatlicher CoFinanzierung, damit die NMG rasch auch im deutsch gewordenen Togo eine Station eröffnen könne.153 Das rief den erbitterten Widerstand Zahns hervor, der eine Instrumentalisierung der Mission und ihres Schulwesens durch die kolonialen Behörden befürchtete. In der Tat forderte der kaiserliche Kommissar von Puttkamer das „Oberaufsichtsrecht“ für eine zu schaffende Missionsschule,154 was später

150 Ustorf erkennt in Zahns Einstellungen, insbesondere zur Frage des Verhältnisses von Mission und Kolonialverwaltung, zurecht eine „antikoloniale Konzeption“ und „historische Isoliertheit“, Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 4. Unter Zahns Nachfolger A. W. Schreiber wurde diese Sonderstellung rasch aufgegeben. Schreiber hielt Zahns zurückhaltende Position zur kolonialen Bewegung für eine „Überspitzung ethischer Grundsätze“ und bedauerte, dass sich die NMG am Beginn der deutschen Kolonialzeit vor einer intensiveren und offeneren Beschäftigung mit der Kolonialpolitik „sehr zur ihrem Schaden“ gescheut hat, Schreiber, 1936 (wie Anm. 91), S. 12. Martin Pabst bescheinigt Schreiber eine deutschnational-kolonialfreundliche Einstellung, Pabst, 1988 (wie Anm. 83), S. 147. 151 Schreiber, 1936 (wie Anm. 91), S. 12. 152 Nach Einschätzung des preußischen Gesandten für Mecklenburg und die Hansestädte, Delius, war die ganze Familie Vietor „von guter deutschnationaler Gesinnung“, Vertrauliches Gutachten des preußischen Generalkonsuls in Bremen Delius an v. Kusserow vom 22.1.1890, Beilage zu v. Kusserow an Bismarck vom 25.1.1890, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 38. 153 Bis zum Deutsch-Englischen Abkommen vom 1.7.1890 lagen alle NMG Missionsstationen außerhalb des deutschen Schutzgebietes. Der Wortlaut des aus 12 Artikeln bestehenden „Vertrag zwischen Deutschland und England über die Kolonien und Helgoland vom 1. Juli 1890“ findet sich in: Das Staatsarchiv. Sammlung der offiziellen Aktenstücke zur Geschichte der Gegenwart, Bd. 51, Leipzig 1891, S. 151. Durch den Vertrag befanden sich die beiden NMG Stationen Ho und Amedzofe nun unter deutscher Herrschaft. Gründer hält irrtümlicherweise J. K. Vietor für die treibende Kraft bei der Auseinandersetzung um die baldige Eröffnung einer neuen Missionsstation im nun deutschen Togo, vgl. Gründer, 1982 (wie Anm. 141), S. 29; Gründer, Horst: Deutsche Missionsgesellschaften auf dem Wege zur Kolonialmission, in: Bade, Klaus J. (Hrsg.): Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 22), Wiesbaden 1982, S. 68–102, 69. J. K. Vietor befand sich in den ersten Jahren der Auseinandersetzungen im Vorstand der NMG, zu dem er, anders als Gründer annimmt, noch nicht in den 1880er Jahren, sondern erst ab 1900 gehörte, nicht in Deutschland und konnte kaum wirksam in die Debatte eingreifen. Richtig ist aber, dass sein Vater, C. R. Vietor, versuchte, ihn in die Auseinandersetzungen im Vorstand mit hineinzuziehen. Er veranlasste ihn, wohl während seines ersten Aufenthaltes in Togo zwischen 1884–1887, ihm seine Sicht der Missionsentwicklung schriftlich darzulegen. Das tat J. K. Vietor auch ausführlich, woraufhin sein Brief, sehr zum Missfallen Zahns, von seinem Vater an die Vorstandsmitglieder verteilt wurde. Der Inhalt des Briefes ist nicht bekannt, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 42. 154 Puttkamer an Bismarck vom 10.2.1888, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 40.

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durch Unterstaatssekretär Barkhausen bestätigt wurde.155 Zahn sah aber auch die Gefahr der unzureichend differenzierten Wahrnehmung von Kolonialmacht und Mission durch die einheimische Bevölkerung, wenn das Land, in dem die Mission ansässig war zugleich auch die Kolonialmacht darstellte. „Durch das Eintreten Deutschlands [in die Reihe der Kolonialmächte, Anm. B. O.] ist die Aufgabe des Missionars, sich den politischen Bestrebungen gegenüber neutral zu verhalten, für unsere Brüder erschwert […]. Diese Vertrauensstellung kann leicht verloren gehen, wenn das Volk des Missionars das herrschende ist, und unsere Missionare im deutschen Togoland werden Fleiß anwenden müssen, sich neutral zu halten, damit sie Vertrauensmänner des Volkes bleiben, dem sie das Evangelium bringen wollen.“156

Darüber hinaus stand Zahn dem Kolonialismus aus historischen und humanitären Gesichtspunkten grundsätzlich skeptisch gegenüber. Bereits vor Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte hatte er 1883 darauf hingewiesen: „Die Geschichte europäischer Kolonien ist eine Geschichte voller Greuel, die nicht zum wenigsten daher stammen, daß man ein Recht zu haben glaubte, wo keines zustand.“157 In der Auseinandersetzung mit Vietor um die Frage der Eröffnung einer Missionsstation in Deutsch-Togo, machte er gegenüber Missionar Spieth deutlich, dass es ihm bei seiner Verzögerungstaktik nicht nur um finanzielle Engpässe ging: „Ich bin überhaupt gegen Kolonien, und das ist natürlich heute genug, um uns zu Vaterlandsfeinden zu machen. Aber wenn ein Missionar in Politik sich hineinbegibt und die deutschen Kolonialerwerbungen durch seinen Einfluß fördert, so halte ich das, was auch seine Meinung sonst ist, für einen großen Fehler, um nicht zu sagen für ein Verbrechen.“158

Auch noch 1897 war er der Meinung, dass Afrikaner, die sich gegen eine europäische Okkupation zur Wehr setzten dazu „eben so viel Recht [hätten] als die Väter, welche sich gegen den Napoleon erhoben.“159 Damit bezog er, wie er selbst einräumte, eine Außenseiterposition, die zu seiner Zeit nur von sozialdemokratischer und teilweise linksliberaler Seite geteilt wurde.160 Es entspann sich ein jahrelanges Ringen um die Etablierung einer deutschen Mission in Togo, in die C. R. Vietor 155 Barkhausen an Schröder vom 17.12.1888, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 41. 156 Jahresbericht der NMG für 1894 bis 1895, 1895, S. 3f., zit bei: Pabst, 1988 (wie Anm. 83), S. 143. 157 AMZ 1883, S. 51, zit. bei bei Ustorf, 1987 (wie Anm. 38), S. 49. 158 Zahn an Missionar Spieth vom 15.2.1888, zit. bei Otto Diehn, 1956: Kaufmannschaft, S. 34f. 159 Zahn an Warneck vom 5.10.1897, zit. bei Ustorf, 1987 (wie Anm. 38), S. 49. 160 Ganz in Zahns Sinne hatte August Bebel seine Ablehnung des Kolonialismus am 26.1.1889 im Reichstag zum Ausdruck gebracht: „Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz. Wo immer wir die Geschichte der Kolonialpolitik in den letzten drei Jahrhunderten aufschlagen, überall begegnen wir Gewalthätigkeiten und der Unterdrückung der betreffenden Völkerschaften, die nicht selten schließlich mit deren vollständiger Ausrottung endet.“, SBR, 7. Leg. per., 4. Sess. 1888/89, 27. Sitzung am 26.1.1889, S. 628. Später milderte Bebel seine Haltung ab und stellte am 1.12.1906 fest: „Meine Herren, dass Kolonialpolitik betrieben wird, ist an und für sich kein Verbrechen. Kolonialpolitik zu treiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein; es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik betrieben wird […] [Wenn sie in einer] edlen Absicht und in der richtigen Weise [praktiziert wird], dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine

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auch nach seinem Rücktritt erneut eingriff, indem er versuchte, den neuen Präses, Johannes Schröder, auf seine Seite zu ziehen, nachdem dieser 1888 von Barkhausen eine erneutes Angebot Berlins, an Zahn vorbei, erhalten hatte.161 Er konnte sich gegenüber Zahn jedoch nicht durchsetzen, was in Berlin als Beweis für die „besonders einflußreiche“ Stellung Zahns im Bremer Vorstand angesehen wurde.162 Zurecht weist Ustorf in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich Zahn im Vorstand ganz auf seinen Freund F. M. Vietor verlassen konnte, der seine politischen, kolonialen und soweit er es überblicken konnte, auch seine kirchenpolitischen Positionen „voll und ganz“ teilte,163 ganz im Gegensatz zu seinem Bruder C. R. Vietor, der als ultrakonservativ galt.164 Die antikoloniale Übereinstimmung mit Zahn ging bei F. M. Vietor sogar so weit, dass er jegliche Lust am Geschäft in Klein-Popo verlor, nachdem dieses deutsch geworden war, was seine Bereitschaft, diese Station an seinen Neffen zu verkaufen erleichtert haben dürfte.165 Die Abneigung F. M. Vietors, geschäftlich in einer deutschen Kolonie aktiv zu sein, legt eine ebensolche Abneigung in Bezug auf die Eröffnung einer Missionsstation im deutschem Gebiet nahe. Die Vietoreinlage in die von C. R. Vietor geschaffene Togomissionskasse 1887 dürfte daher kaum von ihm stammen.166 Die bis Anfang der 1890er Jahre eher

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solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind.“, SBR, 11. Leg. per., 2. Sess. 1905/06, 131. Sitzung, S. 4057. Eine detaillierte und aus amtlichen Quellen schöpfende Darstellung der Vorgänge bietet Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 39–47, vgl. auch Erbar, 1991 (wie Anm. 107), S. 238; Gründer 1982 (wie Anm. 153), S. 70; Gründer, 1982 (wie Anm. 141), S. 30; Hahn, 1942 (wie Anm. 83), Kap. III, S. 11f., Gossler an Bismarck vom 6.3.1890, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 40. F. M. Vietor an Bodelschwingh vom 30.6.1890, AVEM, M I.9.30, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 45. Wie eng die Beziehung zwischen F. M. Vietor und Zahn war erhellt auch die testamentarische Bestimmung Friedrich Martin Vietors vom 12.6.1890, dass Zahn bzw. seine Frau und seine Tochter aus seinem Nachlass die Summe von 100.000,- Mark als Pension erhalten sollten, Testament von F. M. Vietor, VPAH, Konv. 5, Mappe 4. „Die Lebensanschauungen der beiden Herren war eine (sic) sehr verschiedenartige. Inspector Zahn, der mit einer Engländerin verheiratet war, schwärmte sehr für alles Englische und hielt das Manchestertum für das einzig Richtige. Die Bremer Kaufleute standen auf demselben Standpunkt und auch politisch war er sehr angesehn (sic), da er in dasselbe Horn stieß und Bismarcks Anschauung durch Godefroys Unternehmung einen Stützpunkt in der Südsee zu finden, eifrig bekämpfte. Mein Vater war dagegen ultra konservatif (sic) [und] las den Reichsboten […]“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 42. Der Reichsbote wurde von Pastor Engel herausgegeben und stand Adolf Stoecker ebenso nahe wie die Kreuzzeitung der Ära Hammerstein. F. M. Vietor an C. R. Vietor vom 26.7.1887, VPAH. Hahn gibt an, Zahn hätte sich mit seinem Argument auf der Bremer Missionskonferenz 1885, es sei nicht genügend Kapital vorhanden, um im Togogebiet eine weitere Missionsstation zu eröffnen, auch gegen F. M. Vietor im Vorstand der NMG durchgesetzt. Hahn zeigt sich zudem überzeugt, F. M. Vietor hätte eine namhafte Summe in die Togomissionskasse eingelegt, Hahn, 1942 (wie Anm. 83), Kap. III, S. 11. Bereits 1888 hatte die Togomissionskasse einen Stand von 6.000,- Mark, Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 39. Gründer geht davon aus, dass J. K. Vietor die Summe in den Togomissionsfond eingelegt hat, Gründer, 1982 (wie Anm. 141), S. 30. Auch das scheint eher unwahrscheinlich. Am ehesten kommt C. R. Vietor selbst in Frage, zumal es sich um bestenfalls eine vierstellige Summe gehandelt haben kann, die C. R. Vietor durchaus aufbringen konnte.

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kolonialkritische freihändlerische Position hanseatischer und besonders Bremer Kaufleute wandelte sich erst im Laufe der 1890er Jahre, nachdem die deutsche Kolonialherrschaft weitgehend gesichert erschien.167 Zur Zeit der Samoavorlage hatte Zahn noch eine einflussreiche politische Stimme unter den Bremer Kaufleuten und mit seiner abweisenden Einstellung durchaus die Mehrheitsmeinung vertreten.168 Im Haus Friedrich Martin Vietors am Kaufmannsmühlenkamp fanden auch noch in den 1880er Jahren regelmäßig größere, gesellige Treffen von Vertretern aus Mission und der Bremer Pastorenschaft statt, an denen sechzig und mehr Geladene teilnahmen.169 Helene Vietor, Friedrich Martins Frau, hatte die Mission sozusagen an Kindes statt angenommen, da ihre Ehe ohne Nachkommen blieb. Mit entsprechendem Engagement nahm sie die Gastgeberrolle für solche Treffen wahr.170 Der erste Bremer Vietor und Gründer der Firma, Friedrich Martin, hatte das Haus 1827 vor den Toren der Stadt erbaut. Anfangs gehörte ein mehrere Hektar großes Grundstück dazu, das freilich durch das Wachstum der Stadt im Laufe der Jahre immer mehr bebaut wurde. Ein großer Anbau ans Haus ermöglichte auch größere Treffen und Tagungen. Hier fanden zwischen 1866 und 1909 in etwa vierjährigem Abstand zwölfmal die Kontinentalen Missionskonferenzen statt,171 die von Friedrich Fabri und Franz Michael Zahn angeregt worden waren.172 Dabei handelte es sich um internationale Zusammenkünfte, an denen auch Vertreter niederländischer, skandinavischer und französischer Missionsgesellschaften teilnahmen. Auch die rein deutsch besetzte „außerordentliche“ 7. Kontinentale Missionskonferenz, an der neun evangelische Missionsgesellschaften sowie ein Vertreter des Auswärtigen Amtes teilnahmen,173 fand hier vom 27.-29.10.1885 statt. Die häufig als „Wendepunkt“ zu 167 Zum Stimmungsumschwung der deutschen Gesellschaft und der hanseatischen Kaufmannschaft in Sonderheit, wenn auch verzögert, kam es nach der bahnbrechenden Publikation des Missionsinspektors der Rheinischen Missionsgesellschaft, Friedrich Fabri, „Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung“, Gotha 1879, vgl. auch Bade, Klaus J.: Mission und Kolonialbewegung, Kolonialwirtschaft und Kolonialpolitik in der Bismarckzeit. Der Fall Friedrich Fabri, in: ders., 1982 (wie Anm. 153), S. 103–141; Bade, Klaus J.: Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution, Depression, Expansion (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 13), Freiburg 1975. Speziell zum Wandel innerhalb der hanseatischen Kaufmannschaft nach 1880 vgl. Washausen, Helmut: Hamburg und die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches (Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte; 23), Hamburg 1968. Eine knappe zusammenfassende Sicht bietet Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn, München [u.a.]5 2004, S. 43–50. Gründer betont, dass die Mehrheit des Hamburger Senats bis 1890 grundsätzlich gegen Kolonien eingestellt war, danach aber ein Umdenken einsetzte, ebd., S. 45. 168 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts. 42. 169 Paul (wie Anm. 62), Tagebucheintrag vom 10.6.1882. 170 Der Gastfreundlichkeit Helenes (gest. 1891) und dem regen gesellschaftlichen Leben im Haus am Kaufmannsmühlenkamp gedenkt der Nachruft für F. M. Vietor: „Alles, was im Reiche Gottes einen Namen hatte und nach Bremen kam, fand seinen Weg in das stille Gartenhaus, wo ihn hilfsbereite Freundlichkeit empfing“, MB 3 (1906) (wie Anm. 1). 171 Vietors Garten, eine klassische Missionsstätte, in: MB 1 (1910), S. 1f. 172 Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 52. 173 Beim Vertreter des Auswärtigen Amtes handelte es sich um Konsul Raschdau. Er sollte im Auftrag Bismarcks „authentische Mitteilungen seiner [Bismarcks, Anm. B.O.] Kolonialpolitik

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einer Kolonialmission verstandene Konferenz174 behandelte die Frage, wie sich die Mission zum Wunsch der deutschen Regierung stellen sollte, an einer nach der kolonialen Besitzergreifung nun für nötig befundenen „Kulturarbeit“ teilzunehmen. Zwar konnte sich noch einmal das von Zahn und Warneck hochgehaltene Paradigma der Zwei Reiche Lehre Luthers mit der Konsequenz der notwendigen Distanz von Staat und Mission durchsetzen, aber die Weichenstellung zu einer stärkeren Annäherung von Kolonial- und Missionsbewegung konnte auf Dauer nicht verhindert werden.175 Die sich nun beide überkreuzenden Bewegungen brachten die Mission in die „Stunde ihrer Versuchung“, wie es Edmund Kriele, der Missionsinspektor der Barmer Mission später treffend charakterisierte.176 Bereits der hier gebildete „Ausschuß der deutschen Missionsgesellschaften“ deutet das Näherrücken beider Bewegungen an, wenn er als Ziel seiner Tätigkeit nicht nur die Ansprechpartnerfunktion für die Reichsregierung nennt, sondern auch „event. den Kolonialgesellschaften usw. für Verhandlungen als Adresse“ dienen wollte.177 Neben diesen grundsätzlichen Fragen des Verhältnisses von Mission und kolonialer Wirklichkeit beschäftigte sich die Konferenz auch mit der Frage des Engagements der deutschen Missionsgesellschaften in den neuen deutschen Kolonien. Hier zeigte sich, dass die zögerliche Haltung Zahns in Bezug auf Ausdehnung der Arbeit der NMG auch von vielen anderen Missionsgesellschaften geteilt wurde. Ähnlich wie die NMG argumentierten dabei die Berliner Mission (BMG), die Leipziger Mission

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machen“, aber auch die Wünsche der Missionsgesellschaften entgegennehmen, Warneck, Gustav: Eine bedeutsame Missionskonferenz, in: AMZ 1885, S. 545–563, 545. Bade, 1975 (wie Anm. 167), S. 264; Bade, 1982: Fabri (wie Anm. 167), S. 116; Gründer, 1982 (wie Anm. 141), S. 80; Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 60; Altena, 2003 (wie Anm. 106), S. 29; Hamilton, Majida: Mission im kolonialen Umfeld. Deutsche protestantische Missionsgesellschaften in Deutsch-Ostafrika 2009, S. 56. Heinrich Loth sieht dagegen in der Konferenz von 1885 keinen Wendepunkt, sondern betont, dass sich Warneck mit seiner Linie nochmals durchsetzen konnte. Bezogen auf Deutsch-Ostafrika sieht er erst mit Übernahme der Verwaltung des Gebietes durch das Reich, 1891, einen Wendepunkt und eine Abkehr der älteren Missionsgesellschaften von ihren noch 1885 vorgetragenen Bedenken, Loth, Heinrich: Auseinandersetzung im religiösen Gewand. Kirchlicher Kolonialismus und ideologische Formen des Widerstandes, in: Büttner, Kurt (Hrsg.): Philosophie der Eroberer und koloniale Wirklichkeit. Ostafrika 1884–1918 (Studien über Asien, Afrika und Lateinamerika; 21), Berlin (Ost) 1981, S. 369–424, 374f., 390. Einen ausführlichen Bericht über die Konferenz bietet Warneck 1885 (wie Anm. 173). Die Gefahren der deutschen Kolonialherrschaft für die deutschen Missionen wurden klar erkannt und thematisiert, etwa in dem Referat des Missionsdirektors der Herrnhuter Brüderunität Reichel: „Was haben wir zu thun, damit die deutsche Kolonialpolitik nicht zur Schädigung, sondern zur Förderung der Mission ausschlage?“, ebd., S. 551–553. Eine knappe Einführung in die Themen der Konferenz und deren Verlauf bietet auch: Hamilton, 2009 (wie Anm. 174), S. 56–62, vgl. auch Altena, 2003 (wie Anm. 106), S. 29–31. Kriele, Edmund: Das Kreuz unter den Palmen. Die Rheinische Mission in Neu-Guinea, Barmen 1927, S. 6. Warneck, 1885 (wie Anm. 173). S. 563. In den Ausschuss wurden Warneck, Fabri, Reichel und als Schrift- und Korrespondenzführer Zahn gewählt. Da Zahns kolonialkritische Position zunehmend zur Belastung wurde, zumal als Korrespondenzführer, trat er 1890 nicht wieder zur Wahl an, Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 53.

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(LMG) und die Herrnhuter Brüderunität vorwiegend mit finanziellen und personellen Engpässen. KINDHEIT, JUGEND UND AUSBILDUNG J. K. Vietor wurde am 6. Mai 1861 als zweites Kind der zweiten Ehefrau C. R. Vietors, Adelheid Henriette, geb. Luce (1831–1865), geboren. Er war das zehnte von siebzehn Kindern aus insgesamt drei Ehen C. R. Vietors. Vier der siebzehn Kinder verstarben bereits vor ihrem ersten Geburtstag, die anderen dreizehn erreichten alle das Erwachsenenalter. Seine Mutter starb nur zwei Monate nach der Geburt ihres fünften Kindes am 21.5.1865, als J. K. Vietor gerade erst vier Jahre alt geworden war. Seine Stiefmutter, Henriette Amalie, geb. Stachow, die sein Vater als dritte Ehefrau bereits gut ein Jahr nach dem Tod der Mutter 1866 heiratete, wurde seine eigentliche Erzieherin.178 Bei einem solchen Kinderreichtum ist es nicht verwunderlich, dass es im Elternhaus sehr einfach zuging. In den ersten fünf Lebensjahren bekamen er und seine Geschwister nur einen halben Zwieback und ein halbes Stück Schwarzbrot zum Abendessen. Seine Stiefmutter änderte dies jedoch schleunigst, als sie die Erziehung übernahm. Dennoch blieb auch Jahrzehnte später bei J. K. Vietor das Gefühl lebendig, bis dahin „beständig in einem Gefühl des Hungers gelebt“ zu haben. Bis zu seinem vierzehnten Geburtstag gab es nur sonntags etwas Butter aufs Brot179 und geschlafen wurde auf harten Strohsäcken in Doppelstockbetten.180 Die spätere Annahme des preußischen Gesandten in Bremen, Delius, C. R. Vietor wäre wohlhabend, kann sich daher kaum auf die Kindheitszeit J. K. Vietors beziehen.181 Die kärgliche Lebensführung hinterließ jedenfalls Spuren. Im Rückblick meinte Vietor später: „In Wirklichkeit ist wohl das behagliche Leben [das er bei seinen wohlhabenden Onkeln kennenlernte, Anm. B. O.] nebst seinen materiellen Genüssen, der einzige Grund dafür gewesen, weshalb ich später Kaufmann geworden bin.“182 Die eigentlichen Leitlinien der Erziehung setzte ohne Zweifel der Vater, den Vietor Zeit seines Lebens für einen begnadeten Pädagogen hielt. Von ihm lernte er den Grundsatz, „[…] daß man die Kinder so behandelt, daß der Einfluß der Eltern stärker ist als wie der aller anderen zusammen. Das hat Papa bei mir fertig gebracht und dafür bin ich ihm immer dankbar. Dazu gehört vor allen Dingen Liebe, aber auch besonders in der Jugend viel Schneid.“183

Eine wichtige Maxime der Erziehung seines Vaters war die Richtschnur „um Menschen Dankes willen nichts [zu] tun und um Menschen Undankes willen nichts [zu]

178 Vietor, Schröck-Vietor, 1997 (wie Anm. 3), S. 50f. 179 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 2f. 180 Vietor, Wilhelm: Unter der Speckflagge. Anekdoten aus einer bremischen Familie, Oldenburg2 1991, S. 8. 181 Delius an v. Kusserow vom 22.1.1890, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 38. 182 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 4. 183 J. K. Vietor (Grand Bassa) an Hedwig Vietor vom 19.1.1905, VPAH, Konv. 1,Teil 5, Mappe 7.

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lassen, nach dem ich mich auch immer nach Möglichkeit zu richten bemüht habe.“184 Seine Schulzeit erlebte er als „Inbegriff aller Langweiligkeit“, sowohl die Primarschule als später auch das Gymnasium. Seine Lehrer mochte er bis auf einen einzigen nicht leiden und „Freunde hatte ich während meiner ganzen Schulzeit eigentlich auch nicht.“185 Für die Eintönigkeit seiner Schulzeit machte er in erster Linie die Lehrer verantwortlich.186 Zu Hause kam er schon als Kind früh in Kontakt mit Afrikanern, die in Begleitung von Missionaren während ihres Heimaturlaubes in Bremen sein väterliches Haus besuchten. Diese Gelegenheit, schon früh mit Menschen aus anderen Kulturen zusammenzukommen, teilten nicht viele Kinder seiner Zeit mit ihm. Solche Besuche waren immer „eine große Freude“, während denen er in unkomplizierter Weise mit den Afrikanern an einem Tisch saß und zusammen aß. Auf seiner ersten Heimreise von Afrika nach Deutschland, 1887, hatte er daher keine besonderen Hemmungen, sich eine Kajüte mit drei Kindern und zwei Afrikanern zu teilen.187 Besonders begeisterten ihn als Kind die Erzählungen der Missionare über Afrika und weckten in ihm den Wunsch, einmal selbst dorthin zu gehen. Auch später, als junger Mann, las er alles, was er an Berichten über Afrika bekommen konnte, unter anderem auch Friedrich Fabris Schrift „Bedarf Deutschland der Colonien?“, verschiedene Veröffentlichungen des Kolonialpropagandisten Hübbe-Schleiden sowie Henry Morton Stanleys Reisebericht zu den Quellen des Nils,188 die den Wunsch, so bald wie möglich nach Afrika zu gehen weiter stärkten.189 Nach Beendigung seiner Schulzeit nahm er auf Empfehlung seines Onkels Friedrich Martin, etwa 1877, eine Lehre bei der renommierten Bremer Tabakfirma Warnecken & Sohn auf.190 Sein Vater hatte ursprünglich den Wunsch gehabt, dass er wie sein Cousin Karl, die kaufmännische Lehre im Vietorschen Stammbetrieb machen sollte. Da sein Onkel mit Karl aber überhaupt nicht klar kam und dieser schließlich von der verschwägerten Familie Stoevesandt ins Haus aufgenommen werden musste, wollte er nicht auch noch J. K. Vietor in seinem Betrieb haben. J. K. Vietor beschreibt seinen Cousin Karl in der Lehrzeit als faulen und gleichgültigen Kerl, der seinen Onkel insbesondere durch seine permanenten Verspätungen zur Morgenandacht 184 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 15b. 185 Ebd., S. 8. 186 Als sein eigener Sohn einmal enttäuscht von einem Schulausflug nach Hause kam, war für ihn klar, dass „die Lehrer noch nicht viel zugelernt“ hätten, ebd., S. 9. 187 Ebd., Forts., S. 1, 22. 188 Stanley, Henry Morton: Durch den dunkeln Welttheil oder die Quellen des Nils, Reisen um die grossen Seen des aequatorialen Afrika und den Livingstone-Fluss abwärts nach dem atlantischen Ocean, aus dem Englischen von C. Böttger, Leipzig 1878. Vietor gibt als Titel irrtümlich „Durch den schwarzen Erdteil“ an, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 21. 189 Vietor, J. K.: Geschichtliche und kulturelle Entwicklung unserer Schutzgebiete, Bremen 1913, S. 16, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 21. 190 Vietor gibt später an, er hätte die Lehre unmittelbar nach seiner Konfirmation angetreten, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Geschäftliches, S. 1. Wahrscheinlich ging er daher mit 16 Jahren von der Schule ab, ohne das Abitur, wohl aber die Mittlere Reife gemacht zu haben.

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provozierte. Immerhin bekam J. K. Vietor bei Warnecken & Sohn eine Lehrzeitverkürzung von einem halben Jahr zugestanden. Viel lernen konnte er jedoch auf dem Warneckschen Kontor offensichtlich nicht, obwohl die Arbeitszeiten 12–14 Stunden betragen konnten. Niemand kümmerte sich um die Lehrlinge und es wurde viel getrunken und gespielt. „Hätte mein Vater gewusst mit was für einer Schwefelbande ich da zusammen kam, würde er mich schwerlich dahin gebracht haben.“191 Die Kontore waren meist unbesetzt, „weil die Angestellten ständig in der Kneipe sassen oder sich in den Probezimmern balgten“. Jeden Morgen wurde eine Flasche Schnaps geholt, an deren Kosten sich jeder mit zehn Pfennig beteiligen musste und dann wurde der Jüngste losgeschickt, um die Flasche bei der benachbarten Branntweinbrennerei zu holen. In der gesamten Ausbildungszeit bekam Vietor nicht einmal die Aufgabe, Geschäftsbücher zu führen.192 Als er später vorübergehend zu seinem Onkel Friedrich ans Kontor kam, bescheinigte dieser ihm, er habe „nie im Leben einen jungen Mann kennengelernt […], der so wenig gelernt habe“ wie er.193 Während der Ausbildungszeit begann Vietor, zusammen mit seinem Cousin Karl und dem drei Jahre älteren Wilhelm Preiswerk, der von 1895 bis zu seinem Tod Leiter der Basler Missionshandlungsgesellschaft war,194 die Versammlungen des Christlichen Vereins junger Kaufleute (CVJK) zu besuchen. Sie bildeten mit noch ein paar anderen eine Clique, die sich später über die ganze Welt verstreute.195 Anfang der 1880er Jahre besuchte auch der spätere Missionsdirektor der Leipziger Mission, Carl Paul, diesen Kreis. Der Verein hatte sein Versammlungslokal im Gemeindehaus der Evangelischen Stephaniegemeinde. Hier trafen sich jeden Donnerstag junge Leute aus besseren Ständen zu einem geselligen Abend, der aber immer auch einen geistlichen Teil mit Bibelarbeit und anschließender Diskussion hatte. Es wurden von den Teilnehmern auch kurze „Aufsätze verlesen, die sich über irgend welche Tagesfragen, merkantile oder in anderer Weise interessante Gegenstände verbreiteten.“ Es gab Tee zu trinken und auch Rauchen war erlaubt. Den geistlich–biblischen Teil leitete in der Regel Pastor Leipoldt.196 Nach Abschluss der Lehre meldete sich Vietor im Juli 1881 als sogenannter „Einjährig-Freiwilliger“ zum Militär,197 wurde aber wegen körperlicher UntüchtigVietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 16f. Ebd., Geschäftliches, S. 1–5. Ebd., S. 34. Dettwiler, Walter: Preiswerk, Wilhelm, in: HLS 9 (2010). URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/ textes/d/D29906.php (15.8.2012). 195 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 23. 196 Paul (wie Anm. 62), Tagebucheintrag vom 5.5.1882. 197 Die Möglichkeit der einjährigen, verkürzten Militärzeit bestand in Preußen bereits im Kern seit 1813 und richtete sich in erster Linie an wohlhabende Bürgersöhne, da die Verpflegung und Ausrüstung, im Gegensatz zum regulären Dienst, selbst übernommen werden musste. Außerdem war der erfolgreiche Abschluss der Sekundarstufe (Mittlere Reife) oder das Abitur Zugangsvoraussetzung. Nach erfolgreichem Abschluss der einjährigen Ausbildung gingen die Freiwilligen üblicherweise als Reserveleutnant ab. Zum einjährigen Militärdienst vgl. Mertens, Lothar: Bildungsprivileg und Militärdienst im Kaiserreich. Die gesellschaftliche Bedeutung des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes für das deutsche Bildungsbürgertum, in: Bildung und Erziehung; 43 (1990), S. 217–228. 191 192 193 194

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keit zunächst zurückgestellt. Seine geringe Körpergröße von 1,62 Meter198 dürfte dafür weniger verantwortlich gewesen sein, als vielmehr das ausschweifende Leben während der Lehre. Nach dreimonatigem körperlichem Training zu Hause bestand er am 1.10.1881 die Aufnahmeprüfung und wurde der 12. Kompanie des 55. preußischen Infanterieregimentes in Detmold zugeteilt.199 Mit großer Begeisterung machte er alle Übungen mit und gewann Auszeichnungen im Schießen und Turnen. Manöver gefielen ihm am besten, offensichtlich kamen sie seinem Tatendrang und seiner Abenteuerlust entgegen. Dennoch reichte das nicht, um nach einem halben Jahr zum Gefreiten befördert zu werden, obwohl ihm das kurz zuvor noch in Aussicht gestellt worden war. Während ihm sein „Instruktionsoffizier“ ein hervorragendes Zeugnis ausstellte, urteilte der zuständige Hauptmann nur kurz: „Eignet sich nicht zum Reserve-Offizier“. Möglicherweise spielte in diesem Fall die geringe Körpergröße Vietors die ausschlaggebende Rolle. Als Kleinster der Kompanie hatte er beim Marschieren regelmäßig Probleme, mit den langen Schritten der größeren Vordermänner mitzuhalten. Wenn er an der Spitze marschierte, reduzierte sich das Tempo seiner Einheit entsprechend und sie erreichte jeweils als letzte das Etappenziel. Die Enttäuschung über die ausgebliebene Beförderung war so groß, dass er sich anschließend drückte, wo er konnte. Alle Begeisterung war verflogen. Zu dieser Enttäuschung kam ein Konflikt mit einem Unteroffizier hinzu, der ihn „Affenpinscher“ nannte, weil er meinte, Vietor wäre nachlässig beim Marschieren. Trotz Abratens der anderen Unteroffiziere beschwerte er sich darüber beim Hauptmann, der den betreffenden Unteroffizier sodann zu einer Entschuldigung nötigen musste. Das vergiftete das Klima vollends und führte dazu, dass Vietor nach dem einen Jahr ohne Auszeichnung entlassen wurde.200 Das leicht erregbare Wesen Vietors blieb zeitlebens ein Kennzeichen von ihm, allerdings taten ihm seine heftigen und ungeduldigen Reaktionen im Anschluss immer außerordentlich leid, wie seine Tochter Irmgard bestätigt: „Er bemühte sich unendlich, über diese Eigenart Herr zu werden.“ Nicht umsonst gab ihm seine Frau gerne Ratschläge zur Mäßigung mit auf den Weg, die er sich auch bereitwillig zu Herzen nahm.201 Sein temperamentvolles Wesen machte ihm diplomatische Winkelzüge und taktische Verstellungen unmöglich, warum seine Tochter fand: „Seine Gesinnung war einfach vornehm und sein Charakter hatte das, was man unter Sauberkeit versteht.“202 Das mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass man sich mit ihm auch rasch wieder einigen konnte, wenn es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen war, wie bei einer Inspekti198 Vietor, 1991 (wie Anm. 180), S. 18. Auch sein Vater war klein von Gestalt gewesen „wie viele Vietor“, Prüser, 1971 (wie Anm. 1), S. 324. 199 Die Neubildung der Infanterieregimenter Nr. 41–72 wurde mit königlicher Order vom 23.2.1860 eingeleitet, die Namen der neuen Regimenter wurden am 4.7.1860 vergeben, Jany, Kurt: Geschichte der Preussischen Armee vom 15. Jahrhundert bis 1914. Die Königlich Preussische Armee und das Deutsche Reichsheer: 1807–1914 (Bd. 4), Osnabrück2 1967, S. 220. Das 55. Infanterieregiment bekam den Namen Graf Bülow von Dennewitz und wurde auch als 6. Westfälisches Infanterieregiment bezeichnet. 200 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 23–29. 201 J. K. Vietor (Woermanndampfer) an Hedwig Vietor vom 23.8.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 202 Rede von Irmgard Fricke anlässlich des 100. Geburtstages von J. K. Vietor, VPAH, S. 7, 9.

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onsreise nach Grand Popo 1894: „Was für heillose Krachs habe ich schon mit meinen Arbeitern gehabt und fast ¾ herausgeschmissen. Zum Glück bleiben die Leute aber alle gern bei mir und sind sie nachher wieder gekommen und haben um Verzeihung gebeten.“203 Zum dreizehnten Geburtstag seines Sohnes Karl riet er später: „Gottvertrauen und vor ihm demütig und klein sein, aber Menschen gegenüber Schneid und Selbstvertrauen, daß (sic.) bringt in der Welt voran.“204 In dieser Weise versuchte er auch selbst anderen zu begegnen: „Ich habe überhaupt gar kein Prinzip demzufolge ich Leute behandle. Ich begegne zunächst jedem Menschen so zuvorkommend wie ich kann, lasse mir dann aber möglichst wenig gefallen.“205 Nach der Militärzeit hatte Vietor im Herbst 1882 eigentlich vor, so bald wie möglich nach Afrika auszureisen. Sein Vater machte sich wegen des ungesunden Klimas dort jedoch große Sorgen und hatte ihm ohne sein Wissen eine Stelle bei der englischen Firma Rodatz & Co. in Liverpool besorgt, wohin er am 30.12.1882 aufbrach. Bis zur Abreise ging er für einige Wochen ans Kontor seines Onkels Friedrich Martin. Sein Vater hatte in gewisser Weise noch eine offene Rechnung mit ihm, da er beim Militär 2.500,- Mark verbraucht hatte, was der Vater „unverantwortlich“ fand. Bereits nach vier bis sechs Wochen hatte er, aufgrund der fehlenden Erfahrung im Umgang mit Geld, 500,- Goldmark „verprasst“, hauptsächlich für neue Uniformstücke, Wagenfahrten und Wein. Besonders teuer wurde für ihn auch das Kartenspielen, das er von zu Hause nicht kannte.206 Die Verhältnisse bei der Firma Rodatz waren genauso „himmelschreiend“ wie zuvor in der Bremer Firma Warnecken. Die Arbeitsatmosphäre war angespannt, die Arbeitsdisziplin miserabel, die Chefs konnten sich nicht leiden und wurden teilweise sogar handgreiflich vor den Angestellten. Für seine spätere Tätigkeit in Afrika wirkte sich der Auslandsaufenthalt natürlich positiv aus, da er hier nicht nur seine Englischkenntnisse verbessern konnte, sondern auch bis spät in den Abend hinein französisch lernen musste. Zudem knüpfte er Firmenkontakte, die bei der Gründung des eigenen Geschäftes 1888 sehr wertvoll wurden. Vietor hatte einen Dreijahresvertrag abschließen müssen, aber bereits ein Jahr nach Antritt der Stelle musste die Firma wegen Fehlspekulationen Konkurs anmelden. Vietor war froh, auf diese Weise den Vertrag nicht erfüllen zu müssen. Trotz vieler Bewerbungsschreiben konnte er lange keinen neuen Arbeitgeber finden. Nach zwei uninteressanten Angeboten italienischer Firmen, bot ihm die Firma Fischer, die an der Goldküste in Accra etabliert war, eine Stelle an. Als das sein Onkel hörte, bot er ihm 203 J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 8.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Vietor selbst konnte jedoch auch um Verzeihung bitten, auch gegenüber seinen Angestellten. Der viel jüngere Johannes Lohmann berichtet über einen Streit mit Vietor: „Am nächsten Morgen waren seine ersten Worte: „Verzeihen Sie mir, Lohmann, Sie waren im Recht“, Erinnerungen von Johannes Lohmann, VPAH, S. 5. 204 J. K. Vietor (Lome) an Karl Vietor vom 11.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 205 J. K. Vietor (Grand Bassa) an Hedwig Vietor vom 29.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Seinen Mitarbeitern gegenüber war ihm klar, dass es „an einer gründlichen Belehrung nicht fehlen“ durfte, aber gleichzeitig bat er Gott, er möge ihm „nur die rechte Weisheit [geben], denn nur herunterreißen nützt ja nichts, sondern aufbauen“, J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 10.12.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 206 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, S. 26–34.

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ebenfalls eine Stelle in seinem Afrikageschäft an. Der Gedanke, dass sein Neffe bei der Konkurrenz anfangen sollte, war ihm nicht sympathisch. Sein Vater war jedoch weiterhin strikt gegen die Ausreise nach Afrika, da er wegen des mörderischen Klimas nach wie vor um die Gesundheit und das Leben seines Sohnes fürchtete.207 Er bot ihm stattdessen 10.000,- Mark an, damit er damit zusammen mit seinem Cousin ein Tabakgeschäft in Virginia beginnen würde. Für J. K. Vietor stand die nun schon einmal aufgeschobene Ausreise nach Afrika aber fest und er sagte bei seinem Onkel zu.208 ERSTE JAHRE IN AFRIKA ALS MITARBEITER DER FIRMA F. M. VIETOR SÖHNE Am 1.8.1884 reiste Vietor von Hamburg mit dem Woermann-Dampfer „Professor Woermann“ ab, ohne zu wissen, dass inzwischen ein Teil des Handelsgebietes der Firma F. M. Vietor Söhne deutsches Schutzgebiet geworden war. Das erfuhr er erst um den 8.8.1884 beim Zwischenstopp in Madeira.209 Zu diesem Zeitpunkt hatte die Firma Vietor insgesamt 12 europäische Angestellte in Westafrika eingesetzt,210 1875 waren es neben Rottmann erst zwei gewesen.211 Im Zusammenhang mit dem Ende des Ashantikrieges hatte die Firma eine Expansion Richtung Osten aufgenommen, was insbesondere durch das Vorrücken der britischen Goldküstenkolonie in gleicher Richtung motiviert war. Als Keta 1874 zum Gebiet der britischen Goldküste hinzukam, wurden an dem bisher freien Platz Steuern und Einfuhrschutzzölle für kontinentaleuropäische Waren erhoben. Bis 1879 war die Goldküstenkolonie bis nach Denu und Aflahu weiter nach Osten vorgerückt, in Bagida wurden die Engländer jedoch abgewiesen.212 Andererseits hatte der Konkurrenzdruck in Keta seit den 1860er Jahren beständig zugenommen. Neben französischen (Régis Aines Frères), holländischen (Jackson & Co.) und englischen (Swanzys Company) Firmen hatten sich auch vermehrt afrikanische Zwischenhändler aus Sierra Leone in Keta niedergelassen. 1874 gelang es F. M. Vietor Söhne erstmals, sich in Klein207 Carl Paul zeigte sich 1882 irritiert von den Gerüchten, die in Bremen umgingen, dass die Angestellten Vietors in Afrika massenhaft sterben würden. „Wie mag es Kaufmann Vietor bei sich verantworten können, dass er seine Faktorei auf der Sklavenküste unterhält. Seine Leute sollen dort geradezu massenhaft sterben, und doch hält er es nicht für seine Pflicht, die jungen Männer, die er für diese Arbeit annimmt, vorher auf das gefährliche Klima aufmerksam zu machen. Auch soll die Bezahlung in keiner Weise der Gefahr entsprechen, welcher seine Leute entgegengehen“, Paul (wie Anm. 62), Tagebucheintrag vom 10.6.1882. 208 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Geschäftliches, S. 7–11. 209 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts. S. 1f., vgl. auch Vietor, 1913 (wie Anm. 189), S. 9. 210 Sebald, Peter: Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ auf der Grundlage amtlicher Quellen (Studien über Asien, Afrika und Lateinamerika; 29), Berlin (Ost) 1988, S. 32. 211 Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 65. 212 Sebald gibt an, England hätte für die Goldküstenkolonie als Folge des Ashantikrieges den Zoll für Alkohol, Pulver und Tabak um 100 % erhöht, Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 34.

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Popo festzusetzen. Gegen eine jährliche Rente von 200,- Mark konnte hier ein 6000 qm großes Grundstück gepachtet werden. Kurze Zeit später wurde das Grundstück einer bis dahin französischen Firma in Porto Seguro erworben. 1881 ist eine Zweigniederlassung in Bagida belegt und der Stützpunkt in Bay Beach (Lome) wurde 1882 eingerichtet.213 Die Angabe, dass die Firma F. M. Vietor auch in Grand Popo eine Niederlassung hatte, kann Müller nicht ausreichend belegen.214 Hier entstand erst Ende der 1880er Jahre eine Faktorei der Firma J. K. Vietor, nicht aber der Firma F. M. Vietor Söhne. Zum Zeitpunkt der Ausreise J. K. Vietors bestanden demnach im britischen Gebiet die Niederlassungen Keta, Anyako, Denu und Adafia sowie im bislang freien Küstenabschnitt Klein Popo, Porto Seguro, Bay Beach (Lome) und Bagida.215 Nachdem sich die Zeichen einer bevorstehenden kolonialen Besitzergreifung der noch freien Togoküste immer mehr verdichteten,216 veranlassten die deutschen Handelsagenten in Klein Popo einige Häuptlinge am 5.3.1884 ein Protektoratsgesuch an Deutschland zu richten. Vorausgegangen war am 3.2.1884 eine bewaffnete Intervention des deutschen Kriegsschiffes SMS „Sophie“, bei der zwei Ratgeber des als probritisch geltenden Königs G. A. Lawson III. vorübergehend nach Deutschland verschleppt worden waren. Auch wenn Bismarck das Gesuch mit Rücksicht auf Frankreich vorläufig zurückwies, lag eine deutsche Initiative an der togoischen Küste in der Luft, zumindest dann, wenn sie der englischen Expansion einen Riegel vorschieben konnte, was durchaus in Bismarcks politischem Gesamtkonzept lag. Immerhin war Bismarcks Blick für die Belange des deutschen Handels in Westafrika seit dem sogenannten Sierra Leone- Abkommen zwischen England und Frankreich vom 28.6.1882 sensibilisiert worden und er hatte den Bremer Senat aufgefordert, mitzuteilen, inwieweit die deutschen Interessen in Westafrika durch diese Konvention beeinträchtigt würden.217 In seiner Antwort vom 9.6.1883 hatte der Bremer Senat darum gebeten, Kriegsschiffe zu entsenden, da die Firma F. M. 213 Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 63–66. Sebald gibt den Beginn der Arbeit in Klein Popo für Dezember 1873 an, Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 32. Der Stützpunkt in Lome wurde 1882 eröffnet, F. M. Vietor an Zahn vom 10.4.1888, zit. bei: Müller 1973 (wie Anm. 115), S. 83. 214 Müller verweist lediglich auf einen Bericht der Handelskammer Bremen vom 8.7.1883, wonach in Grand-Popo eine bremische Niederlassung entstanden sei. Ein Firmennamen wird aber nicht genannt, vgl. Müller 1971 (wie Anm. 74), S. 65f. Auch die Wiederholung der entsprechenden Angabe im zweiten Teil seiner Abhandlung über die Bremer Wirtschaftsbeziehungen zu Westafrika kann nicht belegt werden, vgl. Müller 1973 (wie Anm. 115), S. 83. 215 Müller, 1973 (wie Anm. 115), S. 83. Sebald bestreitet eine deutsche Niederlassung in Porto Seguro vor 1884, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 36. 216 Sebald weist auf britische Vorbereitungen im Juni 1884 hin, das Gebiet um Lome der Goldküstenkolonie einzuverleiben. Nachdem der französische Handelsagent und Konsul Cantaloup mit führenden Vertretern aus Klein Popo einen Protektoratsvertrag abgeschlossen hatte, erklärte die französische Regierung am 19.7.1883 das Protektorat über Klein- und Groß Popo, Porto Seguro und Agoué, unterließ aber eine Veröffentlichung dieses Dekretes, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 37–39. 217 Das Abkommen zwischen England und Frankreich vom 28.6.1882 sah vor, dass die Handelsaktivitäten von Angehörigen eines der beiden Staaten eine gleichberechtigte Behandlung im jeweils anderen Kolonialgebiet erfahren sollten. Handelsgesellschaften aus anderen Nationen genossen diese bevorzugte Behandlung nicht. Das Abkommen wurde im März 1883 veröffentlicht, aber vom französischen Abgeordnetenhaus nie vollständig ratifiziert, O’Toole, Thomas/

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Vietor Söhne an der Gold- und Sklavenküste in Bedrängnis sei. Der Hinweis auf die Probleme des deutschen Handels in Westafrika wurde im Juni 1884 wiederholt.218 Auch wenn Reichskommissar Nachtigal bei seiner Landung in Klein Popo am 2.7.1884 zur Enttäuschung der deutschen Handelsvertreter keine Instruktionen besaß, in weitere Schutzvertragsverhandlungen einzutreten, so ließ er sich, insbesondere durch den Vertreter der Firma Wölber & Brohm, Heinrich Randad, dazu bestimmen, weiter westlich einen entsprechenden Vorstoß zu wagen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Schutzvertrag mit König Mlapa, respektive seines Vertreters Chief Plakko, am 5.7.1884 in der Faktorei der Firma Wölber & Brohm in Bagida unterzeichnet wurde.219 Zu diesem Zeitpunkt agierten bereits vier deutsche Firmen im Gebiet zwischen Lome im Westen und Klein Popo im Osten, hinzu kamen zwei französische und eine englische.220 Während die anderen drei deutschen Firmen einen Großteil ihrer Gewinne mit Einnahmen aus dem Schnapshandel erzielten, verzichtete die Firma Vietor aus christlich-humanitären Gründen grundsätzlich auf jeglichen Handel mit Spirituosen. Angesichts eines Importanteils für das Togogebiet von 30 % im Jahr 1884/85221 und eines Ausfuhranteils am deutschen Export nach Westafrika insgesamt von meist über 60 % in der ersten Hälfte der 1880er Jahre, ein beeindruckender Verzicht.222 Insbesondere die Firma Wölber

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Baker, Janis E.: Historical Dictionary of Guinea (Historical Dictionaries of Africa; 94), Lanham 2005, S. 8. Herbert Schwarzwälder: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 2: Von der Franzosenzeit bis zum Ersten Weltkrieg (1810–1918), Bremen 1995, S. 362f. Wegen wiederholter Pressionen durch einheimische Häuptlinge in Klein Popo, insbesondere Zollerhebungen und Tribute, die man als reine „Wegelagerei“ empfand und die den Handel schädigten, baten die drei deutschen Firmen in Klein Popo, F. M. Vietor Söhne, Wölber & Brohm und Hansa Faktorei / Grumbach & Co., um die Entsendung eines deutschen Kriegsschiffes, um ihre Interessen durchzusetzen. Zuletzt forderte ein Unterhäuptling von Klein Popo von jeder Firma eine Jahresgebühr von 120 Gallonen Rum und 100 Bund Tabak, neben den Forderungen des eigentlichen Häuptlings, die noch hinzukamen, ebenso wie ein Ausfuhrzoll, Bremer Factory, Hamburg Factory, Hansa Factory an das Auswärtige Amt vom Februar 1883, AHKB, Ko 1. Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 40, 43. Zu den weiteren Umständen im Zusammenhang mit dem Schutzvertrag vom 5.7.1884 vgl. ders. S. 31–48. Hier ist auch der Vertragstext abgedruckt; vgl. auch Knoll, Arthur J.: Togo under Imperial Germany 1884–1914. A Case Study in Colonial Rule (Hoover Institution on War, Revolution and Peace; 190), Stanford, Calif. 1978, S. 17–23. Bei den deutschen Firmen handelte es sich neben der Firma F. M. Vietor Söhne, um die drei Hamburger Firmen Carl Goedelt (Kl. Popo, Lome), Wölber & Brohm (Kl. Popo, Bagida, Lome) und Max Grumbach & Co. (Kl. Popo). Die französische Konkurrenz war mit den Firmen Regis Aines Frères (Kl. Popo) und Cyprien Fabre (Porto Seguro) vertreten, die englische mit der Firma F. & A. Swanzy (Kl. Popo), Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 35f. Für 1884/85 wird der Wert des Gesamtimports in die drei Handelsorte Lome, Bagida und Klein-Popo mit 2.674.000,- Mark angegeben. Der Anteil der Spirituosen daran betrug 805.000,Mark. In Lome belief sich der Anteil der Spirituosen am Gesamtimport auf 50%, in Klein Popo dagegen nur auf 17,5 %, was an der größeren Nähe zum englischen Goldküstengebiet lag, wohin ein großer Teil der Ware geschmuggelt wurde, Reichsamt des Innern: Handelsbericht für das Togo-Gebiet, in: Deutsches Handels-Archiv. Zeitschrift für Handel und Gewerbe, 1885, S. 832f., vgl. auch Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 108. Der Anteil der Spirituosen an den deutschen Exporten nach Westafrika lag 1880 bei 60,7 %; 1881 bei 58,1 %, 1882 bei 64,97 %, 1883 bei 62,60 % und 1884 bei 66,01 %, Hardling, Leonhard: Die Berliner Westafrika−Konferenz von 1884/85 und der Hamburger Schnapshandel mit

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& Brohm setzte auf den Handel mit Spirituosen und führte 1884/85 insgesamt 3.681 hl ein, die größte Menge überhaupt im Vergleich zu allen anderen Firmen. C. Goedelt mit 837 hl und M. Grumbach & Co. mit 1.365 hl lagen weit darunter, hatten aber auch weniger Niederlassungen im Togogebiet als Wölber & Brohm.223 Auch wenn sich der Anteil der aus Bremen ausgeschifften Mengen an Spirituosen nach 1880 erhöhte, lag er 1882 nur bei 10 % aller Bremer Ausfuhren nach Westafrika, während er beim Hamburger Export 1884 einen Anteil von 66 % erreichte. Für Müller liegt es auf der Hand, „daß die Bremer Zurückhaltung im Branntweinhandel der fünfziger bis achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts alleine ein persönliches Verdienst von F. M. Vietor Söhne und Bagelmann & Vietor war.“224 Am Pulverhandel partizipierte die Firma F. M. Vietor jedoch in nicht unerheblichem Maße. Sie führte nach Wölber & Brohm die zweitgrößte Menge ein, bei der Tabakeinfuhr belegte sie den ersten Platz.225 Die wichtigsten Ausfuhrgüter waren Palmöl und Palmkerne. Am 23.8.1884 kam Vietor im britischen Keta (Quittah) an.226 Nach einer ersten Erkundungsreise wurde ihm bereits im September 1884227 die Faktorei in Bagida übergeben, die bis dahin von Herrn Leuze geleitet worden war. Die Unruhe anglophiler und frankophiler Gruppen über die erst vor kurzem stattgefundene deutsche Flaggenhissung war noch deutlich spürbar. Ein probritischer Mann aus Sierra Le-

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Westafrika, in: Nestvogel, Renate/Tetzlaff, Rainer (Hrsg.): Afrika und der deutsche Kolonialismus. Zivilisierung zwischen Schnapshandel und Bibelstunde (Hamburger Beiträge Zur Öffentlichen Wissenschaft; 2), Berlin 1987, S. 19–40, 27. Der Verzicht auf den Handel mit Spirituosen wird bei der Auflistung der deutschen Exporteure nach Afrika ausdrücklich sowohl für F. M. Vietor Söhne wie auch für die Firma J. K. Vietor erwähnt, Kolonial-Handels-Adressbuch 1899, S. 36; dass. 1900, S. 45. Die Spirituoseneinfuhr in die drei Orte Lome, Bagida und Klein Popo belief sich 1884/85 auf 568.500 Gallonen, umgerechnet 21.546 hl. Der deutsche Anteil daran lag bei 458.500 Gallonen (17.377 hl) und damit gut 80 %, Reichsamt des Innern 1885 (wie Anm. 221), vgl. auch Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 108f. Eine Statistik für das Jahr 1885 gibt eine Gesamtmenge von 18.071 hl an, ebd. Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 78. Die besondere Rolle der Vietors am Bremer Export bis Anfang der 1880er zeigt sich für Müller auch am Exportverhalten Bremer Exporteure seit den 1880er Jahren, das sich seitdem nicht mehr von dem der Hamburger Konkurrenz unterschied. Müller weist daraufhin, dass auch Bagelmann & Vietor respektive Bagelmann, nach Vietors Tod 1870, auf jeglichen Alkoholtransport nach Westafrika verzichteten. Bis Ende der 1870er Jahre lag der Bremer Anteil am deutschen Spirituosenexport bei nur 0,3–1%. Das änderte sich, als der Bremer Kaufmann Lüderitz 1880 ins Branntweingeschäft in Lagos einstieg und der ebenfalls aus Bremen stammende Kaufmann J. D. Bode zeitgleich mit dem Export von Branntwein nach Keta begann, ebd., S. 77. Sebald, 1988 (wie Anm. 210), S. 109. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 3.. Ebd., Forts., S. 13. Bezogen auf den Zeitpunkt der Übernahme der Faktorei gibt J. K. Vietor hier an: „Bagida war erst seit zwei Monaten deutsch geworden.“ An anderer Stelle erinnert er sich, erst einige Monate nach seiner Ankunft in Keta nach Bagida geschickt worden zu sein, ebd., Geschäftliches, S. 15. Seinem Bruder C. R. Vietor schrieb er am 4.9.1884, dass er sich noch in Keta befindet und, „wenn alles nach Wunsch geht“, Anfang Oktober nach Klein-Popo versetzt würde, J. K. Vietor an C. R. Vietor vom 4.9.1884, VPAH, S. 1. Die Versetzung nach Klein Popo verzögerte sich aber bis zum Frühjahr 1885, sodass er möglicherweise als Ausgleich zunächst nach Bagida kam.

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one hatte die deutsche Fahne vom Mast gerissen, woraufhin Korvettenkapitän Bendemann ihm eine Prügelstrafe verordnete und zudem einen Häuptling gefangen nahm. Als Vietor in Bagida ankam und bald darauf zu einer Antilopenjagd in die Umgebung aufbrach, wurden er und seine Begleiter von der Bevölkerung eines Dorfes bedroht, die glaubte, einer der Gesellschaft wäre der deutsche Konsul. Der vermeintliche deutsche Konsul sollte als Geisel genommen werden, um mit ihm den gefangengenommenen Häuptling freizupressen. Vietor beschreibt, die Lage wäre so bedrohlich gewesen, dass er einen seiner Begleiter daran hindern musste, auf die Menge zu schießen. Er selbst hätte dagegen seine Waffe in die Hände seines schwarzen Begleiters gelegt und beide Hände erhoben, was sehr bald zur Deeskalation und Aufklärung des Missverständnisses geführt hätte.228 Nach guter Einweisung durch Leuze nahm das kleine Geschäft in Bagida einen großen Aufschwung. Die einheimischen Händler kamen bereits morgens gegen vier oder fünf Uhr zur Faktorei, da sie teilweise eine längere Anreise aus dem Landesinneren hatten und noch vor der größten Hitze des Tages wieder zurück sein wollten. Das kam Vietor entgegen, da er ohnehin ein Frühaufsteher war.229 Bis spätestens zwölf Uhr mittags war die Arbeit getan, sodass er anschließend viel Zeit zum Lesen und zur Entspannung hatte,230 anders als in Keta, wo er, um rasch eingearbeitet zu werden, von morgens bis abends mit unterschiedlichsten Aufgaben beschäftigt gewesen war und kaum dazu kam, einen Brief zu schreiben.231 Die Zeit in Bagida war für ihn daher „einfach ideal“, wenngleich es das schlimmste Moskitonest war, das er je gesehen hatte.232 Die frühen Geschäfte am Morgen brachten Vietor einen großen Handelsvorteil gegenüber der Konkurrenz ein. Bis sie ihre Stores öffneten, hatte Vietor bereits die ohnehin geringen Warenanlieferungen aufgekauft. Das brachte ihm rasch ein Lob seines Onkels sowie der Geschäftspartner in Manchester ein. Die relativ kurze Arbeitszeit führte sich jedoch auch auf die geringen Umsätze mangels vorhandener Waren zurück, was damals prinzipiell für alle Vietorfaktoreien galt. „Es wurde ganz unendlich wenig verkauft, aber an dem wenigen wurde ganz kolossal schwer verdient.“233 Der monatliche Umsatz einer Faktorei lag zu dieser Zeit nur bei etwa 10.000 Mark. Der europäische Handel drang entweder nur einen oder maximal wenige Tagereisen weit ins Landesinnere vor und für afrikanische Kunden waren weite Reisen angesichts der vielfältigen Stammesfehden außerordentlich gefährlich. Im Frühjahr 1885 wurde Vietor in das zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum deutschen Schutzgebiet gehörende Klein Popo versetzt, wo sich die zweitgrößte Faktorei der Firma F. M. Vietor Söhne befand.234 Er übernahm die Leitung der dorVietor, 1913 (wie Anm. 189), S. 11f. Vietor, 1991 (wie Anm. 180), S. 23 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Geschäftliches, S. 15. J. K. Vietor an C. R. Vietor vom 4.9.1884, VPAH, S. 4. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 13f. Ebd., Geschäftliches, S. 15, vgl. auch Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, Hagen [1906], S. 4. Ein Auszug der Schrift wurde unter gleichem Titel veröffentlicht in: Die Arbeit 42 (1906), S. 57–59; Gründer rechnet für die Firma Woermann mit einer Gewinnspanne von 50 % in dieser Zeit, vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 167), S. 82. 234 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Geschäftliches, S. 17, vgl. auch Vietor, 1913 228 229 230 231 232 233

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tigen Niederlassung von Herrn Reimann, einem Pastorensohn, der zurück nach Deutschland ging.235 Reimann hatte in Klein Popo einen schweren Stand gegenüber den hier ansässigen europäischen Konkurrenten, da sie ihn teilweise in respektloser Weise behandelten. Vietor ließ sich offenbar jedoch nichts gefallen und will nicht davor zurückgeschreckt haben, sich selbst mit gezogener Pistole Respekt verschafft zu haben.236 Ganz ähnlich will er sich auch bereits in Bagida gegenüber seinem einheimischen Koch durchgesetzt haben, den er verdächtigte, ihn vergiften zu wollen. Er gibt später an, ihm einen Revolver vor das Gesicht gehalten und dabei deutlich gemacht zu haben, selbst bei einer Vergiftung würde die Zeit noch reichen abzudrücken. Beherzt will er auch von Klein Popo aus eine rund 20-köpfige mit Messern bewaffnete Gruppe von Afrikanern angeführt haben, nachdem er eine schriftliche Nachricht erhalten hatte, dass Ajako-Leute Keta überfallen hätten. Nur das rechtzeitige Eintreffen regulärer Schutzeinheiten soll nach Vietors Beschreibung den Einsatz seiner Hilfstruppe verhindert haben.237 Das Geschäft in Klein-Popo entwickelte sich unter seiner Führung so gut, dass auch der Handel mit Grand Popo langsam aufblühte.238 Mit seinem ebenfalls nach Klein-Popo entsandten Cousin Friedrich Noltenius harmonierte er jedoch überhaupt nicht. Noltenius hatte jahrelang Jura studiert ohne einen Abschluss zu machen und zeigte, nach Vietors Meinung, im Afrikageschäft keinen ausreichenden Eifer, ja er fand sein Engagement „himmelschreiend“ schlecht und schob ihn umgehend auf die kleine Außenstelle in Porto Seguro ab.239 Neben dem üblichen Import-/Exortgeschäft belieferte die Firma F. M. Vietor Söhne auch die kaiserlichen Kriegsschiffe mit Lebensmitteln, wenn diese vor der Küste Togos lagen, verlangte dafür jedoch zum Ärger der deutschen Verwaltung die gleichen Preise wie von seinen einheimischen Kunden.240 Nachdem zunächst die Franzosen 1885 ihre Flagge in Klein-Popo gehisst hatten,241 kam es am 24.12.1885 zu einem deutsch-französischen Interessensausgleich, durch den Frankreich seine Ansprüche auf Klein-Popo an Deutschland abtrat.242 Die deutsche Flaggenhissung konnte jedoch erst im November 1886 erfolgen.243 Hauptagent der Firma F. M. Vietor Söhne in Westafrika war seit Mitte der 1880er Jahre der am (wie Anm. 189), S. 13. 235 Vietor, 1913 (wie Anm. 189), S. 13, vgl. auch Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 15. 236 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 17f., Geschäftliches, S. 18. 237 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 15, 18. 238 Ebd., Forts., S. 17f., Geschäftliches, S. 18. 239 Ebd., Forts., S. 20. 240 Stellv. kais. Kommissar von Togo an Bismarck vom 26.7.1887, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 37. 241 Vietor, 1913 (wie Anm. 189), S. 13. Vietor berichtet von 3 französischen Kriegsschiffen, die zur Flaggenhissung gekommen wären. 242 In dem Abkommen mit Frankreich tauschte Bismarck Klein Popo (Anecho) für die Erwerbungen des Kapitäns Chüden in Koba und Kobitai (Guinea), die dieser am 3. und 6.1.1885 gemacht hatte und die bereits unter deutschem Schutz standen, ein und gliederte das Gebiet Togo an, Debrunner, Hans W.: Schweizer Zeugen und Mitbeteiligte bei den Anfängen deutscher Kolonisation in Afrika, in: Heine, Peter / Heyden, Ulrich von der, 1995: Studien zur Geschichte, S. 177. Die entsprechende Vereinbarung vom 24.12.1885 ist hier abgedruckt, ebd., S. 194. 243 Sebald, Peter: Little Popo – Koloniale Einflüsse auf Namen Berliner Kleingartenanlagen, in:

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27.10.1881 in Keta eingetroffene Friedrich Oloff.244 Er hatte von 1875 bis 1881 bei F. M. Vietor Söhne in Bremen seine kaufmännische Lehre gemacht und war im September 1881 nach Afrika ausgereist. Bald nach Übernahme der Hauptverantwortung in Keta geriet Oloff jedoch in Konflikt mit den Missionaren der NMG, die ihm die Verantwortung für die ihrer Meinung nach nun einsetzende „Verlotterung“ der Sitten zuschrieben. Der Konflikt führte schließlich 1889 zur Trennung Oloffs von der Firma Vietor und zum Beginn eigenständiger Aktivitäten in Westafrika, die ihm dort rasch eine führende Stellung einbrachten.245 Ein weiterer Grund für die Trennung könnte auch das wachsende Misstrauen Oloffs gegenüber der immer stärker werdenden Stellung J. K. Vietors im Unternehmen gewesen sein. War Oloff anfangs noch bereit gewesen, J. K. Vietor als seinen Stellvertreter für die erste Sitzung des 1886 geschaffenen Verwaltungsrates zu nominieren,246 scheint es in der Folge zu einer Verschlechterung der Beziehungen gekommen zu sein. Vietor bekam im Laufe der Zeit „unverschämte Briefe“ Oloffs, die jeweils mit Durchschlag nach Bremen gingen. Vietor vermutete später, Oloff hätte das aus Sorge um seine eigene Laufbahn getan und um ihm damit zu schaden. Dass Oloff bei der Wahl seiner Methoden nicht zimperlich war, um seine Karriere voranzubringen, unterstellte ihm Vietor später dadurch, dass er behauptete, die Beförderung zum Hauptagenten wäre nur wegen einer Bilanzfälschung zustande gekommen. Im Zusammenhang mit der geplanten Auflösung der kleinen Niederlassung in Danoe zugunsten der Verlagerung des Handels nach Lome hätte Oloff Rechnungen gefälscht, die ihn in ein gutes Licht gesetzt hätten.247 Möglicherweise hatte Oloff von Friedrich Martin Vietors Angebot an seinen Neffen erfahren, ihn in einigen Jahren zum Teilhaber zu machen, falls er weiterhin so gut arbeiten würde. Sorgen, dass J. K. Vietor andere, langjährige Mitarbeiter der Firma in den Schatten stellen könnte, gab es in der Tat, wie die Beschwerden von Herrn Schlingmann beweisen. Er hatte sich bei Vietors Onkel beklagt, dass er von seinem Neffen an den Rand gedrängt würde und ihm nun nach elf Jahren der Mitarbeit seine Zukunft in der Firma nicht mehr klar sei.248 Trotz einer Verlängerung des zunächst nur auf zwei Jahre vereinbarten Kontraktes, kam es in Folge mehrerer Krankheitsfälle am Kontor in Bremen und gesundheitlicher Probleme F. M. Vietors bereits 1887 zur vorzeitigen Rückkehr J. K. Vietors nach Deutschland. Bald stellte sich heraus, dass seine Mitwirkungsmöglichkeiten an Geschäftsvorgängen minimal blieben, da sein Onkel nichts aus der Hand gab. Am 18.7.1887 kam es zwischen F. M. Vietor und J. K. Vietor zum entscheidenden Gespräch. Der Onkel eröffnete seinem Neffen, dass er sein Angebot

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van der Heyden, Ulrich/Zeller, Joachim (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin, Berlin 2002, S. 189–192, 191f. Müller, 1971 (wie Anm. 74), S. 69. J. K. Vietor bezeichnet Oloff für die gesamte Zeit seines ersten zweieinhalb Jahre währenden Aufenthaltes in Afrika als seinen Vorgesetzten, wie die Beschreibung seiner ersten Jahre „unter Oloff“ belegt, J. K. Vietor (Eleonore Woermann) an Hedwig Vietor vom 23.8.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 6. Müller, 1973 (wie Anm. 115), S. 98. F. Oloff (Keta) an [kaiserl. Kommissar von Togo] vom 14.2.1886, ANT, FA1/161, Bl. 13. „Diese Manipulation brachte Oloff dann die Ernennung zum Hauptagenten ein“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 12. J. K. Vietor an seine Stiefmutter vom 19.7.1887, VPAH, Konv. 5, Mappe 8.

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auf Geschäftsbeteiligung sowie der Finanzierung von verschiedenen Geschäftsreisen, etwa nach Amerika, nicht mehr aufrechterhalten könne. Er hätte vielmehr ein Schreiben in seinem Safe deponiert, dass das Geschäft nach seinem Ableben liquidiert werden müsse. Mehr als seine jetzige Stellung könne er dem Neffen nicht mehr anbieten. Anschließend unterbreitete er ihm jedoch ein alternatives Angebot: Gegen eine jährliche Miete von 1000,- Mark könne J. K. Vietor seine Faktorei in Klein Popo übernehmen, dazu wolle er ihm ein Startkapital von 50.000,- Mark für eine eigene Firmengründung zur Verfügung stellen. Diese Wendung der Ereignisse löste nicht, wie J. K. Vietor Jahrzehnte später behauptete, spontane Freude bei ihm aus, weil er sich schon immer hätte selbständig machen wollen,249 vielmehr trat zunächst Enttäuschung ein. Bis dahin hatte er darauf gesetzt, sich im Geschäft seines Onkels weiter zu bewähren, um eines Tages die Geschäftsführung übernehmen zu können. Er wollte daher auch nicht sofort zusagen, sondern gab zu bedenken, dass sein Cousin Friedrich, der offensichtlich die Verantwortung nach seiner Heimreise in Klein Popo übernommen hatte, mit einem Verlust von 5.000,- Mark abgeschlossen hätte. Allerdings sähe er auch Chancen, da in Keta die letzten beiden Jahresabschlüsse positiv gewesen wären.250 Richtig ist, dass die Enttäuschung wohl nicht lange angehalten hat und schon am nächsten Tag erste strategische Gedanken in ihm aufkeimten. Sein Vater tat sich jedoch längere Zeit schwer mit dem Vorgehen seines Bruders und wies darauf hin, dass das Geschäft doch eigentlich ein Familienbetrieb sei und später an die Neffen J. K. und Karl in Richmond fallen müsste.251 Die Beweggründe für F. M. Vietors Rückzieher waren vor allem darin zu suchen, dass er seinen Neffen die Weiterführung nicht zutraute, das umso mehr als das vergangene Jahr 1886/87 gezeigt hatte, wie schnell eine Firma bankrott gehen konnte. Über insgesamt neun Monate hatten rund 900.000,- Mark F. M. Vietors in einem Tabakgeschäft festgesteckt und die Firma komplett bewegungsunfähig gemacht. Noch dazu hatte es sich um einen Bankkredit gehandelt. Nur ein glücklicher neuer Konjunkturschub hatte die Firma wieder liquide gemacht und dieser Investition zu einem Erfolg verholfen. F. M. Vietor wollte nach dieser Erfahrung sein Geschäft verkleinern und einschränken und keine solchen Risiken mehr eingehen. Es war ihm aber klar, dass das nicht zu den Geschäftsideen und -prinzipien J. K. Vietors passen würde. Die Gründung einer eigenen Firma durch J. K. Vietor hielt er daher

249 Vietor erinnert sich Anfang der 1930er Jahre, vor dem abendlichen Gespräch am 18.7.1887 hätte sein Onkel ihn tagsüber gefragt, was er meine, mit wie viel Geld man sich in Afrika selbständig machen könne. Daraufhin hätte J. K. Vietor die Summe von 50.000,- Mark genannt und hinzugefügt, mit solch einer Summe würde er es sofort wagen wollen. Entsprechend sei seine Reaktion auf das Angebot am Abend gewesen: „Kein Mensch war froher als ich, denn mein Streben war es ja immer gewesen, möglichst schnell selbständig zu werden“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Geschäftliches, S. 26f. 250 J. K. Vietor an seine Stiefmutter vom 19.7.1887, VPAH, Konv. 5, Mappe 8. 251 C. R. Vietor an F. M. Vietor vom 22.7.1887, VPAH, Konv. 5, Mappe 8. Er wies auch auf den schlechten Eindruck hin, den es bei anderen Firmen machen würde, wenn er die Firma liquidieren ließe nach seinem Ableben, da dies sein fehlendes Vertrauen in die Geschäftstüchtigkeit seiner Neffen öffentlich mache. Zudem fiele der Mission ein Geldgeber aus, wenn die Firma eines Tages schließen würde, statt weitergeführt zu werden.

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für den geeignetsten Weg.252 Schon einen Tag nach dem Gespräch mit seinem Onkel entschloss sich J. K. Vietor, einen eigenen Geschäftsbeginn konkreter durchzudenken. Neben den 50.000,- Mark seines Onkels hatte ihm sein Vater 10.000,- Mark bei 5-prozentiger Verzinsung angeboten, dazu hoffte er, weitere 20.000,- bis 30.000,- Mark von anderen Kreditgebern zu erhalten. Dazu war die Faktorei in Klein-Popo gut in Schuss und mit Gustav Henke meinte er, einen Partner in Bremen finden zu können, der den Ein- und Verkauf von Waren auf Kommission übernehmen könne. Henke saß seit 1884 im Vorstand der NMG und hatte die Aufgabe des Rechnungsführers übernommen. Sein Bruder, H. Henke, war der einzige und langjährige Prokurist der Firma F. M. Vietor Söhne.253 Vietor drängte seine Stiefmutter zu baldiger Zustimmung, damit er möglichst schon mit dem Dampfer am 30.8.1887 wieder nach Afrika ausreisen könne, um auf diese Weise am 30.9.1887 das Geschäft übernehmen zu können, „wenn Vietors ihren Abschluß machen“.254 Seine Geschäftschancen rechnete er sich inzwischen deutlich positiver aus und erwartete einen jährlichen Mindestumsatz von 100.000,- Mark, nachdem er in seiner Zeit in Klein Popo ja bereits schon einmal einen Jahresumsatz von sogar 200.000,- Mark hatte machen können.255 Sofern sein Vater keine weiteren Einwände erheben würde, wollte er das Geschäft mit seinem Onkel abschließen.256 Folgende Bedingungen waren für ihn dabei grundlegend: 1. Der 50.000,- Mark Kredit seines Onkels sollte eine unkündbare Laufzeit von 10 Jahren haben, bei einem Zinssatz von 5 %. 2. Den Warenbestand in Klein-Popo wollte er so weit wie möglich übernehmen, unverkäufliche Waren sollten an Herrn Oloff zurückgegeben werden können. 3. Die neue Firma J. K. Vietor sollte das Recht haben, zwischen Porto Seguro und Keta eigene Faktoreien zu eröffnen. 4. Wenn möglich wollte Vietor das Faktoreigebäude in Klein Popo kaufen statt gegen Miete zu übernehmen. Entsprechende Konditionen sollten vorgelegt werden.257 5. Im Falle der Erfüllung dieser Bedingungen wollte er versprechen, keinen Handel mit Alkohol zu beginnen: „Falls Ihnen diese Bedingungen convenieren, bin ich gerne bereit mich zu verpflichten, keinen Spirituosenhandel zu betreiben, wird es überhaupt mein Bestreben sein die L.Popo Faktorei in dem selben Sinne weiter zu führen wie dieselbe unter Ihrer Leitung geführt ist und würde

252 F. M. Vietor an C. R. Vietor vom 26.7.1887, VPAH, Konv. 5, Mappe 8. 253 Angaben nach Delius, dem preußischen Generalkonsul in Bremen vom 23.2.1891, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 83), S. 38. Gustav Henke war von 1884–1910 Rechnungsführer und Vorstandsmitglied der NMG. 254 J. K. Vietor an seine Stiefmutter vom 19.7.1887, VPAH; Konv. 5, Mappe 8. 255 J. K. Vietor an [Gustav Henke], Ende Juli 1887, Entwurf, VPAH, Konv. 5, Mappe 8. 256 J. K. Vietor an seinen Vater vom 11.8.1887, VPAH, Konv. 5, Mappe 8. 257 Der Kaufpreis wurde schließlich auf 20.000,- Mark festgelegt und mit dem Kredit über 50.000,Mark verrechnet, sodass noch 30.000,- Mark für die Geschäftstätigkeit blieben, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Forts., S. 25.

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ich versuchen, mit Ihren Faktoreien und mit Ihren Angestellten in einem freundschaftlichen Verkehr zu bleiben.“258 Insbesondere die letzte Bedingung, der Verzicht auf den Handel mit Spirituosen, muss nicht bedeuten, dass Vietor notfalls zu diesem vietorschen Tabubruch bereit gewesen wäre. Da sein Onkel ihm in diesem Fall die Faktorei sicher nicht übergeben hätte, diese Alternative demnach keine realistische Variante darstellen konnte, sollte der Hinweis darauf wohl eher unterstreichen, dass sein Onkel ihm diese günstigen Konditionen allein schon deshalb anbieten müsse, weil er ohnehin durch den Verzicht auf den Spirituosenhandel einen schweren Start haben würde. Nachdem die Firma Henke & Co. die gewünschte Kommission in Bremen bei Einräumung einer Kreditlinie von 10.000,- Mark zugesagt hatte und auch Gysi & Kleinjunk in Manchester einen Warenkredit von 10.000,- Mark gewährte,259 konnte die Firmengründung J. K. Vietors vollzogen werden.

258 J. K. Vietor an F. M. Vietor, [Sommer 1887], VPAH, Konv. 5, Mappe 8. 259 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 50), VPAH, Geschäftliches, S. 28. An anderer Stelle gibt Vietor die Warenkreditlinie von Gysi & Kleinjunk mit 20.000,- Mark an, ebd., Forts., S. 26.

3 AUFBAU DES FIRMENNETZES BIS ZUM AUSBRUCH DES ERSTEN WELTKRIEGES ETABLIERUNG UND EXPANSION DER FIRMA J. K. VIETOR BIS ZUR JAHRHUNDERTWENDE Festigung des Geschäftes bis Mitte der 1890er Jahre Nachdem J. K. Vietor noch im August 1887 nach England gefahren war, um in Manchester die Geschäftsgrundlagen mit der Firma Gysi & Kleinjunk zu legen, „mit denen ich mein Hauptgeschäft zu machen beabsichtige“, wollte er ursprünglich am 30.8.1887 nach Afrika abreisen, um das Geschäft in Klein Popo am 1.10.1887 zu übernehmen. Offensichtlich verzögerte sich die Ausreise jedoch, sodass Vietor erst im Frühjahr 1888 in Afrika eintraf.1 In den folgenden drei Jahren arbeitete er ohne Unterbrechung am Geschäftsaufbau in Afrika.2 Der Beginn gestaltete sich schwierig. Vietor gibt als Grund später an, dass der Warennachschub stockte. Größere Lieferungen aus Europa wären teilweise nur alle zwei Monate angekommen, die Ware wäre dann jedoch oft bereits nach zwei Wochen komplett verkauft gewesen. Somit wäre regelmäßig ein ernstzunehmender Leerlauf im Geschäft entstanden, die Kosten jedoch weitergelaufen, was insgesamt das Geschäft auf der Stelle treten ließ.3 Bedenkt man, dass die Woermannlinie zur Zeit seines 1

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J. K. Vietor an seine Stiefmutter vom 19.7.1887, VPAH, Konv. 5, Mappe 8. In einem Schreiben an Puttkamer von 1890 erklärt er, er habe das Geschäft vor zwei Jahren, also 1888, gegründet, J. K. Vietor (Klein Popo) an Puttkamer vom 2.5.1890, BAB, R 1001-3829, Bl. 108. In einem Bericht für die Kölnische Zeitung gibt er an, er hätte einen einjährigen Heimataufenthalt gehabt. Da er im Frühjahr 1887 nach Deutschland gereist war, kam er daher offensichtlich erst im Frühjahr 1888 wieder zurück, Vietor, J. K.: Die Verhältnisse des Togo-Gebietes, in: Kölnische Zeitung, 1890. Später gibt Vietor jedoch mitunter das Jahr 1887 als Gründungsjahr seiner Firma an, vgl. Vietor, J. K. Vortrag über das Christentum (Redemanuskript) [1925], VPAH, S. 5. Vietor, J. K.: Bericht von J. K. Vietor, unv. Erinnerungen [1905/1930], VPAH, Forts., S. 26. Vietor spricht hier von dreieinhalb Jahren. Da Vietor nach Aussage Puttkamers im Frühjahr 1891 Klein Popo verließ, müßte er demnach spätestens Anfang 1888 in Klein Popo angekommen sein, vgl. Puttkamer an Caprivi vom 21.10.91, BAB, R 1001-3830, Bl. 26. Sebald gibt an, Vietor wäre nach der Geschäftsgründung bis 1896 fast ununterbrochen in Afrika gewesen, vgl. Sebald, Peter, 1988: Togo 1884–1914, S. 113. Das trifft nicht zu, auch wenn Vietor das häufig selbst behauptete. Nach seiner gesundheitsbedingten Rückkehr nach Deutschland im Mai 1893, blieb er mehr als ein Jahr in Deutschland, um am 1.8.1894 zu einer erneuten Inspektionsreise nach Afrika aufzubrechen. Im Januar 1895 reiste er zurück, mußte jedoch bis mindestens Mitte April 1895 in Gran Canaria Halt machen, da sein Schwager Enrique das hier in Vietors Namen gegründete Geschäft nicht rentabel betreiben konnte. In der Folge brach er nur noch alle 2–4 Jahre zu mehrmonatigen Inspektionsbesuchen nach Afrika auf. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 29.

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3 Aufbau des Firmennetzes bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Geschäftsbeginns bereits eine monatliche Postdampferverbindung nach Keta eingerichtet hatte, die Ware nach Lome und Klein Popo mittels Brandungsbooten anlieferte und von England sogar 14-tägig Dampfer nach Keta gingen, können Stockungen im Warenverkehr allerdings kaum auf fehlende oder mangelhafte Transportmöglichkeiten zurückgeführt werden.4 Für den im Vergleich zu Klein Popo eher unbedeutenden Handelsplatz Porto Seguro werden für 1884/85 monatlich zwei Dampfer aus Hamburg und einer aus Liverpool angegeben.5 Hinzu kamen, zumindest noch in den 1880er Jahren, Transporte über Segelschiffe.6 Die Ausfuhrzahlen Vietors allein für Palmkerne lagen im Jahr 1888 relativ hoch und bewegten sich zwischen rund 90.000 kg (August) und 55.000 kg (Dezember). Im Vergleichszeitraum des Folgejahres 1889 sackten die Ausfuhrzahlen für Palmkerne dagegen auf ein Niveau zwischen rund 43.000 kg und 6.000 kg ab. Schuld an dem Einbruch waren nicht begrenzte Transportmöglichkeiten, sondern eine schlechte Ernte und Vietors Kaufzurückhaltung infolge schlechter Qualität.7 In der Frage des Handels 4

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Nach Keta ging 1891 an jedem 15. des Monats ein Postdampfer von Hamburg aus. Der Weitertransport nach Lome und Klein Popo erfolgte über „Boote“. Von Liverpool legten monatlich zwei Dampfer nach Togo ab, DKZ 1–9 (1891), jeweils Werbe-Anhang, ohne Paginierung. 1892 gingen je zwei Postdampfer monatlich von Hamburg nach Keta (jeweils am 6. und 21. des Monats) sowie einer im Monat nach Accra (jeweils am 1. des Monats). Von allen drei Dampfern gingen Waren per Boot nach Lome und Klein Popo. Von Liverpool gingen 3 bis 4 Dampfer nach Keta bzw. Klein Popo, vgl. DKZ (1892), S. 160. Nach der amtlichen Denkschrift für das Jahr 1892/93 liefen im Berichtsjahr 91 Dampfschiffe und 16 Segelschiffe Ankerplätze in Togo an, vgl. SBR, 9. Leg. per., 2. Sess., Anlage 105, S. 714. 1895/96 waren es schon 257 Dampfschiffe und 9 Segelschiffe, von denen 136 Dampfer und 4 Segelschiffe Klein Popo anliefen, vgl. Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete im Jahre 1895/96, SBR, 9. Leg. per., 4. Sess., Anlage 624, S. 2939f. Die gleiche Anlaufverteilung von 1895/96 vorausgesetzt, lief 1892/93 durchschnittlich etwa jede Woche ein Dampfer Klein Popo an. Reichsamt des Innern: Handelsbericht für das Togo-Gebiet, in: Deutsches Handels-Archiv. Zeitschrift für Handel und Gewerbe, 1885, S. 832f. Die Dampfer nahmen auf der Rückfahrt jeweils die Produkte der europäischen Firmen auf. Einer der Hamburger Dampfer lief für die Woermannlinie, der andere für die Englisch-Hamburgische Linie. 1884/85 kamen nach Porto Seguro „ab und zu Segelschiffe der beiden französischen Häuser, um dort einen kleinen Theil ihrer Ladung zu löschen, oder die vorhandenen Produkte zu laden“, Reichsamt des Innern, 1885 (wie Anm. 5), S. 832. In der Rückschau erklärt Vietor, die Frequenz der Woemann-Dampfer hätte zu Anfang seiner Zeit in Afrika bei vier bis acht Wochen gelegen, um dann nach auf monatliche Taktung umgestellt zu werden. In den 1880er Jahren wäre jedoch noch ein nicht unerheblicher Teil des Handels über kleine französische, italienische, seltener deutsche Segelschiffe abgewickelt worden, die im Schnitt eine Liegezeit von 96 Tagen gehabt hätten, vgl. Vietor, J. K.: „Rede: Antialkohol“ [1909], VPAH, S. 1f. In der Anfangszeit importierte Vietor überwiegend Waren aus England und Frankreich, da die deutschen meist noch nicht konkurrenzfähig waren, die überwiegende Zahl der benutzten Dampfer stammte daher aus England, vgl. Vietor, 1925 (wie Anm. 1), S. 13. J. K. Vietor (Klein Popo) an Puttkamer vom 16.1.1890, BAB, R 1001-3829, Bl. 104. Demnach exportierte Vietor im August 1888 Palmkerne mit einem Gesamtvolumen von 90.304 kg, im September 74.335 kg, im Oktober 82.540 kg, im November 55.164 kg und im Dezember 56.407 kg, zusammen für die fünf Monate 358.810 kg. Im Vergleichszeitraum 1889 lagen seine Ausfuhrzahlen für Palmkerne deutlich niedriger: August 1889: 43.500 kg, September: 15.700 kg, Oktober: 8.022 kg, November: 9.518 kg, Dezember: 6.229 kg, zusammen von August – Dezember: 82.969 kg, also nur etwa ein Viertel vom Volumen des Vorjahres. Der Einkaufspreis

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mit Palmkernen kam es 1890 zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Vietor und den anderen Firmen Klein Popos. Während sich die meisten europäischen Firmen aufgrund der drastisch verschlechterten Qualität der Palmkerne für eine Verordnung aussprachen, die den Schalenanteil auf maximal 10 % begrenzte, waren Vietor und die Firma F. B. Cole dagegen. Die kurz zuvor gemeinsam gegründete Handelskammer8 kam durch die unterschiedlichen Standpunkte in eine schwere Zerreißprobe. In mehreren Eingaben und Briefen an den Kaiserlichen Kommissar, Jesco von Puttkamer,9 und das Auswärtige Amt versuchte Vietor diese Verordnung zu stoppen, respektive wieder rückgängig zu machen.10 Für ihn stellte sie ein prinzipielles Ärgernis dar, da sie einerseits den freien Handel begrenzte und andererseits die Firmen in eine bessere Position brachte, die auch im Landesinneren über Niederlassungen verfügten. Diese Firmenpolitik widersprach jedoch Vietors Grundüberzeugung, da viele kleine Niederlassungen die Fixkosten seines Geschäftes erhöhten. Er setzte auf eine möglichst zentrale Geschäftsabwicklung in Klein Popo selbst. Da die Verordnung nur den Handel an der Küste direkt regelte, höhere Schalenanteile im Landesinneren jedoch weiterhin zuließ, fürchtete Vietor, in Zukunft vom Palmkerngeschäft ganz ausgeschlossen zu werden, da er im Landesinneren keine Anlaufstationen für den Ankauf hatte, hier aber, nach seiner Meinung das Hauptgeschäft gemacht würde. Als seine Firma im Juni 1891 aus der Handelskammer austrat und daraufhin nicht mehr bereit war, sich an den Kosten für die Überwachung und Einhaltung der Verordnung zu beteiligen, die in die Hände der Handelskammer gelegt worden war, kam es zum Eklat. Nach einer Beschwerde der Handelskammer bei Puttkamer über dieses Verhalten, drohte dieser Vietor eine Strafe von 1000,- Mark für den Fall an, dass er weiterhin mit seinem Beitrag säumig bliebe.11 Da die anderen Firmen die Verordnung durchaus für einen Erfolg hielten,12 konnte Vietor es nicht verhindern, dass eine entsprechende Verordnung

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pro kg lag bei etwa 1,33 Mark, Traugott Söllner an preuß. Gesandten Herr von Haxthausen vom 15.7.1890, ebd., Bl. 116. Die „Handelskammer von Klein Popo und Porto Seguro“ wurde im Dezember 1889 gegründet, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 112. Puttkamer war bereits 1887/88 interimistischer Kommissar für Togo gewesen, anschließend ein Jahr lang deutscher Konsul in Lagos, um 1889/1890 erneut interimistischer Kommissar in Togo zu werden. Von 1891 bis 1894/95 war er Kommissar resp. Landeshauptmann, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 55; vgl. Schnee, Heinrich (Hrsg.): Deutsches Koloniallexikon, 3 Bände, Leipzig 1920, Bd. 3, S. 117; Gründer, Horst, 2004: Geschichte der deutschen Kolonien, S. 249. J. K. Vietor an Puttkamer vom 24.4.1890, BAB, R 1001-3829, Bl. 86–88; J. K. Vietor an das AA vom 15.5.1890, ebd., Bl. 96–100; J. K. Vietor an Puttkamer vom 16.1.1890, ebd., Bl. 100–104; J. K. Vietor an Puttkamer vom 2.5.1890, ebd., Bl. 107–109. Puttkamer an Caprivi vom 21.10.91, BAB, R 1001-3830, Bl. 24–28. Der Firma Cole wurde für den weiteren Säumnisfall eine Strafe von 500,- Mark angedroht. Der monatliche Beitrag zur Kostendeckung für die Überwachung der Anwendung der Verordnung betrug lediglich 12,Mark, vgl. ebd., Bl. 26. Die Firma Traugott Söllner & Co. rechnete vor, dass sie durch die Verordnung weder einen Umsatzrückgang noch eine Gewinneinbuße erlitten hätte. Hatte Söllner im November und Dezember 1889 zusammen 108.775 kg Palmkerne mit einem durchschnittlichen Schalenanteil von etwa 16% ausgeführt, so belief sich das Volumen nach Inkrafttreten der Verordnung auf 125.712 kg mit einem durchschnittlichen Schalenanteil von nur noch 7,5 % für die Zeit vom

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1894 auch für Bagida und Lome erlassen wurde.13 Vietors ständige Wortmeldungen zu tagesaktuellen Fragen hatten überdies nach nur drei Jahren der Selbständigkeit dazu geführt, dass Puttkamer entnervt feststellte, dass die Firma Vietor „wenn es irgendwie möglich ist, Schwierigkeiten hervorruft.“14 Angesichts der Spannungen und Gewinneinbrüche in Klein Popo entwickelte die sich bald nach Firmengründung in Grand Popo eingerichtete Filiale zur wichtigen Stütze des jungen Unternehmens. Die Eröffnung der Niederlassung in Grand Popo fiel mit der Hinterlandexpedition von Stabsarzt Dr. Ludwig Wolf und Premier-Lieutenant Kling, zusammen, die am 29.3.1888 in Klein Popo mit etwa hundert Personen ihren Ausgang genommen und im Juni 1888 zur Gründung der rund zehn Tagereisen landeinwärts gelegenen Regierungsstation Bismarckburg geführt hatte.15 Ein Jahr später nutzte Vietor die Chance einer weiteren Hinterlandexpedition und schickte mit dieser seinen ersten weißen Angestellten, Martin Paul, in den Raum Atakpame, um dort neue Handelsverbindungen aufzubauen.16 Paul wurde jedoch schwer krank und musste unverrichteter Dinge von Atakpame zurückkehren.17 1891 machte Vietor mit der Entsendung eines afrikanischen Mitarbeiters

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1.3. bis 15.5.1890. Der Reingewinn erhöhte sich in nur 2 ½ Monaten um 1.610,- Mark. Die Angabe von Vietor, er hätte im März und April 1890 zusammen nur noch 6.700 kg ausgeführt, also nur noch etwa halb so viel wie allein im Dezember 1889 (6.229 kg), bewertete Söllner, das sei unter dem Strich nur eine Gewinneinbuße von 50,- Mark in drei Monaten. Seine Rechnung basierte auf der Angabe Vietors, er hätte den Palmkernhandel mit einer Gewinnspanne von 10% betrieben. Handelte er nach Einführung der Verordnung mit rund 3000 kg weniger im Monat, summierte sich das für drei Monate auf 9000 kg, die Vietor für 1.200,- Mark einkaufen konnte. 10 % davon wären demnach 120,- Mark. Da Söllner davon ausging, dass Vietor für Kerne mit nur 10% Schalenanteil auch einen besseren Preis in Hamburg erzielte, konnte er in seinen Augen kaum mehr als eine Einbuße von 50,- Mark in den drei Monaten nach Einführung der Verordnung erlitten haben, Traugott Söllner an Haxthausen vom 15.7.1890, BAB, R 10013829, Bl. 114–119. Vietor hingegen argumentierte, er hätte in den etwas mehr als zwei Monaten seit Einführung der Verordnung bereits 1000,- Mark verloren. In diese Summe zählte er jedoch auch die weiterlaufenden Fixkosten ein, also die Kosten für die nicht ausgelastete innerbetriebliche Infrastruktur (Löhne, Gebäudekosten etc.), J. K. Vietor an Puttkamer vom 2.5.1890, BAB, R 1001-3929, Bl. 107–109. Vgl. Verordnung betreffend dem Handel mit Palmkernen in Lome und Bagida, BAB, R 10013830, Bl. 68–71. Die Verordnung trat am 1.10.1894 in Kraft. Damit galt die Begrenzung des Schalenanteils bei Palmkernen auf 10 % praktisch an der gesamten Togoküste. Puttkamer an Caprivi vom 21.10.1891, BAB, R 1001-3830, Bl. 25. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 26; Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 82f. An der Expedition nahmen 36 Wie-, 20 Lagos- und 42 Popoleute teil. Am 20.5.1888 wurde die Anlage der Station Bismarckburg von den Häuptlingen und der Priesterschaft gebilligt, Das Togogebiet, in: Meinecke, Gustav (Hrsg.): Koloniales Jahrbuch. Das Jahr 1888, Berlin 1889, S. 180–189, 183f. Vietor, J. K.: Schilderung einer Reise nach Atakpame, in: DKB 1898, S. 204–208, 207. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 28, Geschäftliches, S. 32. Martin Paul, später ein wichtiger Konkurrent, war bis 1892 für J. K. Vietor in Afrika tätig. Nach seiner Rückkehr nach Bremen übernahm er anstelle der Firma Gustav Henke & Co. das Kommissionsgeschäft für Vietor. Friedrich Martin Vietor bedauerte, dass sein Neffe mit Paul einen Mitarbeiter in Afrika verlor, riet aber von der Übertragung des Kommissionsgeschäftes in Bremen auf Paul ab, da er zu unbekannt sei und der bisherige Partner, Gustav Henke, im Vorstand der NMG säße, F. M. Vietor an J. K. Vietor vom 27.6.1892, VPAH.

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erneut einen Versuch zur Erschließung Atakpames, kam aber infolge der mangelhaften Infrastruktur nicht auf seine Kosten, da die Ware zwar billig, die Trägerkosten jedoch zu hoch waren.18 Bereits in den ersten Jahren handelte Vietor, wie die Mutterfirma F. M. Vietor Söhne, neben Tabak auch mit Gewehren und Pulver. Die Abnehmer sind nicht bekannt, stehen jedoch möglicherweise mit der Ausstattung der Forschungsstation in Bismarckburg sowie Expeditionen ins Hinterland in Verbindung. Noch 1896 wird Bismarckburg als Bezieher vietorscher Waren genannt.19 Nach Abschluss des deutsch-englischen Zollabkommens für Togo und das linke Voltaufer vom 24.12.1894 gingen die Gewehr- und Pulverimporte der Vietorhäuser allerdings zurück, blieben aber fester Bestandteil des Warensortiments.20 Während die Firma F. M. Vietor Söhne in der Statistik vom 1.10.1889 mit 11.000 englischen Pfund (etwa 5 t) als zweitgrößter Pulverimporteur des Schutzgebietes ausgewiesen wird, kam J. K. Vietor nach der Statistik vom 20.11.1892 sogar auf die Menge von 24.000 englischen Pfund (etwa 11 t), was möglicherweise auf den Dahomeykrieg zurückzuführen ist oder auf die Ausrüstung der Expedition von Hauptmann Kling nach Salaga. Mit 7,7 t Tabak, einem steuerpflichtigen Hauptartikel in dieser Zeit, importierte er fast fünfmal so viel wie die Firma F. M. Vietor Söhne, die nur auf 1,6 t kam.21 Damit konnte er einen nicht unerheblichen Teil des Gesamttabakimportes

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Vietor, J. K.: Zur Kolonialpolitik, in: Reichsbote 44 (1894). Der als Leserbrief eingesandte Beitrag erschien auch im deutschen Kolonialblatt, vgl.: Vietor, J. K.: Bericht des Herrn Vietor über Togo, in: DKB 1894, S. 130 f. Eine Konkurrenzfirma unterhielt eine Weile in Bismarckburg eine Niederlassung, gab diese dann aber auf, da die Transportkosten auch für sie zu hoch waren. Der Trägerlohn/Person lag bei 30,- Mark, ebd. DKZ 1896, S. 236. Richard Büttner beschreibt in seinem Bericht über die Kolonialausstellung 1896 auch eingehend das Modell der Faktorei J. K. Vietors in Klein Popo, welches in der Eingangshalle der Abteilung Togo aufgebaut worden war. Er selbst hatte seit 1884 während verschiedener Aufenthalte in Togo mehrmals die Gastfreundschaft der Vietor’schen Faktorei in Klein Popo genossen und bestätigte, dass die Station Bismarckburg „ihre Bedürfnisse“ seit Jahren über Vietor abdeckte. Die Ausrüstung von Expeditionen gehörte nach Vietors eigener Angabe zu seinen Geschäftsfeldern. Bereits 1889 hatte er die Expedition, mit der sein Angestellter Paul nach Bismarckburg gereist war, ausgerüstet, vgl. Vietor, 1894 (wie Anm. 18). Infolge des deutsch-englischen Zollabkommens vom 24.12.1894 erhob die deutsche Verwaltung für jedes Kilogramm Pulver 1 Mark Zoll und für jedes Gewehr 2 Mark. Zur daraus resultierenden Importmengenent- wicklung, DKB 1894, S. 267–270; DKB 1899, S. 532–534, 601 f. Im Warenbestandsbuch der Hauptfaktorei von Vietor & Freese in Anecho wird für 1.10.1911 ein Warenbestand an Pulver und Gewehren im Wert von 5.135,09 Mark ausgewiesen, mithin ein Anteil am Gesamtwarenwert (183.805,08 Mark) von weniger als 3 %, StAB, 7,2001-10. Der Warenwert von „Powder and Guns“ der Bremer Faktorei in Keta wird in der Warenbestandsaufnahme vom 31.10.1915 mit £ 407,- angegeben, StAB 7,2001-5. Die Warenwerte der amtlichen Statistik vom 1.10.1890 bis 31.3.1891 zugrunde gelegt machte J. K. Vietor einen Umsatz von 7.574,50 Mark mit Tabak und 7.315,- Mark mit Pulver. Zu den Mengenangaben vgl. die von der Zollverwaltung in Togo zwischen 1889 und 1892 vierteljährlich herausgegebene „Warenstatistik“, die die jeweiligen Firmen einzeln aufführt, BAB, R 1001-7502, Bl. 13–169. 1892 unternahm Kling, jetzt Hauptmann, seine letzte Expedition, die ihn nach Salaga führte. Dabei erkrankte er schwer und starb nach seiner Rückkehr nach Deutschland am 15.9.1892, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 84.

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Togos über seine Firma abwickeln.22 Vor Gründung des eigenen Geschäftes hatte noch die Firma F. M. Vietor Söhne den größten Marktanteil am Tabakimport gehabt,23 der in erster Linie über die Faktorei in Lome abgewickelt wurde.24 Die Verschiebung des hohen Importanteils zu J. K. Vietor könnte auf eine familieninterne Abmachung zurückzuführen sein. Möglicherweise wollte Friedrich Martin seinem Neffen damit helfen, durchzuhalten, nachdem dieser im Herbst 1889 mit dem Gedanken spielte, sein Unternehmen wegen der ausbleibenden Rentabilität zu schließen und wieder in ein Angestelltenverhältnis zu wechseln.25 Einen ersten geschäftlichen Durchbruch brachte ihm das Jahr 1890. Vietor gibt an, nach einer ausgesprochen guten Maisernte in Westafrika, auf Drängen seiner Kunden, ihren Mais für den sehr niedrigen Preis von 30 Mark/t aufgekauft zu haben.26 Die konkurrierenden europäischen Firmen hätten sich dagegen auf dieses Geschäft nicht einlassen wollen, weil sie keine ausreichende Gewinnspanne gesehen hätten. Einen nennenswerten Handel mit Mais aus Westafrika hatte es zudem bis dahin in Deutschland nicht gegeben. Als Vietor die erste Schiffsladung in Hamburg für 86 Mark/t verkaufen konnte, was nach Abzug der Frachtkosten von etwa 50 Mark/t immerhin einen Reingewinn von 6 Mark/t bedeutete, kaufte er über mehrere Monate hinweg jeweils 200 t/Monat auf. Während die Einkaufspreise in Afrika zunächst stabil blieben und erst mit dem Einstieg anderer Konkurrenten schließlich ebenfalls anzogen,27 kletterten die Verkaufspreise in Hamburg bis auf 146 Mark/t.28 Vietor hatte unverhofft von einer internationalen Verknappung des 22

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Für die Abrechnungszeiträume 1.4. bis 30.9.1890 und 1.10.1890 bis 31.3.1891 zusammen, also das Rechnungsjahr 1890/91, gibt die amtliche Statistik für Togo einen Gesamtimport von 117,6 t Tabak und rund 310 t Pulver an, was einem Wert von etwa 115.780,- Mark für Tabak und 217.000,- Mark für Pulver entsprach, setzt man für beide Jahreshälften den angegebenen Warenwert vom 1.10.1890 bis 31.3.1891 an. Für die Zeit zwischen 1.4. bis 30.9.1890 fehlen Wertangaben, vgl. DKB 1891, S. 426, 480. Die Importstatistik für 1885 gibt eine Gesamtmenge von 196 t Tabak an, wovon allein auf die Firma F. M. Vietor 71,2 t entfielen. Der Pulverimport wird mit 390 Tonnen angegeben. Davon entfielen auf F. M. Vietor Söhne 91,4 t und auf die Firma Wölber & Brohm 125 t, die damit vor Vietor der größte Pulverimporteur war, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 109. Für 1884/85 gibt das Deutsche Handelsarchiv die Gesamtimportmenge von 229 t Tabak an, wovon allein auf Lome 180 t entfielen, auf Klein Popo jedoch nur 9 t, Reichsamt des Innern, 1885 (wie Anm. 5), S. 833. Zum 1.10.1889 hatte J. K. Vietor eine Warenbestandsaufnahme gemacht und mitgeteilt, die Firma aufzugeben. Dagegen intervenierte sein Onkel energisch und ermutigte ihn zum Durchhalten, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 29. Müller datiert Vietors Maisgeschäft irrtümlich auf das Jahr 1888/89. Seine Quelle, J. Rösing, erwähnt dagegen keine Jahreszahl, vgl. Müller, Hartmut, 1973: Bremen und Westafrika, S. 129; vgl. Rösing, Johannes: J. K. Vietor, in: Historische Gesellschaft Bremen (Hrsg.): Bremisches Jahrbuch 35, Bremen 1935, S. 446–448, 446. Auch Knoll gibt keine Jahreszahl an, vgl. Knoll, Arthur J., 1978: Togo, S. 153. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 31. Ebd., Geschäftliches, S. 30, Forts., S. 30f. Vietors Angaben zum Höchstpreis in Hamburg und den Mengen insgesamt variieren. Im Teil „Geschäftliches“ spricht er von 200 „tons“ im Monat, die er einkauft und zum Höchstpreis von 146,- Mark in Hamburg verkauft haben will, im Teil „Forts.“ sind es 500–600 aufgekaufte „tons“ im Monat, die in Hamburg zum Höchstpreis von 175,- Mark/100 tons verkauft worden sein sollen. Es wird nicht ganz klar, ob Vietor mit dem

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Maisangebotes und damit steigenden Preisen profitiert und „verdiente schwere Gelder“.29 Der größte Maisexporteur, die USA, führte 1890 nur 26.994.000 hl Mais aus, was einem Gewicht von 1.943.568 t (geschälter Mais) bzw. 1.079.760 t (ungeschält) entspricht, und immerhin rund 50 % des gesamten Getreideexportes der USA ausmachte. 1879 waren es noch 34.595.000 hl gewesen, resp. 2.490.840 t (geschält) bzw. 1.383.800 t (ungeschält). Im Schnitt der Jahre 1891–1897 waren es 48.038.000 hl, resp. 3.458.736 t (geschält) bzw. 1.921.520 t (ungeschält).30 Die Mengen, die Vietor 1890 nach Deutschland ausgeführt haben will, erscheinen zunächst sehr hoch, bedenkt man, dass der Jahresbericht über die Entwicklung des Schutzgebietes Togo für 1890/91 in Bezug auf Mais nur einen Gesamtexport von rund 638,38 t ausweist. Infolge außerordentlicher Trockenheit waren es 1891/92 nur 276,86 t.31 Für das Berichtsjahr 1889/90 liegen keine Angaben für Togo vor, aber die Exportzahlen von Dahomey scheinen eine außergewöhnlich gute Ernte zu bestätigen, auch wenn die absoluten Exportzahlen sehr gering blieben. 1889 führte Dahomey 22 t aus, 1891 nur 17 t, 1890 aber 84 t, also etwa viermal so viel wie im Vorjahr und fünfmal so viel wie im Folgejahr.32 Auch wenn man aufgrund der geringen Gesamtmenge nicht ohne weiteres auf eine Rekordernte schließen kann, da auch andere außergewöhnliche Faktoren eine vorübergehende, starke Steigerung des geringen Exportniveaus verursacht haben könnten, widersprechen die Zahlen zumindest nicht der Behauptung Vietors, es hätte 1890 eine überdurchschnittlich gute Maisernte gegeben. Diesen Fall vorausgesetzt, könnte der Gesamtexport aus Togo 1890 durchaus deutlich über 1000 t gelegen haben. Wenn es zutreffend ist, dass Vietor bis kurz vor Schluss der Kampagne der einzig namhafte Abnehmer war, dürfte er den Hauptanteil davon ausgeführt haben und dabei zwischen 30.000,- und 40.000,- Mark verdient haben.33 Auch in den Folgejahren blieb das Maisgeschäft eine wichtige Säule seines Unternehmens.34 Der am 1.6.1894 eingeführte Ausfuhrzoll auf Mais konnte daher nicht in seinem Sinne sein, auch wenn er zu sinkenden Einkaufspreisen führte.35 Sebald erklärt die Einführung des Ausfuhrzolls mit der

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englischen Begriff „tons“ die „long ton“ (1.016 kg), die „short ton“ (907 kg) oder die deutsche Tonne meint. Ebd., Forts., S. 30. Angaben für Getreidehandel, Produktion und Preise nach: Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Aufl., Bd. 7, Leipzig, Wien 1907, S. 763. Das Lexikon gibt nicht an, ob es sich bei der Maisausfuhr um geschälten (Umrechungswert: 72 kg/hl) oder ungeschälten Mais (Umrechnungswert: 40 kg/hl) handelte. Erbar, Ralph (1991): Ein „Platz an der Sonne“?, S. 120. Die amtliche Ausfuhrstatistik für den Zeitraum vom 1.10.1890 bis 31.3.1891 gibt den Wert der in diesem Zeitraum ausgeführten 515,98 t Mais mit 31.379,85 Mark an, DKB 1891, S. 481. Manning, Patrick: Slavery, Colonialism, and Economic Growth in Dahomey, 1640–1960, Cambridge, New York 1982, S. 366. Bei einem gemittelten Verkaufspreis in Hamburg von 126,- Mark/t und einem entsprechenden Durchschnittsgewinn von 30,- bis 40,- Mark/t, errechnet sich bei einer Gesamtmenge von etwa 1.000 t ein Gewinn zwischen 30.000,- und 40.000,- Mark. Die Niederlassung in Porto Novo wäre 1908 ohne das gute Maisgeschäft stark in die roten Zahlen gerutscht, J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 23.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Der Zoll wurde wegen des Preisverfalls bereits im September 1897 wieder aufgehoben. Der

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Absicht des Landeshauptmanns Puttkamer, den Anbau von Mais für Afrikaner unrentabel zu machen, damit sie verstärkt die von der Kolonialverwaltung eher erwünschten Produkte wie Palmöl oder später Baumwolle produzierten.36 Abgesehen davon, dass die Förderung des Baumwollanbaus weder bei Einführung noch bei Wiederaufhebung des Zolls im September 1897 begonnen hatte, der Zoll also zumindest in keinem Zusammenhang mit dem Baumwollanbau zu sehen ist, sah Vietor noch einen ganz anderen Grund für die restriktive Maispolitik. Er beschwerte sich beim Direktor der Kolonialabteilung, von Buchka, darüber, dass die Beachleute, die einheimischen Fischer, in den 1890er Jahren mehrere Male bei der Verwaltung ein Maisausfuhrverbot durchgesetzt hätten, das erst nach einer Eingabe von Assessor Dr. Gleim aufgehoben worden wäre. Die Fischer wären an niedrigen Maispreisen interessiert, da dadurch ihre Lebenshaltungskosten sänken. Sie wollten nicht, dass die Bauern ihren Mais an die Faktoreien verkauften und würden sie bedrohen. Er müsse daher seinen Mais auf einem Markt etwa eine Tagereise weit von Klein Popo entfernt kaufen.37 Nach Aufhebung des Maisaufuhrzolls stieg der Export nach der Jahrhundertwende rapide an und erreichte 1908 mit über 30.000 t einen Spitzenwert.38 Die Verkaufspreise in Hamburg lagen 1908 zwischen 130,- bis

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Einkaufspreis war derart gesunken, dass ein Einheimischer bereits nach nur zwei Arbeitstagen genügend Mittel besaß, um sich ausreichend mit Mais einzudecken, was natürlich keinen Ansporn zur gewünschten vermehrten Arbeitstätigkeit darstellte, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 115f. Möglicherweise hatte Vietor den Maishandel in den Jahren des Ausfuhrzolls eingestellt. Erst nach Aufhebung desselben spricht er davon, in Zukunft auch auf neue Produkte setzen zu wollen wie Erdnüsse, Gummi, Copal und auch Mais, J. K. Vietor (Dampfer Dahomey) an Hedwig Vietor vom 17.11.1897, VPAH, Konv. 1, 60, Teil 5, Mappe 4. Der möglicherweise erneute Zugriff auf das Maisgeschäft wurde bei ihm wohl auch durch sein Vorwärtsdrängen ins Hinterland begünstigt. In Atakpame hatte er 1897 eine Tonne Mais für 6,- Mark angeboten bekommen, deutlich günstiger als an der Küste, J. K. Vietor (Atakpame) an Hedwig Vietor vom 10.8.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 417. Nach Sebald war Vietor Anfang der 1890er Jahre der einzige Kaufmann, der im Maisgeschäft tätig war. Auch Erbar betont die ablehnende Haltung der Administration in Togo gegenüber dem Anbau anderer Kulturen außer Ölpalmen. Insbesondere erhielt der Maisanbau keinerlei Unterstützung seitens der Verwaltung, Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 119f. J. K. Vietor an Buchka vom 19.5.1898, BAB, R 1001-4487, Bl. 26–29. Vietor regte in diesem Brief auch den Anbau von Baumwolle in Togo an und beschwerte sich darüber, dass frühere Versuche am Widerstand der Stammesoberhäupter gescheitert waren. Eine entsprechende Intervention aufgrund preistreibender Wirkungen infolge der Ausweitung des Exportmaisanbaus bestätigt ein Vermerk im internen Jahresbericht an die Kolonialabteilung für das Jahr 1892/93. Die Stammesoberhäupter befürchteten ernstzunehmende Lebensmittelverknappungen bis hin zu Hungersnöten, Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 120. Der Hinweis auf drohende Hungersnöte findet sich bezeichnenderweise nicht in der Amtlichen Denkschrift. Eine Verdreifachung von Lebensmittelpreisen war bereits im Zusammenhang mit einem Kautschukboom in der Landschaft Adele 1889 von Premier-Lieutenant Kling beobachtet worden. Der Grund für die Verknappung an Lebensmitteln war damals, dass die gesamte Dorfbevölkerung die Farmen vernachlässigte, um im Busch möglichst viel Gummi zu machen, Kling an Bismarck vom 9.3.1890, BAB, R 1001-3339, Bl. 78f. Betrug die Ausfuhr aus Togo im Jahre 1901 nur 106,4 t, so lag sie 1902 schon bei 607,8 t, 1904 bei 659,4 t, 1905 bei 9.366,4 t, 1906 bei 7.702,1 t, um 1907 auf 19.592,5 t und 1908 auf bis zu

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140,- Mark/t und erbrachten eine Gewinnspanne von etwa 20,- Mark/t.39 Diese Spanne erreichte auch Vietor, musste sich zu seinem Ärger jedoch für Mais aus Anecho mit einem Gewinn von nur 10,- Mark/t zufrieden geben.40 Da 1908 rund zwei Drittel des togoischen Maisgeschäftes über Anecho abgewickelt wurde, betraf die Minderung den größten Teil von Vietors Maisexport aus Togo.41 Einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Maisgeschäftes dürfte Vietor jedoch in Dahomey gemacht haben, das ebenfalls hohe Mengen ausführte.42 Als der Verkaufspreis in Hamburg 1909 auf 102,- Mark/t fiel, brach der Export ein.43 Hatten die europäischen Handelsfirmen zuvor Einkaufspreise von etwa 60,- Mark/t, möglicherweise sogar bis zu 100,- Mark/t bezahlt, versuchten sie entsprechend der gesunkenen Verkaufspreise diese nun auf 30,- bis 40,- Mark/t zu drücken. Zu wenig, um einen

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30.204,9 t anzusteigen. 1909 fiel der Export auf 13.489,7 t zurück und lag 1911 nur noch bei 2.687,3 t, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 394. Müller 1973 (wie Anm. 26), S. 129f., vgl. auch Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 420; Vietor gibt an, dass die verminderte Gewinnspanne für den in Anecho gekauften Mais eine Einbuße von etwa 50.000,- Mark darstellte, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 19.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9, vgl. auch J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 22.9.1908 und vom 23.10.1908, ebd. Demnach hätte Vietor rund 5.000 t Mais in Anecho gekauft, ein Sechstel der gesamten Ausfuhr Togos 1908. Trotz des eingeschränkten Gewinns war das Maisgeschäft 1908 eine wichtige Stütze für die Vietorschen Firmen und brachte dieselben überhaupt erst in die Gewinnzone. An einigen Orten fand Vietor auf seiner Inspektionsreise 1908 die Einkaufspreise jedoch so überteuert, dass er sich entschloss, ein Lager mit leeren Säcken an die Konkurrenz zu verkaufen. Damit will er mehr Gewinn gemacht haben, als hätte er den Mais selbst gekauft, vgl. Redemanuskript zur Einführung in sein Amt als Präses der Handelskammer Bremen am 2.1.1909, VPAH, Konv. 4, Teil 4, S. 6. Die Kritik von Erbar und Sebald, die europäischen Kaufleute wären nicht bereit gewesen, angesichts gesunkener Verkaufspreise auf einen Teil ihrer Gewinnspanne zu verzichten, muß danach wohl abgewiesen werden. Offensichtlich ging es nicht nur um verminderte Gewinne, sondern um handfeste Verluste, die nötig gewesen wären, um die Maisproduzenten zu halten, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 420; Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 122. Allerdings ist Erbar recht zu geben, wenn er auf die Kritik des Gouvernements gegenüber der Kartellpolitik der Togofirmen hinweist, infolge der die Regierung androhte, notfalls selbst den Maisankauf in die Hand zu nehmen, ebd. Für 1908 kann das jedoch noch nicht gelten, da die Kartellpolitik, zunächst gegen den Widerstand Vietors, erst später zustande kam. Erst 1913 riet Vietor angesichts entsprechender staatlicher Vorwürfe und einer drohenden Intervention seitens des Gouvernements, die Kartellpolitik aufzugeben, vgl. J. K. Vietor an Hupfeld vom 18.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 274. Vietor lehnte ein staatliches Eingreifen strikt ab, weil er die „aller fatalsten Folgen“ für den freien Handel fürchtete. Er konnte auch nicht verstehen, dass die meisten Togokaufleute im Falles eines staatlichen Aufkaufs von Mais, diesen der Regierung auch noch abkaufen würden, J. K. Vietor an Schiller vom 19.12.1913, ebd., Bl. 283f. Metzger, Oskar Fritz: Unsere alte Kolonie Togo, Neudamm 1941, S. 234. Nach Metzger belief sich die Exportmenge aus Dahomey 1908 auf etwa 20.000 Tonnen, Metzger, 1941 (wie Anm. 41), S. 234; Manning gibt 19.974 t an, Manning, 1982 (wie Anm. 32), S. 366; vgl. auch Müller 1973 (wie Anm. 26), S. 129; Rammstedt, O.: Die Bedeutung des Maiskorns für Kolonie und Mutterland als billiges und gutes Nahrungsmittel, in: Der Tropenpflanzer, 1914/1915, S. 201–214, 202f.; J. K. Vietor betont, dass sowohl Klein Popo als auch Grand Popo Haupthandelsplätze für das Maisgeschäft waren, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 10.10.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 420; Metzger, 1941 (wie Anm. 41), S. 240; Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 122; Müller 1973 (wie Anm. 26), S. 129f.

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ausreichenden Produktionsanreiz zu bieten. Da Mais ohnehin meist als Untersaat zwischen Ölpalmen gepflanzt wurde, und nur dann, wenn ein ausreichender Gewinn erzielt werden konnte, stellten sich die afrikanischen Bauern zumeist schnell und flexibel um. Für die hauptproduzierenden Bezirke Anecho und Lome-Land war der Einkommensverlust wegen des höheren Lebensstandards jedoch schmerzhaft.44 Nach dem ersten unternehmerischen Durchbruch 1890 war von einer Geschäftsaufgabe keine Rede mehr und Vietor konnte 1891 als etablierter Geschäftsmann zur silbernen Hochzeit seines Vaters nach Deutschland reisen.45 Während des Heimataufenthaltes lernte er auf einer Gesellschaft im Hause Henke seine spätere Frau Hedwig kennen. Für eine Verlobung war sie noch zu jung46 und als er im Februar 1892 nach Afrika zurückkehrte,47 sorgte er sich, ein anderer könne ihm in seiner Abwesenheit zuvorkommen.48 Zurück in Afrika erwartete ihn ein weiterer, grundlegender Geschäftsdurchbruch. Noch vor seiner Heimreise, 1891, hatte er in Dahomey Geschäftskontakte mit König Béhanzin geknüpft, der im Dezember 1889 seinem im selben Jahr verstorbenen Vater Glèlè (1858–1889) auf den Thron gefolgt war.49 Auf brieflichem Wege hatte er ihn um die Ausstellung einer Konzession für sein Königreich gebeten, da ihm ein persönlicher Besuch angesichts der unvorher44

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Sebald gibt den normalen Einkaufspreis mit 100,- Mark/t an und weist darauf hin, dass dieser Preis bereits um die Jahrhundertwende bezahlt worden wäre. Die Angabe erscheint jedoch nicht plausibel. 1911 wurden nach Aussage des Bezirkamtmanns Mezger nur noch 30,- bis 40,Mark/t angeboten, was für die Bauern der Bezirke Anecho und Lome-Land eine empfindliche Einbuße darstellte, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 419f., vgl. auch Metzger, 1941 (wie Anm. 41), S. 236; Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 120; Müller 1973 (wie Anm. 26), S. 129f. Rammstedt gibt als Wertangabe für die Maisaufuhr aus Togo im Jahr 1904 die Summe von 40.000,Mark an, bei einem Volumen von 660 ausgeführten Tonnen. Für 1905 berechnet er den Wert der 9.400 ausgeführten Tonnen mit 570.000,- Mark. Das ergäbe rechnerisch einen Durchschnittspreis/Tonne von rund 60,- Mark, Rammstedt 1914/1915 (wie Anm. 42), S. 203. Vorausgesetzt die Transportkosten lagen 1908 noch in etwa bei denen des Jahres 1890, nämlich rund 50,Mark/t, errechnet sich als durchschnittlicher Einkaufspreis tatsächlich eher ein Preis um die 60,- Mark/t, wenn bei einem Verkaufspreis in Hamburg von 130,- Mark/t ein Gewinn von 20,Mark/t erwirtschaftet wurde. Diese Größenordnung legt auch Vietors Bericht aus dem Jahre 1898 nahe. In Kumape, nicht mal eine Tagereise weit im Landesinneren, hatte er nur 25 Pfennig/40 kg Mais bezahlt, umgerechnet also 6,25 Mark /t. Der Entwicklungstand des Ortes war jedoch äußerst wenig von europäischen Waren und Einflüssen geprägt. 7–9 Tagereisen im Inland, in Atakpame, stieß er ebenfalls auf drastische Preisunterschiede für landwirtschaftliche Produkte im Vergleich zur Küste. Durch die hohen Transportkosten von 6,- Mark/25 kg, also 240,- Mark/t, lohnte sich jedoch kein Handel. Verlangte ein Träger 6,- Mark für eine Distanz von durchschnittlich 8 Tagen, dürfte der Transport für 1 Tagereise bei maximal 1,- Mark/25 kg, also 40,- Mark/t gelegen haben. Damit wäre 1897 Mais aus Kumape an der Küste für unter 50,- Mark/t erhältlich gewesen, vgl. Vietor 1898 (wie Anm. 16), S. 204. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, S. 30. Der silberne Hochzeitstag war der 28.8.1891. Hedwig Henriette Augener (1.7.1875–1.11.1955) war erst 16 Jahre alt, als sie J. K. Vietor kennenlernte. J. K. Vietor (Las Palmas) an Hedwig Vietor vom 27.8.1895, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 3. J. K. Vietor (Klein Popo) an Frau Augener vom 5.2.1893, VPAH. Glélé war am 29.12.1889 gestorben. Bereits am 30.12. wurde Béhanzin im Rahmen einer religiös umrahmten Feier inthronisiert, Cornevin, Robert: Histoire du Dahomey (Série), Paris 1962, S. 323.

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sehbaren Behandlung zu riskant erschien. Nachdem er eine entsprechende Konzession erhalten hatte, eröffnete er eine kleine Faktorei in Ouidah, die er offiziell aus Kostengründen nicht mit einem weißen, sondern lediglich mit einem afrikanischen Mitarbeiter besetzte, inoffiziell jedoch aus Vorsicht vor Béhanzin.50 Die europäischen Handelshäuser mussten für ihre Konzessionen im Königreich Dahomey Steuern entrichten, die auch energisch eingetrieben wurden. Dabei kam es mitunter auch zu zeitweisen Festnahmen weißer Händler.51 Für den dahomeyischen Markt musste Vietor einen spanischen Seidenlieferanten gewinnen, da die vom König geforderte Qualität weder in England noch in Deutschland besorgt werden konnte. Die Bezahlung erfolgte jedoch stets prompt, teilweise in Gold52 und der Handel mit ihm scheint insgesamt sehr lukrativ gewesen zu sein. Vietor behauptete jedenfalls später, er hätte sein bestes jemals abgewickeltes Geschäft mit dem König von Dahomey gemacht. Dieser hatte ihm dreizehn Elfenbein-Stoßzähne im Wert von 1.000,- Mark geschenkt, die er dann für 2.000,- Mark in Deutschland verkaufte. Von dem Erlös kaufte er Halbedelsteine, die er wiederum für 4.000,- Mark an König Béhanzin verkaufte.53 Bereits kurz nach Béhanzins Thronbesteigung kam es 1890 zur militärischen Eskalation mit Frankreich, das 1863 mit dem von Portugiesen gegründeten Küstenstaat Porto Novo einen Protektoratsvertrag abgeschlossen hatte.54 Wegen des Widerstandes der Franzosen gegen Béhanzins Sklaventransporte hatte dieser sowohl Cotonou als auch Porto Novo angegriffen.55 In der Folge hatte Frankreich vom 7.4.1890 bis zum 3.10.1890 die Küste Dahomeys unter Blockade gestellt und Quidah bombardiert.56 Nach vorübergehender Beruhigung der Lage überfiel Béhanzin am 26.3.1892 erneut Porto Novo.57 Ein anschließendes Feuergefecht mit einem französischen Kanonenboot leitete energische Maßnahmen

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Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, S. 40. Der englische Forscher J. A. Skertchly berichtet, dass er 1871 für 8 Tage nach Abomey eingeladen worden war, König Glélé ihn jedoch über 8 Monate lang festhielt, Herskovits, Melville J.: Dahomey. An Ancient West African Kingdom (Bd. 1), Evanston 1967, S. 6. Überhaupt waren die Könige in Abomey wegen ihrer Neigung zu Gewalttätigkeiten und ihren Sklavenraubzügen gefürchtet. Bei den Bestattungsfeierlichkeiten für König Glélé wurden nach alter Sitte auch Menschenopfer gebracht. Insgesamt mussten 41 junge Männer und 41 junge Frauen bei dieser Zeremonie sterben. Sie waren vorher in einem Sklavenraubzug gegen die Egbas eigens zu diesem Zweck erbeutet worden, Cornevin, 1962 (wie Anm. 49), S. 324. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 36, 38f. . Knoll, 1978 (wie Anm. 26), S. 12. Zu den drei Phasen der militärischen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und dem Königreich Dahomey 1890–1894 vgl. Cornevin, 1962 (wie Anm. 49), S. 322–352. Nach Full verfügten die Könige von Dahomey im 19. Jahrhundert über ein stehendes Heer von etwa 10.000 Soldaten, darunter 2.000 Amazonen, Full, August: Fünfzig Jahre Togo (Koloniale Fragen im Dritten Reich. Schriftenreihe der Deutschen Kolonialgesellschaft), Berlin 1935, S. 11. Borghero, F./Mandirola, R./Morel, Y.: Journal de Francesco Borghero, premier missionnaire du Dahomey (1861–1865): sa vie, son journal (1860–1864), la relation de 1863, Paris 1997, S. 15. Frankreich hatte 1863 nicht nur einen Protektoratsvertrag mit dem König von Porto Novo unterzeichnet, sondern auch Rechte an Klein Popo erworben, ebd. Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 38. Cornevin, 1962 (wie Anm. 49), S. 339.

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Frankreichs ein.58 Unter Führung des französischen Colonel Dodds drangen die französischen Streitkräfte über Zagnanado und Cana bis zur Hauptstadt Abomey vor, die etwa 130 km nördlich der Küstenlinie im Landesinneren lag.59 Zwei Vermittlungsgesuche Béhanzins vom 14.10.1892 und 24.10.1892 an Deutschland blieben erfolglos.60 Nach der vom togoischen Kommissar Falkenthal ausgehandelten Grenzvereinbarung vom 1.2.1887 war das Gebiet östlich des Mono in die Interessensphäre Frankreichs gefallen.61 Am 16.11.1892 steckte Béhanzin Abomey selbst in Brand und setzte sich nach Norden ab. Die Franzosen okkupierten daraufhin im Dezember 1892 die wichtige Stadt Ouidah, in der Vietor seine Faktorei hatte. Im ganzen Land flohen die Einwohner zunächst vor den Franzosen in den Busch. Die Bewohner des Südens akzeptierten die französische Herrschaft jedoch relativ rasch, im Norden hielt sich das Misstrauen länger. Bereits Anfang 1893 verlief das Leben in Ouidah wieder relativ normal. Abomey dagegen blieb über das ganze Jahr unbewohnt. Im Herbst 1893 unternahmen die Franzosen einen erneuten, jedoch erfolglosen Versuch, Béhanzin gefangen zu nehmen. Er ergab sich im Januar 1894 freiwillig und wurde anschließend nach Martinique, später nach Algerien ins Exil verbannt, wo er 1906 starb.62 Die Auseinandersetzungen Frankreichs mit dem Königreich Dahomey brachten für Vietor einen weiteren Geschäftsdurchbruch. Bei seiner Ankunft in Afrika im Frühjahr 1892 lag die militärische Eskalation bereits in der Luft. Der französische Kommandeur in Grand Popo rief daher alle europäischen Händler zusammen und empfahl ihnen, alle Waren, die sich noch in Dahomey befanden in Sicherheit zu bringen. „Ich befolgte diesen Befehl; die andern (sic) Europäer sandten aber alles was sie an Gewehren, Pulver, Manufakturen und Eßwaaren (sic) hatten schleunigst nach Ouidah zum König, um tüchtig daran verdienen zu können.“63 Vietors Mitarbeiter in Grand Popo, Johannes Lohmann, der nach dem tödlichen Unfall seines Vorgesetzten Weber64 trotz seines jugendlichen Alters von 19 Jahren 1891 vorübergehend zum Faktoreileiter eingesetzt worden war, bestätigt Waffengeschäfte der Hamburger Firma Wölber & Brohm mit dem Königreich Dahomey in dieser kritischen Phase. Sie verkauften Béhanzin gegen die Lieferung von Sklaven, die dann im Kongo und in Kamerun eingesetzt wurden, Maschinengewehre und Feldge58

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Béhanzin hatte ein vom katholischen Missionar Père Dorgère vermitteltes Abkommen, das den französischen Besitz von Porto Novo, aber auch das Protektorat über Cotonou gegen einen finanziellen Ausgleich festschrieb, nicht unterzeichnet und seine Überfälle fortgesetzt, Borghero / Mandirola / Morel, 1997 (wie Anm. 55), S. 15. Manning, 1982 (wie Anm. 32), S. 164. Häuptling Koussougan an Puttkamer vom 14.10.1892, in: Oloukpona-Yinnon, Adjaï Paulin (Hrsg.): Gbêhanzin und die Deutschen. Politische Korrespondenz zwischen dem Königreich Danhomê und dem Deutschen Reich (1882–1892). Deutsch-französische Dokumentation (Cognoscere; 7), Berlin 1996, S. 38f. (Dokument Nr. 11); Häuptling Koussougan an Puttkamer vom 24.10.1892, ebd., S. 40f. (Dokument Nr. 12). Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 69f. Manning, 1982 (wie Anm. 32), S. 164. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 38f. Weber war während einer nächtlichen Fahrt mit einem Brandungsboot ertrunken, Erinnerungen Johannes Lohmann, o. O., o. J., VPAH, S. 5.

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schütze.65 Von Waffenlieferungen der Firma Wölber & Brohm sowie einem durchaus üblichen Sklavenhandel deutscher Kaufleute in Dahomey berichtete auch der Kommandant des deutschen Kriegsschiffes „Habicht“. Er hatte die Ankunft von rund 100 in Ketten gelegter Sklaven beobachtet, die der Vertreter der Firma Wölber & Brohm in Ouidah und Klein Popo, Richter, von König Béhanzin gekauft hatte.66 Sie stammten aus dem Hinterland von Grand Popo und waren im Dezember 1891 gefangengenommen worden.67 Zunächst machten Firmen wie Wölber & Brohm gute Geschäfte infolge des Krieges, während Vietors Lager immer voller wurden und er kriegsbedingt nichts mehr absetzen konnte. Unmittelbar nach Ende des Krieges, Ende November, Anfang Dezember 1892, will Vietor selbst sofort nach Ouidah gereist sein, da Lohmann während des Krieges des Landes verwiesen worden war. Da Ouidah bereits von den Franzosen besetzt war, stellte er sich dem französischen Kommandeur vor und beantragte eine Handelserlaubnis, die ihm ohne Weiteres erteilt wurde, ein Privileg, da die anderen Europäer in Ouidah teilweise verhaftet worden waren, offensichtlich wegen ihrer Kollaboration mit König Béhanzin. Vietor dagegen hatte während des Dahomeykrieges versucht, den Franzosen Ochsen zu liefern,68 stand daher bei Kriegsende auf der „richtigen“ Seite. Da sich die französischen Händler vorläufig noch nicht zurückwagten, hatte Vietor vorübergehend eine Monopolstellung,69 so dass er „[…] dort ein ganz mächtiges Geschäft [machte], an dem bei den hohen Produktenpreisen, zu Hause sehr viel verdient wurde. Ich hatte allerdings von morgens 6 – abends 10 oder 11 Uhr ununterbrochen zu tun, da ich allein war, bei sehr schlechter Verpflegung, da eine völlige Hungersnot im Lande herrschte, in dem ganz ungenügenden Haus. Bis zur Lageraufnahme ging es sehr gut, dann aber klappte ich vollständig ab, wurde zitronengelb und da eine Erholungsreise von 8 Tagen auf dem Dampfer nichts nutzte, schickte der Arzt mich mit dem nächsten Dampfer nach Hause.“70

Lohmann berichtet, er selbst hätte die Wiederaufnahme des Ouidah–Handels betrieben und durch Intervention des Landeshauptmanns von Puttkamer eine Genehmigung zur Wiedereinreise erhalten, etwa ein Jahr nach seiner Ausweisung.71 Er 65 66 67 68

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Erinnerungen Johannes Lohmann, o. O., o. J., VPAH, S. 5. Meßner an Admiralität vom 6.5.1892, BAB, R 1001-3225, Bl. 19–20. Kais. deutsches Konsulat in Dahome vom 5.5.1892 an Caprivi, ebd., Bl. 15. Vietor, 1898 (wie Anm. 16), S. 207. Das Projekt scheiterte jedoch. Vietor hatte es mit einem zweiten Vorstoß nach Atakpame verbunden. Dahin hatte er einen schwarzen Mitarbeiter geschickt. Möglicherweise schreckte der jedoch vor einem Überschreiten der Grenze infolge des Kriegsgeschehens zurück. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 39. J. K. Vietor (Las Palmas) an Hedwig Vietor vom 27.8.1895, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 3. Die Abreise von Togo fand am 6.5.1893 statt. Lohmann gibt an, dass er etwa ein Jahr nach Abbruch der Handelsbeziehungen zusammen mit seinem Clerk d’Almeida nach Ouidah zurückgekehrt sei. Nachdem Vietor 1893 selbst angibt, Lohmann sei dort bereits im Februar 1893 wieder aktiv und leitend tätig gewesen, teilweise unterstützt von Vietors späterem Schwager Otto Augener, dürfte die Ausweisung etwa um die Zeit des Zusammenpralls zwischen Frankreich und Dahomey im März 1892 stattgefunden haben, vgl. Erinnerungen Johannes Lohmann, VPAH, S. 5f.; J. K. Vietor (Klein Popo) an Frau Augener vom 5.2. 1893, VPAH.

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löste offensichtlich den kranken Vietor ab, der sich aus Grand Popo zwei bis drei Helfer geholt hatte, darunter wohl auch ihn.72 Lohmann bestätigt, es hätte „ein richtiger Heißhunger nach europäischer Ware“ bestanden, nachdem ein Jahr lang nichts mehr eingeführt worden war. Die Einkaufspreise für einheimische Waren wie Palmöl und Palmkerne, die im Überangebot vorhanden waren und zum Teil aus leerstehenden französischen Faktoreien gestohlen worden waren, lagen um fünfzig Prozent unter den Preisen an der Küste.73 Nach Ankunft in Deutschland, Anfang Juni 1893, konnte sich Vietor endlich um seine Ehe kümmern. Bereits von Klein Popo aus hatte er seiner zukünftigen Schwiegermutter74 seine Vermögensverhältnisse dargelegt, um sie zu überzeugen, dass ihre Tochter in gute Verhältnisse einheiraten würde. Danach besaß er am 1.10.1892 40.000,- Mark in bar, war völlig schuldenfrei, seine Faktorei in Grand Popo war 20.000,- Mark wert, seine Kaffee-Plantage über 10.000 Mark. Hinzu kamen sämtliche Mobilien in den Faktoreien und Stationen. Möglicherweise um das Band mit Familie Augener enger zu knüpfen, hatte er bereits 1892 zwei Brüder Hedwigs mit nach Afrika genommen und ihnen dort verantwortungsvolle Positionen übertragen. Enrique, der schon vor dem ersten Kontakt Vietors mit Hedwig in seinen Diensten gestanden hatte,75 hatte am 1.10.1892 die Leitung der Faktorei in Grand Popo übernommen, Otto sollte demnächst die Niederlassung in Ouidah von Lohmann übernehmen. Diese bevorzugte Behandlung geschah in der Hoffnung, dass die Brüder etwas Positives über Vietor an ihre Mutter schreiben würden und sich somit seine Chancen bei der Brautwerbung erhöhten. Insbesondere ging es Vietor darum, als christlicher und sozialer Geschäftsmann zu gelten. „Wenn sie daraus die Überzeugung gewonnen haben, daß ich versuche aufrichtig vor Gott zu wandeln und ehrlich und gewissenhaft mein Geschäft zu führen, im Umgang mit allen, beson-

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Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 40. Lohmann wurde als Hauptagent für Ouidah bald von Herrn Maul abgelöst, den Vietor bereits im Februar 1893 herbeiwünschte und den er als Hauptverantwortlichen 1894 besuchte, J. K. Vietor (Klein Popo) an Frau Augener vom 5.2.1893, VPAH; J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 13.9.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Offensichtlich aufgrund der Ablösungen in der Hauptverantwortung kam es zur einer „erstmaligen“ und „einmaligen“ Enttäuschung Lohmanns über Vietor. Statt am Gewinn beider Faktoreien, Grand Popo und Ouidah, beteiligt zu werden, gewährte ihm Vietor am Jahresende nur einen Gewinnanteil am Erlös einer der beiden Faktoreien, vgl. Erinnerungen Johannes Lohmann, VPAH, S. 6. Erinnerungen Johannes Lohmann, VPAH, S. 6. Vietor berichtet, er hätte für das Faß Palmöl 60,- Mark bezahlt, was sonst 120,- Mark kostete. Er schätzt, in den Wochen, während denen er selbst in Ouidah gearbeitet hatte, etwa 100 Fässer nach Deutschland geschickt zu haben, was allein einen Mehrverdienst im Vergleich zu normalen Preisen von 6.000,- Mark ausmachte, vgl. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 42. Hedwigs Vater, der Bremer Großkaufmann Friedrich Christoff Augener (1832–1888), der in Guatemala engagiert war und auch dort starb, war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben, weshalb Vietor bei ihrer Mutter, Meta Augener (1841–1932), um ihre Hand anhielt, Roehrig, Ernst Walter: Zur Geschichte der Familie Vietor aus Schwalenberg in Lippe, Essen (Privatdruck) 1936, S. 190. J. K. Vietor (Las Palmas) an Hedwig Vietor vom 27.8.1895, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 3.

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ders aber auch gegen meine Untergebenen entgegenkommend zu sein, so bin ich denn schon sehr zufrieden.“76

Die Einstellung der beiden Brüder sollte Vietor allerdings bereuen.77 Enrique hatte bald nach dem Boom in Dahomey den Auftrag erhalten, eine Niederlassung in Las Palmas aufzubauen, was ihm jedoch nicht gelang und zu einer Kette jahrelanger Enttäuschungen führte. Obwohl Vietor seine begrenzte kaufmännische Begabung bald erkannte, konnte er ihn aus familiären Gründen nicht entlassen.78 Sein Bruder Otto hatte sich dagegen auf eigenen Wunsch bald selbständig gemacht.79 Die Hochzeit fand am 10.1.1894 statt und bereits am 4.11.1894 kam die erste Tochter zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt war Vietor jedoch bereits wieder seit zwei Monaten in Afrika. Er erfuhr von der Geburt am 6.11.1894 durch ein Telegramm. Nach Empfang der Nachricht ging er auf die Knie und dankte Gott.80 Nach dem zweiten großen finanziellen Erfolg der Anfangszeit – Vietor nennt ihn 1895 „die erfolgreichste Zeit unseres Geschäftes“81 und später die Grundvor-

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J. K. Vietor (Klein Popo) an Frau Augener vom 5.2.1893, VPAH. Bereits im Oktober 1894 beklagte er sich bei seiner Frau, mit allen Mitarbeitern käme er gut aus, nur nicht mit ihren Brüdern, vgl. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 28.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. „Warum können die Brüder nicht sein wie du?“, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 6.7.1895, ebd., Mappe 3. Auch sein späterer Geschäftspartner Johannes Lohmann, ab 1891 in seinen Diensten in Afrika, bestätigt: „Vietor [hat] mit seinen vier Schwägern Augener nur Enttäuschung erlebt und wenig Dank für seine Fürsorge geerntet.“ Die Beteiligung eines der beiden Schwager am Gewinn des Dahomeygeschäftes fand Lohmann ungerecht, da er die gesamte Arbeit gemacht hätte und nicht Augener, Erinnerungen von Johannes Lohmann, VPAH, S. 5. Bereits kurz nach Beginn des Geschäftes in Las Palmas wurde Vietor klar, dass sein Schwager hier übers Ohr gehauen würde, nicht die rechte Übersicht besäße, zu wenig Schneid hätte, und überhaupt zu gleichgültig wäre, vgl. J. K. Vietor (Las Palmas) an Hedwig Vietor vom 29.1.1895 und 31.1.1895, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 2. Enrique hatte in kurzer Zeit einen Verlust von 10.874 Mark eingefahren und weitere 10.000,- bis 15.000,- Mark standen auf dem Spiel, J. K. Vietor (Las Palmas) an Hedwig Vietor vom 31.1.1895, ebd. Trotz seines großen Ärgers und der Gefahr, am Ende in Las Palmas 25.000,- Mark zu verlieren, versicherte er seiner Frau: „Verlasse dich aber darauf, dass ich immer wieder von Neuem mir mit Enrique alle Mühe geben werde“, weil er eben ihr Bruder wäre, J. K. Vietor (Las Palmas) an Hedwig Vietor vom 17.2.1895, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 2. Wegen Enriques Untüchtigkeit musste Vietor auf der Heimreise mindestens drei Monate in Las Palmas verbringen. Im Sommer wurde eine weitere Reise nach Gran Canaria nötig. Vietors frühe Bedenken hinsichtlich der kaufmännischen Begabung seines Schwagers bestätigten sich auch in den weiteren Jahren. Nach fast zwanzig Jahren Arbeit in Las Palmas unter Enriques Leitung musste er feststellen, dass dessen Geschäft klein und minderwertig geblieben war und gerade einmal die 6.000 Pesetas abwarf, die Enrique selbst verbrauchte, J. K. Vietor [Las Palmas] an Hedwig Vietor vom 12.8.1912, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Vietor ahnte für dessen geplante Unternehmung in Guatemala jedoch das Schlimmste: „Otto ist ein so abscheulich leichtsinniger Kerl“, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 12.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Otto konnte sich zwar in Guatemala etablieren, sein Geschäft blieb jedoch gefährdet und 1908 drohte ein Verlust von 100.000,- Mark, vgl. J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 19.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 6.11.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. J. K. Vietor (Las Palmas) an Hedwig Vietor vom 27.8.1895, Konv. 1, Teil 5, Mappe 3.

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aussetzung für die weitere Expansion82 – stockte die Entwicklung seines Unternehmens bis zur Jahrhundertwende. Erst danach ging es wieder bergauf.83 Auf seiner Inspektionsreise 1894/95 konnte Vietor jedoch noch befriedigt überall gut gehende Geschäfte konstatieren, sodass er meinte, er hätte gar nicht zu kommen brauchen.84 Zum Zeitpunkt der Ausreise, Anfang August, hatte er bei seinen englischen Partnern in Manchester, Gysi & Kleinjunk, sowie seinem deutschen Partner Paul offene Verbindlichkeiten von je etwa 100.000,- Mark. Im Oktober 1894 berechnete er sein aktuelles Vermögen mit 160.000,- Mark, zu dem noch ein Wertbesitz für Land und Gebäude in Afrika in Höhe von 60.000,- bis 70.000,- Mark hinzukam. Die Verbindlichkeiten gegenüber Gysi & Kleinjunk sowie Martin Paul hatten sich zwar auf zusammen 170.000,- Mark reduziert, es kamen aber noch Schulden bei seinem Onkel hinzu.85 Bis Ende des Jahres 1894 hatte er davon 20.000,- Mark abbezahlen können, sodass nur noch 20.000,- Mark offen blieben. Angesichts der guten Entwicklung der letzten Monate hoffte er, in naher Zukunft fast ganz vom Fremdkapital unabhängig zu werden.86 In Ouidah hatte er innerhalb eines halben Jahres einen Gewinn von 11.230,- Mark gemacht, Forderungen in Höhe von 40.000,- Mark standen hier noch offen.87 In Klein Popo konnte ein Gewinn von 28.140,- Mark verbucht werden,88 insgesamt hoffte er auf einen Gesamtgewinn aus seinem Afrikageschäft von 50.000,- Mark.89 Sein Personalbestand belief sich auf acht Europäer, zehn Clerks und etwa 150 weitere Leute,90 ein extrem hoher Mitarbeiterstand, bedenkt man, dass zu dieser Zeit alle 13 europäischen Firmen in Togo zusammen, davon 10 deutsche, 25 Europäer und 381 afrikanische Mitarbeiter beschäftigten.91 Seine positive Geschäftsentwicklung hielt er für eine Ausnahmeerscheinung, „[…]

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Vortragsmanuskript vom 22.1.1929: Der Beruf und das Leben des Kaufmanns, VPAH, Konv. 4, Teil 2, S. 12. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 47. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 13.9.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 8.10.1894, ebd. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 19.12.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 2. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 8.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 4.11.1894, ebd. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 8.10.1894, ebd. J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 21.10.1894, VPAH, Konv. 1,Teil 5, Mappe 1. An anderer Stelle rechnet er mit 130 Mitarbeitern, die bei ihm in Lohn und Brot standen, hinzu kamen noch etwa 100 Kanuleute, die aber wohl nicht fest angestellt waren, sondern jeweils zum Löschen von Schiffsladungen angeheuert wurden, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 8.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Ein amtlicher Bericht von 1897 bestätigt Vietors ungewöhnlich hohe Zahl an afrikanischen Mitarbeitern im Vergleich zu anderen Firmen. Während die Bremer Faktorei in Lome, ähnlich wie die Konkurrenz, 25 schwarze Mitarbeiter beschäftigte, waren es bei J. K. Vietor in Klein Popo 75. Hintergrund für die hohe Zahl an schwarzen Mitarbeitern dürften Vietors Plantagenprojekte gewesen sein, Verzeichnis der im Schutzgebiete Togo thätigen Firmen und Erwerbsgesellschaften nach dem Stande am 1. Januar 1897, BAB, R 1001-3632, Bl. 6. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 111.

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wie ich keine zweite weiß. Wohin ich blicke unter meinen Altersgenossen, Bekannten und Verwandten, wer ist da, der gut und schnell vorangekommen ist?“92 Stagnation und Rückschläge bis zur Jahrhundertwende Die positive Geschäftsentwicklung trübte sich nach 1895 empfindlich ein, sodass Vietor 1897, nach vielen Rückschlägen, nicht mehr damit rechnete, sein Geschäft weiter ausbauen zu können: „Früher habe ich nie daran gezweifelt, dass ich einmal als ein sehr reicher Mann sterben würde. Heute erscheint mir das allerdings sehr zweifelhaft, denn es gibt doch zeitweise auch zu viele Gegenschläge, aber was liegt auch schließlich daran? Wenn wir nur gut und ordentlich durchs Leben kommen.“93

Niedergeschlagen schreibt er kurze Zeit später: „Ich wollte dich so gerne reich und geachtet und bequem lebend sehen, und ich quäle mich wahrhaftig genug darum, aber wenn es der liebe Gott nicht so gibt, dann müssen wir uns bescheiden.“94 Wie angespannt die geschäftliche Lage 1897 tatsächlich war, wird auch aus dem mitunter ungewöhnlich rauen Ton der Briefe zwischen dem Ehepaar deutlich, der sich später nicht mehr wieder findet.95 Am Ende der Inspektionsreise bemerkt Vietor, seine Haare wären in dem halben Jahr in Afrika sehr grau geworden.96 Die negative Geschäftsentwicklung war einerseits auf die allgemein ungünstige Konjunktur im Afrikageschäft in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre zurückzuführen.97 Andererseits litt sein Unternehmen aber auch an innerbetrieblichen 92 93 94 95

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J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 22.11.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 2. J. K. Vietor(Ouidah) an Hedwig Vietor vom 13.6.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 1.8.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Der raue Ton hatte wohl auch etwas mit Vietors abermaliger, längerer Abwesenheit zu tun. Vietor muß sich des Vorwurfs erwehren, er sei eingebildet, weil er glaubt, das Geschäft laufe nur dann gut, wenn er vor Ort wäre, J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 23.5.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. „Ich weiss aber wirklich nicht, Herz, warum Du Dich so furchtbar über mich aufregst. Es war doch meine Pflicht hinauszugehen, und damit ist die Sache erledigt […]. O, diese Weiber. Du sollst dir nicht die vielen Fehler, Schwächen und Gebrechen anquälen sondern nur das Gute, was du an deinem lieben Mann siehst.“ Sie beschwerte sich, er arbeite viel mehr als sein Partner Lohmann, wäre unruhig und wie Quecksilber. Er verantwortete seinen Einsatz dagegen mit dem Sprichwort: „Tatlos im sicheren Haus – Ruhe wer kann; – Kampf erst und Sturmgebraus – zeigen den Mann“, J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 1.8.1897, ebd. J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 17.10.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Vietor schätzt die wirtschaftliche Situation im Westafrikageschäft 1897 ganz allgemein als schlecht ein: „Die Verhältnisse liegen überall in Africa sehr schlecht, und wir werden nirgendwo auf großen Gewinn rechnen können“, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 16.4.97, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Tatsächlich hatte der Handel 1896 und 1897, insbesondere infolge einer langanhaltenden Dürre, gegenüber den Vorjahren stark nachgelassen. Hatte der Ausfuhrwert im 3. Quartal 1895 noch bei 827.087,- Mark gelegen, erreichte er im 3. Quartal 1896 nur noch 408.111,- Mark, im 3. Quartal 1897 sogar nur 177.772,- Mark und 1898 weiterhin sehr niedrige 283.993,- Mark. Die Einfuhr erreichte dagegen im 3.Quartal 1898 wieder 730.674,- Mark. In den Vergleichsquartalen der beiden Vorjahre hatte sie bei 502.553,-

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Schwachstellen. Dazu gehörte die Unerfahrenheit der jungen europäischen Mitarbeiter, eine Fehlerquelle allerdings, mit der sich auch andere Firmen herumschlagen mussten.98 Wegen des tropischen Klimas setzten europäische Handelshäuser in der Regel nur junge Leute, die noch am Anfang ihrer Karriere standen, in den tropischen Kolonien ein. Bereits 1887 hatte sich Landeshauptmann Zimmerer in Berlin beklagt, die deutschen Handelsagenten hätten kein Interesse an der Entwicklung der Kolonie. „Die Angestellten, welche allerdings von ihren Chefs in Europa die Instruktion erhalten zur Hebung des Handels alles ihnen mögliche zu thun, haben hierfür und für eine späteres Florieren des Gebietes kein Interesse, sie gehen in den bequemen, eingetretenen Bahnen, sie sind froh, wenn ihr Kontrakt abgelaufen ist und sie nach Europa zurückkehren können.“99

Angesichts der begrenzten Effektivität weißer Angestellter stellte Vietor nun die damals durchaus unkonventionelle Überlegung an, das weiße Personal zugunsten verantwortungsvoller afrikanischer Mitarbeiter weitgehend abzubauen: „Ich werde wohl überhaupt in Zukunft mehr mit Schwarzen wie mit Weissen arbeiten, denn die Leute, wenn sie tüchtig sind, bleiben doch wenigstens und bekommen eine grosse Erfahrung, wenn sie länger bei uns sind, während wir auch bei dem besten Weißen nie wissen, wie lange er bleibt, und selbst das ist eine Seltenheit, dass man verschiedene gute Weisse zur selben Zeit hat.“100

In der späteren Kolonialratsdiskussion über die Einführung von Gouvernementsräten führten Vietor und Adolph Woermann die Unerfahrenheit und begrenzte Aufenthaltsdauer der Handelsagenten als Hauptargument ihrer ablehnenden Haltung an.101 Während der Inspektionsreisen mussten sich Vietors Angestellte oft heftige

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Mark (1897) und 346.560,- Mark (1896) gelegen. Damit schien sich die Krise Ende des Jahres 1898 ihrem Ende zu nähern: „Der Handel des Schutzgebietes, welcher im Vorjahr stark daniederlag, hat einen erfreulichen Aufschwung genommen“, aber die Zahlen zeigten nach wie vor, dass die „die Nachwirkungen der großen Dürre noch immer nicht ganz überwunden“ waren, DKB 1898, S. 795. Der Einfuhrwert für das gesamte Jahr 1897 betrug 771.025,- Mark, die Ausfuhr 1.975.941,- Mark, Kol.ha.adressbuch 1899, S. 4f. Für das Jahr 1898 wird eine Gesamteinfuhr von 1.470.504,- Mark angegeben und für die Ausfuhr 2.490.925,- Mark, Kol.ha.adressbuch 1900, S. 4f. 1899 wurde bereits wieder eine Gesamteinfuhr von 2.582.701,- Mark und eine Gesamtausfuhr von 3.279.708,- Mark erreicht, Kol.ha.adressbuch 1901, S. 6. Als Beispiel für deren unkluges Verhalten nennt er den Verlust der meisten altgedienten und erfahrenen Angestellten infolge des Versäumnisses, den Tageslohn entsprechend der allgemeinen Tendenz nicht auf 1,- Mark/Tag anzuheben, sondern auf 75 Pfennig zu beharren, vgl. J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 5.9.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. In Ouidah hatte sich sein Angestellter Lachner auf einen Rechtsstreit wegen des Faktoreigebäudes eingelassen und das Gebäude dabei verloren. Nur Vietors rechtzeitiges Erscheinen konnte die Lage immerhin soweit wenden, dass die Firma im Gebäude bleiben konnte, wenn auch nur noch gegen Miete, vgl. J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 13.6.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Kais. Kommissar von Togo [Zimmerer] an Bismarck vom 9.6.1887, BAB, R 1001-3829, Bl. 8. J. K. Vietor (Lagos) an Hedwig Vietor vom 26.9.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Kolonialratssitzung (KR) vom 30.11.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 48, Sowohl Vietor als auch Woermann standen der Einrichtung von Gouvernemtsräten in Deutsch-Ostafrika und DeutschSüdwestafrika offen gegenüber. Ihre Bedenken bezogen sich ausschließlich auf die tropischen Kolonien Togo und Kamerun. Woermanns entsprechender Antrag, diese beiden Schutzgebiete

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Kritik gefallen lassen, was das gute Verhältnis zu ihm aber in keiner Weise trübte.102 Ihre Unerfahrenheit brachte das Unternehmen regelmäßig um große Gewinnspannen,103 sodass Vietor immer wieder neu darüber nachdachte, wie er seine Präsenz vor Ort verstärken könne, weil sein Erscheinen in der Regel dazu führte, dass das Geschäft angekurbelt und Missstände abgebaut wurden.104 Das Beispiel seines Schwiegervaters, der sein Überseegeschäft hatte schließen müssen, weil es nur lief, wenn er selbst vor Ort war, stand ihm dabei vor Augen.105 Entsprechend hoch schätzte er seine Präsenz in Afrika ein, die einerseits auf Erfahrung, aber auch auf Einfluss und Ansehen beruhte: „Die Sachen zurechtdrehen kann ich doch allein nur, weil ich bei den Weißen und den Schwarzen den großen Einfluss

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aus der Vorlage der Kolonialabteilung zur Einführung von Gouvernementsräten zu streichen, wurde jedoch mit Hinweis auf die bereits erfolgte Zustimmung der Gouverneure von Togo und Kamerun abgelehnt. Nachdem Vietor in Klein Popo 1897 schwere Fehler in der Geschäftsleitung festgestellt hatte, griff er beherzt durch: „Ich gebe mir mit unseren sämtlichen Leuten sehr viele Mühe ausser Geschäft, bin möglichst unterhaltend und liebenswürdig. Während der Arbeit aber kracht es nur so, und vom ältesten Europäer bis zum Hausjungen hin gibt es welche auf den Kopf.“ Sein Angestellter Dietrich war infolgedessen „beständig in einem kleinen Trab“, J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 27.5.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Das Arbeitsklima war jedoch trotz der gelegentlich scharfen Kritik Vietors im Allgemeinen außerordentlich gut. „Ein solches Verhältnis wie ich es mit unseren Leuten habe, ist sicher selten“, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 6.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Das gute Verhältnis zu seinen Leuten erklärte er sich mit der Balance zwischen Kritik und menschlicher Sympathie. „Es ist wirklich nicht so, daß ich viel zurückhaltend bin, aber wenn ich die Leute genug zurecht gesetzt habe, dann suche ich immer möglichst bald nach einer Verständigung. Das tun die meisten Leute nicht und das ist ihr Fehler“, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 14.10.1908, ebd. In Bezug auf die Faktorei in Quittah (Keta) spricht er sogar von „Hunderttausenden“ Mark, die hier durch Schluderei nicht verdient worden waren, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 19.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. In Klein Popo konstatierte er einen geschäftlichen Misserfolg über vier Jahre, „was Claus [Freese] auch gut einsieht.“ In dieser Zeit waren dreizehn Händlerinnen zur Konkurrenz übergelaufen, die er jedoch bei seinem Besuch durch ein großzügiges Angebot wieder zurückgewinnen konnte, vgl. J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 11.9.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Offensichtlich entließen die jungen Agenten auch vorschnell afrikanische Mitarbeiter, wenn das Geschäft zeitweise stockte. Vietor ordnete daher ein möglichst langes Festhalten an Mitarbeitern an: „Ich möchte zum Schluß dann noch den Wunsch aussprechen, daß Sie nicht wie letztes Mal während meiner Abwesenheit bei jeder kleinen Veranlassung die alten Leute entlassen. Versuchen Sie bitte, was an Ihnen liegt, alle Leute zu halten, das ganze Geschäft läuft dann besser und leichter“, Circularbrief von J. K. Vietor an die Stationen Klein Popo, Grand Popo, Quidah [1894], VPAH, Konv. 2, S. 14. „Es ist wirklich keine Hexerei ein Africa-Geschäft zu machen, aber es fehlt hier die Kontrolle und Alles, und das muss eben hineingebracht werden. Nun bin ich schon über einen Monat hier, und die Zeit ist mir verflogen, und ich kann mit Freude und Befriedigung auf meine Arbeit zurücksehen“, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 2.5.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. „Es ist einfach ein Skandal, wie hier im Haushalt und in den Unkosten gewütet ist, und anstatt 6000 Mk. zu verlieren, hätten wir mindestens 10.000 Mk. verdienen müssen, selbst wenn die Leute kein besseres Geschäft gemacht hätten, wie sie haben“, J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 23.5.1897, ebd. J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 9.10.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7.

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habe, weil ich anders mit den Leuten umgehe wie die anderen Menschen […].“106 Das sah er auch in Bezug auf das stockende Geschäft in Liberia so: „Davon bin ich ja überzeugt, wenn ein einzelner Mann etwas ausrichten kann, dann bin ich es. Ich habe die Erfahrung, die Ruhe und die Leute mögen mich leiden und mein Name ist an der ganzen Crooküste bekannt.“107 Da er an den meisten Plätzen, die er besuchte jedes Mal viel „umkrempeln“ musste, um wieder in die Gewinnzone zu kommen, stimmte er schließlich seiner Frau zu: „Ich fange an zu glauben, daß du recht hast, wenn du immer sagst, das Geschäft wäre ich.“108 Immer wieder wurde ihm klar, dass er häufiger, etwa einmal im Jahr für drei Monate, eine Inspektionsreise machen müsse,109 tatsächlich aber war er nach der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Krieges nur noch dreimal in den westafrikanischen Gebieten.110 Die geschäftliche Stagnation ab Mitte der 1890er Jahre hatte neben der allgemeinen konjunkturellen Abkühlung des Westafrikageschäftes auch mit der zunehmenden Konkurrenz europäischer Unternehmen zu tun.111 Einige der deutschen Neugründungen waren auf ehemalige Agenten etablierter Afrikafirmen zurückzuführen, die sich wie Vietor selbständig gemacht hatten. Dazu gehörte auch Friedrich Oloff, dessen Firma „zu den rentabelsten deutschen Wirtschaftsunternehmen in Westafrika zählte.“112 Oloff, der sich 1889 von der Firma F. M. Vietor Söhne gelöst und im selben Jahr eine eigene Niederlassung in Lome und 1890 eine weitere in Keta gegründet hatte, wo er im Jahr vorher noch Hauptagent F. M. Vietors gewesen war, tauchte 1892 auch in Klein Popo auf. Bis 1895 enstanden in Bagida und Anyako weitere Niederlassungen im Togogebiet und an der Goldküste.113 Oloff profitierte zum einen von seiner langjährigen Erfahrung als Agent der Firma F. M. Vietor Söhne, durch die er bereits über viele Geschäftsbeziehungen verfügte, zum anderen nutzte er die Zurückhaltung der Vietorfirmen in Bezug auf den lukrativen Handel mit Alkohol konsequent aus. In Keta stieg er schnell zum „ersten Schnapsverkäufer

106 J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 10.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. 107 J. K. Vietor (Anecho/Accra) an Hedwig Vietor vom 8.12.1912, ebd. 108 J. K. Vietor (Duala) an Hedwig Vietor vom 8.10.1912, ebd. 109 Vgl. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 5.9.1894; 18.9.1904; 29.10.1912; 10.11.1912, 18.11.1912; VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1, 7, 9. 110 1904/05; 1908; 1912/13. Seine Afrikaaufenthalte davor verteilten sich auf die Zeiträume 1884– 1887; 1887–1891; 1892–1893. Nach seiner Hochzeit im Januar 1894 unternahm Vietor noch drei längere Inspektionsreisen bis zur Jahrhundertwende: 1894/95; 1897; 1899. 111 Hatte es 1884 nur vier deutsche Unternehmen im Togogebiet gegeben, waren es 1897 bereits zehn. Daneben waren bereits 1894 eine englische, eine französische und eine afrikanische Handelsgesellschaft registriert. 1897 besaßen alle Firmen zusammen insgesamt 49 Niederlassungen in den Küstenorten Lome, Bagida, Porto Seguro und Klein Popo. Daneben gab es außer zwei Niederlassungen in Palime keine Stützpunkte im Landesinneren, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 111. Eine der beiden Faktoreien in Palime gehörte der Firma Vietor. 112 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 97. 113 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 98. Hatte Oloff zunächst, ähnlich wie J. K. Vietor, mit einem Bremer Kommissionspartner gearbeitet, gründete er am 20.3.1895 in Bremen die Firma Oloff & Co. Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits Niederlassungen in Keta, Anyako, Lome, Klein Popo und Bagida.

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am Platz“114 auf und bereits Anfang der 1890er Jahre hatte sich sein Schnapshandel bis ins Hinterland von Ho ausgeweitet.115 Nachdem 1895 der Versuch einer Faktoreiöffnung in Dahomey vorerst noch an politischen Widerständen gescheitert war, konnte er 1897 auch hier, in Ouidah, Fuß fassen. Etwa zur gleichen Zeit ging Oloff Firmenpartnerschaften mit den Afrikakaufhäusern Richard Max Thomschke (Lome) und H. J. Althoff (Dahomey) ein, die 1905 mit einem Gründungskapital von 750.000,- Mark zur Aktiengesellschaft „Bremer Kolonialhandelsgesellschaft vorm. F. Oloff & Co. AG“ fusionierten. Das neue Unternehmen hatte zu diesem Zeitpunkt vier Niederlassungen in Togo, vier an der Goldküste, sechs in Dahomey und in den Jahren 1903/04 und 1904/05 einen Gewinn von 72.210,- Mark, respektive 63.577,Mark erwirtschaftet, der sich in den Folgejahren noch vervielfachen sollte.116 Bereits 1906 verfügte die Gesellschaft über insgesamt 27 Niederlassungen und vor Ausbruch des Krieges waren es, einschließlich der Niederlassungen in Liberia und Südkamerun 51.117 Oloff gehört, wie J. K. Vietor, zu den Ausnahmefällen, in denen der deutsche Firmeninhaber selbst über viele Jahre in Afrika wohnte und arbeitete.118 Mehr noch als die Konkurrenz Oloffs fürchtete Vietor 1897 jedoch das Engagement seines früheren Mitarbeiters Martin Paul in der Region,119 der von 1887 bis 1892 in Afrika gelebt und gearbeitet hatte, davon die letzten vier Jahre für J. K.

114 So bezeichneten ihn die Missionare der NMG 1896, die in ihm bereits in den 1880er Jahren den Urheber der einreißenden Sittenlosigkeit unter den deutschen Kaufleuten in Keta gesehen hatten, Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 98. Als Oloff sein eigenes Geschäft in Keta eröffnete, schrieben sie nach Bremen: „Seit dem 1.Mai, d.h. seit Bödiger (Hamburg) und Oloff da sind, sind zwei Feinde unserer Mission mehr da“, Schreiben aus Keta vom 2.12.1890, zit. bei ebd. 115 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 98. 116 Da die Aktiengesellschaft zur Veröffentlichung ihrer Geschäftsergebnisse verpfl verpflichtet ichtet war, liegen ab 1905, anders als bei den vietorschen Firmen, zuverlässige Geschäftsergebnisse vor. Nachdem 1905/06 ein Gesamtgewinn von 109.600,- Mark eingefahren werden konnte, bei einer Dividende von 8%, steigerten sich die Gewinne zwischen 1907/08 und 1911/12 von 212.513,- Mark auf 396.735,- Mark bei einer Dividende zwischen 15 % (1907/08) und 17 ½ % (jeweils 1908/09–1911/12), vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 102. 117 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 99–101. 118 Sebald geht abweichend davon aus, J. K. Vietor wäre „der einzige Firmeninhaber [gewesen], der lange Jahre hindurch seine Geschäfte direkt in Togo und nicht von Deutschland aus leitete“, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 113. Vietor selbst gibt an, er wäre „ca. 8 ½ Jahre in der Togo– Colonie ansässig gewesen“, vgl. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 4.5.1896, BAB, R 1001-3831, Bl. 6. 119 Nachdem er 1897 selbst in Ouidah, seinem früher besten Ort, etwa 8.000,- Mark verloren hatte und mit einem Gesamtverlust seines Geschäftes von 20.000,- Mark rechnete, befürchtete er noch Schlimmeres, wenn „Oloff und Paul hier in Grand Popo anfangen“. Während er meinte, mit den anderen Schritt halten zu können, war er sich bei einer Konkurrenz durch Paul nicht so sicher, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 17.10.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Pauls Qualitäten fanden auch in der Kolonialabteilung Beachtung. 1897/98 hatte Paul einen großangelegten Kaffee-Plantagenversuch bei Sebbe gestartet, den der amtliche Bericht wegen seiner Professionalität lobte und ausführlich beschrieb, Denkschrift über die Entwicklung der deutschen Schutzgebiete 1897/98 vom 2.12.1898, SBR, 10. Leg. per., 1. Session, Anlage 50, S. 193. Offensichtlich war auch diese Investition, wie alle anderen Kaffeeplantagenversuche im Togo der 1890er Jahre, ein Reinfall und taucht in keiner weiteren Denkschrift mehr auf.

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Vietor.120 Bis 1891 war er Vietors Hauptleiter in Grand Popo gewesen, um nach dessen Heimreise im Sommer 1891 die Gesamtleitung des Geschäftes zu übernehmen und nach Klein Popo zu wechseln.121 Nachdem Paul 1892 gesundheitsbedingt nach Deutschland zurückgekehrt war,122 übernahm er das Kommissionsgeschäft für Vietor in Bremen. 1896 löste Vietor die Zusammenarbeit mit Paul, da dieser ihn „auf das Allerscheußlichste betrogen“ hatte. Paul hatte hinter Vietors Rücken mit Vietors langjährigem afrikanischen Angestellten Eikuvi Geschäfte mit Alkohol gemacht, was eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machte.123 Wilhelm Preiswerk gibt dagegen als Trennungsgrund die Gründung einer eigenen Firma Pauls in Togo Anfang 1896 an, also noch während der Kommissionstätigkeit für Vietor.124 Offensichtlich waren hiermit Pauls Verhandlungen mit Juan und Francisco d’Almeida gemeint, die darauf abzielten, in Klein Popo gemeinsam ein eigenes Im- und Exportgeschäft aufzubauen. Auf Betreiben Pauls liefen die Verhandlungen dazu bereits seit 1895 und führten dazu, dass Juan d’Almeida, bis dahin einer der wichtigsten Mitarbeiter Vietors in Klein Popo,125 Vietor verließ und 1896 mit seinem Bruder Francisco und Martin Paul die Firma d’Almeida Brothers & Co. mit Sitz in Klein 120 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 103. Im Berufungsverfahren der gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen Martin Paul und Juan und Francisco d’Almeida wird angegeben, Paul hätte von 1888–1892 für die Firma J. K. Vietor in Togo gearbeitet, vgl. Berufungssache Paul gegen d’Almeida 1908, ANT, FA 1/638 [Togo Collection Sebald, TCS], S. 21, 79. 121 Der Wechsel nach Klein Popo fand etwa im Juni 1891 statt. Vietor besuchte vor seiner Abfahrt nach Deutschland noch für einige Wochen die Faktoreien seines Onkels in Lome und Keta, vgl. Erinnerungen von Johannes Lohmann, VPAH, S. 3. Die Annahme Müllers, Paul hätte seine Tätigkeit in Westafrika, anders als Oloff, nicht in Diensten einer Bremer Firma begonnen, ist nicht zutreffend, auch eine eigene Firmengründung fand bis 1892 nicht statt, vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 103. 122 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 78. Müller gibt an, Paul wäre im August 1892 nach Deutschland zurückgekehrt, Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 103. Lohmann führte seine Heimreise auf ein Leberleiden zurück, vgl. Erinnerungen Johannes Lohmanns, VPAH, S. 4. 123 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 28, vgl. J. K. Vietor an [Kol. Abt.] vom 1.5.1896, BAB, R 1001-3831, Bl. 7. In dem Schreiben an die Kol. Abt., das die Trennung von Paul mitteilt, weist Vietor auch auf die Gründung einer eigenen Export- und Importfirma zum 1.5.1896 in Bremen hin. 124 Empfehlungsschreiben der Firma Preiswerk Söhne (Basel) für J. K. Vietor vom 25.3.1899, VPAH, Konv. 3, Teil 2. Nach Preiswerk fand die Gründung von Pauls eigenem Geschäft in Togo Anfang 1896 statt. Diese Zeitangabe scheint zutreffend zu sein, da auch Paul in seiner Mitteilung an die Kolonialabteilung über die Beendigung der Zusammenarbeit mit Vietor darauf hinwies, bereits „in dem gleichen District eigene Handelsfactoreien angelegt“ zu haben, M. Paul an Kol. Abt. vom 28.4.1896, BAB, R 1001-3831, Bl. 8. 125 Die Bedeutung und Wertschätzung, die Vietor Juan d’Almeida entgegenbrachte, dokumentiert der Circularbrief an seine Agenten in Klein Popo, Grand Popo und Ouidah anläßlich seiner Abreise aus Afrika Ende 1894/Anfang 1895. Nachdem er die kaufmännischen Kenntnisse d’Almeidas gelobt hatte, ohne die sich sein Geschäft nicht so gut entwickelt hätte, ordnete er an: „Unbedingt wünsche ich aber, daß keine Manufacturen-Order nach Hause geht, die nicht Herrn Almeidas Zustimmung erhalten hat.“ Damit setzte er d’Almeida faktisch zum führenden Agenten auch über seine weißen Angestellten ein, vgl. Circularbrief von J. K. Vietor an die Stationen Klein Popo, Grand Popo, Quidah [1894], VPAH, Konv. 2, S. 6.

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Popo gründete.126 1897 erwarb Paul eine eigene Geschäftskonzession in Ouidah, 1900 eine entsprechende in Grand Popo.127 Zu einer Expansion mit eigenen afrikanischen Filialen kam es jedoch nicht, da sich Paul 1902 an der Gründung der DTG beteiligte und deren kaufmännische Leitung, insbesondere den Im- und Export, übernahm.128 Damit wurde er indirekt später tatsächlich Vietors größter Konkurrent. Eine Folge der zunehmenden Konkurrenz an den Hafenplätzen Westafrikas war Vietors Entschluss, nunmehr die Expansion und den Mittelpunkt seines Unternehmens ins Landesinnere zu verlagern. „Das steht mir ganz fest, ändert sich Klein-Popo nicht noch vollständig, dann heisst die einfachste Lösung, den Kram ganz oder fast ganz aufgeben. Ich denke daran, hinter Klein Popo im Inneren, etwa 8 Tagereisen von der Küste, wenn ich die Verhältnisse so antreffe, wie ich glaube, eine Faktorei mit einem grossen Laden zu bauen, so dass das dann der Mittelpunkt für den ganzen Handel werden soll […].129

War der Gedanke, das Küstengeschäft einzuschränken oder gar ganz aufzugeben im Sommer 1897 zunächst eine Reaktion des Augenblicks, hatte sich die Strategie der Expansion ins Landesinnere dagegen bis zum Herbst verdichtet und sollte in den Folgejahren Schritt für Schritt umgesetzt werden. „Ich werde zugleich aber meine ganze Geschäftspolitik ändern, denn bisher, wenn ich mich ausdehnen wollte, ging ich an der Küste weiter, jetzt aber will ich das aufgeben und überall ins Innere gehen.“130 Die bisherige Ausdehnung entlang der Küstenlinie war östlich von Klein Popo erfolgt, im angrenzenden Dahomey. Auf diese Weise war eine innerfamiliäre Konkurrenzsituation mit dem Stammhaus F. M. Vietor Söhne bislang vermieden wor126 Paul hatte mit Schreiben vom 20.6.1895 d’Almeida vorgeschlagen mit ihm und seinem Bruder Francisco, der bereits seit 18 Jahren ein eigenes Geschäft in Klein Popo führte, eine neue Firma zu gründen. Die Verhandlungen zogen sich hin, sodass Juan und Francisco im Januar 1896 zunächst ohne Paul die Firma d’Almeida Brothers gründeten. Am 27.6.1896 kam es dann jedoch mit Paul zusammen zur Gründung der Firma d’Almeida Brothers & Co mit Sitz in Klein Popo. Am 20.3.1901 wurde der Geschäftsvertrag geändert und am 7./9.12.1904 wurde das Geschäftsverhältnis ganz gelöst. Für die Brüder d’Almeida endete die Zusammenarbeit mit Paul in einem Gerichtsverfahren, in dem beide im Oktober 1909 wegen Konkursbetruges zu drei Jahren Kettenhaft verurteilt wurden, vgl. Berufungssache Paul gegen d’Almeida 1908, ANT, FA 1/638 [TCS], S. 21, 79, 94. Ab 1897 ist die deutsche Kommissionsvertretung Pauls für d’Almeida nachgewiesen, Deutsches Kolonial-Adressbuch 1897, Beilage zum DKB, S. 8f. 127 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 103. 128 Paul gehörte im April 1902 zum Gründungskomitee der DTG und bekam auf der konstituierenden Versammlung am 29.12.1902 einen mehrjährigen Vertrag für die kaufmännische Leitung zugesprochen, vgl. Prospekt der Deutschen Togogesellschaft [April 1902], BAB, R 1001-3642, Bl. 7; Erster Geschäftsbericht der DTG für die Zeit vom 29.12.02 bis 30.4.1903, ebd., Bl. 153, S. 3. 129 J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 11.7.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Ahadji zitiert Vietor nicht nach dem Wortlaut, sondern nur sinngemäß, vgl. Ahadji, A.: Relations commerciales entre l‘Allemagne et le Togo, 1680–1914 (Etudes et documents de sciences humaines, Série A, Etudes; 8), Lomé, 1984, S. 28. 130 J. K. Vietor (Dampfer „Dahomey“) an Hedwig Vietor vom 17.11.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4.

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den, da es im südwestlichen Togo und in der angrenzenden Goldküste seinen Schwerpunkt hatte.131 Bis Anfang 1893 waren für die Firma J. K. Vietor neben dem Hauptsitz in Klein Popo, Niederlassungen in Grand Popo und Ouidah entstanden.132 Noch im gleichen Jahr begann die Arbeit in Adjido, auf der Klein Popo gegenüberliegenden Lagunenseite.133 Bis 1897 hatte sich das Filialnetz um Porto Novo,134 Allada und Koffu am Peddahsee erweitert.135 In Gridji war ein Verkaufsladen eröffnet worden.136 Bereits 1894 hatte Vietor öffentlich die Forcierung des Wegebaus ins Landesinnere als kolonialpolitische Notwendigkeit gefordert und teure Hinterlandexpeditionen abgelehnt.137 Das traf auch die Intension der deutschen Verwaltung in Togo, die 1892 mit dem Bau einer Straße ins Landesinnere von Lome über Palime, Misahöhe und Kpandu bis nach Kete-Kratschi begann.138 Als die Straße das Gebiet von Ho und Amedzofe erreichte, kaufte die Firma F. M. Vietor Söhne 1895, auf Anraten des Regierungsbeamten Gruner, Land für eine Faktorei in Palime, das am Südrand der Kautschukzone lag.139 Das Geschäft hier entwickelte sich 131 Müller weist zurecht darauf hin, dass vietorsche Neugründungen bis etwa zur Jahrhundertwende nicht eindeutig dem Stammhaus oder der Firma J. K. Vietor zugeordnet werden können, Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 84. Von einer grundsätzlichen Aufteilung in eine westliche (F. M. Vietor Söhne) und eine östliche (J. K. Vietor) Interessensphäre kann jedoch ausgegangen werden. Somit ergeben sich entsprechende Zuordnungen. 132 J. K. Vietor (Klein Popo) an Frau Augener vom 5.2.1893, VPAH. Vietor nennt hier die drei bereits existierenden Faktoreien Klein Popo, Grand Popo und Ouidah. 133 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 84. 134 Während der Inspektionsreise 1894 war Porto Novo nicht besucht worden, 1897 dagegen mehrmals. Das Briefpapier der 1896 auch in Bremen konstituierten Firma J. K. Vietor zeigt jedoch auch bereits Porto Novo als Niederlassung. Sie dürfte demnach 1895/96 entstanden sein. 135 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 84. Im April 1897 besuchte Vietor Allada und war dort zu Gast beim ortsansässigen König, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 25.4.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Beim König von Allada handelte sich wahrscheinlich um Gi-Gli, der von den Franzosen nach dem Krieg als Stammeskönig für das Gebiet um Allada eingesetzt worden war. Als er 1909 starb, war er der letzte indigene Herrscher mit Königsrang. Seine Nachfolger trugen nur noch den abgeschwächten Titel „Chef superieure“, Manning, 1982 (wie Anm. 32), S. 164f. 136 Verzeichnis der im Schutzgebiet Togo thätigen Firmen und Erwerbsgesellschaften nach dem Stande vom 1. Januar 1898, in: DKB 1898, S. 176. 137 Vietor, 1894 (wie Anm. 18). 138 Ustorf, Werner, 1989: Die Missionsmethode Franz Michael Zahns, S. 273. 139 F. M. Vietor Söhne und C. Goedelt waren bereits 1894 nach Palime vorgestoßen und hatten dort 1895 mit dem Bau von Faktoreien begonnen. Auch Bödecker & Meyer hatten ein Grundstück erworben, Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete 1895/96, SBR, 9. Leg. per., 4. Sess., Anlage 624, S. 2946. Ein Hinweis auf einen entsprechenden Landkaufkontrakt der Firma F. M. Vietor Söhne mit Häuptling Gidde Gidde vom 30.9.1895 findet sich in: Register of documents Palime, Lome 16.3.1915 F. M. Vietor, Mappe XZ, Nr. 26, StAB, 7,200113. Der Agent der englischen Firma Swanzy, G. Leach, bezeichnete die Firma F. M. Vietor Söhne sowie die Firma C. Goedelt als „go-ahead firms“, die bereits auf den geplanten Eisenbahnbau spekulierten und sich die besten Plätze dort sicherten, Ustorf, 1989 (wie Anm. 138), S. 273f. Bereits 1891 hatte F. M. Vietor Söhne auch in Kpandu am Volta Land gekauft, aber wohl zunächst keine Niederlassung eröffnet, Landkaufkontrakt vom 4.4.1891 mit Häuptling Dagadu, Register of documents Palime, Lome 16.3.1915 F. M. Vietor, Mappe XZ, Nr. 24,

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hervorragend,140 wovon sich Vietor bei seinem Besuch in Palime 1897 selbst überzeugte.141 Die Firma F. M. Vietor Söhne profitierte über ihre Faktorei in Keta bereits seit Jahren vom togoischen Gummi, da bis zur Erschließung des Hinterlandes von Togo etwa 90 % der togoischen Kautschukproduktion über die Häfen der Goldküste, Accra, Cape Coast und Keta ausgeführt wurden.142 Nach Abschluss des sogenannten Helgoland-Sansibar Vertrages zwischen Deutschland und England am 1.6.1890 hatte sich die Westgrenze des deutschen Togogebietes, mit Ausnahme des südlichen Mündungsgebietes, bis zum Volta vorgeschoben. Daraufhin war eine deutsche Polizeitruppe nach Ho verlegt worden, die den für Keta bestimmten Gummi nach Lome umlenken sollte, was in der Ausführung teilweise zu bewaffneten Konflikten führte.143 Da der Verwaltung in Togo durch die Ausfuhr des Kautschuks aus englischen Häfen beträchtliche Zolleinnahmen verlorengingen, stellte die Veränderung der Handelswege ein wesentliches fiskalisches Ziel der Verwaltung dar.144 Ohne einen entsprechenden Ausbau des Wegenetzes in Togo selbst konnte diese Politik allerdings kaum erfolgreich sein. Von dieser staatlichen Lenkungspolitik war auch die Firma F. M. Vietor Söhne betroffen. Die spürbare Drosselung des Kautschukabflusses in die Goldküste führte zu entsprechenden Umsatzrückgängen im Ketageschäft und veranlasste die Firma zunächst zu einer wenig erfolgreichen Beschwerde bei der Reichsregierung.145 Die Neugründung einer Fak-

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StAB, 7,2001-13. „Prinz Dagadu“ behauptete am Ende der deutschen Kolonialzeit, seine Pressekampagne im Gold Coast Leader gegen die deutsche Verwaltung im Auftrag von König Dagadu zu führen. Trotz dessen Dementi, er wäre nicht der Vater des Prinzen, entkam er nicht der Straf–Deportation nach Kamerun, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 562. Nach Aussage des Landeshauptmanns von Togo, Köhler, machte die Bremer Faktorei hier seit ihrer Gründung ein bedeutendes Gummigeschäft. Nach Köhlers Meinung konnte die Firma Vietor jetzt in einem Monat mehr Gummi verschiffen als vorher in mehreren Jahren zusammengenommen. Der Zwischenhandel wäre zudem komplett weggefallen, Landeshauptmann [Köhler] an Hohenlohe–Schillingsfürst vom 18.1.1896, BAB, R 1001-4097, Bl. 18. Vietor, 1898 (wie Anm. 16), S. 207. 1891/92 erreichte der Kautschukexport aus deutschen Togohäfen einen Wert von 134.000 Mark. Premierlieutenant Herold, Leiter der Regierungsstation in Misahöhe, schätzte den Gesamt-Exportwert des (deutschen) Kautschuks über die Häfen der Goldküste jedoch auf eine Größenordung von 1,34 Millionen Mark, DKZ 1894, S. 83. Nach Aussage Heinrich Kloses wurde ein großer Teil des togoischen Kautschuks in Keta gegen Salz eingetauscht, Knoll, 1978 (wie Anm. 26), S. 151. Sebald dagegen weist daraufhin, dass der Tausch des von der Voltamündung (Keta) kommenden Salzes gegen Kautschuk in Kete Kratchi stattfand, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 75f. Missionar Spieth an Zahn vom 19.1.1891, StAB, 7,1025-50/3. Die Politik der Umleitung der togoischen Warenströme von britischen auf deutsche Häfen mit allen Mitteln durch Landeshauptmann von Puttkamer wurde schon 1891 von der britischen Goldküstenverwaltung erkannt, setzte sich aber erst durch den Wegebau ab Mitte des Jahrzehntes durch, vgl. Gouverneur W. B. Griffith an Lord Knutsford (vertraulich) vom 7.4.1891, zit. bei Ustorf, 1989 (wie Anm. 138), S. 274. F. M. Vietor an Caprivi vom 6.3.1891, BAB, R 1001-3829, Bl. 153–158. Die im Vergleich zu den Folgejahren recht hohen Kautschuk-Exportzahlen aus Togo in den Jahren 1889/90 (62,3 t) und 1890/91 (80,9 t) dürften mit diesen Zwangsumleitungen zu erklären sein, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 393. Ein Kautschukboom in den Landschaften Kebu und Adeli war mit dem Vorstoß afrikanischer Händler aus Accra Anfang 1889 ausgelöst worden. Sie boten für ½ Kilo

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torei am Südrand des Kautschukgebietes eröffnete erneut den Zugriff auf den Kautschukhandel und hatte den Vorteil, durch direkten Aufkauf der Ware den innerafrikanischen Zwischenhandel zu unterbinden und den Transport zum neuen Ausfuhrhafen Lome selbst zu organisieren. Das Gummigeschäft gewann in den nächsten Jahren deutlich größere Bedeutung für Togo. Wurden 1894 noch lediglich 30,6 t ausgeführt, waren es 1895 bereits 87,4 t. Bis 1903 schwankte die Ausfuhrmenge zwischen 63 t und 100 t, übersprang ab 1904 die 100 t- Grenze, um 1912 mit 165,7 t einen Rekordwert zu erreichen.146 Vom aussichtsreichen Gummigeschäft wie auch von der zunehmenden Erschließung des Hinterlandes überhaupt versprach sich auch J. K. Vietor neue Chancen. Noch während der Inspektionsreise 1897 machte er daher nun selbst eine Reise nach Atakpame, wo von seinen früheren Gründungsversuchen nur Ruinen übriggeblieben waren.147 Bis zum Jahresende 1897 sollte hier eine neue Faktorei entstehen.148 Nach der Rückkehr aus Atakpame hielt Vietor Gummi einen Preis von 1,50 Mark in Waren an, während an der togoischen Küste nur 0,60 – 0,90 Mark dafür bezahlt wurden; ebd., S. 85. 1897 bezahlte man jedoch an der Küste ebenfalls 2,50 Mark bis 3,- Mark/kg. Vietor verlor einige Kunden, als seine Mitarbeiter nicht rechtzeitig mit dem höheren Angebot der Konkurrenz (3,-Mark/kg) mithielten, vgl. J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 10.10.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. In den 5–6 Monaten seiner bisherigen Anwesenheit 1897 hatte Vietor 1.500,- bis 2.000,- Mark am Gummihandel verdient, ebd. 146 Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 393. Der Wert/Tonne variierte 1894–1912 zwischen 3.503,Mark (1895) und 8.697,- Mark (1905). Der Gesamtexportwert von Kautschuk lag mit jeweils über 1 Million Mark in den Jahren 1905 bis 1907 über dem Gesamtexportwert sowohl von Palmkernen als auch von Palmöl, ebd. 147 J. K. Vietor (Atakpame) an Hedwig Vietor vom 10.8.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4, vgl. auch Vietors Reisebericht über seine Reise nach Atakpame in Vietor, 1898 (wie Anm. 16). Später gibt Vietor an, bereits 1894 eine Reise nach Atakpame gemacht zu haben, auf der er rund 60 Dörfer besucht hatte, jedoch nur eine einzige Niederlassung in Amutschu gründen konnte. Bereits nach 2 Tagesmärschen ins Landesinnere war er dabei kaum noch auf Menschen getroffen, es gab praktisch keine Wege und in den Dörfern, die er besuchte, herrschte eine große Furcht, von Nachbarstämmen gefangengenommen zu werden, weshalb seine Markttage anfangs schlecht oder gar nicht besucht wurden. Um Ruhe und Ordnung herzustellen, scheute er sich nicht, notfalls auch die deutsche Flagge zu hissen und Landfrieden zu verordnen, auch wenn er dazu keine administrative Befugnis hatte, vgl. Vietor, J. K., 1913: Geschichtliche und kulturelle Entwicklung, S. 77–80; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 67–73. In den Inspektionsbriefen von 1894 wird von einer ähnlich unwirtlichen Expedition über ungebahnte Wege nach Athieme auf der östlichen Seite des Mono gesprochen, nicht aber nach Atakpame. Auch hier hatte Vietors Erscheinen teilweise panische Angst bei den Bewohnern der Dörfer ausgelöst: „Diesen Weg hatte wohl kaum ein Weißer vor uns gemacht, denn wir hatten inzwischen die Grenze von Dahomey passiert, und früher hatte niemals ein Verkehr zwischen den beiden Ländern stattgefunden.“ Dennoch war sein Name überall bekannt und immer als sich herausstellte, dass er Vietor sei, beruhigten sich die Gemüter. An verschiedenen Orten traf er auf Kinder, die nach ihm „Vito“ genannt wurden, was er als Zeichen seiner Beliebtheit wertete. Überall traf er außerdem auf Leute, die Waren aus Vietor-Läden hatten, was für die Handelsdominanz seines Geschäftes in dieser Gegend spricht. Der Bericht macht zudem klar, dass ein florierender Handel ins Landesinnere, angesichts der mangelhaften Infrastruktur, Mitte der 1890er Jahre noch sehr schwer war, vgl. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 24.11.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. 148 Bei welchem früheren Niederlassungsversuch auch ein Gebäude errichtet worden war, bleibt

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seine Mitarbeiter verstärkt an, jetzt auch ihrerseits ausgedehnte Reisen ins Landesinnere zu machen. Den Faktoreileiter von Klein Popo, Lenz, schickte er umgehend für drei Monate in den Busch, um hier das Kautschukgeschäft anzukurbeln.149 Damit setzte er auf die richtige Karte und konnte bis Ende der 1890er Jahre zusammen mit der Stammfirma F. M. Vietor Söhne eine führende Position im Kautschukgeschäft Togos erringen.150 Abschwächung der Konjunktur und Zunahme der Konkurrenz waren nur zwei Gründe für die Stagnation von Vietors Geschäft in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre. Ein dritter Faktor bestand in den jahrlangen erfolglosen und kostspieligen Plantagenversuchen, insbesondere mit Kaffee.151 Ab 1888 hatte er in Zusammenarbeit mit der Verwaltung auf einem Regierungsgrundstück bei Sebbe zunächst erfolgreich Anbauversuche mit Kaffee und Tabak durchgeführt.152 Versuche mit Kakao sollten folgen.153 Der kaiserliche Kommissar von Puttkamer hatte im gleichen Jahr in einer Denkschrift an Bismarck seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht: „Die Parole ist also überall Plantagenbau.“154 Entsprechend hatte er Vietor angeboten: „Von mir können sie so viel Land haben, wie sie bebauen wollen, dafür werde ich sorgen.“ Dass Puttkamer offensichtlich bereits damals auf Großplantagen set-

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unklar. In einem späteren Bericht führt Vietor den ersten Versuch eines Faktoreibaus in Atakpame auf die Anregung eines Unteroffiziers zurück, der Vietor bei einem Wareneinkauf für die Regierungsstation in Bismarckburg dazu ermutigt hatte, Vortragsmanuskript o. T. [1928], VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 1, S. 9f. Die handschriftliche Jahresangabe des Vortrages gibt irrtümlich das Jahr 1927 an. Die alte Faktorei, die 1897 „verfallen“ war, stand im Vorort von Atakpame, in Do Koffee (oder „Mutschi“), Vietor, 1898 (wie Anm. 16), S. 205. In einem Artikel aus dem Jahre 1909 gibt Vietor an, 1894 durch einen eingeborenen Mitarbeiter eine erste Niederlassung in Atakpame gegründet zu haben. Da er die Gründung jedoch im Zusammenhang mit seiner ersten eigenen Expedition nach Atakpame erwähnt, die erst 1897 stattfand, könnte es sich um eine Verwechslung der Jahresdaten handeln, vgl. Vietor, J. K.: 25 Jahre Kolonialpolitik, Teil 1, in: Die Arbeit 29 (1909), S. 4f. J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 10.10.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Ustorf, 1989 (wie Anm. 138), S. 275. Mit Eröffnung der Bahnlinie nach Atakpame verdreifachte sich der Aufkauf von Kautschuk durch europäische Firmen. Hatten sie 1910/11 noch 5.675 kg Kautschuk im Werte von 22.700,- Mark aufgekauft, waren es nach Eröffnung der Bahnlinie 1911/12 bereits 16.555 kg im Werte von 66.220,- Mark, Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 434. Rückblickend machte Vietor deutlich, in den 1890er Jahren „lange Zeit notleidender Kolonialagrarier“ gewesen zu sein, Vietor, 1913 (wie Anm. 146), S. 70. 1898 hatte sich die Krise seiner Plantagenversuche so zugespitzt, dass seine wirtschaftliche Stellung ernsthaft bedroht war. „Wenn das Geld für die Caffeeplantage auch verloren sein sollte, dann habe ich wohl aufgehört, ein wohlhabender Mann zu sein“, J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 11.4.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Anfang 1890 hatte er bereits fünf Ballen Tabak aus diesen Versuchen nach Deutschland ausführen können, Vietor, 1890 (wie Anm. 1). DKB 1890, S. 82. 1897 datierte Vietor den Beginn der gemeinsamen Pflanzungsversuche mit der Verwaltung auf das Jahr 1889, J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 9.5.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4; vgl. auch Meinecke, Gustav (Hrsg.): Koloniales Jahrbuch. Das Jahr 1890, Berlin 1891, S. 150. Puttkamer an Bismarck vom 12.9.1888, Anlage: Denkschrift des Kommissars von Puttkamer betreffend der Arbeiterfrage in den deutschen Schutzgebieten (12.9.1888), BAB, R 1001-3223, Bl. 113.

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zen wollte, begriff er nicht.155 Da die ersten Tabakproben aus diesem Versuch 1890 in Bremen günstig bewertet wurden, kündigte Vietor eine Anlage in großem Stil an. Eine Investition in Tabak hätte der Familientradition auch durchaus entsprochen. Obwohl der amtliche Zwischenbericht von 1890 erst für 1894 mit ausreichend sicheren Prognosen über einen möglichen Erfolg des Kaffeeanbaus rechnete, entschied sich Vietor, entgegen seiner ersten Ankündigung, nicht für eine Forcierung des Tabak-, sondern des Kaffeeanbaus. 1891 kaufte er ein 25 ha großes Grundstück, um damit zu beginnen.156 Den Wert seiner Plantage schätzte er Anfang 1893 bereits auf 10.000 Mark.157 1894 kaufte er weiteres Land158 und plante für 1895 nochmals eine Erweiterung im Wert von 15.000 Mark,159 „[…] da der Stand der Plantage ein hübsches Resultat in der Zukunft erhoffen lässt […] Sowie ich den Beweis habe – bis jetzt sind es ja nur noch Hoffnungen – daß eine Caffeeplantage in Togo sich bei richtiger Behandlung gut bezahlen wird, möchte ich diese Tatsache in Deutschland bekannt machen.“160

Neben seiner Plantage in Klein Popo hatte er auch Plantagen in Lome und am Mono-Fluss.161 Im November 1894 kaufte er ca. 7 ha Land in Grand Popo, das vorher lediglich gepachtet war und auf dem er bereits eine Kaffee-Pflanzung kultiviert hatte.162 Schon zu Beginn seiner Kaffeepflanzungsversuche hatte Vietor vor Ort für den Kaffeeanbau geworben und Saatgut an prominente einheimische Händler wie d’Almeida verteilt, der daraufhin eine Plantage anlegte und schon 1891 in einer Baumschule weitere 50.000 Pflänzchen nachzog, deren Überschuss er leicht verkaufen konnte, weil genügend Abnehmer vorhanden waren wie Chiko d’Almeida, Aite Ajavon und Creppy, die ebenfalls in den nächsten Jahren in den Kaffeebau investierten.163 Vietor warb nicht nur in Klein Popo, sondern auch in anderen Landesteilen für den Anbau von Kaffee, Tabak und Kakao. Das Interesse 155 „Ich verstand diese Idee von ihm nicht und habe meinen kleinen Kram wie bisher fortgesetzt“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Forts., S. 48. 156 J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 28.12.1895, BAB, R 1001-3218, Bl. 18. 157 J. K. Vietor (Klein Popo) an Frau Augener vom 5.2.1893, VPAH. 158 J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 28.12.1895, BAB, R 1001-3218, Bl. 19. 159 J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 8.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. 160 J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 28.12.1895, BAB, R 1001-3218, Bl. 20. 1893 hatte Vietor 10.000 Kaffeebäumchen auf seinen Plantagen stehen, 1894 bereits 15.000, 1895 schon 30.000, 1896 waren es 33.000. 1897 ging die Zahl auf 30.000 zurück, 1898 auf 29.000; vgl. Denkschriften betreffend das Schutzgebiet Togo vom 9.12.1893; 7.1.1894; 13.1.1897; 2.12.1898, in SBR, 9. Leg. per., 2. Sess. 1893/94, Anlage 105, S. 713; 3. Sess. 1894/95, Anlage Nr. 93, S. 510; 4. Sess. 1895/96, Anlage Nr. 624, S. 2938; 10. Leg. per., 1. Sess., Anlage 50, S. 192. 161 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 83. 162 J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 4.11.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Die 28 Morgen bzw. 7 ha Land konnte er für 150,- Mark erwerben. Die Plantage existierte noch 1904, war da jedoch schon stark verwildert, sodass sie aufgegeben werden sollte, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 14.9.1904, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. 163 1892 verteilte auch der Landwirtschaftsexperte der deutschen Verwaltung, Goldberg, insgesamt 8.000 Kakaosamen an die einheimischen Händler d’Almeida, Creppy, Ajavon und Olympio. Die Versuche scheiterten jedoch und die Pflanzen gingen rasch ein, Ahadji, Valentin Amétépé: Les plantations coloniales allemandes au Togo et leur évolution de 1884 à 1939, Lille 1996, S. 66.

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und die Risikobereitschaft, in die landwirtschaftliche Produktion zu investieren, unterschied Vietor von den meisten deutschen Handelshäusern,164 obwohl auch Friedrich Oloff und Martin Paul anfangs auf Plantagenbau setzten. Oloff hatte 1892 Land in Klein Popo gekauft und mit der Bearbeitung einer Palmölplantage begonnen.165 Martin Paul, der bereits 1890 im kleineren Rahmen Erfahrungen mit dem Kaffeeanbau gewonnen hatte, startete 1897/98 einen großangelegten Kaffee-Plantagenversuch bei Sebbe, der jedoch 1906 endgültig aufgegeben wurde.166 1893 zählte man an der Küste von Klein Popo 40.000 und 1898 schon 105.000 Kaffeebäume. Davon entfielen allein 30.000 auf die Pflanzung von Vietor,167 die 1897 eine Ausdehnung von 45 ha erreicht hatte und nach eigener Einschätzung für den Fall ausreichenden Niederschlags eine Ernte von 20.000 bis 30.000 Pfund versprach. Für den Fall einer Dürre rechnete er jedoch mit dem Verlust seines Vermögens.168 Nach der Taxierung seiner Kaffeeproben an der Bremer Börse 1895 hätte diese Erntemenge unverzollt etwa einen Preis zwischen 16.000,- und 24.000,- Mark erbracht.169 Die außergewöhnliche Dürre des Jahres 1897 machte solche Erwartungen jedoch zunichte, sodass Vietor nur 2.000 Pfund ernten konnte.170 Die Auswirkungen einer längeren Dürre wurden durch Eingriffe der Beachleute in Klein Popo noch verschärft. Um ihren Fischfang effektiver gestalten zu können, durchstachen sie den Damm zwischen Lagune und Meer, was zu einem raschen Abfließen des Wassers nach ergiebigen Regenfällen führte. Nach den normalen Regenfällen im September/Oktober schwoll der Mono jeweils an und überschwemmte weite Gebiete hinter der Lagune bis nach Porto Seguro. Nach dem Ende des Regens im Spätherbst blieb das Wasser in der Lagune stehen, verdunstete nur langsam und stellte damit einen natürlichen Wasserspeicher in der regenarmen Zeit dar, was für 164 Ahadji, 1996 (wie Anm. 163), S. 64f. 165 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 98. 166 Denkschrift 1897/98 (wie Anm. 119), S. 193. Pauls Plantage, die sich in Adjido befand, wurde 1906 aufgegeben, Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 103. Die Plantage von Martin Paul war 1897 pressewirksam mit einem Bestand von 50.000 Bäumen angekündigt worden. Leiter der Plantage sollte Pauls Bruder werden, Berliner Lokal Anzeiger 8 (1897). 167 Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 126f. Die amtliche Statistik verzeichnet für Vietor 1896/97 einen Ernteertrag von 1000 kg Kaffeebohnen. 1896 wurden in seiner Baumschule 6.500 Jungbäume gezogen, 1897 waren es 5500, Ahadji, 1996 (wie Anm. 163), S. 65. 168 J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 11.4.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. 169 Eine Schätzung des Bremer Börsenmaklers Viet hatte im Juli 1895 den Wert der Kaffeeproben von den Plantagen Vietors und d’Almeidas unverzollt auf 82,5 Pfennig/500 Gramm berechnet. Tatsächlich konnte ein Preis von 84 Pfennig/500 Gramm erzielt werden, DKB 1895, S. 620. Ein Jahr zuvor hatte eine ähnliche Schätzung einen Wert von 85 bis 95 Pfennig/500 Gramm ermittelt, Vietor, 1894 (wie Anm. 18). 170 Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete 1896/97 vom 22.1.1898, SBR, 9. Leg. per., 5. Sess., Anlage 94, S. 918, 920. Der Bericht hält fest: „Auf den Kaffeefarmen bei Sebbe war alles todt und abgestorben.“ Die Kulturen erholten sich aber noch im gleichen Jahr überraschend schnell, als der Regen einsetzte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kaffeebauern konnte Vietor 1897 immerhin noch eine Ernte von 1000 kg. einfahren. Einen pessimistischen Eindruck von den Kaffeekulturen bei Sebbe hatte auch Dr. Gleim bei seiner Inspektion im Frühjahr 1897 bekommen. Nach einer zehnmonatigen Dürre befanden sich die Plantagen in einem traurigen Zustand und die meisten Besitzer fürchteten um den Fortbestand ihrer Anlagen, Gleim an Hohenlohe–Schillingsfürst vom 10.4.1897, BAB, R 1001-8066, Bl. 14f.

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eine gute Ernte unerlässlich war. Vietor forderte deshalb eine gesetzliche Regelung, die das Durchstechen des Dammes untersagte.171 Das Jahr 1898 markiert den endgültigen Niedergang der Kaffeeanbauversuche Vietors. Schädlinge vernichteten in Wechselwirkung mit dem nährstoffarmen Boden den größten Teil der gesamten Kaffeeplantagen um Klein Popo.172 1899 existierten nur noch 22.700 Bäume und 1900 wurden die Kulturen endgültig als unrentabel aufgegeben.173 Die hohen Investitionskosten Vietors waren damit verloren. Sebalds Vermutung, Vietor wäre im Falle einer erfolgreichen eigenen Plantagenwirtschaft kaum in das gegnerische Lager der Großplantagenlobby getreten, ist jedoch nicht stichhaltig.174 Selbst wenn 45 ha mit 30.000 Kaffeebäumen eine nicht unbeachtliche Größe darstellten, standen sie doch zu keiner Zeit in einem vergleichbaren Verhältnis mit den später von Vietor speziell kritisierten Großplantagen in Kamerun. 1913 existierten dort 58 Plantagen auf zusammen 28.225 ha bebauten Landes, was einer durchschnittlichen Plantagengröße von 487 ha entspricht.175 Vietor hatte sich zudem im Zusammenhang seines Eintretens für höhere Branntweinzölle schon 1896, also zu einer Zeit, als er selbst noch große Hoffnungen auf seine Kaffeeplantage setzte, in einem Schreiben an die Kolonialabteilung gegen Großplantagen ausgesprochen, da sie das Gesellschaftsgefüge durcheinanderbringen und Unruhen heraufbeschwören würden. Das wiederum würde, wegen des dann nötigen Einsatzes militärischer Gewalt, zu einer Aufblähung der Militär- und Verwaltungskosten führen, was den Einfluss der Kaufleute mindern würde, wegen denen man doch die Kolonien erworben hätte. Für ihn stand schon damals das Leitbild einer Handels- und Bauerngesellschaft für die Kolonien fest, das in seinen Augen nicht zuletzt den Vorteil bot, den Verwaltungsaufwand minimal halten zu können. Branntweinhandel, Plantagenwirtschaft und afrikanischer Wohlstand waren für ihn nicht miteinander vereinbar.176 Seine eigenen Pflanzungsversuche standen für ihn in keinem Widerspruch dazu. 1894 beschäftigte er bereits 44 Arbeiter auf seinen Pflanzungen, wollte aber noch ein weiteres „großes“ Terrain kaufen, auf dem er sowohl die bereits 1892 begonnen Versuche mit Gummibäumen fortsetzen, aber auch den Baumwollanbau testen wollte. Für die Verwaltung und dauernde Bearbeitung seines Grundbesitzes plante er den Bau eines Hauses für einen weißen Leiter der Anlage, „[…] an das dann die ganze Arbeiter-Colonie mit netten Häusern 171 J. K. Vietor an Buchka vom 19.5.1898, BAB, R 1001-4487, Bl. 26f. 172 Meyer, Hans: Das deutsche Kolonialreich. Eine Länderkunde der deutschen Schutzgebiete (Bd. 2), Leipzig u.a. 1910, S. 115. Im Gegensatz zu Meyer erwähnen die amtlichen Denkschriften die große Dürre für das Jahr 1897. Die Denkschrift für das Jahr 1898 spricht noch nicht von einem „Aus“ für die Plantagen, erwähnt aber Rentabilitäts-Zweifel der Kaffeebauer, die jedoch aufgrund ausreichender Regenfälle 1898 wieder in Hoffnung umschlugen, Denkschrift 1897/98 (wie Anm. 119), S. 192. 173 Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 127. 174 Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 120. 175 Die Deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1912/1913. Amtliche Jahresberichte, Berlin 1914, S. 85. 176 J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 28.9.1896, BAB, R 1001-6996, Bl. 47f. Vietors Eingabe war an den Kolonialrat gerichtet. Die Kolonialratsmitglieder, deren Adressen ihm vorlagen, hatten sie bereits postalisch von ihm erhalten, ebd. Bl. 43.

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an schattigen Alleen sich anbauen soll. Dahinter sollen dann die Weidegründe für das Vieh und zur Seite des Hauses die Hühner-, Enten- und Putenställe kommen.“177 Seine Vorstellungen von den „netten“ Unterkünften für die Plantagenarbeiter heben sich deutlich ab, von der späteren, teilweise katastrophalen Realität Kameruns, die durch unhygienische und sozial spannungsgeladene Massenbaracken gekennzeichnet war. Die Stimmung unter den Arbeitern seiner Plantage war jedenfalls positiv, da die Anstellung eine regelmäßige Verdienstmöglichkeit bot, die zur Gründung und Versorgung einer eigenen Familie ausreichte.178 Neben Kaffee experimentierte Vietor auch mit anderen Kulturen. 1892 verfügte er über eine Plantage mit 4.000 Kokospalmen,179 die bis 1898 auf 6.000 Bäume erweitert wurde.180 1904 hatten seine Arbeiter, wohl auf dem Gelände der ehemaligen Kaffeeplantage, 25 ha Baumwolle und 2.500 Gummibäume angepflanzt. Während er bei der Baumwolle trotz guter Entwicklung der Pflanzen nicht mit spürbarem Gewinn rechnete, galt seine besondere Hoffnung den Gummibäumen. „Wenn dies [das Gummi, Anm. B.O.] sich auch nicht bezahlt, gebe ich den ganzen Kram auf […] dann schenke ich die Plantage der Regierung, damit sie etwas damit anfangen kann.“181 Es blieb bei der insgesamt enttäuschenden und kostspieligen Bilanz der Pflanzungsversuche. 1905 gab Vietor die letzten Anbauversuche in Togo endgültig auf.182Auch seine anfänglichen Tierzuchtversuche hatten nichts gebracht, waren jedoch im Gegensatz zu den Pflanzungen bereits früh wieder aufgegeben worden.183 Am Ausgang des Jahrhunderts wurde Vietors Vermögensstand, den Grundbesitz in Afrika eingeschlossen, auf 200.000,- Mark geschätzt.184

177 J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 24.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. 178 Als Vietor 1894 in Grand Popo 7 ha Land zur Erweiterung seiner Kaffeeplantage zum Spottpreis von 150,- Mark kaufte, berichtete ihm der bisherige Besitzer, dass die Arbeiter sehr froh wären, bei Vietor ein regelmäßiges Einkommen zu erhalten, weil sie nun endlich heiraten konnten, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 4.11.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. 179 Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 122. 180 Denkschrift 1897/98 (wie Anm. 119), S. 192. 181 J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 14.9.1904, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Ein Arbeiter, der 1 Pfund Gummi aus einem Baum zapfte, kostete Vietor 75 Pfennig, sein Verkaufspreis betrug ewa 2,- Mark/Pfund, ebd. 182 Bis 1905 werden sowohl seine Plantage in Klein Popo mit Kaffee-, Kokos-, Kautschuk- und Baumwollkulturen wie auch seine „Kokosnuß–Plantagengesellschaft“ in Lome im Kol.ha.adressbuch aufgeführt, danach nicht mehr. 183 Für Johannes Lohmann stellten sich die recht kostspieligen Pflanzungsversuche Vietors auch als Entwicklungshilfeprojekt dar, die er als Versuch wertete, die wirtschaftliche Situation des Landes zu verbessern. Zu diesem Zweck hatte Vietor Anfang der 1890er Jahre auch Kühe, Schweine und Schafe eingeführt. Von den kanarischen Inseln importierte er ein Kamel und einen Strauß, um den schwierigen Verkehr zwischen den einzelnen Niederlassungen zu erleichtern, Erinnerungen von Johannes Lohmann, VPAH, S. 3. 184 Empfehlungsschreiben der Firma Preiswerk. Preiswerk erwähnt auch eine kommanditistische Beteiligung Vietors an der Porzellanwarenfabrik Smidt & Dünsing in Höhe von 25.000,- Mark.

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AUFNAHME VON PARTNERN UND AUSBAU DES FIRMENNETZES BIS 1914 Die Weichenstellung von 1897, in Zukunft die Expansion des Geschäftes ins Landesinnere zu verlegen, war nicht die einzige wegweisende Entscheidung zur Weiterentwicklung des Unternehmens in dieser Phase. Bereits zum 1.5.1896 hatte Vietor den Kommissionsvertrag mit Martin Paul auslaufen lassen und seine eigene Firma in Bremen gegründet, die fortan den Ein- und Verkauf in Deutschland übernahm.185 Etwa zur gleichen Zeit fiel auch die kommissarische Geschäftsführung der Stammfirma F. M. Vietor Söhne an ihn, da sein Onkel infolge eines Schlaganfalls nicht mehr zur selbständigen Geschäftsführung in der Lage war.186 1897 beteiligte er erstmals einen seiner tragenden Mitarbeiter an seinem Geschäft. Anders als sein Onkel stand er auf dem Standpunkt, bewährte Leute lieber am Unternehmen zu beteiligen, als sie schließlich zu verlieren und damit neue Konkurrenten zu bekommen.187 Geschäftsbeteiligungen verliefen bei Vietor nach dem Muster, zunächst eine Beteiligung an einer oder mehreren Faktoreien in Afrika einzuräumen und erst nach Hochzeit und Rückkehr des Mitarbeiters nach Deutschland auch in Bremen eine eigenständige Firma zu gründen, an der er selbst beteiligt blieb. Dieses Geschäftsmodell hatte einerseits den Vorteil, begabte junge Kaufleute an sich zu binden, andererseits verlor er nicht an Einfluss und Dominanz, „[…] denn in gemeinsamen Besprechungen konnte ich fast immer das durchsetzen, was ich für richtig hielt, da es mir gewöhnlich gelang, einige der Herren auf meine Seite zu ziehen.“188 In der Regel sandte Vietor sehr junge Geschäftsleute nach Afrika aus, oft erst Anfang zwanzig, da sie im Vergleich zu älteren Mitarbeitern weitaus anpassungsfähiger waren. „Sie finden sich unendlich viel leichter in die neuen Verhältnisse, ordnen sich gut unter und nehmen auch gern an, was [bei] Aelteren sehr häufig nicht der Fall ist. Die Herren gewöhnen 185 J. K. Vietor an [Kol. Abt.] vom 1.5.1896, BAB, R 1001-3831, Bl. 7; M. Paul an Kol. Abt. vom 28.4.1896, ebd., Bl. 8. 186 Vietor erinnert sich später, das Geschäft seines Onkels nach dessen Schlaganfall „bis zu seinem Tode, 10 Jahre lang, geleitet [zu haben], ohne einen Pfennig dafür zu erhalten“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 56. Zum Unternehmen seines Onkels gehörten damals die Hauptfaktoreien Keta, Lome und Palime, ebd., S. 55. Das Kol.ha.adressbuch 1899 führt als Niederlassungen der Firma F. M. Vietor Söhne in Togo Lome, Bagida, Agome-Palime und Kpandu auf, Kol.ha.adressbuch 1899, S. 17. 187 Sein Onkel hatte ihm kurz bevor er mit dem System der Teilhaberschaften begann dringend geraten, seinen Mitarbeitern keine Gewinnbeteiligung anzubieten sondern ihnen stattdessen regelmäßig steigende Gehälter oder Gratifikationen zu gewähren, F. M. Vietor an J. K. Vietor vom 3.8.1895, VPAH, Konv. 4, Teil 2. Noch in den 1920er Jahren zeigte sich Vietor überzeugt davon, gute Mitarbeiter lieber als Teilhaber zu gewinnen als ihnen später als Konkurrenten gegenüberzustehen, auch wenn er nun für eine zeitliche Befristung der Teilhaberschaft plädierte: „Es kann aber auch sein, daß wir wiederum tüchtige, brauchbare Männer heranziehen, welche für das Geschäft von allergrößter Wichtigkeit sind, und die als Konkurrenten sehr unangenehm werden könnten, und daß es infolge dessen wünschenswert ist, weil die tüchtigen Menschen nicht auf die Dauer Angestellte bleiben wollen, sie zu Teilhabern zu machen“, Begleitschreiben zum Testament [1926], VPAH, Konv. 5, Mappe 5, S. 9. 188 Begleitschreiben zum Testament [1926], VPAH, Konv. 5, Mappe 5, S. 2.

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sich ganz an unsere Lebens- und Geschäftsauffassung und werden nachher in derselben Weise arbeiten, wie wir es wünschen.“189

Wenn sie sich nach einigen Jahren bewährt hatten, bot er ihnen einen Kredit an, mit dem sie eine Teilhaberschaft an einer Faktorei erwerben konnten. Als sich Johannes Lohmann, einer der ersten europäischen Mitarbeiter Vietors in Afrika, nach sechs oder sieben Jahren selbständig machen wollte, gewann er ihn auf diese Weise für den Gedanken einer Partnerschaft am Porto Novo Geschäft. Dafür stellte er ihm 50.000,- Mark als Kredit zur Verfügung190 und nahm ihn am 23.2.1897 als Teilhaber des sich in Porto Novo nun „J. K. Vietor & Cie“ nennenden Geschäfts auf.191 Lohmann konnte in der Folge auch als Teilhaber in das Geschäft in Ouidah einsteigen und als J. K. Vietor & Cie am 1.10.1899 von der französischen Kolonialverwaltung eine Geschäftskonzession für ganz Dahomey erhielt, konnte die Firma sich schnell an weiteren Orten festsetzen. Am 7.6.1900 übernahm Johannes Lohmanns jüngerer Bruder Otto dessen Geschäftsanteile, da sich Johannes Lohmann auf einem Heimaturlaub verlobt hatte und anschließend nicht mehr nach Afrika zurückkehren wollte.192 Am 15.8.1902 wurde die Firma in die „Vietor & Lohmann oHG“ mit Sitz in Bremen umgewandelt,193 firmierte in Dahomey aber weiterhin als „Vietor & Cie“. In den nächsten Jahren avancierte die Firma „zu einem der bedeutendsten Wirtschaftsunternehmen in Dahomey“194 und konnte bis 1914 insgesamt 32 Niederlassungen in Dahomey gründen, vorwiegend im Hinterland und entlang der Eisenbahnlinie ins Landesinnere.195 1902 hatte die Firma, zusammen mit den rest189 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 53. Oskar Huber gehörte mit 24 Jahren schon zu den Älteren, als er bei Vietor in Afrika anfing, Claus Freese und Johannes Lohmann waren jünger gewesen, ebd., S. 52f. Johannes Lohmann hatte gerade erst sein 19. Lebensjahr vollendet, als er als er am 28.2.1891 für Vietor nach Afrika reiste, vgl. Erinnerungen Johannes Lohmann, VPAH, S. 2 190 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 44. Lohmann war der dritte Europäer, den Vietor mit nach Afrika genommen hatte. 191 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 84. Mit der Aufnahme Lohmanns als Teilhaber in Porto Novo war auch die Erteilung der Procura für die Firma Vietor in Bremen verbunden, J. K. Vietor an [Landgericht Bremen; Kammer für Handelssachen] vom 23.2.1897, StAB 4,75/5 – V.23, Bd. 2. 192 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 47f. 193 Gesellschaftervertrag zwischen J. K. Vietor und Otto Lohmann vom 7.8.1912; StAB, 7,2001-2. § 1 erwähnt sowohl den Einstieg Ottos als Teilhaber am Geschäft in Porto Novo und Ouidah am 7.6.1900 wie auch die Umwandlung des Geschäftes in die Vietor & Lohmann oHG am 15.8.1902. Beide Partner waren danach zu 50 % an Gewinn und Verlust beteiligt. Die Eintragung ins Handelsgericht erfolgte am 1.1.1903. 194 Zur Ausbreitungsgeschichte vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 87f. 195 Die 32 Niederlassungen, die 1914 bestanden waren: Ouidah, Porto Novo, Cotonou, Attogon, Hinvié, Ouagbo, Toffo, Toricada, Ouassougon, Boghila, Bohicon, Abomey, Dassa-Zoumé, Savalou, Abomé-Calavi, Pobé, Pahou, Tori, Allada, Zivié, Akiza, Paouignan, Lozi, Savé, Avrekété, Avrekété-Plage, Houéyogbe, Attacké, Bissionou, Ossini, Montapha und Adelota, Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 88. Müller verzählt sich um einen Platz und kommt nur auf 31. Die „Angaben über die Niederlassungen der Firma J. K. Vietor & Cie in Dahomey“ von 1915 geben ebenfalls nur 31 Plätze an, StAB, 7,2001-3. Während es sich bei den Niederlassungen in Ouidah, Porto Novo, Cotonou, Bohicon und Abomey um Hauptfaktoreien handelte, stellten die restlichen Nebenfaktoreien dar, Vietor an Eltester (AA) vom 5.8.1927, BAB, R 1001-3664, Bl. 207.

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lichen Niederlassungen Vietors im westlichen Teil Dahomeys, die nicht zu Vietor & Lohmann gehörten, mit 7.650.000 Frs. einen Anteil am Gesamtumsatz des Landes von 25 %! 1906 lag der Handel Dahomeys zu 75 % in den Händen von drei Bremer und fünf Hamburger Häusern. Daneben existierten nur noch zwei bis drei französische Firmen.196 Der Umsatz der Firma Vietor & Lohmann machte bereits 1903, im ersten Jahr der selbständigen Ausweisung der Geschäftszahlen, einen Anteil von 45 % des Gesamtumsatzes Vietors aus, in den Folgejahren bis 1911 lag er jeweils über den Umsätzen der Stammfirma J. K. Vietor.197 Nachdem Vietor Johannes Lohmann zum Teilhaber der Niederlassungen in Ouidah und Porto Novo gemacht hatte, einigte er sich auch mit seinem Mitarbeiter Claus (eig. Nikolaus) Freese, der seit 1893 in seinen Diensten stand, am 18.10.1899 über eine Teilhaberschaft an den beiden Hauptfaktoreien Klein Popo und Grand Popo. Im Gesellschaftervertrag vom 6.2.1900 wurde ihm rückwirkend ab 1.10.1899 die Teilhaberschaft eingeräumt, obwohl er selbst zunächst keine finanzielle Einlage leisten konnte. Der Vertrag war zunächst auf 5 Jahre befristet.198 Mit der Gründung der Firma „Vietor & Freese“ am 3.11.1905 fand die Geschäftspartnerschaft auch Ausdruck in einer gemeinsamen Firma in Deutschland mit Sitz in Bremen.199 Die Firma Vietor & Freese konzentrierte ihre Bemühungen auf das östliche Togo und das südwestliche Dahomey. Bis 1914 konnten im Togogebiet insgesamt neun Niederlassungen, hauptsächlich entlang der Eisenbahntrasse nach Atakpame und des dazugehörenden Hinterlandes, gegründet werden.200 Laut Absprache mit der Firma F. M. Vietor Söhne gehörten Assahoun und Tsevie weiterhin zum Einflussgebiet der alten Stammfirma. Im südwestlichen Dahomey schritt man ab 1906 zu Neugründungen zwischen Grand Popo und Athieme. Hier entstanden bis 1914 sieben neue Zweigstationen,201 sodass Vietor & Freese 1914 über insgesamt 17 Niederlassungen verfügte. 196 Das Gesamthandelsvolumen Dahomeys belief sich 1902 auf 30.759.602 Frs. Davon teilten sich die zwei anderen Bremer Häuser 4.000.000 Frs., vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 88. Nachdem sich Martin Paul und Friedrich Noltenius am 23.6.1906 zu einer oHG mit Geschäftsschwerpunkt in Dahomey zusammengeschlossen hatten, erwuchs Vietor & Lohmann eine weitere ernstzunehmende Bremer Konkurrenz. Bis 1914 konnten Paul & Noltenius 16 Niederlassungen eröffnen sowie weitere Stützpunkte im Grenzgebiet zu Togo am Mono etablieren, vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 103–105. Damit brachten sie die Firma Vietor & Lohmann durchaus in Bedrängnis, was Vietor in erster Linie auf Lohmanns Versagen zurückführte. „Noltenius und Paul sind uns in einer geradezu erschreckenden Weise vorbeigelaufen und sind aktiv, fix und tüchtig und wir haben geschlafen und unsere Leute verstehen nichts“, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 10.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 197 Aufstellung der Umsätze der Firmen J. K. Vietor, Vietor & Lohmann und Vietor & Freese 1897–1911, StAB, 7,73-50, Bl. 338f. 198 Gesellschaftervertrag zwischen J. K. Vietor und C. Freese vom 6.2.1900, StAB, 7,2001-2. In der Version des Vertrages vom 7.8.1912 ist eine 50 % Beteiligung beider Gesellschafter festgeschrieben. Der Vertrag von 1912 liegt nur in der in § 4 (Recht auf Eintritt von Freeses ältestem Sohn als Gesellschafter) veränderten Form vom 29.7.1913 vor, ebd. 199 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 86. 200 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 87. 201 1914 befanden sich folgende Niederlassungen von Vietor & Freese in Dahomey: Grand Popo, Athieme, Vodome, Acodeha, Awhango, Bopa, Koffonou, Peddah Houeyogbe, Müller, 1973

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Die Expansion im restlichen Togogebiet teilten sich die beiden Firmen J. K. Vietor, die auch nach der Gründung von Vietor & Freese weiter selbständig in Togo arbeitete, und die alte Stammfirma F. M. Vietor Söhne.202 Die bisher gewahrte Zurückhaltung J. K. Vietors in das angestammte Handelsgebiet seines Onkels vorzudringen, wurde nach dessen Ausfall in der Geschäftsleitung aufgegeben, das umso mehr als F. M. Vietor weiterhin darauf bestand, sein Geschäft nach seinem Tode zu liquidieren.203 1905 erwarb der Vertreter der Firma F. M. Vietor Söhne in Lome, Lenz, Grundstücke in Ho, Amedzofe und Banyako und umriss damit das zukünftige Expansionsfeld der alten Firma. Tatsächlich entstanden hier in der Folge neue Niederlassungen.204 Eine exakte Abgrenzung des Expansionsgebietes zwischen den Firmen F. M. Vietor Söhne, J. K. Vietor und Vietor & Freese kann jedoch nicht nachgewiesen werden. Alle drei in Togo aktiven Vietorfirmen besaßen 1914 zusammen 38 Faktoreien, Buschfaktoreien und Nebenplätze in Togo. Hinzu kamen 5 Niederlassungen in der Goldküste, die zur Firma F. M. Vietor Söhne gehörten.205

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(wie Anm. 26), S. 87. In Grand Popo und Athieme befanden sich Hauptfaktoreien, die restlichen stellten Nebenfaktoreien dar, Vietor an Eltester (AA) vom 5.8.1927, BAB, R 1001-3664, Bl. 207. Im Kol.ha.adressbuch wird die Firma J. K. Vietor 1906 noch parallel zur Firma Vietor & Freese aufgeführt. Zur Firma J. K. Vietor gehörig werden hier Porto Seguro, Akodeseva, Dekpo, Vokutime, Aklaku, Betiko, Agome-Glossu, Agome-Seva und Notschä gerechnet, zu Vietor & Freese nur Anecho und Atakpame. Ab 1907 erscheint nur noch Vietor & Freese (ohne Angabe von Niederlassungen), 1908 werden für Vietor & Freese angegeben: Anecho, Porto Seguro, Atakpame, Dekpo, Aklaku, Betiko, Agome-Klossu, Seva, Abetiko, Tettetu, Nuatyä, Kol.ha.adressbuch 1905, S. 24; 1906, S. 28; 1907, S. 35; 1908, S. 82. Ob es bis 1908 zu einer Verschmelzung der Firmen J. K. Vietor und Vietor & Freese kam, bleibt unklar. Die Angaben zu einzelnen Niederlassungen schwanken von Jahr zu Jahr, stellen daher immer nur Momentaufnahmen dar. Manche Orte werden im Kol.ha.adressbuch überhaupt nicht aufgeführt, erscheinen aber in den amtlichen Berichten. Das „Verzeichnis der im Schutzgebiete Togo thätigen Firmen und Erwerbsgesellschaften“ für die Jahre 1897–1902 erwähnt für einzelne Jahre auch mehrere Verkaufsläden in Anecho sowie kleinere Buschfaktoreien in Aveve (ab 1900), Batonu (1901), Vokutime, Betiko, Aklaku, Akodeseva (1902) und eine größere Niederlassung (mit weißem Personal) in Porto Seguro (ab 1901), vgl. BAB, R 1001-3632, Bl. 5–26. Die Liquidation des Geschäftes nach seinem Ableben hatte F. M. Vietor erstmals am 20.3.1893 testamentarisch festgehalten. Am 1.2.1900 bestätigte er diese Anweisung durch einen weiteren Testamentszusatz. Zu diesem Zeitpunkt führte J. K. Vietor bereits einige Jahre seine Geschäfte, Testament von F. M. Vietor vom 14.11.1905, VPAH, Konv. 5, Mappe 4. Eine Niederlassung in Ho wird erstmals 1905 erwähnt, Kolonial-Handels-Aressbuch 1905, S. 24. Die 38 Orte in Togo waren: Lome, Anecho, Bagida, Adjido, Katschanke, Agome-Palime, Porto Seguro, Yokoe, Gounkope, Anfouin, Noepe, Assahoun, Tsevie, Akode-Seva, Dekpo, Nuatja, Agbetiko, Tetetou, Tovegan, Gadjagan, Agbellouve, Agou, Kpeme, Atakpame, Sagada, Apegame, Dodo, Goudeve, Ho, Kpandu, Amedzofe, Kunja, Have, Banyakoe, vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 86. Die Orte an der Goldküste waren: Keta, Anyako, Denu, Atiteti, Dzodze, ebd.

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Abb. 1: Niederlassungen von F. M. Vietor Söhne, J. K. Vietor und Vietor & Freese in Togo, der östlichen Goldküste und der Grenzregion zu Dahomey vor 1914206

206 Die Abbildung stellt eine nur auf die Firmen F. M. Vietor Söhne, J. K. Vietor und Vietor & Freese bezogene, entsprechend bearbeitete Version der Vorlage von Hartmut Müller dar, vgl. ders., 1973 (wie Anm. 26), S. 111. Bei Müller fehlende Orte wurden nachgetragen, die Orte Kunja und Banyako konnten nicht ermittelt werden, was möglicherweise auf inkorrekte Orthographie der angegebenen Ortsnamen zurückzuführen ist. Teilweise weichen die hier von Müller angegebenen Ortsnamen geringfügig von denen ab, die sich in den Firmen-Unterlagen finden.

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Abb. 2: Niederlassungen von Vietor & Lohmann und Vietor & Freese in Dahomey vor 1914207

207 Die Abbildung stellt eine nur auf die Firmen Vietor & Lohmann (unterpunktete Orte) und Vietor & Freese (unterstrichene Orte) bezogene und teilweise erweiterte Version der Vorlage von Hartmut Müller dar, vgl. ders., 1973 (wie Anm. 26), S. 112. Einige Niederlassungsorte der Firmen konnten nicht ermittelt werden, was möglicherweise an inkorrekter Orthographie der angegebenen Ortsnamen liegt. Teilweise weichen die hier von Müller angegebenen Ortsnamen geringfügig von denen ab, die sich in den Firmen-Unterlagen finden.

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3 Aufbau des Firmennetzes bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Tabelle 1: Ausfuhr-Umsätze der in Togo und Dahomey tätigen Vietorfirmen zwischen 1897 und 1911 in Mark (ohne die Firma F. M. Vietor Söhne)208 Zeitraum 1897/1911 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911

Umsätze der Firma J. K. Vietor 549.594,862.844,1.551.288,2.054.871,2.320.694,3.235.339,1.574.220,1.204.598,851.336,623.640,827.313,1.138.574,1.368.386,937.857,898.524,-

Umsätze der Firma Vietor & Lohmann

1.286.043,1.722.320,1.233.302,1.796.918,1.776.723,1.536.324,2.206.026,1.702.820,1.487.258,-

Umsätze der Firma Vietor & Freese

6.678,494.546,602.274,784.866,754.301,1.195.236,1.153.971,-

Für die beiden in Togo arbeitenden Hauptfaktoreien der Firma F. M. Vietor Söhne zusammen, Lome und Palime, gibt Vietor im Durchschnitt der Jahre 1910/12 einen Einfuhr-Umsatz von 419.000,- Mark an. Für den gleichen Zeitraum schätzt er den durchschnittlichen Einfuhr-Umsatz Anechos auf 250.000,- Mark, was zusammen einen durchschnittlichen Jahreswert der Einfuhren von 669.000,- Mark ergibt.209 Damit verfügten die Vietorfirmen nach Vietors Berechnungen über einen Anteil an den Gesamteinfuhren Togos von 8,15 %, ohne Berücksichtigung des Spirituosenhandels.210 Da Vietor mit veralteten Einfuhrzahlen rechnete, lag der tatsächliche 208 Aufstellung der Umsätze der Firmen J. K. Vietor, Vietor & Lohmann und Vietor & Freese 1897–1911, StAB, 7,73-50, Bl. 338f. Die „Umsätze“ beziehen sich hier nur auf die Ausfuhren, die Einfuhren sind nicht inkludiert. Der Einschluß der Umsätze aus dem Geschäft der Firma J. K. Vietor in Südwestafrika muß angenommen werden. Die Tabelle ist auch abgedruckt bei Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 89. 209 Die von Vietor sehr niedrig geschätzte Einfuhr des Anechogeschäftes, das die Einfuhrzahlen der Firma J. K. Vietor resp. Vietor & Freese nach Togo wiedergibt, steht in auffälligem Mißverhältnis zu den hohen Ausfuhrzahlen der beiden Firmen. 1913 hielten sich Aus- und Einfuhren des Vietorschen Gesamtgeschäftes in etwa die Waage (47,3 : 52,7), in der Nachkriegszeit überwogen die Ausfuhren dagegen deutlich (1927: 62,5 %), s. Kap.7.3. 210 J. K. Vietor an Freese vom 23.9.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 429. Das Gesamteinfuhrvolumen

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prozentuale Anteil der Vietorgeschäfte an der Gesamteinfuhr Togos, ohne Spirituosen, allerdings nur bei nur 6,73 %.211 Die Umsatzzahlen sagen allerdings wenig aus über die Rentabilität der Firmen. Bei der großen Zahl an Verkaufsplätzen und den damit einhergehenden nicht unerheblichen Immobilien-, Grundstücks- und Personalkosten steckte ein wesentlicher Anteil des eingesetzten Kapitals im Geschäft fest. Hinzu kamen Fehleinschätzungen der häufig schwankenden Geschäftslage, was zu hohen Lagerbeständen führen konnte, die in der Folge nicht selten weit unter Wert verkauft wurden.212 Angaben zu den Geschäftsergebnissen finden sich in den Geschäftsunterlagen nur vereinzelt oder nur für einzelne Orte, für die Zeit vor 1897 so gut wie gar nicht. Im Krisenjahr 1897 rechnete Vietor mit einem Gesamtverlust aller Unternehmungen von rund 20.000,- Mark.213 Die Gewinnangaben von 1899 für Grand Popo (12.000,- bis 15.000,- Mark)214 und Porto Novo (31.866,66 Frs.)215 zeigen dagegen bereits die konjunkturelle Erholung im Westafrikageschäft an, die Ende der 1890er Jahre ein-

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Togos nimmt Vietor für den genannten Zeitraum mit 8.800.000,- Mark an, von denen er 600.000,- Mark für Branntweineinfuhr abzog, um den Vietoranteil an nicht alkoholischen Einfuhren Togos berechnen zu können. Der Wert der Gesamteinfuhr lag 1910 bei 10,81 Millionen Mark, 1911 bei 9,62 Millionen Mark, 1912 bei 11,42 Millionen Mark. Abzüglich der Einfuhrwerte für Spirituosen, die bei 555.000 Mark (1910), 769.000 Mark (1911) und 708.000 Mark (1912) lagen, ergibt sich daraus für die Jahre 1910/12 ein gemittelter Einfuhrwert, ohne Alkoholimporte, von 9,94 Millionen Mark, vgl. die Einfuhrstatistiken bei Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 387, 400 und Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 318. „Wie ärgerlich, daß wir so wahnsinnig viel Geld in Gebäude und Land festlegen müssen, so daß uns immer das bare Geld fehlt“, J. K. Vietor (Duala) an Hedwig Vietor vom 2.10.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Nach Vietors Einschätzung steckten damals 300.000,- Mark zu viel im Afrikageschäft fest: „In Geldverlegenheiten sitzen wir ja immer […] Hier im Geschäft haben wir beinahe 300.000 M. zu viel – Kölle handelt viel zu selbstherrlich und befolgt meine Instruktionen viel zu wenig,“ J. K. Vietor (Grand Popo) vom 10.11.1912, ebd. Bei den 300.000,Mark handelte es sich um Überkapazitäten und hohe Lagerbestände, die nicht zügig verkauft werden konnten, vgl. J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 12.11.1912, ebd. Bei schlechter Konjunktur drückte der hohe Mitarbeiterstamm zusätzlich auf die Kosten und damit auf das Geschäftsergebnis: „Für das schlechte Geschäft haben wir zu viele Leute an der Küste“, vgl. J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 23.5.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Otto Lohmann konnte in Porto Novo einen Gewinn von 5000,- Mark erwirtschaften, der je zur Hälfte an Hans Lohmann und J. K. Vietor ging, vgl. J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 12.9.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Zugleich aber mußte für Ouidah ein Verlust von 8.000,- Mark hingenommen werden. Hinzu kamen weitere Verluste an anderen Orten, sodass trotz der Kostendämpfungen in Höhe von 20.000,- Mark, die Vietor während seiner Inspektionsreise veranlassen konnte, der Gesamtsaldo einen Verlust von 20.000,- Mark aufwies, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 17.10.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Müller geht irrtümlich davon aus, dass allein in Ouidah ein Verlust von 30.000,- Mark eingefahren wurde. Bei dem Betrag handelte es sich jedoch um alle Verluste, die durch den Gesamtgewinn des Geschäftes in Porto Novo und Bremen mit zusammen 10.000,- Mark abgemildert wurde, vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 89. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 89. Hauptbuch (Capitalkonto), StAB, 7,2001-1149, Bl. 60. Im Kapitalkonto für Johannes Lohmann wird per 1.11.1899 ein Gewinn für Porto Novo von 15.933,33 Frs. ausgewiesen. Da diese An-

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setzte. Der positive Trend setze sich in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende fort und führte zu Rekordgewinnen. Zwischen 1903 und 1908 flachte die Gewinnspanne dagegen deutlich ab, um zwischen 1909 und 1912 erneut auf sehr hohem Niveau zu verharren. Tabelle 2: Geschäftsgewinne im Togo- und Dahomeygeschäft 1900 bis 1913 in Mark216 Geschäftsjahr 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913

216

217 218 219

Vietor & Lohmann (Dahomey)217 32.793,16220 56.860,02 79.060,54 ca. 12.000,00224 8.110,72 - 3.746,78227 - 8.004,16 6003,22230 - 5.861,14 68.311,08 62.357,38 56.762,32 39.070,68 1.780,82

Vietor & Freese (Togo/Dahomey)218 48.604,00221 23.402,00 6.000,00223 k. A. k. A. 3.635,86228 14.449,20 8.568,36231 30.099,10 68.693,72 70.587,86 26.553,98233 59.557,98234 30.991,38236

J. K. Vietor (Togo/Bremen)219 42.013,21 ca. 32.300,00222 37.762,62 ca. 2.000,00225 - 1.165,36226 ca. 6.500,00229 k. A. 4.863,72232 k. A. 7.284,55 7.268,80 14.676,95 9.215,70235 19.667,45

gabe nur den Gewinnanteil Lohmanns widerspiegelt, belief sich der Gesamtgewinn auf die doppelte Summe. Alle Gewinnangaben stammen aus dem Kapitalkonto (Hauptbuch) Vietors, sind hier aber teilweise nur mit Mühe erkennbar. Die angegebenen Gewinn- und Verlustangaben für die Firmen Vietor & Lohmann sowie Vietor & Freese beziehen sich jeweils auf den Anteil Vietors, müssen daher mit dem Faktor 2 multipliziert werden, um das Gesamtgeschäftsergebnis zu ermitteln. Deckungsgleiche Gewinnangaben finden sich auf den Seiten der jeweiligen Firmen, sofern sie abgedruckt sind, StAB, 7,2001-1149. Die Gewinnangaben im Hauptbuch führen offensichtlich nur den Teil der Gewinne oder Verluste auf, die zur Steigerung oder Minderung des Eigenkapitals führten. Der Anteil am jeweiligen Geschäftsgewinn, der für Investitionen oder für Beteiligungen an anderen Firmen verwendet wurde, läßt sich mit dem Hauptbuch nicht nachweisen. Bis 1902 als Angaben für Porto Novo und Quidah (nur am 1.7.1902), ab 1903 als Angaben für Vietor & Lohmann. Angaben bis 1901 für Klein Popo, ab 1906 für Vietor & Freese. Die hier zusammengefassten Gewinnangaben geben bis 1902 in erster Linie die Gewinne aus dem Importgeschäft in Bremen wieder. Für die Importgewinne von Vietor & Lohmann werden sie ab 1903, für Vietor & Freese ab 1906 nicht mehr hier angegeben, sondern mit den Export-

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Erstaunlich gute Ergebnisse erzielte die alte Stammfirma F. M. Vietor Söhne und erreichte teilweise Gewinnraten wie sie „im regulären kaufmännischen Geschäft wohl ganz ausserordentlich selten“ vorkamen. Die hohen Gewinne versetzten Vietor in die Lage, die Anteile der Erbengemeinschaft am Geschäft in Höhe von 483.472,- Mark bereits 1912 mehr als abzulösen.237 Um die Familie angemessen am Erbe des Onkels zu beteiligen, war 1906 vereinbart worden, dass die Geschäftsgewinne über einen Zeitraum von zehn Jahren an die Erbengemeinschaft ausbezahlt werden sollten, danach würde die Firma ganz in den Besitz J. K. Vietors übergehen.238

220 221 222 223 224

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gewinnen der betreffenden Firmen zusammen ausgewiesen. Ab 1906 stellen die hier aufgeführten Gewinnangaben nur noch die Gewinne aus dem Importgeschäft der Firma J. K. Vietor mit den Arbeitsgebieten in Togo und später auch Südwestafrika dar. Inwieweit auch die Exportgewinne hier einfließen, wird nicht geklärt. Die Gewinnangabe erfolgt ab 1908 teilweise nicht mehr unter dem Begriff „Bremen“ oder „hiesiger Gewinn“ sondern auch unter den Begriffen „J.K.V.“, „Gewinn“ oder „Gewinn des Geschäftes“. Gemäß Gewinnangabe für Porto Novo vom 1.10.1900. Gemäß Gewinnangaben für Klein Popo vom 1.4.1900 und 1.11.1900. Die Angaben für 1901 sind nur in den ersten zwei, respektive drei Stellen lesbar, der exakte Gewinn mag daher um einige hundert Mark abweichen. Gemäß Gewinnangabe vom 1.10.1902. Die Gewinnangabe für 31.12.1903 ist nicht lesbar, muß aber nach den Zahlen der Gesamtzusammenstellung etwa 1000,- Mark betragen haben, was für das gesamte Geschäft einen Gewinn von 2.000,- Mark bedeutet. Die Gewinnangabe am 1.7.1903 teilt sich in eine Angabe für Vietor & Lohmann und eine für das Geschäft in Porto Novo, was auf eine getrennte Gewinnausweisung des Im-, respektive Exportgeschäftes hinweist. Der Gesamtbetrag am 1.7. belief sich auf 9.850,36 Mark. Die Gewinnangabe für 1.7.1903 ist nicht lesbar, muß aber nach den Zahlen der Gesamtzusammenstellung etwa 1.000,- Mark ausgemacht haben. Am 1.1.1904 wird der Gewinn für das 2. Halbjahr 1903 mit 968,02 Mark ausgewiesen. Für Der starke Gewinnabfall zu den Vorjahren steht im Zusammenhang mit der Gründung der Firma Vietor & Lohmann in Bremen 1902, über die ab 1903 auch die Importgewinne für das überwiegende Dahomeygeschäft abgerechnet wurden. Der Verlust bezieht sich nur auf das zweite Halbjahr, Angaben zum ersten Halbjahr fehlen. Für 1905 liegt nur die Abrechnung zum 1.7.1905 vor. Die Summe erschließt sich aus dem Vermögensangaben Vietors für 1905. Die Angabe vom 1.7.1905 ist nur in der ersten Stelle lesbar (7.000). Der exakte Gewinn kann daher um einige hundert Mark abweichen. Am 31.12.1905 wird ein Verlust für das 2. Halbjahr von 682,51 Mark ausgewiesen. Laut Angabe vom 1.1.1908, Angaben für das erste Halbjahr 1907 fehlen. Laut Angabe vom 1.1.1908, Angaben für das erste Halbjahr 1907 fehlen. Laut Angabe vom 1.1.1908, Angaben für das erste Halbjahr 1907 fehlen. Für 1911 wird nur der Wert vom 1.7.1911 angegeben, die Angabe vom 31.12.1911 fehlt. Für 1912 wird nur der Wert vom 1.1.1913 angegeben, die Angabe vom 1.7.1912 fehlt. Für 1912 wird nur der Wert vom 1.1.1913 angegeben, die Angabe vom 1.7.1912 fehlt. Für 1913 wird nur der Wert vom 1.1.1914 angegeben, die Angabe vom 1.7.1913 fehlt. J. K. Vietor an seine Geschwister vom 19.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 122. Vereinbarung mit der Erbengemeinschaft vom 25.3.1906, VPAH, Konv. 5, Mappe 4, S. 3. Für die Geschäftsführung standen Vietor jährlich 6.000,- Mark zu, die noch vor Verteilung des Gewinnes abgezogen werden konnten, worauf Vietor aber i.d.R. verzichtete. F. M. Vietor hatte „in einem lichten Moment“ seine testamentarische Bestimmung zur Liquidation des Geschäf-

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Tabelle 3: Gewinnzahlen der Firma F. M. Vietor Söhne 1907–1912239 Geschäfts- Gesamtjahr gewinn (in Mark)

davon in Keta (bis 1908 in £)

davon in Lome (in Mark)

davon in Palime (in Mark)

1907

48.220,-

- März: 18.6.00 - Aug.: 17.0.00

- März: 7.580,- Aug.: 9.000,-

- März: 12.200,- Aug.: 17.000,-

1908

63.100,-

- März: 16.3.00 - Aug.: 16.9.98

- März: 20.200,- Aug.: 1.920,-

- März: 17.000,- Aug.: 2.386,-

1909

129.340.-

- März: 17.300,- - März: 18.073,- Aug.: 29.400,- - Aug.: 20.855,-

- März: 17.300,- Aug.: 26.500,-

1910

190.270,-

- März: 32.340,- - März: 39.660,- Aug.: 18.700,- - Aug.: 23.650,-

- März: 39.420,- Aug.: 36.500,-

1911

102.242,-

- März: 15.959,- Aug.: 22.110,-

- März: 10.663,- Aug.: 30.063,-

- März: 17.245,- Aug.: 6.201,-

1912

121.494,-

- März: 24.227,- - März: 26.780,- Aug.: 14.000,- - Aug.: 5.040,-

- März: 27.806,- Aug.: 23.640,-

tes widerrufen und ihm die Weiterführung des Geschäftes übertragen, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 56. Einen entsprechenden Brief sandte Vietor nach Ableben des Onkels an die anderen Erben, J. K. Vietor an Erben vom 26.2.1906, VPAH, Konv. 5, Mappe 4, S. 2. Das Vermögen F. M. Vietors betrug bei dessen Tod 1.460.593,93 Mark, wovon etwa 1,4 Millionen Mark zur Verteilung kamen. Nach Abzug der Erbschaftssteuer (etwa 100.000,- Mark), Rückzahlung der Firmeneinlage von Tante Helene in Höhe von 339.000,Mark und einem reservierten Betrag von 150.000,- für Stiftungen, verblieb den Erben eine Erbmasse von 811.000,- Mark. Davon steckten etwa 600.000,- Mark im Afrikageschäft fest, 200.000,- bis 250.000,- Mark waren aber als Rückfluß in Form von Rimessen kurzfristig zu erwarten und an die 15 Erben verteilbar, vgl. J. K. Vietor an Erben vom 26.2.1906, VPAH, Konv. 5, Mappe 4. 239 Ergebnisse in Afrika [für die Firma F. M. Vietor Söhne], StAB, 7,73-51, Bl. 179. Die Angaben weichen von den jährlichen Gewinnmitteilungen Vietors an die Erbengemeinschaft ab, soweit sie vorliegen. Das Jahresergebnis für 1911 hatte Vietor ihnen gegenüber mit 139.967,47 Mark angegeben, das für 1912 mit 131.078,30 Mark, J. K. Vietor an seine Geschwister vom 19.2.1912 und 31.3.1913, StAB, 7,73-50, Bl. 122, 494. Möglicherweise hat Vietor in der Gesamtaufstellung der Jahre 1907 bis 1912 bereits die Einkommenssteuer sowie die obligatorische Spende an die NMG in Höhe von 12.000,- Mark abgezogen.

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1913 brach der Gewinn der Firma F. M. Vietor Söhne merklich ein und belief sich nur noch auf 68.012,02 Mark.240 Neben den klassischen Handelsgebieten an der Gold- und Sklavenküste, konnte Vietor nach der Jahrhundertwende auch in Liberia, Kamerun und Südwestafrika Filialen eröffnen. Das Geschäft in Liberia, das 1900 mit der Eröffnung einer ersten Faktorei in Grand Bassa/Liberia begonnen hatte, war auf Drängen von Vietors Mitarbeiter Oskar Huber aufgenommen worden, der wie Lohmann und Freese eine Teilhaberschaft suchte.241 Im Juni 1902 führte das Engagement in Liberia zur Gründung der Firma Vietor & Huber, in die 1905 auch Vietors Neffe Friedrich Martin als dritter Teilhaber aufgenommen wurde.242 Friedrich Martin war wesentlich beteiligt am Ausbau des Filialnetzes, insbesondere an den Gründungen in Marshall Junk, Cape Palmas, Nana Kru (Nankroo) und Sinoe.243 Ab 1906 entstanden entlang der mittleren und südlichen Küste Liberias sowie im dazugehörigen Hinterland weitere Faktoreien und Buschplätze, die jeweils einer der beiden Hauptfaktoreien, Grand Bassa und Sinoe, zugeordnet waren. Während Vietor und Huber in den größeren Faktoreien an der Küste europäisches Personal einsetzten, bedienten die Verkaufsläden im Busch und im Hinterland einheimische „Contractors“,244 da Europäern die Niederlassung im Landesinneren nicht gestattet war. Sie hatten lediglich Zuzugsund Aufenthaltsrecht in den „Port of Entries“ an der Küste. Die einheimischen Händler in Vietors Diensten bekamen jeweils Waren im Wert von $ 500 bis $ 1.000,-, die sie gegen Palmöl, Palmkerne und vor allem Piassava eintauschten und diese Waren dann mit Booten in die Hauptfaktoreien sandten. Dieses in Westafrika als Truk-System bekannte Verfahren basierte zwar auf hohen Gewinnmargen, da die meisten Händler ihre Außenstände jedoch niemals vollständig abbezahlten, waren nicht einmal Gewinnraten von 100 % ausreichend, um überhaupt ein lohnendes Geschäft zu machen. Die hohe Quote nicht eintreibbarer Außenstände blieb charakteristisch für das Liberiageschäft und war der eigentliche Grund für die schwachen Ergebnisse.245 Bis 1914 waren insgesamt 33 Niederlassungen von Vietor & Huber entstanden.246 Ähnlich wie in Dahomey beherrschten auch in Liberia deutsche Fir240 J. K. Vietor an Erbengemeinschaft vom 19.2.1914, StAB, 7.73-53, Bl. 205. Zur Verteilung gelangten nach Abzug der Einkommenssteuer (16.208,70 Mark) und erhöhter Spende an die Mission (14.475,60 Mark) nur 37.327.72 Mark. 241 Vietor, 1905/1930 (wie Anm. 2), Geschäftliches, S. 53. Huber hatte erst im Alter von 24 Jahren bei Vietor angefangen und war zu Beginn der Arbeit in Liberia 27 Jahre alt, ebd. 242 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 93. Friedrich Martin (1880–1941), genannt Fritz, war der Sohn von J. K. Vietors ältestem Bruder aus erster Ehe seines Vaters, Pfarrer Friedrich Martin Vietor (1845–1909) aus Köln–Kalk, Prüser, Friedrich, 1971: Die Vietor aus und in Bremen, S. 329. 243 Prüser, Friedrich: Die Vietor aus Bremen. Überseekaufleute und Kolonialpioniere, in: Der Schlüssel. Bremer Beiträge zur deutschen Kultur und Wirtschaft 11 (1940), S. 181–185, 184. 244 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 93. 245 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 53f. 246 Zur Hauptfaktorei in Grand Bassa gehörten die selbständigen Zweigfaktoreien in Edina, Harlandsville, Hartford und Grand Collah, die Buschfaktoreien in Roadfactory, Newcess, UpperBuchanan, Blantown sowie am Gorkon und am Benson River. Zu Grand Bassa gehörte zudem ein Verkaufsladen in Monrovia. Zu Sinoe (Greenville) und Marshall Junk gehörten die Faktoreien in Shefflin, Ovensgrove und Whenzon, die Zweigfaktoreien in Sasstown, Sasstown–Kattah, Nana–Kru, Settra–Kru, Raw Creek, Po River, Tartuah, Warcountry, Parsontown sowie die

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men den Handel und erreichten 1906 einen Anteil am Handelsvolumen von 75 %. Die Geschäfte litten jedoch stark unter der politischen und finanziellen Instabilität des Landes.247 Die liberianische Regierung, die wiederholt Darlehen deutscher Firmen aufgenommen hatte, die dann mit den Zollabgaben verrechnet wurden, versuchte 1906 über ein Abkommen mit dem englischen Konsortium „The Liberian Development Company Charterd and Ltd.“ die Staatsfinanzen zu sanieren. Dabei geriet die Rückzahlung der deutschen Vorschüsse in Gefahr und trotz langwieriger Verhandlungen zwischen der liberianischen und deutschen Regierung erhielten die deutschen Firmen ihr Geld nicht mehr vollständig zurück.248 Die Unsicherheiten im Liberiageschäft führten dazu, dass die ohnehin geringen Geschäftsgewinne für 1910 (15.000,- Mark) und 1911 (45.000,- Mark) auf das „Debitoren- und Reservekonto weggebucht werden“ mussten, also zum möglichen Ausgleich zweifelhafter Forderungen zurückgestellt wurden. Außerdem gingen von diesen mageren Gewinnen auch noch Gehaltszahlungen an die jüngeren Teilhaber ab.249 Die zu geringen Erfolge im Liberiageschäft führte Vietor jedoch auch auf sein Personal zurück.250 Bereits 1905 moniert er, dass die Geschäfte „sträflich schlecht“ laufen würden und sein Partner Huber, sein Neffe Fritz und sein Schwager Enrique Augener, der vorübergehend in Liberia eingesetzt war, große Chancen verpasst hätten, hier Geld zu

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kleineren Buschplätze in Grand Buttah, Blue Barrow, Nimmoh, Ashmond, Panama, Niffou und Diu Country, vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 94f. Während der Unruhen von 1912, bei denen auch deutsche Firmen unter Überfällen zu leiden hatten, besuchte Vietor Liberia und veranlaßte mit den Firmen Oloff und West ein Telegramm an die deutsche Regierung, in dem der Verbleib der deutschen Kriegsschiffe „Panther“ und „Eber“ vor der liberianischen Küste erbeten wurde. Sie sollten erst abgezogen werden, wenn die liberianische Regierung die deutschen Erstattungsforderungen erfüllt und eine Garantieerklärung für zukünftigen Schutz abgegeben hätte. Immerhin konnte damit der Verbleib der SMS Panther erreicht werden, E. Lenz (J. K. Vietor) im Namen der Firmen J. K. Vietor, F. Oloff & Co., J. W. West ans AA vom 20.12.1912, VPAH; AA an Firma J. K. Vietor (Bremen) vom 24.12.1912, ebd. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 93f. Müller gibt folgende Forderungen deutscher Firmen an die liberianische Regierung an: Woermann ($ 80.000), Wiechers & Helm ($ 60.000), J. W. West ($ 60.000), C. Kuhrmann (§ 2.500), Vietor & Huber ($ 5.000). 1913 schlug der Beauftragte der geschädigten Firmen, Specht, der deutschen Regierung direkte Verhandlungen mit der liberianischen Regierung vor. Dem Auswärtigen Amt empfahl er folgende Entschädigungen für die deutschen Unternehmen: $ 6.992,73 für Vietor & Huber, $ 4.594,17 für die Firma B. K. H., $ 9.236,13 für Woermann und $ 8.053,83 für die Firma West. Danach hatten Vietor & Huber deutlich höhere Forderungen an Liberia als Müller angibt, Woermann dagegen deutlich niedrigere, ebenso wie West, J. K. Vietor an Fritz Vietor vom 10.5.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 114. J. K. Vietor an Reinhardt vom 16.10.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 2f. Das Hauptbuch (Capitalkonto) verzeichnet nur unregelmäßig Gewinn- und Verlustangaben für Liberia. Hatte das Liberia-Geschäft (im Hauptbuch wird nur einmal der Begriff „V & H“ benutzt) im 2. Halbjahr 1903 einen Gewinn von etwa 6.000,- Mark gemacht (beim Eintrag vom 31.12.1903 ist nur die erste Stelle lesbar), verzeichnet der 1.4.1904 einen stattlichen Gewinn von 20.000,- Mark, das zweite Halbjahr schloß dagegen mit einem Verlust von 1.397, 56 Mark. Für das 1. Halbjahr 1906 wird ein Gewinn von 6.000,- Mark angegeben, für das 1. Halbjahr 1907 15.928,64 Mark, für das zweite Halbjahr 1909 2.375,48 Mark, StAB, 7,2001-1149. Alle Gewinn- und Verlustangaben des Hauptbuches sind hier analog zu Vietor & Lohmann und Vietor & Freese mit dem Faktor 2 multipliziert worden. So auch in Brief an Huber, J. K. Vietor an Oskar Huber vom 24.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 215.

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verdienen. Hinzu kamen Spannungen unter den Angestellten.251 Huber hätte „nicht gerechnet und sehr viele Geschäfte gemacht, an denen nichts oder fast nichts verdient wurde.“252 Als 1912 infolge politischer Unruhen das Liberia-Geschäft ein halbes Jahr fast vollständig stockte, sah Vietor die Probleme daher nicht nur in den äußeren Umständen. „Hier sind eine Masse Fehler, wie ich schon herausgefunden habe. Erstens schmeißen sie immer die Leute heraus und nehmen andere und zwar aus Gründen, die ich absolut nicht billigen kann, indem sie ihnen um Kleinigkeiten Geld abziehen und Salair heruntersetzen; 2. ist Huber bei allen Liberianern sehr unbeliebt, weil er um alle möglichen Lappalien die größten Schwierigkeiten macht […] 3. geben die Leute immer noch auf die unverständigste Weise Kredit und so lange das im Geschäft so läuft, kommen wir niemals auf einen grünen Zweig.“253

Als 1913 klar wurde, dass die Niederlassung in Cape Palmas, im Süden des Landes, erneut hauptverantwortlich für die großen Verluste im Liberiageschäft war, setzte Vietor deren Schließung im Juli 1913 durch.254 Hintergrund der großen Verluste waren erneut Geschäfte mit der Regierung gewesen, die ihre Schulden abermals nicht bezahlte.255 Für das Liberia-Geschäftsjahr 1913 rechnete Vietor mit einem Verlust von 60.000,- Mark, woran allein Cape Palmas mit 20.000,- Mark beteiligt war.256 Aufgrund der Möglichkeit kostspielige Buschfaktoreien schließen zu können, begrüßte Vietor den geplanten Bahnbau ins Hinterland von Grand Bassa und schlug Huber eine finanzielle Beteiligung an dem Projekt vor, sofern die liberianische Regierung eine Baukonzession vergeben würde. Hatte Vietor im Falle des Bahnbaus in Kamerun 1905 noch vehement für einen Bau in staatlicher Hand votiert, sah er angesichts der schwachen Regierung Liberias nun offensichtlich allein in einem privaten Konsortium die Gewähr für eine erfolgversprechende Umsetzung.257

251 J. K. Vietor (Grand Bassa) an Hedwig Vietor vom 20.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Enrique Augener und Fritz Vietor warfen Huber Unregelmäßigkeiten bei der Verzollung von Waren vor. Eine Nach-prüfung ergab jedoch, dass es nur einmal einen Fehler beim Verzollen gegeben hatte, ebd. Das Verhältnis zwischen Huber und Fritz Vietor blieb aber angespannt, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 54. 252 J. K. Vietor (Grand Bassa) an Hedwig Vietor vom 29.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. 253 J. K. Vietor (Grand Bassa) an Hedwig Vietor vom 20.12.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Die Kritik ging aber nicht nur an Huber, sondern auch an seinen Neffen Fritz, der die Missstände ebenfalls nicht rechtzeitig entdeckt hatte. Wegen der Unruhen konnte nach Vietors Beobachtung an der halben Küste kein Handel getrieben werden, vgl. J. K. Vietor (Grand Bassa) an Hedwig Vietor vom 25.12.1912, ebd. 254 Während Grand Bassa Ende April 1913 einen Gewinn von 900,- Mark und Marshall Junk von 1000,- Mark, das Liberiageschäft insgesamt aber einen Verlust von 30.000,- Mark meldete, war klar, dass die Hauptursache dafür „wieder“ im Sinoegeschäft und in Cape Palmas lag, J. K. Vietor an Fritz Vietor vom 2.5.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 100f. Daraufhin erfolgte die Schließung von Cape Palmas im Juli 1913, J. K. Vietor an Fritz [Vietor] vom 17.7.1913, ebd. Bl. 284. 255 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 94. 256 J. K. Vietor an Oskar Huber vom 22.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 163. 257 J. K. Vietor an Oskar Huber vom 14.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 123. Von seiner Bank hatte sich Vietor bereits eine zustimmende Antwort erhalten auf seine Anfrage für ein entsprechendes Bankdarlehen.

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Abb. 3: Niederlassungen von Vietor & Huber in Liberia vor 1914258

1914 kam es zur Bildung eines Kartells deutscher Unternehmer im Liberiahandel, an dem sich auch Vietor beteiligte. Wie im Togogeschäft wollte man auch in Liberia auf Kosten des freien Wettbewerbs durch Preisabsprachen und Gewinnverteilungsquoten das eigene Geschäft stabilisieren.259 Nur wenige Wochen nach Abschluss der Vereinbarung stellte Vietor einen vollständigen Umschwung im Liberiageschäft fest und hoffte nun für die Zukunft auf „ordentliche Gewinne“.260 Nach erfolgreicher Expansion der Firma Vietor & Freese in Togo und im westlichen Dahomey, drängte Freese darauf, in Kamerun ein neues Handelsgebiet für die Firma zu erschließen, da dem weiteren Ausbau des Filialnetzes in Togo und Dahomey durch die anderen Vietorunternehmen enge Grenzen gesetzt waren.261 Es entstanden daraufhin ab 1911 Niederlassungen in Duala, Edea, Bonaberi262, Jabassi,263 Bellstadt, Akwa, Nkongsamba sowie einige kleinere Buschfaktoreien.264 258 Die Abbildung ist entnommen Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 95 und wurde um einige Ortsangaben ergänzt. Einige Orte, insbesondere die kleinerer Buschfaktoreien, konnten nicht ermittelt werden, was möglicherweise auch an inkorrekter Orthographie der angegebenen Ortsnamen liegt. 259 Am 23.2.1914 wurde auf einem Treffen in Hamburg ein „Consortium“ gebildet, das sogleich einen Unterausschuß ins Leben rief, der aus Woermann, Warburg und Wichers bestand. Jantzen & Thormählen beteiligten sich mit 5.000,- Mark am Consortium, Vietor und Oloff mit je 2.500,- Mark, J. K. Vietor an Oskar Huber vom 24.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 216. 260 J. K. Vietor an E. Lenz vom 1.4.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 333. 261 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 76. 262 J. K. Vietor (Duala) an Hedwig Vietor vom 8.10.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 263 J. K. Vietor (Duala) an Hedwig Vietor vom 12.10.1912, ebd. 264 J. K. Vietor an Max Preiswerk (Duala) vom 10.1.1921, StAB, 7,73-5. In Bellstadt hatten Vietor

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Auch in Njombe gab es einen Handelsposten.265 Für 1914 waren für Jaunde266 und Bellbeach267 weitere Stützpunkte geplant.268 1912 machte das Kamerungeschäft bereits den gleichen Umsatz wie das zu diesem Zeitpunkt stark stockende Geschäft in Liberia, setzte dafür aber nur ein Drittel des dort investierten Kapitals ein.269 Das Kamerungeschäft gab trotz Rentabilitätsproblemen in einigen Faktoreien270 insgesamt Anlass zu großen Hoffnungen für die zukünftige Entwicklung.271 1912 konnte bei einem Umsatz von 160.000,- Mark ein Gewinn von 40.000,- Mark erzielt werden, mithin eine Umsatzrendite von 25 %, ein Ergebnis wie es in keinem anderen Arbeitsgebiet Vietors erreicht wurde. 1913 konnte der Umsatz zwar durch den stark gestiegenen Handel mit Baumaterialien auf 282.000,- Mark erheblich gesteigert werden, die Umsatzrendite fiel jedoch auf 18 %, was einem Gewinn von 50.760,Mark entsprach. Ein Grund für den Rückgang der Gewinnquote lag in den hohen Personalkosten aufgrund der hohen Beschäftigungszahl weißer Mitarbeiter,272 ein anderer darin, dass mit Baumaterialien grundsätzlich nicht mehr als 25 % verdient werden konnte, teilweise nur 10 %.273

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& Freese das Hotel Kaiserhof als Niederlassung gemietet, in Bellstrand besaßen sie ein Grundstück mit Wellblechgebäude und eigener Landungsbrücke direkt neben der Regierungsbrücke. In Akwa hatte man das ehemalige Handelshaus der baptistischen Mission angemietet, in Edea stand die Faktorei auf der Marktstrasse, gegenüber dem Gebäude der Basler Missionshandelsgesellschaft. Die Faktorei in Nkongsamba befand sich in der Nähe des Bahnhofs. In Bonaberi hatte man am Fluß eine „wunderschöne“ neue Faktorei gebaut, die aber vor dem Krieg nicht mehr bezogen werden konnte, ebenso wie das kurz vor dem Krieg erbaute Faktoreigebäude in Jabassi. In Bonaduma konnte der Handel nicht mehr aufgenommen werden. Hier war einige Wochen vor Kriegsausbruch noch ein Grundstück mit Haus gekauft worden. Eine Faktorei in Jaunde scheint nicht mehr entstanden zu sein, jedenfalls erwähnt sie Vietor gegenüber Preiswerk nicht, den er bat, während seines Aufenthaltes in Kamerun nach seinen Niederlassungen zu schauen. J. K. Vietor an Fresse vom 13.12.1913, StAB, 7-73-52, Bl. 304. J. K. Vietor an C. Freese [Kamerun] vom 21.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 161. Freese wollte zu diesem Zweck im Januar 1914 nach Jaunde reisen. J. K. Vietor an C. Freese vom 24.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 222. Im Dezember 1913 stimmte Vietor dem Kauf des bisherigen Gründstücks der Baptistenmission in Duala für 40.000,- Mark zu sowie dem Erwerb eines Regierungsgeländes in Duala für 60.000,- Mark. Sein erstes Angebot an die Baptisten über 30.000,- Mark hatten diese abgelehnt, J. K. Vietor an Fresse vom 13.12.1913, StAB, 7-73-52, Bl. 304. J. K. Vietor (Duala) an Hedwig Vietor vom 8.10.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. J. K. Vietor (Kamerun) an Hedwig Vietor vom 24.10.1912, ebd. J. K. Vietor (Duala) an Hedwig Vietor vom 8.10.1912, ebd. Große Zuversicht über die Chancen im Kamerun-geschäft hatte auch Freese für das Jahr 1914, J. K. Vietor an C. Freese vom 4.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 98. Auf seiner Inspektionsreise 1913/14 stellte Freese daraufhin einige schwarze Mitarbeiter an, J. K. Vietor an C. Freese vom 1.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 208. J. K. Vietor an C. Freese vom 27.9.1913, StAB, 7-73-51, Bl. 445f. Den hohen Anteil an weißem Personal sieht Vietor als typisches Kennzeichen des Handels in Kamerun. In Duala konnte eine Gewinnspanne beim Baumaterial von 20 % erreicht werden, vgl. J. K. Vietor an C. Freese [5.11.1913], StAB, 7,73-52, Bl. 83.

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Abb. 4: Niederlassungen von Vietor & Freese in Kamerun bis 1914274

274 Der Abbildung liegt eine Vorlage von Horst Gründer zugrunde, in die die Faktoreistützpunkte von Vietor & Freese eingezeichnet wurden, vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 9), S. 253. Orte mit in Betrieb genommenen Faktoreien sind durchgängig unterstrichen, Orte mit geplanten Faktoreien sind gestrichelt unterstrichen. Allein in Duala und seinen Nebenorten arbeiteten 1914 drei Faktoreien (Duala, Bell-Stadt, Akwa-Stadt), zwei standen kurz vor Inbetriebnahme (BellBeach, Bonaduma).

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Neben der Gründung von gemeinsamen Firmen mit bislang leitenden Angestellten fand Vietor in Geschäftsbeteiligungen ohne direkten Einfluss auf das operative Geschäft einen weiteren Weg, bewährte Mitarbeiter, die sich selbständig machen wollten, auch zukünftig an sich zu binden. Dadurch hoffte er, mit der Zeit ein weltweit agierendes Firmennetz aufbauen zu können.275 „Dann habe ich aber auch noch eine Art von Geschäft gemacht, in dem ich den Herren, die sich geschäftlich bei uns bewährt hatten, mit denen ich aber in christlicher oder anderer Beziehung nicht innerlich harmonierte, einen Kredit gab, und ich als Einkäufer meine gute Kommission bezog. Diese Herren waren Weber, Dietrich, Madeiros und Zimmermann. Diese Geschäftsart hat sich außerordentlich bewährt, und ich habe mit allen den Herren sehr freundschaftlich und nett verkehrt.“276

Heinrich Dietrich setzte von Anfang an auf das seit langem von Vietor favorisierte Kakaogeschäft der Goldküste.277 Bereits 1902 hatte Vietor versucht, den Anbau von Kakao auch in Togo zu fördern. Zu diesem Zweck hatte er größere Mengen togoischen Kakaos aus Palime gekauft und Proben davon an die Kolonialabteilung gesandt.278 Auf der folgenden Kolonialratssitzung stellte er in Anlehnung an die erfolgreiche Unterstützung der Kakaobauern in der Goldküstenkolonie einen Antrag auf Förderung des Kakaoanbaus in Togo. Bei dem Kauf von Kakao in Palime hatte er bereits „durch Zahlung möglichst hoher Preise“ ein Zeichen gesetzt, um damit die bäuerliche Produktionsweise afrikanischer Farmer zu fördern.279 Die Verwaltung in Togo zögerte jedoch, den bäuerlichen Kakaoanbau in Togo engagiert zu fördern, obwohl Gouverneur Horn bereits 1902 feststellen konnte, dass im Togogebirge und im Grenzbereich zur Goldküstenkolonie bäuerliche Kleinplantagen entstanden waren. Obwohl er zu dem Ergebnis kam, „die Kakaovolkskultur würde auch hier gute Voraussetzungen finden,“ befürchtete er gleichzeitig eine nicht gewünschte Konkurrenz zum aufwendiger produzierten Kakao in den Kameruner Großplantagen.280 Eine gezielte Förderung fand daher zu Vietors Bedauern nicht statt,281 was sich bald als schwerwiegender Fehler erweisen sollte. Nach nur 20jähriger Forcierung des Kakaoanbaus in bäuerlicher Hand durch die Verwaltung der 275 J. K. Vietor (Tarquah) an Hedwig Vietor vom 3.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Für seine Söhne hoffte er, dass sie einmal aus seinem Geschäft, zusammen mit den vielen Beteiligungen, „einen Weltkram“ machen könnten, ebd. 276 Begleitschreiben zum Testament [1926], VPAH, Konv. 5, Mappe 5, S. 3. 277 Zu Dietrich & Co. vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 90–92. 278 J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 18.3.1902 und 26.3.1902, BAB, R 1001-8067, Bl. 3, 5. 279 KR am 28.6.1902, BAB, 1001-6992, Bl. 71, S. 5. Die Kakaoausfuhr aus der Goldküste betrug 1912 rund 39.000 t im Wert von 32,8 Millionen Mark, 1913 stieg die Ausfuhr auf 51.000 t im Wert von 49,8 Millionen Mark, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 398. Bedenkt man, dass die Gesamtausfuhr Togos im Jahre 1912 einen Wert von 9.958.903,- Mark erreichte, so überstieg allein die Kakaoausfuhr der Goldküste die Gesamtausfuhr Togos um mehr als das Dreifache! Vgl. Amtlicher Jahresbericht 1912/1913 (wie Anm. 175), S. 292. 280 Horn an Kol. Abt. vom 10.8.1902, BAB, R 1001-8067, Bl. 7f. 281 Vietor kritisierte später diese Unterlassung und verwies auf die Erfolge, die seit der Jahrhundertwende im Kakaoanbau der Goldküste stattgefunden hätten. Für 1913 erwartete er eine Kakaoausfuhr aus der Goldküste im Wert von annähernd 50 Millionen Mark, vgl. Vietor, 1913 (wie Anm. 147), S. 114.

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Goldküstenkolonie, erreichte der Anteil des hier produzierten Kakaos 1913 beinahe ein Viertel der Weltproduktion, während der Anteil aus Togo nur bei 0,15 % lag.282 Die Firma Dietrich & Co. hatte sich zwischen 1904 und 1908 mit Niederlassungen in Tarkwa und Sekondi,283 ab 1911 auch in Accra,284 an der Goldküste etabliert, führte Industrieerzeugnisse, Textilien und europäische Lebensmitteln ein und Kakao aus. Vietor hatte die Kommission für das Geschäft in Bremen übernommen. Während Dietrich und sein Partner Zimmermann 1908/09 noch voller Hoffnung große Quantitäten an Kakao einkauften,285 entwickelte sich das Geschäft in der Folge nicht rentabel genug. Zimmermann musste 1911 wegen zu hoher Verschuldung gegenüber Vietor als Kommissionär aus der Teilhaberschaft ausscheiden. Für ihn trat Vietors Schwager, Andreas Augener in die Firma ein. Bereits Anfang 1912 kam es zu einer Aufteilung des Geschäftes. Während Dietrich den Betrieb in Sekondi und Tarkwa weiterführte, übernahm Augener das Geschäft in Accra, für dessen eigenständige Führung Vietor ihm 50.000,- Mark als Kredit zur Verfügung stellte. Unter der Bedingung, dass Augener Vietors Neffen Rudolf Mau ins Geschäft aufnähme, erhöhte Vietor die Summe bald darauf auf 100.000,- Mark, worauf sich die neue Firma als „Augener & Mau“ konstituierte.286 Im Sommer 1912 schoss Vietor angesichts guter Geschäftsaussichten287 nochmals 100.000,- Mark nach, unter der Bedingung, diese Summe am Ende der Kakaosaison zurück zu erhalten.288 Von einer Rückzahlung konnte jedoch aufgrund des unerwartet schlech282 1913 betrug die Weltproduktion 225.500 t, aus der Goldküste kamen davon 51.279 t, aus Togo nur 335 t, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 2), S. 431. Sebald weist daher zu Recht daraufhin, dass der Kakaoexport aus Togo bis zum Ersten Weltkrieg einen vergleichbaren Aufschwung wie in der Goldküste hätte nehmen können, wenn die Schutzgebietsverwaltung bereits um die Jahrhundertwende den Anbau durch afrikanische Bauern entscheidend gefördert hätte, ebd., S. 427. 283 J. K. Vietor an Dietrich vom 17.1.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 46–48; Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 90. 284 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 90. 285 Bis Ende Oktober 1908 wollte Dietrich für 30.000,- bis 50.000,- Mark Kakao verschifft haben und während der Saison, im Januar/Februar 1909, sollten weitere Aussendungen in Höhe von 60.000,- Mark folgen. Im Falle einer erfolgreichen Abwicklung wollte Vietor das Geschäft auch nach Kumassi und Ashanti ausdehnen, J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 25.10.1908, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Dietrichs Partner Zimmerman hatte Anfang November 1908 bereits 1.300 Sack Kakao für 75.000,- Mark gekauft und wollte in der Saison am Jahresanfang monatlich Kakao im Wert von 30.000,- Mark einkaufen. Vietor gestand ihm jedoch nur ein monatliches Volumen von 20.000,- Mark zu, J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 8.11.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. 286 Mau war im November 1909 erstmals für die Firma F. M. Vietor Söhne nach Afrika ausgereist. Bis Oktober 1910 arbeitete er in der Bremer Faktorei in Lome und wurde dann als Stationsleiter nach Keta versetzt, Zeugnis für Herrn Rudolf Mau vom 12.9.1926, StAB, 7,73-19. 287 In Accra sah Vietor „kolossale“ Gewinnchancen, J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 5.9.1912 und vom 8.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Ähnliche gute Chancen sah er auch für Dietrich, obwohl er sich gezwungen sah, 12 % Zinsen für seinen Kredit zu berechnen, da die Banken in Deutschland wegen des stockenden Geschäftes ab Mitte 1912 einen entsprechend erhöhten Zinssatz forderten, J. K. Vietor an Dietrich vom 1.6.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 344f. Trotzdem war Vietor sehr zufrieden mit Dietrichs Arbeit, J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 28.8.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 288 J. K. Vietor an [Rechtsanwalt] vom 31.3.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 313.

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ten Jahresabschlusses keine Rede sein.289 Stattdessen bat Augener im Frühjahr 1913 um weitere 200.000,- Mark Kredit.290 Als Vietor ablehnte, überzeugte Augener im Sommer 1913 seinen alten Schulfreund Reinhard Hoffmann, die Firma für 400.000,- Mark zu übernehmen. Vietor war froh, auf diese Weise aus dem kränkelnden Unternehmen aussteigen zu können, insbesondere wegen der hohen Zinsen, die er für sein Afrikageschäft bezahlen musste.291 Infolge des in den nächsten Monaten einsetzenden Preisverfalls für Kakao kam es für Hoffmann zu schweren Verlusten, was ihn im Frühjahr 1914 dazu veranlasste, das Geschäft Vietor zum Kauf anzubieten, da er ihn für den Kauf der Firma verantwortlich machte. Als sich Vietor weigerte, kam es zum Prozess, den Vietor in zwei Instanzen gewinnen konnte.292 Während sich Dietrichs Geschäft, wenn auch in kleinem Stil, bis zum Ausbruch des Krieges halten konnte,293 endete die Firma von Hans Weber, bis 1904 Geschäftsführer der Firma Vietor & Lohmann (Vietor & Cie) in Porto Novo, ähnlich desaströs wie Augener & Mau. Weber hatte 1904 von Vietor einen Kredit erhalten, mit dessen Hilfe er sich selbständig machte, um in Conakry, Guinée Francaise, eine eigene Firma aufzubauen.294 Die Kommission für Weber in Bremen übernahm die Firma Vietor & Lohmann. Trotz hohen Engagements musste Weber infolge Überschuldung bereits am 9.12.1907 die Besitzrechte an den meisten bis dahin entstandenen Faktoreien an Vietor & Lohmann abtreten.295 Nach dieser ersten Sanierung konnte Weber das Geschäft jedoch erneut ausbauen und bis 1910 weitere Stütz-

289 Während Dietrich zu wenig Umsatz machte, remittierte Mau nicht genug, insgesamt war sein Afrikageschäft ins Stocken geraten, J. K. Vietor (Anecho/Accra) vom 8.12.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 290 J. K. Vietor an Scheidig vom 28.7.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 331. Gegenüber seinem Rechtsanwalt gab Vietor später an, er wäre im Frühjahr 1913 nur um weitere 100.000,- Mark gebeten worden, J. K. Vietor an [Rechtsanwalt] vom 31.3.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 314. 291 J. K. Vietor an Lutze vom 8.7.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 263f. Bis Mitte 1914 hatte Vietor drei Viertel seiner Einlage bei der Firma Augener & Mau (150.000,- Mark) zurückerhalten, J. K. Vietor an [Rechtsanwalt] vom 31.3.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 322f.; vgl. auch Augener & Mau an J. K. Vietor vom 29.12.1913, ebd., 7,2001-9. 292 Hoffmann warf Vietor vor, ihm eine Kaufempfehlung gegeben zu haben und ihn nicht über die wahren Verhältnisse der Firma aufgeklärt zu haben. Vietor hielt dagegen, er habe keine Empfehlung, sondern nur sein Einverständnis zur Übernahme gegeben, zudem hätten Hoffmann vor dem Kauf die Geschäftsbücher vorgelegen. J. K. Vietor an [Rechtsanwalt] vom 31.3.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 319f. Vietor gab aber zu, Hoffmann vor dem Kauf zum Ausdruck gebracht zu haben, er hätte selten so fleißige junge Leute wie Augener & Mau gesehen, ebd., S. 316. Trotz der schwierigen Gesamtlage im Afrikageschäft hielt Vietor die hohen Verluste Hoffmanns für vermeidbar. „Eine leichtsinnigere Geschäftsmanier wie dort habe ich in meinem Leben nicht gesehen“, ebd., S. 321. 293 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 92. 294 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 49, vgl. auch Weber an Reichsentschädigungskommission vom 28.11.1919, StAB, 7,2001-38. Zur Firma Hans Weber vgl. auch Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 95–97. Die Firma nannte sich später „Compagnie Commerciale Africaine“. 295 Neben den Hauptfaktoreien in Conakry und Kindia waren 1905 Nebenplätze entlang der Eisenbahnlinie nach Kindia und Dubreka entstanden, 1906 kamen Faktoreien in Télimélé und Démokoulima hinzu, vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 95f.

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punkte an 10 Orten einrichten.296 Durch die einseitige Konzentration auf die Ausfuhr von Gummi kam Weber zum zweiten Mal in eine schwere Krise, als der Absatz westafrikanischen Gummis in Europa wegen zu hoher Preise 1911 zuerst stagnierte297 und 1913 große Marktanteile an asiatische Produktionsländer verloren gingen. Hatte der Marktanteil 1912 noch bei 25 % gelegen, fiel er 1913 auf 18 % zurück.298 Durch Vietors abermaliges Eingreifen konnte Webers Unternehmen zwar zunächst gerettet werden, krankte aber weiter an hohen Lagerbeständen, die infolge der andauernden Absatzschwierigkeiten nicht ausreichend abgebaut werden konnten.299 Hatten Vietor und Lohmann zunächst eine Liquidation des Geschäftes erwogen, fand sich, ähnlich wie bei Augener & Mau, mit der Afrikanischen Handels Co. mbH 1914 ein Kaufinteressent, der bereit war, Weber aus seiner Verschuldung bei Vietor & Lohmann zu lösen und ihm als neuer Partner zur Verfügung zu stehen. Durch den Ausbruch des Krieges kam der für 1.1.1915 geplante Übergang des Geschäftes jedoch nicht zum Tragen.300 Ein weiterer Unternehmenszweig des vietorschen Firmennetzes entstand im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Deutsch–Südwestafrika. Bereits während des Herero- und Nama-Aufstandes hatte sich Vietor zeitweise in Südwestafrika engagiert, indem er sich erfolgreich um die Lebensmittel–Belieferung der deutschen 296 1908 entstanden neue Handelsplätze in Donguel, Sagali, Coya, Boussoura, 1909 in Sigon, 1910 in Le Fello Nay, Wondi, Sassoundon, Dougedabi, Toubandi, Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 96. 297 Nach Höchstpreisen für Kautschuk im März 1911 brach der Markt im 2. Quartal stark ein und führte zu einem Preisverfall. Für die Zukunft konnte mit einer weiteren Aufnahme der ständig steigenden Weltproduktion nur bei sinkenden Preisen gerechnet werden. Hatte der Preis für die beste Qualitätsstufe, „Para fine“, 1906 zwischen 12,25–11,80 Mark/kg gelegen, 1907 zwischen 11,00–10,75 Mark/kg, 1909 zwischen 12,40–15,80 Mark/kg und 1910 zwischen 19,50–27,80 Mark/kg, lag er Anfang April 1911nur noch bei 14,15 Mark/kg. Bis Ende Juni sackte der Preis auf 8,90 Mark/kg ab und erreichte damit das niedrige Niveau des Ausnahmejahres 1908, in dem der Preis zwischen 7,60–8,40 Mark/kg gelegen hatte, vgl. Kautschuk-Marktbericht (2. Quartal 1911), in: Der Tropenpflanzer 1911, S. 455f. Während in Deutsch-Ostafrika überwiegend die mindere Qualität des Manihot-Kautschuks angebaut wurde, war Kautschuk des Hevea Baumes, Para fine, für die Weltproduktion ungleich bedeutender und stellte 1913 in Kamerun den größten Anteil dar, Koloniallexikon (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 250ff. 298 Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 96. 299 J. K. Vietor an Weber vom 20.5.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 313 300 Vietor & Lohmann hätten demnach am 1.1.1915 resp. 1.2.1915 von der Afrikanischen Handelsgesellschaft 56.154,26 Frs. als Gegenleistung für den noch vorhandenen Warenwert erhalten, Hans Weber an Afrikanische Handels Co. M.b.H. (Hamburg) vom 18.12.19[19], StAB, 7,2001-38; vgl. Afrikanische Handels Co. an Vietor & Lohmann o. D., ebd. Die Niederlassungen Webers wurden mit Dekret vom 5.8.1914 beschlagnahmt, er selbst konnte sich wie andere deutsche Geschäftsleute am 30.8.1914 nach Las Palmas absetzen, Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 97. Müller spricht von einer Ausweisung Webers. Da Frankreich deutsche Staatsbürger im Ausland bei Kriegsausbruch internierte, dürfte Vietors Darstellung, Weber sei „entkommen“ wohl mehr den tatsächlichen Abläufen entsprechen, vgl. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 50. Ein Bericht von C. K. Siermann besagt, dass die Deutschen in französisch Guinea „einfach fürchterlich gemein behandelt“ wurden. Sie seien „von den Franzosen vom 6. bis zum 27. August ins Gefängnis geworfen“ worden, wobei ihnen alles, bis auf zwei Anzüge samt Hemden abgenommen wurde, „Die Deutschen in Afrika“, Bericht von C. K. Siermann [1914/15] [Durchschlag], VPAH, Konv. 2, S. 4.

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Schutztruppe bemüht hatte, die ein lukratives Geschäft darstellte.301 Im Zusammenhang mit den Diamantenfunden 1908 gründete Vietor im selben Jahr eine Niederlassung in Swakopmund302 und ermöglichte seinem alten Kameraden aus der Militärzeit, Hermann Hillmann, durch einen Firmengründungskredit den Aufbau eines eigenen Geschäftes in Südwestafrika. Zuvor hatte Hillmann einige Jahre in Togo für ihn gearbeitet.303 Hillmann verlor jedoch rasch einen großen Teil des Geldes, als er damit eine Expedition ausrüstete, die ergebnislos nach Diamanten suchte. Er gründete daraufhin eine kleine Faktorei in Gibeon,304 später erhielt er auch die Verantwortung für die vietorschen Niederlassungen in Lüderitzbucht305 und Malta-

301 Vietor gibt in der Rückschau an, seine führenden Mitarbeiter und Teilhaber hätten die Einstellung der Belieferung mit der Begründung durchgesetzt, es käme zu häufigen und späten Reklamationen, ein Grund, den er nun [etwa 1932] nicht mehr nachvollziehen konnte, da das Geschäft gute Gewinne abwarf, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 94f. Der wahre Grund des Abbruches der Belieferung der deutschen Truppen könnte auch in der Absicht gelegen haben, sich auf diese Weise rechtzeitig von Woermann und Tippelskirch abzusetzen, die sich 1906 dem Vorwurf überhöhter Fracht- und Warenpreise für die deutschen Truppen nach Südwestafrika ausgesetzt sahen. Woermanns Monopol–Vertrag mit dem Reich wurde aus diesem Grunde zum 31.12.1906 gekündigt, vgl. SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 128. Sitzung vom 28.11.1906, S. 3961. Auch der Exklusivvertrag mit der Firma Tippelskirch, die seit 1896 Ausstatter der Schutztruppen war und für die Aussendungen nach Südwestafrika teilweise das Doppelte verlangte wie für Lieferungen ins Reich, wurde aufgelöst, ebd. Tippelskirch hatte, wie Vietor, seine Waren mit der Woermannlinie geliefert und durch die überhöhten Preise innerhalb eines Jahres rund zwei Millionen Mark verdient, wie Erzberger im Reichstag nachweisen konnte, SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 73. Sitzung vom 23.3.1906, S. 2235, vgl. auch Baer, Martin / Schröter, Olaf: Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika. Spuren kolonialer Herrschaft (Schlaglichter der Kolonialgeschichte; 1), Berlin 2001, S. 108, vgl. auch Jansen, Jan: Die Aufstände von Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika und die Kolonialkritik im Kaiserreich, Norderstedt 2007, S. 110f. 302 Kol.ha.adressbuch 1908, S. 84. Die Niederlassung hier kann aber nicht sehr groß gewesen sein. Als Vietor Anfang 1913 zum ersten Mal nach Swapokmund kam, übernachtete er nicht bei einem seiner Angestellten, sondern beim Agenten der Firma Woermann, H. Winkelmann, der ihm vom schlechten Geschäft der europäischen Läden und Boutiquen in Swapokmund berichtete, deren Gewinn oft nicht höher als 4 % betrug. Seine eigene Niederlassung erwähnte Vietor nicht. Seine nächsten Reiseziele waren Windhuk und Rehoboth, das er über Gibeon erreichen wollte, vgl. J. K. Vietor (Swapokmund) an Hedwig Vietor vom 13.1.1913, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 11. 303 Hillmann hatte etwa 1904 erstmals ein Engagement bei Vietor in Togo angenommen. Auf der Weihnachtsfeier in Grand Popo 1904 hatte er von seinen zurückliegenden Reisen durch die Welt berichtet und sich beeindruckt gezeigt vom hier kennengelernten beispiellosen Umgang des Vietorunternehmens mit den Schwarzen, vgl. J. K. Vietor (Eleonore Woermann) an Hedwig Vietor vom 27.12.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Vietor lobte Hillmann später als erfolgreichen und christlichen Mitarbeiter, vgl. J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 19.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. 304 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 71f. Vietor nennt den Ort hier „Gidon“, offensichtlich ein Schreibfehler, es muß Gibeon heißen. Nach dem Ort Gibeon nannte sich auch die Diamantengesellschaft „Gibeon Schürf- und Handelsgesellschaft“, an der Vietor beteiligt war und in deren Aufsichtsrat er saß. 305 Kol.ha.adressbuch 1909, S. 174. Hillmann wird hier erstmalig als Besitzer eines Kaufladens aufgeführt, ab 1910 mit der Bezeichnung „Kaufhaus“, Kol.ha.adressbuch 1910, S. 186.

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höhe, wo er eine Brauerei betrieb.306 Er konnte seine Umsätze zum Ärger Vietors307 aber nicht über 120.000,- Mark bringen und arbeitete mit zu hohen Kosten.308 Der Jahresabschluss 1913 brachte einen Verlust, nicht zuletzt, weil ausstehende Rimessen nicht eingegangen waren.309 Deswegen belief sich Hillmanns Schuldenstand bei Vietor Anfang 1914 bereits auf 78.469,39 Mark, die nun ultimativ eingefordert wurden.310 Hillmann musste die Verantwortung für Lüderitzbucht abgeben und nur die alte Soldatenkameradschaft führte dazu, dass ihm Vietor das kleinere Geschäft in Maltahöhe beließ.311 Für das aussichtsreiche Geschäft in Lüderitzbucht, das mindestens einen monatlichen Kommissionsgewinn für Bremen von 1.000,- bis 2.000,Mark abwerfen musste, damit es überhaupt Sinn machte,312 suchte er einen neuen Mitarbeiter.313 Neben Maltahöhe (Hillmann) und Lüderitzbucht existierte noch eine Niederlassung in Windhuk, die ebenfalls keine großen Umsätze machte.314 Beteiligt war Vietor auch an der Firma seines früheren Mitarbeiters in Keta, Paul Leube, der mit Hilfe eines vietorschen Geschäftsgründungskredites ein Handelsunternehmen in Rehoboth eröffnet hatte, das bis zum Krieg profitabel lief.315 1913 hatte Leube dazu eine Großfarm gepachtet, mit der er ins Viehgeschäft einsteigen wollte.316

306 J. K. Vietor an den „lieben Hermann“ [Hillmann] vom 22.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 142. 307 Vietor verlor immer mehr die Geduld mit Hillmannn, hielt ihn für einen Esel und traute ihm schließlich nur noch ein kleines Ladengeschäft zu, vgl. J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 12.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10; J. K. Vietor an Leube (DSWA) vom 23.5.13, StAB, 7.73-51, Bl. 140f. 308 J. K. Vietor an Hermann [Hillmann] vom 2.10.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 456f. 309 J. K. Vietor an Hermann [Hillmann] vom 20.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 127–129. Vietor benutzt den heute kaum noch benutzten Begriff „Rimesse“, wenn er von Wechselforderungen oder Warenvorschüssen an Zwischenhändler spricht, die noch nicht bezahlt waren. 310 J. K. Vietor an Hermann Hillmann (Lüderitzbucht) vom 13.1.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 19f. Erstmals verwendet Vietor gegenüber Hillmann hier das „Sie“ im Brief und sieht sich gezwungen bei ausbleibender Begleichung seiner Schulden, Hillmanns „Bankrott“ zu erklären. 311 J. K. Vietor an Mörgenthaler [März 1914], StAB, 7,73-53, Bl. 294. 312 J. K. Vietor an Lenz vom 19.3.1914, StAB, 7-73-53, Bl. 267. 313 Vietor bot dem Kaufmann Mörgenthaler für die Übernahme des Geschäftsbetriebes in Lüderitzbucht ein Festgehalt von jährlich 6000,- Mark plus einer zehnprozentigen Gewinnbeteiligung, J. K. Vietor an Mörgenthaler [März 1914], StAB, 7,73-53, Bl. 296. 314 Herr Maul, der hier tätig war, hatte weniger kaufmännisches als technisches Geschick. Er handelte fast ausschließlich mit Eisenwaren und Maschinen, die wenig Gewinn abwarfen. Seinen Hauptgewinn erzielte er vor allem durch Aufstellen und Einrichten von technischen Anlagen für die Kunden. Das Restgeschäft sollte durch Lenz, der kommissarisch die Leitung in Lüderitzbucht übernommen hatte, einen neuen Aufschwung erfahren, J. K. Vietor an Mörgenthaler [März 1914], StAB, 7,73-53, Bl. 295. 315 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 89; J. K. Vietor an C. Freese vom 1.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 212. P. Leube wird 1910 erstmals im Kol.ha.adressbuch aufgeführt und bis zum Krieg mit der Bezeichnung „Kaufladen“ angegeben, Kol.ha.adressbuch 1910, S. 187. 316 J. K. Vietor an Leube vom 23.5.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 140f.

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Abb. 5: Niederlassungen von J. K. Vietor in Deutsch-Südwestafrika bis 1914317

317 Der Abbildung liegt eine Vorlage von Horst Gründer zugrunde, in die die Faktoreistützpunkte von J. K. Vietor eingezeichnet oder markiert wurden, vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 9), S. 251. Orte mit eigenen Faktoreien sind durchgängig unterstrichen; Rehoboth, wo nur eine Beteiligung bestand, ist gestrichelt markiert.

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Auch Vietors früherer Mitarbeiter Paul Friebel hatte in Südwestafrika auf ein Großfarmprojekt gesetzt. 1911 war er zum ersten Leiter der in Lome errichteten Ölpresse der Togobaumwollgesellschaft (TBG) berufen worden, schied jedoch bereits 1912 wieder aus, da die Anlage nicht rentabel arbeitete.318 Daraufhin hatte er von Vietor einen Kredit erhalten, mit dem er eine Großfarm in Südwestafrika erwerben wollte, auf die Vietor als Sicherheit für seinen Kredit eine Hypothek erhalten sollte.319 BETEILIGUNG AN KAPITALUNTERNEHMEN, KARTELLEN UND PLANTAGENGESELLSCHAFTEN Während Vietor die Expansion seines eigenen Firmen- und Beteiligungsnetzes stets unter dem Gesichtspunkt christlicher, bodenreformerischer und freihändlerischer Geschäftsführung vorantrieb, beteiligte er sich gleichzeitig an Großprojekten und Absprachen, die zumindest in einem unleugbaren Spannungsverhältnis zu seinen Grundüberzeugungen standen. Während ihm entsprechende Spannungen dabei mitunter durchaus bewusst waren, scheint ihm in anderen Fällen jegliches Problembewusstsein gefehlt zu haben. Beteiligung an der Südwestafrikanischen Schäfereigesellschaft Obwohl Vietor nach der Jahrhundertwende zu einem der profiliertesten Gegner von Großplantagen auf Kosten der Rechte einheimischer Bevölkerungsgruppen avancierte, konnte er offenbar kein Problem darin erblicken, sich an der am 9.3.1901 in Berlin gegründeten Südwestafrikanischen Schäferei-Gesellschaft, D.K.G., zu beteiligen.320 Die Gründung der Gesellschaft stand ganz im Einklang mit den Zielen der DKG, die die neue Gesellschaft mit 300.000,- Mark unterstützte und damit den 318 Friebel war Ende 1912 entlassen worden, Protokoll der 15. Sitzung des Aufsichtsrates der Togobaumwollgesellschaft (TBG) vom 28.12.1912, StAB, 7,2016-9; J. K. Vietor an Reiners vom 8.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 90; Offensichtlich war die Trennung einvernehmlich erfolgt, denn Friebel hatte im September 1912 auch von sich aus gekündigt, um etwas Neues anfangen zu können, vgl. J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 13.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Vietor warf ihm vor, durch sein „uncoulantes“ Benehmen, andere deutsche Togofirmen verprellt und damit ihre Annäherung an die DTG befördert zu haben, J. K. Vietor an Henke vom 27.6.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 431f. 319 Es kam jedoch zu Irritationen, als Friebel das Geld kurzfristig zum Kauf einer anderen Farm verwendete und Vietor nur noch am Geschäft mit Ochsen beteiligen wollte. Das lehnte Vietor kategorisch ab, weil er bereits früher Verluste im Viehgeschäft gemacht hatte: „Wenn ich all das Geld, das ich an gestorbenen Tieren verloren habe noch besässe, so würde ich unendlich viel reicher sein, als ich es heute bin, und an allen Unternehmungen dieser Art habe ich stets viel Geld verloren.“ Vietor ging davon aus, daß die Farm, deren Kauf Friebel ausgeschlagen hatte, nun ihm gehören würde, samt der Wertsteigerung des Bodens von 25 %, J. K. Vietor an Friebel vom 15.10.1913, StAB, 7, 73-51, Bl. 487f. 320 Südwestafrikanische Schäferei-Gesellschaft, D.K.G., in: Koloniallexikon (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 438. Das Koloniallexikon gibt als letzten Stand vor dem Krieg Besitz und Vermögensverhältnisse an. Danach betrieb die Gesellschaft in Südwestafrika drei Farmen, in Orab, Dabib und

Beteiligung an Kapitalunternehmen, Kartellen und plantagengesellschaften

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größten Einzelposten des Gewinns aus ihrer Wohlfahrtslotterie für diesen Zweck verwandte.321 Auf der Hauptversammlung am 27.11.1903 wurde Vietor in den Aufsichtsrat gewählt, dem er bis in die 1920er Jahre angehörte. Im April 1903 konnte Herr Kleudgen für die Gesellschaft 110.000 ha Land in der Nähe von Gibeon am Fischfluß für 124.800,- Mark erwerben.322 Weitere Farmgründungen folgten. 1906 konnte Vietor für die Gesellschaft ein günstiges, wenn auch nur vorläufiges, Abkommen mit der Spinnereiindustrie treffen und damit neben der Fleischproduktion auch einen Grundstein für die Produktion von Wollschafen legen.323 Derart extensive Farmwirtschaften, wie sie die Schäfereigesellschaft ins Auge fasste, waren zumindest einer der Gründe für den Ausbruch des Hererokrieges Anfang 1904, der nicht zufällig mit Überfällen auf zahlreiche deutsche Farmen begann.324 Nach der verheerenden Rinderpest 1897 hatten die Herero einen großen Teil ihrer Herden verloren, was in den Folgejahren zu umfangreichen Aufkäufen ehemals in Hererobesitz befindlichen Landes durch deutsche Siedler und Gesellschaften führte. Der Verlust von Vieh und Land, der zwar formal meist legal ablief,325 brachte den Stamm der Herero, auch mental, in eine existentielle Krise, was letztlich den Hin-

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Narris. Das Gesellschaftskapital betrug 670.000,- Mark, zuzüglich einer Anleihe von 100.000,Mark. Zusammen mit dem „Deutschen Frauenbund zur Krankenpflege in den Kolonien“ war der DKG 1898 das Recht einer Wohlfahrtslotterie erteilt worden, die auf fünf Jahre, bis 1903, begrenzt war und 2.559.965 Mark einspielte. Die Verwendung der Gewinne war mit der Kolonialabteilung abgestimmt worden. Die Förderung der Schafzucht in Südwestafrika war damit auch offizielle Linie der deutschen Kolonialpolitik, Demhard, Imre Josef: Deutsche Kolonialgesellschaft 1888–1918. Ein Beitrag zur Organisationsgeschichte der deutschen Kolonialbewegung, Wiesbaden 2002, S. 29f. DKZ 1903, S. 505. In den Aufsichtsrat wurden neben Vietor gewählt: der Bremer Kaufmann Bellstedt, Graf Ernst von Bernstorff, von Bornhaupt (stellv. Vors.), der Hamburger Kaufmann F. F. Eiffe, Herr Habenicht, Staatsminister von Hofmann (1.Vors.), der Bremer Kaufmann J. H. Kulenkampff, Herr Strauch und Hans Ludwig Thilo. Die Gesellschaft hatte im Jahr 1902 einen Verlust von 48.364,47 Mark gemacht und verfügte am 3.4.1903 über einen Viehbestand von 756 Fettschwanzschafen, 33 Rindern, 5 Ziegen und 8 Pferden. Nach dem Krieg gehörte Vietor angesichts der Neigung innerhalb der Gesellschaft, das Unternehmen, das immerhin noch über einen Landbesitz von 105.000 ha in Südwestafrika verfügte, zu liquidieren zu den energischsten Vertretern einer Fortführung. Auf einer Sitzung des Aufsichtsrates im Herbst 1921 konnte er sich mit dieser Meinung gegen den Vorsitzenden mit dem Argument durchsetzen, gerade weil Südwestafrika Deutschland genommen worden sei, müsse man deutsche Unternehmen dort stärken und vor Ort präsent bleiben, vgl. J. K. Vietor an Otto Hueck vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck, S. 4f.; vgl. auch J. K. Vietor an F. Lange, Südafrikanische Schäferei-Gesellschaft (Berlin), vom 26.9.21, StAB, 7,73-6; J. K. Vietor an Exzellenz Seitz, Präsident der DKG, vom 27.3.22, StAB, 7,73-8. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 9.10.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 6. Vietor berichtet in seinen Erinnerungen davon, dass infolge des Hereroaufstandes das Farmprojekt zusammengebrochen und die Mitarbeiter umgebracht worden waren. Allerdings verlegt er dieses Ereignis irrtümlich unmittelbar in die Zeit nach seinen Inspektionsbesuch in Südwestafrika 1912/13, während der er die Farmen der Schäferei-Gesellschaft besichtigt hatte, vgl. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 224f. Aufgrund der Notlage verkaufte der Oberhäuptling nach 1897 über die Köpfe der Stammesangehörigen hinweg Land, teilweise mitten im Stammesgebiet liegend, was entsprechende Spannungen zur Folge hatte, Gründer, 2004 (wie Anm. 9), S. 116f.

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tergrund für den Aufstand bildete. Die territoriale Existenzgrundlage der Herero war 1904 allerdings noch nicht bedroht, weshalb die Landverkäufe allein keinen hinreichenden Erklärungsgrund für den Ausbruch des Aufstandes darstellen.326 Schwerwiegender waren ohne Frage demütigende Behandlungen, etwa von Stammesangehörigen, die sich aufgrund der ökonomischen Notlage nun erstmals als Arbeiter auf deutschen Farmen verdingen mussten oder Vergewaltigungen von Frauen. Insofern mag Vietor Landkauf und Farmprojekt nicht als Widerspruch zu seinem Credo vom Zusammenhang der Verelendung indigener Gruppen und nicht ausreichendem eigenen Grund und Boden erschienen sein. Den Grund für den Ausbruch des Aufstandes führte er jedenfalls nicht selbstkritisch auf die Landpolitik zurück, sondern sah ihn in einer fehlgeleiteten Kolonialpolitik, die mit Zwang und Brutalität vorgehe und eine zielgerichtete Förderung und Entwicklung der indigenen Bevölkerung vermissen lasse.327 Überhaupt legte er für Tropenkolonien und Siedlungskolonien unterschiedliche Maßstäbe an, wenn es um die Verteilung von Grund und Boden ging. „Ich sehe die beste Zukunft unserer Besitzungen in der Schaffung eines starken, weißen Bauernstandes, dort wo das Klima den Deutschen den Aufenthalt gestattet, und in der Schaffung eines freien, eingeborenen Bauernstandes in unseren tropischen Kolonien.“328

Offen bleibt die Frage, wie sich Vietor eine gerechte und gesunde Beteiligung indigener Völker am Aufbau der kolonialen Gesellschaft in Siedlungskolonien vorstellte. Schloss der Aufbau eines weißen Bauernstandes hier den gleichzeitigen Aufbau eines indigenen Bauernstandes aus oder konnte er sich beides nebeneinander vorstellen? Durch die erheblichen Bevölkerungsverluste der Herero und Nama stellte sich diese Frage nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzung 1907 offensichtlich nicht mehr, wie überhaupt die Erbitterung durch den langen Krieg einer öffentlichen Diskussion um faire Behandlung der beiden Völker alles andere als 326 Bis 1903 konnte trotz der Zunahme der Landkäufe seit 1897 noch nicht von einer zielgerichteten Siedlungspolitik gesprochen werden. Bis dahin waren erst 10 % (36.000 qkm) des für die europäische Besiedlung vorgesehenen Stammeslandes aufgekauft worden. Allerdings dürften die Reservatsplanungen für die Zukunft als kommende Bedrohung sehr wohl wahrgenommen worden sein. Gründer sieht daher in der sozialen und politischen Diskriminierung der Herero im Verbund mit einer „totale[n] Rechtsunsicherheit“ den Hauptgrund des Aufstandes. Von fataler Wirkung waren ohne Frage auch die betrügerischen Praktiken von Händlern, die den verarmten Herero erst zum Wiederaufbau ihrer Existenz teure Kredite aufdrängten und sie dann rücksichtslos eintrieben, Gründer, 2004 (wie Anm. 9), S. 118f. Sudholt stimmt Gründer zwar insofern zu, dass bis 1904 erst 32.455,1 qkm Land an europäische Siedler verkauft worden waren, betont aber gleichzeitig, dass sich um die Jahrhundertwende bereits 295.000 qkm Land im Besitz der sechs größten Siedlungs-gesellschaften befanden, mithin mehr als ein Drittel des gesamten Schutzgebietes. Diese Größenordnung dürfte angesichts der noch fehlenden faktischen Nutzung den meisten Herero 1904 jedoch verborgen gewesen sein, vgl. Sudholt, Gert: Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika. Von den Anfängen bis 1904 (Historische Texte und Studien; 1), Hildesheim, New York 1975, S. 62f. 327 Vietor, J. K.: Zur Eingeborenenfrage, in: DKZ 1905, S. 538–539, 538; Vietor, J. K.: Bericht von der Afrikareise 1904/05 für den Kolonialrat, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 4, S. 7. Der Bericht trägt keine Überschrift. 328 Vietor, J. K.: Der deutsche Handel und die Monopole in unseren westafrikanischen Kolonien, in: Jahrbuch der Bodenreform. Vierteljahreshefte 3 (1905), S. 161–184, 170.

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zuträglich war.329 Erst 1912 brachte Reinhard Mumm, parlamentarisches Sprachrohr der Christlich Sozialen Partei (CSP) und der kolonialen Vorstellungen Vietors, einen Antrag in den Reichstag ein, der auf mildere Behandlung der Herero und Nama sowie auf Wiederzulassung eines begrenzten Großviehbe sitzes in ihrer Hand zielte.330 Beteiligung am Diamantengeschäft in Südwestafrika Neben dem Farmprojekt der Südwestafrikanischen Schäfereigesellschaft und dem Aufbau eines Handelsgeschäftes verfolgte Vietor mit seiner Beteiligung am Diamantengeschäft noch ein drittes Ziel in Südwestafrika. Im April 1908 hatte der südafrikanische Bahnarbeiter Zacharias Lewala im Sand der Wüste Namib, nahe Lüderitzbucht, einen Diamanten gefunden.331 Erste sichere Meldungen darüber gingen in Deutschland im Juni 1908 ein und lösten schlagartig ein „Diamantenfieber“ aus.332 In der ersten Phase konnten die Steine mit der bloßen Hand mittels eines einfachen Siebverfahrens geborgen werden, später musste man mehrere Meter tief graben, um erfolgreich schürfen zu können.333 Bereits drei Monate nach Bekanntwerden der ersten Funde erließ Staatssekretär Dernburg am 22.9.1908 eine „Sperrverfügung“, die die Ausbeutung im Fundgebiet monopolisierte. Gegen die Zusage der Gründung einer Tochtergesellschaft zur Ausbeutung der Diamantenfelder verlängerte Dernburg die exklusiven Schürfrechte der Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwestafrika (DKolGfSWA) im Fundgebiet,334 die diese durch den Vertrag mit dem Kolonialamt vom 17.2./2.4.1908 an den Fiskus abgetreten hatte. Durch den Vertrag sollte ursprünglich ab 1.10.1908 auch im Gebiet, in dem bisher die DKolGfSWA die Bergrechte selbst ausgeübt hatte, die Bergverordnung für Deutsch Südwestafrika vom 8.8.1905 in Kraft treten, die eine allgemeine Schürffreiheit für das gesamte Schutzgebiet einräumte.335 Die Freigabe der Schürfrechte 329 Auch Vietor zeigte sich entsetzt darüber wie die Herero am Anfang des Krieges „gewütet“ hatten, Vietor, J. K.: Der Einfluß der Mission auf die Deutsche Kolonial–Politik (Flugschriften der Hanseatisch-Oldenburgischen Missionskonferenz), Bremen 1904, S. 3. 330 In seiner ersten Reichstagsrede am 1.5.1912 appellierte Mumm allerdings, wohl in Überstimmung mit Vietor, für eine mildere Behandlung der Nama und Herero und schlug die Wiederzulassung eines begrenzten Besitzes von Großvieh für sie vor, vgl. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 52. Sitzung vom 1.5.1912, S. 1579. Der Besitz von Land und Großvieh war beiden Völkern nach dem Krieg untersagt worden, Gründer, 2004 (wie Anm. 9), S. 123. 331 Lindner, Ulrike: Transnational Movements between Colonial Empires. Migrant Workers from the British Cape Colony in the German Diamond Town Lüderitzbucht (EUI Working Papers / RSCAS; 40), San Domenico (FI) 2009, S. 5. 332 Gouverneur von Lindequist berichtete erstmals am 23.6.1908 von Diamantenfunden nach Berlin, Schiefel, Werner: Bernhard Dernburg 1865–1937. Kolonialpolitiker und Bankier im wilhelminischen Deutschland, Zürich, Freiburg 1974, S. 101 333 Heffter, Heinrich / Cigaretten-Bilderdienst: Deutsche Kolonien, Dresden 1936, S. 14f. 334 Jahnel, Markus J.: Das Bodenrecht in „Neudeutschland über See“. Erwerb, Vergabe und Nutzung von Land in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1884–1915 (Rechtshistorische Reihe; 386), Frankfurt 2009, S. 328. 335 Meyer / Gerhard: Diamantengesetzgebung, in: Koloniallexikon (wie Anm. 9), Bd.1, S. 451ff.

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im Fundgebiet ab dem 1.10.1908 hätte in den Augen Dernburgs jedoch die Gefahr des Ausbruchs eines unkontrollierten Schürffiebers mit sich gebracht und zu einer strukturellen Zersplitterung der Diamantenförderung geführt.336 Die Verlängerung der monopolistischen Bergrechte für die DKolGfSWA sollte dem vorbeugen und hatte zudem den Vorteil einer größeren Beteiligung des Fiskus an den Gewinnen aus dem Diamantengeschäft. Die neue Tochtergesellschaft der DKolGfSWA, die am 13.9.1909 gegründete Deutsche Diamantengesellschaft, an der die DKolGfSWA zu 80 % und ein Konsortium von 32 Repräsentanten des deutschen Großkapitals zu 20 % beteiligt war, musste daher 33 % ihres Gewinnes an das südwestafrikanische Schutzgebiet abführen.337 Ein weiterer Schritt der Regulierung und Monopolisierung des Diamantengeschäftes bestand in der Schaffung der sogenannten „Diamantenregie“, die mit den Verordnungen vom 16.1.1909338 und 26.2.1909339 eingeführt wurde. Damit wurde, nach südafrikanischem Vorbild, die Veräußerung der Diamanten zentralisiert, um einen Preissturz infolge Überproduktion zu verhindern. Jede Fördergesellschaft musste demnach ihre zum Verkauf bestimmten Diamanten einer staatlichen Zentralstelle übergeben, die dann über den Umfang einer Veräußerung entschied.340 Diese hoheitliche Aufgabe wurde mit der Verordnung vom 26.2.1909 jedoch sogleich an die zu diesem Zweck gegründete „Diamantenregie des südwestafrikanischen Schutzgebietes“ übertragen.341 Wenngleich die zentralisierte Kontingentierung und Veräußerung auch von den Fördergesellschaften begrüßt wurde, gab es heftige Kritik am weitgehenden Ausschluss des deutsch-südwestafrikanischen Kapitals von der Diamantenregie.342 Hier dominierten durch Dernburgs Einflussnahme deutsche Großbanken, die den Löwenanteil der Gewinne aus dem Diamantengeschäft einstrichen. Zwischen 1908 und 1914 wurden in Deutsch-Südwestafrika insgesamt 5,1 Millionen Karat Diamanten gefördert im Wert von 150 Millionen Mark. Da der Preis für ein Karat etwa bei 30,- Mark lag, die Förderkosten jedoch nur zwischen 1,50 und 5,- Mark/Karat, machten die Investoren ein enormes

336 337 338 339 340 341 342

Ab dem 1.1.1906 galt für ganz Deutsch-Südwestafrika die Bergverordnung vom 8.8.1905 (RGBl. 1905, S. 717), ausgenommen das Gebiet, über das die DKolGfSWA bisher Bergrechte hatte. Die VO vom 8.8.1905 garantierte eine allgemeine Schürffreiheit. Die Sperrverfügung vom 22.9.1908, die die Exklusivrechte für die DKolGfSWA in dem betreffenden Gebiet zunächst fortsetzte, wurde am 28.1.1909 in ihrer Wirkung bis 1.4.1911 verlängert. Im Sperrgebiet durften nur die vier, später als „alte Gesellschaften“ bezeichneten, Unternehmen von Schürfrechten Gebrauch machen, die bereits vor dem 22.9.1908 von der DKolGfSWA eine Berechtigung dazu erhalten hatten, ebd. Die „Sperrzone“ umfasste das Gebiet südlich des 26. Breitengrades bis zum Oranje-Fluß auf einer Breite von 100 km landeinwärts. Für außerhalb dieser Zone liegende Gebiete galt weiterhin grundsätzlich volle Schürffreiheit. Jahnel, 2009 (wie Anm. 334), S. 329f. RGBl. (1909), S. 270f. DKB 1909, S. 241f. Die Verordnung vom 26.2.1909 stellte eine Ausführungsverordnung zur Verordnung vom 16.1.1909 dar, vgl. auch Jahnel, 2009 (wie Anm. 334), S. 330. 1909 bestanden im Schutzgebiet 94 diamantenfördernde Gesellschaften, vgl. Jahnel, 2009 (wie Anm. 334), S. 330. Allein in Lüderitzbucht waren 1910 mehr als 50 Diamantengesellschaften ansässig, vgl. KWK, 1910 (wie Anm. 306), S. 175–179. Meyer / Gerhard (wie Anm. 335). Jahnel, 2009 (wie Anm. 334), S. 333.

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Geschäft.343 An dieser als monopolistische Klientelpolitik verstandenen Linie sollte Dernburg 1910 schließlich scheitern und zurücktreten.344 Um am Diamantengeschäft mitzuverdienen, beteiligte sich Vietor, trotz seiner Überzeugung, dass die Förderung und Verwertung von Bodenschätzen eine originäre Staatsaufgabe sei, an der Gibeon Schürf- und Handelsgesellschaft,345 die als letztes Kolonialunternehmen am 25.9.1904 eine Minenkonzession erhalten hatte,346 zuerst als Investor, später als Aufsichtsratsmitglied.347 Immerhin war es für Vietor von entscheidender Bedeutung, dass diese Gesellschaft nichts mit der South West Africa Company zu tun hatte, die sich, von englischem Kapital getragen, eine Monopolstellung in Südwestafrika erworben hatte und deren einziges Interesse es war, die Ausbeutung der Minen in Südwestafrika zu verhindern, um so den Preis für die südafrikanischen Edelsteine hoch zu halten.348 Insofern blieb er seinem Grundsatz treu, keinerlei Spekulationsgeschäfte zu unterstützen, die letztlich die Verhinderung wirtschaftlicher Entwicklung zum Ziel hatte statt diese zu fördern. Die Gibeon Schürf- und Handelsgesellschaft war nach jahrelangem Hin- und Her am 4.11.1903 mit ausschließlich deutschem Kapital in Höhe von 1.022.100,- Mark gegründet worden.349 Durch den bald danach ausbrechenden Herero- und Namakrieg konnte sie erst im April 1907 mit ersten Bodenproben beginnen, die bis April/Mai 1908 ein negatives Ergebnis für das gesamte Konzessionsgebiet erbrachten. Da der negative Befund bereits frühzeitig absehbar war, konnte noch vor Abschluss der Arbeiten ein neuer Konzessionsvertrag ausgehandelt werden, der der Gesellschaft nun auch das benachbarte Gebiet von Berseba zuschlug.350 Nachdem kurz darauf die Nachrichten von Diamantenfunden in der Nähe von Lüderitzbucht nach Deutschland gelangten, versuchte die Gesellschaft auch für dieses Gebiet eine Zulassung zu bekom343 Jahnel, 2009 (wie Anm. 334), S. 331. Die Dividende der DKolGfSWA für 1909 betrug 64 %, ebd. 344 Pogge Strandmann, Hartmut von: Imperialismus vom Grünen Tisch. Deutsche Kolonialpolitik zwischen wirtschaftlicher Ausbeutung und „zivilisatorischen“ Bemühungen (Studien zur Kolonialgeschichte; 1), Berlin 2009, S. 437, vgl. Stoecker, Helmuth: Die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika vor 1914: Allgemeine Fragen, in: ders. (Hrsg.): Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, Berlin (Ost) 1977, S. 153–188, 164. Auch Heffter betont, dass durch die Diamantenregie „die Verwertung der Schätze dem deutschen Kapital vorbehalten“ blieb, hält aber dafür, dass auch „dem deutschen Arbeiter […] durch die Schleiflöhne (rund 15 Mark pro Karat) erhebliche Summen“ zuflossen, vgl. Heffter, Cigaretten-Bilderdienst, 1936 (wie Anm. 333), S. 15. 345 Zur Geschichte der Gibeon Schürf- und Diamantengesellschaft, vgl. Drechsler, Horst: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Band 2: Die großen Land- und Minengesellschaften (1885–1914) (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 63), Berlin 1996, S. 256–273. 346 Jahnel, 2009 (wie Anm. 334), S. 310. Die Gesellschaft war 1903 mit einem Kapital von einer Million Mark gegründet worden, vgl. Kolonial-Handels-Adressbuch 1909, S. 167. 347 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 90. 348 Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, Hagen [1906], S. 9. 349 Drechsler, 1996 (wie Anm. 345), S. 265. 350 Der neue Konzessionsvertrag wurde am 25.2.1908 zwischen dem Vorsitzenden der Gesellschaft, Dr. Hartmann, einem Verwandten Adolf Woermanns, und Gouverneur von Lindequist unterzeichnet. Die Konzession wurde, leicht verändert, vom Kolonialamt am 12.6.1908 bestätigt, Drechsler, 1996 (wie Anm. 345), S. 270f.

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men, allerdings vergebens. Da sich anschließend auch die Arbeiten in Berseba als erfolglos herausstellten, liquidierte die Gesellschaft 1910.351 Trotzdem konnte Vietor noch vom Diamantengeschäft profitieren. Der Berliner Geologe Prof. Dr. Scheibe, der zur weiteren Untersuchung des Konzessionsgebietes der Gibeon Schürf- und Handelsgesellschaft nach Südwestafrika entsandt worden war, erreichte das Schutzgebiet gerade zu dem Zeitpunkt als im Gebiet der Pomonamine reichhaltige Diamantenvorkommen entdeckt wurden. Er begab sich daher umgehend dorthin „und belegte für uns soundsoviele Felder.“352 Die Pomonamine lag zwar im Sperrgebiet, unterlag jedoch wegen eines Sonderabkommens aus dem Jahre 1886 zwischen dem Schutzgebiet und dem Eigentümer der Mine, der Firma de Pass, Spence & Co aus Kapstadt, nicht den Bestimmungen der Sperrverfügung. Prof. Scheibe war nicht der einzige, der versuchte, sich Anteilsrechte an der Ausbeutung der Funde zu erwerben. Wegen der großen Zahl an Interessenten kam es zu langwierigen juristischen Auseinandersetzungen, die erst 1912 durch eine kaiserliche Verordnung befriedet wurden. Diese sah die Beteiligung der verschiedenen Interessenten an der neu gegründeten Pomona-Minen-Gesellschaft vor und konnte somit alle Parteien zufriedenstellen. Die Gesellschaft konnte am 30.8.1912 mit der Ausbeutung beginnen und bis zum Jahresende erfolgreich arbeiten, sodass für 1912 eine Dividende von 40 % ausgeschüttet wurde, für 1913 sogar von 175 %.353 Als die Diamantenfunde im Pomonagebiet bekannt wurden, veranlasste Vietor, von Afrika aus, sofort alles verfügbare Geld der Firma in Pomonaaktien zu investieren. In Bremen meinte man jedoch, kaum liquide Mittel zu haben und verpasste die Chance zum Kauf. Zu dieser Zeit kostete eine Pomonaaktie etwa 380,- Mark. Erst auf der Rückfahrt nach Deutschland hörte Vietor in Madeira von diesem Versäumnis und telegraphierte erneut, sofort für 20.000,- Mark Aktien zu kaufen.354 Inzwischen war der Aktienpreis vorübergehend eingebrochen, da sich Gerüchte verbreitet hatten, es handele sich bei den Funden im Pomonagebiet um einen Schwindel. Somit bekam er schließlich mehr Aktien für das Geld als anfänglich erhofft. Später konnte Vietor eine Aktie für 2.000,-, dann für 3.000,- Mark verkaufen. Im Krieg verkaufte er die letzten Aktien zu einem Wert von 13.600,- Mark.355 Als Anhänger der Bodenreformbewegung stand Vietor prinzipiell auf dem Standpunkt, Bodenschätze müssten im Eigentum des Staates bleiben und Gewinne aus deren Abbau dem Gemeinwesen zu Gute kommen. Das schloss an sich die eigene Beteiligung an einer privatwirtschaftlichen Fördergesellschaft aus. In der Kolonialratsdiskussion über die neue Bergwerksverordnung für Südwestafrika 1905 plädierte er daher für die Aufnahme des Satzes „Die Bodenschätze von DeutschSüdwestafrika gehören dem Reiche“ in § 1, wollte davon aber kein exklusives FörDrechsler, 1996 (wie Anm. 345), S. 273. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 90. Meyer / Gerhard: Pomonamine, in: Koloniallexikon (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 82. Der Auftrag zum Aktienkauf muß demnach 1908 erfolgt sein, während Vietors Inspektionsreise nach Westafrika. Auf der Rückreise passierte er Mitte November Madeira. 355 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 90f. Meyer und Gerhard bestätigen den zeitweisen Wertzuwachs pro Aktie um fast 1000 %, Meyer/Gerhard (wie Anm. 353). 351 352 353 354

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derrecht des Staates ableiten, vielmehr ging es ihm darum, die grundsätzliche Verfügungsgewalt des Staates über die Bodenschätze juristisch zu verankern. Die praktische Umsetzung dieses Leitgedankens stellte er sich so vor, dass private Bergbauunternehmen bei steigenden Gewinnen auch die Gewinnabgaben an den Staat erhöhen müssten.356 Die von Dernburg eingeführte 33-prozentige Beteiligung des Fiskus an den Gewinnen der Deutschen Diamantengesellschaft entsprach daher ohne Zweifel seiner Überzeugung, ebenso die Einführung der Diamantenregie unter staatlicher Kontrolle, wenngleich die Bevorzugung der Großbanken dabei kaum in seinem Sinne gewesen sein dürfte. Ob Vietor angesichts der Gewinnspannen im Diamantengeschäft ausschließlich von Prinzipientreue bestimmt war, bleibt freilich offen. Als er 1912 von Geschäftspartnern aufgefordert wurde, sich an einer Goldmine in der Goldküste zu beteiligen, war von einer prinzipiengesteuerten Prüfung der Umstände nichts zu erkennen.357 Beteiligung an der Deutschen Tabakbaugesellschaft Kamerun (TBG) Anders als bei der Beteiligung an der Schäfereigesellschaft und seinen Investitionen ins Diamantengeschäft, verspürte Vietor im Zusammenhang mit seiner Entscheidung zur Beteiligung an einem Großplantagenunternehmen in Kamerun sehr wohl einen gewissen Rechtfertigungsdruck. Zwar hatte er in seiner bisherigen Plantagen-Kritik immer wieder darauf hingewiesen, dass er nicht prinzipiell gegen Großplantagen sei, sondern vielmehr gegen staatliche Subventionen derartiger Unternehmen,358 hatte aber ebenso deutlich den Standpunkt vertreten, dass er die Kolonien vorläufig als nicht reif für einen „großkapitalistischen Betrieb“ dieser Art ansehe. Im Hinblick auf die benachbarten Kolonialmächte Frankreich und England, die in Westafrika gänzlich auf Großplantagen verzichteten sowie die zahlreichen Beweise unrentabler Gesellschaften in deutschen Gebieten, hatte er jahrelang die Förderung von Volkskulturen im Rahmen selbständiger bäuerlicher Kleinbetriebe 356 KR vom 30.6.1905, BAB, R 1001/6994, Bl. 16, S. 15. 357 Mr. Ines, der bereits 60.000,- Mark in ein Goldbergwerk bei Tarquah gesteckt hatte und nun nicht mehr liquide war, lud Vietor ein, sich gegen eine ansehnliche Gewinnbeteiligung mit 20.000,- Mark zu beteiligen. Das entsprechende Bergwerk verfügte über drei Minen und Vietor hatte sich bei einer Besichtigung des Bergwerkes von der Reichhaltigkeit des Gesteins überzeugen können, vgl. J. K. Vietor (Tarquah) an Hedwig Vietor vom 28.8.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Vietor stieg zunächst nur mit 4.000,- Mark in das Geschäft ein, mußte aber am Jahresende konstatieren, dass die Mine bislang keine Gewinne abgeworfen hatte, J. K. Vietor (Monrovia) an Hedwig Vietor vom 31.12.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10; J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 8.12.1912, ebd. 358 Vietor fand für gut geführte Plantagen wie etwa die Kpeme Plantage in Togo, die er dort „nicht missen“ wollte, schon früh anerkennende Worte und widersprach damit ausdrücklich der Ansicht, er wäre prinzipiell gegen Plantagen. „Ich muss dabei bleiben: Plantagen sind ein Segen und Vorteil fürs Land, wenn sie sich bei Heranziehung freiwilliger Arbeiter für die Besitzer bezahlt machen, und in diesem Fall freudig zu begrüßen. Kann man aber eine Plantage nur durch erzwungene Arbeit rentabel machen, dann ist und bleibt sie ein großes Unglück für das Land“, Vietor, J. K.: Plantagen und Eingeborenenkulturen, in: DKZ 1902, S. 170f.; vgl. auch Vietor, J. K.: Die Arbeiterfrage in Kamerun, in: DKZ 1902, S. 242–244, 243.

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gefordert.359 Als er sich 1909 trotzdem dazu entschloss, an der Gründung der Deutschen Tabakbaugesellschaft Kamerun (DTK) mitzuwirken, begründete er diesen Schritt damit, dass der Anbau einzelner Kulturen wie Sisalhanf und Tabak nur durch den Einsatz feinster Züchtung und professioneller Anbautechnik möglich sei, was ein kleinbäuerlicher Betrieb nicht leisten könne.360 Außerdem betonte er, er habe sich am Tabakbau nur auf Bitten des Kolonialamtes beteiligt.361 Wichtig war ihm auch, darauf hinzuweisen, dass die Vergabe von Land für den Tabakbau in Anlehnung an bodenreformerische Gedanken erfolge.362 Die in Bremen ansässige Gesellschaft konstituierte sich am 24.3.1910 zunächst als GmbH mit einem Gründungskapital von 200.000,- Mark und konzentrierte sich auf den Anbau von Tabakdeckblatt. Vietor wurde in den Aufsichtsrat gewählt und gehörte zu den 52 Personen, die das Anfangskapital zusammenbrachten.363 Anfang 1912 konnte in zwei getrennten Verträgen insgesamt fast 5.000 ha Land entlang der Nordbahn zu einem Preis von 5,- Mark/ha für die Flächen innerhalb der 2 Kilometerzone links und rechts des Schienenverlaufs und 3,- Mark/ha außerhalb der 2 Kilometerzone gepachtet werden, im Falle des Anbaus von Tabak reduzierte sich der Pachtzins auf den Flächen außerhalb der Zone auf 2,- Mark/ha. Analog zu den Pachtpreisen konnte das ent359 Vietor, J. K.: Koloniale Bodenpolitik, in: Helbeck-Elberfeld, Paul (Hrsg.): Deutschlands Kolonien und seine Kolonialpolitik. Aufsätze erster Kolonialpolitiker, Köln 1906, S. 13–23, 15. 360 Vietor, 1913 (wie Anm. 147), S. 119. 361 Wie wichtig dem Kolonialamt die Kultivierung von Tabak in Kamerun war, beweist eine Verfügung Dernburgs an Gouverneur Seitz, nach der man angesichts der Wichtigkeit des Tabakanbaus für Kamerun prüfen sollte, ob nicht sogar ein Regierungsgärtner auf Regierungskosten zur Pflege des Versuchsfeldes der Gesellschaft abgestellt werden könnte, auch wenn das ein Präzedenzfall wäre, vgl. Verfügung an Herrn Gouverneur in Buea vom 31.3.1910, BAB, R 10013555, Bl. 25f. Ebermaier war später wegen des Interesses des Schutzgebietes an der Kultivierung des Tabakbaus zu weiteren ungewöhnlichen Unterstützungmaßnahmen bereit wie etwa der wiederholten Gestellung amtlich angeworbener Arbeiter, Gouvernement von Kamerun [Ebermaier] an Staatssekretär im KolA vom 29.9.1912, Bl. 139–141. Die erste Anregung an die Kolonialverwaltung, den Tabakanbau in Kamerun zu fördern, wollte die DKZ gegeben haben. Wegen der starken Abhängigkeit von Decktabak aus Java und Borneo, die fast ausschließlich über Holland eingeführt wurden, sah die DKZ im Aufbau eigener Produktionsfelder ein wichtiges kolonialpolitisches Ziel, DKZ 1913, S. 435. 362 Vietor, 1913 (wie Anm. 147), S. 125. Vietor mußte allerdings zugeben, dass sich seine Gesellschaft auf das zunächst erfolgte reine Pachtangebot von Landflächen durch die Regierung nicht einlassen wollte, sodass diese die Option zum späteren Kauf der Flächen einräumen mußte. Diese Vereinbarung bedauerte Vietor zwar und hätte sich ein größeres Maß an Verwirklichung bodenreformerischer Gedanken gewünscht, also eine reine Pachtlösung, arrangierte sich dann aber doch mit der gefunden Lösung, da sie in seinen Augen immer noch besser war, als wertvolles Land brach liegen zu lassen, ebd., S. 125f. 363 Anlage zum Schreiben des Deutschen Tabakvereins an Dernburg vom 5.4.1910, BAB, R 10013555, Bl. 29. Zu Geschäftsführern wurden Syndicus Schlossmacher (Frankfurt) und Otto Lautz (stellv. Geschäftsführer, Frankfurt) bestellt. Außerdem wurden bei der konstituierenden Sitzung die Wahlvorschläge für den Aufsichtsrat vom 10.1.1910 unverändert angenommen. Danach gehörten zum Aufsichtsrat nun die vormaligen Vorstandsmitglieder des vorläufigen e.V.s Commercienrat Landfried (1. Vors., Heidelberg), F. C. Biedermann (stellv. Vors., Bremen), Georg Riesch (Frese und Riesch/Bremen), Franz Thorbecke (Thorbecke & Co./Mannheim), J. K. Vietor (Bremen), Commercienrat Wellensiek (Wellensieck und Schalk/Speyer), Deutscher Tabakverein e.V. (Frankfurt) an RKolA vom 10.1.1910, ebd., Bl. 15–17.

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sprechende Land nach Ablauf der Versuchsphase zum Preis von 50,- Mark/ha innerhalb der Zone und 30,- Mark, resp. 20,- Mark/ha außerhalb der Zone erworben werden. Voraussetzung für den späteren käuflichen Erwerb war jedoch die Kultivierung von mindestens der Hälfte der Flächen. Der Pachtvertrag trat am 1.1.1912 in Kraft und hatte eine Laufzeit von 30 Jahren. Danach mußte die Gesellschaft Ende 1913 über ein Kapital von mindestens einer Million Mark verfügen.364 Für das Gebiet des Mbanga Plateaus wurde für die Jahre 1912 und 1913 die vertraglich vereinbarte Neubestellungspflicht von mindestens 150 ha/Jahr auf zusammen 100 ha bis Ende 1913 gesenkt.365 Bis August 1912 waren bereits 300.000,- Mark in Kamerun investiert worden. Neben dem Pflanzungsleiter Bolland wurde noch ein weiterer Pflanzungsleiter entsandt sowie acht Helfer. Dennoch geriet die Gesellschaft vorübergehend in Verzug bei der Neubepflanzung von Flächen und fürchtete, selbst die reduzierte Anbauverpflichtung bis Ende 1913 nicht einhalten zu können.366 Nach einem Arbeitergestellungsvertag mit Häuptling Joja entspannte sich die Situation im Hebst 1912 jedoch.367 Bis März 1913 konnte die Gesellschaft ihre gepachteten Flächen auf insgesamt 9.000 ha erweitern, was angesichts der Verzögerungen beim Anbauumfang an sich kaum Sinn machte und wohl in erster Linie der Absicherung gegen Ansprüche der Konkurrenz diente. Vietor hatte vor einer zu großen Ausweitung gewarnt und rechnete für 1913 noch nicht mit Gewinnen, bei einer von ihm erwarteten Ernte von 150.000 Pfund Tabak jedoch ab 1914.368 Auf Beschluss der Mitgliederversammlung vom 8.3.1913 wandelte sich die Gesellschaft im Frühjahr 1913 in eine Aktiengesellschaft um und firmierte fortan unter dem Namen Tabakbau- und Pflanzungs-Gesellschaft Kamerun AG. Durch die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft konnte das Kapital auf 2,5 bis 3 Millionen Mark erhöht werden.369 Bis zum Ausbruch des Krieges produzierte die Gesellschaft 102.321 kg Tabak im Wert von 869.728,- Mark.370 Zwar betonte Vietor immer wieder, dass seine Gesellschaft sich durch gute Behandlung und Bezahlung der Arbeiter von anderen Plantagen unterschied, de facto kam sie jedoch ebenso wenig ohne staatliche Hilfe bei der Arbeitergewinnung aus,

364 Vertragsentwurf des Gouvernements über das Land auf dem Mbanga Plateau längs des Mungo, BAB, R 1001-3555, Bl. 94–98. Der zweite Vertrag über das Land bei Njombe-Penja basierte auf teilweise leicht abgewandelten Bestimmungen, vgl. ebd. Bl. 116–118. 365 § 4 des Vertragsentwurf des Gouvernements über das Land auf dem Mbanga Plateaus längs des Mungo, BAB, R 1001-3555, Bl. 95. 366 DTK an RKolA vom [3.8.1912], BAB, R 1001-3555, Bl. 122–124. 367 B. Bolland und E. Danielsen an Ebermaier vom 7.10.1912, BAB, R 1001-3555, Bl. 144; DTK an RKolA vom 20.12.12, ebd., Bl. 147. 368 J. K. Vietor an Freese vom 1.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 210. 369 Zeitungsbericht der Täglichen Rundschau vom 10.3.1913, BAB, R 1001-3555, Bl. 148; vgl. auch DKZ 1913, S. 156. Die Gründung der AG fand am 7.5.1913 statt. Bis zum Krieg konnte das Kapital auf 2,6 Millionen Mark erhöht werden, 400.000,- Mark waren davon voll eingezahlt, von den restlichen 2,2 Millionen Mark erst 25 %, Tabakbau- und Pflanzungs-Gesellschaft Kamerun AG, in: Koloniallexikon (wie Anm. 9), S. 450. 370 Dr. F. W. Bitter an Kol. Abt. im AA vom 2.7.1926, R 1001-3556, Bl. 36.

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wie die Konkurrenz, mit allen Begleiterscheinungen, die Vietor 1913/14 dann energisch öffentlich bekämpfte.371 Beteiligung an Handelskartellen Kartellbildungen und Preisabsprachen gehörten spätestens seit seiner Zuwendung zur Bodenreformbewegung um die Jahrhundertwende und seinem Anschluss an die Christlich-Soziale Partei zum festen Bestandteil von Vietors politischen und ökonomischen Feindbildern. Angesichts der Neigung von manchen Konkurrenten, mit Dumpingpreisen das Geschäft anderer zu zerstören, hatte er allerdings in manchen Fällen Verständnis für entsprechende Absprachen. „Wer das heutige Geschäftsleben genauer kennt, wird gegen die Syndikate nicht viel einwänden (sic) können, da die Konkurrenz zu oft zu unwirtschaftlich arbeitete und auch dem ruhigsten und verständigstem Geschäftsmann seinen notwenigen Verdienst fast unmöglich machte. Aber wie die Gründung der Syndikate nur eine Folge der unsinnigen Übertreibung der Geschäfte war, so ist die heutige Übertreibung der Syndikate auch durchaus zu verurteilen.“372

Grundsätzlich blieb er jedoch ein Gegner derartiger Absprachen und bekämpfte speziell die Syndikate der Schwerindustrie im Ruhrgebiet.373 Diesen Grundsatz vertrat er lange auch auf kolonialwirtschaftlichem Terrain und lehnte folgerichtig zunächst eine Einladung der englischen Firma Swanzy, zusammen mit anderen Firmen ein Handelskartell in Togo zu gründen, ab.374 Nach Jahren der Blockade gegen 371 s. Kap. 4.3.1. 372 Vortragsmanuskript über Evangelium und Erwerbsleben [1913], VPAH, S. 6. Das hier später mit Hand überschriebene Manuskript „Christlich soziale Partei – evtl. 1912/13“ ist im Kern ein Vortrag, den Vietor fast gleichlautend mehrere Male vor und nach dem Krieg gehalten hat. Seine Meinung zu Kartellen hat sich dabei nicht verändert. 373 In einem Vortrag kritisierte er 1910 Klagen deutscher Arbeitgeber wegen zu hoher Lohnforderungen und führte die von ihnen beklagte schwindende internationale Wettbewerbsfähigkeit vielmehr auf die vielfachen Preisabsprachen in den unterschiedlichen Branchen zurück, die zu einer künstlichen Verteuerung der Waren führen würden. Kartelle trügen auf diese Weise auch sozialpolitischen Sprengstoff in sich. „Tausendfach sind die Beschwerden über das rücksichtslose Vorgehen der Syndikate.“ Als erschütternden Beleg dieser Behauptung sah er die Berichte über die kontradiktorischen Verhandlungen des Reichsinnenministeriums über die deutschen Kartelle in der Kohle- und Koksindustrie an. Aus ihnen ging für ihn klar hervor, welche monopolistische Macht der Gründer des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats (RWKS), Commerzienrat Emil Kierdorf in dieser Branche hatte. Niemand hätte den Mut gehabt, ihm zu widersprechen oder ihn zu kritisieren, aus Frucht, von ihm anschließend in den Ruin getrieben zu werden, Vietor, J. K.: „Evangelium und Erwerbsleben“ [1910], VPAH, S. 14f. Der Vortrag wurde vom Verlag der Christlich-Sozialen Partei etwa 1910/11 veröffentlicht. Zu den kontradiktorischen Verhandlungen des Reichsinnenministeriums über Kohle- und Kokssyndikate vgl. Reichsamt des Innern (Hg.): Kontradiktorische Verhandlungen über Deutsche Kartelle, Bd. 1: Steinkohlen und Koks, Berlin 1903. 374 „Ich bin jederzeit gegen solche Abkommen gewesen“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 57. In den Verhandlungen im Vorfeld des Abschlusses eines (neuen) Poolvertrages stand er auch später auf dem Standpunkt: „Ich bin kein großer Freund von solchen Abkommen“, und zeigte sich überzeugt, auch alleine klar zu kommen, indem er

Beteiligung an Kapitalunternehmen, Kartellen und plantagengesellschaften

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ein Handelskartell in Togo375 stimmte er schließlich einer entsprechenden befristeten Pool-Bildung zu376 und nutzte dieselbe dann auch entschlossen, um sich gegen seinen Hauptkonkurrenten im Baumwollgeschäft, Friedrich Hupfeld, und die DTG zur Wehr zu setzen.377 Nur kurze Zeit später sah er sich wegen des jahrelang desaströs geführten Kampfes um die Vorherrschaft auf dem Baumwollmarkt zwischen der TBG, dessen größter Anteilseigner Vietor war, und der DTG gezwungen, eine weitere Kartellabsprache einzugehen. 1912 beendeten TBG und DTG durch den Abschluss eines „Ginpoolabkommes“ diesen für beide Seiten kostspieligen Kampf, während dem Überkapazitäten an Ölpressen entstanden waren, die nun nicht ausgelastet werden konnten.378 Wenn Vietor 1913 das Motiv einiger Firmen für einen neuen Poolvertrag darin sah, auf diese Weise ihr zu groß angelegtes Firmennetz subventionieren zu lassen,379 so hatte er im Falle des Baumwollgeschäftes letztlich nichts anderes getan und dann sein Heil in Preis- und Firmenabsprachen gesucht. Die Verhandlungen über die Bildung eines neuen Handelsfirmenkartells zogen sich über Monate in die Länge, da jede Firma möglichst gute Konditionen für sich herausschlagen wollte.380 Vietor war der Meinung, eine Nichtverlängerung des Pro-

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notfalls sein Geschäft vorübergehend einschränkte, vgl. J. K. Vietor an Fritz [Vietor] vom 8.9.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 384. Jahrelang hatten Vietor und eine weitere Bremer Firma eine Poolbildung in Togo verhindert. „Wir sehen ein solches Abkommen als eine Prämie auf die Unfähigkeit an, durch die die so verkehrt arbeitenden Firmeninhaber nicht einmal zu bessern Kaufleuten erzogen werden“, Vortragsmanuskript der Antrittsrede als Präses der Bremer Handelskammer am 2.1.1909, VPAH, Konv. 4, Teil 4, S. 6. Das erste Poolabkommen, ein reiner Produktenpool, lief bis zum 1.1.1914, verlängerte sich aber automatisch bis zum 31.3.1914, nachdem der Pool nicht zum 1.10.1913 gekündigt worden war, J. K. Vietor an Claus [Freese] vom 18.9.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 417; J. K. Vietor an Fresse vom 3.10.1913, ebd. Bl. 464. Die DTG hatte, um ihre Ölpressen besser auslasten zu können, 5 Pfennig mehr für Baumwolle bezahlt als die mit ihr konkurrierende Togobaumwollgesellschaft (TBG). Darin sah Vietor einen Verstoß gegen die Abmachungen des Pools und beschwerte sich bei den anderen Poolmitgliedern, was zu einer Rüge für die DTG führte, J. K. Vietor an Kulenkampff vom 21.3.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 210f. In Bezug auf die Palmölgewinnung konnte jedoch keine Einigung zwischen DTG und TBG erzielt werden. Das 1912 in Lome in Betrieb genommene Palmölwerk konnte daher nicht wirtschaftlich arbeiten und wurde 1913 aus der TBG ausgelagert und von der am 11.6.1913 gegründeten Togo-Palmölwerke GmbH weitergeführt. Dadurch verbesserte sich die Auslastung des Werkes aber nicht und Vietor, der mit einer Einlage von 50.000,- Mark der größte Anteilseigner war, mußte große Verluste hinnehmen, vgl. J. K. Vietor an Friebel vom 22.7.1913, StAB, 7,7351, Bl. 325; vgl. auch Erbar, 1991 (wie Anm. 31), S. 117f.; Müller, 1973 (wie Anm. 26), S. 123f.; vgl. Kap. 4.2.4. Die schlechten Geschäftszahlen mancher Togofirmen resultierten offensichtlich auch aus einer zu extensiven Ausweitung von Handelsniederlassungen. Deshalb sollte auf einer Poolsitzung in Hamburg über eine Begrenzung der Niederlassungen entschieden werden. Vietor sah die ganzen Kartellabsprachen als sinnlos an, wenn sie dazu führten, dass die dadurch erzielten höheren Gewinne wieder durch solche unternehmerischen Fehler aufgefressen würden, J. K. Vietor an Zimmering vom 4.7.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 269. Auf der ersten Sitzung, die am 4.7.1913 in Hamburg stattfand, führte auch Vietor einen energischen Kampf um seine Stellung, das heißt um möglichst hohe Anteile an der Gewinnausschüttung des zu gründenden Pools, und war am Ende bereit, dem Pool unter Umständen beizutre-

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duktenpools deutlich besser überstehen zu können als die meisten Konkurrenten und rechnete zudem nicht mit einem dann einsetzenden Preiskampf, da er für die Konkurrenz zu ruinös sein würde.381 Dass das neue Kartell tatsächlich einen Graubereich darstellte, wurde spätestens klar, als das Gouvernement diese Firmenpolitik scharf kritisierte und Überlegungen anstellte, selbst mit dem Maisankauf zu beginnen. Vietor riet daher dazu, den ganzen Produktenpool „auffliegen zu lassen, da ein Bekanntwerden dieser Verhältnisse sicher für das Togogeschäft nicht von Vorteil sein wird und unseres Erachtens dadurch leicht weitere Konkurrenz angelockt werden kann.“382 Ein „Auffliegen“ dieser Geschäftspraktiken dürfte aber auch seinem eigenen Renomee erheblich geschadet haben, da er als dezidierter Gegner von Preisabsprachen und Kartellen galt und damit offiziell die Linie seiner Partei vertrat.383 Anfang November 1913 kam es dann endlich zum Abschluss des neuen Poolvertrages, einem Warenpool,384 den Vietor wegen der großen Vorteile für sein Geschäft nun sehr begrüßte und dessen Zustandekommen er hauptsächlich sich selbst zu Gute hielt. „Ich glaube, diese ganzen Abkommen wären nicht zustande gekommen, wenn ich mich nicht auf einen sehr entgegenkommenden grossartigen Standpunkt gestellt hätte.“385 Das Abkommen bedeutete eine Preiserhöhung für seine Kunden von 5 bis 10 %. Der alte Produktenpool blieb bestehen, dem neuen Ginpool (Baumwollpool) dagegen gehörte Vietor nicht mehr an.386 Für Vietor bedeutete der neue Warenpool, dass er von seinen Verkaufserlösen 12,5 % in die

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ten, J. K. Vietor an Zimmering von 8.7.1913, ebd., Bl. 271f. Nur drei Wochen später sorgte er sich jedoch, den anderen möglicherweise zu weit entgegengekommen zu sein, J. K. Vietor an Lutze vom 22.7.1913, ebd. Bl. 317–319; vgl. auch J. K. Vietor an Lutze vom 9.9.1913, ebd., Bl. 392f. J. K. Vietor an Lutze vom 9.9.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 392–394. J. K. Vietor an Direktor [Hupfeld] vom 18.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 274; vgl. auch J. K. Vietor an Schiller vom 19.12.1913, ebd., Bl. 283f. Sein Parteikollege Reinhard Mumm zeigte allerdings ein gewisses Verständnis für Kartellbildungen: „Die Kartelle werden von uns nicht grundsätzlich verworfen; wir sind vielmehr der Überzeugung, dass der freie Wettbewerb nicht ausreicht, sondern eingeschränkt werden muß. Zur Regelung der Bestellungen wie des Absatzes, zur Vermeidung wilder Spekulation und schwerer Krisen können die Kartelle Gutes wirken.“ Dennoch machte er klar, dass sich seine Partei dem Antrag des Zentrums vom 11.3.1908 anschlösse und grundsätzlich die Einführung einer Kartellbehörde forderte, vgl. Mumm, Reinhard: Wider die Trusts, in: Die Arbeit 48 (1911), S. 3f. In diese Richtung hatte sich bereits 1907 auch der führende CSP Politiker Otto Rippel im Zusammenhang mit seiner Kritik an der laxen Behandlung der Kartellfrage der Regierung ausgesprochen: „Wir dagegen meinen, die reichsgesetzliche Regelung der Kartellfrage ist eine Forderung, die wir im Interesse des Allgemeinwohls erheben müssen“, Rippel, Otto: Zur Kartellfrage, in: Die Arbeit 21 (1907), S. 3–4, 4. Auch der CSP Abgeordnete Franz Behrens hatte 1907 vor den Folgen einer „Trustierung“ der deutschen Industrie, insbesondere im Montanbereich, gewarnt und die Verstaatlichung der Bergwerke gefordert. Der weitgehende Konzentrationsprozeß des Wirtschaftslebens in den USA war für ihn ein abschreckendes Beispiel, SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., 58. Sitzung vom 26.11.1907, S. 1812. Vgl. J. K. Vietor an Lutze vom 24.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 168; vgl. J. K. Vietor an Claus [Freese] vom 19.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 307. J. K. Vietor an Freese, o. D., StAB, 7,73-52, Bl. 80; vgl. J. K. Vietor an Fritz [Vietor] vom 5.11.1913, ebd., Bl. 71–73. J. K. Vietor an [Freese] vom 5.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 87.

Beteiligung an Kapitalunternehmen, Kartellen und plantagengesellschaften

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Kasse des Warenpools einzahlen musste, dafür aber mit 11 % an den vierteljährlichen Gesamtausschüttungen beteiligt war. Da Vietors Unternehmen, nach eigenen Schätzungen, nur einen Marktanteil von 8,14 % hielt, profitierte er bei den Ausschüttungen überproportional.387 Bereits im Februar 1914 zeigte sich, dass sich der Pool für ihn auszahlte. Während seine direkten Gewinne nach Einzahlung der 12,5 % in den Pool auf 5–7 % sanken, kam er dank der Ausschüttungen des Pools letztlich doch wieder auf seine frühere durchschnittliche Gewinnspanne von 20–22 %. Vietor hielt es sogar für möglich, den Prozentsatz beim direkten Gewinn auf 15 % zu steigern, was letztendlich eine deutliche Steigerung gegenüber dem Arbeiten ohne Pool dargestellt hätte, allerdings zu Lasten der Käufer, die entsprechend höhere Preise durch diese Kartellpolitik bezahlen mussten.388 Wenngleich deutlich wird, dass Vietor nicht die Initiative zum Abschluss des Warenpools ergriffen hatte, sondern, um nicht isoliert zu werden, an den Verhandlungen teilnahm und dabei freilich versuchte, für sich gute Konditionen auszuhandeln, nahm er die Vorteile für seine Geschäftsentwicklung letztlich dankbar mit. Damit erwies er sich, wie insbesondere die Kartellabsprache zwischen DTG und TBG deutlich macht, als Realpolitiker, der zwar von klar erkennbaren Grundsätzen geleitet wurde, aber nicht zu ruinöser Fundamentalopposition neigte. Kartelle und Geschäftsabsprachen gehörten darüber hinaus durchaus zur allgemein üblichen Praxis im Kolonialhandel und konnten etwa in der Kautschukkrise in Kamerun 1912 die Situation der Firmen deutlich verbessern.389

387 J. K. Vietor an Fritz [Vietor] vom 1.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 201; J. K. Vietor an [Freese] vom 5.11.1913, ebd., Bl. 86. 388 J. K. Vietor an Fritz Vietor vom 20.2.1014, StAB, 7,73-53, Bl. 200. Wenngleich Vietor seine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Kartellen betonte und im Falle von Togo seine schließliche Zustimmung mit der Sorge vor Isolierung und dem Druck der eigenen Mitarbeiter in Togo begründete, gab er die wirtschaftlichen Vorteile derselben ohne Umschweife zu: „Der äussere Erfolg war allerdings enorm“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 2), VPAH, Geschäftliches, S. 57f. 389 So verweist der VWK darauf, dass das am 31.10.1912 aufgelöste Gummi-Syndikat in SüdKamerun „ganz außerordentlich zur Gesundung des Süd-Kameruner Handels beigetragen“ hatte und plädierte für ein neues Syndikat, das nun alle am Handel in Südkamerun beteiligte Firmen umfassen sollte, DKZ 1913, S. 254. Auch in Liberia übte die Konkurrenz Druck auf Vietor und Huber aus, sich einem Syndikat anzuschließen, J. K. Vietor an Oskar vom 19.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 181f.

4 KOLONIALPOLITISCHES ENGAGEMENT BIS ZUM AUSBRUCH DES ERSTEN WELTKRIEGES EINDÄMMUNG DES SPIRITUOSENHANDELS IN WESTAFRIKA Durch die Nähe zur Norddeutschen Missionsgesellschaft wurde Vietor bereits Mitte der 1880er Jahre mittelbar in die Auseinandersetzungen zwischen Missionsinspektor Zahn und einem der bedeutendsten Schnapsexporteure nach Westafrika, Adolf Woermann, hineingezogen. Als Folge davon bezog er bereits früh öffentlich Stellung zum Branntweinhandel, sowohl in Togo als auch in Deutschland,1 wenngleich er den Genuß von Wein, Bier und Spirituosen nicht prinzipiell ablehnte, sondern im Gegenteil selbst gerne und mitunter viel trank.2 Seine Herkunft wie auch seine eigenen Beobachtungen hatten ihn jedoch davon überzeugt, dass der Alkohol auf die Bevölkerung Afrikas eine verheerende Wirkung ausübe.3 Für die 1

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Von Anfang an stieß Vietor mit seinem Standpunkt, der Branntwein wäre das Verderben für die afrikanische Bevölkerung, auf heftigen Widerspruch in Togo. Er sah sich genötigt der Einschätzung des kaiserlichen Kommissars, der Branntwein wäre kein großes Problem, öffentlich zu widersprechen. Nach seinem ersten einjährigen Heimataufenthalt 1887/88 waren 50 % seiner Arbeiter der Trunksucht verfallen und zwei daran gestorben, Vietor, J. K.: Die Verhältnisse des Togo–Gebietes, in: Kölnische Zeitung vom 25.5.1890. Der frühere kaiserliche Kommissar Zimmerer bescheinigte ihm 1891, er habe bereits „früher verschiedene Artikel gegen die Schnapspest geschrieben“, [Zimmerer] an Kol.Abt. vom 26.11.1891: Zum Schreiben des Missionsinspektors Zahn vom 21. Nov. 1891, BAB, R 1001-4086, Bl. 12. Sein Sohn Wilhelm berichtet, Vietor hätte anläßlich der Beteiligung an der internationalen Konferenz gegen Alkoholmißbrauch in Stockholm sein Hotel gewechselt, als er merkte, dass es ein abstinentes Haus war und keinen Alkohol an seine Gäste ausschenkte, Vietor, Wilhelm, 1991: Unter der Speckflagge, S. 42. Knoll irrt, wenn er angibt, der Gesellschaftervertrag zwischen Vietor und Claus Freese von 1900 enthielte den Passus, dass Freese weder Alkohol an Afrikaner verkaufen, noch selbst Alkohol trinken dürfe, Knoll, Arthur J.: Die Norddeutsche Missionsgesellschaft in Togo 1890–1914, in: Bade, Klaus J. (Hrsg.): Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 22), Wiesbaden 1982, S. 165–188, 172. Der entsprechende § 2 besagte lediglich, Freese „erkennt Herrn Vietors Principien in Bezug auf den Branntweinhandel etc. an“, Gesellschaftervertrag zwischen J. K. Vietor und C. Freese vom 6.2.1900, StAB, 7,2001-2. Zunächst hatte Vietor sich des Alkoholgenusses enthalten als er 1884 erstmalig nach Afrika kam. Sein Vetter Friedrich Noltenius überzeugte ihn jedoch schon nach acht Tagen, diese Haltung aufzugeben: „Bis dahin war ich in Afrika Temperenzler gewesen, da man mir gesagt hatte, daß der Alkoholgenuß in den Tropen sehr schädlich sei.“ Danach trank er abends regelmäßig eine halbe Flasche Wein, später eine ganze Flasche und mehr. Vietor, J. K.: Bericht von J. K. Vietor, unv. Erinnerungen [1905/1930] VPAH, S. 19f. Seine grundsätzliche Einstellung zum Branntweinverkauf an Afrikaner hinderte ihn jedoch nicht daran, gelegentlich auch Alkoholgeschenke einzusetzen, um mit afrikanischen Kunden Geschäfte machen zu können. In Savi (Dahomey) etwa schenkte er den Trägern jeweils 1 ½ Frs., damit sie sich davon Rum kaufen konnten, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom

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4 Kolonialpolitisches Engagement bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges

vietorsche Stammfirma gehörte der Verzicht auf den Handel mit Alkohol von Anfang an zu den unternehmerischen Grundsätzen, gewann jedoch durch die enorme Steigerung des Alkoholhandels mit Westafrika seit Anfang der 1880er Jahre sowie den Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte zunehmend auch an politischer Bedeutung.4 Bereits 1883 belief sich der Gesamtwert der Spirituosenausfuhr nach Westafrika auf 12 Millionen Mark,5 was einem Gesamtanteil des deutschen Westafrikaexportes von 48 % entsprach. 1884 entfielen nach Berechnungen des Missionsinspektors Zahn 66 % des Hamburger Exportes nach Westafrika auf den Handel mit Schnaps.6 1884/85 gelangten insgesamt etwa 2,15 Millionen Liter nach Lome, Bagida und Klein Popo im Wert von 880.000,- Mark, was etwa einem Drittel des Gesamtwertes aller Einfuhren entsprach.7 Selbst Zahns Gegner in der Debatte um den Branntweinhandel, der nationalliberale Reichstagsabgeordnete und Hamburger Reeder Adolf Woermann, hielt den Handel mit Branntwein nach Westafrika prinzipiell für bedenklich: „An sich bin ich persönlich der Meinung, dass es ein Vortheil (sic) für den Handel wäre, wenn der Schnapshandel aufhören könnte. Ich bin an sich der Meinung, dass der Verkauf von Spirituosen nicht günstig auf die Neger wirkt.“ Angesichts der leichten Gewinne in diesem Geschäft sah er den umfangreichen Export von Spirituosen in der Güterabwägung zwischen Geschäftsgewinn und Verantwortung für die Gesundheit der afrikanischen Abnehmer dennoch als legitim an: „Sollen wir aus Philantropie für die Neger, die doch

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11.11.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Im Hinterland von Ouidah versprach er einem Mann eine ganze Flasche Portwein, wenn er ihm nur genug Gummi liefern würde, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 25.4.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Diese Geschäftspraxis blieb aber die Ausnahme. Allein die Ausfuhr von deutschem „Kartoffelsprit“ hatte sich von 1877 bis 1886 verdreifacht, Wehler, Hans-Ulrich: Bismarck und der Imperialismus, München4 1976, S. 325. Auf der Kongokonferenz 1884/1885, an der auch Woermann als Delegierter teilnahm, wurden auf Geheiß Bismarcks konkretere Schutzbestimmungen in Bezug auf den Schnapshandel bewußt vermieden. Neben den Hamburger Überseehändlern verdienten schließlich auch die ohnehin in der Krise steckenden ostelbischen Kartoffelschnapsbrenner an diesem Geschäft. Auch Bismarck selbst war im Besitz von vier entsprechenden Brennereien. 1884/85 wurde die Schnapsausfuhr mit einer „Exportbonifikation“ von 16,- Mark/hl durch das Reich subventioniert, Hücking, Renate / Launer, Ekkehard: Aus Menschen Neger machen. Wie sich das Handelshaus Woermann an Afrika entwickelt hat, Hamburg 1986, S. 65. Meinecke, Gustav (Hrsg.): Koloniales Jahrbuch. Das Jahr 1888, Berlin 1889, S. 175. Dabei handelte es sich bei dem exportierten Alkohol um Branntwein, der zu einem „unglaublich billigen Preise“ produziert worden war. 12 Flaschen kosteten in der Produktion lediglich etwa 2,50 Mark. Zahn, Franz Michael: Der westafrikanische Branntweinhandel. Erwiderung auf die Offene Antwort des Herrn Reichstagsabgeordneten A. Woermann, Gütersloh 1886, S. 11f. Reichsamt des Innern, 1885: Handelsbericht für das Togo-Gebiet, S. 832f. Die in Gallonen angegebenen Branntweinvolumina sind hier mit dem Faktor 3,79 auf Liter umgerechnet. Der Wert der Gesamteinfuhr für Lome, Bagida und Klein Popo wird mit 2.649.000,- Mark angegeben. Zum Branntweinhandel mit Togo vgl. auch Erbar, Ralph, 1991: Ein „Platz an der Sonne“?, S. 218–234; Gründer, Horst, 2004: Geschichte der deutschen Kolonien, S. 131–133; Knoll, Arthur J., 1978: Togo, S. 117–122; Müller, Hartmut, 1973: Bremen und Westafrika, S. 131– 134; Pabst, Martin, 1988: Mission und Kolonialpolitik, S. 525–533; Sebald, Peter, 1988: Togo 1884–1914, S. 402–405.

Eindämmung des Spirituosenhandels in Westafrika

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nicht so lange unsere deutschen Brüder sind, einen großen Geschäftszweig unterbinden? Das würde ich für sehr verkehrt halten.“ So gesehen kam er schließlich zu einer Relativierung der zuvor eingeräumten schädigenden Wirkung des Alkohols und behauptete schließlich zynisch: „Im Übrigen glaube ich nicht, daß den Negern durch den Schnaps ein sehr großer Schaden zugefügt wird. Ich meine, daß es da, wo man Zivilisation schaffen will, hier und da eines scharfen Reizmittels bedarf, und daß scharfe Reizmittel der Zivilisation wenig schaden.“8

Nicht zuletzt dieser Zynismus verschärfte die Tonlage der folgenden Auseinandersetzung.9 Voraus gingen ihr aber im April 1885 Petitionen der Basler und der Norddeutschen Mission, später auch der Rheinischen Mission an Bismarck, den Branntweinhandel in den Kolonien zu unterbinden, respektive hohen Zöllen zu unterwerfen.10 Auf der Bremer Missionskonferenz vom 27.-29.10.1885 konnte Zahn die anwesenden Missionsvertreter mit seinem Referat, „Der überseeische Branntweinhandel“,11 auf eine Linie einschwören und für einen gemeinsamen politischen Vorstoß gewinnen. Die Missionskonferenz beschloß, eine Petition an Bismarck zu richten sowie sich in einem Aufruf an das deutsche Volk zu wenden.12 Durch diese konzertierte Aktion der Missionskonferenz wurde Woermann nun auch 8

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SBR, 6. Leg. per., 1. Sess., 41. Sitzung vom 4.2.1885, S. 1087. In der Kontroverse mit Zahn ging Woermann ein Jahr später noch weiter: „Wer steht uns näher: die vielen Tausend Deutsche, die ihr Brod (sic) und Lebensunterhalt [u.a. durch den Branntweinhandel, Anm. B.O.] verdienen, oder die an sich geringe Zahl der Neger, die etwa durch den Branntwein zu Grunde gehen könnten?“, Woermann, Adolf: Mission und Branntwein-Handel. Offene Antwort an Herrn Missionsinspektor Zahn auf seinen offenen Brief in der Weser-Zeitung vom 3./4. Februar, Hamburg 1886, S. 22. Zur Kontroverse zwischen Zahn und Woermann vgl. auch F. M. Zahn: Der überseeische Branntweinhandel. Seine verderblichen Wirkungen und Vorschläge zur Begrenzung desselben, in: AMZ 1886, S. 9–39; Woermann, 1886 (wie Anm. 9); F. M. Zahn: Der westafrikanische Branntweinhandel. Erwiderung auf die offene Antwort des Herrn Reichstagsabgeordneten A,Woermann, Gütersloh 1886; F. M. Zahn: Noch einmal: Der Branntweinhandel, in: AMZ 1889, S. 160–178. Zur weitergehenden Auseinandersetzung der Missionen um den ausufernden Branntweinhandel vgl. auch: Bade, Klaus J., 1975: Friedrich Fabri, S. 272–279; Wehler, 1976 (wie Anm. 4), S. 325–328; Gründer, Horst, 1982: Christliche Mission, S. 252–256; Bade, Klaus J.: Ostafrikanische Völker zwischen Mission und Regierung. Referate einer Arbeitskonferenz in Erlangen, 16. – 18. Juni 1982, Erlangen 1982, S. 117–122; Knoll 1982 (wie Anm. 2), S. 171–173; Nestvogel, Renate: Mission und Kolonialherrschaft in Kamerun, in: Bade, Klaus J., 1982 (wie Anm. 2), S. 205–225, hier besonders S. 211; Schubert, Michael: Der schwarze Fremde. Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion in Deutschland von den 1870er bis in die 1930er Jahre (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 86), Stuttgart 2003, S. 141–143. Warneck, Gustav: Eine bedeutsame Missionskonferenz, in: AMZ 1885, S. 545–563, 546; vgl. auch Bade, Klaus J.: Mission und Kolonialbewegung, Kolonialwirtschaft und Kolonialpolitik in der Bismarckzeit: der Fall Friedrich Fabri, in: ders. (Hrsg.), 1982: Imperialismus und Kolonialmission, S. 103–141, 118; Gründer, Horst: Geschichte und Humanität, Münster2 1994, S. 126; Halldèn, Erik: The Culture Policy of the Basel Mission in the Cameroons 1886–1905 (Studia ethnographica Usaliensia; 31), Uppsala 1968, S. 26; Bade, 1975 (wie Anm. 9), S. 275; Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 222f. Abgedruckt in: AMZ 1886, S. 9–24. Grundemann, Reinhold: Zwei Bittschriften an den Reichskanzler betreffend die Beschränkung

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im Reichstag unter Druck gesetzt. In Anlehnung an Zahn und die Petition der eben zu Ende gegangenen Bremer Missionskonferenz hatte der freisinnige Abgeordnete Eugen Richter am 24.11.1885 eine Handelsausweitung nach Westafrika auf der Basis von Branntweinexporten abgelehnt. Am 19.1.1886 kam auch Zahns Referat auf der Bremer Konferenz im Reichstag zur Sprache. Woermann versuchte, in Erwiderung auf Zahns Behauptungen, nachzuweisen, daß der Anteil des Branntweinhandels am Gesamthandel mit Kamerun nur bei 10 bis 12 % läge: „Das, was die Herren Missionäre (sic) hier behauptet haben, beruht thatsächlich nicht auf Sachkenntnis.“ Die von den Missionaren behaupteten 65 % wären „eine große und arge Übertreibung“. Auch die von der Konferenz behaupteten Folgen des Branntweins auf die einheimische Bevölkerung Kameruns wären weit übertrieben. Insbesondere wehrte er sich gegen die von Zahn geforderten Einfuhrzölle.13 Gegen die Infragestellung des Wahrheitsgehaltes der Angaben Zahns wandte sich nun der christlich-soziale Abgeordnete, Hofprediger Adolf Stoecker, der ein großer Missionsfreund war und insbesondere die Arbeit der Basler Mission seit Jahren interessiert verfolgte.14 Stoecker machte Woermann klar, daß er den Widerstand im nationalen und christlichen Lager gegenüber seinem Branntweingeschäft in erster Linie seinen eigenen Äußerungen im Reichstag Anfang 1885 verdanke, die in der Folge in der Presse für Schlagzeilen gesorgt hatten. „Ich protestiere gegen alle diese Äußerungen als zum Theil unrichtig, zum Theil inhuman im höchsten Grade […] Daß wir aus Liebe zu ihnen [den afrikanischen Abnehmern, Anm. B.O.] einen Geschäftszweig einschränken, der sie ruiniert, finde ich so selbstverständlich, daß ich das Gegentheil nicht einnmal begreife. Den Schnaps aber als Reizmittel der Zivilisation zu bezeichnen ist geradezu ungeheuerlich.“15

Stoecker appellierte an den Reichstag, aus der Geschichte zu lernen und eine humane Kolonialpolitik zu verfolgen: „Von dem humanen Geiste Deutschlands erwartet man, daß wir den Fehler, welchen andere Völker gemacht, und wir so oft getadelt haben, nämlich die unzivilisierten Nationen nur als ein Ausbeutungsland für Geschäftsgewinn anzusehen, vermeiden.“16

Damit beschrieb Stoecker bereits 1886 die kolonialpolitischen Grundlinien, die Vietor zwanzig Jahre später in der CSP weiterentwickeln sollte. Trotz der zeitweise

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des Branntweinimports in Westafrika, in: AMZ 1885, S. 290–299; Erklärung an das deutsche Volk, in: AMZ 1885, S. 547f. SBR, 6. Leg. per., 2. Sess., 28. Sitzung vom 19.1.1886, S. 641f. Stupperich, Robert: Adolf Stoeckers Anfänge. Nach ungedruckten Briefen und unbeachteten Aufsätzen, in: HZ 202, S. 309–332, 317; Oertzen, Dietrich von: Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte (Bd. 1), Berlin 1910, S. 65. Stoecker hatte bereits in den 1860er und frühen 1870er Jahren versucht durch Missionsfeste in seiner Pfarrgemeinde eine Liebe für die Mission zu wecken, insbesondere die Basler Mission. Später gehörte er nach eigener Aussage zum Vorstand der Berliner Mission, SBR, 8. Leg. per., 1. Sess., 63. Sitzung vom 11.2.1891, S. 1441. Eine besondere Informationsachse zwischen ihm und Zahn, wie sie Schuberth annimmt, brauchte es angesichts der großen öffentlichen Wahrnehmung der Kontroverse zwischen Zahn und Woermann sicher nicht. Sie ist angesichts der zunehmenden Ablehnung Stoeckers durch Zahn auch wenig wahrscheinlich, vgl. Schubert, 2003 (wie Anm. 9), S. 142. SBR, 6. Leg. per., 2. Sess., 28. Sitzung vom 19.1.1886, S. 647. Ebd.

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erheblichen öffentlichen Wahrnehmung änderten die Petitionen der Missionen sowie Zahns Reden und Schriften nicht viel an der kolonialpolitischen Wirklichkeit. Das nur eine Woche nach der Bremer Missionskonferenz 1885 von Woermann einberufene „Westafrika-Syndikat“ setzte sich schließlich, im Verein mit fiskalischen Interessen des Reiches gegen die Interventionen der Mission durch.17 In den folgenden Jahren kam es weder zu einem wirksamen Einfuhrzoll für Branntwein, noch zu anderen einschneidenden Schutzmaßnahmen.18 Anfang 1889 brachte Adolf Stoecker im Zusammenhang mit der aufbrechenden Sklavenhandelsfrage erneut Bewegung in die Diskussion um den Branntweinhandel. In der Reichstagssitzung am 15.1.1889 berief er sich auf eine Nachricht, England hätte für seine afrikanischen Kolonien die Einfuhr von Schnaps verboten, was Woermann durch einen lauten Zwischenruf verneinte. Unbeirrt davon stellte sich Stoecker ein weiteres Mal auf den Standpunkt der Missionen und forderte ein komplettes Einfuhrverbot für Branntwein.19 Mit seinem Antrag vom 14.5.1889 gelang es ihm, eine große Mehrheit des Reichstages für eine Resolution zu gewinnen, die Maßnahmen zur Einschränkung des Branntweinhandels forderte. Stoecker hielt dafür ein internationales Abkommen für notwendig.20 Er wies dabei auf Zahlen der Londoner Missionskonferenz von 1888 hin, nach denen fast 80 % des westafrikanischen Branntweinexportes aus Deutschland stammten.21 Ein internationales Abkommen über den afrikanischen Branntweinhandel und entsprechende Einfuhrzölle konnte, wie von 17 18

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Schubert, 2003 (wie Anm. 9), S. 143; Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 254–256; Bade, 1982: Ostafrikanische Völker (wie Anm. 9), S. 119. Friedrich Martin Vietor distanzierte sich umgehend von den Beschlüssen des Westafrika–Syndikats, ebd. Stoecker wies in seiner Rede am 14.5.1889 auf die Zahlen des statistischen Amtes hin, nach denen der Branntwein-Anteil am Hamburger Westafrikaexport im Jahre 1884 bei 64 %, 1885 bei 58 %, 1886 bei 52 % und 1887 bei 56 % gelegen habe, also kaum nennenswert gesunken war, vgl. SBR, 7.Leg. per., 2. Sess., 67. Sitzung vom 14.5.1889, S. 1739. SBR, 7. Leg. per., 2. Sess., 20. Sitzung vom 15.1.1889, S. 434f. Der Antrag lautete: „Der Reichstag wolle beschließen, die verbündeten Regierungen zu ersuchen in erneute Erwägung zu nehmen, ob und wie dem Handel mit Spirituosen in den deutschen Kolonien durch Verbot oder Einschränkung wirksam entgegenzutreten sei“, SBR, 7. Leg. per., 2. Sess., 67. Sitzung vom 14.5.1889, S. 1737. Das Abstimmungsergebnis findet sich auf Seite 1749. In seiner sorgfältig vorbereiteten Argumentation erinnerte Stoecker an die Petitionen der NMG und der Basler Missionsgesellschaft sowie die Resolution der Missionskonferenz aus dem Jahr 1885 und verwies auf die zehntägige internationale Missionskonferenz in London aus dem Jahr 1888, die zum gleichen Ergebnis gekommen sei wie die Bremer Konferenz 1885. Nacheinander führte er warnende Stellungnahmen weiterer Organisationen an wie dem Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, den deutschen Naturforscherkongreß, den deutschen Kolonialverein sowie ein 1887 in Zürich gegründetes Komitee zur Bekämpfung des Branntweinhandels mit Sitz in London. Auch auf die Debatten im britischen Unterhaus kam er zu sprechen, in deren Folge es zu einem Beschluss kam, nun energischer gegen den Branntweinhandel vorgehen zu wollen. Premier Salisbury hätte hohe Zölle und Lizenzgebühren zugesagt. Eben dafür plädierte er selbst auch und forderte eine internationale Festlegung auf einer entsprechenden Konferenz, ebd. S. 1737–1741. Ein Handel auf Kosten der Gesundheit von Menschen war für ihn moralisch nicht vertretbar. „Es ist sittlich unmöglich, zu Gunsten des Handels, um des Profites einiger deutscher Firmen willen fremde Völkerschaften zu ruinieren“, ebd. S. 1738. Nach den Zahlen der Londoner Missionskonferenz wurden jährlich etwa 10 Millionen Gallo-

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Stoecker gefordert, erstmals auf der nur wenige Monate später beginnenden Brüsseler „Antisklaverei-Konferenz“ vom 18.11.1889 bis 2.7.1890, an der insgesamt 16 Staaten teilnahmen, erreicht werden.22 Die Schlußakte vom 2.7.1890 regelte in den Artikeln 90–95 den Handel und die Zollsätze für Spirituosen. Für die afrikanischen Gebiete zwischen dem 20. Breitengrad nördlicher und dem 22. Breitengrad südlicher Breite wurde der Spirituosen-Handel mit Afrikanern für die Gebiete, in denen hier bislang noch kein Handel mit Alkohol stattgefunden hatte, auch für die Zukunft gänzlich untersagt. Das gleiche galt für die Produktion von Alkohol in diesen Gebieten. Für die Gebiete in diesem Bereich, in denen es jedoch bereits einen Spirituosenhandel gab, wurde ein Mindest-Einfuhr-Zoll von 15 Frs./hl Spirituosen mit mehr als 50 % Alkoholgehalt vereinbart, der nach drei Jahren auf 25 Frs./hl angehoben werden konnte. Eine Überprüfung dieser Bestimmungen war nach Ablauf von sechs Jahren vorgesehen. Mit den vereinbarten Zollsätzen blieb die Konferenz weit hinter den ursprünglich von England geforderten Sätzen zurück. 1889 hatte die englische Regierung für die Brüsseler Verhandlungen zunächst einen Zollsatz von 200 Frs./hl gefordert,23 war im Verlauf der Verhandlungen jedoch auf die Forderung eines Mindestimportzolls von 50 Frs./hl für Spirituosen mit 50 % Alkoholgehalt heruntergegangen.24 J. K. Vietor hatte sich in einem Zeitungsbeitrag für ein völliges Importverbot ausgesprochen.25 Für Togo traten die Brüsseler Bestimmungen mit der Verordnung vom 21.5.1892 in der Form in Kraft, daß ein Einfuhrzoll von 12,- Mark/hl für Spirituosen mit mehr als 50 % Alkoholgehalt festgelegt wurde. Diese Verordnung löste die Zollvereinbarung Togos mit dem französischen Teil von Dahomey vom 25.5.1887 ab, nach der ein Einfuhrzoll zwischen 4–10 Pfennig/l für Spirituosen mit mehr als 35 % Alkoholgehalt (Genever) sowie für Rum von 1,6–4 Pfennig/l festgelegt worden war. Mit Verordnung vom 28.2.1890 waren diese Sätze verdoppelt worden.26 Im westlich angrenzenden englischen Goldküstengebiet hat-

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nen Spirituosen nach Westafrika ausgeführt, wovon fast 8 Millionen auf Deutschland entfielen, SBR, 7. Leg. per., 2. Sess., 67. Sitzung vom 14.5.1889, S. 1739. Kinet, Ruth: „Licht in die Finsternis“. Kolonisation und Mission im Kongo, 1876–1908. Kolonialer Staat und nationale Mission zwischen Kooperation und Konfrontation (Europa-Übersee; 15), Münster 2005, S. 83f. Die Konferenz war freilich nicht in erster Linie wegen dem Branntweinhandel zustande gekommen, sondern wegen der Konflikte verschiedener europäischer Kolonialmächte mit arabischen Sklavenhändlern. Auf Betreiben Englands hatte der belgische König Leopold II. die Konferenz zu diesem Zwecke einberufen. Vorausgegangen war dem eine breit angelegte Vortragstätigkeit des katholischen Erzbischofs von Karthago, Kardinal Charles Martial Allemand Lavigerie, die Eingang fand in die päpstliche Enzyklika „in plurimis“ vom 5.5.1888 und zur Gründung zahlreicher Antisklaverei-Komitees in Frankreich, Belgien und England geführt hatte, Rathgen, Karl: Antisklavereibewegung, in: Schnee, Heinrich (Hrsg.): Deutsches Koloniallexikon, 3 Bände, Leipzig 1920, Bd.1, 1920, S. 63f. Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“, SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., Anlage 817, S. 15. Ebd., S. 12f. Vietor, 1890 (wie Anm. 1). Der Importzoll für Genever war nach Alkoholgehalt gestaffelt. Für Genever bis 40 % Alkoholgehalt wurden 4 Pfennig/l festgelegt, für Genever zwischen 40–60 % 6 Pfennig, und für über 60 % alkoholhaltige Getränke 10 Pfennig/l. Rum unter 40 % wurden mit einem Einfuhrzoll von 1,6 Pfennig/l belegt, zwischen 40 % und 60 % mit 2,4 Pfennig/l, darüber mit 4 Pfennig/l. Das

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ten die Zollsätze bis 1890 deutlich über den deutsch-französischen Werten gelegen,27glichen sich nach der Erhöhung vom 28.2.1890 jedoch nahezu an.28 Die neuen Mindest-Zollsätze der Brüsseler Konferenz führten in Togo zu einer deutlichen Einschränkung der Einfuhr von Spirituosen. Hatte die Gesamteinfuhr 1885 noch bei etwa 18.000 hl gelegen,29 und 1892 bei fast 15.000 hl, sank sie 1893 auf 10.743 hl ab. Das Zollabkommen zwischen Deutschland und England vom 24.2.1894, das einheitliche Zollsätze für Togo und das angrenzende Goldküstengebiet östlich des Voltas, also nur für das sogenannte Voltadreieck, festlegte, brachte eine weitere Erhöhung des Einfuhrzolls für Spirituosen auf 22 Pfennig/l und ein weiteres Absinken der Einfuhr von Spirituosen.30 1896 lag die Gesamteinfuhrmenge nur noch bei 8.590 hl, 1897 bei 6.476 hl. Sebald verweist allerdings auf die Aussage Gottlob Adolf Krauses aus dem Jahr 1897, der das Absinken der absoluten Einfuhrzahlen skeptisch beurteilte: „Diese Literzahl würde ganz bedeutend höher sein, wenn nicht der Zolltarif, der jede Art von Schnaps ohne Rücksicht auf seinen Gehalt in einen Topf wirft, die Schnapshändler veranlaßt hätte, 90 prozentigen Alkohol einzuführen und an der Küste mit Wasser zu vermischen […] Die Literzahl des 1894er Zolltarifs läßt sich daher gar nicht mehr mit der früheren vergleichen.“31

Die Möglichkeit, durch eine Erhöhung des Alkoholgehaltes die angehobenen Zollbestimmungen zu unterlaufen, lag in der Tatsache begründet, dass das deutsch–englische Abkommen vom 24.2.1894 die Staffelung der Zölle nach Alkoholgehalt aufgegeben hatte und den Zollsatz von 22 Pfennig/l nun pauschal für alle Branntweinklassen erhob.32 Die Verdünnungspraxis verlor jedoch aufgrund der Beschlüsse

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Zollabkommen umfasste auch Tabak, Pulver und Gewehre, Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 177, vgl. auch Knoll, 1978 (wie Anm. 7), S. 72; Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 117. Kucklentz, Karl: Das Zollwesen der deutschen Schutzgebiete, Halle 1913, S. 23–25. In der Goldküste lagen die Zollsätze bis zum Brüsseler Abkommen bei 6 Pence/Gallone (etwa 3,8 l) Wein oder Bier, für die Gallone Rum u.a. Spirituosen bei 2 Schilling und 6 Pence, ebd., S. 24. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 117. Nach Schätzung von Sebald, Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 400. Frankreich wollte sich an dieser Zollvereinbarung nicht beteiligen. Nach Kucklentz und Sebald kam es daher 1894 zu einer Kündigung des deutsch–französischen Zollabkommens von 1887, Erbar spricht von einem Auslaufen resp. einer Nichtverlängerung der Konvention, Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 178; Kucklentz, 1913 (wie Anm. 27), S. 27; Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 117. G. A. Krause: Der Handel im deutschen Schutzgebiete Togo, in: Neue preußische Zeitung (Kreuzzeitung) Nr. 93 vom 25.2.1897, zit. bei Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 117. Krause hatte 1887 selbst eine ausgedehnte Reise durch Afrika gemacht und sich in der Folge in zahlreichen Zeitungsbeiträgen insbesondere über die Problematik des Sklavenhandels geäußert. Er lebte aber nicht in Togo. Sebald kann daher nur bedingt Recht gegeben werden, wenn er ihn als „Augenzeuge“ bezeichnet. Krauses Stellungnahmen aus der Zeit nach seiner Afrikareise entbehren dieser Qualität, ebd. Müller, Gustav: Der Branntwein in Kamerun und Togo (Fortsetzung und Schluß), in: Afrika. Monatsschrift für die sittliche und soziale Entwickelung der deutschen Schutzgebiete 6 (1896), S. 119–128, 123. Zwar gab es durch das Abkommen keine Staffelung mehr, aber die in Togo bereits seit 1886 und 1887 vorübergehend erhobene jährliche Lizenzgebühr von 1000,- Mark für jeden Spirituosenimporteur wurde wieder eingeführt, Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 226f. Müller bestätigt die Aussage Krauses, dass es in Folge des Abkommens vom 24.2.1894 zu einer Einfuhr von Alkohol mit 90 % Alkoholgehalt gekommen war, der dann wieder mit Wasser ge-

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der Brüsseler Nachfolgekonferenz vom 8.6.1899 an Bedeutung, da neben der Erhöhung des Minimalzolls für Spirituosen mit 50 % Alkoholgehalt auch erneut eine Staffelung der Zollsätze nach Alkoholgehalt eingeführt wurde.33 Damit wurden Importmengen und Importqualität wieder vergleichbar mit den Werten vor 1894. Für die Dauer von sechs Jahren fixierte die Konferenz den Mindestzollsatz für Spirituosen mit 50 % Alkoholgehalt nun auf 70 Frs./hl, eine deutliche Steigerung gegenüber dem Satz von 1890. Für Togo wurde auf entschiedenes Drängen Deutschlands ein erniedrigter Satz von 60 Frs./hl zugestanden, was Frankreich dazu veranlaßte, dasselbe auch für Dahomey zu fordern.34 Die bremsende Haltung Deutschlands erwies sich 1899 als äußerst hinderlich für ambitionierte Verhandlungen, da neben Frankreich nun auch andere Staaten Ausnahmeregelungen forderten und damit das gesamte Ergebnis zu verwässern drohten.35 Die Haltung der deutschen Verhandlungsführung machte klar, daß 1899 weder die Schutzgebietsverwaltungen von Togo und Kamerun noch die Kolonialabteilung ernsthafte Bemühungen um Zollerhöhungen unterstützten.36 Da der Anteil der Spirituosenzölle an den Gesamteinnahmen Togos noch bis 1904 meist um die zwanzig Prozent lag, war es weder im Interesse der Verwaltung, die Alkoholeinfuhr gänzlich zu verbieten, noch die Zollsätze so stark zu erhöhen, dass der Branntweinhandel übermäßig stark ein-

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mischt wurde, Müller, 1896: Der Branntwein, S. 124. Auch die von 12 protestantischen Missionen und Vereinen getragene Kommission für die Bekämpfung des überseeischen Branntweinhandels spricht von der Einfuhr 96 % tigen Alkohols infolge des Wegfalles der Staffelung durch den Vertrag mit England von 1894, Die Eingaben an den Reichskanzler, in: Meinecke, Gustav (Hrsg.): Koloniales Jahrbuch. Das Jahr 1896, Berlin 1897, S. 48–51, 50. Die Bestimmungen der Brüsseler Konferenz vom 8.6.1899 finden sich in SBR, 10. Leg. per., 2. Sess., Anlage 7, S. 218–221. Die Umsetzungs-Verordnung vom 8.7.1900 bestimmte zwar Zu- und Abschläge für jeden Prozentpunkt Alkohol, der von dem Leitwert 50 % nach oben oder unten abwich, bezifferte die Höhe jedoch nicht. Erst in der den Brüsseler Verhandlungen von 1906 folgenden Verordnung vom 4.6.1907 wurden die Zu- und Abschläge für jedes Prozent konkret auf 1,6 Pfennig festgelegt, die Verordnung für Kamerun vom 15.4.1907 bestimmte einen Aufschlag von 5 Pfennig für jeden Prozentpunkt über 50 %, vgl. Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 22), Anlage D, S. 119. Während die Zuschläge 1899 eine „Muß“ Vorschrift darstellten, handelte es sich bei den Abschlägen für Spirituosen unter 50 % Alkoholgehalt lediglich um eine „Kann“ Bestimmung, ebd, S. 13f.; vgl. auch SBR, 10. Leg. per., 2. Sess., Anlage 7, S. 220. Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 15.Vietor konnte die deutsche Forderung nach einem Sondertarif für Togo nicht nachvollziehen, sie war ihm „ganz schleierhaft“, Vietor, J. K.: Redemanuskript „Antialkohol“ [1906], VPAH, S. 8. Das Redemanuskript stellt die Vorlage für Vietors Vortrag auf der Jahrestagung des Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke am 4.10.1906 in Karlsruhe dar, den sowohl Matthias Erzberger als auch Bernhard Dernburg in der Reichstagsdebatte am 6.5.1907 teilweise ausführlich zitierten, vgl. SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., 47. Sitzung vom 6.5.1907, S. 1439f. Der Vortrag ist im Privatarchiv irrtümlich mit der Jahresangab e 1908/09 versehen worden. Diese Einschätzung teilte selbst die amtliche Denkschrift von 1908 „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 22), S. 15. Kucklentz, 1913 (wie Anm. 27), S. 28. Kucklentz betont, daß sowohl das Zustandekommen der zweiten Brüsseler Konferenz 1899 als auch deren Beschlüsse nur „unter großen Schwierigkeiten und unter stark zurückhaltender Stellungnahme der deutschen Regierung“ erfolgte.

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brach.37 Die Unverzichtbarkeit ausreichender Einnahmen aus dem Branntweinzoll angesichts fehlender Alternativen hatte Landeshauptmann Köhler bereits 1896 in seiner Stellungnahme zum Antrag der fünf nicht mit Alkohol Handel treibenden Firmen vom 31.1.1896 an die Kolonialabteilung deutlich gemacht.38 Die fünf Firmen, von denen nur die beiden Bremer Vietor Häuser, J. K. Vietor und F. M. Vietor Söhne, in Togo tätig waren, versuchten darin, die deutsche Regierung zu bewegen, die Gelegenheit zu nutzen, um nach Auslaufen des Zollabkommens mit England im Mai 1896 für die Zukunft höhere Zölle für Branntwein zu erreichen.39 Ihre Petition war ebenso an die englische Regierung gegangen, um auf diese Weise auch auf den anderen Verhandlungspartner einzuwirken. Ihr Ziel sahen die Firmen darin, die Zollsätze für Alkohol so stark zu erhöhen, dass die für die Entwicklung der Kolonie notwendigen Zolleinnahmen in Zukunft „vor allen Dingen“ aus den Einnahmen des Branntweinzolls stammten. Sollte es infolge der höheren Branntweinzölle zu Einnahmeausfällen kommen, schlugen sie die Besteuerung anderer geeigneter Importwaren vor, sodaß Mindereinnahmen für die Verwaltung in jedem Fall vermieden würden.40 In neuen Zollverhandlungen solle zudem versucht werden, nun auch Frankreich für höhere Zölle zu gewinnen.41 Eine Erhöhung des Anteils des Spirituosenzolls an den Gesamtzolleinnahmen schien den Antragstellern möglich, obwohl er 1896 bereits bei 56,7 % gelegen hatte.42 Die Entwicklung in der benach37

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Erbar verweist darauf, dass die Zollgesetzgebung in Togo von Anfang an „keineswegs prohibitiven Charakter“ hatte, sondern in erster Linie von fiskalischen Gesichtspunkten geleitet war, Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 227. Ebenso sieht es Sebald, Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 118. Sebald betont, dass sich die Einnahmen des Schutzgebietes in den ersten zwanzig Jahren zu 80–90 % aus Einfuhrzöllen speisten, wovon der Branntweinzoll der bedeutendste war, ebd., S. 116f. In Kamerun war der Wertanteil des Branntweins an den Zolleinnahmen bereits nach der Zollerhöhung am 1.3.1899 stark eingebrochen und blieb in der Folge deutlich unter 10 %. Hatte er 1898 noch bei über 13 % gelegen, fiel er 1899 auf 6,24 %, um 1900 nochmals auf 5,6 % einzubrechen, Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 7. Da die vom Schutzgebiet selbst generierten Einnahmen 1903 bei nur 1.427.110,- Mark lagen und damit den Etatansatz von rund 2 Millionen Mark um über 30 % unterschritten, fiel der Ausfall bei den Spirituosenzöllen nicht unwesentlich ins Gewicht, Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1903/04 vom 17.12.1904, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 540, S. 2975. Köhler an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 14.10.1896, BAB, R 1001-6834, Bl. 100–104. Köhler gibt hier das Datum des ersten Antrages der Firmen mit 28.1.1896 an. Strandmann datiert die Eingabe auf März 1896, eine Eingabe in dieser Sache von der NMG auf Januar 1896, Pogge Strandmann, Hartmut von, 2009: Imperialismus vom Grünen Tisch, S. 187. Die drei weiteren Firmen waren: Missionshandlungsgesellschaft Basel, Chevalier & Co. in Stuttgart und Christian Rottmann in Hamburg. Statt der Firma Christian Rottmann wird bei der zweiten Eingabe die Hamburger Firma R. Müller aufgeführt. Dass die Sorgen um Einnahmeausfälle aufgrund gestiegener Einfuhrzölle letztlich unbegründet waren, wies der englische Vertreter auf der Brüsseler Konferenz 1906 nach. Die zurückliegenden Zollerhöhungen hatten weder in Gambia, Sierra Leone, der Goldküste und Südnigeria (Lagos) trotz verminderter Einfuhr zu keinen Einnahmeausfällen für die Verwaltung geführt. Vielmehr hatten die höheren Zölle die verminderte Einfuhr jeweils voll ausgeglichen, vgl. Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 19. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 28.9.1898, BAB, R 1001-6996, Bl. 49f. (Anlage 1). Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 228. Die Gesamtzolleinnahmen Togos beliefen sich 1896/97 auf

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barten englischen Kolonie Südnigeria (Lagos) gab ihnen in dieser Erwartung letztlich Recht. Hier stieg der Anteil der Branntweinzölle an den Gesamtzolleinnahmen aufgrund von Zollerhöhungen bis 1906 auf 67,84 %.43 Während die Firmen von der englischen Regierung am 21.5.1896 eine zustimmende Antwort zu Händen des Hauses F. M. Vietor Söhne erhielten,44 kam von der Kolonialabteilung keinerlei Rückmeldung.45 Da die Firmen nun davon ausgingen „von der Kaiserlichen Regierung keine weitere Unterstützung unserer Bestrebungen erwarten zu dürfen“, wandten sie sich einige Monate später mit ihrem Anliegen an den Kolonialrat. Dabei brachten sie ihr Unverständnis zum Ausdruck, „dass die Kaiserliche Regierung uns nicht mit aller Energie unterstützt“, da einerseits die verderblichen Folgen des Branntweins in Westafrika hinlänglich bekannt seien und andererseits das Bestreben der Firmen schließlich dahin ginge, durch eine Zollerhöhung einen Einnahmezuwachs für das Schutzgebiet zu erreichen, damit „die so wünschenswerthen (sic) Verkehrsverbesserungen“ finanziert werden könnten. Vor allem käme es bei der erfolgreichen Entwicklung der Kolonie auf gesunde und unverdorbene einheimische Arbeitskräfte an, was durch den Branntweinhandel in Frage gestellt sei. Die Firmen machten aber klar, dass es nicht nur wirtschaftliche Interessen waren, die sie zu diesen Vorschlägen trieb, sondern „christliche Rücksichten verhindern uns ebenso, uns auf Kosten der Eingeborenen und zu deren Schaden zu bereichern.“ Für den Fall dauerhafter Verweigerung der Regierung, die Vorschläge aufzugreifen oder zumindest mit Gegenargumenten zu beantworten, bliebe nur eine öffentliche Agitation, die man aber gerne vermeiden würde. Man wende sich an den Kolonialrat, weil man annehme, die Regierung müsse möglicherweise auf gewisse Interessengruppen Rücksicht nehmen, was ja beim Kolonialrat nicht der Fall wäre, da er „nur für das Interesse der Colonien einzutreten hat“.46 Die Hoffnung in die Unab-

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270.214,04 Mark, davon entfielen auf Spirituosenzölle 153.473,64 Mark, ebd. Die Gesamtzolleinnahmen in Südnigeria beliefen sich 1906 auf £ 885.585, davon entfielen auf Branntweinzölle £ 600.785, Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 19 (Fußnote). In der Antwort wurde der Vorschlag höherer Zölle bereitwillig aufgegriffen, jedoch unter die Bedingung gestellt, dass Deutschland und Frankreich zu einem gemeinsamen Vorgehen gewonnen werden könnten, John Braun (Downing Street) an Friedrich M.Vietor Söhne vom 21.5.1896, BAB, R 1001-6996, Bl. 51 (Anlage II). Strandmann datiert das Schreiben irrtümlich auf 21.3.1896, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 187. Die Eingabe der Kommission wurde allerdings von der Kolonialabteilung an Landeshauptmann Köhler weitergeleitet. Da seine Antwort vom Oktober 1896 stammt und an den Reichskanzler gerichtet ist, dürfte die Weiterleitung der Eingabe erst nach der Petition der protestantischen Missionen an den Reichskanzler erfolgt und bis dahin liegen geblieben sein. Köhler stellt sich in seiner Antwort auf den Standpunkt, dass die unterzeichneten Firmen lediglich einen minimalen Beitrag zum Schutzgebietshaushalt beitrügen und daher keinen wesentlichen Ausgleich leisten könnten, sollte es zu Einnahmeausfällen aufgrund erhöhter Branntweinzölle kommen, Köhler an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 14.10.1896, BAB, R 1001-6834, Bl. 100– 104. J. K. Vietor, Friedr. M. Vietor Söhne, Miss.handl. Gesell. Basel, Chevalier & Co., R. Müller an Kolonialrat, o. O, o. D. [Sommer 1896], BAB, R 1001-6996, Bl. 47f. Vietor hatte bereits einige Jahre zuvor erste Erfahrungen mit dem Kolonialrat gesammelt. Auf einer seiner Heimataufenthalte hatte er jedes Kolonialratsmitglied persönlich besucht, um es auf die verderblichen Fol-

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hängigkeit des Kolonialrats war jedoch trügerisch, denn erst ein Jahr zuvor war eine englische Initiative auf Erhöhung der Branntweinzölle auf Betreiben Woermanns und Scharlachs im Kolonialrat als „Konkurrenzneid“ diskreditiert und abgelehnt worden.47 Eine Antwort kam jedenfalls auch von dieser Seite nicht, die Eingabe wurde in der folgenden Kolonialratssitzung nicht einmal erwähnt. In Togo dagegen führte die Eingabe der fünf Firmen auf der Sitzung der Handelskammer von Klein Popo am 17.10.1896 zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen dem Vertreter der Firma J. K. Vietor und der Konkurrenz. Alle anwesenden Firmenvertreter, auch die englischen und französischen, klagten den Vertreter von J. K. Vietor an, seine Firma wolle mit der Eingabe den Lebensnerv der Konkurrenz treffen und ihre Geschäftsgrundlage in Frage stellen. Für den Fall einer einschneidenden Beschränkung oder einem Verbot des Branntweinhandels rechneten sie mit einem Anstieg des Palmweinkonsums durch die Afrikaner, was schließlich die gleichen Wirkungen hätte wie der Branntweingenuss, daneben aber zu einem Raubbau an den Ölpalmen führen würde. Ein entsprechender Protest gegen die Eingabe der fünf Firmen wurde daraufhin von allen anderen anwesenden Firmen unterzeichnet und veranlasste den Agenten Vietors mitzuteilen, dass die Konkurrenz „außerordentlich giftig“ zur Firma Vietor stände und das Vorgehen Vietors nicht „so ganz ohne Groll verzeihen“ würde.48 Trotz des Eklats in Klein Popo erneuerte Vietor jedoch seinen Antrag, den Einfuhrzoll zu erhöhen und in einigen Jahren die Branntweineinfuhr nach Togo und Kamerun ganz zu verbieten.49 Widerstand aus Togo kam nicht nur von der Konkurrenz, auch Landeshauptmann Köhler versuchte nun, die Glaubwürdigkeit der Vietorfirmen in Zweifel zu ziehen. Er behauptete, er wisse aus „zuverlässiger Quelle“, dass die Firma F. M. Vietor Söhne zur Zeit als die Faktorei in Klein Popo noch ihr gehörte, „einen schwunghaften Spirituosenhandel“ betrieben und ein „ständiges und beträchtliches Rumlager“ unterhalten hätte. Auch heute könne man in den Bremer Faktoreien Lome und Agome-Palime jede gewünschte Menge Branntwein bekommen, den die jeweilige Niederlassung „stets, um nicht aufzufallen, von anderen Firmen bezieht.“ Ein Kaufmann aus Lome hätte ihm darüber hinaus mitgeteilt, dass er mit der Bremer Faktorei ein grösseres Spirituosengeschäft machen könne, als mit allen „bei ihm selbst kaufenden Eingeborenen zusammenge-

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gen des Branntweinimportes nach Afrika aufmerksam zu machen. Dabei mußte er sich von dem afrikaerfahrenen Professor und Botaniker Prof. Georg August Schweinfurth sinngemäß sagen lassen: „Es tut mir sehr leid, verehrter Freund, daß ich mich für ihre Frage nicht weiter interessieren kann. Ich sehe die Masse der Menschen doch nur als Kulturdünger an“, Vietor, J. K.: Kulturvölker und niedere Rassen, Teil 1, in: Die Arbeit 47 (1909), S. 1f. Schweinfurth plädierte stattdessen für eine Erhöhung der Petroleumeinfuhr, damit die einheimische Bevölkerung abends lesen könnte, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), 5. Erinnerungen, S. 3. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 187. Auszug aus einem Bericht von Klein Popo vom 17.10.1896, BAB, R 1001-6834, Bl. 25f. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 29.12.1896, BAB, R 1001-6834, Bl. 22–26. Die Behauptung, die Drosselung der Branntweineinfuhr würde zu einem erheblichen Anstieg des Palmweinkonsums führen, wollte er nicht erneut kommentieren, da sie bereits wiederholt widerlegt worden sei und zudem Palmwein, wie auch Maisbier, jeweils als leichtes Getränk zu gelten habe, von dem man mehrere Gläser trinken könne, ohne einen Rausch zu bekommen.

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nommen.“ Diese Zustände seien „an der ganzen Westküste ein offenes Geheimnis“ und darüber hinaus bereits in der Hamburger Presse besprochen worden. Er bezweifelte allerdings, dass der Firmeninhaber von diesen Vorgängen Kenntnis hatte und ging davon aus, dass er in diesem Fall alle betreffenden Mitarbeiter entlassen würde. Köhler musste auch zugeben, dass von ähnlichen Zuständen in den Faktoreien der Firma J. K. Vietor nicht gesprochen werden könne, gab jedoch zu bedenken, dass auch hier, nach seinem Kenntnisstand, afrikanische Kunden ein Mindestmaß von 6 Flaschen Cognac erwerben könnten.50 Auch wenn Köhlers Einwürfe nicht gerade als neutrale Einzelstimme gelten können und seine Informationen lediglich aus zweiter Hand stammten, sind verdeckte Branntweinverkäufe in den Faktoreien F. M. Vietors nicht auszuschließen. Insbesondere der Hinweis auf den vietorschen Branntweinhandel in Klein Popo vor Übernahme des Geschäftes durch J. K. Vietor dürfte einiges für sich haben, bedenkt man, dass Friedrich Oloff dort vor der Eröffnung seines eigenen Geschäftes mehrere Jahre lang Hauptagent der Firma F. M. Vietor Söhne gewesen war. Möglicherweise hatte er ohne das Wissen F. M. Vietors in dieser Zeit verdeckte Alkoholgeschäfte betrieben. Dass Oloff das Vietorsche Wertesystem an dieser Stelle nicht verinnerlicht hatte, beweist zur Genüge die Aufnahme eines schwunghaften Spiritusosenhandels unmittelbar nach Eröffnung seines eigenen Geschäftes. Bei den NMG Missionaren in Keta galt er seit langem als Störenfried und Unruhestifter, der in keiner Weise die Haltung der Familie Vietor widerspiegelte.51 Aber nicht nur Oloff dürfte in seiner Zeit bei der Firma Vietor verdeckte Geschäfte mit Alkohol betrieben haben. Viele der jüngeren Mitarbeiter der Firma F. M. Vietor Söhne in Keta bedauerten, „daß Vietor nicht mit Schnaps handelt. Wenn dieser Artikel noch aufgenommen würde, dann erst würde die Bremer Faktorei Bombengeschäfte machen und die anderen zu Grunde richten.“52 Entsprechende Geschäfte unter der Hand könnten daher durchaus stattgefunden haben. Auch der Hinweis auf den Verkauf von Cognac an afrikanische Kunden in J. K. Vietors Faktoreien dürfte bis Mitte der 1890er Jahre durchaus den Tatsachen entsprochen haben, wenn auch ohne Wissen Vietors. Die Trennung von seinem Kommissär Martin Paul begründete Vietor 1896 nicht zuletzt mit Pauls verdeckten Alkoholgeschäften, durch die er sich von ihm „auf das Allerscheußlichste betrogen“ fühlte.53

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Köhler an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 14.10.1896, BAB, R 1001-6834, Bl. 100–104. Müller, 1973 (wie Anm. 7), S. 98. Osswald [Keta] an Inspector [Zahn] vom 10.10.1896, StAB, 7,1025-16/3. Der Brief wird eingeleitet mit der Bemerkung: „Privatbrief für Herrn Inspector und wenn gut, auch für Herrn Vietor“ und betont, dass F. M. Vietor die Verhältnisse seiner Faktorei in Keta nicht wirklich kenne, offensichtlich insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Alkohol. Bereits 1890 hatte sich Missionar Knüsli in einem Privatbrief an Zahn über das Verhalten der Mitarbeiter Vietors in Keta beschwert. Diese würden nächtliche Trinkgelage veranstalten, Diakonissen belästigen, Missionaren Streiche spielen und afrikanische Gummilieferanten durch die Verwendung falscher Gewichte betrügen, Heinrich, Uwe / Tell, Birgit: Mission und Handel im missionarischen Selbstverständnis und in der konkreten Praxis, in: Ustorf, Werner (Hrsg.), 1986: Mission im Kontext, S. 257–292, 270f. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), VPAH, Forts., S. 28.

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Neben den Vorstößen bei Kolonialabteilung und Kolonialrat versuchte Vietor auch Einfluss über die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) zu nehmen. Ein ausführliches Gespräch mit dem Vorsitzenden, Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg-Schwerin führte jedoch zu keinem Ergebnis, weil auch Mecklenburg bei höheren Spirituosenzöllen um die Finanzen der Kolonien fürchtete.54 Die erfolglosen Versuche dürften den Zusammenschluss von 12 protestantischen Missionen und christlichen Vereinen zur „Kommission zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels“ im selben Jahr nicht unwesentlich gefördert haben.55 Ihre Eingabe an den Reichskanzler fand schließlich öffentliche Aufmerksamkeit, standen nunmehr doch bedeutende evangelische Missionen hinter diesem Schritt. Selbst der katholische Afrikaverein hatte seine Zustimmung erteilt, die Eingabe auch in seinem Namen zu tätigen.56 In der Eingabe berief sich die Kommission unter anderem auf Aussagen J. K. Vietors und betonte, dass er als langjähriger Bewohner Togos die verderblichen Folgen des Branntweinhandels aus erster Hand schildere. Auch in dieser Eingabe wurde das Argument, man brauche für die weitere Entwicklung der Schutzgebiete in Kamerun und Togo gesunde und unverdorbene einheimische Arbeitskräfte, betont. Konkret wurde für Togo die Kündigung des Zollabkommens mit England von 1894 sowie neue Verhandlungen mit dem Ziel höherer Ein54 55

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Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 3. Die Kommission ging am 16.6.1896 aus dem 1893 gegründeten Afrikaverein hervor und erweiterte dessen Basis um neue Interessengruppen. 1910 benannte sie sich anläßlich des dritten Kolonialkongresses in „Deutscher Verband zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels“ um und stellte sich gleichzeitig auf eine breitere, konfessionell und politisch neutrale Grundlage, Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 231; Schreiber, A. W.: Deutschlands Anteil an der Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels, in Koloniale Rundschau 1925, S. 333–338; Mirbt: Evangelischer Afrikaverein, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd.1, S. 593; Der maßgeblich von Bodelschwingh, Hermann Fürst zu Hohenlohe-Langenburg, Graf von Arnim Muskau und Graf von Bernstorff-Stintenburg initiierte evangelische Afrikaverein hatte sich in erster Linie dem Kampf gegen den Sklavenhandel und die Verbesserung der sozialen Lage der Afrikaner zum Ziel gesetzt, der Kampf gegen den Branntweinhandel gehörte ursprünglich nicht zu seinen satzungsgemäßen Aufgaben. Auch nach einem Vorstandsbeschluß, den Kampf gegen den Branntweinhandel in Westafrika mit in das Vereinsprogramm aufzunehmen, schlug sich das nicht in der Satzung nieder, vgl. 2. Jahres Bericht des Evangelischen Afrikavereins, BAB; R 1001-6833, Bl. 231; Auszug aus den Satzungen des evangelischen Afrikavereins, in: Afrika. Monatsschrift für die sittliche und soziale Entwickelung der deutschen Schutzgebiete 12 (1901), S. 188. Ein erster Gründungsaufruf stammt vom 15.6.1892, StAB, 7,1025-99,1. Die Gründung der Kommission mag als Umsetzung des Vorstandsbeschlusses gewertet worden sein. Das Organ des Afrikavereins, Afrika, widmete sich in der Folge wiederholt mit engagierten Aufsätzen der Frage der Regulierung des Branntweinhandels. Ein längerer Artikel der „Afrika“ zur Branntweinfrage mit Berichten von Missionaren wurde als Sonderdruck veröffentlicht und der Eingabe der Kommission an den Kolonialrat vom 26.10.1897 beigelegt, ebd, Bl. 164. Der katholische Afrikaverein war im Anschluss an die päpstliche Antisklaverei-Enzyklika „In Plurimis“ vom 5.5.1888 vom Kölner Religionslehrer und späteren Sprecher der katholischen Missionen im Kolonialrat, Dr. Karl Hespers, im November 1888 gegründet worden, Grevelding, Hans Gerd: Das Erzbistum Köln und seine Beziehung zur katholischen Kirche in Togo in den Jahren 1888–1920. Ein plötzlich wieder aktuelles Kapitel zur Kölner Kirchengeschichte, in: Analecta Coloniensia 3 (2003), S. 193–206, 194.

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fuhrzölle gefordert. Dabei sollte auch wieder eine Staffelung des Zollsatzes nach Alkoholgehalt verankert werden. In die Verhandlungen müsste Frankreich einbezogen werden, um ein international gültiges Abkommen schließen zu können, das die gesamte Westküste Afrikas beträfe.57 Im Gegensatz zur vorhergegangenen Eingabe wurde dieser neuerliche Vorstoß in der Herbstsitzung des Kolonialrats zwar aufgegriffen, aber der Ansicht, der Branntweinhandel führe zu einer Schädigung des Wirtschaftslebens, wurde ebenso widersprochen wie übertriebenen Berichten über die Auswirkungen von Branntwein in Afrika.58 Unbeeindruckt davon, kam es in der Folge zu weiteren Eingaben der Kommission an die Kolonialabteilung und den Kolonialrat,59 insbesondere im Vorfeld der neuerlichen Brüsseler Verhandlungen von 1899, anlässlich der man den Kolonialrat erneut aufrief, sich für eine deutliche Verschärfung der internationalen Regelungen einzusetzen. Im Einzelnen benannte man für die Brüsseler Verhandlungen folgende Ziele:60 1. Erhöhung des Einfuhrzolls auf mind. 100,- Mark/hl. 2. Jährliche Steigerung dieses Satzes um 20,- Mark/hl. 3. Falls die Wiedereinführung des Staffelsteuersatz nicht gelingen sollte, zumindest Verbot der Einfuhr von 96 %-tigem Alkohol. 4. Einführung einer Gewerbesteuer für den Handel mit Spirituosen in allen Küstenorten. 5. Verbot der Einfuhr von Spirituosen ins Hinterland, sofern sie dort bislang unbekannt waren. 6. Verbot an alle Beamte, Alkoholgeschenke an Afrikaner zu machen oder sie damit zu bezahlen. Verbot, Afrikanern bei Tisch Alkohol anzubieten.

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Koloniales Jahrbuch für 1896 (wie Anm. 32, S. 50). Die Kommission wird hier „Kommission zur Bekämpfung des überseeischen Branntweinhandels“ genannt. Ihre Mitglieder werden einzeln aufgezählt: Evangelischer Afrikaverein, Mission der Herrnhuter Brüdergemeinde, Basler Mission, Leipziger Mission, Rheinische Mission, NMG, Goßnersche Mission (Berlin II), Herrmannsburger Mission, Breklumer Mission, Verein für ev. Mission in Kamerun (Stuttgart), deutscher Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und Blaues Kreuz. Die Eingabe wurde von Dr. Christ, Vize-Präses der Basler Miss.gesellschaft, Missionsinspektor A. Merensky (Berlin), Missionsinspektor F. M. Zahn (Bremen), Johannes Schröder im Auftrag des deutschen Vereins gegen Mißbrauch geistiger Getränke, Pastor Gustav Müller (Schriftführer) und J. K. Vietor als einzigem Kaufmann unterzeichnet. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 188f. Kommission zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels an Kol.Abt. vom 4.2.1897, BAB, R 1001-6834, Bl. 27–31 und an den Kolonialrat vom 26.10.1897, ebd., Bl. 162f. Kommission zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels an Kolonialrat vom 26.10.1897, BAB, R 1001-6834, Bl. 162f. Ein Alkoholprozentsatz wird in der ersten Forderung nicht genannt, aufgrund der Formulierung des Begleitschreibens ist aber von 50 % auszugehen. Vietors Unterschrift fehlt bei den Unterzeichnern. Er verfaßte in der Folge aber weitere offizielle Schreiben für die Kommission und übernahm bei der Neukonstitution 1910 das Amt des Rechnungsführers. 1921 wurde er von Missionsinspektor A. W. Schreiber gebeten – allerdings erfolglos – den Vorsitz zu übernehmen, dessen Schriftführer zu diesem Zeitpunkt Schreiber war, vgl. A. W. Schreiber an J. K. Vietor vom 4.10.192, StAB, 7,73-6.

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Mit diesen Forderungen ging die Kommission über die Vorschläge ihres Schriftführers, Gustav Müller, hinaus, der 1896 eine Anhebung des Einfuhrzolls auf 50 Pfennig/l für Spirituosen unter 40 % Alkoholgehalt, auf 75 Pfennig für Spirituosen mit 40–60 % Alkohol-gehalt und auf 100 Pfennig/l für Spirituosen mit mehr als 60 % Alkoholgehalt vorgeschlagen hatte.61 Die Kommission beklagte, dass durch den Export von 96 %-tigem Alkohol die Bestimmung der Brüsseler Schlussakte von 1890 verletzt würde, nach der eine Einfuhr von Spirituosen in Gebiete des Vertragsgebietes auch in Zukunft verboten sei, in denen bislang kein Branntweinhandel stattgefunden habe.62 Außerdem forderte sie Steuern und Abgaben für den Branntweinverkauf über den Kleinhandel in den Schutzgebieten. Die Kommission zeigte sich zudem zuversichtlich, dass eine deutliche Erhöhung der Zollsätze erreicht werden könnte, wenn Deutschland sich dafür einsetzen würde, da England und selbst der Kongostaat dafür bereits gewonnen wären. In den Stellungnahmen des Landeshauptmanns von Togo, Köhler, und des stellvertretenden Gouverneurs von Kamerun, Seitz, die auch dem Kolonialrat zugeleitet wurden, bemühten sich beide, die Darstellung der Missionen über die Folgen des Branntweinhandels auf die Bevölkerung als übertrieben und unzutreffend darzustellen. Köhler wertete den umfangreichen Bericht der Missionare, der in der „Afrika“ abgedruckt worden war und dem Kolonialrat ebenfalls vorlag, als „Kampfartikel“, der ein völlig falsches Bild der Wirklichkeit wiedergäbe. Er hätte auf seinen Reisen kaum betrunkene Afrikaner gesehen und der Hinweis der Missionare, Afrikaner würden nur privatim trinken und daher kaum bei einem Besuch des Gouverneurs betrunken auf der Strasse angetroffen werden können, entspräche nicht der Kultur der Afrikaner. Sie verbrächten ihr überwiegendes Leben auf der Straße und in der Öffentlichkeit und gingen nur zum Schlafen in ihre Hütten.63 Seitz verlegte sich dagegen auf eine mathematische Antwort. Er setzte den gesamten Branntweinimport Kameruns mit der einer angenommenen Bevölkerungszahl in der Handelszone Kameruns ins Verhältnis und kam damit auf einen durchschnittlichen Branntweinkonsum der Afrikaner von 0,3 l/Jahr,64 eine Größenordnung, die natur61 62

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Müller, 1896 (wie Anm. 32), S. 125. Eine Erklärung für diesen Punkt wird nicht gegeben. Offensichtlich wurde der hochprozentige Alkohol nicht als Spirituose deklariert sondern möglicherweise als Reinigungsmittel o.ä. und fand damit auch Eingang in die Gebiete, die bislang dem Spirituosenhandel verschlossen geblieben waren. Köhler an von Richthofen vom 9.10.1897, BAB, R 1001-6834, Bl. 207. Vietor widersprach im Auftrag der Kommission zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels Köhlers Meinung, die Missionare wären nicht glaubwürdig. Er verwies auch darauf, dass gelegentlich durchaus Gruppen betrunkener Afrikaner in Klein Popo am Strand zu sehen wären, J. K. Vietor an Kolonialrat, o. D. (Entwurf), VPAH, Konv. 3, Mappe 2. Seitz an von Richthofen vom 29.9.1897, BAB, R 1001-6834, Bl. 209. Seitz rechnete allerdings mit 4–5 Millionen Bewohnern des genannten Gebietes, eine viel zu hohe Zahl, bedenkt man, dass weite Teile Kameruns 1897 noch gar nicht für den Handel erschlossen waren und selbst für das Jahr 1913 nur eine Gesamtpopulation von 2.648.610 Einwohnern angenommen wurde, vgl. Reichskolonialamt: Die Deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1912/1913. Amtliche Jahresberichte., Berlin 1914., S. 43. Laut Volkszählung für den Bezirk Duala im Jahre 1902 lebten hier 15.912 „steuerfähige Menschen“, vgl. Jahresbericht über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee im Jahre 1902/1903, Berlin 1904,

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gemäß keinen Anlass zum Handeln geboten hätte. Ganz ähnlich argumentierte später eine englische Kommission nach dem enormen Anstieg der Alkoholeinfuhr in Südnigeria 1906.65 Die fiskalischen Interessen von Köhler und Seitz bei ihrer Einschätzung sind unübersehbar. Wie schwach die Position der Kommission gegenüber der Branntweinlobby 1897/98 noch war, bekräftigte auch Kolonialdirektor von Richthofen gegenüber Gustav Müller anlässlich dessen Besuch im Herbst 1897.66 Der Vertreter der evangelischen Missionen im Kolonialrat, Karl Rudolf Jacobi, konnte, trotz dieser Widerstände, auf der Herbstsitzung des Kolonialrats 1897 zumindest eine prinzipielle Bereitschaft zur Erhöhung der Branntweinzölle bei den kommenden Brüsseler Verhandlungen erreichen.67 Von einer grundsätzli-

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S. 46. Bedenkt man, dass es 1902 neben dem Bezirk Duala erst drei weitere Bezirke gab (Viktoria, Edea, Kribi) und die Erschließung des Hinterlandes durch Eisenbahnen noch nicht begonnen hatte, darf für 1897 kaum mit einer potentiellen männlichen Abnehmergruppe von weit über 100.000 Afrikanern gerechnet werden können. Der Missionar Autenrieder schätzte 1897, dass 30 % des insgesamt eingeführten Alkohols an der Küste konsumiert werde, weitere 25 % in einem Gebiet bis zu zwei Tagereisen ins Inland, weitere 20 % in einem Gebiet bis zu drei Tagereisen weit, weitere 10 % bis zu vier Tagereisen weit, weitere 5 % bis zu fünf Tagereisen und die restlichen 10 % im Gebiet, das darüber hinausginge, Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 10. Im Gegensatz zu Seitz hatte von Puttkamer in seiner Antwort an den Kolonialrat deutlich gemacht, dass er bereit sei, den Einfuhrzoll auf Branntwein für Kamerun auf das Niveau des benachbarten englischen Gebietes (Südnigeria) zu bringen und damit von 20 Pfennig/l auf 50 Pfennig/l anzuheben. Darauf bezog sich Vietor in seiner Antwort im Namen der Kommission an den Kolonialrat, vgl. J. K. Vietor an Kolonialrat, o. D. (Entwurf), VPAH, Konv. 3, Mappe 2. Die amtliche Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ von 1908 lehnte ähnliche Rechenvorgänge wie die von Seitz vorgenommene als „schiefe Berechnung“ ab, ebd., S. 5f. Nachdem 1906 die Einfuhrmenge von Alkohol in Lagos und Südnigeria auf 155.457 hl angestiegen war, von denen etwa 80.000 hl auf Südnigeria entfielen, errechnete die von der britischen Regierung eingesetzte Untersuchungskommission einen Jahresverbrauch pro Person von 4–4,5 l Branntwein. Dieser Berechnung wurde eine angenommene Bevölkerungsgröße von 1.939.165 „Männern und Weibern“ zu Grunde gelegt, von der man ohne den Versuch einer Differenzierung jeweils den gleichen Alkoholkonsum annahm. Da der größte Konsumanteil jedoch im Küstenstreifen zu verorten war und andere Gebiete kaum betroffen waren, folgte diese Darstellung kaum einer vorurteilslosen Motivation und rief erwartungsgemäß die Lobby der Alkoholexporteure auf den Plan, die nun weitere Einschränkungen des Handels mit Alkohol mit Hinweis auf diese Statistik ablehnten, vgl. Prehn Dewitz, H. von: Alkohol und Eingeborenenpolitik, in: Koloniale Rundschau 1911, S. 230–243, 231f. Prehn-Dewitz geht 1911 für die Küstenregionen Togos von einem durchschnittlichen Alkoholverbrauch pro Kopf und Jahr von 8–9 l aus, wobei er mit 96 %-tigem Alkokol rechnet. Fiebig ging 1908 sogar von 16 l/Kopf aus, ebd. S. 234. Gustav Müller an J. K. Vietor vom 11.1.1898, VPAH, Konv. 3, Mappe 2. Müller bat Vietor um seine Meinung, wie nun weiter vorgegangen werden solle. Er könne sich vorstellen auf die Konservative Partei zuzugehen, um sie zu einer Interpellation an den Reichstag im Sinne der Ziele der Kommission zu gewinnen oder notfalls selbst eine Eingabe an den Reichstag zu richten. Vietor entschied sich daraufhin, zunächst selbst noch einmal einen (vergeblichen) Versuch bei Richthofen zu machen, um ihn zum Eintreten für die vorgeschlagenen Ziele der Kommission zu gewinnen, vgl. J. K. Vietor an von Richthofen vom 2.2.1898 (Entwurf), VPAH, Konv. 3, Mappe 2. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 190. Der Brauch, Schnaps als Lohn auszugeben oder als Bestechungs-Geschenk zu benutzen, wurde dagegen nicht verurteilt. „Die Debatte

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chen Kurskorrektur konnte aber keine Rede sein. Daran konnte auch ein persönlicher Besuch Vietors bei Richthofens Nachfolger, von Buchka, 1898 nichts ändern. Vietor sah sich daher genötigt, nochmals schriftlich deutlich zu machen, dass Landeshauptmann Köhler kaum Recht gegeben werden könne, wenn er sich in seiner Darstellung darauf berufe, öffentlich keine Betrunkenen gesehen zu haben. Vielmehr sei den Missionaren zuzustimmen, die weit mehr Zugang zum privaten Lebensbereich der Afrikaner hätten als Beamte oder gar der Gouverneur.68 Angesichts des enorm hohen Branntweinanteils an der Gesamtimportmenge Togos läge es doch auf der Hand, dass dies „unfehlbar zum Ruin des Landes führen müsse.“ Er drängte daher auf eine entschlossene Position Deutschlands bei den Brüsseler Verhandlungen, damit der Einfuhrzoll möglichst stark angehoben würde. Wie schon bei der Eingabe von 1896 verwies er in diesem Zusammenhang auch auf notwendige Infrastrukturmaßnahmen in Togo, durch die sich der Handel in wenigen Jahren verzehnfachen könne und die durch einen möglichst hohen Einfuhrzoll für Branntwein finanziert werden könnten. Auch Steuererhöhungen auf andere Luxusartikel wie Tabak, Pulver und Gewehre wären mit einem internationalen Abkommen problemlos durchführbar, ohne den Handel zu schädigen.69 Aber weder dieser Vorstoß noch sein abermaliges Einsenden der beiden Eingaben von 1896 an den Kolonialrat 1898 führten zu einer entschlossenen Verhandlungsführung Deutschlands auf der

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machte deutlich, dass sich die Mehrheit im Kolonialrat zu diesem Zeitpunkt durchaus zivilisatorischer Aufgaben bewusst war, auch wenn in der Regel rein wirtschaftliche Gesichtspunkte überwogen“, ebd. Allerdings war es der Basler Mission 1896 gelungen, die Praxis des Hauses Woermann, Lohn an afrikanische Arbeiter in Form von Alkohol zu bezahlen, von der Kolonialabteilung verbieten zu lassen, vgl. Ustorf, Werner: Humanität und Freihandel, in: Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hrsg.): Deutscher Kolonialismus. Materialien zur Jahrhundertfeier 1984 (EPK-Drucksache Nr. 1), Hamburg 1983, S. 81–92, 84. Strandmann macht klar, dass Hespers Antrag im Kolonialrat nur gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden konnte. Jacobi und Hespers, der Vertreter der katholischen Mission, konnten jedoch die Stellungnahmen der Gouverneure durch ihren kritischen Hinweis, sie hätten die Bedenken und Informationen der Missionsgesellschaften unverständlicherweise ignoriert, offensichtlich abschwächen, vgl. Strandmann, Hartmut Pogge von: The Kolonialrat and the Missionary Societies, in: van der Heyden, Ulrich/Stoecker, Holger (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945 (Missionsgeschichtliches Archiv. Studien der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte; 10), Stuttgart 2005, S. 37–50, 45. Die Diskussion über die öffentliche Präsenz von Betrunkenen wiederholte sich damit in gewisser Weise. Schon Woermann hatte in seiner Auseinandersetzung mit Zahn darauf hingewiesen, dass er niemals betrunkene Afrikaner öffentlich gesehen hätte, woraufhin sich Zahn auf die Berichte der Missionare berief, nach denen Afrikaner nur privat tränken und daher nicht öffentlich wahrgenommen würden, vgl. Zahn, 1886 (wie Anm. 6), S. 23. J. K. Vietor an von Buchka vom 19.5.1898, BAB, R 1001-4487, Bl. 26–29. Vietor geht hier irrtümlich von einem Branntwein–Importanteil Togos von 30,1 % für 1896 aus. Dieser Wert wurde 1894 erreicht, 1896 lag er nur noch bei 24,7 %. Mit ähnlicher Intension, nämlich die Einfuhrzollfrage im Einvernehmen mit England und Frankreich rasch zu klären und damit dem Schmuggel zu wehren, hatte sich Vietor bereits an von Richthofen gewandt sowie die Handelskammern Bremen und Hamburg, vgl. J. K. Vietor an von Richthofen vom 2.2.1898 (Entwurf), VPAH, Konv. 3, Mappe 2; J. K. Vietor an Handelskammer Bremen vom 3.2.1898, ebd.

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Brüsseler Konferenz von 1899.70 Da sich der deutsche Vertreter auf der Konferenz außerordentlich zurückhaltend zeigte,71 sah sich die Kommission genötigt, eine eigene Eingabe an die Brüsseler Konferenz zu richten, in der sie den Antrag stellte, auf Spirituosen mit 49 % Alkoholgehalt und weniger einen Importzoll von 200 Frs./ hl festzulegen. Falls das nicht erreicht werden könne, solle man mit einem Zollniveau von 100 Frs./hl beginnen und im Verlauf von 5 Jahren den Satz stufenweise auf 200 Frs./hl erhöhen.72 Zwar wurde weder die erste noch die zweite Variante von der Brüsseler Konferenz ernsthaft aufgegriffen, aber immerhin stellten die neuen Zollsätze eine deutliche Steigerung zur bisherigen Regelung dar. Außerdem wurde mit der Verordnung vom 28.3.1900 die von der Kommission geforderte Besteuerung des Branntwein-Kleinhandels in Togo eingeführt, durch die der Verkauf und Ausschank von Spirituosen im Küstengebiet Togos genehmigungspflichtig wurde und nur noch nach Bezahlung einer halbjährlichen Gebühr von 50,- Mark zulässig war.73 Durch die Erhöhung der Zollsätze durch die Brüsseler Beschlüsse von 1899 kam es in Togo zwar 1900 zu einem deutlichen Rückgang der Einfuhrmengen, der Import nahm jedoch in den Folgejahren erneut kontinuierlich zu, um 1904 mit 16.229 hl einen danach nicht wieder erreichten Höhepunkt zu erfahren. Erst die erneute Erhöhung von 48 Pfennig auf 64 Pfennig/l durch die Verordnung vom 4.11.190474 brachte eine dauerhafte Begrenzung, die durch die nochmalige Erhöhung auf 80 Pfennig/l infolge der dritten Brüsseler Konferenz 1906 konsolidiert werden konnte.75

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75

J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 28.9.1898, BAB, R 1001-6996, Bl. 43–52. Zusätzlich zur Einsendung der beiden Eingaben der fünf Firmen von 1896 an den Kolonialrat zu seiner Herbstsitzung verschickte Vietor dieselben diesmal auch parallel an jedes Kolonialratsmitglied einzeln, um sicher zu gehen, dass das Anliegen Gehör fand. Kucklentz, 1913 (wie Anm. 27), S. 28. Petition de la Commission Allemande pour Réprimer le Trafic des Spiritueux en Afrique vom Mai 1899. Unterschrieben war die Petition von J. K. Vietor, J. Schröder, Gustav Müller, A. Merensky und H. Christ (Basel), StAB, 7,1025,52-2. Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 42f. Die Gebühr wurde mit Verordnung vom 2.5.1907 auf 150,- Mark/Jahr erhöht, ebd., S. 43. Die Verordnung vom 4.11.1904, die am 1.12.1904 in Kraft trat, basierte nicht auf den Brüsseler Beschlüssen von 1899, sondern stand im Zusammenhang mit einer allgemeinen Erhöhung der Zölle für Einfuhrgüter, die zur Deckung der Kosten des Bahnbaus notwendig geworden war. Zu diesem Zweck hatte Deutschland das Zollabkommen mit England von 1894 gekündigt und mit Verordnung vom 29.7.1904 den allgemeinen Wertzoll für alle nicht zollfreien Waren von 4 % auf 10 % erhöhte. Auch die Sätze für Feuerwaffen und Pulver wurden erhöht, auf Salz wieder eingeführt. Petroleum und Zucker wurden erstmals zollpflichtig. Die Verhandlungen mit England und Frankreich in Bezug auf neue Branntweinsätze waren zu dem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, Kucklentz, 1913 (wie Anm. 27), S. 30f. Die Konferenz 1906 hatte die Ausnahmeregelung für Togo und Dahomey nicht übernommen, sondern auch für diese beiden Kolonien den Mindestsatz von 100 Frs./hl festgeschrieben. Die einzelnen Bestimmungen der Brüsseler Schlußakte vom 3.11.1906 finden sich in der Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), Anlage E, S. 127–130, vgl. auch DKB 1908, S. 105. Die Beschlüsse von 1906 hatten eine zehnjährige Laufzeit. Nach Artikel 3 konnte eine Vertragsmacht jedoch bereits nach acht Jahren eine Veränderung der Sätze vorschlagen, was dann zu entsprechend früheren Neuverhandlungen geführt hätte. Dazu ist es aber

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Tabelle 4: Spirituoseneinfuhr nach Togo und Anteil an Gesamteinfuhr 1892 bis 191276 Jahr

Menge (in hl)

Wert in 1000 Mark

1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912

14.962 10.743 10.928 11.345 8.590 6.746 7.613 10.545 7.265 8.001 11.753 10.412 16.229 4.39878 9.377 6.765 8.260 8.361 8.806 12.346 10.678

467 492 676 661 467 370 483 634 481 949 1.179 1.106 1.714 494 588 402 514 493 555 769 708

77 78

76

77

78

Anteil am Gesamtimport (in %) k. A. 20,37 30,1777 k. A. 24,7 18,7 19,4 19,3 13,7 20,0 19,0 18,1 25,2 6,4 9,1 6,0 6,0 4,4 5,1 8,0 6,2

nicht gekommen vor dem Krieg, vgl. Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“, Anlage E, S. 129. Tabelle entnommen Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 318, vgl. auch Kucklentz, Karl: Das Zollwesen der deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee, Berlin 1914, S. 188 (Tabelle 25), 189 (Tabelle 27); Knoll, 1978 (wie Anm. 7), S. 121, Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 400; Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), Anlage C, S. 114f. Die Denkschrift gibt nur die Einfuhrmengen der Jahre 1892–1906 an, ohne Angaben zu Wert- und Importanteilen. Angaben für prozentualen Anteil des Branntweinzolls an Gesamteinnahmen für 1893 und 1894 entnommen: Hardling, Leonhard: Die Berliner Westafrika–Konferenz von 1884/85 und der Hamburger Schnapshandel mit Westafrika, in: Nestvogel, Renate/Tetzlaff, Rainer (Hrsg.): Afrika und der deutsche Kolonialismus. Zivilisierung zwischen Schnapshandel und Bibelstunde (Hamburger Beiträge Zur Öffentlichen Wissenschaft; 2), Berlin 1987, S. 19–40, 31. Die Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23) gibt die Einfuhrmenge für

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Beide Erhöhungen waren jedoch erneut nur gegen den Widerstand des Gouvernements sowie der überwiegenden Mehrheit der Kaufmannschaft durchsetzbar gewesen.79 Zech verwies, in ähnlicher Argumentation wie Woermann 1885, bereits vor der Zollerhöhung im Herbst 1904 darauf, dass abgewogen werden müsse zwischen dem Interesse nach gesundheitlicher Unversehrtheit der einheimischen Bevölkerung und dem berechtigten Handelsinteresse.80 Zech sorgte sich aber auch um den Haushalt des Schutzgebietes, der durch den spürbaren Rückgang des Branntweinimportes 1905 folgerichtig ein Defizit von 244.375 Mark hinnehmen musste.81 Hinzu kamen auch persönliche Interessen der Kolonialbeamten. Ein Beobachter schätzte, dass ein höherer Kolonialbeamter in Togo einen monatlichen Alkoholverbrauch von 72 Bierflaschen und 30 Weinflaschen hätte. Hinzu käme ein außerordentlicher Verbrauch im Falle von Festen.82 Nach Aufforderung der Kolonialabteilung hatte der VWK eine Umfrage unter seinen Mitgliedsfirmen über die Frage einer Zollanhebung durchgeführt, bei der die überwiegende Anzahl der Firmen gegen eine weitere Erhöhung votiert hatte,83 ebenso wie die Handelskammer Hamburg.84 Vietor, der am 19.6.1906 an einer diesbzüglichen Besprechung im Auswärtigen Amt teilnahm, bedauerte anschließend, dem Vorschlag nach einer Erhöhung auf 75 Pfennig/l hatte zustimmen müssen, da er sich mit höheren Forderungen nicht durchsetzen konnte.85 Auf der Jahrestagung des Vereins gegen den Miss brauch geistiger Getränke am 4.10.1906 in Karlsruhe griff Vietor in einer vielbeachteten Rede die

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1905 mit 4.286 hl an, ebd., S. 20. Bis zur Berufung Dernburgs scheint auch die Kolonialabteilung an weiteren Zollerhöhungen nicht interessiert gewesen zu sein. Die Absicht Englands, auf der Konferenz von 1906 eine Zollerhöhung auf 200 Frs./hl vorzuschlagen, fand keine Unterstützung von deutscher Seite. Ein entsprechender englischer Vorschlag war bereits im Jahr vor der Konferenz in Berlin eingegangen, vgl. Deutsche Gesandtschaft in Brüssel an Bülow vom 29.10.1905, BAB, R 1001-6841, Bl. 54f. Zech an Kol.Abt. vom 10.9.1904, BAB, R 1001-3845, Bl. 5. Knoll, 1982 (wie Anm. 2), S. 172. Die Zolleinnahmen 1905 brachen im Vergleich zum Vorjahr von 1.289.153,- Mark (1904) auf 792.084,- Mark (1905) ein, hatten aber bereits 1906 wieder den Wert von 1.254.892,- Mark erreicht, vgl. Kucklentz, 1913 (wie Anm. 27), S. 59 (Tabelle 1). Einen Reichszuschuss zum Haushalt gab es jedoch nicht wie jeweils in den Jahren 1899–1903, ebd., S. 60 (Tabelle 2). Knoll, 1978 (wie Anm. 7), S. 118. Einige Firmen äußerten jedoch Bereitschaft, einer Erhöhung der Zollsätze zuzustimmen, sofern sie auf internationaler Basis vereinbart würden, vgl. VWK an Kol.Abt. vom 6.7.1906, BAB, R 1001-6841, Bl. 134. In der Anlage finden sich die Stellungnahmen von insgesamt 13 Mitglieds- oder befreundeten Firmen, vgl. ebd., Bl. 135–148. Handelskammer Hamburg an Kol. Abt. vom 4.7.1906, BAB, R 1001-6842, Bl. 3f. Die Handelskammer stellte sich auf den Standpunkt eines Informanten, nach dem die Afrikaner auf heimische alkoholische Getränke wie Palmwein zurückgriffen, falls die Branntweinmenge reduziert würde. Eine Zollerhöhung würde daher das Ziel des Schutzes der afrikanischen Bevölkerung verfehlen, den Handel dagegen belasten. J. K. Vietor an VWK vom 21.6.1906, BAB, R 1001-6841, Bl. 142. Diesem Vorschlag, der immerhin eine progressive Erhöhung um 4 Pfennig für jeden 50 % übersteigenden Prozentpunkt vorsah, hatte auch die Firma Bödecker & Meyer zugestimmt, vgl. Bödecker & Meyer an VWK vom 21.6.1906, ebd., Bl. 137. Vietor hatte einen Importzoll von 1,25 Frs./l (etwa 1,- Mark/l) vorgeschlagen, Vietor, J. K., 1906 (wie Anm. 34), S. 9.

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laufenden Brüsseler Verhandlungen auf. Er zeigte sich verärgert, dass er erst so kurzfristig von der Brüsseler Konferenz Mitteilung erhalten hatte und somit „keine Zeit mehr blieb Material zu sammeln und eine Agitation einzuleiten, um unser Volk auf die Frage und die Wichtigkeit aufmerksam zu machen.“86 Er befürchtete, dass die deutsche Regierung wieder nur widerwillig dorthin ginge, was ihm die Aufforderung der Kolonialabteilung vom 16.6.1906 zu beweisen schien, in der die Mitglieder des VWK ab § 4 gefragt wurden: „Sind aus England, auch in neuerer Zeit, Äußerungen bekannt geworden, welche – wie früher geschehen – dahin verwertet werden könnten, dass die englische Stimmungsmacherei gegen den Alkohol nur ein Manöver ist, um den deutschen Kolonialhandel zugunsten des englischen Exports ein Bein zu stellen?“87

Vietor war empört, dass die Kolonialabteilung offensichtlich versuchte, Englands restriktiven und seit Jahrzehnten bekannten Standpunkt in der Branntweinfrage als antideutsch zu interpretieren, um damit möglicherweise in Brüssel weitere Zollerhöhungen verhindern zu können. „Mir stand ungefähr der Verstand still, als ich dieses las […] Heute hat unsere Regierung es noch nicht begriffen, dass die öffentliche Meinung Englands, die Vorkämpferin auf diesem Gebiet, in anderer Weise wie bei uns in ihrer humanitären Anschauung die Politik beeinflußt.“88

Die deutsche Regierung hätte auch nicht begriffen, dass die englische Regierung in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen den Alkoholimport reduzieren wolle, weil der Alkohol die blühende Arbeit in den Kolonien zerstöre und die übermäßige Schnapseinfuhr nach Westafrika „eine wirtschaftliche Riesendummheit“ sei.89 Vietor konnte die deutsche Haltung auch deswegen nicht verstehen, weil er die Haltung der anwesenden Handelshäuser bei der Besprechung am 19.6.1906 als durchaus offen verstanden hatte, sofern eine Importzollerhöhung auf allgemeiner internationaler Basis stattfinden würde. Angesichts der enttäuschenden Haltung der Kolonialabteilung im Vorfeld der Brüsseler Konferenz begrüßte Vietor die Berufung Dernburgs am 5.9.1906 zum stellvertretenden und geschäftsführenden Kolonialdirektor und erhoffte sich von ihm eine Neuausrichtung der kolonialen Wirtschaftspolitik. Insbesondere appellierte er an Dernburg, in die Förderung und Entwicklung der 86 87 88 89

Vietor, J. K., 1906 (wie Anm. 34), S. 8f. Vietor, J. K., 1906 (wie Anm. 34), S. 9. Ebd. Ebd. Vietor brachte dafür zahlreiche Beispiel aus seinem eigenen Erleben. Nur wenige Jahre nach seinem Eintreffen in Afrika, 1884, waren die vormals für die Löschung der Schiffsladungen so wichtigen „Kanoeleute“ fast vollständig dem Alkohol verfallen, sodass man oft stundenlang warten mußte, bis man mit der Arbeit anfangen konnte. Auch auf seiner letzten Afrikareise, 1904/05, habe er feststellen müssen, wie das öffentliche Leben durch den Branntwein leide. Es sei ein Skandal, dass ein indigener Richter inzwischen nicht mehr einen Topf Palmwein verlange für seine Schlichtung, sondern zunächst zwei Flaschen Gin, damit er die Klage überhaupt annähme. Dann hätte der Kläger 12 weitere Flaschen zu liefern, damit der Prozess auch in Gang käme. Wer verurteilt würde, müsse hingegen einen Großteil seiner Schuld in Branntwein bezahlen, ebd., S. 2–5. Letzteres Beispiel verwendete Erzberger im Rückgriff auf Vietors Rede vom 4.10.1906 am 6.5.1907 im Reichstag, SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., 47. Sitzung vom 6.5.1907, S. 1439.

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heimischen Bevölkerung der Kolonien zu investieren. „Der Eingeborene muß in Zukunft im Mittelpunkt unserer Kolonialpolitik stehen. Wir müssen versuchen ihn zu heben, zu belehren, zu bekehren und vor Versuchungen zu bewahren.“90 Zur Bewahrung der einheimischen Bevölkerung zählte Vietor auch eine Korrektur in der Alkoholfrage, da ein wirtschaftlicher Aufschwung allein ohne prohibitive Begrenzungen nur zu noch mehr Alkoholmissbrauch führen würde.91 Die Karlsruher Tagung nahm daraufhin eine Resolution an den Reichskanzler und den Reichstag mit fünf Punkten an. Darin wurde von den laufenden Brüsseler Verhandlungen die Festlegung eines Mindesteinfuhrzolls von 100 Frs./hl Branntwein mit 33,5 % Alkoholgehalt gefordert. Für jeden Prozentpunkt mehr sollte ein Aufschlag von 4 Pfennig erhoben werden. Die nächste Brüsseler Folgekonferenz sollte dann einen Satz von 200 Frs.//hl in Aussicht nehmen.92 Mit diesen Forderungen stieß Vietor und die Karlsruher Konferenz nicht nur bei Dernburg auf offene Ohren. Auch Matthias Erzberger griff Vietors Vortrag und die Resolution im Reichstag auf und stellte sich in weiten Teilen hinter die erhobenen Forderungen.93 In seiner Erwiderung auf Erzberger machte auch Dernburg klar, dass er Vietors Gedanken folge und mit ihm persönlich bereits darüber gesprochen habe. Auf seine Veranlassung hin, wäre der Einfuhrzoll für Branntwein in Kamerun während der Brüsseler Verhandlungen auf eine Mark pro Liter erhöht worden, er wäre auch noch weiter gegangen, wenn die angrenzenden Kolonialmächte England, Frankreich und Spanien mitgezogen hätten. Auch in seiner Feststellung, dass in der „Erhaltung des Negers, seiner Gesundheit und seiner Fortpflanzungsfähigkeit […] die erste Aufgabe der Kolonialpolitik“ läge, kam er Vietors Vorstellungen sehr nahe.94 Auf dem 11. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus vom 28.7. bis 3.8.1907 in Stockholm konnte Vietor daher erfreut feststellen, dass Dernburg nun „die Sache mit unseren und ganz anderen Augen wie seine Vorgänger an[sieht].“ Er hätte ihm persönlich sogar gesagt, dass er auch ein komplettes Einfuhrverbot von Spirituosen nach Afrika für wünschenswert hielte, was jedoch nur durch internationale Abkommen durchsetzbar wäre.95 Vietor, der im Grunde ohne Hoffnung und aus reinem Pflichtbewußtsein jahrelang gegen die „Schnapsseuche“ angekämpft hatte, sah jetzt erstmals Früchte der hartnäckigen Arbeit und schloss mit dem Appell: „Wir dürfen nicht ruhen, bis prohibitive Einfuhrzölle den Alkoholimport so einschränken, dass er keine Gefahr für unsere Eingeborenen mehr sein kann.“96 Entsprechend versuchte er weiter auf Dernburg einzuwirken und sah einen geeigneten Zeitpunkt dafür gekommen, als 90 91 92 93 94 95 96

Vietor, J. K., 1906 (wie Anm. 34), S. 7. Ebd. Die fünf Punkte der Resolution zitiert Erzberger in seiner Reichstagsrede am 6.5.1907, vgl. SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., 47. Sitzung vom 6.5.1907, S. 1438f. Ebd., S. 1439. Ebd., S. 1441. Auch Erzberger, der Vietor ausdrücklich lobte für seinen Verzicht auf den Handel mit Spirituosen, hatte ähnliche Forderungen erhoben und sich zum parlamentarischen „Sprachrohr“ des Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke erklärt, ebd., S. 1438. Vietor, J. K.: o.T., in: Wallis, Curt (Hrsg.): Bericht über den XI. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus. Abgehalten in Stockholm vom 28. Juli – 3. August 1907, unter dem Ehrenpräsidium Seiner Königl. Hoheit des Prinzen Gustav Adolf, Stockholm 1908, S. 139–145, 143. Ebd., S. 145.

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Dernburg von seiner Ostafrikareise 1907 zurückkehrte. Bei einem Besuch im Herbst 1907 stellte Vietor erneut fest, dass sich Dernburg „ganz meinem Standpunkt [annähere] und glaube, dass bisher die Eingeborenen nicht richtig behandelt seien.“ Dernburg erkenne nun den großen Schaden, den der Schnaps anrichte und sei bereit die Einfuhr von Fässern in Zukunft ganz zu untersagen und pro Flasche einen Zoll von 2,- Mark festzusetzen. Er wäre auch bereit diesen Standpunkt auf der Brüsseler Konferenz 1908 für Deutschland zu vertreten, „wenn er durch die oeffentliche Meinung dazu gedrängt würde.“ Vietor war der Überzeugung, die von Dernburg erwartete öffentliche Meinung dürfte „ein leichtes sein, durch unsere Kommission, der ja sämtliche Missionsvereine, Mässigkeits- und Antialkoholvereine angeschlossen sind“ und forderte die Kommission zum baldigen Zusammentritt auf, um über geeignete Maßnahmen zu beraten.97 Dass es Dernburg ernst meinte mit seinen Ankündigungen, machte bereits kurz darauf die Denkschrift vom 26.3.1908 deutlich, die als Grund ihrer Abfassung den Wunsch nannte, „Grundlagen für Verwaltungsmaßregeln gegen den Alkoholismus der Eingeborenen zu geben“.98 Hierin wurde vorgeschlagen, den Importzoll für Branntwein zunächst auf das höchste Niveau eines Vertragsstaates der Brüsseler Konvention für Westafrika anzuheben, nämlich das der englischen Goldküstenkolonie. Hier lag der Satz bei 120 Mark/hl, also 50 % höher als in Togo. In den Folgejahren sollte dieser Satz dann auf 200,- Mark/hl erhöht werden. Deutschland solle dies gegenüber den anderen Vertragsstaaten in Vorschlag bringen, eine Umsetzung sei jedoch nur bei einem gemeinsamen Vorgehen möglich.99 Tatsächlich brachte Dernburg diese Vorschläge 1908 in Brüssel ein, scheiterte jedoch am Widerstand Frankreichs, Spaniens, Portugals und anderer Länder.100 Für Vietor war klar, dass sich an der ablehnenden Haltung der Staaten in Brüssel nur etwas ändern könne, wenn der öffentliche Druck durch die antialkoholischen Bewegungen weiter vorangetrieben würde. Entsprechend warb er auf dem 12. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus im Juli 1909 in London für eine Fortsetzung der energischen Öffentlichkeitsarbeit.101 97 J. K. Vietor an Kommission zur Bekämpfung des westafrikanischen Branntweinhandels vom 2.12.1907, ABM, Q 3-4,49. 98 Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 5. 99 Ebd., S. 22. Die ambitionierten Vorschläge machten ernst mit der Forderung, dass sich Deutschlands Haltung in Zukunft ändern müsse und sein bisheriger, die „weitestgehenden Forderungen nicht unterstützende[r] Standpunkt“ aufzugeben wäre, ebd., S. 15. 100 J. K. Vietor an N.N., o. D. [1909], StAB, 7,1025, 51-2; Dernburgs Scheitern am Widerstand der genannten Länder betonte Vietor auch in seiner Rede in London am 23.7.1909, Vietor, J. K.: International Concert in Protecting Native Races from Alcoholism. A Paper Read At The Twelfth International Congreß On Alcoholism, London [1909], S. 3. 101 Vietor, International Concert [1909] (wie Anm. 100), S. 2. Vietor sah angesichts der Höhe der Branntweineinfuhrzoll-Einnahmen Südnigerias von etwa £ 800.000,- Schwierigkeiten, ein komplettes Alkoholverbot erreichen zu können, zumindest müsse aber eine weitere Erhöhung des Importzolls erreicht werden. Außerdem müsse erreicht werden, dass die Zone, in der jeglicher Handel mit Alkohol bislang verboten war ausgeweitet würde, ebd. Mit diesen Vorschlägen lehnte er sich an die Ausführungen des Gouverneurs von Kamerun, Seitz, an, die dieser auf einem Treffen mit Vertretern des VWK am 15.5.1909 entwickelt hatte. Den Schlüssel für einen wirksamen öffentlichen Druck Vietor in der Aufklärungsarbeit: „We must continue to enlighten

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Die neue Linie des Kolonialamtes war auch Grundlage eines Gespräches Gouverneur Zechs mit den Chefs der Togofirmen am 10.4.1908. Zwar äußerte sich Zech nicht direkt zustimmend zu den Vorschlägen der Denkschrift, sah sich durch dieselbe jedoch genötigt, eine Diskussion über die Ausschankgebühr, die 1900 in den Küstengebieten Togos eingeführt worden war und seit dem Bahnbau auch in einem Umkreis von 5 km entlang der Trassen galt, zu eröffnen. Seine Sorge galt der möglichen Schädigung der Kolonie durch deutlich niedrigere Sätze in den Nachbarkolonien. Die Ausschankgebühr in Dahomey lag zu dieser Zeit bei 120,- Mark/Jahr und in der Goldküste bei 400,- Mark/Jahr. Vietor sah in der Anhebung der Ausschankgebühr auf 300,- Mark/Jahr einen gangbaren Mittelweg, konnte sich allerdings damit nicht durchsetzen. Gegen seine Stimme beschloss die Mehrheit eine nur mäßige Erhöhung von 100,- auf 150,- Mark/Jahr, außerdem einen Ausnahmetarif von 90 Pfennig /Tonnenkilometer, um die Verbreitung von Branntwein ins Landesinnere durch die Eisenbahn einzudämmen.102 Seit Veröffentlichung der Denkschrift hatte sich die Stimmung in kolonialen Kreisen deutlich in Richtung einer stärker prohibitiven Alkoholpolitik gewendet. Auf einem Treffen Gouverneur Seitz’ mit Kamerun-Kaufleuten des VWK am 15.5.1909 waren sich die Anwesenden einig, dass der Branntweinimport am besten ganz verboten werden solle, wenn das auf der Grundlage internationaler Abmachungen möglich wäre. Da Seitz das für unwahrscheinlich hielt, stellte er Überlegungen zu einer einseitigen Importzollerhöhung an.103 Aufgrund der hohen Branntweinzolleinnahmen der englischen Nachbarkolonie Südnigeria von etwa £ 800.000,-, war ein komplettes Alkoholverbot auf internationaler Ebene für Seitz kaum realistisch. Er plädierte aber dafür, dass Deutschland auf die englische Regierung zuginge, um mit ihr gemeinsam darauf hinzuwirken, dass der Importzoll weiter angehoben würde. Außerdem müsse erreicht werden, die Zone, in der jeglicher Handel mit Alkohol verboten wäre, weiter auszuweiten.104 Angesichts der früheren Blockadepolitik Deutschlands hielt Vietor diese Haltung von Seitz für bemerkenswert: „Welch ein Unterschied unserer Regierung zu früher!“105 Mit dem Erreichten wollte sich Vietor jedoch nicht zufrieden

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our people, and to create a public opinion which is strong enough to force the different governments to stop this pernicious action“, ebd., S. 3. Aufzeichnung über die Besprechung mit den Herren Chefs der Togofirmen vom 10.4.1908 (Abschrift), o. O., ANT, FA-1,88, Bl. 29–48, hier: 31–33. Erbar irrt, wenn er das Treffen in Lome lokalisiert. Die Teilnehmer, Boedecker, Clausen, Freese, Goedelt, Grunitzky, Oloff, Paul, Puls, Telge, Reinhardt, Tomschke und J. K. Vietor werden kaum eigens nach Lome gereist sein für eine solche Besprechung. Vielmehr muss sie während eines Aufenthaltes Zechs in Deutschland, wahrscheinlich in Hamburg oder Berlin, stattgefunden haben. J. K. Vietor reiste erst im August 1908 nach drei Jahren Abwesenheit wieder nach Togo. Erbar geht auch mit seiner Feststellung fehl, die Versammlung hätte sich positiv zu den Zollvorschlägen der Denkschrift geäußert, vgl. Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 231f. Sitzung der Kamerun Firmen des VWK’s vom 15.5.1909, BAB, R 1001-3414, Bl. 54–58, 56. Vietor, International Concert [1909] (wie Anm. 100), S. 2. Vietor zitiert Seitz’ Ausführungen am 15.5.1909 weiter: „I am myself not an abstainer, but I must energetically urge that the importation of spirits may be prohibited in our colonies, as I have seen the sad disaster brought over the natives by it“, ebd. J. K. Vietor an N.N., o. D. [1909], StAB, 7,1025, 52-2. Das Schreiben kommentiert die Sitzung am 15.5.1909 mit Seitz. Vietor berichtet von dem Treffen mit Seitz auch auf dem 12. Interna-

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geben. Nach wie vor sah er die Gefahr, dass bei Ausbleiben weiterer prohibitiver Maßnahmen die afrikanische Bevölkerung innerhalb weniger Jahre durch den Alkohol völlig verdorben werde. Er sah als Folge der Zollerhöhungen der letzten Jahre keine wirkliche Besserung. Im Gegenteil, seiner Meinung nach hatte sich die Situation verschlechtert.106 Trotz Zollerhöhungen hätte sich der Branntweinimport nach Südnigeria zwischen 1900 und 1907 um 60 % erhöht und in den französischen Kolonien zwischen 1898 und 1905 um 55 %.107 Während der Einschätzung Vietors in Bezug auf die englischen und französischen Kolonien Westafrikas zuzustimmen ist, muss sie in Bezug auf Togo und Kamerun relativiert werden. Aufgrund der Zollpolitik verharrte die Branntweineinfuhr der beiden deutschen Kolonien im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwa auf dem Niveau der 1890er Jahre, was angesichts der deutlichen Ausweitung des Handelsvolumens sowie der gewachsenen Erschließung der Kolonien durchaus als Erfolg zu werten ist. Die amtliche Denkschrift von 1908 spricht daher zu Recht davon, dass die Zölle in der Lage waren „die Einfuhrvermehrung wenigstens niederzuhalten und eher zu verringern als anschwellen zu lassen.“108 Ähnlich bewertete der niederländische Missionsinspektor Rauws 1911 die Wirkung der Zölle auf die westafrikanischen Kolonien Deutschlands, sah darin aber eine singuläre Erscheinung angesichts der gegenläufigen Entwicklung in den englischen und französischen Kolonien.109

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tionalen Kongress für Alkoholismus in London im Juli 1909 und freut sich auch hier über dessen Haltung: „What a difference is that against the position taken up by our government until a few years ago“, Vietor, International Concert [1909] (wie Anm. 100), S. 2. Vietor, International Concert [1909] (wie Anm. 100), S. 3. Damit mußte er seine und die Überzeugung des Afrikavereins von 1901 revidieren, als man nach der vorübergehenden Einfuhrminderung bereits von einem dauerhaften Erfolg der Zollerhöhung von 1899 ausging. Der dauerhafte Erfolg sei „trotz der wiederholten Behauptung der Gegner der Zollerhöhung, die Einfuhr sei von der Höhe des Einfuhrzolles unabhängig, mit Sicherheit zu erwarten“, Die Spirituosen-Einfuhr in Kamerun und Togo in den Jahren 1896–1899, bezw. 1900, in: Afrika. Monatsschrift für die sittliche und soziale Entwickelung der deutschen Schutzgebiete 12 (1901), S. 177f. Vietor, International Concert [1909] (wie Anm. 100), S. 6. Vietor gibt an, in Südnigeria sei der Import von 2.232.152 Gallonen (1900) auf 3.996.472 Gallonen (1907) angestiegen, in den französischen Gebieten von 40.000 hl (1898) auf 70.132 hl (1905). Als Grund sieht Vietor den gewachsenen Wohlstand der afrikanischen Bevölkerung, durch den sie sich höhere Preise leisten konnten. Denkschrift „Alkohol und Eingeborenenpolitik“ (wie Anm. 23), S. 21. Die eindämmende Wirkung der Zollpolitik macht auch der sinkende Wertanteil der Alkoholeinfuhren am gesamten Handelsvolumen Togos deutlich. Der Anteil der Schutzgebietseinnahmen durch Branntweinzölle sank nach 1904 dauerhaft auf 6–9 %. Von 1896 bis 1904 hatte er noch zwischen 13,7 % (1900) und 25,2 % (1904) geschwankt. Der absolute Einfuhrwert stagnierte dagegen, während andere Einfuhrgüter, insbesondere durch den Eisenbahnbau, erheblich an Gewicht gewannen. Von 1892–1899 schwankte der Einfuhrwert für Branntwein zwischen 370.000,- Mark (1897) und 676.000,- Mark (1894), von 1905–1912 zwischen 402.000,- Mark (1907) und 769.000,- Mark (1911). Er blieb damit dauerhaft auf dem Niveau der 1890er Jahre. Rauws, Joh.: Alcohol in the Colonies (Theory and Legislation), in: Slotemaker Bruin, J. R. de (Hrsg.): Bericht über den XIII. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus, abgehalten im Haag (Scheveningen) vom 11. –16. September 1911, Utrecht 1912, S. 304–318, 311.

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Auf dem 12. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus in London 1909 versuchte Vietor ein weiteres Mal, internationalen Druck auf die europäischen Regierungen aufzubauen, indem er eine Resolution einbrachte, die den völligen Importstopp von Alkohol für alle afrikanischen Kolonien auf der Basis eines internationalen Abkommens forderte. Für den Fall, dass ein derartiges Abkommen nicht zustande kommen sollte, forderte er folgende Mindestregelungen:110 1. Die sofortige und ganzheitliche Anwendung der Brüsseler Beschlüsse im gesamten Vertragsgebiet. 2. Eine jährliche Ausweitung der Territorien, in denen der Handel mit Alkohol gänzlich verboten sei, in Richtung der Küstengebiete hin. 3. Ein Importverbot von Spirituosen in Fässern. 4. Der Import in Flaschen solle nur bei einem Importzoll in Höhe von 2 Schilling und 6 Pence bis 3 Schilling/l erlaubt sein (entspricht 2,50 bis 3,- Mark/l, Anm. B.O.) 5. Der Verkauf von Spirituosen in den Kolonien darf nur gegen Bezahlung einer hohen Lizenz erfolgen. 6. Jeder Ort und jede Stadt ist berechtigt, durch demokratischen Mehrheitsentscheid der Bevölkerung den Verkauf von Spirituosen im eigenen Gebiet gänzlich zu untersagen. Damit ging Vietor über seine allgemeine Forderung nach Schutz vor weiterer „übermäßiger Schnapseinfuhr“ hinaus, die er auf dem 11. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus vom 28.7. bis 3.8.1907 in Stockholm erhoben hatte.111 Schwerwiegender und weitreichender als die Verschärfung seiner absoluten Forderungen ist jedoch ohne Frage sein hier erhobener Ruf nach demokratischer Entscheidung durch die Bevölkerung zu werten.112 Angesichts seiner konservativen politischen Grundhaltung und seiner damit verbundenen Skepsis gegenüber einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht wirkt diese Forderung wie eine Sensation, das umso mehr, weil er dabei offensichtlich an die afrikanische Bevölkerung dachte, möglicherweise selbst afrikanische Frauen. War er bereit, für das Ziel einer durchgreifenden prohibitiven Politik seine konservativen Bedenken gegenüber demokratischen Willensbildungen in solchem Maße zurückzustellen? Zu ungewöhnlichen Maßnahmen, wie der Forderung nach Einführung des Frauenwahlrechts, waren Anhänger der Temperenzbewegung immerhin auch bereits in einigen US-amerikanischen Bundesstaaten, in Neuseeland oder Australien bereit gewesen.113 Auch die 110 Vietor, International Concert [1909] (wie Anm. 100), S. 8. 111 Vietor, 1908 (wie Anm. 95), S. 144. 112 Die diesbezügliche 6. Forderung lautet im englischen Originaltext: „Every village or town can forbid by decision of the majority the sale of spirits in its territory.“ Angesichts der Tatsache, dass es zum Zeitpunkt der Rede zumindest in Togo noch keine kommunalen Selbstverwaltungen gab, auf die hier Bezug genommen werden könnte, schon gar nicht in Dörfern, muss die Aussage Vietors als Forderung nach einem Plebiszit gewertet werden. 113 Vgl. Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München2 2005, S. 201. In Neuseeland wurde das aktive Frauenwahlrecht 1893 eingeführt, ebd. S. 177, 201. In Südaustralien wurde 1894 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen

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Mormonen hatten das Frauenwahlrecht bereits früh, 1870, als Instrument zur Durchsetzung ganz anderer Ziele eingeführt und damit instrumentalisiert.114 In Deutsch-Südwestafrika setzte der Landesrat 1910, gegen den Willen von Wilhelm Külz, der 1909 die Grundlagen einer kommunalen Selbstverwaltung für Südwestafrika gelegt hatte, das Frauenwahlrecht für alleinstehende und landbesitzende weiße Frauen durch. Auch hier spielte weniger das Ziel der politischen Emanzipation der Frau die ausschlaggebende Rolle als vielmehr die Hoffnung, auf diesem Wege mehr weiße Frauen zu einem Zuzug in die Kolonie zu bewegen.115 Wie weit Vietor tatsächlich an die Beteiligung einheimischer Frauen an Plebisziten zur Alkoholfrage dachte, bleibt ungewiss, aber selbst die Forderung nach Befragung afrikanischer Männer müsste als ausgesprochen fortschrittlich bewertet werden. Und dass er zumindest darauf abzielte, scheint äußerst wahrscheinlich, war er doch im Zusammenhang mit der Diskussion über die Frage der Einführung einer kommunalen Selbstverwaltung der Stadt Lome der einzige deutsche Kaufmann, der zumindest ein aktives Vorschlagsrecht für Afrikaner forderte bei der Auswahl von Kandidaten für ein entsprechendes kommunales Gremium.116 Die Parallele zu zeitgleichen Versuchen Albrecht von Rechenbergs in Deutsch-Ostafrika, ein repräsentative politische Vertretung für die einheimische Bevölkerung zu schaffen, darf dabei nicht übersehen werden, gilt Rechenberg doch, wie Vietor, als Parteigänger der reformorientierten Kolonialpolitik Dernburgs.117 Eine höhere Besteuerung für Branntwein, aber auch Tabak, Bier und Wein verlangte Vietor auch anlässlich seiner Antrittsrede als Präses der Bremer Handelskammer im Januar 1909.118 Der öffentliche Druck der letzten zehn Jahre zeigte nach Meinung des Missionsinspektors Rauws nach und nach mehr Wirkung. Auf

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eingeführt, Kaiser, André: Mehrheitsdemokratie und Institutionenreform. Verfassungspolitischer Wandel in Austalien, Großbritannien, Kanada und Neuseeland im Vergleich, Frankfurt 2002, S. 337, Fußnote 322. Zetkin, Clara: Zur Frage des Frauenwahlrechts, Paderborn 2012 (Faksimile-Nachdruck der Erstausgabe von 1907), S. 64. Zetkin weist daraufhin, dass die Mormonen das Frauenwahlrecht einführten, um dadurch gegenüber zuziehenden „Heiden“, d.h. Nichtmormonen, weiter in der Majorität bleiben zu können. Angesichts der verbreiteten Polygamie unter Mormonen waren die Frauenstimmen besonders wichtig. Das trug dazu bei, dass der Kongress 1882 in Polygamie lebenden Männern und Frauen das Wahlrecht aberkannte, um 1887 das Frauenwahlrecht komplett außer Kraft zu setzen. Erst durch Volksentscheid im Zusammenhang mit der Erhebung Utahs zum Bundesstaat 1895 wurde das Frauenwahlrecht wieder eingeführt, ebd., vgl. dazu auch: Van Wagenen, Lola: Sister-Wives and Suffragists: Polygamy and the Politics of Woman Suffrage, 1870–1896, Provo (Utah), 2003. Vgl. Kundrus, Birthe: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln, Weimar 2003, S. 94. Aufzeichnung über die Besprechung mit den Herren Chefs der Togofirmen vom 10.4.1908, ANT, FA 1/88, Bl. 38. Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 165. Rechenbergs entsprechende Bemühungen wurden von der Reichsbürokratie vereitelt, ebenso seine Gedanken über ein Frauenwahlrecht in DeutschOstafrika, ebd. Antrittsrede als Präses der Bremer Handelskammer am 2.1.1909 (Manuskript), VPAH, Konv. 4, Teil 4, S. 4. Vietor weiß sich hier einig mit der Kammer. Ein Angebot der Handelskammer, 1910 nochmals Präses zu werden, lehnte Vietor ab, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 5.9.1910, VPAH, Konv. 1, Teil 6.

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dem 13. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus vom 11. bis 16.9.1911 in Den Haag (Scheveningen) wertete er die amtliche Denkschrift vom März 1908 ebenso als Zeichen dafür wie die Rede Vietors auf der Konferenz des Internationalen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke in Scheveningen 1910, „Alkohol und Naturvölker“.119 Die Rede, die auch im Druck erschien, hatte einen solchen Eindruck gemacht, dass der internationale Verein 1910 ihre Verbreitung zu seiner gemeinsamen Aufgabe erklärte.120 Eine erneute Revision der Brüsseler Beschlüsse von 1906 fand vor dem Krieg jedoch nicht mehr statt, auch wenn die deutsche Seite nun durchaus dazu bereit war und zusammen mit England 1911/12 neue Verhandlungen in Brüssel auf den Weg gebracht hatte.121 Dabei hatten beide Länder eine Erhöhung des Einfuhrzolls von 100 Frs./hl auf 150 Frs/hl vorgeschlagen sowie eine darauf folgende jährliche, stufenweise Steigerung von 10 Frs/hl bis zum Satz von 200 Frs/hl. Frankreich wollte einer derartigen Erhöhung nicht folgen und plädierte für eine geringere Steigerung, stimmte aber schließlich einem Kompromissvorschlag zur Erhöhung des Satzes auf 120 Frs./hl nicht zu.122 Eine Veränderung der Haltung anderer Länder war nur auf internationalem Wege möglich. Vietors Bemühungen in diese Richtung wertete Missionsinspektor Schreiber als Vorbereitungsarbeit für die am 13.9.1911 in Scheveningen (Den Haag) begründete internationale Föderation zum Schutz der eingeborenen Rassen gegen den Alkoholismus.123 Der auf dem 3. Kolonialkongress 1910 aus der Kom119 Rauws 1912 (wie Anm. 109), S. 309. 120 Bericht über Nebentreffen des Internationalen Vereins gegen Mißbrauch geistiger Getränke, in: Slotemaker Bruin, J. R. de (Hrsg.): Bericht über den XIII. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus, abgehalten im Haag (Scheveningen) vom 11.–16. September 1911, Utrecht 1912, S. 545–547, 546. 121 Die Brüsseler Folgekonferenz von 1912, die von England und Deutschland einberufen worden war, platzte an Frankreichs Widerstand gegen eine weitere Erhöhung der Einfuhrzölle, Rudin, Harry Rudolph: Germans in the Cameroons, 1884–1914. A case study in modern imperialism, Hamden2 (Conn.) 1968, S. 385. Der Parteifreund Vietors und Reichstagsabgeordnete der CSP, Mumm, regte in einer Resolution am 30.4.1912 an, der Reichskanzler möge auf baldige Wiederaufnahme der am 5.2.1912 abgebrochenen Brüsseler Verhandlungen hinwirken. Der Alkoholimport in die deutschen Kolonien müsse stetig verringert werden. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., Anlage 391. Ein Jahr später, am 22.4.1913 griff Mumm das Thema in einer parlamentarischen Anfrage noch einmal auf und bat den Reichskanzler um Auskunft über die Gründe des Abbruchs der Brüsseler Verhandlungen 1912, SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., Anlage 946, Anfrage 65. 122 Antwort Dr. Gleims auf Anfrage Mumms, SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 149. Sitzung vom 25.4.1913, S. 5106f. Neben der zurückhaltenden Stellung Frankreichs in Bezug auf eine Anhebung des Zollsatzes, scheiterten die Verhandlungen auch an Frankreichs Weigerung, eine sich durch alle Kolonien ziehende eindeutige Verbotszone zu bestimmen, innerhalb der überhaupt kein Handel mit Spirituosen erlaubt sein sollte. Neben der Erhöhung des Zollsatzes war aber eben das eines der beiden Verhandlungsziele Deutschlands und Englands gewesen. Das Reichstagsprotokoll scheint hier nicht korrekt zu sein, da das verneinende „nicht“ am Schluss des Satzes, der auf die Verbotszone eingeht fehlt, im folgenden Satz aber der Abbruch der Verhandlungen mit Frankreichs Weigerung in dieser Frage begründet wird, ebd, S. 5107. 123 „Du hast bei den verschiedenen internationalen Kongressen gegen den Alkoholismus die Internationale Föderation vorbereitet, die nach der Begründung im Haag 1911, und 1913 in Mailand und jetzt in Lausanne getagt hat“, A. W. Schreiber an J. K. Vietor vom 4.10.1921, StAB, 7,73-6.

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mission zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels hervorgegangene Verband zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels, dessen Rechnungsführer Vietor wurde, führte mit der englischen und französischen Partnerorganisation das Sekretariat der internationalen Föderation.124 Vietor beteiligte sich aber auch an der inländischen Temperenzbewegung.125 Er gehörte zum Verwaltungsausschuss des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke,126 Schreiber erinnerte Vietor, dass der Kampf gegen den Branntweinhandel einst von Bremen, von Missionsinspektor Zahn und Pastor Gustav Müller, ausgegangen sei. Daher bat er Vietor, nun den Vorsitz zu übernehmen. Eine wichtige und vorbereitende Rolle beim Zustandekommen der Internationalen Föderation zum Schutz der eingeborenen Rassen gegen den Alkoholismus 1911 spricht auch Rösing Vietor zu: Rösing, Johannes: J. K. Vietor, in: Historische Gesellschaft Bremen (Hrsg.): Bremisches Jahrbuch, Bremen 1935, S. 446–448, 448, ebenso das Monatsblatt der NMG, das auch auf seine aktive Teilnahme auf dem internationalen Kongress in Bremen hinweist, MB 1934, S. 112–113. Der 9. Internationale Kongress gegen den Alkoholismus fand vom 14.4. bis 19.4.1903 in Bremen statt. 124 „Unser deutscher Verband führt neben Frankreich und England das Sekretariat der am 13. September 1911 in Scheveningen begründeten internationalen Föderation zum Schutz der eingeborenen Rassen gegen den Alkoholismus. Diese Föderation hat auf dem 16. Internationalen Kongress gegen Alkoholismus vom 22.–27. August in Lausanne drei offizielle Sitzungen gehalten und den von deutscher Seite eingebrachten Antrag angenommen, dass die Staaten aufgefordert werden, die Zahlen über die Branntweinausfuhr in den Kolonien während des Krieges zu veröffentlichen“, A. W. Schreiber an J. K. Vietor vom 4.10.1921, StAB, 7,73-6. 125 Zur Entstehung und Entwicklung der Antialkoholbewegung in Deutschland vgl. Heggen, Alfred: Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Eine Studie zur deutschen Sozialgeschichte (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 64), Berlin 1988; Hölzer, Cordula: Die Antialkoholbewegung in den deutschsprachigen Ländern (1860– 1930) (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3; 376), Frankfurt [u.a.]. 126 Die Gründung des deutschen „Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“ am 29.3.1883 markierte den Beginn der „neueren“ Antialkoholbewegung in Deutschland. Zum Verein gehörten die meisten Vertreter der Gruppe der „Mäßigen“, die anders als die Abstinenten wie etwa das Blaue Kreuz, nicht zum völligen Verzicht des Alkoholkonsums aufriefen, sondern lediglich zur Mäßigung desselben. Der Verein hatte 1903 ca. 16.000 Mitglieder, Hölzer (wie Anm. 125), S. 25, 41. Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch Martins, Wilhelm: Die zweite deutsche Mäßigkeitsbewegung, oder der deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und die Enthaltsamkeitsvereine, ihre besonderen Aufgaben und ihr gegenseitiges Verhältnis, in: Zeitfragen des christlichen Volkslebens 11 (1886), S. 251–322 (Heft 6). Den ersten öffentlichen Aufruf des Vereins 1883 „An das deutsche Volk“ hatten auch Vertreter der Inneren Mission wie Friedrich v. Bodelschwingh unterschrieben, ebenso die Bürgermeister Miquel und Brüning. Generalfeldmarschall Graf Moltke trat dem Verein am Gründungstage bei, ebd., Heft 6, S. 4. Vietor war während seiner Afrikareise 1908 in Abwesenheit in den „Hauptvorstand“ des Vereins gewählt worden, was er als Ehre betrachtete, vgl. Antrittsrede als Präses der Bremer Handelskammer am 2.1.1909 (Manuskript), VPAH, Konv. 4, Teil 4, S. 4, vgl. auch Deutscher Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke e.V. in Berlin an J. K. Vietor vom 13.11.1920, StAB, 7,73-4. Der Verein teilte ihm mit, dass er in Abwesenheit erneut in den Verwaltungsausschuss gewählt wurde. Seit 1914 hatte keine Mitgliederversammlung mehr stattgefunden. Vietor lehnte die erneute Wahl jedoch aus Zeitgründen ab, J. K. Vietor an Geschäftsausschuss des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke e.V. in Berlin vom 18.11.1920, ebd. Das Organ des Vereins hatte die großen Reden Vietors auf internationaler Bühne vor dem Krieg, in Stockholm und London, ebenso abgedruckt wie seinen Vortrag in Karlsruhe 1910, vgl. J. K. Vietor an Frl. Hoffmann vom 10.4.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 39. Vietor verwechselt hier jedoch die Jahresangaben der Vorträge.

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sowie zum Verwaltungsausschuss des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus,127 der sich für die Reduzierung des Alkoholkonsums in Deutschland und den Schutz der Jugend vor Alkoholmissbrauch einsetzte.128 WIRKEN IM KOLONIALRAT 1901 BIS 1906 Die Arbeiterfrage in den westafrikanischen Schutzgebieten Der engagierte Einsatz Vietors in der Branntweinfrage hatte ihm im Laufe der Jahre zu einer gewissen Bekanntheit in kolonialen Kreisen verholfen. Aber auch zu anderen Fragen hatte er sich seit Jahren kritisch geäußert und sich damit das Image eines reformistischen Kolonialpolitikers erworben.129 Bereits zu Beginn der 1890er Jahre diente ein Augenzeugenbericht Vietors als Beweisstück für einen Protest Missionsinspektor Zahns gegen den Sklavenhandel in Togo.130 1892 schilderte Vietor erneut wie er Zeuge eines Falles von Sklavenhandel in Klein Popo geworden war.131 Puttkamer sah sich angesichts dieser „Zahn-Vietorsche[n] Intervention“ genötigt, die genaue Lage Caprivi zu schildern, wertete den zutreffenden Bericht Vietors allerdings lediglich als Ausnahmefall.132 Vietor hielt dessen ungeachtet an seiner Darstellung fest, dass der Sklavenhandel „in der ganzen Kolonie ohne Frage“ bestehe, 127 Deutscher Verein gegen den Alkoholismus e.V. an J. K. Vietor vom 5.5.22, StAB, 7,73-8. 128 Deutscher Verein gegen den Alkoholismus e.V. an J. K. Vietor vom 10.4.1922, StAB, 7,73-8. Der Verein appellierte an Vietor, weiter mitzuhelfen den Alkoholkonsum in Deutschland einzuschränken und verwies auf die Einführung der Prohibition in den USA. Der zweite Kongress für alkoholfreie Jugenderziehung sei gerade in der Vorbereitung, ebd. Er fand vom 21. –25.2.1922 in Berlin statt. 129 In einem Zeitungsartikel Mitte der 1920er Jahr weist Vietor darauf hin, dass er bereits von Afrika aus regelmäßig Zeitungsartikel nach Deutschland geschickt habe, die zum größten Teil auch veröffentlicht wurden. Das wäre die Basis für einen gewissen Bekanntheitsgrad gewesen, als er dauerhaft nach Bremen zurückkehrte und hätte ihm viele Einladungen zu Vorträgen eingebracht, Artikelentwurf von J. K. Vietor für die Norddeutsche Rundschau [1924], StAB, 7,7312. 130 Auf ein entsprechendes Schreiben Zahns vom 21.11.1891 geht der ehemalige kaiserliche Kommissar Zimmerer kritisch ein und hält Vietors Darstellungen in der Kölnischen Zeitung vom Mai 1890 für reine Schlußfolgerungen, aber nicht für Augenzeugenberichte, [Zimmerer] an Kol. Abt. vom 26.11.1891: Zum Schreiben des Missionsinspektor Zahn vom 21. Nov. 1891, BAB, R 1001-4086, Bl. 12. 131 J. K. Vietor (Klein Popo) an Kol. Abt. vom 8.5.1892, ebd., Bl. 66–68. Die Schilderung könnte im Zusammenhang mit dem Fragebogen stehen, der vom Kolonialrat entworfen worden war, vgl. Fragebogen No. 10 der Drucksachen des Kolonialraths, I. Sitzungsperiode 1891/92 nach den Beschlüssen der Kommission, ebd., Bl. 152–155. Ab 27.4.1892 war der Fragebogen auch in Togo verteilt worden, [Köhler] an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 28.4.1895, ebd., Bl. 151. 132 Puttkamer erklärte, bei der von Vietor aufgegriffenen Gruppe von 18 angeketteten Gefangenen hätte es sich um die letzte Lieferung infolge der Graven’reuthschen Anwerbungen für Kamerun gehandelt. Auch Vietor hätte ihm versichert, das wäre ein Einzelfall gewesen, Puttkamer an Caprivi vom 12.10.1892, BAB, R 1001-4086, Bl. 91–96. Ursprünglich sollten 89 Sklaven geliefert werden, wie einige Häuptlinge aus Klein Popo Puttkamer später erklärten, Häuptlinge aus Klein Popo an von Puttkamer vom 16.10.1892, ebd., Bl. 106–109.

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wenn auch in „verhältnismäßig geringerem Maße“.133 In den Folgejahren kritisierte er teure und wenig nutzbringende Hinterlandexpeditionen, die das notwendige Geld zur Erschließung des Hinterlandes verschlängen, die Aussendung „schneidiger“ Beamter, die mit der einheimischen Bevölkerung nicht richtig umzugehen verstünden,134 schaltete sich in die Diskussion über Eisenbahnprojekte in Togo ein,135 forderte dabei, sicher nicht ganz uneigennützig, eine Trasse von Klein Popo nach Atakpame136 und griff um die Jahrhundertwende erstmals das Arbeiterproblem in Kamerun auf.137 Seine Berufung in den Kolonialrat 1901 kam daher nicht aus heiterem Himmel, bedenkt man zudem, dass er in den 1890er Jahren auch persönliche und offensichtlich noch gute Beziehungen zu den Gouverneuren Zimmerer und Puttkamer unterhielt, die seiner Berufung möglicherweise zuträglich waren.138 Mit Puttkamer und Sholto Douglas machte er sogar zeitweise Geschäfte139 und seine teils kritischen Artikel nahm ihm Puttkamer damals noch nicht übel.140 133 Vietor an Puttkamer vom 21.11.1892, BAB, R 1001-4086, Bl. 160–168, 162. Vietor beantwortet in dem Schreiben den vom Kolonialrat entworfenen Fragebogen zum Stand der Sklavereiproblematik in den Kolonien. 134 Vietor, J. K.: Zur Kolonialpolitik, in: Reichsbote 44 (1894). Der gleiche Artikel wurde auch abgedruckt in: DKB 1894, S. 130 f. 135 Während der Herbstsitzung des Kolonialrats 1898 wandte sich Vietor mit Schreiben vom 26.10.1898 an das Kolonialratsmitglied Ernst Vohsen, um ihn zu veranlassen, seine Gedanken zum Bahnbau in Togo im Kolonialrat zur Sprache zu bringen. Der Brief erreichte Vohsen jedoch erst, als das Thema Bahnbau im Kolonialrat bereits behandelt worden war. Vohsen zeigte sich aber interessiert an Vietors Gedanken und lud ihn zu einem Besuch in Berlin ein, um sich ausführlicher mit ihm darüber zu unterhalten, vgl. Ernst Vohsen an J. K. Vietor vom 27.10.1898, VPAH, Konv. 3, Mappe 2. 136 Vietor, J. K.: Die Erschließung des Hinterlandes der Togokolonie, in: DKZ 5 (1899), S. 38. 137 Vietor, J. K.: Togoleute als Arbeiter für Kamerun, in: DKZ 34 (1900), S. 390–391. 138 1894 verteidigte Vietor Zimmerer und Puttkamer und hielt sie beide „in ihren Stellungen am richtigen Platz“. Zimmerer machte er verantwortlich für die günstige Situation in Togo und stand mit ihm im Austausch über die richtige Kolonialpolitik in Kamerun, vgl. Vietor, 1894 (wie Anm. 133). 139 J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 17.6.1896, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 3. Vietor erhielt von Puttkamer und Douglas „den ganzen Ein- und Verkauf für sie […] und zwar so, daß sie mir immer erst das Geld geben und daß ich dann nachträglich darüber verfüge.“ Um was es genau ging, wird nicht klar. Douglas, der in der deutschen Kaliindustrie führend war, war an zahlreichen kolonialen Kapitalunternehmen beteiligt, v.a. in Kamerun, wie der GSK, der WAPV und der Molive-Pflanzungsgesellschaft. In seinem Auftrag bereiste Friedrich Hupfeld 1897 und 1898 Togo und legte mit seinen fragwürdigen Landkäufen die Grundlage für die spätere DTG. Zu Douglas vgl. Poninski, Ellen Gräfin; Zorn, Wolfgang: Douglas, Hugo Sholto Oskar Georg Freiherr, Graf von, in: NDB 4 (1959), S. 89. Der Beitrag geht nicht auf Douglas’ kolonialpolitische Rolle ein, sondern betont vielmehr seine humanitären Bestrebungen. 140 „Heute Nachmittag bin ich nun auch bei dem Commissar gewesen und ganz ausserordentlich freundlich aufgenommen. V. Puttkammer (sic) ist ein sehr bedeutender Mann und kaum war ich 10 Min. da, so fing er bereits an über die Artikel zu sprechen, die ich geschrieben hatte und besonders über den in Berlin verfassten, der ja sehr ungünstig lautet. V. Puttkammer (sic) gab [mir] in mancher Weise Recht und war durchaus nicht ärgerlich. Wir besprachen dann noch eine ganze Reihe Pläne, die er und ich gemacht hatten.“ J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 5.9.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Vietor war auch gern gesellig mit Puttkamer zusammen, zum Essen oder zu einem Glas Sekt, vgl. J. K. Vietor (Klein Popo) an Hed-

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Der Kolonialrat war mit kaiserlichem Erlass vom 10.10.1890 als beratendes Gremium für die am 1.4.1890 geschaffene 4. Abteilung im Auswärtigen Amt, die spätere Kolonialabteilung, ins Leben gerufen worden.141 Der Versuch Beiräte zu schaffen, die am Parlament vorbei Regierungen in Sachfragen beraten und öffentliche Gelder in die Kolonien lenken sollten, lag um 1890 im Trend der europäischen Kolonialmächte.142 In den Augen des Reichstags hatte der Kolonialrat daher von Anfang an den Beigeschmack einer konkurrierenden Nebenregierung. Er konnte jedoch Pläne der Kolonialabteilung, die Finanzierung der Erschließung der Kolonien aus Bundesratsmitteln am Reichstag vorbei, verhindern und sein Budgetrecht durchsetzen, was eine mögliche effektive „Nebenregierung“ des Kolonialrats dauerhaft verhinderte.143 Aber auch die zweite mögliche Funktion des Kolonialrats, die Beratung der Regierung durch unabhängige Sachverständige, wurde nicht erreicht. Kayser versuchte zwar in der Zusammensetzung des ersten Kolonialrats die Interessenvertreter der in den Kolonien engagierten Unternehmen nicht zur Majorität gelangen zu lassen, faktisch dominierten sie jedoch von Anfang an den Kolonialrat sowie den Kurs der Kolonialpolitik und gaben damit dem Rat das Gepräge einer Lobbyistenvereinigung, wenngleich durchaus mit konkurrierenden Zielvorstellungen.144 Kayser begrenzte die Größe des Gremiums auf zwanzig Vertreter, wovon

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wig Vietor vom 15.9.1894, ebd. Puttkamer war Vietor durchaus zugetan und verschaffte ihm wertvolle Kontakte, so etwa, indem er ihn zu einem Essen mit dem Gouverneur von Dahomey, Ballot, einlud. „Das ist sehr aufmerksam und freundlich von Puttkammer (sic), denn auf solche Weise würde ich ihm [Ballot, Anm. B.O.] gegenüber, mit dem ich später viel zu thun haben werde, eine ganz andere Stellung haben“, J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 11.10.1894, ebd. Später kühlte sich das Verhältnis freilich ab. Als Puttkamer 1905 von einem Reisenden gefragt wurde, ob er Vietor kenne und bejahte, konnte er auf dessen Feststellung, Vietor sei doch ein ganz famoser Kerl nur müde „Ja, ja“ sagen, was Vietor amüsierte: „Ist das nicht zum Schreien?“ , J. K. Vietor (Eleonore Woermann) an Hedwig Vietor vom 13.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 88. Die 4. Abteilung, die bereits von Bismarck versprochen worden war, wurde im Gegenzug einer Zustimmung der DKG zum Helgoland– Sansibar-Vertrag im Juni 1890 in Kolonialabteilung umbenannt und mit einem Immediatrecht des Kolonialdirektors beim Kanzler versehen, was sonst nur Staatssekretären zugestanden wurde, ebd., S. 71. Der am 29.6.1890 berufene Kolonialdirektor Kayser stellte daher sogleich eine Untersuchung an, ob und wenn ja mit welchen Funktionen koloniale Beiräte in anderen europäischen Ländern existierten, von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 77f. Weitgehende Befugnisse konnten koloniale Beiräte jedoch nirgendwo erringen. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 94. Unbeschadet der rein beratenden Funktion des Kolonialrats wurde er insbesondere in den 1890er Jahren häufig als „Nebenparlament“ bezeichnet, vgl. Strandmann, Hartmut Pogge von: Der Kolonialrat, in: van der Heyden, Ulrich/ Zeller, Joachim (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin, Berlin 2002, S. 32–34, 32. Im ersten Kolonialrat, der seine erste Sitzung am 22.6.1891 hatte und zu dem 20 Personen zählten, hatten immerhin acht Mitglieder persönliche Afrikaerfahrung und zwei waren in der Südsee gewesen, von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 106f. Rudin sieht in den Mitgliedern keine neutralen Sachverständigen, sondern von eigenen Interessen befangene Vertreter, von denen die der Pflanzer- und Händlerlobby den Kolonialrat insbesondere in den 1890er Jahren dominierten, allerdings untereinander teilweise in scharfer Rivalität zueinander standen, Rudin, 1968 (wie Anm. 127), S. 138f. Auch für Diehn bestand der Kolonialrat von Anfang an aus Lobbyisten, vgl. Diehn, Otto, 1956: Kaufmannschaft, S. 60.

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neun durch verschiedene Kolonialgesellschaften vorgeschlagen werden sollten und die restlichen elf vom Reichskanzler direkt zu berufen waren.145 Unter den Vorschlägen der Kolonialgesellschaften befand sich auch J. K. Vietor, der aber keine Berücksichtigung fand.146 Erst als der Kolonialrat im Zusammenhang mit Buchkas Konzessionspolitik 1898/99 heftig in die öffentliche Kritik geriet, scheint Vietor wieder ins Blickfeld gekommen zu sein. Zwar hatte der Kolonialrat im Laufe der Jahre an Ansehen und Bedeutung gewonnen und um die Jahrhundertwende mit dem Habitus eines „kolonialen Herrenhausees“ (Strandmann) den Höhepunkt seines Einflusses erreicht,147 war aber durch die Erteilung der beiden großen Kamerunkonzessionen, von denen die erste vollständig am Kolonialrat vorbei erteilt worden war, Zielscheibe einer heftigen öffentlichen Kritik geworden. Der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes und nationalliberale Reichstagsabgeordnete, Professor Ernst Hasse, traute dem Kolonialrat keine ablehnende Haltung gegenüber der zweiten Konzession, die 1899 im Kolonialrat beraten wurde, mehr zu, weil er in seinen Augen eine bloße Vertretung kapitalistischer Interessen war.148 Als die Zustimmung 145 Kayser hatte im April 1891 die Neuguinea Companie (NGC), Die Deutsch–Ostafrikanische Gesellschaft (DOAG) und die Kameruner Land- und Plantagengesellschaft (KlPlG) angeschrieben je zwei Kandidatenvorschläge für den Kolonialrat zu machen, die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika (DKGfSWA), die Deutsch Ostafrikanische Pflanzungsgesellschaft (DOAPlG) und die Jaluit Gesellschaft sollten je einen Kandidaten vorschlagen, von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 100. Die Mitglieder wurden anfangs auf ein Jahr berufen, ab 1895 auf ein bis drei Jahre, Rudin, 1968 (wie Anm. 121), S. 138. 146 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 110. Vietor landete nur auf dem dritten Platz in der Vorschlagsliste und konnte somit nicht berücksichtigt werden. 147 Strandmann belegt die gewachsene Bedeutung des Kolonialrats um die Jahrhundertwende damit, dass Tirpitz 1900 versuchte, zwei Flottenverfechter im Kolonialrat unterzubringen. Im gleichen Jahr stimmte auch erstmals der Kaiser selbst Neuberufungen zu und am 19.3.1901 sah sich Stuebel im Reichstag genötigt einzuräumen, „dass es vom Kolonialrat abhängen werde, welche finanziellen Maßregeln die Regierung in der Frage der Abschaffung der Haussklaverei ergreifen werde“, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 249f, 260. 1901 konnte der Kolonialrat erstmals erreichen, dass ihm die Etatentwürfe für das Folgejahr bereits in der Frühjahrssitzung vorgelegt wurden, sodass nun Änderungswünsche rechtzeitig gemacht werden konnten, ebd., S. 265. Diese Neuregelung trat aber erst 1902 in Kraft, Der Kolonialrat, in: Koloniale Zeitschrift, 1901, S. 155f. „Der Kolonialrat hat nun endlich erreicht, was seine ehrgeizigen Mitglieder haben möchten, einen direkten Einfluss auf die Gestaltung der Geschicke der Kolonien, er ist gewissermassen ein Stück Regierung geworden“, ebd., S. 155. Strandmann verweist für den Bedeutungszuwachs des Kolonialrats um die Jahrhundertwende auch auf dessen Diners, auf deren Gästelisten zunehmend bedeutende Persönlichkeiten standen. Den Höhepunkt seines Ansehens erreichte der Kolonialrat im November 1901, dem Monat von Vietors erster Sitzung, als der Kolonialrat „zu einer Soiree beim Kaiser“ eingeladen wurde, von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 286. 148 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 251. Die Abstimmung im Kolonialrat über die Frage, ob die Konzessionserteilung an die GNWK zu empfehlen sei, fiel aber nicht so klar aus, wie Hasse annahm. Immerhin stimmten 10 Teilnehmer gegen die Konzession, 13 dafür und selbst dieses Ergebnis wäre wohl anders ausgefallen, wenn in der Pause vor der Abstimmung nicht noch Druck auf einzelne Personen ausgeübt worden wäre. Der Präsident der DKG etwa, Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg, zog seinen Antrag auf Ablehnung der Konzession nach der Pause wieder zurück und stimmte im Anschluss gegen den gleichlautenden Antrag, den ein anderer Teilnehmer daraufhin eingebracht hatte, vgl. Damaschke, Adolf: Kolonialspe-

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dann tatsächlich erteilt wurde, forderte auch Graf Arnim, Mitglied des Alldeutschen Verbandes und freikonservativer Reichstagsabgeordneter, die Berufung von unabhängigen Kolonialpolitikern in den Kolonialrat, da er nur wirtschaftliche Interessen verträte.149 In ähnlicher Weise kritisierten die Hamburger Nachrichten und andere Zeitungen, dass es im Kolonialrat an Praktikern mit frischen eigenen Erfahrungen der kolonialen Wirklichkeit fehle.150 Im Mai 1900 forderte dann auch der Zentrumspolitiker und stellvertretende Vorsitzende der DKG, Prinz von Arenberg, im Namen der Budgetkommission eine Veränderung der Zusammensetzung des Kolonialrats, da dieser überwiegend aus „Interessenten“ bestünde. Er brauche die Ergänzung durch unabhängige und kompetente Mitglieder, auch aus den Reihen der Reichstagsmitglieder.151 Der ehemalige Landeshauptmann von Südwestafrika, Major a. D. von François, der um die Jahrhundertwende für die Bodenreformbewegung gewonnen wurde, zeigte sich über die neuerlichen Konzessionsvergaben in Kamerun entsetzt. Er hätte das nach dem Sturm der Entrüstung, die die Damaralandkonzession bereits 1892 ausgelöst hatte, nicht für möglich gehalten und nach der jüngsten alternativen Landpolitik des Reichsmarineamtes für Kiautschou, eine allgemeine Übernahme dieser Politik für alle Kolonien erwartet.152 Da er den Kolonialrat, den auch er als reines Lobbyistengremium ansah, mitverantwortlich für

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kulationen, in: Deutsche Volksstimme 13/14 (1899), S. 385–391, 386. Zu Hasse vgl. Zmarzlik, Hans-Günter: Hasse, Ernst, in NDB, Berlin 1969, S. 39f. Ab 1888 hielt Hasse als erster deutscher Hochschullehrer an der Universität Leipzig Vorlesungen über Kolonialpolitik. Von 1893– 1908 war Hasse Vorsitzender des Alldeutschen Verbands, ebd. Hasses Bewertung des Kolonialrats und seiner Zusammensetzung deckte sich, freilich aus ganz anderen Gründen, mit der von August Bebel, der den Kolonialrat als Kreis von „Interessenten der Kolonialpolitik“, also Lobbyisten, ansah, denen man keine Entscheidungsbefugnis geben dürfe. Dadurch würde man den „Bock zum Gärtner“ machen, SBR, 10. Leg. per., 2. Sess., 71. Sitzung vom 19.3.1901, S. 2003. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 254f. Im März 1899 hatte er noch im Reichstag darauf gedrängt, dass wegen der zweiten Konzession unbedingt der Kolonialrat gehört werden müsse und ihm damit offensichtlich noch korrigierenden Einfluss zugetraut, vgl. SBR, 10. Leg. per., 1. Sess., 53. Sitzung vom 10.3.1899, S. 1459. Denselben konnte er trotz der Zustimmung zur Konzession offensichtlich auch weiter erkennen und lobte ausdrücklich die Resolution des Kolonialrats zum Konzessionsvertrag, mit er sich einverstanden erklärte und forderte deren Beachtung, SBR, 10. Leg. per., 1. Sess., 93. Sitzung vom 15.6.1899, S. 2571f.. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 250. Auch die Koloniale Zeitschrift, zu deren Herausgeberkreis neben R. Breitscheid, E. A. Fabarius (Witzenhausen), Dr. Ernst Henrici; C. Schlettwein, Major a. D. v. Wissmann auch Julius Scharlach und Carl Peters gehörten, forderte 1901 die Berufung von Vertretern in den Kolonialrat, die aus eigener Anschauung und eigenem Erleben die Kolonien kennen würden, 1901 (wie Anm. 147). SBR, 10. Leg. per., 1. Sess., 195. Sitzung vom 16.5.1900, S. 5543. Eine Übernahme der Prinzipien der Landordnung von Kiatschou für die der Kolonialverwaltung unterstehenden Schutzgebiete unterblieb auch weiterhin. Erst in der letzten Kolonialdebatte des Reichstags vor dem Krieg nahm dieser am 13.5.1914 eine Resolution der Budgetkommission an, die die Verwaltung des in Duala enteigneten Landes nach der Landordnung von Kiautschou bestimmte, vgl. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 256. Sitzung vom 13.5.1914, S. 8822; vgl. auch SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., Anlage 1618, S. 3524. Von einer kompletten Übernahme der Landordnung von Kiautschou für alle deutschen Kolonien in dieser Sitzung, wie sie Damaschke später behauptete, kann dagegen keine Rede sein, vgl. Damaschke, Adolf: Zeitenwende. Aus meinem Leben, Leipzig und Zürich (1925), S. 244.

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diese Politik machte, schlug er vor, in Zukunft direkt den Reichstag über Fragen dieser Dimension entscheiden zu lassen.153 In erster Linie aber kam Kolonialdirektor von Buchka nicht mehr aus den Schlagzeilen heraus und musste am 6.6.1900 seinen Rücktritt erklären.154 Dem neuen Kolonialdirektor, Oskar Stuebel, der Buchka am 12.6.1900 im Amt folgte, scheint Vietor genau der richtige Mann gewesen zu sein, um die öffentlichen Aufforderungen, unabhängige Praktiker zu berufen, aufzunehmen. Im Vertrauen teilte er Vietor mit, es „wäre [ihm] es sehr lieb, wenn ich ihm solche energische Opposition machen wollte, dadurch würden die andern Leute bescheidener und vorsichtiger.“155 Offensichtlich versprach sich Stuebel durch Vietor eine Verlagerung der Gewichte im Kolonialrat. Die kapitalistischmonopolistische Gruppe um Dr. Scharlach hatte bereits seit dem Abgang v. Buchkas einen Dämpfer erlitten,156 war aber immer noch ein dominierender Faktor.157 Die Annahme jedoch, der Kolonialrat wäre wegen der Kritik an den Konzessionsverträgen ausgeweitet worden, kann nicht belegt werden,158 ebensowenig wie eine strategisch klar erkennbare Berufungspraxis Stuebels nachweisbar ist, die eine bewusste und überproportionale Stärkung des reformistischen Lagers gefördert hätte. 153 Francois, Curt von: Staat oder Gesellschaft in unseren Kolonien? Referat erstattet für die 11. Hauptversammlung des „Bundes der deutschen Bodenreformer“, in: Soziale Streitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart 10 [1901], S. 3, 8. „Die Erfahrung mit dem Kolonialrat bestätigt die alte Regel, daß man Interessenten nicht als Ratgeber heranziehen soll“, ebd. S. 8. 154 Im April und Mai 1900 war es erneut zu Presseattacken auf Buchka gekommen, vorwiegend aus Kreisen des alldeutschen Verbands, Ballhaus, Jolanda: Die Landkonzessionsgesellschaften, in: Stoecker, Helmuth (Hrsg.): Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft/2 (Schriftenreihe des Instituts für allgemeine Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin; 12), Berlin 1968, S. 101–179, 122. 155 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 21. 156 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 327. 157 Der alldeutsche Professor Siegfried Passarge führte bereits am 9.4.1900 die spekulative Konzessionspolitik auf das „System Scharlach“ zurück, vgl. Ballhaus 1968 (wie Anm. 154), S. 125. Ebenso drückte sich auch Freiherr von Schleinitz 1903 aus, als er Scharlach vorwarf, den Kolonialrat für seine eigenen egoistischen Ziele zu mißbrauchen. „Maßnahmen mit so ungeheuerlicher Wirkung lassen sich kaum anders erklären als dadurch, daß eine nicht genügend sachverständige Behörde sich auf die selbstinteressierten Stimmen des Kolonialrats stützte und diesen als sachkundige Rückendeckung hatte“, Schleinitz, Freiherr von: Deutschlands nationale, wirtschaftliche und humanitäre Aufgaben in seinen Kolonien, in: Deutsche Revue 1903, S. 94–117, 101. 158 Rudin sieht den Grund für die Erhöhung der Mitgliederzahlen von 25 auf 40 Mitglieder in der vielfältigen Kritik an der Konzessionspolitik, vgl. Rudin, 1968 (wie Anm. 121), S. 140. Er kann jedoch weder einen entsprechenden Beschluss anführen, noch sind seine Zahlen korrekt. Die Ausweitung des Kolonialrats verlief zwischen 1891 und 1901 relativ linear und stagnierte seitdem auf dem Niveau von etwa 40 Mitgliedern. Hatten 1891 noch 18 Mitglieder an der Sitzung teilgenommen, waren es 1898, also noch vor den Konzessionsverträgen bereits 31. Zwei Jahre später waren es 36 und im November 1901 waren von 40 Mitgliedern 38 anwesend, vgl. BAB, R 1001-6987, Bl. 120; R 1001-6990, Bl. 35, 214; R 1001-6992, Bl. 46. Die Zunahme der Größe muss eher auf die ständig komplexer werdenden Fragestellungen zurückgeführt werden, denen schließlich auch durch Mitgliedervermehrung nicht mehr effektiv begegnet werden konnte. So auch Schiefel, Werner: Bernhard Dernburg 1865–1937. Kolonialpolitiker und Bankier im wilhelminischen Deutschland, Zürich; Freiburg i. Br. 1974, S. 84; Westphal, Wilfried: Geschichte der deutschen Kolonien, Bindlach 1991, S. 255.

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Das zeigt bereits allein die Tatsache, dass zeitgleich mit Vietor auch Dr. Max Schoeller, der Vorsitzende des Aufsichtsrates der umstrittenen Konzessionsgesellschaft GNWK, in den Kolonialrat berufen wurde.159 Vietors erster Eindruck vom Kolonialrat auf seiner ersten Sitzung am 21./22.11.1901 entsprach rundweg der veröffentlichten Meinung über dessen Zusammensetzung. In einem wenige Tage später geschriebenen Bericht an den Missionsinspektor der Basler Mission, Oehler, beklagt er sich über die unglückliche und einseitige Besetzung durch Interessenten der großen Gesellschaften, „die sich gegenseitig kein Auge auskratzen u. sich nach Kräften gegenseitig unterstützen, die Colonien für ihre Zwecke auszunutzen.“ Die Vertretung der protestantischen Missionen durch Jacobi war für ihn „eine noch viel schwächere, wie ich gedacht hatte“, die katholische Mission fand er dagegen mit Hespers „auf eine ausgezeichnete Weise vertreten.“160 Sehr kurzfristig hatte er erfahren, dass auf der Tagesordnung auch die Arbeiterfrage in Kamerun behandelt werden sollte und hatte Oehler gebeten, ihm „sofort“ neues Material darüber zuzusenden, falls er dazu etwas hätte.161 Bereits seit 1900 hatte sich Vietor dieses Themas angenommen162 und stand seitdem in Kontakt mit Basel. Im Zusammenhang mit der Verknappung der Arbeitskräfte infolge des sprunghaften Ausbaus der Großplantagen in Kamerun in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre163 hatten die Pflanzungsunternehmen wiederholt an die Regierung appelliert, ihnen bei der Anwerbung von Arbeitern zu helfen.164 Zu dieser Unterstützung war insbesondere Gou159 Beide waren erstmals zur Sitzung am 21.11.1901 eingeladen worden, vgl. BAB, R 1001-6992, Bl. 46, S. 2. 160 J. K. Vietor an Missionsinspektor [Oehler] vom 28.11.1901, ABM, Q 3-4,49, S. 1. 161 J. K. Vietor an Missionsinspektor Oehler (Telegramm) vom 16.11.1901, ABM, Q 3-4,49. 162 Vgl. Vietor, 1900 (wie Anm. 137). 163 1897 entstanden die beiden größten Plantagenunternehmen Kameruns, die Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Viktoria (WAPV) mit einem Gründungskapital von 2,5 Millionen Mark und die Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Bibundi mit einem Gründungskapital von 1,5 Millionen Mark. 1899 kamen die Pflanzungsgesellschaften Idenau (1 Million Mark), Moliwe (1 Million Mark) und Oechelhäuser hinzu, vgl. Hausen, Karin: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 6), Zürich [u.a.] 1970, S. 209. Zur Gründungs- und Firmengeschichte der WAPV vgl. ebd., Anhang VII, S. 312–315. Eckert spricht „von einem wahren Plantagengründungsfieber“ in Kamerun ab Mitte der 1890er Jahre, Eckert, Andreas: Grundbesitz, Landkonflikte und kolonialer Wandel: Douala 1880 bis 1960 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 70) 1999, S. 74, Gründer von einer „spektakuläre[n] Entwicklung der Plantagengesellschaften“ ab 1897, Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 148. 164 J. Thormählen (WAPB) an Kol. Abt. vom 8.9.1897, BAB, R 1001-3511, Bl. 43f.; Thormählen (WAPB), Woermann (Kamerun–Land–und–Plantagengesellschaft), Esser (WAPV und Pflanzung Günther-Soppo GmbH) an Kol. Abt. vom 11.5.1898, BAB, R 1001-3226, Bl. 31 f. Hierin forderten die Firmen fünfjährige Arbeitskontrakte, ganz im Sinne G. Friedericis, der für Kriegsgefangene eine fünfjährige Arbeitspflicht auf den Plantagen forderte, vgl. Friderici, G.: Die Verhältnisse in Kamerun, in: DKZ 18 (1898), S. 162f. Möglicherweise wurde der Artikel irrtümlich G. Friederici zugeschrieben. Carl Georg Eduard Friederici, auf den die Abkürzung „G. Friderici“, trotz des Schreibfehlers zunächst schließen läßt, stand 1898 noch im Dienst als preußischer Offizier. Er reichte seinen Abschied erst 1903 ein und nahm später an einer Forschungsreise in die Südsee teil. E. Friederici war dagegen Leiter der Kamerun Land- und Plantagengesellschaft in Viktoria, auf den dieser Artikel deutlich besser zu passen scheint, vgl.

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verneur v. Puttkamer bereit, der bereits 1888 für Konzessionsvergaben an Plantagen- und Forstunternehmen in den tropischen Kolonien Deutschlands plädiert hatte.165 Motiviert durch die Plantagenwirtschaft in St. Tomé entschied er 1896, kurz nach seinem Wechsel von Togo nach Kamerun, Kamerun zu einer Plantagenkolonie auszubauen und damit Kapital in das Schutzgebiet zu holen.166 Sein Ziel war es, durch den Ausbau der Regierungsstationen im Landesinneren und deren Vermittlungstätigkeit bei der Anwerbung innerhalb weniger Jahre 1500 Arbeitskräfte jährlich rekrutieren zu können, weil es unmöglich sei „die Arbeiteranwerbungen den Plantagen selbst zu überlassen, da die Arbeiter sich überall dagegen sträubten, ohne Garantie der Regierung ein Contract-Verhältnis einzugehen.“167 Zu diesem Zweck wurde 1898 das Amt eines amtlichen Arbeiterkommissars geschaffen, dessen Gehalt durch eine Vermittlungsgebühr von zehn Mark/Arbeiter refinanziert werden sollte.168 Allein zwischen Oktober 1899 und April 1900 konnte die Verwaltung

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Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 246; Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 666. Zum Problem der Arbeiteranwerbung vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 274–290; Rüger, Adolf: Die Entstehung und Lage der Arbeiterklasse unter dem deutschen Kolonialregime in Kamerun (1895–1905), in: Stoecker, Helmuth, 1960: Kamerun/1, S. 149–242, hier: 192–206, Mandeng, Patrice: Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft in Kamerun. Die Arbeitskräftebeschaffung in den Südbezirken Kameruns während der deutschen Kolonialherrschaft 1884– 1914 (Schriften der Vereinigung von Afrikanisten in Deutschland; 4), Hamburg (1973), S. 82–91, vgl. auch Rudin, 1968 (wie Anm. 121), S. 315–337. „(Die Devise ist also überall „Plantagenbau)“, Klammern im Orig. In der gleichen Denkschrift sprach sich Puttkamer auch für die Vergabe von Konzessionen an Land- und Forstwirtschaftliche Gesellschaften aus, lehnte diese für Handelsgesellschaften aber ab, vgl. Denkschrift des Kommissars von Puttkamer betreffend der Arbeiterfrage in den deutschen Schutzgebieten (12.9.1888), BAB, R 1001-3223, Bl. 109–133, 113, 133. Damals rechnete er noch mit der Möglichkeit, Sklaven in Dahomey freizukaufen und diese, als Gegenleistung für die Begleichung der Loskaufsumme, fünf Jahre als Regierungsarbeiter einsetzen zu können, ebd., Bl. 130f. 1897 beteiligte sich Puttkamer auch an der Gründung der WAPV, vgl. Puttkamer, Jesco Albert Eugen von: Gouverneursjahre im Kamerun, Berlin 1912, S. 47. Puttkamer an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 11.9.1897, BAB, R 1001-3226, Bl. 19f. Puttkamer beließ es freilich nicht bei der amtlichen Anwerbeunterstützung, er ordnete auch Friedensschlüsse mit aufständischen Stämmen an, wie etwa den Wute, in denen die Gestellung von Strafarbeitern für die Plantagen festgeschrieben wurde, vgl. Mandeng, (1973) (wie Anm. 164), S. 77, Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 196. Offensichtlich hatte er 1897 auch Einfluss auf den Vertrag Dr. Essers mit Häuptling Garega, durch den dieser sich verpflichtete, bis zu 2.000 Arbeiter zu stellen, Mandeng (1973) (wie Anm. 164), S. 83f. Puttkamer gibt jedenfalls an, er habe die Pflanzungen durch Hilfe bei Vertragsabschlüssen mit Häuptlingen, durch Gestellung von Strafarbeitern und durch amtliche Bevollmächtigung privater Anwerber unterstützt, vgl. Puttkamer, 1912 (wie Anm. 166), S. 105. Auf einer Besprechung Puttkamers mit den wichtigsten Interessenten in Kamerun wurde Leutnant Carnab-Quernheimb als Arbeiterkommissar vorgeschlagen, sein Jahresgehalt wurde auf 7.200,- Mark festgelegt, zu dem noch Wohnungs- und Reisekosten kamen. Seine Hauptaufgabe sollte die Gestellung von Arbeitern aus dem Hinterland sein, vgl. Protokoll der Besprechung vom 2.6.1898, BAB, R 1001-3226, Bl. 43f. An der Besprechung nahmen neben Puttkamer und Dr. Irmer als Vertreter der Kolonialabteilung Dr. Esser, Thormählen und Leutnant CarnapQuernheimb teil. Woermann ließ sich entschuldigen. Die näheren Bestimmungen zur Tätigkeit des Arbeiterkommissars, sein Aufsichtsrecht, die Arbeitsverträge und die Pflichten der Arbeit-

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1.800 Arbeiter, darunter allerdings 700 landfremde aus Lagos, an die Pflanzungen vermitteln, im Gesamtzeitraum 1898/1901 waren es nach Angaben Carnap-Quernheimbs 6.000.169 Die Einrichtung des Amtes eines Arbeiterkommissars hatte jedoch keinen effektiven Schutz der Arbeiter zur Folge, obwohl ihm durch die Bestimmungen vom Dezember 1898 respektive Juni 1899 prinzipiell das Recht zustand, Beschwerden der Arbeiter entgegenzunehmen, die Lebensbedingungen auf den Plantagen zu kontrollieren und im Falle eines Regelverstoßes dem Arbeitgeber die Arbeiter wieder zu entziehen. Carnap-Quernheimb, der das Amt „auf ganz ausdrücklichen Wunsch des Gouverneurs und der Interessenten“ 1898 übernommen hatte, interessierte sich jedoch weniger für die Arbeitsbedingungen als vielmehr für die Beschaffung möglichst billiger Arbeitskräfte.170 Der WAPV verschaffte er umgehend „eine größere Zahl Arbeiter zu dem billigen Monatslohn von 6 Mark“ aus dem nördlichen Hinterland.171 Dabei handelte es sich um etwa vierhundert „Jungens“, die mangels Alternativen genommen wurden, obwohl ein großer Teil von ihnen „recht schwächlich und klein“ war.172 Hinzu kamen die Zwangsrekrutierungen aufgrund militärischer Auseinandersetzungen mit aufständischen Stämmen, die nicht unwesentlich zur ausreichenden Versorgung der Plantagen mit Arbeitern beitrugen.173 Die Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter stellten sich schnell als skan-

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geber wurden in einem 12 Punkte Katalog am 3.12.1898 festgelegt, nachdem Puttkamer bereits am 21.11.1898 entsprechende Bestimmungen für das Schutzgebiet Kamerun erlassen hatte, BAB, R 1001-3226, Bl. 58–61. Die Kolonialabteilung präzisierte diese Bestimmungen am 26.6.1899 nochmals, ebd. Bl. 105–108. Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 197. Carnap-Quernheimb, E. von: Ernste Betrachtungen über die „Perle unserer Kolonien“ Kamerun, nach langjähriger eigener Erfahrung, in: Beiträge zur Kolonialpolitik und Kolonialwirtschaft 1900, S. 193–203, 194. Seine ihm gestellte Aufgabe beschreibt er vielsagend: „Es handelte sich also darum, viel brauchbare und billige Arbeiter zu beschaffen.“ Entsprechend bestand seine erste Aufgabe nicht in der Kontrolle privater Anwerbungen auf ihre Rechtmäßigkeit hin sondern, auf „Befehl“ Puttkamers, darin, für Regierungsbauten mehrere hundert Arbeiter in Liberia anzuwerben. Offensichtlich handelte es sich bei der Anwerbung offiziell, d.h. gegenüber der deutschen Oberrechnungskammer, um den Ankauf von Ochsen, wie Quernheimb unumwunden zugibt, ebd., S. 194f. Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 196. Auch G. Friderici bestätigt die Vermittlungsbemühungen des Häuptlings Garega, beklagt aber, dass die durch ihn angeworbenen Arbeiter, nachdem sie ihren Gummi in den Faktoreien Viktorias verkauft hätten, nur zwei bis vier Monate auf den Plantagen blieben. Danach „kehren [sie] mit Schätzen reich beladen heim zu Muttern.“ Zwar stelle das Gouvernement Arbeiter aus Jaunde für ein Jahr zur Verfügung, aber, „es verlangt nur, dass sie milde behandelt, gut verpflegt, reichlich bezahlt werden und warnt davor, sie ernstlich arbeiten zu lassen.“ Friderici hielt die Mahnung zur Milde für verfehlt und plädierte stattdessen für „gerechte Strenge“. Er ärgerte sich auch darüber, dass die Arbeiter nach Ende ihres Kontraktes Gerüchte über schlechte Behandlung und wenig Lohn verbreiten würden. Das wäre der Grund, warum man so schwer neue Arbeiter anwerben könne, vgl. Friderici, 1898 (wie Anm. 164). von Carnap-Quernheimb, 1900 (wie Anm. 170), S. 196. Bereits kurz nach Einrichtung des Arbeiterkommissariats hatte Puttkamer dem Kommandeur der Schutztruppe, Oltwig von Kamptz, mitgeteilt, dass „alle bisher gemachten Versuche, Arbeiter für die großen Plantagen aus dem Inlande auf dem gewöhnlichen Wege des Anwerbens“ zu bekommen, kein ausreichendes Ergebnis erbracht hätten. Er müsse in Zukunft nach militärischen Aktionen die Bereitstellung von Strafarbeitern zur Friedensbedingung machen und

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dalös und extrem gesundheitsschädlich heraus. Selbst der stellvertretende Gouverneur Köhler musste am 1.6.1900 nach Berlin melden, dass die Arbeiter auf den Plantagen ein „jämmerliche[s] Los“ zu ertragen hätten. Sie würden schlecht bezahlt, lebten in schlechten Unterkünften, müssten „barbarische, rohe Behandlung“ erdulden und bekämen zudem noch für sie ungeeignetes Essen vorgesetzt.174 Auch Puttkamer räumte Todesraten von bis zu zwanzig Prozent in Einzelfällen ein. Seiner Meinung nach war auch „die Klage über die rohe Behandlung der Eingeborenen auf den Plantagen […] theilweise berechtigt,“ von einer allgemeinen „grauenhaften Verrohung“ wollte er aber nichts wissen, vielmehr hätten strenge Strafen die Klagen über schlechte Behandlung der Arbeiter inzwischen verstummen lassen.175 Davon konnte jedoch keine Rede sein. Die Beschwerden der Mission176 und der deutschen Handelshäuser über die Art der Anwerbungen und die teilweise schon eingetretene Entvölkerung einiger Landstriche nahmen weiter zu.177 In Deutschland machte sich ab 1900 der Geometer Johannes Scholze, von Mai 1898 bis November 1899 selbst in Kamerun tätig, zum Sprachrohr der Beschwerden. Es gelang ihm, eine Artikelserie über die „Mißstände in Kamerun“ in der konservativen Stuttgarter Deutschen Reichspost zu veröffentlichen178 und den Redakteur dieser Zeitung, den konservativen Reichstagsabgeordneten Friedrich Schrempf, zu einer entsprechenden Stellungnahme im Reichstag zu bewegen.179 Schrempf verlangte in seiner Rede

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Haussklaven der unterworfenen Stämme gänzlich umsiedeln in die Plantagen, wo sie in Zukunft zu arbeiten hätten, vgl. Puttkamer an v. Kamptz vom 30.3.1899, BAB, R 1001-3226, Bl. 77 ff. Köhler an Kol. Abt. vom 1.6.1900, BAB, R 1001-3227, Bl. 51–57,52. Puttkamer an Kol. Abt. vom 28.2.1901, ABM, E -2,14, S. 3. Zur Rolle der Basler Mission in der Auseinandersetzung um die Umsiedlungen und Landenteignungen am Kamerunberg ab 1898 vgl. Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 141–153. Der Präses der Basler Mission in Kamerun, G. Bizer, hielt die Umsiedlungspolitik und die Anwerbemethoden für so bedrohlich, dass er die „dringende Bitte [aussprach], das werte Komitee möge die nötigen Schritte beim Auswärtigen Amt thun, ehe es zu spät ist“, Bizer an Inspektor [Oehler] vom 31.5.1900 (Abschrift), VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 9, vgl. auch Bizer an Oehler vom 24.8.1900 (Auszug), ebd. Hier weist Bizer auch auf Berichte des Missionars [Gottlieb] Spellenberg hin, vgl. auch J. Morin (DWHG) und A. Fornan (Jambas Bay Development Association Ltd.) an Kaiserlichen Gouverneur in Buea vom 11.2.1901 (Abschrift), ebd. Beide Firmen klagen über Täuschungen bei den Anwerbemethoden, den teilweisen Einsatz von Soldaten dabei und Entvölkerung von einzelnen Gebieten; ähnliche Klagen finden sich in den Schreiben der DWHG an die Regierungsstation Rio del Rey vom 20./21.2.1901, 23.9.1901, 30.9.1901, ebd., ebenso in den eidesstattlichen Erklärungen J. Morins vom 21.9.1901 und 3.11.1901 sowie der DWHG an die Regierungsstation Albrechtshöhe vom 12.6.1901, ebd. Der Generalvertreter der DWHG in Rio del Rey, Emil Baumann, bestätigte am 26.2.1902 den Rückgang der Bevölkerung und den deutlichen Rückgang des Handels als Folge davon, ebd. Schrempf spricht von insgesamt 12 Artikeln hintereinander, vgl. SBR, 10. Leg. per., 2. Sess., 65. Sitzung vom 11.3.1901, S. 1796. Die Artikel unter dem Titel „Mißstände in Kamerun“ erschienen im August 1900, vgl. Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 146. Gründer nennt nur einen Artikel. J. Scholze an Schrempf vom 11.6.1900 (Abschrift), VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 9. Scholze erklärt Schrempf, er hätte sein Material zunächst im März 1900 einem liberalen Abgeordneten gegeben, der es aber nicht verwerten wollte. Nun reiche er es ihm ein mit der Bitte, es in „ihrer Zeitung „Reichspost“ [zu] veröffentlichen“. Anschließend fragt er, ob Schrempf diese Sache im

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von Stuebel eine Untersuchung der Missstände, beklagte die spärliche Landzuteilung am Kamerunberg nach Umsiedlungen im Zusammenhang mit der Ausweitung der Plantagen und kritisierte das Gouvernement wegen seiner massiven Unterstützung der Plantagenbesitzer, obwohl die Voraussetzungen zur Anlage derselben in keiner Weise vorhanden wären. Die erzwungenen Umsiedlungen hätten zudem nicht vertretbare Härten für die einheimische Bevölkerung hervorgerufen und wären nicht zu rechtfertigen. Statt Großplantagen zu fördern, auf denen niemand arbeiten wolle, solle die Verwaltung lieber den Afrikanern reichlich Land zuweisen und den Aufbau indigener Farmen fördern, die die gewünschten Exportprodukte in weit höherem Maße hervorbringen würden. Die Bezahlung von 6,- bis 8,- Mark/ Monat und die Behandlung und die Verpflegung der Plantagenarbeiter seien völlig unzureichend. Weitblickend sagte er voraus: „Die enge Freundschaft mit den Pflanzern und den Plantagengesellschaften wird nach allgemeiner Ansicht derer, welche die Verhältnisse in Kamerun genau kennen, der Kaiserlichen Regierung dereinst noch theuer zu stehen kommen! Denn das Verhältnis der Regierung zu den Eingeborenen wird gerade durch diese Begünstigung der Plantagenbesitzer in einer ganz bedrohlichen Weise gestört und das immer mehr, je häufiger die oben genannten Arbeiteranwerbungen in der seitherigen Weise fortgesetzt werden.“

Für ihn war das „System Puttkamer“ nicht zu halten.180 Vietors kurzfristige Bitte um Material aus Basel war nicht die erste dieser Art. Bereits im Frühjahr 1901 hatte er eine Materialsammlung angelegt und in Basel um weitere Informationen gebeten, ob die Gesellschaften „die Arbeiter schlecht behandeln, ernähren und bezahlen.“181 Das am 16.11.1901 für die Kolonialratssitzung angeforderte neue Material aus Basel kam zu spät, um es noch durcharbeiten zu können.182 Vietor konnte sich in seinem Beitrag daher nur auf die Unterlagen der zu diesem Thema eingesetzten Kommission des Kolonialrats stützen, die kurz zuvor, am 28. und 30.10.1901 zur Frage einer Arbeiterverordnung getagt hatte.183 Dabei war auch die Frage des Züchtigungsrechts diskutiert worden. Zwar hatte sich Schar-

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Reichstag vertreten wolle. Scholze nannte zwar keinen Namen, machte aber klar, dass er sein Material von einem Basler Missionar bekommen hatte, der ihm „über entsetzliche, von Hauptmann v. Besser und seiner Truppe verübte Grausamkeiten an den Eingeborenen“ berichtet hatte, ebd. Scholze hatte in jedem Fall Kontakt zum Basler Missionar [Gottlieb] Spellenberg, der im Juli 1900 aus Kamerun zurückkehren wollte. Er war auch im Besitz einer bestätigenden Aussage des Schullehrers Fischer aus Winnenden über die Grausamkeiten Bessers, allerdings stand Fischer als Zeuge nicht zur Verfügung, J. Scholze an N.N. vom 2.8.1900 (Abschrift), ebd. von Besser musste sich aufgrund von Berichten der Basler Mission wegen diesen und ähnlichen Vorwürfen 1905 vor einem Kriegsgericht verantworten, vgl. SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., Sitzung vom 15.12.1905, S. 345. SBR, 10. Leg. per., 2. Sess., 65. Sitzung vom 11.3.1901, S. 1795f. J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 21.5.1901, ABM, Q 3-4, 49. Vietor wollte dieses Material auf der Jahrestagung der DKG in Lübeck am 7.6.1901 verwenden, zu der er als Delegierter der Bremer Abteilung entsandt war. Er hatte allerdings schon „allerlei sehr belastendes Material“, ebd. J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 28.11.1901, ABM, Q 3-4, 49. Vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 363. Die Arbeiterverordnung wurde auf Grundlage der Empfehlungen des Kolonialrats am 14.2.1902 erlassen, vgl. BAB, R 1001-3229, Bl. 13 ff.

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lach mit seinem Vorschlag, einen indirekten Arbeitszwang über Steuererhebungen einzuführen nicht durchsetzen können,184 dafür hatte er jedoch erreichen können, dass „Unternehmer“ und „Pflanzungsleiter“ das Recht auf Vollzug der Prügelstrafe bis zu zehn Stockhieben zugesprochen bekommen sollten.185 Dagegen wandte sich Vietor nun vehement, fühlte sich aber von niemandem unterstützt. Während der Rede „floß mir der Angstschweiß von der Stirne, es wurde totenstill“186 und er war froh, dass er seinen ersten Redebeitrag im Kolonialrat aufgeschrieben hatte, „da ich sonst wohl steckengeblieben wäre.“187 Die fehlende Unterstützung aus dem Plenum hatte ihre Ursache jedoch offensichtlich nicht in seinem Standpunkt zur Züchtigungsfrage, sondern vielmehr in seiner Auffassung zur Plantagenfrage. Vietor hatte dem Kommissionsbericht entnommen, dass die meisten Plantagen in Kamerun unrentabel arbeiteten. Er plädierte daher dafür, die Frage der Rentabilität ganz den Unternehmen zu überlassen und nicht durch faktische Subventionierung durch die Regierung an sich ungeeignete Wirtschaftsformen über Wasser zu halten. Dazu zählte er vor allem die Unterstützung der Regierung bei der Anwerbung billiger Arbeitskräfte.188 Seine Forderung, die Plantagen sich selbst zu überlassen, fand in der Tat keinen Rückhalt im Rat,189 seine Ablehnung der Übertragung des Züchti184 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 365. Auf der Kolonialratssitzung am 21.11.1901 konnte sich Scharlach daher nicht vorbehaltlos hinter die Empfehlungen des Ausschusses stellen und plädierte nun anstatt für einen indirekten Arbeitszwang über Steuern für einen direkten Arbeitszwang, der anstatt einer finanziellen Steuererhebung eingeführt werden solle. Diese Form von Steuerarbeit sollte nicht nur in Form öffentlicher Arbeiten, sondern auch in Form von Plantagenarbeit abgeleistet werden, vgl. BAB, R 1001-6992, Bl. 46, S. 3. 185 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 365. Punkt 2 der insgesamt 4 Punkte umfassenden Vorschläge zum Züchtigungsrecht besagte, dass bei Widerspruch des zu bestrafenden Arbeiters dieser die Entscheidung des Arbeiterkommissars verlangen könne. So lange mußte der Vollzug ausgesetzt werden, BAB, R 1001-6992, Bl. 46, S. 7. 186 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 21. 187 J. K. Vietor an Missionsinspektor [Oehler] vom 28.11.1901, ABM, Q 3-4,49, S. 2. 188 J. K. Vietor an Missionsinspektor [Oehler] vom 28.11.1901, ABM, Q 3-4,49, S. 2–6, vgl. BAB, R 1001-6992, Bl. 46, S. 5. Sein Unverständnis über die regierungsseitige Subvention der Plantagen hatte Vietor bereits nach seiner Afrikareise 1899 öffentlich vertreten. „Ich weiß aber überhaupt nicht recht, welchen Grund die Regierung hat, den Kamerunplantagen Arbeiter zu besorgen“, diese hätten doch gerade erst billig Land bekommen, unter der Bedingung, dass sie es bebauen. Der Rest sei nun Sache der Gesellschaften. 1884 hätte in Togo kein Afrikaner in den Faktoreien gearbeitet und es hätte Jahre gedauert, bis sich die Handelshäuser einen einheimischen Mitarbeiterstamm aufgebaut hätten. Das könne man jetzt auch von den Plantagenbesitzern erwarten. Das Problem bestände darin, dass sie offensichtlich nicht bereit seien, einen in Togo üblichen Monatslohn von 15,- bis 16,- Mark zu bezahlen, zusätzlich zu den Verpflegungskosten, Vietor 1900 (wie Anm. 137). Die fehlende Rentabilität der großen europäischen Plantagen blieb auch in der Folge ein wichtiger Bestandteil in Vietors Argumentation für eine alternative Kolonialpolitik. Die fehlgeleitete Konzentration auf diese Wirtschaftsform sei eine Folge davon, dass man nicht rechtzeitig auf die Mission gehört habe, andererseits aber auch der Zurückhaltung der hanseatischen Kaufleute geschuldet, sich stärker in den Kolonien zu engagieren. Sie seien „wohl die einzigen Leute in Deutschland, die die richtige Ausnutzung der unkultivierten Länder verstehen“, Vietor, J. K.: Der Einfluß der Mission auf die Deutsche Kolonial-Politik (Flugschriften der Hanseatisch-Oldenburgischen Missionskonferenz), Bremen 1904, S. 9. 189 Staatssekretär a. D. Herzog erwiderte Vietor, die Kommission habe die Notwendigkeit der Un-

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gungsrechts auf Pflanzungsleiter wurde dagegen von Vohsen, Staudinger, Herzog, Hespers, Oppenheim und auch Stuebel mitgetragen. Der Vorsitzende der DKG, Johann Albrecht zu Mecklenburg setzte sich jedoch mit seinem Kompromissvorschlag durch, dass der Gouverneur das Züchtigungsrecht in Einzelfällen auf Pflanzungsleiter übertragen könne.190 Vietor wertete die Abkehr von der ursprünglichen Kommissionsvorlage zwar als Erfolg, zeigte sich aber überrascht, dass Stuebel ihm, auf sein Unbehagen hin, er fühle sich im Kolonialrat isoliert, zusicherte, er könne Vietors Rede „ruhig unterschreiben.“ Vietor bekam dadurch den Eindruck, dass die Regierung froh wäre, wenn jemand die Missstände in Kamerun aufdecken würde, da sie selbst nicht „schneidig genug ist, gegen die großen Gesellschaften anzugehen.“ Er nahm sich daraufhin vor, Stuebel spätestens im Januar 1902 persönlich zu besuchen. Für den Fall, dass er mit seine Annahme richtig lag, und Stuebel eine entsprechend progressive Opposition im Kolonialrat wohlwollend beurteilen würde, wollte er zur nächsten Kolonialratssitzung einen „motivierten Antrag“ stellen, „die Arbeiterverordnung für Kamerun wieder umzustoßen.“ Um damit Erfolg zu haben, wollte er die Motivlage des Antrages möglichst allgemein halten und die Verordnung lediglich unter ökonomischen Gesichtspunkten ablehnen. Außerdem wollte er auf der nächsten Sitzung „eine solche Anklageschrift gegen die Pflanzungsgesellschaften verlesen“, dass die Regierung veranlasst würde, eine Untersuchung einzuleiten. Um dieses Programm auf den Weg bringen zu können, bat Vietor Oehler um weitere Tatsachenberichte der Missionare, die er als Grundlage seines Vorstoßes brauchte, aber „verantwortlich“ verwenden wollte. Oehler sollte seine Missionare anweisen, „alles was sie von Missständen, Gemeinheiten u. Grausamkeit selbst gesehen oder verbürgt gehört haben unter Angabe von Namen u. evtl. Zeugen sofort [zu] berichten.“ Er sicherte zu, die Namen der Missionare und Zeugen nicht im Kolonialrat preiszugeben, wollte sie jedoch Stuebel gegenüber nennen, falls dieser danach im Einzelgespräch fragen würde. Dazu müsse man bereit sein, denn „nur wenn wir schonungslos vorgehen u. ohne alle Rücksicht alles aufdecken, werden wir in der Lage sein, die Verhältnisse schleunigst zu ändern.“ Bis zur nächsten Sitzung wollte er durch Einzelgespräche „eine kleine Partei bilden“, die im Kolonialrat zumindest eine wirkungsvolle Opposition bilden könne, eine „Majorität“ hielt er für ausgeschlossen.191

terstützung der Plantagen von vornherein als Grundlage ihrer Arbeit angesehen, vgl. BAB, R 1001-6992, Bl. 46, S. 5. 190 BAB, R 1001-6992, Bl. 46, S. 8. Nachdem durch diesen Kompromiss nun der Gouverneur das Züchtigungsrecht vergeben konnte, war die Berufungsmöglichkeit auf den Arbeiterkommissar, die in Punkt 2 der Kommissionsvorlage vorgesehen worden war, in einer weiteren Abstimmung gestrichen worden. Stuebel hatte für den Fall der Streichung jedoch darauf hingewiesen, dass er dann die Übertragung des Züchtigungsrechtes auf den Pflanzungsleiter nicht garantieren könne, ebd. 191 J. K. Vietor an Oehler vom 28.11.1901, ABM, Q 3-4, 49, S. 2–5. Vietor sicherte Oehler auch zu, sich seinem Wunsch entsprechend im Kolonialrat dafür einzusetzen, dass die Frage der „Eingeborenenreservate“ angesprochen würde. Stuebel habe ihm bereits zugesagt, auf einem „billigen Ausgleich“ für die Missionen gegenüber den Pflanzungen zu bestehen. Diese Frage war für die Basler Mission eine Existenzfrage, Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 143.

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Am 29.1.1902 besuchte Vietor Stuebel in Berlin. Stuebel ging dabei auf Vietors Bedenken gegenüber den amtlichen Legitimationsscheinen der Anwerber ein. Vietor befürchtete, die Werber würden mit diesem Ausweis Häuptlinge unter Druck setzen können, indem sie behaupteten, sie wären zur Arbeitergestellung verpflichtet. Stuebel schlug daraufhin vor, die Werber müssten ihre Legitimationsscheine jeweils an der letzten zu passierenden Station abgeben, um derartigen Missbrauch zu verhindern.192 Eine entsprechende Berücksichtigung in der Verordnung vom 14.2.1902 fand dieser Vorschlag jedoch nicht. Vietor musste sich mit einer schriftlichen Erklärung Stuebels dazu begnügen und teilte Oehler mit, dass für den Moment nicht mehr zu erreichen gewesen war. Das hatte ihn aber nicht gehindert, auf der Sächsischen Provinzial-Missionskonferenz in Halle die Problematik der Arbeiterfrage in Kamerun anzuschneiden.193 Er hatte dabei das aus Basel erhaltene Material Herrn Finklers „tüchtig ausgeschlachtet“ und eine Veröffentlichung desselben in der Nationalzeitung erreicht. Das Material war inzwischen auch der Kolonialzeitung übergeben worden.194 Die Sächsische Missionskonferenz hatte unter dem Eindruck von Vietors Bericht sowie einem Referat D. Alexander Merenskys über die Anwaltschaft der Mission für die indigenen Bevölkerungen eine Resolution angenommen, in der gegen menschenunwürdige Behandlung von Afrikanern aus rein egoistischen und materialistischen Gründen protestiert wurde. Die Resolution forderte einen effektiven Schutz der einheimischen Bevölkerung in den Schutzgebieten gegen Misshandlungen, ausreichenden Landbesitz für sie und eine grundsätzliche Untersuchung vor etwaigen Strafexpeditionen. Bei jeglicher Strafausübung müsse jede Brutalität vermieden werden und die Einfuhr von Branntwein, wenn nicht ganz verboten, so doch möglichst erschwert werden.195 Vietor sah keinen Grund, warum notfalls nicht auch die Missionen das deutsche Volk über die „Missstände in unseren Kolonien“ aufklären sollten, die selbst gebildeten Kreisen häufig nicht bekannt seien. Er hielt es für ihre Pflicht, etwas gegen die „unbegreifliche Unkenntnis“ in Deutschland über die Zustände in den Kolonien zu tun und forderte Oehler daher erneut auf, ihm weiteres aufklärendes Material zuzusenden. „Für die Agitation wollen wir dann schon sorgen“, womit er insbesondere die Kaufleute 192 Protokoll der Besprechung zwischen Stuebel und J. K. Vietor am 29.1.1902, BAB, R 10013228, Bl. 118. 193 Rügers Vermutung, Stuebels Vorschlag wäre wegen dessen Nichtberücksichtigung in der Verordnung vom 14.2.1902 ein reines „Manöver“ gegenüber Vietor gewesen, damit dieser davon absehen würde, diese Frage auf der bevorstehenden Missionskonferenz in Halle öffentlich zu thematisieren, scheint daher entweder unbegründet oder Stuebels Taktik ging ins Leere, vgl. Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 204. 194 J. K. Vietor an Oehler vom 14.2.1902, ABM, Q 3-4, 49. Die DKZ erwähnte zwar einen Beitrag J. K. Vietors in der Nationalzeitung, bezog sich auf ihn jedoch nur in Bezug auf Vietors Plädoyer zugunsten der Ausweitung von indigenen Kulturen und deren Erfolge in der Goldküste, vgl. Wohltmann, F.: Die Beamten und die Arbeiterfrage in unsern Kolonien, in: DKZ 7 (1902), S. 64–66. 195 Die Resolution ist abgedruckt in: Eine Kundgebung zum Schutze der Eingeborenen, in: AMZ 1902, S. 133f. Die 24. Sächsische Provinzial–Missionskonferenz, an der etwa 800 Personen teilnahmen, fand am 4.2.1902 unter dem Leitwort „Die Mission, der Anwalt der Eingeborenen“ in Halle statt. Neben dem Hauptreferat von Merensky brachten die Afrikakenner Inspektor Schreiber, Missionspräses Bohner aus Kamerun und Vietor Co-Referate zum Thema.

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meinte, an deren Vereinigung zu einem Interessenverband gerade gearbeitet wurde. „Ich hoffe, dass wir unabhängigen Kaufleute auch noch einen Verein bilden werden, in dem wir gegen diese Missstände protestieren, die Verhandlungen sind bereits im Gange.“ Auch die Bremer Handelskammer wäre bereits gewonnen, die Misswirtschaft der Konzessionsgesellschaften zu bekämpfen.196 Damit war das Stichwort gegeben, das einen weiteren Schwerpunkt von Vietors kolonialpolitischem Engagement markierte neben dem Kampf gegen den afrikanischen Spirituosenhandel und die Arbeiterfrage. In den folgenden Jahren wurde Vietor, geprägt von Gedanken der Bodenreformbewegung um Adolf Damaschke, zu einem der vehementesten Gegner der Konzessions- und Monopolpolitik in den Kolonien. Zunächst aber widmete sich Vietor noch vorzugsweise der Arbeiterfrage in Kamerun. Zwischen März und Juni 1902 erschienen allein in der DKZ vier Beiträge von ihm zu dieser Frage, wobei sich Vietor mit Thesen Professor Wohltmanns, Dr. Schulte im Hofe, Carl Peters und Johannes Thormählens auseinandersetzte.197 Dabei verwahrte sich Vietor gegen die Forderung Wohltmanns, der Weiße müsse in den Kolonien eine gewisse „Härte“ gegenüber der einheimischen Bevölkerung zeigen. Auch konnte er dessen einseitig negative Sicht über den „faulen Afrikaner“ nicht nachvollziehen und wehrte sich insbesondere gegen die Forderung nach mehr Arbeitergestellungen für die Plantagen, da diese die Zukunft der Kolonien darstellten. „Da haben wir den Pudel nun endlich an den Ohren. Ist denn die gerühmte Rentabilität der Pflanzungsbetriebe nur von der billigen, erzwungenen (Herv. i.Orig.) Arbeit der Neger abhängig? Ist die Rentabilität der Pflanzungsbetriebe denn wirklich die einzige Möglichkeit der Entwicklung unsrer Koloinien? Nein, Gott sei Dank nicht!“

Wie bereits im Kolonialrat machte Vietor auch hier aus seiner grundsätzlich marktliberalen Position kein Hehl. Für ihn waren einseitige Unterstützungen des Staates für eine Wirtschaftsform wie die Plantagen in keiner Weise tolerierbar. Jeder Unternehmer müsse selbst die Verantwortung für seine Investitionen tragen und wenn er sich verkalkuliere, könne er nicht nach dem Staat rufen. Es sei überhaupt ein Skandal, dass die Arbeiter in Kamerun nur etwa acht Mark im Monat erhielten, ein Niveau, das Vietor für das „billigste in der ganzen Welt“ hielt. Der andere Grund, warum er Großplantagen für fehl am Platz hielt, war sein Konzept der indigenen Bauernkulturen, das auf die Entwicklung der einheimischen Bevölkerung zu selbständigen Teilnehmern des ökonomischen Kreislaufs setzte. Die Kolonialverwaltung musste aus seiner Sicht viel mehr für die Förderung dieses Modells tun, etwa durch Ausweitung der staatlichen Versuchsgärten, die bislang nur den Großplantagen zu Gute kamen. 196 J. K. Vietor an Oehler vom 14.2.1902, ABM, Q 3-4, 49, S. 2. 197 Vgl. DKZ 1902, Nr. 10, 15, 18, 25. Thormählen macht Vietor für die öffentliche Diskussion der Arbeiterfrage in der DKZ verantwortlich: „In den letzten Nummern der Kolonialzeitung hat sich eine Polemik über die afrikanische Arbeiterfrage entwickelt, die von Herr J. K. Vietor, Bremen hervorgerufen ist“, Thormählen, Johannes: Die Arbeiterfrage in Kamerun, in: DKZ 21 (1902), S. 201–202, 201. Richtig ist jedoch, dass nicht Vietor diese Diskussion losgetreten hatte, sondern Wohltmann mit seinem Beitrag am 13.2.1902. Darin hatte er Zwangsarbeit als legitime Gegenleistung der Afrikaner und den Lohn in Kamerun als viel zu hoch bezeichnet, vgl. Wohltmann, 1902 (wie Anm. 194).

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„Erzwungene Arbeit ist immer minderwertig; sie zu fordern ist eines zivilisierten Volkes und des Deutschen Reiches unwürdig. Aber es ist eine schöne Aufgabe für einen tüchtigen Mann, einen freien Neger zur Arbeit anzuleiten und ihm zu helfen, daß er ein wertvolleres Glied unserer Kolonien werden kann als bisher.“198

Vietor war nicht grundsätzlich gegen europäische Plantagen.199 Die Kpeme Pflanzung in Togo etwa hielt er für einen „Segen“ und für ein so gut geführtes Unternehmen, dass sich jederzeit genug freiwillige Arbeiter finden ließen, zumal gut bezahlt würde. Vorbildlich waren für ihn auch die Plantagen in Assam/Indien, wo auf Kosten der Besitzer Regierungskommissare die Einhaltung von anständigen Arbeitsbedingungen kontrollierten. „Plantagen sind ein Segen und Vorteil fürs Land, wenn sie sich bei Heranziehung freiwilliger Arbeiter für die Besitzer bezahlt machen, und in diesem Fall freudig zu begrüßen. Kann man aber eine Plantage nur durch erzwungene Arbeit rentabel machen, dann ist und bleibt sie ein großes Unglück für das Land.“

Wichtig war ihm die Betonung, dass seine Kritik an den Zuständen in Kamerun in keiner Weise von Eigeninteresse geleitet war, was sich für ihn allein schon daran ablesen ließ, dass er am dortigen Handel überhaupt nicht beteiligt war. Aber selbst in diesem Falle hätte er seine Kritik ohne Abstriche für berechtigt gehalten. „Sollen wir Kaufleute zu allen Missständen schweigen, weil es zufällig auch unser Privatinteresse ist, dass die Eingebornen gehoben, entwickelt und geschont werden? Dieses Interesse fällt doch mit der wirtschaftlichen Hebung der Kolonien als solches zusammen, und deshalb allein schon müssen wir alle Hebel in Bewegung setzen, eine Schädigung der Eingebornen zu verhindern, ganz abgesehen von den christlichen und humanen Anschauungen.“200

Thormählen widersprach Vietor heftig und hielt den niedrigen Lohn angesichts der Faulheit und mangelhaften Arbeitsleistung der „Kamerunneger“ für durchaus berechtigt. Misshandlungen räumte er in Einzelfällen ein, behauptete aber, dass gerade sie in der Hauptsache von Kaufleuten verübt worden seien, in deren Interesse Vietor ja offensichtlich schreibe. Im Allgemeinen beruhten die Behauptungen über Misshandlungen seitens der Missionen und der SPD auf Falschmeldungen. Arbeitszwang hielt er keinesfalls für ein verwerfliches Instrument und plädierte in Anleh198 Vietor, J. K.: Zur Arbeiterfrage in unseren Kolonien, in: DKZ 10 (1902), S. 90f. Carl Peters antwortete er auf dessen Polemik gegen die Infragestellung von Härte gegenüber Afrikanern, die Geschichte der Kolonialvölker zeige, dass sich gute Behandlung der einheimischen Bevölkerung immer ausgezahlt habe, vgl. Vietor, J. K.: Zur afrikanischen Arbeiterfrage, in: DKZ 15 (1902), S. 142. 199 So auch in Vietor, J. K.: Freie Arbeit oder Plantagenwirtschaft? Eine Zukunftsfrage für die deutschen Kolonien, in: Deutsche Volksstimme 22 (1905), S. 664–671, 665f. 200 Vietor, J. K.: Plantagen und Eingeborenenkulturen, in: DKZ 18 (1902), S. 170f. In einer Besprechung der Auseinandersetzungen zwischen Vietor und Thormählen in der DKZ sowie auf dem Kolonialkongress 1902 zitiert Erich Pranger Friedrich Oloffs Ansicht über die Arbeiterfrage in den Kolonien. Für Oloff war danach klar, dass viele Beobachter dieser öffentlichen Auseinandersetzung des Jahres 1902 bei Vietor „lediglich Freundschaft für die Missionen und religiöse Humanitätsschwärmerei vermutet“ hatten. Diese Interpretation traf nach Oloff aber nicht zu, da in Togo die meisten „denkenden“ Kaufleute wie Vietor dachten. Das Missionsinteresse und das Kaufmannsinteresse seien in diesem Punkt deckungsgleich, vgl. Pranger, Erich: Die Arbeiterfrage in den Kolonien, in: DKZ 16 (1903), S. 150–151, 150.

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nung an Wissmanns Standpunkt für einen indirekten Arbeitszwang über Steuern und eine Dienstpflicht,201 wofür bereits Scharlach in der Kolonialratskommission im Oktober 1901 eingetreten war. Die Auseinandersetzungen in der DKZ bildeten die immer deutlicher werdenden Konturen einer Lagerbildung in der deutschen Kolonialpolitik ab. Nachdem bis zur Jahrhundertwende von einer wirksamen und organisierten Opposition gegenüber den vorherrschenden Interessenvertretern einer monopolistischen und die Kolonien einseitig ausbeutenden Lobby keine Rede sein konnte, rückten mit dem Ausbau der Plantagen am Kamerunberg ab 1898 die Vertreter der Basler Mission und der kaufmännischen Interessen immer mehr zusammen,202 wobei für letztere Gruppe auch die Konzessionsvergaben 1898 und 1899 eine entscheidende Rolle spielten. Vietor kam dabei als Mann beider Gruppen eine wichtige Scharnierfunktion zu. Seine Standpunkte waren entsprechend immer von beiden Motiven getragen, sowohl humanitär christlichen als auch kaufmännischen. Gemäß seiner Herkunft und Tradition fiel beides jedoch ohnehin zusammen, da der christliche Kaufmann für ihn immer der natürliche Partner der Mission sein musste, wobei er freilich nicht so weit ging wie noch sein Onkel Friedrich Martin, der seine geschäftliche Existenz beinahe ausschließlich mit der unterstützenden Funktion für die Mission rechtfertigte.203 Nachdem Vietor bereits seit langem in intensiver Beziehung zur Basler Mission stand, scharten sich seit seiner Berufung in den Kolonialrat rasch auch kaufmännische Gruppen um ihn, um ihre Interessen auf diese Weise in den Kolonialrat zu tragen. Am 8.1.1902 reichten ihm sieben hanseatische Kaufmannsfirmen Vorschläge für die Errichtung von Versuchsgärten in Südkamerun sowie die Verteilung von Pflänzlingen an Einheimische ein. Indigene Farmen sollten danach vom Versuchsgärtner beaufsichtigt und mit Rat und Tat gefördert werden.204 201 Thormählen, 1902 (wie Anm. 197). 202 Gründer spricht von einer „Frontbildung zwischen der Basler Mission und einigen HandelsfirHandelsfirmen auf der einen, den Konzessionären und Plantagenbesitzern sowie Vertretern des Gouvernements auf der anderen Seite“, Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 147. In Bezug auf den Kolonialrat sieht Diehn erst für die Zeit nach Erteilung der ersten großen Konzession in Kamerun, 1898, eine beginnende Lagerbildung, die sich nach Vietors Eintritt, Ende 1901, zu einer scharfen Grundlagendiskussion um die Ausrichtung der Kolonialpolitik, insbesondere der Frage der Behandlung der einheimischen Bevölkerung, steigerte, Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 62. Diehn bezeichnet die gesamte Amtszeit Stuebels als „Wendezeit“, ebd., S. 71. 203 Ustorf, Werner: Die Missionsmethode Franz Michael Zahns und der Aufbau kirchlicher Strukturen in Westafrika (1862–1900) Eine missionsgeschichtliche Untersuchung (Erlanger Monographien aus Mission und Ökumene; 7), Erlangen 1989, S. 35. Daraus allerdings, wie Ustorf, den Schluss ziehen zu wollen, J. K. Vietor hätte nicht mehr in der pietistischen Tradition seiner Väter gestanden, sondern die Mission „eher aus dem pragmatischen Blickwinkel des aufgeklärten Kolonialpolitikers“ betrachtet, verkürzt den Blick auf die Interessenüberschneidung von Handel und Mission, ebd., S. 38f. 204 H. Hasenkamp (Hamburg) an J. K. Vietor vom 8.1.1902, BAB, R 1001-6992, Bl. 52. Die Anfrage an Vietor war von den Hamburger Firmen Bauck & Dürkoop, Deutsch-Westafrikanische Handelsgesellschaft (DWHG), G. L. Gaiser, A. Küderling, A. & L. Lubke, A. Pagenstecher und der Bremer Westafrika-Gesellschaft unterzeichnet. Die Kaufleute drückten dabei ihre Ansicht aus, dass die afrikanischen Arbeiter aus dem Südkameruner Hinterland „durchweg arbeitsam“ seien.

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Das entsprach exakt den Vorstellungen Vietors, der sowohl aus sozial–gesellschaftlichen als auch wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Teilnahme von Afrikanern am Wirtschaftskreislauf in Form eines selbständigen Bauernstandes befürwortete.205 Waren für die Kaufleute in erster Linie selbständige und produktive Handelspartner von vitalem Interesse, bewegten Vietor darüber hinaus auch allgemeine kolonialpolitische und christliche Motive.206 Als streng konservativer Monarchist ging es ihm darum, die kolonisierten Völker zu guten und patriotischen Untertanen zu erziehen, die in einem versöhnten und positiven Verhältnis zur deutschen Kolonialmacht standen.207 Die Vermeidung von häufig durch rohe Gewalt geprägter Abhängigkeitsverhältnisse, etwa in Form unselbständiger Plantagenarbeit, war in dieser Hinsicht wesentlich. Zum anderen konnte es für ihn kein besseres Mittel zum Aufbau eines europäisch geprägten Arbeitsethos geben, als die Schaffung eines unmittelbaren Anreizes dazu durch die Erfahrung eines spürbaren Zusammenhanges von eigenem Fleiß in Form selbstverantwortlicher Arbeit und der Zunahme des eigenen Wohlstandes.208 Der Besitz eigener Farmen war für ihn zudem das Leitbild einer 205 Bereits 1900 hatte er das Fehlen von Versuchsgärten kritisiert und auf frühere Bemühungen der togoischen Verwaltung hingewiesen, die Anfang der 1890er Jahre sowohl die Saatgutausgabe subventioniert, als auch zeitweise einen Wanderlehrer für die afrikanischen Bauern zur Verfügung gestellt hatte, wenngleich das in seinen Augen viel zu wenig gewesen war. Seiner Meinung nach hatte die Verwaltung bislang so gut wie nichts für die wirtschaftliche Förderung der Afrikaner getan, Vietor, 1900 (wie Anm. 137). Im März 1902 wiederholte Vietor die Forderung nach Versuchsgärten, Vietor, 1902 (wie Anm. 198), S. 91. Auf der Kolonialratssitzung am 28.6.1902 forderte Vietor erneut Versuchsgärten und kritisierte das grundsätzliche Fehlen einer ökomischen Förderung der einheimischen Bevölkerung in den Schutzgebieten. Millionen von ihnen ständen müßig am Markt und könnten viel mehr leisten, KR vom 28.6.1902, BAB, R 1001-6992, Bl. 71, S. 5. In Kamerun waren nach seinen Informationen die „Eingeborenenkultur[en]“ zugunsten des Plantagenbaus sogar eindeutig geschädigt worden. Bislang hätte die deutsche Kolonialpolitik das meiste Geld in den Kolonien für die Verwaltung und das Militär ausgegeben statt die Afrikaner in ihrer wirtschaftlichen Aktivität zu fördern. „Für Kulturzwecke ist entsetzlich wenig übrig geblieben“, Vietor, 1905 (wie Anm. 199), S. 666. 206 Auf die produktive Überlegenheit indigener Kulturen gegenüber dem europäischen Plantagenbau wies Vietor bereits 1902 im Hinblick auf die ständig steigenden Ausfuhrzahlen von Kaffee und Baumwolle aus Kleinfarmen Westafrikas hin, mit denen die Zahlen der Plantagen nicht annähernd mithalten konnten, Vietor, J. K.: Die Arbeiterfrage in Kamerun, in: DKZ 25 (1902), S. 242–244. 207 Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 42 (1906), S. 57– 59. Vietor beklagte, dass es Deutschland bisher kaum verständen hätte, wie teilweise Frankreich und England, ihre kolonisierten Völker so zu behandeln, dass sie mit „Lust und Liebe […] begeisterte Deutsche“ wären. Wenn nicht das exzessive Prügeln aufhöre, „werden wir niemals in ein gutes Verhältnis zu unseren Eingeborenen kommen“, vgl. auch Vietor, J. K.: Zur Eingeborenenfrage, in: DKZ 52 (1905), S. 538–539. Er bewegte sich damit auf der Argumentationslinie, die bereits der Ausschuss der deutschen evangelischen Missionsgesellschaften im Zusammenhang mit Beschwerden der Basler Mission wegen der Landfrage am Kamerunberg 1898 vertreten hatte. Damals hatte der Ausschuss das Ziel der Missionsarbeit unter anderem darin gesehen, die afrikanische Bevölkerung zu „aufrichtigen Freunden der fremden Kolonialherrschaft“ zu machen, Eingabe des Ausschusses der deutschen evangelischen Missionsgesellschaften an Kol. Abt. vom 17.12.1898, BAB, R 1001-6992, Bl. 5, Anlage 3, S. 18 (Anlage 8). 208 Die Verdoppelung der Ausfuhren aus Lagos und Dahomey zwischen 1898 und 1902 zeigten für Vietor sehr klar, dass jeder normale Afrikaner an der Steigerung seines Lebensstandards inter-

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von der Bodenreform geprägten gerechten gesellschaftlichen Verteilung von Grund und Boden, die nicht zuletzt auch eine hohe Versorgungssicherheit mit sich brachte.209 Ein Zusammenhang von Proletarisierung und Entkirchlichung lag für ihn aufgrund des Beispiels in Deutschland ohnehin auf der Hand.210 Anfang 1902 war Vietors Entwurf eines derart geschlossenen kolonialen Leitbildes noch nicht voll ausgereift. Immerhin wollte er in der Kolonialratssitzung im Juni 1902 nicht nur den Antrag der sieben Kaufleute einbringen, sondern auch seine „Theorie für Heranziehung eines eingeborenen Bauernstandes“211 vortragen. Dabei spielte die Ausgabe von Saatgut und die landwirtschaftliche Schulung der Afrikaner, wie von den sieben Firmen befürwortet, eine bedeutende Rolle. Ihre Petition reichte er vor der Kolonialratssitzung bei der Kolonialabteilung ein und formulierte daraus einen förmlichen Antrag auf Einrichung von je drei Versuchsgärten in Kamerun und Togo, die in erster Linie der Förderung von indigenen Bauernkulturen zu Gute kommen sollten.212 In seiner Begründung vertrat Vietor den Standpunkt,

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essiert war. Die Ausfuhren aus beiden Kolonien stammten überwiegend aus Volkskulturen, also bäuerlichen Farmen, vgl. Vietor, 1905 (wie Anm. 207). Auch die Zahlen der Goldküste waren für ihn ein klares Zeugnis dafür „mit welcher Energie sie [gemeint sind die Afrikaner, Anm. B.O.] sich auf einen neuen Erwerbszweig werfen, wenn er ihnen befriedigenden Lohn verspricht“, Vietor, 1905 (wie Anm. 199), S. 667. Der Wert des Kakaoexportes aus Volkskulturen steigerte sich hier in zehn Jahren von 9.420,- Mark (1895) auf 4.000.500,- Mark (1904), vgl. auch Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 102. Der Gedanke der Versorgungssicherheit ließ Vietor während des Ersten Weltkrieges zu einem Verfechter der Heimstättenverordnung werden, die den zurückkehrenden Soldaten ein Stück Land garantieren sollte, auf dem sie ihre Grundnahrungsmittel selber anbauen konnten, vgl. Vietor, J. K.: Ein neues Heimstättenrecht, in: Die Arbeit 29 (1915), S. 3–4; Vietor, J. K.: Was uns not tut. Gedanken zur Neuorientierung, Teil 2, in: Kreuz und Kraft 6 (1917), S. 45–46, 46. Er selbst erwarb 1919 ein landwirtschaftliches Anwesen in Hude bei Oldenburg, auf dem er bis zu seinem Tod lebte. Wenngleich ohne Bezug auf die Dimension des Glaubens, bezeichnete er auf dem Kolonialkongreß 1902 die Vermehrung des Standes der Proletarier als nicht wünschenswert, weder in Deutschland noch in den Kolonien, vgl. Vietor, J. K.: Die Arbeiterfrage in den deutschen Kolonien, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses zu Berlin am 10. und 11. Oktober 1902, Berlin 1903, S. 518–526, 526. Auch hier folgte er der Linie des Ausschusses der evangelischen Missionen von 1898: „Eine Proletarisierung der Eingeborenen […] kann nicht im Interesse einer Kolonialregierung liegen“, Eingabe der ev. Missionsgesellschaften, BAB, R 10016992, Bl. 5, zu Anlage 3, S. 18 (Anlage 8). Der Bauernstand galt ihm als stärkster Garant für konservative und christliche Lebensanschauung. „Wir wissen alle, daß die deutschen Bauern, die auf ihrem eigenen Grund und Boden sitzen, daß unser Mittelstand und unsere Arbeiter, die ihren eigenen kleinen Besitz haben, die konservativsten Männer unseres Volkes und seine größte Kraft sind, die Sitte, Ueberlieferung und ihr Christentum viel fester halten als die Proletarier“, Vietor, J. K.: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Afrikaners, in: Norddeutsche Missionsgesellschaft (Hrsg.): Der Afrikaner, seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, geistige Befähigung, religiöse Veranlagung (Bremer Missions-Schriften; 36), Bremen 1912, S. 1–10, 9. J. K. Vietor an Oehler vom 14.2.1902, ABM, Q 3-4, 49, S. 1f. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 24.5.1902, BAB, R 1001-6992, Bl. 52. Der Resolutionsantrag lautete: „Der Hohe Kolonialrath wolle beschließen, unsere Regierung zu ersuchen, in den Etat für 1903 die Forderung für die Anlage von je drei Versuchsstationen in unseren tropischen Kolonien einzustellen, mit der ausgesprochenen Absicht, daß diese Anlagen vor allen Dingen der Hebung der Eingeborenenkulturen zu Gute kommen sollen.“ Zu diesem Zweck sollte eine

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dass Afrikaner sehr wohl zu großen Leistungen und selbständiger Arbeit fähig und willens seien, was die steigenden Exportzahlen aus anderen westafrikanischen Kolonien zeigten. Auch die Entwicklung der Togoer, die inzwischen überall als besonders arbeitsam gälten, zeige das. Wurden anfangs in Togo nur Crooarbeiter eingesetzt, würden inzwischen die Einheimischen überall hervorragende Leistungen erbringen, „ein Beweis wie schnell der Neger, verständig behandelt und ordentlich bezahlt, sich an nutzbringende Arbeiten gewöhnt.“213 Dem Antrag auf „Vermehrung“ der Versuchsgärten wurde am 28.6.1902 schließlich zugestimmt, nachdem Stuebel klargemacht hatte, dass die Kolonialabteilung Vietors Vorschläge „auf das Sympatischste“ begrüße und „im Rahmen der verfügbaren Mittel“ bereit wäre, dem Rechnung zu tragen. Eine Mitteleinstellung in die Etats von Togo und Kamerun fand aber nur im ersteren Fall statt, und das offensichtlich auch nur, weil das Gouvernement von Togo bereits von sich aus 15.000,- Mark zu diesem Zweck beantragt hatte. Das Gouvernement von Kamerun hatte keinen solchen Antrag gestellt und auch die Initiative Vietors führte zu keiner entsprechenden Anordnung und Einstellung seitens der Kolonialabteilung. Von einem erfolgreichen Vorstoß Vietors kann daher nicht gesprochen werden.214 Von größerer Bedeutung war jedoch, dass Vietor am 27.6.1902 in die Kolonialratskommission gewählt wurde, die sich mit den Rechten der afrikanischen Bevölkerung in den Konzessionsgebieten sowie der Landfrage überhaupt intensiver beschäftigen sollte.215 In den folgenden Jahren widmete sich Vietor eingehend dieser Frage, nicht nur in Bezug auf Kamerun, sondern auch auf Togo. Die Ausschussarbeit, die Landfrage generell und die Thematik der Konzessionsgesellschaften kennzeichnen ohne Frage Vietors produktivste Phase im Kolonialrat und den Höhepunkt Fachkraft der Kolonialschule in Witzenhausen nach Afrika gesandt werden. Vietor selber unterhielt zu dieser Zeit noch selbst eine „kleine Farm“, die er, nachdem seine Experimente mit verschiedenen Kulturen in den 1890er Jahren erfolglos eingestellt worden waren, zu Schulungszwecken für afrikanische Bauern betrieb, vgl. Vietor, J. K.: Gutachten über die Landfrage in Togo und Kamerun 1904, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 8, S. 4. Im Zusammenhang mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in Kamerun forderte er später, entlang der Streckenführungen insgesamt 10 bis 12 Versuchsgärten einzurichten, die mit geschulten Kräften aus Witzenhausen den afrikanischen Farmern die Kultivierung verschiedener Marktfrüchte beibringen sollten. Das wäre die geeignete Alternative zur Proletarisierung der einheimischen Bevölkerung auf Großplantagen, Vietor, J. K.: Vergangenheit und Zukunft der deutschen Kolonialpolitik (Schluß), in: Die Arbeit 42 (1907). 213 J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 24.5.1902, BAB, R 1001-6992, Bl. 53. Nebenbei drängte Vietor in seiner Begründung auch auf die rasche Aufnahme des Bahnbaus, damit sich der Handel weiter heben könne und Reichszuschüsse an die Kolonien bald überflüssig würden. 214 BAB, R 1001-6992, Bl. 70, S. 7,10; Bl. 71, S. 5–7. War schon eine Mitteleinstellung für Kamerun trotz des Votums des Kolonialrats nicht erfolgt, wurde auch die Zahl „drei“ aus Vietors Antrag auf Vorschlag Vohsens und Stuebels zugunsten des unbestimmten Begriffes „Vermehrung“ gestrichen. 215 In die Kommission wurden außerdem gewählt: Jacobi, Simon, Scharlach, Vohsen, Schoeller und Staudinger, vgl. BAB, R 1001-6992, Bl. 70, S. 9. Hintergrund der Einsetzung der Kommission war ein Resolutionsvorschlag Vohsens gewesen, der die Konkretisierung und Wahrung der Rechte der afrikanischen Bevölkerung in den Konzessionsgebieten gefordert hatte, vgl. BAB, R 1001-6992, Bl. 70, S. 14, Anlage 1.

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seines kolonialpolitischen Einflusses. Äußerlich sichtbar wurde sein gewachsener Einfluss auf dem ersten Kolonialkongress vom 10.–11.10.1902, auf dem er mit seinem Vortrag über „Die Arbeiterfrage in den deutschen Kolonien“ einem breiten kolonialpolitisch interessierten Publikum bekannt wurde.216 Sein vielbeachteter Beitrag217 machte nicht zuletzt der Öffentlichkeit die „divergierende[n] Ansichten“ innerhalb des Kolonialrats deutlich,218 was sich auch an der Lagerbildung während der anschließenden Aussprache zeigte. Während sich die Professoren Passarge und Spange, die Missionsinspektoren Oehler und Schreiber sowie Ernst Vohsen und A. Pflug Vietors ablehnendem Standpunkt zur Zwangsarbeit anschlossen und sich wie er für die Förderung von Bauernkulturen aussprachen,219 plädierte Thormählen in seinem Vortrag für einen indirekten Arbeitszwang mittels Besteuerung, vermied hier aber seine in der DKZ erhobene Forderung nach Ableistung der Steuerarbeit im Plantagenbetrieb.220 Seine Position wurde nachdrücklich von Scharlach unterstützt, der in seiner kategorischen Forderung nach einer Arbeitspflicht noch über Thormählen hinausging, freilich verbrämt durch eine kulturmissionarische Attitüde. Für ihn war klar, dass „[…] der Eingeborene von dem Tage der Okkupation durch die Weissen an zur Arbeit verpflichtet [wäre]. Ich scheue mich nicht auszusprechen, dass die Einführung des Arbeitszwanges gegen die Eingeborenen eine sittliche Verpflichtung gegenüber denselben ist.“221

Auch Major Morgen stimmte Thormählen zu, während Generalmajor von Poser und Gross-Naedlitz für eine differenzierte Beurteilung der afrikanischen Bevölkerung eintrat, die Notwendigkeit der Erteilung von Konzessionen aber unterstrich.222 Dr. Schulte im Hofe plädierte für ein Verbot bäuerlicher einheimischer Kulturen in 216 Vietor, Arbeiterfrage, in: Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210). Vietor selbst stellte seinen Vortrag unter das Thema „Die Arbeiterverhältnisse in unseren Kolonien“, eine nicht unwesentliche Akzentverschiebung, ebd. S. 518. Am Kongress nahmen 1.346 Besucher teil, darunter der Reichskanzler, die Präsidenten des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses sowie alle Staatssekretäre, vgl. Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 76. Besonders starken Zuspruch bei den Besuchern fanden nach A. Pflug die Verhandlungen der Sektion V (Wirtschaftliche Verhältnisse der Kolonien): „Die überaus rege Beteiligung der Kongressmitglieder an den Verhandlungen der Sektion V berechtigt zu dem Schluss, dass man die hier zur Verhandlung stehenden Gegenstände für die wichtigsten unter allen sonstigen Gegenständen hält“, vgl. Verhandlungen, (wie Anm. 210), S. 540f. 217 A. W. Schreiber behauptete später, dass „kein anderer Beitrag eine so lebhafte Besprechung“ hervorgerufen hätte wie seiner, Schreiber, A. W.: J. K. Vietor. Ein Bremer Kaufmann, Kolonialpolitiker, Missionsfreund und Kirchenmann, in: Handel- und Wirtschaftsblatt der Bremer Zeitung vom 20.5.1934. Für diese Einschätzung spricht auch, dass Vietors Vortrag als Sonderdruck erschien. 218 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 278. 219 Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210), S. 535–546. 220 Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210), S. 526–533, vgl. Thormählen, 1902 (wie Anm. 197). Thormählen war wie Vietor Mitglied des Kolonialrats und wirkte in der Direktion der Kameruner Plantagenunternehmen WAPB, Moliwe-Pflanzung und der Kameruner Land- und Plantagengesellschaft mit und gehörte damit zu den wichtigsten Vertretern der Großplantagenlobby. Er starb 1906, Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 222. 221 Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210), S. 534. 222 Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210), S. 538f., 542.

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der Nähe europäischer Plantagen. Darüber hinaus regte er aus Gründen der Qualität ein Anbauverbot von Produkten für Afrikaner an, die einer Nachbearbeitung bedurften, wie etwa Kakao.223 Insgesamt neigte sich die Zustimmung unter der Zuhörerschaft eher Thormählen zu als Vietor.224 Von einer kolonialpolitischen Wende konnte zu diesem Zeitpunkt, trotz der lauter werdenden öffentlichen Kritik, daher noch keine Rede sein. Vietors hier öffentlichkeitswirksam vorgestellte kolonialpolitische Alternative gewann in den Folgejahren jedoch immer mehr an Bedeutung und Zuspruch. Insbesondere gelang es Vietor 1902 der interessierten deutschen Öffentlichkeit klar zu machen, dass sich in der Kolonialpolitik „zwei verschiedene Prinzipien […] scharf gegenüber“ ständen. Zum einen das Prinzip der Kapitalgesellschaften, die nach der Devise möglichst rascher Dividenden wirtschafteten, dabei aber alle kaufmännischen Prinzipien der Nachhaltigkeit über den Haufen warfen. Diesen Unternehmen ginge es nur um schnellen Profit. Die Konsequenz solcher Politik liefe darauf hinaus, dass Arbeiter auf alle nur denkbare Weise herbeigeschafft würden und dort weichen müssten, wo Plantagen entständen. Wer auf diesen dann nicht arbeiten wolle, weil er schlecht behandelt, schlecht bezahlt und schlecht versorgt würde, müsse damit rechnen als „fauler Kerl“ oder „Gesindel“ bezeichnet zu werden. An die Entwicklung einer ganzen Kolonie und der Millionen von Afrikanern verschwende man dabei keinen Gedanken. Dem gegenüber stehe das andere Prinzip, für das er eintrete, die Entwicklung der Kolonien über die Hebung, Belehrung und Bekehrung der afrikanischen Bevölkerung. Man müsse der einheimischen Bevölkerung die Freiheit einräumen, selbst zu entscheiden, wie und wo sie arbeiten wolle. Statt die Afrikaner den Kapitalgesellschaften auszuliefern, die mit ihnen machten, was sie wollten, sollte man sie fördern und belehren, damit sie zu selbständigen Bauern würden auf ihrem eigenem Land. Gegen die Einführung von angemessenen Steuern spräche dagegen nichts. Damit war sein alternativer kolonialpolitischer Entwurf, den er Anfang des Jahres noch als „Theorie“ bezeichnet hatte, zu einer ganz praktischen Forderung geworden. Diesem Leitbild entsprachen die Konzessionsgesellschaften in keiner Weise, die er in seinem Vortrag als „verderblichste Einrichtung“ der letzten Jahre bezeichnete. Es sei ein Skandal, dass riesige Flächen beinahe verschenkt worden wären, ohne ausreichende Gegenleistungen dafür zu fordern. Die versprochenen Erschließungssummen von zwei bis vier Millionen Mark seien angesichts der Größe der Flächen geradezu „lächerlich“. Hinzu käme das monopolistische Verhalten der Konzessionsgesellschaften, das sich in der Absicht zeige, alle Produkte in ihrem Gebiet für sich zu reklamieren und die einheimische Bevölkerung zu zwingen, ihre gefundenen Naturprodukte für Spottpreise an sie zu verkaufen.225 223 Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210), S. 538f., 537. 224 So sah es jedenfalls Prof. Spange, vgl. Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210), S. 545. 225 Vietor, Arbeiterfrage, in: Verhandlungen, 1903 (wie Anm. 210), S. 524. Die Kritik an den „verschenkten Flächen“ wiederholte Vietor in der Folge immer wieder in seinen öffentlichen Stellungnahmen zur deutschen Kolonialpolitik, vgl. Vietor, J. K.: Deutsche Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 15 (1907), S. 3f.; Vietor, J. K.: Unsere Berechtigung Kolonien zu erwerben. Teil 2 [der Aufsatzreihe über „Deutsche Kolonialpolitik“], in: Die Arbeit 18 (1907); Vietor, J. K.: Vergangenheit und Zukunft der deutschen Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 39 (1907), S. 9f.; Vietor,

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Vietors Positionen wurden von dem am 5. Juni 1902 in Hamburg gegründeten Verein Westafrikanischer Kaufleute (VWK) im Wesentlichen mitgetragen und verstärkt, sahen sich die in Westafrika engagierten Kaufleute doch zusehends bedroht von monopolistischen Gesellschaften und Arbeiterintensiven Großplantagen.226 In Zusammenhang mit der Gründung des VWK rückte selbst Vietors alter Gegenspieler, Friedrich Oloff, eng an dessen Seite, sodass er Vietors Gegnern nun als dessen „Gesinnungsgenosse“ erschien und sich seine Gedanken in ihren Augen „dem missionarischen Ideenkreis“ näherten.227 Angesichts der früheren erbitterten Gegnerschaft zwischen NMG und Oloff eine bemerkenswerte Wahrnehmung. Richtig daran ist, dass die Frontenbildung im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Konzessionsgesellschaften sowie der Arbeiterfrage teilweise gesellschaftliche Gruppen in eine gemeinsame Zweck-Koalition führte, die an sich völlig konträre weltanschauliche Grundpositionen vertraten. Dazu gehörten später auch Vertreter der alldeutschen Bewegung.228 An Oloff wird deutlich, wie schwer es sein kann, von kolonialpolitischen Positionen auf weltanschauliche Motivationen zu schließen. Im Zusammenhang mit der Arbeiterfrage rückte er erstmals deutlich an die Seite Vietors, um in den Folgejahren in fast allen kolonialpolitischen Fragen Vietors Positionen zu vertreten, selbst in der Frage des Branntweinhandels und der Spirituosenzölle.229 Sein Zugang dazu blieb aber ein rein rationaler und ökonomischer. So bestätigte Oloff 1903, dass die meisten „denkenden“ Togo-Kaufleute Vietors Positionen teilten und das Missionsinteresse mit dem Kaufmannsinteresse in der Arbeiterfrage zusammenfiele, allerdings rein aufgrund „kluger wirtschaftlicher Erwägung“. Er vermutete zwar ebenfalls, dass Vietors Meinungsbildungsprozess von der

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1907 (wie Anm. 212). Während die Konzessionsurkunde für die GSK in der Tat keinerlei konkrete Verpflichtungen zur Erschließung des insgesamt 81.597 qkm großen Konzessionsgebietes benannte, legte der Vertrag mit der GNWK zumindest die Pflicht zu einem Erschließungsvolumen von drei Millionen Mark innerhalb von zehn Jahren fest, vgl. Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 107, 117, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 225. Der Verein hatte zum Zeitpunkt der Gründung 27 Mitgliedsfirmen, davon 20 aus Hamburg und 5 aus Bremen. Gründungsmitglied des VWK war bemerkenswerterweise auch die in Berlin ansässige Kameruner Konzessionsgesellschaft GNWK, VWK an Kol. Abt.vom 10.7.1902, BAB, R 1001-3414, Bl. 4. Vietor gehörte anfangs nicht zum Vorstand. So sah es etwa A. Herfuhrt, vgl. ders.: Bremer Kaufleute Kaufleute und Arbeitszwang, in: Koloniale Zeitschrift 1903, S. 158–160, 158. Die im Jahr 1900 gegründete „Koloniale Zeitschrift“ wurde schnell zum Sammelpunkt der missionsfeindlichen Kräfte. Zu den Mitarbeitern der von Gustav Meinecke herausgegebenen Zeitschrift gehörte neben Carl Peters auch Julius Scharlach, aber auch E. A. Fabarius (Witzenhausen) und Major a. D. v. Wissmann, vgl. Koloniale Zeitschrift 1 (1902). Vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 149. Eindrücklich beweisen das seine Veröffentlichungen von 1905 und 1906 zur Frage einer kolonialpolitischen Verwaltungsreform. Die Übereinstimmung mit Vietors Positionen war zu diesem Zeitpunkt bereits so groß und umfassend, dass man einen Artikel Oloffs ohne weiteres für einen Vietorbeitrag hätte halten können, vgl. Oloff, Friedrich: Zwanzig Jahre Kolonial–Politik. Ein notwendiger Systemwechsel und der Reichstag, Berlin 1905; Oloff, Friedrich: Koloniale Verwaltungsreform, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 1905, S. 448–455; Oloff, Friedrich: Koloniale Verwaltungsorganisation, in: Helbeck-Elberfeld, Paul (Hrsg.): Deutschlands Kolonien und seine Kolonialpolitik. Aufsätze erster Kolonialpolitiker, Köln 1906, S. 56–72.

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Mission her geprägt worden sei, lehnte es aber wegen der Interessensüberschneidung von Mission und Kaufmannschaft ab, Vietor lediglich für einen „Missionsfreund und religiösen Humanitätsschwärmer“ zu halten.230 Wie Vietor hielt auch Oloff die Zeit für großkapitalistische Unternehmen in den Kolonien für verfrüht. Sie könnten überhaupt nicht rentabel arbeiten, da die gleichen Produkte aus Bauernkulturen deutlich billiger seien. Während die Preisentwicklung auf den Märkten daher negativ wäre, gleichzeitig die Lohnentwicklung auf den Plantagen jedoch steigen müsste, könnte die Rechnung niemals aufgehen. Ähnlich konform mit Vietor beurteilte er die Konzessionsgesellschaften. Sie wären nur im Bergbau und im Eisenbahnbau sinnvoll. Es sei keinesfalls hinzunehmen, dass die Kolonialverwaltung diese Unternehmen in Form von Anwerbung billiger Arbeitskräfte unterstütze. Es bestände kein Recht, den Afrikaner „um der Dividende dieser Gesellschaften willen zum Lohnarbeiter zu pressen.“ Denn diese Gewinne kämen nicht der Kolonie zugute, sondern nur den Unternehmen, die zum großen Teil noch dazu überwiegend ausländische Anteilseigner hätten. Das Ergebnis einer solchen Politik aber wäre statt einer leistungs- und kauffähigen Bauernbevölkerung, „[…] ein großes Proletariat von schlecht bezahlten, für unsere Exportartikel wenig kaufkräftigen Zwangslohnarbeitern.“231 Auch er forderte daher die Förderung der von Vietor verfochtenen selbständigen Bauernkulturen durch Wanderlehrer, Verteilung von Saatgut, und der Anlage von Versuchsgärten.232 Die Landfrage in Kamerun Die Berufung in die Kommission des Kolonialrats zur Landfrage in Kamerun führte Vietor zu einer eingehenden Beschäftigung mit der Materie, insbesondere der Frage nach der rechtmäßigen Eigentumsübertragung der Konzessionsgebiete der Gesellschaft Südkamerun (GSK) und der Gesellschaft Nordwestkamerun (GNWK).233 Die GSK hatte auf Betreiben der beiden Kolonialratsmitglieder Sholto Douglas und Julius Scharlach, die neben A. Woermann und einigen belgischen Kapitalgebern später zu den Gesellschaftern der am 8.12.1898 gegründeten GSK gehörten, mit Unterstützung Max Essers am 28.11.1898 eine Konzession über ein Gebiet von 81.597 qkm erhalten. Die Konzession unterlag weder einer zeitlichen Befristung noch enthielt sie Vorschriften zur konkreten Erschließung des Gebietes. Als Gegenleistung für die Verleihung erhielt der Fiskus lediglich eine Gewinnbeteiligung von 230 Oloff, Friedrich: Die Arbeiterfrage in den Kolonien, in: Beiträge zur Kolonialpolitik und Kolonialwirtschaft, 1902, S. 365–373, 365f. 231 Oloff, 1902 (wie Anm. 230), S. 370. 232 Oloff, 1902 (wie Anm. 230), S. 368. 233 Zur Landfrage in Kamerun vgl. Krauss, Heinrich: Die moderne Bodengesetzgebung in Kamerun, 1884–1964, Berlin 1966; Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 182–192; Eckert, Andreas: Afrikanisches Land – deutsches Recht. Landpolitik und Landkonflikte in Kamerun, 1884–1914, in: Heine, Peter / Heyden, Ulrich von der, 1995: Studien zur Geschichte, S. 236–258; Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 146–150; vgl. auch Gerstmeyer: Kronland, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 2, S. 381–383. Speziell zur Entstehung der Konzessionsgesellschaften vgl. Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 107–118, Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 224–227.

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zehn Prozent.234 Wie schon 1892, bei Verleihung der Damaralandkonzession in Südwestafrika, die ebenfalls von Scharlach ausgehandelt worden war, war der Kolonialrat bei den Verhandlungen übergangen worden.235 Aufgrund entsprechender Proteste sah sich von Buchka dazu gezwungen, die Konzessionsbedingungen für die GNWK unter Hinzuziehung des Kolonialrats festzulegen, was immerhin erkennbare, wenn auch nach wie vor milde, Bedingungen zur Folge hatte. Die Übertragung des etwa 90.000 bis 100.000 qkm großen Konzessionsgebietes am 31.7.1899 wurde auf fünfzig Jahre befristet und die Gesellschaft erhielt die Auflage, innerhalb der kommenden zehn Jahre drei Millionen Mark für die Erschließung des Gebietes zu investieren. Bei Nichterfüllung der Erschließungspflicht konnte die Konzession eingezogen werden. Die Beeinträchtigung der Rechte Dritter wurde ausgeschlossen.236 Grundlage für die juristische Bewertung der Überlassung von Kronland an Plantagen- und Konzessionsgesellschaften war für die Kolonialratskommission die Kronlandverordnung (KrVO) für Kamerun vom 15.6.1896237 sowie die dazugehörige Ausführungs-Verfügung des Reichskanzlers vom 17.10.1896.238 Besondere Aufmerksamkeit kam den Bestimmungen zur Gewäh234 Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 107. Gewinne wurden bei der GSK vornehmlich über die Börse gemacht. Während bereits kurz nach der Konzessionserteilung rund 15 Millionen Mark an der Brüsseler Börse verdient wurden, kam es 1905, nach der Eigentumsübertragung von 1,5 Millionen ha fruchtbaren Kautschuklandes infolge eines Ausgleichs zwischen Kolonialverwaltung und GSK, erneut zu hohen Börsengewinnen, vgl. Damaschke, Adolf: Kamerun oder Kiautschou? Eine Entscheidung über die Zukunft der deutschen Kolonialpolitik (Soziale Streitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart; 8), Berlin [1900], S. 7f.; Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 148. Eine Dividende wurde nur in den Jahren 1903 (5 %), 1905 (10 %) und 1909– 1911 (8 %) gezahlt, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 228. Die Konzessionsurkunde der GSK ist abgedruckt in Ruppel, Julius: Die Landesgesetzgebung für das Schutzgebiet Kamerun. Sammlung der in Kamerun zur Zeit geltenden völkerrechtlichen Verträge, Gesetze, Verordnungen und Dienstvorschriften mit Anmerkungen und Registern. Auf Grund amtlicher Quellen herausgegeben, Berlin 1912, Nr. 361, S. 717f. 235 Zur Damaralandkonzession und der von englischem Kapital getragenen South West Africa Company vgl. Drechsler, Horst: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, Bd. 2: Die großen Land- und Minengesellschaften (1885–1914) (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 63), Berlin 1996, S. 81–114. Durch die Damarlandkonzession waren der South West Africa Company 13.000 qkm Grundbesitz sowie 72.000 qkm Bergwerkgerechtsame übertragen worden, ebd., S. 96; vgl. auch Meyer / Gerhard: South West Africa Company Limited, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 2, S. 277. 236 Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 117f. Die Konzessionsurkunde der GNWK ist abgedruckt in: Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 360, S. 713–716, ebenso in: Jahresbericht über die Entwickelung der Deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee im Jahre 1898/1899 (Beilage zum DKB), Berlin 1900, S. 187–189. Hier findet sich auch die Satzung der GNWK, ebd. S. 180–187. Die GNWK konstituierte sich am 13.9.1899 mit einer Summe von 4 Millionen Mark, von denen jedoch nur 10 % bei der Gründung einzuzahlen waren. 2 Millionen Mark übernahm Fürst Christian Kraft von Hohenlohe-Öhringen, je 1 Million Mark Max Schöller und Rittergutsbesitzer Max Hiller aus Pforzheim, ebd. 237 Allerhöchste Verordnung über die Schaffung, Besitzergreifung und Veräußerung von Kronland und über den Erwerb und die Veräußerung von Grundstücken im Schutzgebiete von Kamerun vom 15. Juni 1896, abgedruckt in: DKB 14 (1896), S. 435–437, vgl. auch: Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 351, S. 687–689. 238 Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 352, S. 689–691.

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rung ausreichenden Landbesitzes für die indigene Bevölkerung auch hinsichtlich ihrer zukünftigen Bevölkerungsentwicklung zu (§ 3 KrVO) sowie der Frage der aktiven Besitznahme des Landes als Voraussetzung für die tatsächliche Eigentumsübertragung (§ 9 Ausf. VO). Alles Land, auf das nicht Dritte berechtigte Ansprüche erheben konnten, galt nach der Kronlandverordnung als herrenlos und damit als Eigentum der Krone.239 Bereits 1898 war es zu Beschwerden der Basler Mission wegen der auf dieser Basis betriebenen Landpolitik am Kamerunberg gekommen. Durch die hier eingeleiteten umfangreichen Übereignungen von Kronland an Plantagengesellschaften sah sie einerseits ihre eigene Bewegungsfreiheit in Gefahr, andererseits hielt sie die Überlassung von lediglich ein bis eineinhalb Hektar Land/ Hütte an die afrikanische Bevölkerung für völlig unzureichend.240 Die Auseinandersetzungen darüber hatten aufgrund einer Anordnung der Kolonialabteilung an das Gouvernement von Kamerun vom 28.12.1901 am 8.4.1902 zur Bildung einer Landkommission in Kamerun geführt, die auf der Grundlage der Kronlandverordnung festzustellen hatte, welche Gebiete als herrenlos anzusehen seien und damit an den Fiskus fielen. Bei Aufnahme der Kommissionstätigkeit bestand bereits ein Dissenz zwischen der Auffassung der Kolonialabteilung und der GNWK über die Faktizität der Eigentumsübertragung des GNWK-Konzessionsgebietes sowie der Frage des Eigentumsrechtes auf innerhalb des Konzessionsgebietes frei gewachsener Produkte.241 Zur ersten Sitzung der Kommission legte Vietor einen teilweise an Vorschlägen aus Basel orientierten242 Antrag vor, der die Nachprüfung aller bisher 239 § 1 bestimmte: „Vorbehaltlich der Eigentumsansprüche oder sonstiger dinglicher Ansprüche, welche Private oder juristische Personen, Häuptlinge oder unter Eingeborenen bestehende Gemeinschaften nachweisen können, sowie vorbehaltlich der durch Verträge mit der Kaiserlichen Regierung begründeten Okkupationsrechte Dritter ist alles Land innerhalb des Schutzgebietes von Kamerun als herrenlos Kronland. Das Eigentum daran steht dem Reiche zu.“ 240 Basler Mission an Kol. Abt. vom 8.12.1898, BAB, R 1001-6992, Bl. 5, Anlage 3, S. 19–21 (Anlage 9). Die Eingabe wurde sowohl vom Ausschuss der evangelischen Missionsgesellschaften wie auch von Jacobi unterstützt, vgl. Eingabe des Ausschusses der deutschen evangelischen Missionsgesellschaften an Kol.Abt. vom 17.12.1898, BAB, R 1001-6992, Bl. 5, Anlage 3, S. 18 (Anlage 8); Jacobi an Kol. Abt. vom 28.12.1898, ebd., S. 15 (Anlage 7); zum Kampf der Basler Mission in Bezug auf die Landfrage am Kamerunberg vgl. auch Schlatter, Wilhelm: Die Geschichte der Basler Mission in Afrika (Geschichte der Basler Mission, Bd. 3), Basel 1916, S. 304 f. 241 Eine Zusammenfassung des Standes der Auseinandersetzungen über die Landfrage in Kamerun hatten alle Kommissionsmitglieder am 11.11.1902 von der Kolonialabteilung erhalten. Ein Bericht Puttkamers über die aktuellen Besitzverhältnisse der afrikanischen Bevölkerung war trotz Aufforderung der Kolonialabteilung bis zur zweiten Sitzung der Kommission am 1.5.1903 noch nicht eingegangen. Puttkamer wies in einer Mitteilung vom 5.3.1902 auf Arbeitsüberlastung als Grund des Versäumnisses hin. Weder er noch die Kameruner Landkommission könnten daher einen Bericht abgeben, Bericht der Kommissionstätigkeit vom 8.5.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 3, Anlage 1, Bl. 5, Anlage 3. Aufgrund des Antrages der GNWK vom 25.4.1901 auf Übereignung des in Besitz genommenen Kronlandes hatte Puttkamer, nach Genehmigung des Kolonialamtes, die Übereignung ausgesprochen. Der Klausel, dass in diesem Zusammenhang die Überlassungsbedingungen festzustellen seien, war jedoch offensichtlich nicht Genüge getan worden, ebd.; vgl. auch Rudin, 1968 (wie Anm. 121), S. 402. 242 Vietor hatte um Mitteilung gebeten, welche Forderungen in der Kommission aus Sicht Basels zu stellen seien. Dabei forderte er dazu auf, nicht zu bescheiden zu sein, insbesondere nicht in

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erteilten Reservatszuteilungen forderte, da diese seiner Meinung nach weder den Bestimmungen der Kronlandverordnung noch den dazugehörigen Ausführungsbestimmungen entsprachen und daher „ungesetzlich“ waren.243 Zugleich stellte er den Antrag, dass der relativierende Standpunkt der Regierung in Bezug auf die von der Kolonialabteilung am 17.8.1901 anerkannte Eigentumsübertragung an die GNWK zu unterstützen sei. Die Eigentumsübertragung war nach seiner Auffassung nichtig, da es „zum Erwerb des Eigenthums an dem Lande, der factischen [sic] Inbesitznahme, der Feststellung der Herrenlosigkeit, sowie der Untersuchung des Vorbehaltes aller Rechte Dritter in jenem Gebiet“ bedurfte. Die erfolgte Landzuteilung von etwa 2 ha/Hütte an die afrikanische Bevölkerung bewertete er als völlig unzureichend. Anhand des Beispiels der Soppo-Pflanzung wies er darauf hin, dass von den 22 Dörfern in diesem Gebiet bislang nur 11 mit zusammen 491 Hütten vermessen worden seien. Diesen Dörfern seien zusammen 950 ha Land zugebilligt worden, die restlichen 11 Dörfer mit zusammen 516 Hütten wären jedoch ohne Vermessung „mehr oder weniger der Willkür der Pflanzer preisgegeben.“ Ihnen müssten, und dabei legte er nun selbst den Maßstab von etwa 2 ha/Hütte an, zumindest weitere 1032 ha abgetreten werden. Dabei sei darauf zu achten, dass den Bewohnern fruchtbares Land zugestanden würde. Er wusste von Fällen, wo das nicht der Fall gewesen war. Nach seinen Informationen waren zum Teil überhaupt keine Flächen zur Verfügung gestellt worden. Vietor sah es als Skandal an, dass die Reservatsbewohner teilweise für ein in die Plantagen eingedrungenes Stück Vieh 20,- Mark Auslösegebühr bezahlen mussten. Erst würde ihnen viel zu wenig Land gegeben und ihnen dann auch noch ihr Vieh vorenthalten, das in Plantagenflächen aufgefunden worden war. „Ist das nicht ein Hohn auf jede menschliche Gerechtigkeit?“ Bei einer Bezug auf die Größe des der einheimischen Bevölkerung zu überlassenden Landes, J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 29.10.1902, ABM, Q 3-4,49. Nach Übersendung umfangreichen Materials versprach er, die Basler Ansichten in der Kommissionssitzung am 4.12.1902 zu vertreten. Er berichtete auch von bereits erhaltenem Regierungsmaterial, aus dem hervorging, dass auf der Viktoria Pflanzung 13 Reservate für die einheimische Bevölkerung mit insgesamt 943 Hütten existierten, für die zusammen 1886 ha zur Verfügung gestellt worden seien, was etwa zwei ha/Hütte entsprach. Ganz ähnlich verhielte es sich auf der Soppo Pflanzung, auf der insgesamt 475 Hütten ständen mit etwa 950 ha Land. Vietor traute diesen Angaben jedoch nicht und bat um Nachprüfung sowie um Feststellung wieviel Personen für eine Hütte zu rechnen seien, J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 17.11.1902, ebd. 243 Nach Vietors erstem Eindruck mißfiel mißfiel Stuebel die schriftliche Form dabei, was aber eher unwahrscheinlich ist, da neben Vietor auch Staudinger und Jacobi am 4.12.1902 Anträge in schriftlicher Form eingereicht hatten. Scharlach hatte auf einer schriftlichen Vorlage Vietors bestanden, wenn darauf eingegangen werden sollte. Die Reaktion Stuebels verunsicherte ihn: „Ich bin nur ganz geknickt, wie viel ich noch lernen muß, um tüchtig, gewandt und schneidig zu sein, und habe viel zu wenig Begriffe, was man sagen kann und was nicht“, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 4.12.1902, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 5. Inspektor Oehler gegenüber führte er den Ärger Stuebels kurz darauf weniger auf die schriftliche Form als vielmehr auf die Inhalte seiner Beiträge zurück, machte aber klar, dass er sich bemühen wollte, mit Stuebel wieder ins Reine zu kommen, J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 10.12.1902, ABM, Q 3-4,49. Das tat Vietor dann in brieflicher Form und erhielt die Antwort, dass Stuebel ihn „nur zu gut“ verstehe und hoffe, er könne weitere gesellschaftliche Kreise für seine Sicht gewinnen. Allerdings müsse er eine so weit reichende Kritik, wie von Vietor geäußert, zurückweisen, J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 13.12.1902, ABM, Q 3-4,49.

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derartigen Behandlung brauche man sich nicht zu wundern, wenn die Bevölkerungszahl abnehme, nur großzügig bemessene Reservate brächten die Gewähr einer wachsenden Population. „Für gutes Geld sind genug Arbeiter bei anständiger Behandlung und guter Verpflegung zu haben, aber die Tausende von Gräbern auf den Kamerun–Plantagen schreien gen Himmel, und sind ein trauriges Zeichen für die bisherige Art unserer Kolonialpolitik, die an die spanischen Zeiten vor einigen hundert Jahren erinnert.“244

Als Richtlinien für die Nachprüfung und alle zukünftigen Landzuteilungen schlug er vor:245 1. Neben der Gewährung von Wald- und Weideflächen darf eine Mindestzuteilung von sechs ha/Hütte nicht unterschritten werden. Für den Fall, dass Gebiete bereits ganz von europäischen Plantagen eingeschlossen sein sollten, muß die Reichsregierung die Kosten für einen Umzug auf geeignete Ausweichflächen übernehmen. 2. Die Regierung soll 10.000 bis 20.000 ha guten Boden für die einheimische Bevölkerung als Kronland reservieren, auf dem diese später Kakao oder Gummi pflanzen könnten. Das Land soll ihnen dabei jedoch nicht kostenlos überlassen werden, sondern „zu denselben Bedingungen […] wie den Weissen“ verkauft werden.246 3. Neufassung des § 2 der Landverordnung vom 8.4.1902. Die bisherige Fassung „Zur Wahrung der Rechte der Eingeborenen kann ein Pfleger bestellt werden, welcher von dem Vorsitzenden ernannt wird“ soll ersetzt werden durch den Wortlaut: „Zur Wahrung der Rechte der Eingeborenen muß ein Pfleger bestellt werden, welcher an Handels- und Plantagenunternehmen nicht beteiligt sein darf. Der Vorsitzende ernennt ihn.“ 4. Die Verhandlungen der Landkommission in Kamerun sollen nach den entsprechenden Vorschriften für Deutsch–Ostafrika geführt werden. „Insbesondere muß ein genaues, übersichtliches Verzeichnis des in Besitz genommenen Kronlandes und des zugewiesenen Eingeborenenlandes allen Interessenten zu öffentlicher Einsicht vorhanden sein.“ 244 Antrag zu der Landconcession (von J. K. Vietor), StAB, 7,1025-98-1. Dieser Antrag findet sich nicht in den Akten des Bundesarchivs. Hier ist er als II. Antrag, neben dem I. („Anträge zu den Landreservaten im Kamerun Plantagengebiet“), der auch im Bundesarchiv liegt, wie dieser unter dem Datum 1.12.1902 abgelegt. 245 Anträge zu den Landreservaten im Kamerun Plantagengebiet von J. K. Vietor (1.12.1902), BAB, R 1001-6993, Bl. 3, Anlage f, S. 17f. 246 Als Begründung verwies Vietor auf Puttkamers eigenen Hinweis, im Landesinneren würden „die intelligenteren Eingeborenen“ bereits Kakao und Gummi anpflanzen. Außerdem zeigten die „erstaunlichen“ Erfolge in den kleinen Reservaten des Viktoriabezirkes, dass Afrikaner erfolgreiche Bauernkulturen mit Kakao und Gummi anlegen könnten, ebd. Um 1900 waren Berichte von kleinen, durchschnittlich 2,25 ha großen indigenen Kakaokulturen am Kamerunberg an die Öffentlichkeit gelangt. Daneben gab es aber auch größere Plantagen der Dualas, die den Deutschen längere Zeit verheimlicht worden waren, u.a. wegen des Einsatzes von Haussklaven. Nach Entdeckung dieser Plantagen wurde dieser Punkt dann von deutscher Seite auch entsprechend kritisiert, vgl. Eckert, 1999 (wie Anm. 163), S. 62–64.

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5. Ausschluß der Verpfändung und Zwangsvollstreckung von Grundstücken der afrikanischen Bevölkerung. Während Vietor mit seinem Antrag insbesondere auf eine Vergrößerung der Landzuteilungen an Afrikaner und die zwingende Einsetzung eines „Eingeborenenpflegers“ zielte, legte Vohsen ein Papier vor, in dem er auf die Schwierigkeiten in Kamerun hinwies, ohne weiteres von einer Nichtbestellung von Land auf dessen Herrenlosigkeit zu schließen. In der Diskussion machte er auf Grundlage umfangreichen Quellenmaterials deutlich, dass es an der gesamten Guineaküste kein herrenloses Land gäbe, weshalb in den meisten westafrikanischen Kolonien Landerwerb von Einheimischen lediglich auf Pachtbasis abgewickelt würde.247 Bei enger Auslegung konnte demnach eine Landkommission weite Strecken des Landes überhaupt nicht als „herrenlos“ bezeichnen und für den Fiskus als Kronland reklamieren. Puttkamer bezog wegen dieser Schwierigkeit den Standpunkt, nur solches Land als Eigentum eines Stammes oder einzelner Personen anzuerkennen, das tatsächlich sichtbar bewirtschaftet wurde.248 Damit hielt er im Prinzip an der Linie fest, die vor ihm bereits von Zimmerer 1894 verfolgt hatte.249 Jacobi unterstützte den Gedanken der Zusammenziehung der Wohnorte der Einheimischen, allerdings ohne jegliche Anwendung von Zwang. Landzuteilungen von unter 2 ha/Hütte konnte er sich dabei vorstellen, wenn die Bodenqualität ausreichend gut wäre, allerdings wäre das Bevölkerungswachstum einzukalkulieren.250 In der Kommission konnten sich Vietor und Vohsen mit ihrer grundsätzlichen Infragestellung der rechtmäßig zustande gekommenen Konzessionsverträge nicht durchsetzen.251 Das von Vietor eingereichte umfangreiche Rechtsgutachten seines 247 Bericht über die am 4.12.1902 und 1.5.1903 stattgefundenen Sitzungen des Kolonialratsauschusses über die Landfrage in Kamerun vom 8.5.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 3, Anlage 1, vgl. auch Anlage b. 248 „Wenn man einen eingeborenen Häuptling fragt, wie weit das Land ihm gehört, so zeigt er ganz bestimmt im Urwald eine Grenze, jenseits deren dann das Gebiet des nächsten Stammeshäuptlings beginnt, so daß es freies oder herrenloses Land nach den Angaben der Eingeboren gar nicht gibt, ausser in tatsächlich unbewohnten Urwäldern. […] Ich habe nun diesen Standpunkt von vornherein nicht anerkannt, sondern bin bei der Einteilung des Landes nach dem bewährten Grundsatz verfahren, das nur dasjenige Land Eigentum der Eingeborenen ist, was sie im Moment der Auseinandersetzung tatsächlich bebauen.“ Er drängte die Stämme auf Konzentration ihrer Siedlungsgebiete rund um ihre Dörfer, wobei er „je nach Boden und örtlichen Verhältnissen 4–8 ha pro Hütte“ zugestand, vgl. Puttkamer, 1912 (wie Anm. 166), S. 103f. Diese Haltung hatte Puttkamer bereits in einer Verhandlung am 26.4.1900 eingenommen, vgl. Bericht des Kolonialratsauschusses, Anlage 2, S. 3. 249 Zimmerer hatte den europäischen Interessenten die Besitznahme von „herrenlosem“ Land gestattet, worunter er „alles von den Kamerunern nicht bebaute Land“ verstand, vgl. Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 183. 250 BAB, R 1001-6993, Bl. 3, Anlage d. 251 Nachdem in der Kommission mehrfach die Meinung geäußert wurde, eine Diskussion über die Rechtmäßigkeit der Konzessionserteilung sei „jetzt müßig“, machte Stuebel klar, dass Vohsen nicht zu folgen wäre, da allein die Tatsache des Erlasses einer Kronlandverordnung das Vorhandensein herrenlosen Landes voraussetze. Die Konzessionsverträge seien daher grundsätzlich anzuerkennen. Der Vollzug der tatsächlichen Eigentumsübertragung bedürfe aber in der Tat mehr als einer einfachen Erklärung, hier beständen nach wie vor unterschiedliche Auffassun-

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Hausjuristen, Dr. Bollmann, das sich mit dieser Frage eingehend beschäftigte, fand keine weitere Beachtung.252 Die Vertreter der Landgesellschaften konnten ihren Puttkamer folgenden Standpunkt, dass nur dasjenige Land als Eigentum der Einheimischen anzusehen sei, was diese tatsächlich in Bearbeitung hätten, jedoch auch nicht erfolgreich verteidigen. Stuebel betonte stattdessen, man müsse „an Ort und Stelle frage[n], was sie jetzt besäßen und was sie noch dazu brauchten, um darnach die Reservate abzugrenzen.“ Damit plädierte er dafür, die Entscheidung der jeweiligen Reservatsgrößen in die Hände der Landkommission zu legen, freilich ohne dieselbe an messbare und konkrete Mindeststandards zu binden. Am Schluss konnte sich die Kommission auf die um einige Aspekte erweiterte Resolution von Jacobi einigen, die insbesondere in Bezug auf das den Einheimischen zu gewährenden gen zwischen der Kolonialabteilung und den Konzessionsgesellschaften, Bericht des Kolonialratsauschuss (wie Anm. 247), Anlage 1, S. 6f. 252 Gutachten von Dr. Bollmann, BAB, R 1001-6993, Bl. 4. Bollmann versuchte die Übertragung der Konzessionen als nichtigen Verwaltungsakt hinzustellen, weil die Vollmacht zur Verleihung von Handelsmonopolen in den Kolonien weder dem Reichskanzler noch einer Behörde jemals übertragen worden seien. Nach § 1 des Schutzgebietsgesetzes („Die Schutzgewalt in den deutschen Schutzgebieten übt der Kaiser im Namen des deutschen Volkes aus.“) hätte allein der Kaiser gesetzgebende Gewalt in den deutschen Schutzgebieten. Einen Teil davon habe er durch Übertragung an den Reichskanzler und andere Behörden übertragen, etwa zur Zoll-, Steuer-, Verwaltungs- sowie Polizei- und Strafgesetzregelung. Von einer Übertragung des Rechtes auf Verleihung von Monopolen könne aber keine Rede sein. So lange also der Kaiser nicht selbst einer Monopolvergabe zugestimmt habe, könne eine solche auch nicht rechtens sein. Damit seien die Konzessionsvergaben nicht bindend. Dabei waren nicht die Landübertragungen als solche in Bollmanns hauptsächlichem Visier, sondern die sich davon ableitenden handelsmonopolistischen Forderungen, die ja auch die Kongoakte ausschloß, die immerhin für den Südosten Kameruns sowie ganz Deutsch-Ostafrika galt. Eine Übertragung war für Bollmann zudem nach den Bestimmungen der Kronlandverordnung erst dann bindend, wenn zuvor die Besitzverhältnisse geklärt worden seien, dazu zählten auch Nutzungsrechte der einheimischen Bevölkerung, die sich aus dem Gewohnheitsrecht ergäben, wie das Recht auf Nutzung von Bodenprodukten. Da gegen einen Verwaltungsakt des Gouverneurs der Rechtsweg offen stehen müsse, die Afrikaner aus Unkenntnis darüber jedoch davon keinen Gebrauch machen könnten, müßte ein „Eingeborenenanwalt“ installiert werden nach dem Vorbild der „Natives-advocates“, wie sie in der Samoa Akte vorgesehen seien. Das Gutachten war nach Drucklegung allen Reichstagsabgeordneten zugesandt worden. Bollmann, Mitglied des Vorstandes und des Geschäftsführenden Ausschusses der DKG Ortsgruppe Bremen, hatte sein Gutachten bereits am 10.11.1902 an einem Herrenabend der DKG Ortsgruppe Bremen vorgestellt. Nachdem die Inhalte von Bollmanns Vortrag auch in verschiedenen überregionalen Zeitungen veröffentlicht worden waren, hatte Scharlach „den Wunsch geäußert, seine von den Ansichten des Herrn Dr. Bollmann abweichenden Ansichten“ an einem nächsten Herrenabend vortragen zu dürfen, wozu es am 16.11.1903 dann auch kam. In der anschließenden Aussprache „fand eine ausserordentlich lebhafte Debatte zwischen ihm und den hiesigen Vertretern der abweichenden Ansichten statt“, 3. Jahresbericht der Abt. Bremen der DKG für das Jahr 1903, StuUB, Brem.c.619 Nr. 41, S. 2, 4. Scharlach dürfte dabei keinen leichten Stand gehabt haben, hatten Bollmanns Thesen in Bremen doch großen Anklang gefunden, vgl. von Schleinitz, 1903 (wie Anm. 157), S. 111. In einem auf dem Bundestag der Bodenreformer 1905 gehaltenen Vortrag griff Vietor nochmals die juristische Argumentation Bollmanns auf. Die Rede wurde im Jahrbuch der Bodenreform veröffentlicht, vgl. Vietor, J. K.: Der deutsche Handel und die Monopole in unseren westafrikanischen Kolonien, in: Jahrbuch der Bodenreform. Vierteljahreshefte, Heft 3 (1905), S. 161– 184, hier v.a. S. 167–170.

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Landes enttäuschte.253 Bedenkt man, dass Jacobi der Mittelsmann der protestantischen Missionen im Kolonialrat war, von denen zumindest die direkt betroffene Basler Mission bereits seit längerem sechs ha/Hütte gefordert hatte, wirkt Jacobis Forderung von nur etwa zwei ha/Hütte erstaunlich und selbst dieses niedrige Maß wollte er nicht als starres und nicht zu unterschreitendes Mindestmaß festschreiben. Für ihn war die Bodenqualität entscheidender als die absolute Größenordnung. Die anderen Anträge wurden entweder zurückgezogen, zurückgestellt oder als inzwischen gegenstandslos bewertet. Besonders für Vohsen bedeutete das eine herbe Enttäuschung, weil insbesondere die Frage nach der Berechnung des den Einheimischen gehörenden Landes nicht geklärt wurde, das gesamte traditionelle Stammesgebiet oder nur das aktuell unter Kultur genommene. Auch Vietor konnte nicht zufrieden sein mit dem Ergebnis. In den Beschluss wurden nur die Forderungen Vietors mit aufgenommen, die sich mit denen Jacobis deckten. Immerhin konnte somit die „obligatorische“ Einsetzung eines Pflegers zur Wahrung der Rechte der Einheimischen, der Verzicht auf Zwang bei ihrer Umsiedlung sowie die Zumessung von ausreichend viel Reservatsland im Hinblick auf das zukünftige Bevölkerungswachstum gemeinsam verabschiedet werden, was ebenfalls in Vietors Katalog aufgeführt worden war. Eine genaue Flächenangabe bei der Frage der Landüberlassung an die afrikanische Bevölkerung unterblieb. Der einzige rein auf Vietor zurückgehende Beschlusspunkt betraf die von ihm vorgeschlagene Vorhaltung von Kronland für eine spätere Übereignung an einheimische Stämme, auch hier allerdings, entgegen Vietors konkret genannten Zahlen, ohne eindeutige Flächenangabe.254 Positiv bewertet haben dürften Vohsen und Vietor die Aufnahme der Forderung eines, wenn auch unter Vorbehalt stehenden, Jagd- und Fischrechtes der Einheimischen sowie deren Recht auf freie Entnahme von Feuer- und Bauholz für Hütten und Fahrzeuge.255 Aufgrund der zu bescheidenen Ergebnisse stellte Vohsen als Berichterstatter der Kommission in der Kolonialratssitzung vom 19.5.1903 die gegensätzlichen Standpunkte innerhalb der Kommission in den Vordergrund und beschloss seinen Vortrag mit drei Anträgen, die über die Kommissionsvorlage hinausgingen. Sein zentrales Anliegen war dabei die Anerkennung eines deutlich größeren Landanspruchs der Afrikaner über das von ihnen aktuell in Kultur genommene Gebiet hinaus, sowie die Abweisung eines Handelsmonopols innerhalb der Konzessionsgebiete.256 Daraufhin kam es zu einer heftigen Kontroverse, in der Vohsen seine Anträge zwar vorläufig wieder zurückzog und die Kommissionsvorlage angenommen 253 Antrag Vohsen in der Fassung der Ausschußsitzung vom 1.5.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 3, Anlage c, S. 14. 254 Beschluss des Kolonialratsausschusses über die Landfrage in Kamerun vom 1. Mai 1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 3, Anlage 2. 255 Ebd. Nach der Erinnerung von Jacobi war das Recht auf Holzentnahme u.a. auf „Anerbieten“ Scharlachs in den Kommissionsbeschluss aufgenommen worden, vgl. BAB, R 1001-6993, Bl. 11, KR vom 19.5.1903, S. 9. 256 Vohsens zusätzliche Anträge lauteten: 1. Der Kolonialrat solle sich gegen die Erteilung von Landkonzessionen in großem Umfang aussprechen; 2. „Bei der Ausscheidung der Reservate sei den Eingebornen das gesamte Land, soweit es bisher als ihr Stammes- und Nutzungsgebiet gegolten habe, vorzubehalten“; 3. Der Kolonialrat solle auf die Pflicht der Konzessionsgesell-

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wurde, aber auch die zunehmende Isolierung Scharlachs im Kolonialrat deutlich wurde. Seiner Sicht, dass der Koloniarat bereits früher ausreichend deutlich gemacht hätte, dass eine Handelsfreiheit nur in Bezug auf die Früchte und Produkte, die innerhalb der Reservate der einheimischen Bevölkerung gesammelt würden, bestünde, wollte bis auf Max Schoeller, der Vertreter der GNWK, niemand beipflichten. Scharlachs Sicht lief darauf hinaus, dass in den Konzessionsgebieten ein nahezu vollständiges Handelsmonopol herrschen sollte, da die Reservate zusammengenommen nur einen Bruchteil des Konzessionsgebietes ausmachten.257 Auch wenn Vietor Scharlach insofern entgegenkam, als er vorschlug, die sich benachteiligt fühlenden Handelsgesellschaften sollten sich zusammentun, um von den Konzessionsgesellschaften das Recht auf freien Handel zurückzukaufen, war nicht zu übersehen, dass sich die Gewichte im Kolonialrat zuungunsten Scharlachs und seiner Politik zu verschieben begannen. Hatte Vietor Scharlach in den 1890er Jahren und noch um die Jahrhundertwende für den einflussreichsten Mann in der deutschen Kolonialpolitik gehalten,258 erkannte er jetzt immer mehr, dass sein Einfluss schwand und eine neue Zeit der Kolonialpolitik anbrach.259 Während der letzten Kolonialratssitzung im Juni 1906 konnte er zufrieden feststellen, dass inzwischen ein ganz anderer Wind blase als noch drei oder vier Jahre zuvor.260 Julius Scharlach war fraglos einer der einflussreichsten Lobbyisten des Großkapitals im Kolonialrat der 1890er Jahre.261 Ging schon die Damaralandkonzession von 1893 auf seine Initiative zurück, war auch die Konzession für die GSK 1898 in erster Linie sein Verdienst. Als Mitbegründer der South–West–African Company (SWAC), der Otavi–Minen- und Eisenbahn–Gesellschaft, der GSK sowie der Schantung–Eisenbahn und der Schantung–Bergbau Gesellschaft war er eng verflochten mit deutschem und ausländischem Großkapital. Auch in Brasilien förderte er den Eisenbahnbau in deutschen Siedlungsgebieten.262 Daneben sass er in zahlreichen Aufsichtsräten kolonialer Kapital- und Pflanzungsgesellschaften und war darüber, bis

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schaften hinweisen, ihr Land auch „in Kultur zu nehmen“, BAB, 1001-6993, Bl. 11, KR vom 19.5.1903, S. 7. Scharlach machte schließlich auf keinen Hehl aus seiner Meinung, dass er den Freihandel in den Kolonien „in gewisser Beziehung für ein Unglück [hielte], weil er das Land verwüste“, womit er sich auf den Raubbau beim Kautschukhandel bezog, BAB, 1001-6993, Bl. 11, KR vom 19.5.1903, S. 10f. Vietor, J. K.: Geschichtliche und kulturelle Entwicklung unserer Schutzgebiete, Bremen 1913, S. 62. So Vietor gegenüber seiner Frau nach Annahme der Ausführungsverfügung vom 12.11.1903 zur Enteignungsverordnung vom 14.2.1903 im Kolonialrat in seiner Sitzung vom 30.11.1903, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 1.12.1903, VPAH, Konv. 1, Teil 6. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 19.6.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Drechsler hält ihn in den 1890er Jahren für einen „der einflußreichsten einflußreichsten Mitglieder des Kolonialrats“, der „in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes aus und ein[ging]“, Drechsler, 1996 (wie Anm. 235), S. 81. Scharlach, Julius, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 3, S. 260. Sein Engagement in Brasilien stand im Zusammenhang mit der Hanseatischen Kolonisationsgesellschaft, deren Vorsitzender er war und die sich mit der Auswanderung von Deutschen nach Südbrasilien beschäftigte. Scharlach war auch Mitglied der DKG, des KWK und gehörte zu den Gründern der Kolonialschule in Witzenhausen, vgl. Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 108.

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auf Togo, in allen afrikanischen Kolonien Deutschlands engagiert, wie auch im Pachtgebiet Kiautschou. Scharlach gehörte bereits dem ersten Kolonialrat 1891 an und wirkte an 71 der insgesamt 75 Sitzungen des Kolonialrats während dessen gesamtem Bestehen mit.263 Kaum einer symbolisierte so stark wie er eine Kolonialpolitik der Land- und Börsenspekulation, die vorgab, Finanzen in die Kolonien zu bringen, diese jedoch nach erhaltenen monopolistischen Vorrechten nicht oder nur sehr unzureichend einsetzte. Während die im Zusammenhang mit der Damaralandkonzession gegründete SWAC nach Investition ihres Pflichtkapitals jahrelang nichts unternahm, um dann bei geeigneter Gelegenheit durch Verzicht auf ihr Bahnmonopol weitere Bergbaurechte im Ovamboland von etwa 100.000 qkm zugesprochen zu bekommen,264 konnte unmittelbar nach der Erteilung der Konzession für die GSK ein Börsengewinn von fast 15 Millionen Mark verbucht werden, ohne irgendeine erbrachte Leistung.265 Hatte der alldeutsch gesinnte Professor Siegfried Passarge diese Kolonialpolitik daher nicht zu Unrecht bereits im April 1900 als „System Scharlach“266 bezeichnet, trug sein Zusammenstoß mit von Buchka auf der Hauptversammlung der DKG in Koblenz am 1.6.1900 mit zu dessen Rücktritt am 6.6.1900 bei. Passarge folgend verurteilte die DKG Hauptversammlung in Koblenz den „spekulative[n] Kapitalismus Scharlachscher Prägung.“267 Die Landfrage in Kamerun war durch den Beschluss des Kolonialrats vom 19.5.1903 freilich nicht erledigt. Von einer substantiellen Verschiebung des Kurses in Richtung Vohsen und Vietor konnte noch keine Rede sein. Immerhin legte die Kolonialabteilung am 4.10.1903 das Mindestmaß des den Einheimischen in Kamerun zu belassenden Landes auf sechs ha fest,268 durchaus ein erster Erfolg der Fraktion um Vietor in der Kommission des Kolonialrats. Die Anordnung wirft ein bezeichnendes Licht auf die Angabe der amtlichen Denkschrift über die Entwicklung der Schutzgebiete für das Jahr 1903/04, nach der die bisherige, am 1.1.1903 begonnene Vermessungsarbeit der Landkommission der einheimischen Bevölkerung im 263 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 507. 264 Drechsler, 1996 (wie Anm. 235), S. 96, 108–110. Auch wenn die SWAC ihre eigentliche Konzession nicht weiter ausnutzte, investierte sie jedoch nicht unerheblich in Land- und Minengesellschaften, ebd. S. 96f. 265 Damaschke, [1900] (wie Anm. 234), S. 7f. Damaschke rechnet den Börsengewinn der GSK im Mai 1899 an der Brüsseler Börse nach. Das gezeichnete Kapital der GSK belief sich auf 2 Millionen Mark (2,5 Millionen Frs.), die in 5.000 Aktien á 500 Frs. gestückelt wurden. Da diese mit einem Agio von 100 % gehandelt wurden, erbrachten sie zusammen 5.000.000 Frs. Dazu wurden noch 15.000 Genußscheine zu je 900 Frs. ausgegeben, zusammen eine Summe von 13.500.000 Frs. Abzüglich der gezeichneten 2 Millionen Mark und der Überlassung von 500 Genußscheinen an die deutsche Regierung, konnte somit ein Börsengewinn von etwa 15.500.000 Frs. erwirtschaftet werden. Auf dem Kolonialkongress 1902 beschwerte sich Scharlach bei Damaschke und bestritt die Richtigkeit dieser Zahlen, war aber nicht bereit seine Zahlen vorzulegen, vgl. Damaschke, (1925) (wie Anm. 152), S. 242. 266 Das System Scharlach, Beilage zur DKZ vom 26.4.1900, zit. bei Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 125. Der Begriff „System Scharlach“ wurde auch vom kolonialskeptischen Vize-Admiral von Schleinitz rezipiert, vgl. von Schleinitz, 1903 (wie Anm. 157), S. 101. 267 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 256. 268 Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 149. Rudin spricht lediglich von einer Empfehlung der Kolonialabteilung, vgl. Rudin, 1968 (wie Anm. 121), S. 402.

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Gebiet der WAPV durchschnittlich 7,33 ha/Hütte zugeteilt haben wollte, obwohl nur 2 ha/Hütte á zehn Personen als ausreichend betrachtet wurden. Die hier als großzügig dargestellte anfängliche Arbeit der Kommission, die sich allerdings nur auf einen sehr kleinen Teil am Kamerunberg bezog, hatte in der weiteren Praxis offensichtlich kaum mehr als zwei ha/Hütte zugeteilt,269 was der eigentliche Hintergrund der Anordnung Stuebels gewesen sein dürfte. Trotz der Anordnung änderte sich an der Praxis der Landkommissionen allerdings nichts. Der Vorsitzende der Landkommission in Buea, Leuschner, gab das unumwunden zu, rechtfertigte sich aber damit, dass zwei ha/Hütte erstens tatsächlich ausreichten und zweitens eine uneingeschränkte Umsetzung der Vorgabe von sechs ha/Hütte dazu führen würde, dass den Plantagen kein Land mehr bliebe.270 Auch der Bericht des nach dem Tod Jacobis als neuer Vertreter der Evangelischen Missionen in den Kolonialrat berufenen Max Berner bestätigt diese Praxis. Danach waren bislang durchschnittlich nur 2,5 ha/Hütte zugeteilt worden, entgegen den Anweisungen der Kolonialabteilung und den Wünschen Stuebels sowie des Kolonialrats.271 Kurz nach der Kolonialratssitzung im Mai 1903 kam auch von Seiten der DKG Bewegung in die Landfrage. Auf der Hauptversammlung am 4. und 5.6.1903 in Karlsruhe wurde auf Antrag des Ortsverbandes Meiningen die Einsetzung einer eigenen Landkommission beschlossen.272 Die Kommission, die sich mit der Situa269 Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee, Berichtsjahr 1902/03, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 54, S. 104. Die Angabe der durchschnittlich zugeteilten Flächen bezog sich auf eine äußerst geringe Gesamtfläche, da die Arbeit der Kommission im Bereich der WAPV schon bald nach Beginn von der Regenzeit unterbrochen wurde. Der Bericht beklagt auch die fehlenden Mittel, um weitere Vermessungsteams mit einem Landmesser aufstellen zu können, es handelte sich also lediglich um die relativ kurze Arbeit einer dreiköpfigen Kommission. Zudem hatte die Verordnung vom 8.4.1902 die Arbeit der Landkommission zunächst auf das Gebiet des Kamerunbergs begrenzt, ebd., S. 103. 270 Leuschner an Kol. Abt. vom 30.5.1904, ABM, E-2,17, Bl. 5. 271 Berner an Kol. Abt. vom 29.8.1904, ABM, E-2,17, Bl. 7. Berner erklärt diese Praxis mit der Berufung der Landkommission auf frühere Gouvernementsberichte, die die Zuteilung von zwei ha als ausreichend bezeichnet hatten. Darin hieß es, dass von einer Familie 1/4 ha angebaut würde, obwohl nur der Ertrag von 1/8 ha für die Hütte selbst verbraucht würde. Daher seien zwei ha selbst unter Berücksichtigung der Wechselwirtschaft ausreichend. Die Berufung auf von der Kolonialabteilung abweichende Vorgaben des Gouvernements läßt den Einfluss Puttkamers deutlich werden. Hausen weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Puttkamer nach Aussagen der Basler Mission die Arbeit der Landkommission auch dadurch zu boykottieren versuchte, dass er Reservatszuteilungen im Hinblick auf die Beeinträchtigung fiskalischer Interessen untersagte. Er versuchte auch, den „Eingeborenenpfleger“, der von der Basler Mission gestellt wurde, durch einen Missionar der katholischen Pallotiner zu ersetzen. Pflanzer versuchten darüber hinaus die Arbeit der Kommission zu verzögern, indem sie immer dann mit der Kultivierung des von ihnen okkupierten und in der Nähe von afrikanischen Siedlungen liegenden Landes begannen, wenn die Vermessung kurz bevorstand, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 217, vgl. auch Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 191. 272 Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 105. Diehn weist daraufhin, dass in der Ortsgruppe Meiningen der Vietors Gedanken nahestende Herr Gerstenhauer, der dann auch zu den DKG-Landkommissionsmitgliedern gehören sollte, großen Einfluss hatte. Da Vietor zum Vorstand der Ortsgruppe in Bremen gehörte und damit selbst einen entsprechenden Vorstoß hätte lancieren können, dürfte ein direkter Zusammenhang mit Vietor jedoch nicht bestehen. Hintergrund des

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tion in allen vier afrikanischen Schutzgebieten beschäftigen sollte, nahm ihre Arbeit unter Leitung von Prof. G. K. Anton (Jena) und Christian von Bornhaupt im Herbst 1903 auf.273 Eine Berufung Vietors in die Kommission wurde offensichtlich erwogen, kam aber zu seinem Bedauern nicht zustande.274 Im Frühjahr 1904 wurde er allerdings aufgefordert, für die Kommission ein Gutachten für Togo und Kamerun zu erstellen.275 Darin vertrat er auch für Kamerun den Standpunkt, dass die zukünftige Entwicklung der Kolonie insbesondere in der Förderung von indigenen Kulturen zu suchen sei. Auch wenn er Plantagen nicht per se ablehnen wollte, verwies er auf die historische Tatsache, dass große Plantagenkulturen stets große Gefahren für Kolonien mit sich gebracht hätten, weil „der Egoismus der Besitzer die Regierungen verhindert hat, eine gerechte und humane Eingeborenenpolitik zu vertreten, und einen Anfang hiervon haben wir ja bei uns auf den Kamerun–Plantagen gesehen.“276 Auf eine rein nüchterne, utilitaristische Argumentation setzend, forderte er eine möglichst großzügige Behandlung der afrikanischen Bevölkerung, da die Zukunft der Kolonien in der stärkeren Förderung und „Inwertsetzung“ der pro-

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Antrages der Gruppe Meiningen war deren Wunsch, die Frage des Preises bei Landkäufen zu diskutieren und dabei die Frage zu erörtern, wie mit Wertzuwächsen von Stämmen gekauften Landes umzugehen und wie Landspekulation vorzubeugen sei. Offensichtlich spielte dabei nicht nur die Konzessionsfrage in Kamerun eine Rolle, sondern bereits die beginnende Diskussion um die Landkäufe der DTG am Agu in Togo, vgl. Bericht über die 4. Sitzung der von der Hauptversammlung der Deutschen Kolonialgesellschaft in Karlsruhe i.B. eingesetzten Landkommission am 17. Dezember 1904, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 8, S. 46. Strandmann weist darauf hin, dass die Meininger Ortsgruppe von alldeutscher Ausrichtung geprägt war und mit anderen alldeutsch gesinnten Ortsgruppen die deutsche Besiedlung Südwestafrikas fördern wollte, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 384. Die Arbeiten der Landkommission, in: DKZ 47 (1903), S. 471f. Zu den Kommissionsmitgliedern gehörten u.a.: Prof. G. K. Anton (Vorsitzender), Christian von Bornhaupt (stellv. Vorsitzender), Prof. K. Dove, Thilo Eichholtz, M. R. Gerstenhauer, Graf Peil, Dr. Rhode, Moritz Schanz. Als Gäste an der vierten Sitzung am 17.12.1904 nahmen teil: Dr. Hermann Hesse, Miss.superintendent D. Alexander Merensky, Paul Staudinger, Justus Strandes sowie der Direktor der GNWK, Wyneken, vgl. Bericht über die 4. Sitzung (wie Anm. 272), S. 1. Auf der dritten Sitzung am 19.3.1904 waren nachträglich F. Hupfeld und Hauptmann Ramsay in die Kommission berufen worden, Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 106. Die ersten drei Sitzungen der Kommission fanden am 23. und 24.10.1903 sowie am 19.3.1904 statt, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 384. Möglicherweise lag die Nichtberufung Vietors daran, dass er nicht zur entscheidenden Sitzung des DKG Vorstandes am 28.11.1903 erschien. Am Tag zuvor hatte er einer ersten Sitzung beigewohnt und darauf seiner Frau geschrieben: „Sie wollen mich jedenfalls in die Landkommission für die Kolonien wählen, was ich wohl annehmen werde, da es das Wichtigste ist, was wir haben. Also alle Hände voll zu tun.“ Die Folgesitzungen am Freitag, den 27.11. hatte er jedoch wegen einer Terminüberschneidung nicht besuchen können, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 27.11.1903, VPAH, Konv. 1, Teil 6. Auch am 28.11.1903 konnte er den gesamten Vormittag nicht auf der DKG Vorstandssitzung erscheinen, da er den ganzen Tag in der Kolonialabteilung festgehalten wurde, wo die Kolonialratssitzung am Montag, den 30.11.1903 vorbereitet wurde, J. K. Vietor (Bremen) an Hedwig Vietor vom 28.11.1903, VPAH, Konv. 1, Teil 6. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 13.4.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 12f. Vietor, 1904 (wie Anm. 212), Gutachten für Kamerun, nicht paginiert.

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duktiven Fähigkeiten der einheimischen Bevölkerung läge. Daraus ergab sich für ihn ein einfaches Konzept: „Den Leuten die Lebensbedingungen so günstig gestalten wie möglich, ihnen so viel Grund und Boden zur Verfügung stellen, wie irgend wünschenswert, Krankheiten unter ihnen bekämpfen, denn jeder arbeitsfähige Bewohner unserer Kolonien ist ein werdendes Kapital, das dem Mutterlande Nutzen bringt.“277

Seine erst im Vorjahr erhobene Forderung nach einer Landzuteilung von mindestens sechs/ha Hütte hinter sich lassend, verfocht er nun den Standpunkt, eine Diskussion über die Mindestgröße des den Einheimischen zu belassenden Landes wäre nicht zielführend. Es könne nicht darum gehen, ob zwei, vier oder sechs ha Land genug seien, wenn man die Produktivität der Afrikaner heben wolle. Dann könnte es, je nach Situation und örtlichen Gegebenheiten auch sinnvoll erscheinen, ihnen 20, 30 oder 40 ha zu belassen. Ziel der Kronlandverordnung sei es, Afrikanern ausreichend Land zu belassen, damit sie sich entwickeln und entfalten könnten.278 In Bezug auf die Konzessionsgesellschaften blieb er dagegen bei seiner früheren Argumentationslinie, dass alle Konzessionserteilungen und Verordnungen, die der Kronlandverordnung nicht entsprächen, als nichtig zu betrachten seien. Für den Fall, dass Konzessionsinhaber ihre Gebiete nicht entwickelten und Inwertsetzten müssten neue Verhandlungen geführt werden oder ihr Gebiet beschnitten werden.279 Für die Zukunft plädierte er dafür, dass Kronland nur noch in kleinen Parzellen auf Erbpachtbasis vergeben werden sollte.280 Auch wenn sich Vietor in seinem Gutachten Bollmanns Forderung nach einer „patriarchalischen“ Vormundschaft der deutschen Kolonialverwaltung für die afrikanische Bevölkerung anschloss,281 sah er die Lösung der Landfrage nicht in einer einseitigen Bevorzugung der Interessen der Afrikaner. Vielmehr müsse diese Frage in einem Ausgleich zwischen ihren Interessen und denen des Reiches, der Kolonie und denen der Europäer insgesamt gefunden werden. Allerdings bedürften die Afrikaner des besonde277 Vietor, 1904 (wie Anm. 212), S. 8. 278 Vietor, 1904 (wie Anm. 212), Gutachten für Kamerun. 279 Sein Resolutionsentwurf zu Kamerun lautete: „Die Landkommission erkennt ausschließlich die allerhöchste Verordnung vom 16. Juni 1896 als massgebend für die Regelung der Landverhältnisse in Kamerun an, und hält die vergebenen Konzessionen nur insoweit für zu Recht bestehend als sie diesem Gesetz im weitesten Umfang entsprechen. Sollten die Konzessionsgesellschaften nicht genügend zur Erschließung des Landes beitragen, wird es sich für die Regierung empfehlen, diese aufgrund neuer Verhandlungen derartig zu beschneiden, dass sie der Entwicklung der Kolonie nicht hinderlich sind. Den Eingeborenen im Plantagengebiet ist genügend Land evtl. an einem anderen Platz zur Verfügung zu stellen. Den übrigen Eingeborenen ist genügend Land laut kaiserlicher Verordnung zu reservieren, so dass dort auch Eingeborenen-Kulturen in grossem Maasstabe (sic) eingeführt werden können.“ Vietor, 1904 (wie Anm. 212), S. 9. 280 Vietor, 1904 (wie Anm. 212), Gutachten für Kamerun. 281 Bollmann spricht sich für einen präventiven Rechtsschutz für die indigene Bevölkerung aus, um sie vor eigenen Fehlern zu bewahren: „Der Schutz der Eingeborenen muß ein aktiver, vormundschaftlicher sein, der ihn wie einen Minderjährigen vor eigenem Leichtsinn und Unerfahrenheit und auch vor dem älteren erfahrenen Bruder, den Europäer, sichert; hier muß der Staat zu seiner patriarchalischen Vergangenheit zurückkehren“, Gutachten von Dr. Bollmann, BAB, R 1001-6993, Bl. 4, S. 49.

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ren Schutzes, da es in Bezug auf die Landfrage „oft zu unglaublichen Übergriffe[n] der Europäer den Eingeborenen gegenüber“ gekommen wäre. Zu oft hätte das Recht des Stärkeren und des juristisch Gebildeten dabei triumphiert. „Man muß die unbedingte Forderung aufstellen, dass der Schwarze auf seinem eigenen Boden absolut in seiner persönlichen Freiheit geschützt wird. Ich gehe sogar noch viel weiter und stelle die Forderung, dass die Regierung sich als eine Art Vormund der Eingeborenen betrachten soll und darauf achten, dass nicht unverständige, unerfahrene Leute sich leichtsinnig ihres Landes entäussern. Genügender Landbesitz der Schutzbefohlenen ist die einzige genügende Garantie sich vor drückender, verderblicher Abhängigkeit von den weissen Unternehmern zu bewahren.“282

Die Einholung eines Gutachtens von Vietor war nur auf Druck der konzessionsskeptischen Vertreter innerhalb der Kommission möglich geworden und stellte ein Gegenpapier zu den Gutachten Friedrich Hupfelds (Togo) und Hauptmann Ramsays (Kamerun) dar. Ursprünglich war auf der zweiten Sitzung das Kommissionsmitglied Thilo Eichholtz, ein Gegner der Konzessionspolitik in Kamerun, mit der Zusammenstellung von Material zur Landfrage in Togo und Kamerun beauftragt worden.283 Da dessen Stellungnahmen dem Vorsitzenden Professor G. K. Anton jedoch zu einseitig konzessionsfeindlich erschienen, beauftragte er im Alleingang Hupfeld und Ramsay, alternative Gutachten zu erstellen, die bereits zur dritten Sitzung am 19.3.1904 vorlagen. Anton konnte mit Hinweis auf eine möglichst neutrale Stellungnahme der DKG zur Landfrage erreichen, dass nicht Eichholtz’ Material, sondern Hupfelds und Ramsays Gutachten zur weiteren Grundlage der Kommissionarbeit gemacht wurden.284 Beide wurden auf seinen Antrag auch nachträglich zu Kommissionsmitgliedern berufen.285 Von einer neutralen Position Hupfelds und Ramsays konnte natürlich keine Rede sein.286 Antons Vorgehen erklärt sich aus der nach wie vor überwiegend konzessionsfreundlichen Haltung des DKG Vorstandes. Für Gustav Müller, den Generalsekretär des evangelischen Afrikavereins, waren diese Vorgänge in der Kommission daher auf Druck der „Zentrale in Berlin“ zu282 Vietor: Gutachten, 1904 (wie Anm. 212), Allgemeines. 283 Eichholtz’ Materialsammlungen sowie sein später daraus entstandenes Gutachten finden sich in der Bibliothek der Deutschen Kolonialgesellschaft, die Teil der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt ist, vgl. Eichholtz, Thilo: Material für das Schutzgebiet Kamerun, Berlin, [1904], UB Frankfurt, Kolonialbibliothek, Sq 17/1320 Nr. 3; ders.: Material für das Schutzgebiet Togo, Berlin, [1904], ebd., Sq 17/1320 Nr. 2, vgl. auch: ders.: Gutachten über die Landverhältnisse in Togo und Kamerun, Berlin, [1904], ebd., Sq 17/1320 Nr. 4. 284 Das Gutachten Hupfelds umfasst insgesamt 57 Seiten und schließt mit 13 Leitsätzen, die dann zur Grundlage der Stellungnahmen der Kommissionsmitglieder und der weiteren Gutachter wie J. K. Vietor wurde. Das Gutachten findet sich in: BAB, R 1001-3218, Bl. 46–103. 285 Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 105f. Diehn zitiert aus dem 40seitigen Protokoll der dritten Kommissionsitzung vom 19.3.1904, das er in Vietors Nachlass fand. Dieses Dokument befindet sich nicht im Privatarchiv der Familie Vietor in Hude. 286 Ramsay, der eng mit der GNWK verbunden war, forderte in seinem Gutachten die Anerkennung des uneingeschränkten Eigentumsrechtes der Konzessionsgesellschaften an den Früchten und Produkten sowie am Wild innerhalb des gesamten Konzessionsgebietes. Davon müsse sich allgemein das Recht ableiten, das Sammeln von Früchten jedermann zu untersagen und den Zutritt zum Konzessionsgebiet zum Zwecke der Jagd zu verbieten, Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 107.

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rückzuführen. Überhaupt war die Haltung der DKG für ihn eine große Enttäuschung. In kaum einer DKG Ortsgruppe sah er ausreichende Unterstützung für eine Reform der überholten Kolonialpolitik im Sinne einer stärkeren Förderung der einheimischen Bevölkerung.287 Während die Kommission auf Grund des aktuellen Entscheidungsprozesses in Togo ihre gutachterliche Tätigkeit für Togo mit Ende der vierten Sitzung zum Abschluss brachte und ihren Schlussbericht zügig an den Ausschuss der DKG übersandte mit der Bitte, diesen bei den maßgeblichen amtlichen Stellen vorzulegen, kamen die Beratungen über die Landfrage in Kamerun nicht voran.288 Anton bestand auf weiteren Gutachten, insbesondere von Personen, die selbst in Kamerun engagiert waren und sich mit den Verhältnissen auskannten. Von Prof. Passarge und Staudinger hatte er jedoch Absagen auf seine diesbezüglichen Anfragen erhalten, von letzterem dreimal. Auch jetzt lehnte Staudinger mit Hinweis auf seinen Gesundheitszustand, aber auch mit Betonung der Notwendigkeit einer allgemeinen, für alle Kolonien gültigen Landregelung erneut ab. Daraufhin wurden Scharlach und Dr. Schulte im Hofe als mögliche Gutachter vorgeschlagen, die Entscheidung aber in die Hände der beiden Vorsitzenden gelegt mit der Bitte, Gutachter möglichst aller Standpunkte zu gewinnen.289 Bornhaupt bewertete die Arbeit der Kommission abschließend als wenig einträglich, was für ihn zum einen in der Schwierigkeit begründet lag, geeignete Gutachter zu gewinnen, insbesondere für Kamerun und Ostafrika, zum anderen aber auch in dem Stettiner Beschluss der Hauptversammlung der DKG (1904), sich wegen der Landfrage direkt mit einer Eingabe an den Reichskanzler zu wenden. Mit diesem Beschluss hätte die Hauptversammlung die Tätigkeit der Kommission „zum Teil gegenstandslos gemacht.“290 Hintergrund dieses Beschlusses, am Vorstand der DKG vorbei, war offensichtlich die Verärgerung darüber, dass der Vorstand die Arbeit der eingesetzten Landkommission durch die

287 Müller an Missionsinspektor Schreiber vom 19.7.1905, StAB, 7,1025-85. 288 Obwohl der Schlußbericht an sich zunächst der Hauptversammlung der DKG vorzulegen war, diese aber erst wieder im Frühsommer 1905 tagte, beschloss die Kommission die vorzeitige Weiterleitung ihrer Ergebnisse in Bezug auf Togo, da die Beratung einer Landordnung für Togo gerade stattfände und der Bericht sonst möglicherweise zu spät käme. Dann wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen, Bericht über die 4. Sitzung (wie Anm. 272), S. 37. Die Beschlüsse der Kommission zur Landfrage in Togo sowie die Teilnehmerliste der Sitzung am 17.12.1904 sind abgedruckt in: Die Landkommission der Deutschen Kolonialgesellschaft, in: DKZ 1904, S. 501–502. 289 Bericht über die 4. Sitzung (wie Anm. 272), S. 38f. 290 Bericht über die 4. Sitzung (wie Anm. 272), S. 43. Bornhaupt hatte auch von Dr. Hindorf, Prof. Rehbock und Dr. Sander eine Absage auf Erstellung eines Gutachtens jeweils für Südwestafrika erhalten und war entsprechend pessimistisch, ob die Kommission überhaupt noch Sinn mache. Er jedenfalls wollte auf der nächsten Hauptversammlung keine Verlängerung der Arbeit der Kommission beantragen. Das wurde insoweit von Anton geteilt, als er dieser Haltung für den Fall zustimmte, dass bis zur Hauptversammlung nicht wenigstens aussagekräftige Gutachten für Südwestafrika eingingen. Auch Hauptmann Ramsay und Rhode zweifelten an der Arbeit der Kommission, Bornhaupt schließlich auch dann an ihr, falls doch noch genügend Gutachten eingingen, da er an der politischen Umsetzung etwaiger Beschlüsse der Kommission zweifelte, ebd. S. 45–47.

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nachträgliche Berufung von Ramsay und Hupfeld neutralisiert hatte.291 Abgesehen von ihrem Beitrag für Togo blieb die Kommissionsarbeit der DKG in der Folge tatsächlich ohne weiteren Einfluss auf den Fortgang in der Entwicklung der Landfrage.292 In der Kolonialratssitzung am 1.7.1904 berichtete Vietor von seinem Gutachten für die Kommission der DKG und forderte nun auch hier, man solle sich in Kamerun noch nicht gesetzlich auf eine bestimmte Landgrösse für die afrikanische Bevölkerung festlegen. Dafür seien die Verhältnisse noch nicht ausreichend geklärt. Zudem sei es seiner Auffassung nach nicht im Sinne der Kronlandverordnung, der einheimischen Bevölkerung einen minimalen Landanspruch von zwei, vier oder sechs ha zu belassen, vielmehr solle ihr so viel Land zugesprochen werden, wie sie mit gutem Recht beanspruchen könne. Mit anderen Worten: statt nach der unteren Grenze zu fragen, solle man nach der vertretbaren oberen Grenze fragen. Zu Kronland könne nur Land erklärt werden, das über die Ansprüche der einheimischen Bevölkerung hinausginge. Überhaupt solle die deutsche Kolonialmacht, deren Kolonialbesitz etwa zwei Millionen qkm Land umfasse, großzügig in der Bemessung des den Einheimischen zu überlassenden Landes sein. Selbst wenn man ihnen insgesamt eine Million qkm Land zusprechen würde, wäre das durchaus zu vertreten, wenn sie dadurch nur zu zufriedenen Menschen würden, die sich stetig auf gesunde Weise weiterentwickelten und letztlich dadurch dem Mutterland am nützlichsten würden.293 „Ich muß sagen, es thut mir immer leid, daß so weit wie ich sehen kann wir Deutsche es noch nicht verstanden haben wie die anderen Nationen, unsere Eingeborenen für uns zu begeistern, was in Wirklichkeit so leicht zu machen wäre. Man geht aber in manchen Fällen mit den Eingeborenen zu unverständig um.“294

Vietor kam auch auf die Arbeit der Landkommission in Kamerun zu sprechen. Bereits im Vorfeld der Sitzung hatte er wiederholt in Basel darauf gedrängt, ihm Berichte über konkrete Missstände zuzusenden, damit er diese zur Sprache bringen könne.295 Die Missionare sollten die Missstände schriftlich beim Gouverneur einreichen, mit Durchschlag an Basel, damit ein förmliches Verfahren auf den Weg 291 Auf Antrag der Ortsgruppe Lippstadt und unter Umgehung des DKG Vorstandes hatte die Hauptversammlung der DKG in Stettin eine Eingabe an die Regierung beschlossen, in der diese zu verstärkter Förderung der Besiedlung in Südwestafrika sowie zur Verhinderung von Landspekulation aufgefordert wurde. Die Umgehung des Vorstandes ergab sich offensichtlich aus Verärgerung darüber, dass der Vorstand die Arbeit der eingesetzten Landkommission durch die nachträgliche Berufung von Ramsay und Hupfeld neutralisiert hatte, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 384. 292 Einen Bericht über die Tätigkeit der Landkommission bis zum Sommer 1905 legte G. K. Anton auf der DKG Hauptversammlung in Essen am 15.6.1905 vor. Darin empfahl er angesichts des Beginns der Arbeiten der amtlichen Landkommission die Auflösung der „privaten“ DKG Landkommission, vgl. Anton, G. K.: Die Arbeiten der Landkommission der deutschen Kolonialgesellschaft, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 1905, S. 440–447. 293 KR Sitzung am 1.7.1904 (ausführliches Protokoll), BAB, R 1001-6980, Bl. 178–181. 294 Ebd., Bl. 181. 295 J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 14. und 15.4.1904, ABM, Q 3-4,49.

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käme, das, falls notwendig, von Vietor in Berlin unterstützt werden könnte.296 Ergänzend dazu regte er an, eine Abschrift des Briefes von Missionar Lutz sowie einige „Begleitschreiben“ an den freikonservativen Reichstagsabgeordneten Konsistorialrat Stockmann zu schicken, der in der Budgetkommission des Reichtages mitarbeitete, die in Kürze den Etat für Kamerun zu behandeln hatte. Vietor wies darauf hin, dass er bereits mit Stockmann gesprochen habe und dieser bereit sei, entsprechende Informationen in der Budgetkommission zur Kenntnis zu bringen und darauf hinzuweisen, dass telegraphisch eine Beschwerde beim Gouverneur wegen der Landfrage in die Wege geleitet sei. Vietor hoffte, die Regierung dadurch veranlassen zu können, „evtl. telegraphische Erkundigungen einzuziehen.“297 Von Basel kam daraufhin die Nachricht, dass die vorgeschriebenen sechs ha/Hütte nicht zugeteilt würden, sondern nur zwei. Vietor drängte daraufhin, dass die Basler Mission ihr Landkommissionsmitglied, Lutz, anweisen sollte, unbedingt auf den sechs ha zu bestehen. Sollte dem nicht stattgegeben werden, müsste in ähnlicher Weis wie schon im April empfohlen, ein entsprechender Antrag an das Gouvernement gestellt werden mit Durchschlag an Basel. Wenn auch dann nichts geschähe, wollte er sich selbst in Berlin darum kümmern.298 Schlimmer noch als die zu geringe Landzumessung schien das Ansinnen des in Kamerun „omnipotenten“299 Vorstandsvorsitzenden der Westafrikanischen Pflanzungsgesellschaft Viktoria (WAPV), Max Esser, zu sein, entgegen bereits gefassten Landkommissionsbeschlüssen die Bevölkerung umsiedeln zu wollen. Nur aufgrund der energischen Proteste des Vertreters der Basler Mission habe er davon wieder Abstand genommen. Vietor beantragte daher, Stuebel solle sich einen genauen Bericht über die Tätigkeit der Landkommission zusenden lassen.300 Die Situation bei den Bakwiris spitzte sich offensichtlich 296 Um die Sache zu beschleunigen schlug er vor, den Missionaren per Telegramm die Botschaft zuzustellen: „„Officielle Beschwerde Gouverneur Landfrage notwendig“, J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 15.4.1904, ABM, Q 3-4,49. 297 J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 15.4.1904, ABM, Q 3-4,49. Vietor traute Stockmann zu, etwas in Bewegung zu bringen, da er ihn für einflußreich hielt und überzeugt war, dass er „jedenfalls unsere Sache bestens vertreten wird“. 298 J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 16.5.1904, ABM, E-2,17, Bl. 1, S. 2. Vietor war mit den Informationen aus Basel und einem Brief von Lutz ausgestattet bereits persönlich bei Stuebel gewesen und hatte sich beschwert, u.a. auch wegen Essers Verhalten, das Stuebel sehr verärgerte, weil Esser offensichtlich behauptet hatte, Stuebel hätte ihm gegenüber gesagt, er wisse nichts von der Tätigkeit einer Landkommission in seinem Gebiet, ebd. S. 1. 299 Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 148. Zu Essers überragendem Einfluss in Kamerun vgl. auch Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 163; Kemner, Wilhelm: Kamerun. Dargestellt in kolonialpolitischer, historischer, verkehrstechnischer, rassenkundlicher und rohstoffwirtschaftlicher Hinsicht, Berlin2 1941, S. 143. 300 KR Sitzung am 1.7.1904 (ausführliches Protokoll), BAB, R 1001-6980, Bl. 174f. Vietor zitierte aus dem Brief des Basler Missionars Lutz: „In dieser Sitzung habe ich nun energisch gegen die Änderung der früheren Landkommissionsbeschlüsse protestiert. Ich drang aber mit meinem Protest erst dann durch, als ich den Herren sagte, daß, wenn sie die Landangelegenheit in dieser Weise regeln wollten, dieselben Zustände geschaffen würden wie sie jetzt in Südwestafrika bestehen. Das Volk, das nun lange genug geplagt und nahezu ausgestorben sei, sei derart verärgert, daß es zu einem allgemeinen Aufstand nicht mehr viel bedürfe. Darauf erwiderte mir Herr Dr. Esser: nun, daran will ich nicht schuld sein, wir lassen die früheren Beschlüsse“, ebd., S. 175f. Bei dem Missionar handelte es sich um Lutz, vgl. Leuschner an Kol. Abt. vom

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infolge der Tätigkeit der Landkommission gefährlich zu. Nach einem Bericht des ehemaligen Vorsitzenden der Landkommission, Leuschner, hatte Esser versucht, bereits von der Landkommission an Afrikaner übertragenes Land gegen 20,- Mark/ Hütte zurückzukaufen, um dann eine Umsiedlung einleiten zu können. Trotz Warnungen Leuschners und Lutz’ war der Nachfolger Leuschners im Amt des Landkommissionsvorsitzenden, Assessor Wolf, zu einer Umsiedlung der Bakwiris bereit. Insgesamt lebten zu dem Zeitpunkt 13.500 Bakwiris mitten im Plantagengebiet und es kam bereits zu Unruhen.301 Bis zum Herbst 1904 hatten Unzufriedenheit und Unruhen weiter um sich gegriffen,302 was neben dem Drängen Vietors und der Basler Mission nicht ohne Rückwirkung auf den Entschluss des stellvertretenden Gouverneurs, Ebermaier, geblieben seine dürfte, in Abwesenheit Puttkamers am 10.10.1904 eine Landverordnung zu erlassen, in der die Überlassung von mindestens sechs ha/Hütte „außer dem von ihnen bebauten und bewohnten Lande“ endgültig festgeschrieben wurde.303 Außerdem wurde die Bildung von Landkommissionen nun auch auf andere Bezirke ausgeweitet und die Hinzuziehung von Häuptlingen zu den Beratungen obligatorisch.304 Die Verordnung wirkte offensichtlich beruhigend auf die Bakwiris, ein Aufstand von ihnen blieb aus.305 Andererseits zogen

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30.5.1904, ABM, E-2,17, Bl. 5. Ein Bericht Max Berners über die Tätigkeit der Landkommission ging am 29.8.1904 bei Stuebel ein, vgl. Berner an Kol.Abt. vom 22.8.1904, ABM, E2,17,Bl. 7. Leuschner an Kol. Abt. vom 30.5.1904, ABM, E-2,17, Bl. 5. Gründer gibt an, die Behörden in Kamerun hätten insbesondere auf Druck Max Esser’, Umsiedlungen ohne Einhaltung der vorgeschriebenen Fristen vorgenommen und die einheimische Bevölkerung in Sumpf-, Urwaldoder wasserlose Gebiete verlegt, vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 149. Sowohl in Süd- und Nordwestkamerun hatten sich unzufriedene einheimische Gruppen zusammen-geschlossen und gegen die Kolonialregierung erhoben. Auch an anderen Orten war es zu Unruhen gekommen, vgl. Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 191. Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1904/05, SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., Anlage 175, S. 2725. Puttkamer war am 8.5.1904 nach Deutschland abgereist, nachdem er die Geschäfte Ebermaier übergeben hatte und erst am 30.1.1905 nach Kamerun zurückgekehrt. Der lange Heimataufenthalt war aus gesundheitlichen Gründen notwendig geworden, vgl. Puttkamer, 1912 (wie Anm. 166), S. 309, 313. Gründer gibt irrtümlich einen kürzeren Heimataufenthalt von November 1904 bis Februar 1905 an, vgl. Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 148. Verordnung des Gouverneurs, betreffend Kronland vom 10. Oktober 1904. Die Verordnung ist abgedruckt bei Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 354, S. 692f. Sie galt nach § 7 nicht für die Verwaltungsbezirke Buea und Viktoria, in denen ja bereits Landkommissionen arbeiteten, ebensowenig für die Konzessionsgebiete von GSK und GNWK sowie die Residenturen Garua und Kusseri im Norden Kameruns. Mit der Novellierung vom 28.10.1910 wurden die Gültigkeitsbegrenzungen aufgehoben und die Verordnung uneingeschränkt für ganz Kamerun in Kraft gesetzt, vgl. Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 355, S. 693. Hausen gibt irrtümlich an, die Verordnung von 1904 hätte nur für den Bezirk Viktoria gegolten, eben dort jedoch nicht (§ 7). Auch enthält die Verordnung keine ausdrückliche Bestimmung, dass der „Eingeborenenpfleger“ ein Missionar sein müsse. Auch aus dem der Verordnung beigefügten Runderlass geht das nicht hervor, vgl. Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 356, S. 694, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 217. Schlatter, 1916 (wie Anm. 240), S. 305. So sieht es jedenfalls Schlatter. Die Bakwiris veränderten durch das Engagement der Basler Mission ihre Haltung der Mission gegenüber und öffneten sich nun für die christliche Verkündigung, nachdem sie vorher lange mißtrauisch und zu-

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sich die Bakwiris nun vollständig von der Arbeit auf den Plantagen zurück, nachdem sie in den ersten Jahren ihres Bestehens durchaus Arbeiter gestellt hatten.306 Obwohl Ebermaier auf Verordnungsweg nun endlich zugestanden hatte, was Puttkamer immer verweigert hatte, änderte sich nach Puttkamers Rückkehr an der Praxis allerdings zunächst wenig.307 Zwar konnte Stuebel im Reichstag mitteilen, dass selbst am Kamerunberg die frühere, dürftige Landzuteilung von zwei ha/Hütte inzwischen auf drei bis vier ha gesteigert worden war und, auf Anregung des Kolonialrats, ab sofort die Anerkennung von sechs ha/Hütte vorgeschrieben worden sei.308 Dieser Hinweis macht aber auch klar, dass sich trotz der Verordnung von Ebermaier bislang keine vollständige Änderung in der Praxis der Landzuteilungen ergeben hatte. Die neue Zumessung der Reservate am Kamerunberg begann allerdings erst 1905 und zog sich bis 1908 hin.309 Aber auch in dieser Phase wurden nicht die vorgeschriebenen 6 ha/Hütte als Maßstab angesetzt, sondern nach Auskunft des neuen Kolonialdirektors von Hohenlohe-Langenburg nur 5 ha/Hütte.310 Zum Jahreswechsel 1904/05 besuchte Vietor erstmals selbst Kamerun, um sich persönlich ein Bild von der Lage zu machen. Während des gut einwöchigen Aufenthaltes in Viktoria und Duala besuchte er so viele einflußreiche Persönlichkeiten wie möglich, besichtigte die Petroleumbohrungen in Logobaba, den botanischen Garten in Viktoria, einige Reservate, indigene Kulturen und die Großplantagen von Kriegsschiffhafen und Viktoria. Insgesamt zeigte er sich sehr enttäuscht über den geringen Entwicklungsstand des Landes nach zwanzig Jahren deutscher Kolonialherrschaft.311 In den ersten Tagen wohnte er in Viktoria bei dem Basler Missionar und

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rückhaltend gewesen waren. Ob sie allerdings, wie Theodor Seitz behauptet, 1907 als „fröhliches Bergvolk“ bezeichnet werden konnte, ist eher fraglich, Seitz, Theodor: Vom Aufstieg und Niederbruch deutscher Kolonialmacht. Erinnerungen von Dr. Theodor Seitz, ehemals Gouverneur von Kamerun und Südwestafrika: Aus dem alten Kamerun (Bd. 1), Karlsruhe i. B. 1927, S. 37. „Waren viele Bakwiri in den ersten Jahren noch freiwillige Lohnarbeitsverhältnisse eingegangen, so beschäftigten die Plantagen 1905 überhaupt niemanden aus der lokalen Bevölkerung mehr,“ Eckert, 1995 (wie Anm. 233), S. 245. Der spätere Vorsitzende der WAPV, Wilhelm Kemner, sah es anders und betonte, dass die Bakwiris von Anfang an arbeitsscheu gewesen seien, sodass früh auf Wey- und Kruboys zurückgegriffen wurde und auf Vermittlung Zintgraffs später auf Balis aus dem Inneren Kameruns, vgl. Kemner, 1941 (wie Anm. 299), S. 148. Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 147f. Auch der SPD Abgeordnete Ledebour wies zweimal daraufhin, dass Puttkamer von der Kolonialabteilung wiederholt dazu gedrängt worden sei, gewisse Standpunkte einzunehmen, ohne das jedoch zu beherzigen, vgl. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 192. Sitzung vom 25.5.1905, S. 6158f. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 192. Sitzung vom 25.5.1905, S. 6160. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 217. KR vom 19.6.1906, BAB, R 1001-6994, [Bl. 20], S. 2. Vietor, J. K.: o.T. [Bericht von der Afrikareise 1904/05 für den Kolonialrat], 1905, VPAH, Konv. 4; Teil 3, Mappe 4, S. 2. Insgesamt war Vietor vier Tage in Viktoria und fünf Tage in Duala. Der Reisebericht erschien auch in gedruckter Form. Lattmann zitierte während seiner Reichstagsrede am 25.5.1905 aus einem Brief Vietors, in dem dieser beklagte, dass Kamerun, im Vergleich zu den anderen von ihm besuchten Länder Westafrikas „in seiner Entwicklung am weitesten zurück [lag]. Dort waren offenbar aller Augen nur auf die großen Konzessions- und Plantagengesellschaften gerichtet und die Millionen der anderen, im Dienste der Gesellschaft nicht benötigten Eingeborenen stehen müßig am Markt wie vor der Besitzergreifung Deutsch-

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Mitglied der Landkommission, Gutbrod. Was er dort vom Bezirksamtmann, Bezirksrichter Adae, einigen Beamten, Missionaren und Kaufleuten über die Behandlung der afrikanischen Bevölkerung zu hören bekam, war für ihn „himmelschreiend“ und er zeigte sich überzeugt: „Das wird im Kolonialrat ein schönes Hundebeißen wieder geben. Was für ein Glück, daß ich hier war. Das muß ja geändert werden.“ Die Berichte, die er zu hören bekam bezogen sich auch auf die Methoden der Arbeitergewinnung. So hörte er, dass man Frauen mit ihren Kindern eingesperrt hätte, „bis die Männer Leute gebracht haben, die arbeiten sollten. Gefesselt haben sie die Arbeiter transportiert, nachts zu Dutzenden in eine Hütte geschlossen, etc. etc. […] Das gibt ein schönes Theater.“312 Während seines Aufenthaltes lud ihn Max Esser zu einem Besuch auf der Plantage der WAPV ein,313 die auf Vietor einen sehr guten Eindruck machte. „Mit Ausnahme der Reservatanschauungen [habe ich] mich sehr gefreut […], wie alles gemacht wird.“ Kurz vor seiner Abfahrt nach Duala besuchte ihn am 1.1.1905 Max Esser erneut und zeigte ihm seine Petroleumbohrung.314 Der Kontakt mit Esser rief bei Gutbrod Befürchtungen hervor, da es Esser nach seiner Meinung hervorragend verstand, Leute für seine Sicht der Dinge zu gewinnen. Nach dem Besuch bei Esser machte Vietor auf ihn tatsächlich zunächst den Eindruck, als habe es Esser verstanden, ihm einzureden, das Problem läge daran, dass die Afrikaner ihr Land einfach nicht anbauen würden. Gutbrod sah sich jedenfalls genötigt, Vietor zu erklären, dass die scheinbare Untätigkeit der Afrikaner mit der Wechselwirtschaft zusammenhinge und deshalb ein Teil ihres Landes brachläge. Auf der unter Leitung des amtierenden Gouverneurs Otto Gleim am 17.12.1904 stattgefundenen Landkommissionssitzung sei auch besprochen worden, Reservatsgebiete gegebenfalls zu vergrößern, sollte die Bodenqualität dies erforderlich machen.315 Nach Abschied von Gutbrod war Vietor nochmals einige Tage mit Esser zusammen, der ihm versicherte, er sei „vollständig damit einverstanden, dass den Eingeborenen so viel Land gegeben wird, wie sie brauchen.“ Allerdings wäre die Regierung bislang nicht bereit gewesen, ihm für die 1.800 ha, die er bereit sei abzugeben, eine entsprechende Vergütung zu gewähren, etwa als Ausgleich 3000 ha bei Malende. Vietor fand das nicht unberechtigt und sprach anschließend mit Gleim darüber. Auch wenn Gleim 3000 ha als Ausgleich als überhöht ansah, riet

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lands. Von landwirtschaftlichen Anlagen, von Versuchsgärten, von Verteilung von Saat, von großen, gesicherten Straßen habe ich fast nichts gehört“, vgl. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 192. Sitzung vom 25.5.1905, S. 6163. Der zitierte Brief Vietors an Lattmann vom 19.5.1905 findet sich in: ABM, E-2,19, Bl. 2. J. K. Vietor (Eleonore Woermann) an Hedwig Vietor vom 1.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Gutbrod (Viktoria) an Inspektor [Oehler] vom 24.1.1905, ABM, E-2.20b, Bl. 303, S. 2f. Nach Gutbrod lief Vietor am 29.12.1904 in Viktoria ein. Vietor gibt irrtümlich Adae als Bezirksamtmann an. Gutbrod (Viktoria) an Inspektor [Oehler] vom 24.1.1905, ABM, E-2.20b, Bl. 303, S. 2f. J. K. Vietor (Eleonore Woermann) an Hedwig Vietor vom 1.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Gutbrod (Viktoria) an Inspektor [Oehler] vom 24.1.1905, ABM, E-2.20b, Bl. 303, S. 3f. Otto Gleim hatte 1904/05 vorübergehend die Amtsgeschäfte des Gouverneurs übernommen, nachdem auch der stellvertretende Gouverneur, Karl Ebermaier, im Herbst 1904 nach Deutschland zurückgekehrt war, vgl. Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 489, 740.

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Vietor zu grundsätzlicher Kulanz gegenüber Esser. Gutbrod und ihm müsse es zwar in erster Linie darum gehen, dass die einheimische Bevölkerung gerecht behandelt werde, wenn dem jedoch Rechnung getragen würde, wäre es auch erstrebenswert, die Gesellschaften zufrieden zu stellen.316 In Duala besuchte Vietor neben Gleim auch den Bezirksamtmann von Brauchitsch,317 die Basler-, die Baptisten- und die katholische Mission, verschiedene Firmen, Dr. Moncke, einen Spezialisten in Fragen des Bergbaus und der Petroleumquellen und besichtigte auch hier indigene Farmen, „die von tausenden von Frauen bearbeitet wurden.“318 Vietor hatte vor, seine Beobachtungen in Togo und Kamerun in den Kolonialrat zu tragen und dort energisch gegen die Missstände bei der Reservatszumessung und der Behandlung der afrikanischen Bevölkerung insgesamt zu protestieren.319 Am 15.5.1905 hatte er sowohl seinen Bericht als auch sein Redemanuskript für die kommende Kolonialratssitzung an die Kolonialabteilung geschickt.320 Nachdem ihm von dort klargemacht wurde, dass seine „Ausführungen in einer Reihe von Punkten als zutreffend diesseits nicht anerkannt werden können“,321 kam es am 23.6.1905 zu einer persönlichen Aussprache zwischen Stuebel und Vietor, in der Vietor dazu bewegt werden konnte, auf eine Verteilung seines Berichtes im Kolonialrat zu verzichten.322 Stuebel musste Vietor im Gegenzug jedoch einige Zusagen 316 J. K. Vietor (Eleonore Woermann) an Gutbrod vom 8.1.1905, ABM, E-2,20b, Bl. 304, S. 1f. 317 Nur wenige Tage nach Vietors Besuch, am 7.1.1905, sperrte von Brauchitsch 60 Häuptlinge und Familienoberhäupter der Akwas in einer Form von Sippenhaft für acht Tage ins Gefängnis wegen säumiger Steuerschulden von Stammesangehörigen. Einen Teil der Haft mußten sie in Form von Zwangsarbeit ableisten. Brauchitsch stand im Zentrum der meisten Klagen der Akwahäuptlinge, vgl. Petition der Akwa Häuptlinge an den allerdurchlauchtigsten allergnädigsten deutschen Reichstag vom 19.5.1905, SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., Anlage 294, S. 3394–3399. Die Inhaftierung der Häuptlinge, die in Punkt 8 der Petition (Steuerzwang) zur Sprache kam, wurde, während der Öffentlichen Sitzung des Bezirksamtes in Duala am 6.12.1905 in Anwesenheit von Brauchitsch als den Tatsachen entsprechend eingeräumt, ebd., S. 3396, 3401. 318 J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 5.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Vietor hielt sich vom 1.1. bis 5.1.1905 in Duala auf. 319 „Über meine übrigen Wahrnehmungen möchte ich zunächst nur dem Kolonialrat vertraulich berichten, da ich glaube, daß eine Aenderung unserer Politik dort notwendig ist“, Vietor, 1905 (wie Anm. 311), S. 2. Wenn der Reisebericht daher auch kaum Details über die Situation in Kamerun bringt, spricht Vietor doch sehr konkret Missstände und Versäumnisse in Togo an und stellt die wenig erfolgreiche deutsche Kolonialpolitik als Ganzes, insbesondere den Umgang mit der einheimischen Bevölkerung, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. 320 Eine Aktennotiz der Kol. Abt. hält fest: „Kaufmann J. K. Vietor, Bremen, überreichte mit Schreiben vom 15. Mai 1905 zwei Aufsätze über allgemeine Verhältnisse in Kamerun und Togo. Der eine Aufsatz sollte gedruckt den Kolonialratsmitgliedern übersandt werden, der andere sollte seine Rede in der Kolonialratssitzung bilden; er gibt später diese Absicht auf“, BAB, R-1001-4308, Bl. 10. 321 Kol.Abt. an J. K. Vietor vom 7.6.1905, BAB, R 1001-4308, Bl. 11. Auf dem Durchschlag des Schreibens in der Kol. Abt. findet sich die Bemerkung: „Eilt sehr“. 322 Dem Gespräch am 23.6.1905 vorausgegangen war eine Besprechung zwischen Stuebel, Graf Zech und Geheimrat Ebermaier, dem späteren Gouverneur von Kamerun, die am 16.6.1905 in der Kolonialabteilung stattfand. Aufgrund dieser Besprechung war Vietor nach Berlin eingeladen worden, vgl. Aktenvermerk von Graf Zech vom 19.6.1905, BAB, R 1001-4308, Bl. 14.

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hinsichtlich seiner Forderungen im Reisebericht machen.323 Das fiel ihm umso leichter, als Graf Zech ihm am 19.6.1905 ein Papier vorlegte, in dem er Vietors geplantem Antrag an den Kolonialrat, zumindest für Togo, weit entgegenkam. Darin sagte er zu:324 1. „Das Gouvernement wird Anordnung treffen, daß Soldaten und Polizisten, welche ohne europäische Aufsicht zur Ausführung selbständiger Aufträge entsandt werden, tunlichst ohne Obergewehr zu entsenden sind. Wo die Unsicherheit des Landes oder die Art des Auftrages es erheischt, z. B. beim Begleiten von Geldsendungen u. anderen wertvollen Sendungen, beim Bewachen und Einbringen von Gefangenen, bei Ausführung eines Haftbefehls u. dergl. ist die Entsendung mit Obergewehr zulässig. 2. Das Gouvernement wird tunlichst leichte Gefangenenketten einführen, an welche nicht mehr als drei Gefangene angeschlossen werden können. 3. Das Gouvernement wird die Disziplinarbefugnisse von Leitern der Nebenstationen (Tokpli, Ho, Kpandu, Misahöhe, Basari, Yendi) revidieren und erforderlichenfalls einschränken; solchen Personen der erwähnten Klasse, welche keine Garantie für sachgemäße Anwendung der Prügelstrafe als Disziplinarmittel bieten, wird die Befugnis, dieses Disziplinarmittel selbständig anzuwenden, entzogen werden. Das Gouvernement wird in Erwägung ziehen, bedeutendere Häuptlinge und besonders würdige Farbige zu bestimmen, über welche Prügelstrafe nur mit Genehmigung des Gouverneurs verhängt werden darf.“

Vietor hatte in seinem Reisebericht erklärt:325 „Ich stelle den Antrag, daß der Kolonialrat die Regierung ersuchen wolle, zu veranlassen, daß 1. die Soldaten in unseren Kolonien bei ungefährlichen Aufträgen und in gesicherten Verhältnissen stets ohne Gewehr zu gehen haben. Nach dem Gespräch mit Vietor am 23.6.1905 stellte die Kolonialabteilung befriedigt fest: „V. erklärte sich durch die erhaltenen Aufschlüsse und Mitteilungen befriedigt u. wird infolgedessen davon absehen, die Aufzeichnungen im Kolonialrat zur Besprechung zu bringen“, Aktenvermerk der Kol. Abt. vom 23.6.1906, ebd., Bl. 12. Ich verdanke den Hinweis auf den Vorgang in der Kolonialabteilung im Zusammenhang mit Vietors Reisebericht Dr. Peter Sebald. 323 J. K. Vietor an Würz vom 26.6.1905, ABM, E-2,19, Bl. 17, S. 1f. Vietor teilte Würz mit, er habe Mitte Juni die Zusage von Stuebel erhalten, dass sich an den Zuständen in Kamerun etwas ändern würde. Daraufhin war für ihn klar gewesen, dass sein Vorstoss „auf gütlichem Wege“ geregelt würde. Würz hatte ihm zwei Berichte zur Landfrage in Kamerun zur Verfügung gestellt, die Vietor nach erfolgter Stellungnahme des Gouvernements, in Berlin „officiell“ vorlegen wollte. Besonders interessiert zeigte er sich auch an einem Brief des Basler Missionars Lutz vom 24.5.1905, den er Stuebel und Ebermaier persönlich vorlesen wollte, um die Berechtigung seiner Klagen damit zu bekräftigten; vgl. auch von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 379. Zwar unterließ Vietor die Verteilung seines Reiseberichts zur Sommersitzung des Kolonialrats 1905. In der Generalaussprache während der Kolonialratssitzung im Sommer 1906 holte Vietor seine Abrechnung mit der bisherigen Kolonialpolitik jedoch nach. Möglicherweise hatte Stuebel im Juni 1905 auch deswegen kein Interesse an einer Diskussion über die Behandlung der einheimischen Bevölkerung in Kamerun, da er erst im April 1905 einem Antrag der GSK auf Umwandlung von Naturalstrafen für unbotmäßige Afrikaner in Zwangsarbeit zugestimmt hatte und somit möglicherweise selbst ins Visier von Vietors Beschwerden geraten wäre, der bekanntlich ein dezidierter Gegner von Zwangsarbeit war, vgl. Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 199. 324 Aktenvermerk von Graf Zech vom 19.6.1906, BAB, R 1001-4308, Bl. 14f. 325 Vietor, 1905 (wie Anm. 311), S. 5. Zwar hatte Vietor mit Stuebel abgesprochen, auf die Verteilung seines Berichtes im Kolonialrat zu verzichten, unbeschadet davon wurde er jedoch gedruckt und kam möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt in die Öffentlichkeit.

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2. nur schwere Verbrecher und solche, bei denen Fluchtverdacht vorliegt, an der Kette gehalten werden sollen. Das Anschließen von mehr als zwei höchstens drei Leuten zusammen an einer Kette soll verboten sein. 3. Prügelstrafe nur bei Verbrechen, die eine große Gemeinheit sind, angewandt werden darf. Die Disziplinargewalt der Beamten zur Erteilung von 25 Schlägen wird aufgehoben. Ist ein Beamter gezwungen zu schlagen, um seine Autorität zu wahren, ist dem Gouverneur Anzeige zu machen.“

Vietor konnte mit den Zusagen Zechs zwar zufrieden sein, gingen sie doch alle direkt auf seine Forderungen ein, für Kamerun allerdings, wo die Verhältnisse sicher weit schwerwiegender waren, hatte er keine derartigen Zusagen erhalten. Zech war Vietor nicht zuletzt deshalb so weit entgegengekommen, weil er sich auf diese Weise im Kolonialrat, an dessen Sitzungen er am 29./30.6.1905 teilnahm, nicht zu verteidigen brauchte. Nach Vietors Einlenken hoffte Stuebel, einen erneuten Zusammenstoß der sich immer stärker herauskristallisierenden Lager im Kolonialrat verhindern zu können, was ihm umso wichtiger war, als er mit den Aufständen in Südwest- und Ostafrika alle Hände voll zu tun hatte. Dennoch prallten die Fronten in der Kolonialratssitzung am 29. und 30.6.1905 erneut aufeinander, wenn auch nicht in humanitären Fragen. Erneut zeigte sich der Kolonialrat in Fragen des Kameruner Freihandels sowie in Bezug auf die Bergwerksfrage in Südwestafrika tief gespalten. Der Versuch Scharlachs, die auseinanderdriftenden Pole im Kolonialrat durch eine Ausweitung des Ständigen Ausschusses und dessen Ausbau zu einem Exekutivausschuss zu überspielen, scheiterte vorläufig und wurde vertagt, machte den dringenden Reformbedarf des Kolonialrats aber auf unübersehbare Weise deutlich.326 Immer mehr zeigte sich, dass der Kolonialrat wegen der weit fortgeschrittenen Lagerbildung kaum noch in der Lage war, effektive Arbeit zu leisten. Stuebel weigerte sich daher, in der Frage des von Scharlach aufgebrachten Vorwurfs, die Handelshäuser wären in das Konzessionsgebiet der GSK eingedrungen und hätten einen Raubbau an Kautschukbäumen sowie Unruhen verursacht, einen Kompromiss herbeizuführen.327 Scharlach hatte gefordert, den Handelshäusern amtlicherseits Gebiete zuzuweisen, in denen sie Kautschuk gewinnen könnten, um sie damit vom Konzessionsgebiet fernzuhalten und eine Konkurrenzsituation in Zukunft zu vermeiden. Diesem Vorschlag konnten Vohsen, Staudinger und Woermann nichts abgewinnen. Vietor hielt diesen Vorschlag für eine „andere Form der Konzession“, die monopolistische Rechte verteile und damit den Freihandel unterbinde: „Dieser Weg ist heute nicht mehr gangbar.“328 Stuebel deutete jedoch an, dass er angesichts der widerstreitenden Interessen nur noch in der Verleihung von Monopolrechten an alle am Kautschukhandel beteiligten Firmen eine Lösung sähe.329 Nur wenig später 326 KR vom 29. und 30.6.1905, BAB, R 1001-6994, Bl. 16–18, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 407f. 327 KR vom 29.6.1905, BAB, R 1001-6994, Bl. 16, S. 7. 328 KR vom 29.6.1905, ausführliches Protokoll, BAB, R 1001-6982, Bl. 166, vgl. auch Vietor, J. K.: Südkamerun (Leserbrief), in: Weser Zeitung, 1905. 329 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 226; von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 377. Strandmann weist darauf hin, dass die GSK im Mai 1904 ihr Konzessionsgebiet zwar provisorisch in Besitz genommen hatte, aber wegen der sich hinziehenden Fragen und Bedingungen der Eigentumsübertragung und der steigenden Konkurrenzgefahr durch die sogenannten Ba-

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schloss er mit der GSK eine Vereinbarung, in der diese zwar auf den größten Teil ihres Konzessionsgebietes verzichtete, dafür aber für den verbliebenen Rest von 15.000 qkm volle Eigentumsrechte zugesprochen bekam, was auch das Eigentumsrecht an allen Früchten und Produkten in diesem Gebiet einschloss. Die Vereinbarung hatte für die GSK neben der Rechtssicherheit auch den Vorteil, dass sie sich damit aus der Schusslinie der öffentlichen Kritik bringen konnte und nun, als Handelsfirma, Mitglied des VWK und der Handelskammer Kribi wurde.330 Der Streit um Konzessionsgesellschaften und damit zusammenhängender Landrechte ebbte damit aber nicht ab. Im Gegenteil, im Zusammenhang mit dem Bau der Manengubabahn (Nordbahn) kam es 1905 erneut zu heftigen Auseinandersetzungen um die damit zusammenhängenden Konzessionsfragen.331 Vietor begrüßte den Ausbau des Schienennetzes ausdrücklich, weil er darin die notwendige Voraussetzung für die selbständige Teilnahme der afrikanischen Bevölkerung am Handel sah. Für eine Verwirklichung seines Leitbildes des indigenen, marktfähigen Bauernstandes, war der Ausbau der Infrastruktur unumgänglich. Getreu seiner bodenreformerischen Überzeugung musste der Ausbau des Schienennetzes in staatlicher Hand erfolgen.332 Nachdem der Reichskanzler dem Reichstag am 4.5.1905 einen Gesetzentwurf für die Übertragung einer entsprechenden Bahnkonzession vorgelegt hatte, die unter anderem eine Zinsgarantie des Reiches auf einen Teil des privat eingesetzten Kapitals vorsah,333 kam es in den folgenden Wochen, abgesehen von der ohnehin ablehnenden SPD, zur Bildung einer interfraktionellen und teilweise außerparlamentarischen Opposition, die auch von konservativ-antisemitischen Splittergruppen getragen wurde. Zunächst war der Gründer des DeutschVolklichen Kolonialvereins, Emil Theodor Förster, auf die Basler Mission zugegangen, um sie für ein gemeinsames Vorgehen gegen die Eisenbahnvorlage zu bewe-

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tangafirmen schließlich zu einer Rückgabe der Konzession bereit war. Dadurch sparte sich die GSK auch die Vermessungskosten für das riesige Gebiet, ebd. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 226. Unangefochten war der ausschließliche Anspruch der GSK auf das verbliebene Land jedoch keinesfalls. Erzberger wies darauf hin, daß, da sich das verbleibende Gebiet der GSK im Vertragsgebiet der Kongoakte befände, auch hierfür weiterhin ein Anspruch auf Freihandel geltend gemacht werden könne. Damit widersprach er zumindest der Abschließung des Gebietes für den freien Handel, vgl. SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 71. Sitzung vom 20.3.1906, S. 2174. Zur Entstehungsgeschichte der Kamerun Eisenbahngesellschaft und den Auseinandersetzungen im Zuge der Konzessionserteilung vgl. Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 163–168; Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 226f. Vietor, 1907 (wie Anm. 225). Entwurf eines Gesetzes betreffend Übernahme einer Garantie des Reichs in bezug (sic) auf eine Eisenbahn von Duala nach den Manengubabergen, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 776, S. 4487. Es folgt die Bau- und Betriebskonzession für die Kamerun Eisenbahngesellschaft, ebd. S. 4488–4506. Nach dem Gesetzentwurf garantierte der deutsche Staat für 11 der insgesamt 17 Millionen Mark Gesellschaftskapitals eine Verzinsung von 3 %, ebd. S. 4487. Stuebel bezeichnete bereits diese nur teilweise gewährte Zinsgarantie als Erfolg, da immerhin 6 Millionen Mark aus privater Hand gänzlich ohne staatliche Absicherung investiert würden, in seinen Augen ein großer Fortschritt zu früheren Zeiten, auch wenn das Reich, beginnend ab 1910 für 86 Jahre jährliche Zinsen und Lasten in Höhe von 375.000,- Mark zu bezahlen hätte, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 183. Sitzung vom 11.5.1905, S. 5939.

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gen.334 Daraufhin hatte Vietor, auf Drängen Basels, die Handelskammer Bremen dazu veranlassen können, eine Eingabe an den Reichstag zu richten, in der sich die Kammer, ganz im Sinne Vietors,335 grundsätzlich für den Bau einer Eisenbahn in staatlicher Hand aussprach, zumindest aber wesentliche Änderungen am Konzessionsvertrag forderte.336 Zum Erstaunen Vietors machte die Eingabe der Handelskammer jedoch keinen besonderen Eindruck auf die Budgetkommission des Reichstages,337 im Gegenteil. Während Stuebel den Bedenken der Handelskammer keine „allzu große Bedeutung“ beilegen wollte und sich überzeugt zeigte, dass sich leicht ganz anderslautende, zustimmende Kommentare aus den Reihen hanseatischer Kaufleute finden würden, auch aus Bremen, griffen Mitglieder des Budget334 Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 150, vgl. auch Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 149f. Im Sommer 1904 hatte der Deutschvolkliche Kolonialverein versucht, allerdings vergeblich, Vietor zum Austritt aus der DKG und zum Anschluss an den eigenen Verein zu bewegen, vgl. Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 108. Der Deutschvolkliche Kolonialverein vertrat, im Gegensatz zur DKG, die nach wie vor stark unter dem Einfluss des Großkapitals stand, die Interessen von Siedlern und Kleinunternehmern. 335 Auf dem Kolonialkongress vom 5. –7.10.1905 unterstrich Vietor die Forderung nach Staatsbahnen und verwies im Hinblick auf Kamerun auf das Beispiel in Togo, wo der Bau auf Grundlage von Staatsanleihen verwirklicht worden war. In Anspielung auf die geplanten Zinsgarantien des Reiches für den Bahnbau in Kamerun warnte er davor, „ein Machtmittel, wie es der Besitz einer Bahn in unsern Kolonien ist, aus der Hand zu geben und einer Gesellschaft zu überlassen, zumal sie nicht einmal gewillt ist, das ganze Risiko zu übernehmen, sondern die Hauptverantwortung dem deutschen Steuerzahler überläßt“, Vietor, J. K.: Der Handel der deutschen Kolonien. Sektionssitzung am 6. Oktober, nachmittags, in: Deutscher Kolonialkongress (Hrsg.): Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses zu Berlin am 5., 6. und 7. Oktober 1905, Berlin 1906, S. 629–637, 632. Der Beitrag Vietors wurde auch abgedruckt in Vietor, 1905 (wie Anm. 252), hier: 171; Nach Meinung der NMG fand Vietors Beitrag „viel Beachtung“, in: MB, 1905, S. 95. 336 Die Eingabe der Handelskammer Bremen vom 13.5.1905 findet sich in: ABM, E-2,19, Bl. 10, S. 1–9. Darin machte die Kammer aus ihrer Skepsis kolonialen Konzessionserteilungen gegenüber keinen Hehl und forderte zumindest deutliche Verbesserungen. Es sei nicht hinzunehmen, dass die Betreibergesellschaft in den ersten fünf Jahren nach Eröffnung der Bahn die Preisgestaltung für Personen- und Güterverkehr alleine und ohne Kontrollmöglichkeiten des Reiches betreiben könne (zu § 4, Ziffer 5). Kronland solle nur vergeben werden, wenn es sofort in Bearbeitung genommen würde, es müsse ein „kurzfristiger Betriebszwang“ verlangt werden (zu § 11). Das wäre eine nicht unerhebliche Forderung, da die Bahn bei einer Gesamtlänge von 160 km und einem zwei Kilometer breiten Landstreifen entlang der Trasse insgesamt ein Gebiet von 320 qkm Land zugesprochen bekäme. Hinzu kamen am Endpunkt der Bahnlinie weitere 100 qkm, für die erst nach 15 Jahren ein Betriebszwang vorgeschrieben war (zu § 11, Abs. 2), ein viel zu langer Zeitraum in den Augen der Kammer. Für die in § 12 übertragenen Bergbaurechte in einem Gebiet von 800 qkm müßte ebenfalls ein kurzfristiger Schürfzwang gefordert werden. § 24 (Scheitern des Unternehmens) müßte dahingehend geändert werden, dass im Falle eines Scheiterns des Unternehmens nicht das Land, dass das Unternehmen bis dahin bereits erworben hatte ihm verbliebe, sondern nur das, was sie bereits in Betrieb genommen hätte. Vgl. auch den Kurzbericht über die Eingabe in: Handelskammer Bremen: Bericht der Handelskammer in Bremen über das Jahr 1905 erstattet an den Kaufmannskonvent, Bremen 1906, S. 29f. Vietor lobte später Dernburg insbesondere wegen dessen Ziel, Kolonialbahnen in öffentlicher Hand bauen zu lassen, Vietor, Vergangenheit und Zukunft, 1907 (wie Anm. 225), S. 10. 337 J. K. Vietor an Würz vom 22.5.1905, ABM, E-2,19, Bl. 4.

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ausschusses die Kammer direkt an. Wenn sie Bedenken wegen der Zinsgarantien des Reiches hätte, sollten sich doch Bremer Kaufleute an dem Eisenbahn-Konsortium beteiligen, sodass ausreichend Kapital vorhanden wäre und damit die Notwendigkeit einer Garantie des Reiches entfiele. Stuebel räumte zwar ein, dass England die kolonialen Bahnen in Staatseigentum baue, sah aber im französischen Modell das Vorbild für Deutschland, da es ebenfalls auf privatwirtschaftlicher Konzessionsbasis beruhte. Auch Frankreich habe im tropischen Afrika den entsprechenden Konzessionsgesellschaften jeweils weitreichende Vorrechte als Gegenleistung einräumen müssen.338 Vietor verwies demgegenüber darauf, dass die französische Kolonialverwaltung in Dahomey die vergebenen Eisenbahnkonzessionen mit hohem finanziellem Aufwand zurückerwerben musste.339 Vietor hatte auch, auf Wunsch Basels, dem deutsch–sozialen Reichstagsabgeordneten und Kolonialreferenten des Alldeutschen Verbands,340 Wilhelm Lattmann, geschrieben und ihm für seine bisherigen Stellungnahmen gedankt, da sie ganz seinen eigenen kolonialpolitischen Vorstellungen entsprachen.341 Lattmann hatte bereits während der ersten Lesung des Gesetzentwurfes am 11.5.1905 den Bau der Bahn in staatlicher Hand gefordert und vor einer möglichen Förderung der GNWK durch die Konzessionsverleihung gewarnt, von der einige Vertreter auch zum Bahnsyndikat gehörten.342 Er hatte sich 338 SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 833, S. 4823. Stuebels Verweis auf die französische Praxis des Eisenbahnbaus in Konzessionsform entsprach zum Zeitpunkt seiner Rede bereits nicht mehr der offiziellen Politik Frankreichs. Lediglich die Bahnlinie Dakar-St.Louis (Senegal), die mit einer Länge von 264 km bereits 1885 eröffnet worden war, wurde auf dem Wege einer Konzession privatwirtschaftlich gebaut. Alle folgenden Bahnprojekte in französisch Westafrika, bis auf die Strecke Cotonou-Paraku (Dahomey), wurden seither in staatlicher Hand verwirklicht, Röll, Freiherr von, in: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 5, Berlin, Wien2 1914, S. 198–204. 339 Vietor, 1905 (wie Anm. 252), S. 171. Die Marseiller Kaufleute Mante & Borelli hatten im Zusammenhang mit dem privatwirtschaftlich finanzierten Bau der Bahn zwischen Cotonou und Paraku im Juni 1901 einen Konzessionsvertrag mit 75jähriger Laufzeit erhalten. Wegen der für Dahomey „unhaltbaren“ und „drückenden“ Bedingungen wurde am 24.8.1904 ein neuer Vertrag geschlossen, durch den die Kolonie den Bau an sich zog, Röll, Enzyklopädie, 1914 (wie Anm. 338), S. 202. 340 Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 149. Die deutsch-soziale Partei gehörte, wie auch die christlich-soziale Partei, zur Fraktion der Wirtschaftlichen Vereinigung, einer Vereinigung kleinerer konservativer, teilweise antisemitischer Splittergruppen, Buchheim, Karl: Stoecker und die Christlich-Sozialen, in: Buchheim, Karl (Hrsg.): Geschichte der christlichen Parteien in Deutschland, München 1953, S. 239–295, 292f. Buchheims Hinweis, dass sich der Wirtschaftlichen Vereinigung 1912 auch die Welfen und die Freikonservativen angeschlossen hätten und die Fraktion fortan „Deutsche Fraktion“ geheißen hätte, ist nicht korrekt. Zur Bildung der Deutschen Fraktion kam es erst Anfang 1916, siehe Kapitel 5.3.3. 341 J. K. Vietor an Preiswerk vom 20.5.1905, ABM, E-2,19, Bl. 3; J. K. Vietor an Würz vom 22.5.1905, ebd., Bl. 4; J. K. Vietor an Lattmann vom 19.5.1905, ebd., Bl. 2. 342 An dem 1900 gegründeten Syndikat zum Bau einer Eisenbahn von der Küste in Richtung Tschadsee, das am 8.9.1902 eine auf drei Jahre befristete Vorkonzession erhalten hatte, waren auch Vertreter der GNWK wie Max Schoeller und Adolf Woermann beteiligt. Julius Scharlach war über die Eisenbahnbaufirma Lenz & Co. in Stettin beteiligt. Nachdem das Syndikat keine ausreichenden Finanzen aufbringen konnte, bildete sich 1904 ein Finanzkonsortium, das von mehreren Großbanken getragen wurde und in den Folgeverhandlungen das ursprüngliche Syndikat ausschaltete. Damit verlor die GNWK zwar weitgehend ihre Einflußmöglichkeiten auf

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auch ausdrücklich dagegen ausgesprochen, die Gesetzesvorlage im Eiltempo bereits in den nächsten Tagen verabschieden zu wollen und sich verwundert gezeigt, warum die Betreibergesellschaft plötzlich Zinsgarantien verlange, nachdem sie bei Erteilung der Vorkonzession 1902 noch auf jede Forderung dieser Art verzichtet hatte. Ähnlich wie die Handelskammer Bremen, die sich an seinen Ausführungen orientiert haben mag, bemängelte er auch Unklarheiten und nicht nachvollziehbare Vorteile in Bezug auf die mit der Bahnkonzession einhergehenden Land- und Bergwerksrechte, insbesondere für den Fall des Scheiterns der Betreibergesellschaft.343 Für Lattmann bestand das Problem nicht in erster Linie in der Frage einer privaten oder staatlichen Trägerschaft der Bahn, sondern vielmehr darin, dass die geplante private Betreibergesellschaft zugleich auch monopolistische Konzessionen für Handel und Grundbesitz erhalten sollte.344 Am 24.5.1905 kam es dann, während der Reichstagsverhandlungen über die Bahnvorlage, in Berlin zu einer Sitzung der inzwischen weiter angewachsenen oppositionellen Gruppe, zu der parlamentarische Vertreter der Konservativen, der Deutsch–Sozialen, der Christlich–Sozialen, des Bundes der Landwirte, der Deutschen Reformpartei345 und auch des Zentrums erschienen. Aus Basel war der Missionssekretär, Friedrich Würz, gekommen, von der Orientmission Dr. Lepsius, der die Sitzung leitete.346 Auch der Verbindungsmann der protestantischen Missionen im Kolonialrat, Berner, war angereist, ebenso Vietor, der entgegen seiner ursprünglichen Absicht, auf Drängen seines Basler Freundes Wilhelm Preiswerk gekommen war. Nachdem er Lattmann geschrieben und die Handelskammer Bremen zu ihrer Eingabe bewegt hatte, dachte er „eigentlich, daß ich damit genug gethan hätte“, da er ja geschäftlich gar nicht in Kamerun engagiert war und daher „persönlich an der Sache nicht interessiert“ war. An einer öffentlichen Agitation wollte er nicht teilnehmen und sich auch nicht parteipolitisch in dieser Frage positionieren. „Ich kann aber die Regierung und Kolonialgesellschaft beeinflussen und ich habe die Absicht, in Essen eine Rede zu halten. Dann muß ich mich aber nicht auf einzelne Menschen und Partheien (sic) festlegen.“347 Würz machte klar, dass die Zusammenkunft für ihn wegen der Sorge um das Schicksal der afrikanischen Bevölkerung in Kamerun von besonderer Bedeutung

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den Bahnbau, konnte aber prinzipiell, da die Trasse durch ihr Gebiet verlief, weiterhin weitgehende Forderungen stellen, vgl. Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 163–168. Der Einfluss des ursprünglichen Syndikats blieb insofern erhalten, dass es für drei seiner Vertreter einen Aufsichtsratssitz in der Kamerun-Eisenbahngesellschaft sichern konnte, sofern diese sich finanziell an der neuen Gesellschaft beteiligten, vgl. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 833, S. 4823. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 183. Sitzung vom 11.5.1905, S. 5950f. Deutscher Kolonialkongress (Hrsg.): Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses zu Berlin am 5., 6. und 7. Oktober 1905, Berlin 1906, S. 640. Zur Deutschen Reformpartei, die ihren Schwerpunkt in Sachsen hatte und bei der Reichstagswahl 1903 sechs Mandate gewinnen konnte, sich anschließend aber nicht der Wirtschaftlichen Vereinigung anschloß, vgl. Piefel, Matthias: Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879–1914 (Berichte und Studien / Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung; 46), Göttingen 2004. Reichsbote 122 (1905), 2. Beilage. J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk vom 20.5.1905, ABM, E-2,19, Bl. 3. In Essen fand 1905 die Hauptversammlung der DKG statt, zu der auch Vertreter der Abteilung Bremen reisten, 5. Jahresbericht der Abt. Bremen der DKG für das Jahr 1905, StuUB, Brem.c.619 Nr. 41, S. 8.

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sei, da die Frage auch auf die missionarische Arbeit abfärbe. Durch den Bahnbau dürften die zahlreichen von der Mission aufgebauten Gemeinden nicht zerstört werden, die Ereignisse am Kamerunberg dürften sich nicht wiederholen. Da durch den Eisenbahnbau in neue Gebiete vorgedrungen werde, bräuchte es feste Garantien für eine gute Behandlung der dort ansässigen Bewohner, insbesondere bei den notwendig werdenden Reservatszuteilungen. Diese müssten erfolgen, bevor Land für den Bahnbau als Kronland vergeben würde. Die Reservatsvergabe müsse unter Einbeziehung der einheimischen Bevölkerung im Rahmen der Arbeit einer Landkommission erfolgen, zu der auch ein Vertreter der Mission gehören müsse.348 Die Reservate müssten deutlich größer ausfallen als bislang üblich, gewalttätige Arbeiteranwerbungen müssten außerdem verhindert werden. Dann stellte Würz die Frage nach der Recht- und Zweckmäßigkeit der GNWK, durch deren Gebiet die Trasse verlaufen sollte und die dadurch stark profieren würde. Würz bezweifelte, dass die Regierung überhaupt noch Herr über die Konzessionsgesellschaften sei. Am Kamerunberg hätte sie auf die Klagen der Mission keinesfalls adäquat reagiert. Würz fürchtete nun um den Bestand der gesamten Missionsarbeit, da eine missionarische Arbeit nicht denkbar wäre, wenn die Bevölkerung durch die Kolonialherren verbittert würde. Vietor und Berner stimmten Würz in seiner Kritik der Konzessionsgesellschaften zu. Für Vietor war klar, dass sich die Konzessionsgesellschaften Rechte anmaßten, die ihnen nicht zuständen.349 Tatsächlich gelang es, die Eisenbahnvorlage im Reichstag, trotz Zustimmung und Empfehlung des Budgetausschusses, zunächst zu Fall zu bringen. Erst im Frühjahr 1906 konnte der Konzessionsvertrag in dritter Lesung durch das Parlament gebracht werden, nachdem die Basler Mission aus der ungleichen Koalition mit Alldeutschen, Antisemiten und Siedlern ausgeschieden war.350 Die Auseinandersetzungen um die Konzession der GNWK waren damit jedoch nicht beendet. Bereits die Budgetkommission hatte im Mai 1905 in einer Resolution an den Reichstag die Überprüfung und Revision aller Landkonzessionen in Kamerun gefordert. Neue Konzessionen müssten neben einem Zwang zur Erschließung des Landes auch festlegen, der einheimischen Bevölkerung ausreichend Land vorzubehal348 Damit bezieht sich Würz ohne Frage auf die kurz vorher erfolgte Abberufung des Basler Vertreters aus der Landkommission, die nach Gründer die endgültige Entscheidung Basels hervorgerufen hatte, sich einer Koalition für die Abberufung Puttkamers anzuschließen, vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 149. 349 Reichsbote 122 (1905), 2. Beilage. 350 Den Rückzug der Basler Mission aus der Front gegen die Eisenbahnvorlage hatte nicht zuletzt Erzberger mit seinem Vorwurf ausgelöst, die Vorlage wäre am Widerstand Basels wegen deren wirtschaftlicher Konkurrenz zur GNWK gescheitert. Hinzu kamen Vorwürfe des Nationalliberalen Abgeordneten Semler, der behauptete, Basler Missionare würden die Bevölkerung in Kamerun gegen die Verwaltung aufwiegeln, vgl. Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 151–153. Auch Vietors Appell an die Basler Mission Anfang 1906, angesichts der drohenden Annahme der Eisenbahnvorlage wieder in die Reihen der Gegner derselben einzutreten, änderte daran nichts, ebd., S. 150. Im weiteren Verlauf des Jahres 1906 griff die Koloniale Zeitschrift die Basler Mission an und unterstellte ihr im Zusammenhang mit dem Disziplinarverfahren gegen Puttkamer folgenschwere unrichtige Behauptungen, die unter Eid widerlegt worden seien, Die Tätigkeit der Mission in den Kolonien 1904/06 und ihr Wirken in der Puttkamerangelegenheit, in: Koloniale Zeitschrift 1906, S. 309–311.

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ten.351 Auf einen entsprechenden Antrag legte Stuebel auch die Akten des Kolonialratsausschusses von 1902/03 zur Landfrage in Kamerun vor, was mit dazu beitrug, dass die Budgetkommission einen Antrag annahm, mit dem der Reichskanzler aufgefordert wurde, zur Überprüfung der gesamten Landsituation in Kamerun eine Kommission einzusetzen, zu der auch Reichstagsabgeordnete und koloniale Sachverständige hinzugezogen werden sollten.352 Mit dieser Aufgabe wurde ab März 1906 die Kommission der Landgesellschaften für Südwestafrika beauftragt, die sich mit den Kameruner Verhältnissen allerdings nicht umgehend beschäftigen konnte.353 Unabhängig davon musste die GNWK eine herbe Niederlage einstecken, als das gemeinsam mit der Kolonialabteilung angerufene Schiedsgericht am 28.5.1906 feststellte, dass die Übereignungserklärung vom 17.8.1901 mangelhaft wäre und damit nichts rechtsgültig.354 Damit verschlechterte sich die Position der GNWK in den folgenden Auseinandersetzungen mit der Kolonialabteilung, da sie nur im Besitz von Ansprüchen auf Land war, aber nicht auf rechtskräftige Eigentumsübertragungen in größerem Stil verweisen konnte. Nachdem sie sich schließlich, ähnlich wie die GSK 1905, 1910 zwar bereit erklärte, auf 60 % ihres Konzessionsgebietes zu verzichten, aber gleichzeitig auf die Erstattung von Erschließungskosten in Höhe von 2.280.000,- Mark bestand, trat der neue Kolonialstaatssekretär von Lindequist am 21.10.1910 vom Konzessionsvertrag zurück. Seine Begründung, die GNWK erfülle nicht ihre Pflichten in Bezug auf den Wegebau, war dabei nur der juristische Angelpunkt, nicht aber der substantielle Hintergrund.355 Die Landfrage in Togo und der Konflikt mit der DTG356 Stärker als in der Landfrage zu Kamerun war Vietors Einfluss auf die Landfrage in Togo. Nur zwei Wochen nach Beginn der Arbeit der Kolonialratskommission zur Landfrage in Kamerun und Togo erhielt er Nachricht über umfangreiche Landkäufe der DTG in Togo, die geeignet erschienen, auch hier monopolistische Strukturen zu etablieren, die den freien Handel gefährdeten und die Entwicklung eines freien 351 SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 833, S. 4829. 352 „Die Kommission stimmte einem Antrag zu: Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, zur Prüfung der Rechte und der Pflichten und der bisherigen Tätigkeit der Land- und Bergwerksgesellschaften in Kamerun eine Kommission zu berufen, zu welcher vom Reichstag zu wählende Mitglieder des Reichstags und koloniale Sachverständige zuzuziehen sind. Der Herr Reichskanzler wird ersucht, den Bericht der Kommission den gesetzgebenden Körperschaften mit Vorschlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände mitzuteilen“, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 833, S. 4827f. 353 Vgl. die Kritik an dieser Verzögerung durch Erzberger am 20.3.1906, SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 71. Sitzung vom 20.3.1906, S. 2174; vgl. Schiefel, 1974 (wie Anm. 158), S. 99f. 354 Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 168, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 226. 355 Vgl. Ballhaus, 1968 (wie Anm. 154), S. 172f. Die Klage der GNWK gegen den Entzug der Konzession zog sich bis 1914 hin und erledigte sich erst nach dem Weltkrieg in Form einer Erstattung vom Reichsentschädigungsamt über 734.000,- Mark, ebd. S. 178. 356 Zur Auseinandersetzung der Togokaufleute, Vietors und der Landkommission mit der DTG vgl. Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 43–46, 86–93; Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 247f., 377–380; Knoll, 1978 (wie Anm. 7), S. 133–137.

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Bauernstandes behinderten. In Begleitung des Kaiserintimus Sholto Graf Douglas hatte Hupfeld 1897 eine kostspielige Expedition nach Togo unternommen, bei der es offiziell um mineralogische Untersuchungen ging.357 Als er 1898 erneut nach Togo reiste, spielte die Suche nach Bodenschätzen ganz offensichtlich keine entscheidende Rolle mehr, auch wenn er dies offensichtlich weiterhin behauptete.358 Der Zeitpunkt des Vorstoßes von Douglas und Hupfeld in Togo steht in auffälliger Parallele zu den ebenfalls 1898 stattfindenden Verhandlungen über eine Konzessionserteilung für die spätere GSK in Kamerun, an der Sholto Douglas maßgeblich beteiligt war. Offensichtlich versuchte Douglas nicht nur in Kamerun, sondern auch in Togo, wenn nicht die Grundlage zur Erteilung einer Konzession zu legen, so doch zumindest eine dominierende Vorrangstellung in Handel und landwirtschaftlicher Produktion zu erwerben.359 In schneller Folge schloss Hupfeld während der zweiten Reise 1898 insgesamt 17 Landverträge ab, die ihn nach eigenen Angaben in den Besitz von etwa 85.000, resp. 100.000 ha Land brachten.360 Die Gouvernementsverwaltung ging Ende 1904 sogar von 110.000 ha aus.361 Der Landbesitz gelangte zunächst in den Besitz der Montan- und Industriegesellschaft mit Sitz in Berlin sowie der Togo-Handels- und Plantagengesellschaft in Hamburg, die beide im Besitz von Sholto Douglas waren. Aber erst als die DTG im Vorfeld ihrer Grün357 Hupfeld gibt die Kosten der ersten Reise 1897 mit 110.000,- Mark an. Für die zweite Reise, 1898, setzt er dagegen nur 9.000,- Mark an, wobei die Kosten für seinen Begleiter, Prof. Wohltmann, und eine weitere Person, allerdings nur anteilig eingerechnet sind, vgl. Hupfeld an die Kol. Abt. vom 28.4.1904, Anlage „Der Landbesitz der Deutschen Togogesellschaft“, BAB, R 1001-3643 Bl. 17. 358 Der NMG Missionar Freyburger berichtete, dass Hupfeld bei seinen Landkäufen 1898 von etwa 12 Männern begleitet wurde, die militärisch aussehende Kleidung trugen, mit Gewehren bewaffnet waren und ihn auf seiner Suche nach Mineralien begleiteten. Die so ausgerüstete Begleitung sorgte für eine nicht unwesentliche Einschüchterung der einheimischen Bevölkerung, was bei den Vertragsabschlüssen eine entscheidende Rolle spielen sollte, vgl. Brief Freyburgers vom 28.4.1904, den Vietor seinem Schreiben an Stuebel vom 13.6.1904 als Anlage beilegte, BAB, R 1001-3643, Bl. 34–37. Allein die Tatsache, dass die Reise von 1898 nicht einmal ein Zehntel der Kosten der Reise von 1897 verursachte, spricht für eine eher vorgeschobene Reisebegründung. 359 Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 44. Sebald geht davon aus, dass Douglas von Puttkamer dazu angeregt wurde, in Togo zu größeren Landkäufen zu schreiten, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 158. 360 Im „Prospekt der Deutschen Togogesellschaft“ vom April 1902, der u.a. für potentielle Investoren noch vor Gründung der DTG publiziert wurde, werden 45.000 ha am Agu bei Misahöhe und weitere 40.000 ha in Boem angegeben. In einer Stellungnahme gegenüber der Kolonialabteilung von 1904 schätzte Hufpeld den Landbesitz dagegen auf etwa 100.000 ha, BAB, R 10013642, Bl. 6; vgl. auch R 1001-3643 Bl. 18. Die Verträge wurden i.d.R. in einem zweifachen Schritt geschlossen. Zunächst wurden Vorverträge mit Hupfelds Beauftragtem von Hagen bzw. dessen Mitarbeiter Gbogbo geschlossen. Bei Hupfelds persönlichem Erscheinen kam es dann zu erneuten Vertragsabschlüssen, die inhaltlich nicht immer identisch waren mit den Vorverträgen und ggf. weitere Verschlechterungen für die einheimische Bevölkerung mit sich brachten, vgl. die richterlichen Vernehmungs–Protokolle von 1899 mit verschiedenen Häuptlingen, BAB, R 1001-3643, Bl. 82–92, vgl. dazu auch den Bericht Freyburgers, BAB, R 1001/3643, Bl. 34–37. 361 Kais. Gouvernement von Togo an Kol. Abt. vom 30.12.1904, BAB, R-1001-3643, Bl. 65f.

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dung den Besitz dieser enormen Landflächen als schlagendes Argument für potentielle Investoren öffentlich ins Feld führte, regte sich Widerstand aus den Reihen der in Togo interessierten Handelskonkurrenz. Deren Befürchtungen waren wohlbegründet, gab der Werbeprospekt der DTG vom April 1902 doch unverblümt zu, dass die zu gründende Gesellschaft einen besonderen Wettbewerbsvorteil habe, da sie in einem Umfang über Landbesitz verfüge, „wie ihn in so günstiger Lage und zu so mäßigen Preisen überhaupt kaum jemand wieder in Togo erwerben kann.“ Man war sicher, dieser Vorteil würde der neuen Gesellschaft eine „dominierende Stellung“ verschaffen.362 Der sich nun regende Widerstand der Togokaufleute war daher ohne Frage in erster Linie wirtschaftlich und nicht humanitär motiviert. Ob die Landkäufe in Togo jedoch schon vorher seit Jahren bekannt gewesen und nur deswegen nicht von den dortigen Kaufleuten beanstandet worden waren, weil sie bislang keinen erkennbaren Einfluss auf die Handelsgeschäfte hatten, muss bezweifelt werden.363 Inwieweit Einzelheiten über die Landkäufe eine breitere Öffentlichkeit erreichten bleibt selbst angesichts der vorläufigen Weigerung Gouverneur Köhlers, die Verträge anzuerkennen, unsicher.364 Offensichtlich kursierten nur Gerüchte. Als der Abgeordnete der Reichspartei, von Arnim, von Buchka am 23.5.1900 im Reichstag die Frage stellte, ob an verschiedentlichen Zeitungsberichten etwas dran wäre, dass Sholto Douglas in Togo eine Konzession erteilt werden solle, konnte er offensichtlich nicht auf konkrete Informationen zurückgreifen. Ein Verweis auf die Verträge Hupfelds fehlt in seiner Anfrage, nicht aber der Hinweis auf Douglas Beteiligung an der GSK.365 Da es tatsächlich zu keinen Konzessionserteilungen in Togo kam, konnte von Buchkas Antwort, von Arnim solle nicht alles glauben, was 362 „Prospekt der Deutschen Togogesellschaft“ vom April 1902, BAB, R 1001-3642, Bl. 6. 363 Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 247, 377 f. Seebald geht davon aus, dass die Landkäufe Hupfelds in Togo seit Jahren bekannt gewesen und bereits viel früher energisch hätten bekämpft werden können, hätten die Kaufleute wirklich das Gesamtwohl im Auge gehabt. Quellen für ein frühzeitiges Wissen der Konkurrenz um die Landkäufe gibt Sebald nicht an. Richtig ist, dass Friedrich Hupfeld in der späteren Auseinandersetzung ein frühzeitiges Wissen der Konkurrenz unterstellte. Für ihn war es auffällig, dass die Handelsfirmen erst zu einem Zeitpunkt gegen die DTG vorgingen, als klar wurde, daß diese sich zu einem ernstzunehmdem Konkurrenten entwickelte. So lange die Vorgängergesellschaft der DTG nur die Agupflanzung betrieben hatte, wären dagegen keine Beschwerden laut geworden. Erst mit Aufnahme des Faktoreibetriebes durch die DTG wären die Angriffe aufgenommen worden, Hupfeld an Kol. Abt. vom 28.4.1904 („Der Landbesitz der Deutschen Togogesellschaft“), BAB, R 1001-3643, Bl. 18f. Ganz ähnlich argumentierte Hupfeld ein Jahr später auch gegenüber Vietor, dem er in gleicher Weise vorwarf, von den Landkäufen bereits frühzeitig gewußt zu haben, aber seine auf Handelsneid beruhende Kampagne gegen die DTG erst mit Aufnahme des Faktoreibetriebes der DTG losgetreten zu haben, F. Hupfeld an J. K. Vietor vom 5.8.1905, StAB, 7,1025-45,4, S. 2. 364 Köhler akzeptierte nur acht der 18 Verträge und unterstellte Hupfeld Betrug, da er bei den Abschlüssen uniformierte Männer mitgebracht hatte, die den Verkäufern den Eindruck vermittelten, er sei ein Regierungsbeamter. Nach einer heftigen Beschwerde von Douglas bei der Kolonialabteilung wegen derartiger Beanstandungen, erhielt Köhler die Order, Douglas so weit als möglich entgegenzukommen. In der Kolonialabteilung war man nach der Intervention von Douglas und dessen Drohungen, sein gesamtes Kapital aus Togo zu ziehen zu der Überzeugung gekommen, alle Verträge wären als einwandfrei einzustufen, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 365. 365 SBR, 10. Leg. per., 1. Sess., 201. Sitzung vom 23.5.1900, S. 5721.

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in Zeitungen stehe, als Beweis für ungerechtfertigte Gerüchte gelten. Allerdings räumte von Buchka ein, Douglas hätte in den letzten beiden Jahren „einige Plantagenländereien in Togo“ erworben, worauf sich die Gerüchte wohl gründeten, allerdings „für sein gutes Geld.“ Assoziiert man „gutes Geld“ mit einem anständigen Preis, muss man von Buchkas Aussage als glatte Lüge werten. Das gleiche gilt für von Buchkas unschuldigen Hinweis, man könne ja keinem Menschen verwehren „in den Kolonien für sein gutes Geld Plantagen zu kaufen.“366 Eben das, die Verwehrung der Kaufvertragsgenehmigungen aufgrund mangelhafter Konditionen, hatte ja in seiner Hand gelegen und lag nach Köhlers Beanstandungen mehr als nahe. Von Buchkas Verantwortung am Zustandekommen der Rechtmäßigkeit der Verträge musste Stuebel daher einige Jahre später indirekt einräumen. Während den Verhandlungen der Budgetkommission des Reichstages über die DTG Verträge wurde im Frühjahr 1904 bemängelt, dass Verträge zwischen Landgesellschaften und Häuptlingen dem Reichstag nicht regelmäßig zur Kenntnis gebracht würden, woraufhin Stuebel klarstellte, dass dies bei großen Landabtretungen und Konzessionsverträgen sehr wohl der Fall wäre. Nur bei kleineren Vertragsabschlüssen, die das Gouvernement zu entscheiden hätte, würde darauf verzichtet. In dem Fall erhielte die Zentralbehörde keine Mitteilung.367 Dass es sich bei den Landerwerbungen der DTG nicht um kleine Verträge handelte, lag auf der Hand, auch wenn der Landkauf de jure in 17 Einzelverträge zerfiel. Von Buchka hatte sich demnach, zumindest faktisch, einer unterlassenen Mitteilung an den Reichstag schuldig gemacht und damit eine öffentliche Kenntnis der Landkäufe erschwert. Vietor jedenfalls hatte erst am 19.12.1902 die Mitteilung von Missionsinspektor Schreiber erhalten, dass die DTG über umfangreiche „Vorkaufsrechte“ im Innern Togos verfüge.368 Schreiber hatte am gleichen Tag mit Hupfeld gesprochen, der ihn besucht und ihm mitgeteilt hatte, dass die DTG nicht gewillt sei, der NMG Landvorkaufsrechte innerhalb des von ihr gekauften Gebietes einzuräumen. Das war der Auslöser für Schreibers Appell an Vietor, er solle „der Frage näher treten, ob eine Gesellschaft durch Sicherung des Vorkaufsrechtes eine ganze Landschaft mit Beschlag belegen kann, sodass jeder andere Landerwerb von ihrer Genehmigung abhängen soll.“369 366 SBR, 10. Leg. per., 1. Sess., 201. Sitzung vom 23.5.1900, S. 5722. 367 SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 457, S. 2497f. Die DTG Verträge stellten einen Grenzfall dar. Einerseits handelte es sich um 18 Einzelverträge, bei denen der einzelne Vertrag jeweils für sich genommen noch nicht die Qualität einer dem Reichstag mitzuteilenden Größenordnung hatte. Andererseits hätte die Kumulierung der Verträge in der Hand eines Käufers durchaus eine entsprechende Mitteilung erforderlich gemacht. Zudem war die Zentralbehörde in Berlin eingeschaltet worden und hatte die Verträge selbst geprüft. Die 17 Landkäufe Hupfelds von 1898 wurden zwar auf Druck der Kolonialabteilung von Köhler am 23.11.1899 genehmigt, aber formal eben über das Gouvernement und nicht über die Kolonialabteilung. Vgl. auch: Verzeichnis aller Landkaufverträge der DTG zwischen 1898–1904, BAB, R 1001-3645, Bl. 118– 120, 119. 368 Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 87. Noch im Juni 1904 hatte Vietor kein „autentisches“ (sic ) Material über die Gründung der DTG, womit er offensichtlich auf die Kaufverträge anspielte, J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 13.4.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 12f.; Kol. Abt. an J. K. Vietor vom 23.4.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 14f. 369 Schreiber an Vietor vom 19.12.1902, zit. nach Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 87.

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So ins Bild gesetzt, zögerte Vietor nicht und reichte zusammen mit anderen in Togo aktiven Firmen des VWK am 22.12.1902 eine Eingabe bei der Kolonialabteilung ein.370 Da Vietor die Antwort der Kolonialabteilung vom 8.1.1903 als nicht ausreichend erschien, übersandte er dieselbe an den VWK mit der Bitte, ebenfalls Druck auf die Kolonialabteilung auszuüben. In der Vorstandssitzung vom 13.1.1903, zu der er eingeladen wurde, hatte Vietor dann auch persönlich Gelegenheit, den VWK Vorstand von der Dringlichkeit eines Protestes gegen den monopolartigen Landbesitz der DTG in Togo zu überzeugen. Dabei berichtete er, der damalige Gouverneur von Togo, Köhler, hätte sich, unter anderem aufgrund von Klagen der Häuptlinge, zunächst geweigert, die Verträge Hupfelds anzuerkennen. Erst auf Anweisung von Buchkas hätte er 1899 nachgeben müssen.371 Zudem hätte ihm Hupfeld persönlich gesagt, er habe vor, das erworbene Gebiet „monopolistisch“ und unter Ausschluss von Konkurrenz zu verwerten, was ja ganz im Gegensatz zur bisherigen Wirtschaftspolitik Togos stehe. Damit gelang es ihm, den VWK Vorstand geschlossen hinter sich zu bringen und zu einer eigenen Eingabe an die Kolonialbteilung zu bewegen.372 Mit dem Entwurf dafür wurden er und das Vorstandsmitglied Friedrich Oloff beauftragt. In der folgenden Vorstandssitzung am 6.2.1903 fiel ihr Entwurf aber als zu scharf durch, da er nach Auffassung des Vorstands den eigentlichen Anlass überschritt und sich zu weit auf allgemein kolonialpolitisches Gebiet begab.373 Immerhin kam ein abgemilderter Text zustande, in dem der VWK Vorstand die Ansicht bekräftigte, dass „monopolistischer Ausbeutung der Gebiete oder sogar der Eingeborenen“ ein Riegel vorgeschoben werden müsse.374 In jedem Fall müsse verhindert werden, dass andere Kaufleute vom Handel in den von der DTG gekauften Gebieten ausgeschlossen würden. Man könne auch nicht verstehen, wie die Kolonialverwaltung einer Gesellschaft derart große Gebiete zugestehen könne, die im Gegensatz zu den seit Jahren in Togo tätigen Kaufmannshäusern noch keinen Beitrag zur Entwicklung des Landes geleistet hätte. Auch die etablierten Häuser hätten in der Vergangenheit ähnlich günstig Land kaufen können, hätten dieser Versuchung aber bislang immer im Interesse einer gesunden Entwicklung des Schutzgebietes widerstanden. Bei einem Erwerb von 85.000 ha, was etwa 1 % der gesamten Fläche Togos entspräche, könne es sich ohnehin nur um schädliche Landspekulation handeln. Aber auch dieser Versuch, eine „bestimmtere und beruhigendere Antwort“ als Vietor am 8.1.1903 zu bekommen, brachte keinen Erfolg. Stuebel wiederholte lediglich, was er bereits Vietor geschrieben hatte. Er sah keine Möglichkeit, Verträge, die „bereits seit Jahren die Genehmigung der Regierung gefunden haben“, nachträglich zu ändern oder sogar zurückzunehmen. Er sagte aber zu, 370 Die Eingabe liegt nicht mehr vor, wird aber im Antwortschreiben der Kolonialabteilung an den VWK erwähnt, vgl. BAB, R 1001-3414, Bl. 11. 371 Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 44f. So stellt es 1904 auch Emil Theodor Förster dar, ders.: Die geplante Togoeisenbahn von Lome nach Palime, eine geschickte Landspekulation, in: Die deutschen Kolonien 5 (1904), zit. nach ebd., S. 43. Der Direktor der Kolonialabteilung, Stuebel, räumte diesen Vorgang anlässlich der Budget–Verhandlungen über den Bau der Bahnlinie Lome–Palime 1904 ein, vgl. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 457, S. 2497f. 372 Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 86. 373 Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 88. 374 VWK an Kol. Abt. vom 11.2.1903, BAB, R 1001-3642, Bl. 93–97, 92.

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in Zukunft den genannten Einwänden bei Landkäufen Rechnung zu tragen und wo es möglich und sinnvoll erschiene, den VWK vor Entscheidungen mit größerer Reichweiter vorab zu konsultieren.375 Trotz der ernüchternden und defensiven Antwort Stuebels kam nun aber doch auch von amtlicher Seite, zumindest indirekt, Bewegung in die Frage des Landbesitzes der DTG, als am 14.2.1903 eine Enteignungsverordnung für die Schutzgebiete erlassen wurde, die am 1.6.1903 in Kraft trat.376 Danach konnte der Fiskus wegen übergeordnetem öffentlichen Interesse sowie um die einheimische Bevölkerung wieder in ihre alten Eigentumsrechte einzusetzen, Land enteignen. Zwar kam die Anregung zum Erlass der Verordnung offiziell aus Südwestafrika und wurde mit der Notwendigkeit der Anpassung an das am 1.1.1900 in Kraft getretene BGB begründet, es liegt aber auf der Hand, dass die seit Jahren andauernde Diskussion um die Konzessionsfragen in Kamerun und Südwestafrika ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle beim Zustandekommen der Verordnung spielte.377 Ob auch der Streit um die Landkäufe der DTG eine Bedeutung für den Erlass der Verordnung spielten, bleibt offen,378 ist aber wenig wahrscheinlich. Für Vietor war er jedoch ein wichtiges Argument, die Durchsetzung des umstrittenen § 32 der Verordnung nach Kräften zu fördern.379 Aufgrund der allgemeinen Beunruhigung unter landbesitzenden Personen und Gesellschaften, die in der Folge auf den Kolonialdirektor Druck ausübten,380 musste Stuebel allerdings schon 375 Kol. Abt. an VWK vom 9.3.1903, BAB, R 1001-3414, Bl. 11f. 376 RGBl. (1903), S. 27–36; Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 369, S. 727–734; Jahnel, Markus J.: Das Bodenrecht in „Neudeutschland über See“. Erwerb, Vergabe und Nutzung von Land in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1884–1915 (Rechtshistorische Reihe; 386), Frankfurt a.M. 2009, S. 537–542; vgl. auch BAB, R 1001-6993, Bl. 34–37. 377 Kolonialrat, in: DKB (11) 1903, S. 257–264, 259f. In Ostafrika war bereits eine Enteignungsverordnung in Kraft gewesen, die nun als Vorlage für die allgemeingültige Verordnung diente. 378 Stuebel machte in der Budgetkommission 1904 darauf aufmerksam, dass das Reich zwar durchaus ein Enteignungsrecht hätte, die Voraussetzungen für die Anwendung hinsichtlich des Landbesitzes der DTG jedoch nicht vorlägen, vgl. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 457, S. 2497. Allerdings muss diese Aussage vor dem Hintergrund der am 12.11.1903 erlassenen Ausführungsverfügung gesehen werden, die als Zurückweichen Stuebels vor der Lobby der Landgesellschaften angesehen werden muss und die es der DTG ermöglichte, durch die Einleitung eines förmlichen Verfahrens einer möglichen Enteignung entgegenzuwirken. Ohne die einschränkenden Bestimmungen der Verfügung vom 12.11.1903 wäre eine Enteignung des DTG Besitzes einfacher gewesen. 379 „Ich selbst habe die Kämpfe mitgemacht, die es erfordert hat, die „Sonderbestimmungen zum Schutze der Rechte Eingeborener auf Eigentum und Besitz an Grundstücken“ des Enteignungsgesetzes vom 14. Februar 1903 durchzusetzen“, Vietor, J. K.: Koloniale Bodenpolitik, in: Helbeck-Elberfeld, Paul (Hrsg.): Deutschlands Kolonien und seine Kolonialpolitik. Aufsätze erster Kolonialpolitiker, Köln 1906, S. 13–23, 20. In der letzten Kolonialratssitzung am 18.6.1906 kam Vietor nochmals auf das Enteignungsgesetz zu sprechen und erinnerte „an die unglaublichen Schwierigkeiten, die Herrn Kolonialdirektor Stuebel bei Einführung des Enteignungsgesetzes mit den Sonderbestimmungen zum Schutze der Eingeborenen gemacht worden sind“, BAB, R 1001-6985, Bl. 57 (ausführliches Protokoll). Hinweise auf entsprechende Auseinandersetzungen fehlen allerdings im Protokoll der Kommission des Kolonialrats vom 5.12.1902 sowie in den Protokollen der Kolonialratssitzungen vom 27./28.6.1902. 380 Am 5.11.1903 trafen sich Vertreter kolonialer Unternehmungen in der Südsee und Afrika, um mit fachkundiger Unterstützung des Rechtsanwalts Dr. Paulus über die Enteignungs–Verord-

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bald wieder Abstriche bei den Anwendungsmöglichkeiten der Verordnung machen. In der am 12.11.1903 erlassenen „Ausführungsverfügung“,381 die am 1.1.1904 in Kraft trat, wurde eingeräumt (§ 1), dass durch schriftliche Erklärung des Gouverneurs ein bestimmtes Gebiet von den Vorschriften des § 32 der Verordnung vom 14.2.1903 ausgenommen werden konnte. Entsprechende Anträge konnte der Gouverneur nur unter gewissen Bedingungen ablehnen (§ 3) und selbst dann konnte der Reichskanzler ihn zur Ausstellung verpflichten (§ 4). Eine Landgesellschaft konnte nun in strittigen Fällen eine „präventive“ Untersuchung auf Feststellung der wirtschaftlichen Notwendigkeit einer teilweisen Enteignung ihres Besitzes zugunsten der einheimischen Bevölkerung verlangen. Die Untersuchung konnte entweder im Vorfeld des Enteignungsverfahrens zu einer Abtretung bei entsprechender Entschädigung führen (§ 2) oder das Enteignungsverfahren förmlich einleiten, das in die Hand von Landkommissionen gelegt wurde (§ 5). Nach Abschluss des Enteignungsverfahrens war der Gouverneur verpflichtet, für das verbleibende, nicht zu enteignende Land eine unanfechtbare Erklärung auszustellen, dass in Zukunft keine Enteignung aufgrund des Interesses der einheimischen Bevölkerung und gemäss § 32 der Verordnung vom 14.2.1903 mehr vorgenommen werden dürfe.382 Auch wenn Vietor im Erlass der Ausführungsverfügung später ein Zeichen der Schwäche der Regierung gegenüber interessierten Kreisen sah,383 interpretierte er dieselbe nung zu beraten. Sie hatten bereits einen Entwurf der Verfügung vorliegen, der ihnen in seiner einschränkenden Wirkung offensichtlich noch nicht weit genug ging. Nach wie vor erschien ihnen die Verordnung vom 14.2.1903 in Teilen als „unzulässig“. Insbesondere kritisierten sie die Bestimmung des § 32, nach der eine Entschädigung ggf. auf den ursprünglichen Kaufpreis sowie entsprechender Auslagen reduziert werden konnte, ohne Rücksicht auf Wertsteigerungen oder Investitionen auf dem Grund seither. Am 6.11.1903 reichten sie ihre Stellungnahme samt einer Resolution bei Stuebel ein, E. v. Beck und Dr. Essser an die Kol. Abt. vom 6.11.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 38–40. Auch die DTG hatte wegen der Entschädigungsbestimmungen der Verordnung Widerspruch eingelegt, BAB, R 1001-3643, Bl. 18f. Dem Kolonialrat teilte Stuebel wenig später mit, dass die Verfügung „entsprechend den Anregungen einer größeren, meist auch im Kolonialrat vertretener kolonialer Landgesellschaften“ zustande gekommen sei, um einen besseren Ausgleich bei Enteignungen zuzusichern, Stuebel an Kolonialratsmitglieder vom 25.11.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 46. Möglicherweise bezog sich Vietor auch auf gesonderte Verhandlungen Stuebels mit Gegnern der Verordnung, wenn er seiner Frau schreibt, er wäre in Berlin dem „Kleeblatt“ Hupfeld, Thormählen und Clausen begegnet. Auch Dr. Heindorf, Dr. Gruner und Herr Wilckens seien dabei gewesen. Sie als „Gegenpartei“ wüßten „schon über alles Bescheid, und wir noch nicht. Das ist auch nicht in Ordnung.“ Deshalb ging er davon aus, dass es in der nächsten Kolonialratssitzung „krachen“ würde, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 26.10.1903, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 5. Strandmann sieht in der drohenden Gefahr des Aufeinanderprallens der Fronten im Kolonialrat den Grund dafür, dass sich Stubel bereits vor der Sitzung mit Kritikern der Verordnung einigte. Hupfeld spielte im Herbst 1903 eine Hauptrolle bei der Agitation gegen die Verordnung vom 14.2.1903, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 382f. 381 Die Verfügung ist abgedruckt in DKB 1903, S. 605f.; Ruppel, 1912 (wie Anm. 234) Nr. 370, S. 734–736; Jahnel, 2009 (wie Anm. 376), S. 543f. 382 Zweiter Geschäftsbericht der DTG für die Zeit vom 1.5.1903-304.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 56, S. 4. 383 Nach Vietors Erinnerung wurde die Verordnung vom 14.2.1903 erst Monate später, wohl in Folge des Inkraftretens am 1.6.1903, von Landspekulanten wahrgenommen und sodann sofort

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zunächst als „Sieg auf der ganzen Linie“. Er hatte, wie Stuebel, das komplette Scheitern der Verordnung vom 14.2.1903 in der Kolonialratssitzung vom 30.11.1903 befürchtet, sodass ihm die mehr oder weniger unterbliebene Diskussion über die Verordnung und die Ausführungsverfügung wie ein großer Erfolg vorkam. „Ich habe Stübel gesagt, ich hätte mindestens ebensoviel Angst ausgestanden wir er, daß er mir erst gar nicht glauben wollte. Drei Reden hatte ich in der Tasche, eine wie Öl, eine schneidig und die dritte kennst du ja auch schon, saugrob. Ein hoher Beamter aus dem Reichsjustizamt war herbeigeholt und als das Theater gerade beginnen sollte, da klappte Scharlach ab. Da fraß er uns aus der Hand, da ging das Enteignungsgesetz beinahe ohne Debatte durch.“384

Offensichtlich wurde Vietor in dieser Sitzung Opfer eines Täuschungsmanövers von Scharlach und freute sich zu früh. Erst später wurden ihm die Konsequenzen der Ausführungsverfügung bewusst. Die DTG nutzte die Möglichkeit der Ausführungsverfügung rasch und reichte bereits am 10.2.1904 den Antrag auf Ausstellung einer unanfechtbaren Erklärung ein, mit der eine Enteignung auf der Grundlage des § 32 der Enteignungsverordnung und damit im Interesse der einheimischen Bevölkerung ausgeschlossen werden sollte.385 Der DTG war an baldiger Rechtssicherheit gelegen, auch um unliebsamen Konsequenzen aus der sich immer weiter verschlechternden öffentlichen Stimmung gegenüber Konzessionen und monopolistischen Wirtschaftsstrukturen in den Kolonien zuvorzukommen.386 Ein Indiz für einen entsprechenden Stimmungsumschwung war nicht zuletzt die Einsetzung der Kolonialratskommission zur Landfrage sowie die Installierung einer gleichartigen Kommission durch die DKG. Als Vietor von der DKG Kommission im April 1904 um ein Gutachten für Togo und Kamerun gebeten wurde, arbeitete er sich genauer in die Genese der DTG Verträge ein. Zunächst versuchte Vietor von der Kolonialbteilung „autentische“ (sic) Hintergrundinformationen über die Gründungsgeschichte der DTG zu bekommen,387 was jedoch mit Hinweis, sich direkt an die DTG wenden zu müssen, abgelehnt wurde.388 Da ihm das nicht als sinnvoll erschien, suchte Vietor nach an-

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heftig in einer Pressekampagne bekämpft. „Leider war unsere Regierung dann noch wieder schwach genug, einschränkende Ausführungsbestimmungen zu erlassen“, vgl. Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, Hagen [1906], S. 12. J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 1.12.1903, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 5. Der Antrag der DTG auf Ausschluss der Sonderbestimmungen des § 32 der Verordnung vom 14.2.1903 wird im Schreiben des Kais. Gouvernement von Togo an Kol. Abt. vom 11.5.1904 erwähnt, BArch R 1001-3643, Bl. 30. Bei der Einreichung beantragte die DTG ausdrücklich, dass für ihren gesamten Besitz in Togo die Sonderbestimmungen des § 32 der EnteignungsVerordnung vom 14.2.1903 ausgeschlossen würden; vgl. auch Zweiter Geschäftsbericht der DTG für die Zeit vom 1.5.1903-304.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 56, S. 4. Als während der 1. Lesung zur Eisenbahnvorlage für Togo am 25.4.1904 der freisinnige Abgeordnete Hermann Müller Gerüchte über umfangreiche Landerwerbungen Sholto Douglas in Togo kritisch erwähnte, stimmte ihm der Zentrumsabgeordnete Wilhelm Schwarze zu, „daß man endlich einmal mit dieser unseligen Landpolitik brechen soll, aber gründlich.“ Sie liefe auf reine Spekulation hinaus und brächte die Entwicklung der Kolonie nicht voran, vgl. SBR, 11.Leg. per., 1. Sess., 75. Sitzung vom 25.4.1904, S. 2389f. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 13.4.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 12f. Kol. Abt. an J. K. Vietor vom 23.4.1904, BAB, R 1001-3643,Bl. 14f. Die DTG reichte am 28.4.1904 bei der Kolonialabteilung einen groben Überblick über die Kosten der beiden Expe-

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deren Informanten und fand in Missionar Freyburger einen sachkundigen Zeugen, der sich gerade in Deutschland aufhielt. Aufgrund früherer Landkaufversuche am Agu für die NMG hatte er relativ zeitnah nach Abschluss der Hupfeld’schen Landverträge Gespräche mit vielen betroffenen Häuptlingen geführt. Nach seiner Darstellung hatten die betroffenen einheimischen Bewohner den Verträgen nur zugestimmt, weil sie sich von Hupfeld bedroht gefühlt hatten. Zudem wären sie sich erst nach Vertragsabschluss über die Konsequenzen klar geworden, insbesondere, dass das Land, das ihnen verblieb, die Ernährung in Zukunft nicht mehr sicherstellen konnte. Teilweise wären die Verträge auch unter Einsatz erheblicher Mengen von Alkohol zustande gekommen. Vietor legte Freyburgers Bericht umgehend der Kolonialabteilung vor und hoffte, mit diesem Druckmittel einen Kompromiss zwischen DTG und den Rechten der einheimischen Bevölkerung herbeiführen zu können.389 Weiterer Druck auf die DTG wurde durch einen Aufsatz Emil Försters ausgeübt, der zeitgleich in einem Sonderdruck erschienen war und zunächst der Budgetkommission390 und dann auch dem Reichstag zugestellt wurde.391 In dem Aufditionen 1897 und 1898 ein, in der sie u.a. auch den Preis von 440 Mark für das Land in der Landschaft Nyambo, also das Gebiet, das direkt an die projektierte Trasse der Bahnlinie LomePalime stieß, als „durchaus angemessen“ verteidigte. Das erworbene Gebiet umfasste immerhin 4206 ha! Weitere Details fehlten. Die DTG setzte die Kenntnis des Gesamtvorgangs offensichtlich voraus, DTG an Kol. Abt. vom 28.4.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 16–19. 389 J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 28.6.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 34. In der Anlage folgt der Brief von Missionar K. Freyburger vom 28.5.1904, ebd. Bl. 35–37. Sebald sieht im Zuammenhang mit der sich 1904 zuspitzenden öffentlichen Auseinandersetzung in Vietor und Oloff treibende Kräfte gegen die DTG, die verschiedene Maßnahmen lanciert hätten. Konkrete Beispiele nennt er nicht, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 247. Die DTG sah das Anfang 1907 ähnlich, als sie sich gegen einen Presseartikel Oloffs zur Wehr setzte. Dabei bezeichnete sie Vietor als „Wortführer“ einer jahrelangen Agitation der Kaufleute gegen die DTG, Bericht des Vorstandes der DTG über die Angriffe des Herrn Oloff vom 7.Januar 1907, BAB, R 1001-3644, Bl. 87. 390 SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 457, S. 2497f. 391 Die Debatte im Plenum über den Landbesitz der DTG und die Eisenbahnvorlage Lome–Palime fand am 14.6. 1904 statt, vgl. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 97. Sitzung vom 14.6.1904, S. 3124–3139. Anfang 1905 sandte Förster allen Reichstagsabgeordneten das von ihm herausgegebene Buch Conrad Rusts, das detailliert über die Vorgänge des Hereroaufstandes berichtete und auch die Proklamation General von Trothas vom 2.10.1904 enthielt, die damit erstmals den Parlamentariern zugänglich wurde. Durch die Veröffentlichung der Proklamation in der Augustnummer 1905 seiner vom Deutschvolklichen Kolonialverein herausgegebenen Zeitschrift, „Die deutschen Kolonien“, wurde dieselbe auch erstmals der deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenngleich der Verbreitungsradius dieses Heftes natürlich nicht vergleichbar war mit dem des SPD Organs „Vorwärts“, das die Proklamation am 16.12.1905 abdruckte, vgl. Rust, Conrad / Foerster, E. Th.: Krieg und Frieden im Hererolande. Aufzeichnungen aus dem Kriegsjahre 1904, Leipzig 1905; Die deutschen Kolonien. Monatsschrift des Deutschvolklichen Kolonialvereins 8 (1905), S. 245–247; Spraul, Gunter: Der „Völkermord“ an den Herero. Untersuchungen zu einer neuen Kontinuitätslinie, in: GWU 1988, S. 713–739, S. 723f., 737f. In seinem Beitrag in der Augustnummer der „deutschen Kolonien“ erklärte Rust, anders als noch in seinem früheren Beitrag im Buch über den Hererokrieg, dass er „starr vor Entsetzen“ gewesen sei als er den Befehl von Trothas gelesen hätte. Diesen lehnte er jetzt kategorisch ab, er wäre „politisch, ethisch, überhaupt in jeder Beziehung etwas, das ich mißbilligen muß“, ebd., S. 724. Auch Vietors Parteifreund Reinhard Mumm verurteilte fast zehn Jahre später den Befehl Trothas, gab sich aber der Gewißheit hin, dass „das Unheil, das ein von

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satz bezeichnete Förster den Landerwerb der DTG in Togo als reine Landspekulation und forderte deren Enteignung.392 Nach Erörterung von Försters Darstellungen im Budgetausschuss hatte diese Einwendungen gegenüber der DTG erhoben. Die DTG verteidigte sich daraufhin mit dem Hinweis, zu den ausgewiesenen Kaufpreisen wären noch Geschenke hinzugekommen, sodass die Aufwendungen höher gewesen wären, als zunächst erkennbar.393 Das reichte der SPD Fraktion allerdings nicht aus. Sie forderte geschlossen die Annullierung der Kaufverträge Hupfelds, da Verkäufe dieser Art dem Gewohnheitsrecht der einheimischen Bevölkerung widersprächen, der Kaufpreis zu niedrig gewesen sei und durch die weitreichenden Veräußerungen die Existenzgrundlage der Stämme gefährdet sei.394 Auch wenn StueTrotha vor zehn Jahren in Südwestafrika anrichtete, als er die Aufständischen in das Durstfeld trieb und dort jede Fühlung mit ihnen verbot […] heute unmöglich“ sei, vgl. Mumm, Reinhard: Das Erstarken unserer Schutzgebiete, in: Die Arbeit 26 (1914), S. 3–4. 392 E. Th. Förster: „Die geplante Togoeisenbahn von Lome nach Palime, eine geschickte Landspekulation! Vorsicht im Reichstag!“ Der an die Reichstagsmitglieder verteilte Aufsatz stellte einen Sonderdruck des bereits im Mai erschienenen Artikel Försters in Die deutschen Kolonien 5 (1904) dar. Försters Aufsatz wurde im Juni 1904 auch im Organ der Bodenreformer veröffentlicht, Förster, [Emil Theodor]: Ein Kaufvertrag aus Togo – Ein Eisenbahnbau und eine Mahnung, in: Deutsche Volksstimme 12 (1904), S. 342–346. Hier ist auch der Kaufvertrag mit den 5 beteiligten Häuptlingen sowie die Bestätigungsurkunde Köhlers vom 23.11.1899 komplett abgedruckt. Knoll geht davon aus, Förster habe seine Informationen von der NMG erhalten, was er damit begründet, Försters Organ sei in kirchlicher Nähe zu verorten, Knoll, 1978 (wie Anm. 7), S. 134. Auf eine entsprechende Missionsnähe weist allein schon die in dem Blatt integrierte Missionsrundschau des der NMG nahestehenden Pastors Gustav Müller hin. Während Müller eine Unterstützung seines Blattes durch Missionskreise nicht erwähnte, warb er dagegen um die Unterstützung der „alldeutschen Freunde“, vgl. Spraul 1988 (wie Anm. 391), S. 737. Bei der 1905 im Zusammenhang mit der Eisenbahnvorlage in Kamerun zustande gekommenen Allianz zwischen Basler Mission, Alldeutschen und kleinbürgerlich–konservativen Kräften spielte auch Förster eine Rolle. Vietor war spätestens 1903 im Zusammenhang mit der von Förster gegründeten Neuen Südwest–Afrikanischen Siedlungsgesellschaft mit ihm in Kontakt gekommen, vgl. E. Th. Förster an J. K. Vietor vom 21.8. und 26.8.1903, VPAH, Konv. 3, Mappe 3. Vietor hatte Förster am 23.8.1903 zurückgeschrieben. Offensichtlich war Vietor aber mit manchen Schritten Försters nicht einverstanden: „Der Mann hat wieder zu große Dummheiten gemacht“, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 1.12.1903, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 5. Förster hatte 1902 die Neue Südwestafrikanische Siedlungsgesellschaft gegründet und 1904 den Deutschvolklichen Kolonialverein ins Leben gerufen, vgl. Schmitt-Egner, Peter: Kolonialismus und Faschismus. Eine Studie zur historischen und begrifflichen Genesis faschistischer Bewußtseinsformen am deutschen Beispiel (Theorie und Kritik; 8), Lollar (Gießen), 1975, S. 64; Winter, J. C.: Bruno Gutmann, 1876–1966. A German Approach to Social Anthropology, Oxford, New York 1979, S. 54; Zur Einordnung des Deutschvolklichen Kolonialvereins, der sich wie der 1903 gegründete Deutsche Kolonialbund in Opposition zur DKG sah, vgl. Schulte-Althoff, Franz Josef: Koloniale Krise und Reformprojekte. Zur Diskussion über eine Kurskorrektur in der deutschen Kolonialpolitik nach der Jahrhundertwende, in: Dollinger, Heinz / Gründer, Horst / Hanschmidt, Alwin (Hrsg.): Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag am 30. Januar 1982, Münster 1982, S. 407–425, 415, 418–420. 393 Rede des SPD Abgeordnete Ledebour während der 2. Lesung der Eisenbahnvorlage für Togo am 14.6.1904, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 97. Sitzung vom 14.6.1904, S. 3129. Lebebour war auch Mitglied des Budgetausschusses und hatte sich mit Försters Schrift vertraut gemacht. 394 Resolution Auer und Genossen vom 11.6.1904, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 481. Der

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bel solch radikale Maßnahmen zunächst ausschloss, machte er im Budgetausschuss immerhin klar, dass Landverkäufe dieser Art von der Kolonialabteilung heute nicht mehr „in vollem Umfang“ geteilt würden, womit er sich vorsichtig von der der Linie seines Vorgängers absetzte.395 Eine Enteignung eines Teils der DTG Gebiete kam für ihn nur dann in Betracht, wenn die Existenzgrundlagen der Bevölkerung tatsächlich in Frage gestellt wären. Zunächst wären aber in diesem Fall Verhandlungen mit der DTG angesagt, erst wenn diese zu keinem befriedigenden Ergebnis führen würden, müsste über die Anwendung der Enteignungsverordnung nachgedacht werden. Erste Verhandlungen mit der DTG hatten bereits zur Bereitschaft der DTG geführt, auf alle Flächen entschädigungslos zu verzichten, die für den Bahnbau benötigt würden. Mit dieser Zusage der DTG hatte sich Stuebel jedoch nicht zufrieden gegeben, sondern eine genaue statistische Untersuchung über Bevölkerungszahl, Größe des notwendigen Landbesitzes für die zukünftige Ernährung der Bewohner sowie der Wertsteigerung des Landes im Zusammenhang mit dem Bahnbau im DTG Gebiet angeordnet.396 Die Verhandlungen mit der DTG und die Anordnung der genauen Ermittlung der tatsächlichen Verhältnisse führten in der Kolonialratssitzung am 1.7.1904 dazu, dass Vietor seinen Antrag auf Erörterung der Landfrage im Zusammenhang mit der DTG zurückzog.397 Das Angebot der DTG, auf einen Teil des Landes am Agu zu verzichten, war kein Akt vorauseilenden Gehorsams, sondern folgte einer taktischen Strategie. Einerseits konnte man auf diese Weise ein Zeichen der Entspannung in der lauter werdenden Debatte über die Landkäufe setzen, andererseits erwartete man, mit der Landabtretung aller zukünftigen Beteiligungskosten am Bahnbau enthoben zu werden.398 Spätestens mit Aufnahme der Tätigkeit der Landkommission in Togo am 14.9.1904 wurde jedoch klar, dass die Abtretung nur ein Teilschritt sein konnte. Die Landkommission konnte nicht alle von Hupfeld erworbenen Gebiete gleichzeitig überprüfen und ging daher schrittweise vor. Bis zum 23.11.1904 wurde zunächst nur die Situation im direkt vom Bahnbau betroffenen Gebiet in der „Landschaft“

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Berichterstatter der Budgetkommission, Graf von Oriola, sah sich veranlaßt, darauf hinzuweisen, dass ihn diese Resolution überrasche und lediglich eine Einzelmeinung in der Kommission repräsentiere, die die Rückgabe des Landes gegen Erstattung des Kaufpreises und weiterer nachweisbarer Auslagen gefordert hatte, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 97. Sitzung vom 14.6.1904, S. 3132. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 457, S. 2497. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., 97. Sitzung vom 14.6.1904, S. 3133f. Vietor begründete die Rücknahme seines Antrages auf Erörterung der Landfrage mit seinem Vertrauen zu den von Stuebel eingeleiteten Schritten. „Durch die dankenswerte Zusicherung des Herrn Vorsitzenden [Stuebel], dass er noch einmal eine Untersuchung eingeleitet habe, ist diese Angelegenheit nun in die richtigen Bahnen gelenkt und wird hoffentlich befriedigend erledigt werden“, BAB, R 1001-6980, Bl. 174 (ausführliches Protokoll). Das Angebot der DTG, auf rund 4000 ha zugunsten des Bahnbaus zu verzichten, stammt bereits vom 28.4.1904. Dabei wurde auch die Erwartung ausgesprochen, in Zukunft von weiteren Abtretungsforderungen verschont zu bleiben, DTG an Kol. Abt. vom 28.4.1904, BAB, R 10013643, Bl. 16–19. Analog dazu spricht auch der zweite Jahresbericht der DTG von der Erwartung, als Gegenleistung für die Landabtretung von einer Beteiligung an den Bahnbaukosten befreit zu werden, Zweiter Geschäftsbericht der DTG für die Zeit vom 1.Mai 1903– 30.April 1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 56, S. 5.

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Nyambo am Agu untersucht.399 Hier wohnten nicht, wie noch im April 1904 von der DTG angegeben, etwa 600 Menschen, für die nach Meinung der DTG 1100 ha Landfläche ausreichten,400 sondern 1.559 Personen.401 Die gesamte Landschaft Nyambo umfasste 5.784 ha, davon hatte die DTG 4.206 ha gekauft, also rund 75 % des gesamten Gebietes. Nachdem die DTG schon von vorneherein 4.000 ha zur Disposition gestellt hatte, konnte durch einen Landtausch relativ bald eine Einigung herbeigeführt werden.402 Bei der Untersuchung war aber die Stimmungslage auch in den anderen betroffenen Gebieten deutlich geworden. In der Landschaft Boem, wo die DTG einen Grundbesitz von 40.000 ha für sich reklamierte, gab es bereits große Unruhe. Das Gouvernement sah sich daher bereits im Dezember 1904 dazu veranlasst, von der DTG die Preisgabe „noch weit größere[r] Landstrecken“ zu fordern, um einen Aufstand zu verhindern. Im Falle der Weigerung, schlug der stellvertretende Gouverneur, Zech, vor, § 32 der Enteignungsverordnung in Anwendung zu bringen und die DTG damit zu Abtretungen zu zwingen.403 Überhaupt sah sich die DTG nicht nur in Deutschland, sondern nun auch in Togo einer lauter werdenden Opposition gegenüber. Zech hatte am 3.1.1904 einen Änderungsentwurf zur Landgesetzgebung betreffend Landerwerbungen von Einheimischen in Togo nach Berlin gesandt, in dem ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass „auch der Landbesitz der Deutschen Togo-Gesellschaft dieser Verordnung unterworfen ist.“ Ziel der Änderung war es, dem Gouvernement in Zukunft mehr Mitspracherechte bei Vertragsabschlüssen mit der indigenen Bevölkerung einzuräumen.404 Zechs zumindest skeptische Haltung gegenüber der DTG nahm im Verlauf der Arbeit der Landkommission stetig zu.405 Daran hatte Vietors Position und Intervention ohne Frage einen nicht unwesentlichen Anteil. Auf seiner Inspektionsreise 1904 schaltete er sich in 399 Der Bezirksamtmann von Misahöhe, Gruner, hatte den Begriff „Landschaft“ eingeführt. Er wollte damit aber nicht ein „selbständiges Rechtssubjekt“ schaffen, sondern verstand den Begriff lediglich als „Sammelbezeichnung für die verschiedenen Familienältesten“ bzw. das Gebiet, das ihnen gehörte, BAB, R 1001-3646, Bl. 11. 400 DTG an Kol. Abt. vom 28.4.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 18. 401 Bericht der Untersuchungskommission zur Landfrage der DTG in Nyambo [o. D.], BAB, R 1001-3643, Bl. 71. Bei den 1.559 Personen waren auch vorübergehend abwesende Personen eingerechnet worden. 402 Am 24.4.1905 konnte die Landkommission durch einen Landtausch die Arbeiten in der Landschaft Nyambo erfolgreich abschließen. Danach verblieben der DTG in diesem Gebiet von vormals 4.206 ha nur noch 650 ha, allerdings in einem zusammenhängenden Stück. Es handelte sich um überwiegend guten Boden, vgl. BAB, R 1001-3643, Bl. 119; vgl. auch: Dritter Geschäftsbericht der Deutschen Togogesellschaft für die Zeit vom 1.5. 1904 bis 30.4.1905, ebd. Bl. 117, Seite 8f. 403 Kais. Gouvernement an Kol. Abt. vom 30.12.1904, BAB, R 1001-3643, Bl. 65f. 404 Kais. Gouvernement von Togo (Zech) an Kol.Abt. vom 3.1.1904, BAB, R 1001-3218, Bl. 35. Das Kolonialamt hatte bereits am 9.3.1903 in einem Erlass den Gouverneur von Togo angewiesen, die Landgesetzgebung bei Landkäufen zu verändern, was Zech sehr begrüßte, aber erst Anfang 1904 mit einem Entwurf beantwortete. Möglicherweise zögerte Zech wegen dem zähen Widerstand kolonialer Interessengruppen gegen die Enteignungsverordnung vom 14.2.1903 so lang mit der Antwort, bis sich die Lage durch den Erlass der Ausführungs–Verordnung vom 12.11.1903 entspannt und geklärt hatte. 405 Zech hielt „die Schaffung derartiger Latifundien“ in Togo wie sie die DTG besaß für einen „Unsegen“. „Kern- und Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik in Togo [müsse] die landwirt-

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die laufenden Gespräche der Landkommission ein und instruierte den Vertreter der NMG in der Kommission, Missionar Diehl, in seinem Sinne. Im November 1904 besuchte er den Bezirksamtmann von Misahöhe, Dr. Gruner, der in der Landangelegenheit der DTG eine federführende Rolle einnahm und tagte mit ihm „von zwölf bis zwölf“, um eine Lösung zu finden. „Wir haben alles durchgesprochen, besonders auch die Landangelegenheiten mit Hupfeld und ich habe die Hoffnung, dass meine Vorschläge, wie die Sache im Guten aus der Welt geschafft werden könnte, von der Kommission beantragt wird. Missionar Diehl habe ich gesagt, falls es nicht geschieht, zu protestieren und das Protokoll nicht zu unterzeichnen und sich beim Grafen [Zech] zu beschweren.“406

Bei dieser Sitzung waren neben Diehl auch noch weitere Landkommissionsmitglieder anwesend. Während Vietor Diehl genau angab, was er in der Kommissionssitzung sagen sollte, redete er auch dem „vorsitzenden Beamten“, also Dr. Gruner, ins Gewissen und hielt ihm vor, „er müsse der Anwalt der Leute sein und ihnen Vorschläge unterbreiten, wie die Sache zu deichseln wäre.“ Für Montag, den 19.11.1904 war eine entscheidende Sitzung mit Zech anberaumt, deren Verlauf Vietor unbedingt in seinem Sinne beeinflussen wollte. „Ich stecke mich in all den Kram hinein und glaube auch, daß es richtig ist, denn ich sehe klar und deutlich wie alles gemacht werden kann und muß, um die Kolonie richtig zu entwickeln.“407 Ein paar Tage nach der Sitzung besuchte Zech Vietor in Palime, was Vietor die Gelegenheit gab, Zech nun auch persönlich wichtige Anregungen, unter anderem zur Landfrage, zu geben. Vietor war dabei von der Offenheit und dem Interesse Zechs beeindruckt.408 Als Zech Vietor während eines Deutschlandaufenthaltes am 25.8.1906 bat, ihm verschiedene Wünsche und Anregungen für die Entwicklung Togos mitzuteilen,409 warnte Vietor erneut vor einem Eindringen von Konzessionsgesellschaften nach Togo, freute sich aber in Bezug auf die DTG und Hupfeld, rechtzeitig warnend seine Stimme erhoben zu haben.410

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schaftliche Produktion der Eingeborenen“ sein, Kais. Gouvernement von Togo (Zech) an RKolA vom 11.12.09, BAB, R 1001-3646, Bl. 150. J. K. Vietor (Agome-Palime) an Hedwig Vietor vom 18.11.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Ebd. „Der Graf war bei mir in Palime und ich habe ausführlich alles mit ihm beredet und ihm alles gesagt was ich wusste. Er war brilliant. Er hat sich alles aufgeschrieben und war fast mit allem einverstanden. Es sind eine Reihe Forderungen, die die hiesigen Neger stellen, die absolut berechtigt sind, die ewige Hauerei, die schwere Kette ect. ect., die einfach geändert werden muß (sic), die Willkür der Soldaten, die Rücksichtslosigkeit der Subalternen usw. Wenn dem nachgegeben wird, dann wird es immer noch besser werden und verbessert haben sich im letzten Jahr die Verhältnisse schon. Es zeigt sich doch, dass die ewige Quälerei zu Hause hilft und es soll mit Gottes Hilfe noch anders werden“, J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 27.11.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Zech an J. K. Vietor vom 25.8.1906, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 6. J. K. Vietor (Bremen) an Zech vom 29.8.1906, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 6. Am 1.9.1906 hatte er dann ein ausgedehntes Treffen mit Zech, das von 19.00 – 01.00 Uhr nachts dauerte und „famos“ und sehr vertraulich war. Vietor zeigte sich beeindruckt von Zech: „Er ist mehr wie ein verständiger, tüchtiger Mann. Er ist geradezu christlich und hat mir auch vor allen Dingen vertraulich gezeigt, mit was für großen Schwierigkeiten er es zu tun hat. Sie sind hahnebüchen

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Neben der direkten Einflussnahme in Togo selbst, hoffte er, mit seinem Gutachten für die Landkommission der DKG auch die Weichen in Deutschland in die gewünschte Richtung stellen zu können. Seine Ausführungen zu Togo orientierten sich ganz an den 13 Leitsätzen des Hupfeld’schen Gutachtens, indem sie die hier gemachten Vorschläge jeweils kommentierten. Während Vietor Hupfeld in einigen Punkten durchaus zustimmen konnte,411 widersprach er ihm insbesondere in der Kernfrage der öffentlichen Überwachung von Landverkäufen zwischen einheimischen Bewohnern und Europäern. Während Hufpeld den Gedanken der Notwendigkeit regierungsseitiger Kontrolle entsprechender Kaufpreise abstritt, verwies Vietor auf die Gefahren bei solchen Geschäften, wobei er unverhohlen auf die Umstände bei den Hupfeld’schen Käufen anspielte. Ohne Kontrolle könnten gewissenlose Häuptlinge ohne Zustimmung ihrer Leute Land für billigste Preise, etwa 6 Pfennig/ha, verschleudern. Daneben müsse bedacht werden, dass bei derartigen Landkäufen häufig Einschüchterung, Gewalt, Überredungskunst oder Bestechung an der Tagesordnung wären. Die Regierung hätte daher die „unbedingte Pflicht“ der unerfahrenen einheimischen Bevölkerung beizustehen. Abgesehen davon müsse die Regierung auch das Recht haben, Verträgen, die den Interessen der Entwicklung der Kolonie entgegenständen, die Genehmigung zu verweigern. Auch bei der Frage eines Betriebszwanges nach Erwerbung von Land waren Vietor und Hupfeld nicht einer Meinung. Zwar stimmte Hupfeld dem Recht eines derartigen Zwanges unter Androhung des Verlustes des erworbenen Landes prinzipiell zu, wollte es aber nur auf eine Landgröße von mehr als 300 ha beschränken und eine Betriebsauflage jeweils an die Entscheidung des Gouverneurs binden. Vietor dagegen hielt einen Betriebszwang bei größeren Erwerbungen in jedem Fall für unerlässlich, den Vorschlag einer fallweisen Entscheidung durch den Gouverneur griff er nicht auf. Wiederum in Anspielung auf Positionen der DTG, bestand Vietor als Kriterium für eine tatsächliche Inbetriebnahme des Landes auf einem Mindestprozentsatz für unter Kultur genommenen Landes. Die Anwesenheit einer bestimmten Anzahl von Europäern oder Arbeitern auf dem Gelände hielt er für unzureichend.412 Darüber sollte es später noch zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Hupfeld und Vietor kommen. Einig war sich Vietor mit Hupfeld in der Ablehnung einer Grundsteuer. und wenn die Leute in Berlin nicht mehr Verstand bekommen, dann sieht es eben schlimm um uns aus. Er hat mir außerordentlich gefallen“, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 2.9.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Auch spätere Treffen mit Zech waren von gegenseitiger Wertschätzung geprägt und belegen das gute Verhältnis beider, vgl. J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 5./6.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Vietor lobt Zech als verständigen Menschen, der „riesig nett“ sei, die besten Absichten hätte und diese auch durchsetzen könne. 411 Etwa in der Frage, ob einer Pacht in jedem Fall gegenüber einem Kauf von Land der Vorzug zu geben sei. Das lehnte Vietor, trotz seiner Sympathien für die Gedanken der Bodenreform, wie Hupfeld ab, insbesondere aus Rücksicht vor Plantagen, die als Dauerkultur besser auf eigenem Land aufgehoben wären. 412 Im Falle eines Verstoßes gegen den Betriebszwang ging Vietor über die Vorschläge Hupfelds hinaus, der für diesen Fall an den Verkauf des Landes mit Gewinnausschüttung an den bisherigen Besitzer dachte. Vietor forderte hingegen den entschädigungslosen Heimfall des Landes an den Fiskus.

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Während Hupfeld als Alternative dafür eine Einkommenssteuer für Weiße und eine Kopfsteuer für Schwarze vorschlug, warnte Vietor vor Einführung einer Kopfsteuer für Schwarze, da diese nur Verbitterung hervorrufe, weil die meisten Afrikaner kaum über Bargeld verfügten. Eine Erhöhung der Importzölle schien ihm geeigneter, wobei er sicher, ohne es hier explizit zu sagen, in erster Linie an den Branntweinzoll dachte. Kurios erschien Vietor Hupfelds zehnter Leitsatz, in dem dieser vorschlug, die Landkommission solle sich den Standpunkt zu eigen machen, es läge kein Anlass zu einem Vorgehen gegen die DTG vor, da für diese ein Betriebszwang existiere und sie außerdem keine Konzessionsgesellschaft sei. Eine derartige auf die eigene Firma bezogene These war für Vietor an dieser Stelle völlig deplaziert. Auf der Grundlage der Forderung nach einer besonderen Förderung von indigenen Kulturen, fasste Vietor seine Gedanken zur Landfrage in Togo in seinem Resolutionsentwurf zusammen: „Die Kommission wolle beschliessen, ihre Meinung dahin zu äussern, dass die Regierung die moralische Verpflichtung habe, eine Art Vormundschaft über die Eingeborenen, die naturgemäßen Bebauer des Landes, auszuüben, und alle Landverkäufe zu Spekulationszwecken zu verhindern. Sie darf Landkäufe überhaupt nur genehmigen, wenn ein genügender Prozentsatz des Landes in sofortige Benutzung genommen wird. Im Uebrigen sind die Landverhältnisse und die Bedürfnisse der Kolonie sowie der Eingeborenen noch viel zu wenig geklärt, um eine gesetzliche Regelung jetzt schon wünschenswert erscheinen zu lassen.“413

Eine Bemerkung zur Frage der Inwertsetzung des der DTG gehörenden Landes im Gutachten von Vietor sollte in der Folge eine heftige Kontroverse zwischen ihm und Hufpeld auslösen. In Bezug auf die zurückhaltende Investitionsbereitschaft der DTG hatte Vietor geschrieben: „Sie [die DTG, Anm. B.O.] hat offenbar nicht die Absicht, irgendwelche Kulturen von Bedeutung dort anzulegen.“414 Auf diese Aussage führte Hupfeld die Ansicht der Landkommission zurück, die DTG würde nur einen „Scheinbetrieb“ führen.415 Das wiederum war in der Tat die Ansicht Vietors, der Hupfeld vorhielt, in den letzten fünf Jahren keine spürbaren Anstrengungen zur Entwicklung des Landes gemacht zu haben, was sich auch daran ablesen ließe, dass lediglich zwei weisse Aufseher und 70 schwarze Arbeiter angestellt seien. „Sie wenden aber bis jetzt nach meinen Informationen keinen Pfennig mehr an, als wie sie durch den ihr auferlegten Betriebszwang verpflichtet sind, obgleich die Zeit der Versuche doch eigentlich wohl schon vorbei sein sollte.“416 Als Vietor auf Hupfelds Bitte, ihm sein Gutachten zuzusenden, damit er die Möglichkeit habe, es mit Fakten zu widerlegen, nicht einging, sondern ihm nur Auszüge zusandte,417 drohte Hupfeld schließlich mit einer gezielten Versendung des gesamten Briefver413 Die Resolution zu Togo sowie die alternativen Kommentare zu Hupfelds Thesen finden sich in VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 8. Die ursprüngliche Überschrift „Gutachten über die Landfrage in Togo und Kamerun“ ist hier durchgestrichen. 414 J. K. Vietor an F. Hupfeld vom 20.6.1905, StAB, 7,1025-45,4. Vietor hatte auf Wunsch Hupfelds sein Gutachten nochmals überprüft und diese Aussage bestätigt. 415 F. Hupfeld an J. K. Vietor vom 22.6.1905, StAB, 7,1025-45,4. 416 J. K. Vietor an F. Hupfeld vom 20.6.1905, StAB, 7,1025-45,4. 417 F. Hupfeld an J. K. Vietor vom 5.8.1905, StAB, 7,1025-45,4, S. 2. Vietor konterte Hupfelds Vorwurf, ihm nicht das ganze Gutachten zugesandt zu haben mit dem Hinweis, er sei selbst schuld, dass er nicht im Besitz des gesamten Gutachtens wäre. Wäre er nicht vorzeitig aus der

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kehrs zwischen Vietor und ihm in dieser Sache.418 Vietor dagegen wies Hupfelds Unterstellung zurück, er hätte aus Konkurrenzneid bewusst wahrheitswidrige Angaben gemacht. Für ihn lag der Grund des Dissens ganz woanders. Es täte ihm leid, Hufpeld verärgert zu haben, aber er habe „im Interesse der Entwicklung unserer Kolonien und im Interesse unserer Eingeborenen“ nicht umhin gekonnt, seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Wenn dadurch die DTG geschädigt worden sei, dann nur deshalb, „weil in diesem Fall Ihr Privatinteresse und das Allgemeininteresse sich nicht entsprachen.“ Das hätte mit Konkurrenzneid nichts zu tun, zumal er im Gebiet der DTG „überhaupt keine persönlichen Interessen“ hätte. Hupfeld und er ständen in Bezug auf die Kriterien eines Betriebszwanges eben auf unterschiedlichen Standpunkten.419 Genau an diesem Punkt versuchte Hupfeld nun akribisch nachzuweisen, dass seine Aufwendungen eben doch bedeutend höher gewesen waren, als von Vietor angegeben und damit über den Minimalanforderungen des Betriebszwanges lagen. Bei seinem Besuch in Togo 1904 hätte sich Vietor davon überzeugen können, dass die DTG am Agu durchschnittlich vier Aufseher, 44 Kontraktarbeiter und 55 Aguleute, also zusammen 103 Mitarbeiter beschäftigte. Die Unterlassung einer ausreichenden Erkundigung zeige daher, dass es Vietor nur um „[…] eine Fortsetzung der, man kann wohl sagen, gehässigen Angriffe [ginge], mit denen sie uns seit dem Augenblicke verfolgen, seit die Gründung der Deutschen Togogesellschaft, also die Verknüpfung von Landbesitz und Plantagen mit einem Konkurrenzunternehmen gesichert war, während ihnen die Tatsache meiner Landerwerbung ja schon seit Jahren bekannt war.“

Für Hupfeld stand auch fest, dass es der Einfluss Vietors im Vorstand der NMG gewesen war, der zu einer Frontstellung derselben gegenüber der DTG geführt hatte, außerdem hätte er den VWK gegen die DTG mobil gemacht. Für ihn war die Angelegenheit nicht zuletzt deshalb nicht hinnehmbar, weil seiner Meinung nach Vietors Gutachten daran schuld sei, dass die DKG–Landkommission und dessen Vorsitzender, Prof. Anton, Beschlüsse gefasst hätten, die teilweise dazu geeignet waren „unsere Gesellschaft zu schädigen und zu diskreditieren.“ Er vermutete zudem, dass in den Hupfeld nicht übersandten Teilen von Vietors Gutachten noch weitere Bosheiten steckten.420 Wenn davon auch nicht die Rede sein konnte, so entsprach es durchaus den Tatsachen, dass es Vietor gewesen war, der ganz wesentDTG Landkommission ausgetreten, hätte er es jedenfalls von dort zugesandt bekommen, J. K. Vietor an F. Hupfeld vom 8.8.1905, StAB, 7,1025-45,4. 418 F. Hupfeld an J. K. Vietor vom 13.10.1905 (Einschreiben), StAB, 7,1025-45,4. Als mögliche Adressaten nannte er Mitglieder des Aufsichtsrates der DTG, einige Herren der aufgelösten Landkommission der DKG, einige interessierte Personen in Togo, den Vize–Präsidenten der DKG, die Kolonialabteilung des AA, das Gouvernement Togo. 419 J. K. Vietor an F.Hupfeld vom 8.8.1905, StAB, 7,1025-45,4. 420 F. Hupfeld an J. K. Vietor vom 5.8.1905, StAB, 7,1025-45,4, S. 2. Wie angespannt das Verhältnis zwischen Vietor und Hupfeld 1905 war, bestätigt ein Schreiben Vietors an seine Frau während des Kolonialkongresses. Das Abendessen am 6.10.1905 war so eingedeckt worden, dass Vietor gegenüber von Hauptmann Besser, Prof. Wohltmann und Hupfeld plaziert worden war. Da das aber „Mord und Totschlag gegeben“ hätte, zog Vietor mit seinen Begleitern an den Tisch von Herrn Eichholz, an dem auch Oloff, Boedecker und einige andere in Kamerun engagierte Herren saßen, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 7.10.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7.

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lich zu einer öffentlichen Sensibilisierung gegenüber dem Vorgehen der DTG beigetragen hatte. Dafür wollte sich Vietor nicht entschuldigen und Spannungen, die daraus erwuchsen auch nicht auflösen. Für ihn stand fest, dass monopolistische Gesellschaften unbedingt abzuwehren waren, nicht nur aus Konkurrenzgründen, sondern, und hierin sich sicher von anderen Kaufleuten unterscheidend, auch aufgrund kolonialpolitischer, humanitärer und christlicher Überlegungen. Auch an der Auseinandersetzung mit der DTG wird deutlich, dass es Vietor um die Verwirklichung des Leitbildes des indigenen, handelsfähigen Bauernstands in Togo ging, gepaart mit dem Festhalten am Prinzip des Freihandels und der Ablehnung reiner Spekulationsgeschäfte, die die wirtschaftlich–gesellschaftliche Entwicklung der Kolonie schwächten. Der Hinweis, er hätte keine kaufmännischen Interessen im Gebiet der fraglichen DTG Erwerbungen, hatte in diesem Fall freilich nicht die gleiche Überzeugungskraft wie das gleichlautende Argument für Kamerun, wo er erst 1911 mit dem Aufbau einer Geschäftsgrundlage begann. Ohne Frage stellte die DTG in Togo auch einen ernsthaften Handelskonkurrenten für Vietor dar, was sich allerdings erst in den Folgejahren deutlicher zeigen sollte. Als sich im weiteren Verlauf der Landkommissionsarbeit die DTG weigerte, Vorschlägen für zusätzliche Abtretungen zu folgen, drängte Dr. Asmis, der Vorsitzende der Landkommission, schließlich auf juristische Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Hupfeld’schen Verträge. Zech folgte dieser Linie und empfahl nun auch seinerseits den Rechtsweg.421 Damit schwenkten Landkommission und Verwaltung auf die Argumentationslinie Försters und der SPD Fraktion ein, die, im Gegensatz zur Kolonialabteilung bereits 1904 die Rechtmäßigkeit der Verträge öffentlich angezweifelt hatten. Auch der Bericht Missionar Freyburgers, auf den sich Vietor damals stützte, hatte kaum einen Zweifel an der juristischen Fragwürdigkeit der Verträge gelassen. In der ersten Zeit war es der Landkommission immer gelungen, einen Ausgleich zwischen der DTG und den einheimischen Vertretern der einzelnen Landschaften zu erzielen.422 Die betreffenden Vertreter hatten dabei die Verträge als solche nie in Frage gestellt. Anders verhielt es sich jedoch bei den vier Landschaften Jokle, Kpime, Lawie und Kata. Durch die wenig kompromissbereite Haltung des DTG Verhandlungsführers Woeckel, weigerten sich die indigenen Verhandlungsführer schließlich, die Rechtmäßigkeit der Verträge anzuerkennen. Gleichzeitig verweigerten auch Vertreter der Landschaften Tongbe, Kpoeta und Leglebi ein Kompromissangebot der DTG. Beide Fälle führten Anfang 1909 zu zwei getrennten Gerichtsprozessen. Während die vier Landschaften Jokle, Kpime, 421 Bericht des Vorsitzenden der Landkommission, Dr. Asmis, an den Gouverneur von Togo vom 3.10.1908, BAB, R 1001-3645, Bl. 22–24, 22; Kais. Gouvernement von Togo (Zech) an RKolA vom 11.12.1908, ebd., Bl. 133; Kais. Gouvernement von Togo (Zech) an RKolA vom 6.2.1909, BAB, R 1001-3646, Bl. 3. 422 Neben der Einigung mit der Landschaft Nyambo 1905 war es auch durch die Untersuchungen vom 3. bis 24.9.1906 zu einer Einigung mit den Landschaften Tafie und Kebu gekommen. Auch die Untersuchungen in den Landschaften Gadya, Atigbe und Agnibo zwischen Juli 1907 und Mai 1908 konnten zumindest teilweise zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden, Bericht Dr. Gruners über die bisherige Landkommissionstätigkeit, BAB, R 1001-3645, Bl. 131; Geschäftsberichte der DTG, BAB, R 1001-3643, Bl. 117; R 1001-3644, Bl. 193; R 1001-3645, Bl. 74.

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Lawie und Kata ihrerseits die DTG verklagten, verklagte die DTG die sich weigernden Vertreter der Landschaften Tongbe, Kpoeta und Leglebi.423 Ein Blick auf die Verträge von 1898 kann nur größtes Verständnis für die Empörung der einheimischen Bevölkerung wecken. Für die etwa 40.000 ha im Agugebiet hatte Hupfeld einen Kaufpreis von 4.245 Mark bezahlt, wobei 1.100,- Mark eine spätere Nachzahlung darstellten. Ursprünglich hatte er demnach nur etwas mehr als 3000,- Mark aufgewendet.424 Ein Teil des Betrages wurde dabei meist mit Warenlieferungen verrechnet, also nicht bar ausbezahlt, wie etwa im Fall der Landschaft Nyambo. Hier bestand der Kaufpreis für 4.206 ha in einer „Last“ Tabak, 10 Fass Pulver, 4 Kisten Gin, 2 „Tin Sprit“ und 17 „Stück Zeug“. Die Waren wurden mit dem Gesamtpreis von 440,- Mark verrechnet, sodass Hupfeld nur noch 70,Mark in bar ausbezahte.425 In Kpime beschränkte sich Hupfeld sogar gänzlich auf die Ausgabe eines Warengutscheins.426 Die Versuche Dr. Asmis’, die Rechtmäßigkeit der abgeschlossenen Verträge in Frage zu stellen, stießen erwartungsgemäß auf den erbitterten Widerstand Hupfelds, obwohl die DTG offensichtlich selbst zunehmend unsicher wurde über die juristische Unanfechtbarkeit der Verträge.427 Hupfeld hielt Asmis für „voreingenommen“428 und warf ihm vor, er bediene sich einer „juristischen Konstruktion“,429 um der DTG Besitzrechte streitig zu machen. Damit bezog sich Hupfeld auf den Standpunkt von Asmis, es gäbe auch innerhalb einer Landschaft herrenlose Gebiete. Damit wären sie nicht in Form eines privatrechtlichen Vertrages veräußerbar, da der veräußernde Vertragspartner gar nicht Eigentümer sei. Mit dieser Ansicht setzte sich Asmis schlussendlich in den der Klageeinrei423 DTG an Dr. Gleim vom Januar 1909, BAB, R 1001-3645, Bl. 151. Während es sich beim in Frage stehenden Gebiet der Landschaften Tongbe, Kpoeta, Leglebi lediglich um weniger als 800 ha handelte, ging es bei den Landschaften Jokle, Kpime, Lawie und Kata um fast 9.000 ha, Kais. Gouvernement von Togo an RKolA vom 26.5.09, BAB, R 1001-3646, Bl. 54–56, 56. 424 Ebd., Stuebel war 1904 noch von einem Kaufpreis von 2.795 Mark ausgegangen, vgl. SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 457, S. 2497. 425 Vernehmungsprotokoll zum Landverkauf an Hupfeld vom 22.5.1899 in Nyambo, BAB, R 1001-3643, Bl. 82. Die Aussage beruhte auf der Vernehmung Häuptling Plakus und anderer Vertreter der Landschaft. Eine wirkliche Anfechtungsmöglichkeit des Vertrages scheint in dieser Vernehmung nicht bestanden zu haben. Plaku gab jedenfalls an, Hufpeld hätte bei seinem zweiten Besuch, nachdem der Vorvertrag schon geschlossen war, geäußert, wenn Plaku vom Vertrag zurücktreten wolle, müsse er alle empfangenen Waren zurückgeben, was dieser nicht konnte, weil die meisten Waren bereits verbraucht waren. Das Vernehmungsprotokoll lässt nicht erkennen, dass ihm wenigstens hier noch eine Möglichkeit des Rückritts erklärt worden war. Das gleiche gilt auch für alle weiteren Vernehmungsprotokolle zu den Landkäufen, vgl. ebd., Bl. 83–92. 426 Ebd., Bl. 88f. 427 Auch wenn der DTG Vertreter Woeckel der Landkommission offiziell das Recht bestritt, die Rechtmäßigkeit der Verträge zu überprüfen, erklärte er sich, nach Aussage Asmis, dennoch „zu weiteren Verhandlungen bereit und ich hatte auch sonst den Eindruck, als ob die Deutsche Togogesellschaft selbst nicht allzu fest von der Rechtsgültigkeit ihrer Verträge überzeugt ist“, Bericht des Vorsitzenden der Landkommission Dr. Asmis an den Gouverneur in Togo vom 3.10.1908, BAB, R 1001-3645, Bl. 22. 428 DTG (Hupfeld) an RKolA vom 7.1.1909, BAB, R 1001-3645, Bl. 148. 429 DTG an Kais. Gouvernement von Togo vom 23.1.1909, BAB, R 1001-3645, Bl. 182.

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chung folgenden Vergleichsprozessen durch.430 Damit verlor die DTG Ansprüche auf über 13.000 ha am Agu, die nun als „herrenlos“ galten.431 Im weiteren Verlauf musste die DTG immer weiter nachgeben und stimmte schließlich 1910 einem Vergleich zu, mit dem sie auf fast zwei Drittel ihres Landes am Agu verzichtete. Für das etwa 40.000 ha große Gebiet in der Landschaft Boem trat der Fiskus anstelle der DTG in den Vertrag ein. Es verblieben der DTG damit nur noch 17.793 ha am Agu, von denen sie jedoch weitere 6.470 ha als Gegenwert einer monetären Beteiligung an den Bahnbaukosten für die Strecke Lome–Palime, an den Fiskus abtreten musste.432 Als Ausgleich für den Verzicht auf die Gebiete in Boem erhielt die DTG zwei Landflächen von zusammen 4000 ha „als beitragsfreies Areal“, das direkt an der Bahnlinie Lome-Atakpame lag. Auch hier kamen demnach keine weiteren Umlagen für die Baukosten der Bahn auf die DTG zu.433 Das schrittweise Nachgeben der DTG verlief nicht ohne heftige Angriffe gegen Asmis, aber auch gegen Zech. Hupfeld warf beiden vor, ihre Sichtweise sei „rein einseitig“.434 Besonders Zechs Vorschlag, die DTG solle von den 40.000 ha in der Landschaft Boem lediglich 1.500 ha als Abfindung behalten dürfen, war für Hupfeld völlig „indiskutabel“. Dieser Vorschlag stand für ihn in einem „schreienden Missverhältnis“ zu der Tatsache, dass die Verträge dort genehmigt worden seien.435 Entsprechend scharf beschwerte sich Hufpeld sowie der Aufsichtsrat der DTG am 13.8.1909 beim Kolonialamt über Zechs Amtsführung. Daraufhin verlangte Zech vom Kolonialamt, dass diese Angriffe gegen ihn in „nicht misszuverstehender Deutlichkeit zurückgewiesen“ würden.436 Die geforderte Rückendeckung wurde jedoch nicht erteilt, vielmehr wurde Zech beschieden, man wolle vor einer Stellungnahme mündlich mit ihm über die Vorwürfe sprechen, wenn er wieder in Berlin sei. Zech berief sich daraufhin auf die Reichstagsrede Dernburgs vom 26.2.1909, in der dieser öffentlich klargestellt hatte, dass er sich hinter seine Beamten in den Kolonien stelle und ihnen hier den Rücken freihielte. Nochmals forderte er die Zurückweisung der Angriffe gegen ihn und bat darum, ihm die Abschrift der erfolgten Zurückweisung zukommen zu lassen. In diesem Zusammenhang erinnerte er daran, dass er bereits im vergangenen Jahr in Bezug auf einen kritischen Zeitunsartikel Anlass dazu hatte, das Kolonialamt zu bitten, ihm den Rücken freizuhalten gegenüber Angriffen auf 430 „Sämtliche Vergleiche sind übrigens mit Zustimmung des Vertreters der Deutschen Togogesellschaft unter Zugrundelegung der Asmis’schen Eigentumstheorie abgeschlossen worden“, Kais. Gouvernement von Togo an RKolA vom 26.5.1909, BAB, R 1001-3646, Bl. 54. 431 BAB, R 1001-3646, Bl. 55f. 432 Zech berief sich dabei auf die Vorschriften des Gesetzes vom 23.7.1904 betreffend die Gewährung eines Darlehens an das Schutzgebiet Togo zum Zwecke des Bahnbaus. Danach waren interessierte Pflanzungsgesellschaften zur Beteiligung an den Bahnbaukosten verpflichtet, was seiner Meinung nach auch auf die DTG zutraf, vgl. Zech an RKolA vom 12.1.1909, BAB, R 1001-3645, Bl. 177. Zech gibt als Datum für das Gesetz irrtümlich den 23.4.1904 an. 433 Notariell beglaubigte Vereinbarung zw. RkolA und DTG vom 23.10.1910, BAB, R 1001-3647, Bl. 27–33. 434 DTG (Hupfeld) an RKolA vom 13.8.1909, BAB, R 1001-3646, Bl. 81–99, 84. 435 Ebd., Bl. 94. 436 Zech an RKolA vom 11.12.1909; Zech an RKolA vom 23.4.1910; BAB, R 1001-3646, Bl. 148, 157f.

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seine Person und seine Politik in Togo. Er zeigte sich überzeugt, dass Hupfeld hinter diesem Artikel stand, in dem sowohl die Wirtschaftspolitik in Togo scharf kritisiert wurde als auch das Paktieren der Verwaltung mit Dr. Asmis. Er sprach diesen Verdacht so offen aus, damit das Kolonialamt Hupfeld energisch gegenüberträte.437 Kurze Zeit später trat er zum großen Bedauern der Kaufleute als Gouverneur zurück, da die erneut geforderte öffentliche Parteinahme für ihn offensichtlich weiterhin verweigert wurde.438 „Total verfehlte Eingeborenenpolitik“ Vietor gehörte bereits früh zu den engagiertesten Vertretern einer Kolonialpolitik, die darauf zielte, die afrikanische Bevölkerung als Handelspartner zu gewinnen und sie in ihrer Entwicklung zu selbständigen Marktteilnehmern zu unterstützen. Bereits sein Kampf gegen den Branntweinhandel war nicht zuletzt von diesem typisch kaufmännischen Grundsatz ausgegangen.439 Erfolgreicher Handel ließ sich nur über die Ausweitung von Bedürfnissen und Kaufkraft der einheimischen Bevölkerung in den Kolonien erreichen. Allein diese rein ökonomische Sichtweise lief an sich auf ein Mindestmaß an respektvollem Miteinander von Schwarz und Weiß hinaus, da man sich in einem auf Freihandel basierenden Wirtschaftssystem, an dem die einheimischen Produzenten als selbständige Subjekte teilnahmen, mehr oder weniger auf Augenhöhe begegnete. Deswegen hatte nach Vietors Ansicht die Rassenfrage in Togo „bis jetzt kaum Schwierigkeiten“ gemacht. Die Theoretiker in Deutschland, die die Verhältnisse in Afrika gar nicht kennen würden, bezeichneten in seinen Augen die indigene Bevölkerung Afrikas nur deswegen als „minderwertig […], um den Neger besser ausbeuten zu können […]. Ich habe noch nie gehört, daß ein tüchtiger Mann, der das Leben und die Menschen zu nehmen weiß, viel über die Rassenfrage gesprochen hat.“ Nach seiner Erfahrung waren es dagegen diejenigen, die nicht genug verdienten oder im Leben nicht richtig weiterkämen, die dann den Afrikanern die Schuld dafür gäben.440 Ebenso verantwortlich für die gestörte Beziehung zwischen Schwarz und Weiß in den deutschen Schutzgebieten waren für

437 Zech an RKolA vom 23.4.1910; BAB, R 1001-3646, Bl. 157. 438 Im Jahresbericht der VWK für 1910 wird Zechs Ausscheiden bedauert, da das Schutzgebiet Togo ihm „einen großen Teil ihres Aufschwunges zu danken hat“, BAB, R 1001-3414, Bl. 66. Nach Darstellung des Kolonialbeamten Metzger war Zechs Rücktritt auch auf die ständigen Nachfragen Dernburgs zum Bau der Hinterlandbahn zurückzuführen, die Zech als Schikane empfand, vgl. Zurstrassen, Bettina: Die Steuerung und Kontrolle der kolonialen Verwaltung und ihrer Beamten am Beispiel des „Schutzgebietes“ Togo. Phil. Diss., München 2005, S. 270. 439 Selbst Adolf Woermann hatte bereits in seiner Reichstagsrede vom 4.2.1885 zugegeben, dass es an sich für den Handel ein Vorteil wäre, wenn der Branntweinhandel aufhörte, vgl. SBR, 6. Leg. per., 1. Sess., 41. Sitzung vom 4.2.1885, S. 1087. Vietor unterstrich daher 1902 das Interesse der Kaufleute, „daß die Eingebornen gehoben, entwickelt und geschont werden“ und sah darin auch den Schlüssel zur „wirtschaftlichen Hebung der Kolonien als solches“, vgl. Vietor, 1902 (wie Anm. 200), S. 171. 440 Vietor, J. K.: Die Entwicklung Togos unter deutscher Herrschaft, in: MB 1909, S. 76–78.

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ihn auch die deutschen Kolonialbeamten.441 Bereits 1894 beklagte sich Vietor über zu „schneidige“ Beamte, die es an angemessener Behandlung der afrikanischen Bevölkerung fehlen ließen. Bei der Aussendung neuer Beamter sollte daher in Zukunft besser auf deren Eignung auch in dieser Hinsicht geachtet werden.442 Auch wenn er grundsätzlich der Entscheidung des Gouverneurs Zimmerers zustimmte, Delikte, die in Deutschland mit Zuchthaus bestraft würden in Togo durch die Prügelstrafe ahnden zu lassen, bestand er auf grundsätzlicher Zurückhaltung bei der Anwendung dieser Strafe.443 „Das Prügeln der Schwarzen wegen geringfügiger Vergehen ist aber doch unter keinen Umständen zu dulden.“444 Die Klage über ex441 Den Grund für die schlechten Erfahrungen mit Beamten, gerade am Anfang der deutschen Kolonialzeit, sah Vietor in deren mangelhafter Qualifikation. Gut ausgebildete und geschulte Beamten hätten anfangs kaum zur Verfügung gestanden. Während von den Kaufleuten nur Idealisten bereit gewesen wären in die Kolonien zu gehen, hätte man nur einen Beamtentypen gewinnen können, „der sonst sein Weiterkommen in der Welt nicht sah“. Nach der Jahrhundertwende sei das aber besser geworden, Vietor, J. K.: „Mission“. Vortragsmanuskript [1908/09] , VPAH, Konv. 4, Teil 1, S. 3. Für Kamerun und Südwestafrika konnte er eine entsprechende Beserung jedoch noch 1913 nicht sehen: „In Kamerun und Südwest dagegen behandelt man die Schwarzen mit ausgesuchter Unhöflichkeit, die jedem, der ohne Vorurteil in das Land kommt, sofort auffallen muß“, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 102. 442 Vietor, 1894 (wie Anm. 134). In „schneidigen Herren“ sah auch Dr. O. Kersten 1895, neben „Trunkenbolden“ und „Wüstlingen“, die größte Gefahr für die Entwicklung der Kolonien und forderte die Einhaltung sittlicher Zucht, Schleinitz, 1903 (wie Anm. 157), S. 34. Vietor verlangte nach seiner Inspektionsreise 1904/05, dass Beamte, die sich gegenüber der afrikanischen Bevölkerung rücksichtlos und schlecht benähmen, „sofort nach Hause gesandt werden“, Vietor, 1904/05 (wie Anm. 311), S. 6. 1903 drängte er im Kolonialrat darauf, dass sich die Regierung vor Aussendung von neuen Beamten auch über deren sittliche Festigkeit ausreichend erkundigen müsse. Es wäre ein schlechtes Vorbild, wenn gerade Beamte sich schwarze Konkubinen halten würden, vgl. KR vom 18.5.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 11, S. 4. Auch gegenüber Graf Zech drängte Vietor auf Verbesserung des Vorbildes deutscher Beamter. Es könne nicht sein, dass sich Beamte ihre schwarzen Konkubinen in Hängematten nachtragen ließen, J. K. Vietor an Zech vom 29.8.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Auch Erzberger kritisierte ein entsprechendes Verhalten deutscher Beamter, als er am 14.12.1905 im Reichstag auf eine Anweisung Stuebels an das Gouvernement von Kamerun vom November 1904 hinwies. Danach solle das Gouvernement Sorge dafür tragen, dass „falls der Brauch eingerissen sein sollte, wonach von den Beamten auf Reisen von den Eingeborenen Weiber zum geschlechtlichen Verkehr gefordert werden, den Beamten ein solches Verhalten als mit ihrer Würde unvereinbar verboten wird.“ Schwarzen Soldaten und Dolmetschern wurde eine entsprechende Erpressung zugunsten weißer Beamter ebenfalls verboten. Auch Erzberger verlangte daher, wie Vietor, dass in Zukunft „nur die besten und tüchtigsten Beamten in unsere Kolonien geschickt werden“, SBR, 11. Leg., 2. Sess., 12. Sitzung vom 14.12.1905, S. 322, 331. F. Erdmann forderte nach Ausbruch des Aufstandes für Südwestafrika nur noch Entsendungen von „beste[m] und zuverlässigste[m] Beamtenmaterial“, dessen charakterliche und moralische Eignung vor Aussendung sichergestellt worden sei, DKZ 36 (1904), S. 357. 443 Zur Prügelstrafe in den afrikanischen Kolonien Deutschlands vgl. Schröder, Martin: Prügelstrafe und Züchtigungsrecht in den deutschen Schutzgebieten Schwarzafrikas (Europa Übersee; 6), Münster 1997; zur Anwendung der Prügelstrafe in Togo vgl. Trotha, Trutz von: „One for Kaiser“. Beobachtungen zur politischen Soziologie der Prügelstrafe am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, in: Heine, Peter / Heyden, Ulrich von der, 1995: Studien zur Geschichte, S. 521–551. 444 Vietor, 1894 (wie Anm. 134).

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tensive Anwendung der Prügelstrafe blieb in den Folgejahren fester Bestandteil von Vietors Kritik an der kolonialen Praxis Deutschlands. „Den tollsten Fall einer Prügelstrafe“ in Togo erzählte ihm 1904 ein katholischer Missionar. Die Mission hatte eine kleine Musterplantage zur Schulung von Einheimischen angelegt. Als der Bezirksamtmann die Station besuchte und dabei feststellte, dass die Plantage einen vernachlässigten Eindruck machte, verordnete er dem schwarzen Lehrer der Schule 25 Hiebe.445 Da es in Anwendung der Prügelstrafe auch zu mehreren Todesfällen gekommen war, beantragte Vietor am 1.7.1904 im Kolonialrat eine Resolution, „daß die Prügelstrafe nur durch richterliches Erkenntnis (sic) und nur wegen besonderer Gemeinheit verhängt werden soll.“ Von Prügel wegen geringfügiger Delikte sollte ganz abgesehen werden.446 Vietor wies in diesem Zusammenhang auch auf einen Fall hin, bei dem einem siebzigjährigen Häuptling eine Strafe von fünfundzwanzig Hieben „auf den Hintern“ verpasst worden sei. Außerdem musste er zusätzlich eine nicht geringe Menge an Mais als Strafe bezahlen. Über diesen Fall würde in der ganzen Region Akpafu gesprochen und es könne nicht verwundern, wenn das mit Hass nicht nur auf den vollziehenden Beamten, sondern auf die gesamte Kolonialmacht quittiert würde. Von Dr. Gruner, dem langjährigen Bezirksamtmann in Misahöhe, habe er sich erzählen lassen, dass dieser bei einer Besichtigungsreise in die Goldküste von englischen Beamten und schwarzen Plantagenarbeiter hören musste: „O, you are from the country with the 25.“447 Da Stuebel bereits eine Untersuchung der Fälle angeordnet hatte, kam Vietors Antrag zwar nicht zur Abstimmung, warf aber für einige Kolonialräte ein völlig neues Licht auf die Problematik.448 In Erwiderung auf die Artikelserie in der DKZ, „Caveant Consules“, warf er dem Verfasser, dem ehemaligen ostafrikanischen Bezirksamtmann Walter St. Paul Illaire, vor, „wieder eine Kolonialpolitik [zu] befürworten, der wir unsere Misserfolge wohl zum größten Teile verdanken.“449 Er stimmte Illaire zwar 445 KR vom 1.7.1904 (ausführliches Protokoll), BAB, R 1001-6980, Bl. 431. 446 Stuebel konnte Vietor mit dem Hinweis beruhigen, dass das Gouvernement in Togo bereits am 11.3.1904 zur einer Stellungnahme sowie zur Vorlage der aktuell gültigen Vorschriften hinsichtlich der Prügelstrafe aufgefordert worden sei. Es sei gegenüber dem Gouvernement außerdem darauf hingewiesen worden, dass eine Einschränkung und Beschränkungen in der Art der Anwendung der Prügelstrafe wünschenswert sei, KR vom 1.7.1904, BAB, R 1001-6993, Bl. 59, S. 13. 447 KR vom 1.7.1904 (ausführlicher Bericht), BAB, R 1001-6980, Bl. 432–434. 448 „Nachher kam Herr Domkapitular Hespers und sagte, er hätte ebenso reden wollen, und Prof. Schweinfurth (sic) sagte mir, daß er gar nicht gewusst hätte, daß es bei uns so aussähe. Ich habe mich lange mit dem Herzog unterhalten, der über manches ganz falsch orientiert war, und der mir schließlich doch ganz recht geben musste“, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 1.7.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 6. 449 Die Artikel unter dem Titel „Caveant Consules“ erschienen zuerst in der DKZ Nr. 43, 44, 45 (1905) und wurden, zusammen mit weiteren kolonialpolitischen Beiträgen St. Paul Illaires 1906 unter dem gleichen Titel in einem Sammmelband veröffentlicht, vgl. Saint Paul Illaire, Walter von: Caveant consules! Kolonialpolitische Zeit- und Streitfragen, Eingeborenen-Politik, Machtpolitik, Rassenpolitik, Kolonisator, Missionar und Kaufmann, interkoloniale Rechtshilfe, Verkehrspolitik, Berlin 1906, S. 5–24. Illaire vertrat hier den Standpunkt, der wahre Grund der kolonialen Besitzergreifung hätte nicht in einem kulturmissionarischen Impuls bestanden, sondern allein in dem Wunsch ökonomischer Vorteile für die Kolonialmacht. Daher

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zu, dass die Kolonien erworben worden seien, „um Vorteile aus ihnen zu ziehen, aber die Wege, wie das geschehen soll, gehen himmelweit auseinander.“ Die Behauptung Illaires jedoch, die Eingeborenen hätten viel zu viel Freiheit in den deutschen Schutzgebieten, wies er energisch zurück. „Stehen wir in unserer Verwaltung denn nicht fast überall auf dem Standpunkt, daß nur durch Zwang und Gewalt die Schwarzen zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft gemacht werden können? Kommen nicht aus unsern Kolonien Klagen über Klagen über das unbarmherzige Hauen, über die Gewalttätigkeit der schwarzen Soldaten, über die Schwere der Ketten, in denen unfehlbar auch der Stärkste binnen Jahresfrist stirbt? Und was für herrliche Resultate haben wir mit dieser unserer Kolonialpolitik erreicht? Südwest- und Ostafrika sind im Aufstand. In Kamerun gibt es beständig Unruhen.“450

Im Vergleich zur Bilanz des Generalgouverneurs für französisch Westafrika, Ernest Roume, die dieser am 15.12.1904 in Dakar vorgetragen hatte, war die deutsche Situation für Vietor katastrophal. Roume hatte angegeben, die französischen Kolonien hätten in den letzten Jahren jeweils Einnahmesteigerungen von etwa vier Millionen Francs jährlich verzeichnen können. In den letzten zehn Jahren wäre der französische Westafrikahandel von 66 Millionen Frs. auf 165 Millionen Frs. angestiegen und im Jahre 1904 hätte man mit einem Überschuss von insgesamt 1.737.165 sei auf die Interessen der schwarzen Bevölkerung nicht allzu sehr Rücksicht zu nehmen, käme der Weiße doch nicht zunächst als Freund und Lehrer, sondern als Eroberer, der eigenen Interessen folge. „Warum scheuen wir uns, klipp und klar zu erklären, daß unser wirtschaftliches Interesse allein die Richtschnur für unsere Kolonialpolitik in Afrika abgeben muß, dem sich die Interessen der Eingeborenen in jedem Falle unterzuordnen haben? (Herv. i.Orig.) Warum vermeiden wir ängstlich – von Eroberungspolitik zu sprechen, als ob das einer europäischen Kulturnation unwürdig sei und suchen mit schönen Redensarten von Kulturverbreitung und christlichem Interesse für unsere schwarzen Brüder über den wahren Sachverhalt hinwegzutäuschen?“, ebd., S. 18. 450 Vietor, Zur Eingeborenenfrage, 1905 (wie Anm. 207), S. 538. Ganz ähnlich argumentierte er 1905 auch in seinem Reisebericht an den Kolonialrat: „In ganz Westafrika [ist es] ruhig, außer in unseren Kolonien! Geben die jetzigen und vielleicht noch zu erwartenden Aufstände nicht doch wohl zu denken? Sollten wir wirklich so unglücklich gewesen sein, nur die Landstriche herausgegriffen zu haben, die solch schwierige Bevölkerung enthalten, oder sollte man allmählich vielleicht doch auf den Gedanken kommen können, daß wir allein es noch nicht recht angefangen haben, unsere Kolonien und deren Bewohner richtig zu behandeln, zu heben und zu entwickeln?“, vgl. Vietor, 1905 (wie Anm. 311), S. 7. Anlässlich einer Gerichtsverhandlung in Lome beschwerte sich Vietor auf Bitten einiger Afrikaner beim Richter darüber, dass selbst gebildete Schwarze bereits wegen kleinster Delikte in Kettenhaft genommen würden. Der Richter erklärte sich daraufhin bereit, in Zukunft auf solche Maßnahmen zu verzichten, wenn sich die Familien der Angeklagten im Falle von dessen Flucht bereit erklären würden, für den entstandenen Schaden aufzukommen, vgl. J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 4.12.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Eine Woche später konnte er weitere Zugeständnisse des Richters und von Gouverneur Zech in Fragen der Hafterleichterung vermelden: „Beim Richter und Grafen habe ich noch eine Menge Straferleichterungen durchgesetzt, wofür mir die Eingeborenen sehr dankbar sind“, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 11.12.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Vietor hatte sich bei Zech auch generell über den Amtsmissbrauch von Beamten beschwert: „Ich habe hier mit dem Grafen ja über alles gesprochen und ihm unter anderem gesagt, die Beamten seien viel zu rücksichtslos gegen die Schwarzen, wenn sie glaubten die Gewalt zu haben“, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 23.12.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7.

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Francs abschließen können. Paris hätte zudem eine Anleihe in Höhe von 65 Millionen Francs für die westafrikanischen Kolonien zugesagt, von denen 32,5 Millionen Frs. für Erschließungsarbeiten verwendet werden sollten.451 Diese Rede Roumes klang für Vietor im Vergleich zur Situation in den deutschen Schutzgebieten geradezu wie ein „Triumphgesang“, zumal sich die Entwicklung der französischen Gebiete „in der tiefsten Ruhe des vollständigen Friedens“ vollzog, abgesehen von einem vorübergehenden bewaffneten Konflikt gegen den Stamm der Cogniagnis. „Warum haben die Franzosen, wie ich im letzten Jahre mit eigenen Augen gesehen habe, so kolossale Erfolge, und warum haben wir Misserfolg über Misserfolg? Die Antwort lautet ganz einfach: Weil wir den Neger nicht zu behandeln wissen. Die anderen Nationen haben es lange erkannt, daß der Neger ein Mensch ist, genau wie wir.“452

Vietor konnte die Einstellung eines St. Paul Illaire gegenüber indigenen Völkern nicht verstehen, als hätte man es in den deutschen Kolonien nur mit niederträchtigem Gesindel zu tun. Das Gegenteil sei der Fall, in den meisten Fällen müsse man von „gutwilligen, gutartigen Leuten“ reden. Die englischen und französischen Kolonien kämen, abgesehen von der Erhebung von Steuern, gänzlich ohne Zwang aus und würden dennoch große Zuwachsraten in der Produktion verzeichnen können.453 Es sei daher klar: „In Wirklichkeit haben wir unsere Kolonialpolitik grundfalsch angefangen.“ Statt den Afrikanern zu zeigen, wie man neue Pflanzen kultivieren und erfolgreicher wirtschaften und durch Wege- und Bahnbau eine leistungsfähige Infrastruktur schaffen könne, „hat man fast alles bewilligte Geld für Soldaten 451 Vietor, Zur Eingeborenenfrage, 1905 (wie Anm. 207), S. 539. Roume brachte einen großangelegten Erschließungsplan auf den Weg, der in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg mit erheblichem finanziellem Aufwand zum großen Teil auch verwirklicht wurde. Das Generalgouvernement Französisch-Westafrika nahm dabei, auf der Grundlage der drei Gesetze von 1903, 1907 und 1910, insgesamt eine Anleiheschuld von 179 Millionen Franc auf. Lediglich für die Bahnstrecke Kayes-Kulikoro (Oberer Senegal), die 1905 in Betrieb genommen wurde, stellte das Mutterland zusätzliche Kredite bereit, Röll, Enzyklopädie, 1914 (wie Anm. 338), S. 199. Bis 1912 wurde in Französisch-Westafrika ein Schienennetz von 2.400 km geschaffen. Das Schienennetz der deutschen Schutzgebiete in Westafrika belief sich im Vergleich auf 327 km (Togo) und 443 km (Kamerun, Beihefte zum Tropenpflanzer. Wissenschaftliche und praktische Abhandlungen über tropische Landwirtschaft, Berlin 1916, S. 129–131.). Das Generalgouvernement Französisch-Westafrika umfasste mit über 4 Millionen qkm allerdings auch mehr als fünfmal so viel Fläche wie Togo (87.200 qkm) und Kamerun (1911: 495.000 qkm) zusammen. Allerdings stellten große Teile davon, insbesondere im nördlichen Teil, kaum bewohnte Wüstenflächen dar. 452 Vietor, Zur Eingeborenenfrage, 1905 (wie Anm. 207), S. 539. 453 Nach Vietors Kenntnis hatte die Steigerung der Ausfuhren aus Lagos und Dahomey 1898 noch bei einem Wert von 10.198.640,- Mark gelegen, 1902 jedoch bereits bei 23.077.580,- Mark, also mehr als das Doppelte, ebd. Die Ausfuhr-Entwicklung der deutschen Schutzgebiete insgesamt, ohne Kiautschou, stagnierte dagegen zwischen 1902 und 1904 bei etwa 20 Millionen Mark. Nennenswerte Steigerungen setzten erst nach 1906 ein und erreichten 1912 einen Ausfuhrwert von über 120 Millionen Mark, DKG (Hg.): Die Kolonien der europäischen Mächte und der Vereinigten Staaten von Amerika. Statistische Darstellung. Mit 4 Karten, Berlin 1915, S. 109. Die Ausfuhrentwicklung in Togo verlief dagegen im Zeitraum zwischen 1898 und 1902 noch stürmischer als in Dahomey und Lagos, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau. 1898 führte Togo Produkte im Gesamtwert von 1,47 Millionen Mark aus, 1902 im Wert von 4,19 Millionen Mark, beinahe dreimal so viel, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 387.

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und Verwaltung ausgegeben.“ Man habe einseitig auf billige Arbeitskräfte für Großplantagen gesetzt, die angesichts der niedrigen Bevölkerungszahlen viel zu früh angelegt worden seien. Eine zukunftsweisende Kolonialpolitik könne nur darin liegen, ohne Zwangsmaßnahmen den Afrikanern Chancen zum wirtschaftlichen Aufstieg zu bieten. Dagegen arbeite Deutschland viel zu viel mit Zwang und zu wenig mit Infrastrukturmaßnahmen. Es müsse endlich Schluss gemacht werden mit Zwangsarbeiten nach Belieben einzelner, unkontrollierter Beamter und es müsse Schluss gemacht werden mit dem dauernden Schlagen ohne richterliche Anordnung. „Dann werden unsere deutschen Neger freiwillig das tun, was man heute von ihnen mit Zwang nicht erreichen kann.“454 Ganz abgesehen von seinem von Illaire abweichenden Menschenbild in Bezug auf den Afrikaner, hätten die von Vietor vorgelegten wirtschaftlichen Zahlen der englischen und französischen Nachbarkolonien, die Anhänger einer Eroberungspolitik überzeugen müssen, dass gerade das Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen eine Afrikanerfreundliche Politik geradezu voraussetzte. In diesem Sinne war die von Vietor propagierte „Eingeborenenschutzpolitik“ nicht nur ein humanitärer, sondern ebenso ein ökonomischer Entwurf, den Dernburg später in dieser Form auch verstand und aufgriff.455 Vietor gehörte mit seinen Ansichten zur Frage der Behandlung der indigenen Bevölkerung zu den führenden Vertretern eines humanitär–paternalistischen Standpunktes, wie er insbesondere von Missionskreisen vertreten wurde und sich gegenüber der radikal–rassistischen Gruppe der Siedler und Plantagenbesitzer nach der Jahrhundertwende allmählich mehr und mehr Gehör verschaffen konnte.456 Der in 454 Vietor, Zur Eingeborenenfrage, 1905 (wie Anm. 207), S. 539. Vgl. zu Vietors Forderungen nach Ende des Zwangs, der exzessiven Anwendung der Prügelstrafe, der Schaffung von Versuchsgärten und der Erschließung der Kolonien durch Infrastrukturmaßnahmen auch Vietor, J. K.: Freie Arbeit oder Plantagenwirtschaft? Eine Zukunftsfrage für die deutschen Kolonien, in: Deutsche Volksstimme 22 (1905), S. 664–671. Im Interesse der Kolonien forderte er hier „ein vollständiges Brechen mit der bisherigen Politik von Zwang und Gewalt, die uns statt wirtschaftlichen Fortschrittes schon so viele Aufstände, Unruhen und kostspielige Strafexpeditionen gebracht haben […]. Wir müssen uns daran gewöhnen, die persönliche Freiheit des Negers anzuerkennen, so lange er seinen Verpflichtungen der Regierung gegenüber nachkommt“, ebd. S. 670f. 455 Gründer, Horst / Post, Franz-Joseph, 2004: Christliche Heilsbotschaft, S. 231; Gründer, Geschichte, 2004 (wie Anm. 7), S. 128; Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 147; vgl. auch Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 93; Stoecker, Helmuth: Kamerun 1906–1914, in: ders., 1977: Drang nach Afrika, S. 133–142, 135. Stoecker spricht in Bezug auf Dernburg von „Eingeborenenpolitik“. 456 Gründer, Horst: „Neger, Kanaken und Chinesen zu nützlichen Menschen erziehen“. Ideologie und Praxis des deutschen Kolonialismus, in: Beck, Thomas u.a (Hrsg.): Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung. Festschrift anläßlich der Gründung der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte 1999 in Bamberg (Beiträge zur Kolonialund Überseegeschichte; 75), Stuttgart 1999, S. 254–266, 258. Schuberth ordnet Vietor in ein „paternalistisch–humanitäres“ Lager ein, das er neben der „liberal–utilitaristische[n]“ Gruppe zu den gemäßigt prokolonialen Kräften zählt, vgl. Schubert, Michael, 2003: Der schwarze Fremde, S. 259. Vgl. auch Gründer, Horst, 1999: da und dort, Kap. V, S. 222–297 (Dokumente 75–110). Gründer bietet hier eine detaillierte Übersicht über die verschiedenen Einstellungen zur Rassenfrage des kolonialen Spektrums im wilhelminischen Deutschland. Dabei unterscheidet er im Wesentlichen fünf Hauptgruppen: das eher linksliberale, kolonialskeptische bürgerli-

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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker anwachsende Sozialdarwinismus beherrschte mit seinem Axiom der Aufwärtsentwicklung der Rassen und Kulturen sowie dem imperialistischen Leitgedanken „Expansion oder Untergang“ weite Teile der europäischen Gesellschaften, insbesondere im bürgerlichen Lager.457 Erkannte die Arbeiterbewegung aufgrund ihres eigenen gesellschaftlichen Kampfes um Teilhabe und Mitbestimmung viel deutlicher die Gefahren einer verzerrten rassistischen Wahrnehmung der Afrikaner,458 so gingen weite Schichten des Bürgertums von einem Naturgesetz aus, aufgrund dessen die Schwarzen zu Untertanen und Heloten der weißen Rasse bestimmt seien, wie es etwa Carl Peters formulierte: „Überall hebt er [der Kapitalismus] da auch die Eingeborenen aus dem Zustand der Bestialität in eine höhere Kulturform, indem er sie dazu erzieht, wozu die Natur sie bestimmt hat, nämlich zu Fabrik- und Muskelarbeitern. Herr Bebel und Singer sollen doch einmal versuchen, sie auf ihre Art zu gleichberechtigten Brüdern zu machen. Die Natur ist aristokratisch trotz aller Par-

che Lager, wie es Franz Giesebrecht vertrat, den patriarchalischen Standpunkt, wie ihn Hermann von Wissmann verkörperte, die rassistische Perspektive, wie sie August Boshart repräsentierte, die humanitär–paternalistische Gruppe, zu der er J. K. Vietor zählt und den reformistisch–utilitaristischen Zugang, den er in Bernhard Dernburgs Politik verwirklicht sieht. In einem späteren Beitrag reduziert Gründer die verschiedenen Gruppen auf vier und verwendet nun als Abgrenzung die Begriffe Paternalistisch, Radikal–rassistisch, Humanitär–paternalistisch, Rational–utilitaristisch, Gründer, Horst: Zum Stellenwert des Rassismus im Spektrum der deutschen Kolonialideologie, in: Becker, Frank (Hrsg.): Rassenmischehen, Mischlinge, Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich (Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte; 90), Stuttgart 2004, S. 27–41, 130–133. Thorsten Altena unterscheidet drei verschiedene Perspektiven, deren sich Missionare in der deutschen Kolonialzeit, je nach Absicht und Ziel, bedienten: ein negativ–intensionales Afrikanerbild, das den Beginn eines missionarischen Handelns fördern sollte, da sich das betreffende Volk in einem großen Gefälle zur europäischen Kultur befand, das positiv–intentionale Bild, das eine Kultur zwar möglichst positiv darstellte, aber auf das Fehlen christlichen Glaubens hinwies und das positiv–relativierte Afrikanerbild, das sich um möglichst neutrale Darstellung bemühte. Paternalismus definiert er als Superioritätsempfinden, das zumindest vorübergehend zu einer Bevormundung der als Kinder verstandenen Afrikaner berechtigte, Altena, Thorsten: „Etwas für das Wohl der schwarzen Neger beitragen“ – Überlegungen zum „Rassenbegriff“ der evangelischen Missionsgesellschaften, in: Becker, Frank, 2004: Rassenmischehen, S. 54–81, 61–70, 75. 457 Der Tropenarzt Ludwig Külz sah daher das Hauptmotiv des deutschen Kolonialismus im „Kampf ums Dasein“ und im „Expansionstrieb der Rasse“, vgl. Gründer, 1999: Neger (wie Anm. 456), S. 271, vgl. auch Gründer, Zur Politik, 2004 (wie Anm. 456), S. 29. 458 August Bebel sah in der Einstellung des kapitalistischen Unternehmers zum Arbeiter und der Einstellung des Kolonisators zu den indigenen Völkern eine gewisse Parallele und zeigte sich zurückhaltend gegenüber der These der Inferiorität der schwarzen Rasse. „Der Arbeiter ist selbst in den Augen vieler unserer zivilisierten europäischen Unternehmer eigentlich nur ein Werkzeug, ein Arbeitsmittel, das nach Möglichkeit ausgenutzt werden muß. Dies gilt in noch viel höherem Maße von den tiefer stehenden Rassen, die man als inferior betrachtet und gegen die instinktiv eine gewisse Verachtung und ein großer Haß vorhanden ist […]. Man gewöhnt sich zu leicht, in dem Schwarzen einen Menschen inferiorer Rasse zu sehen, gegen den man sich alles erlauben dürfe, gegenüber dem es in der Behandlung gar keine andere Grenze gebe als die des eigenen persönlichen Nutzens, des größten Vorteils für den Unternehmer“, SBR, 7. Leg. per., 4. Sess., 27. Sitzung vom 26.1.1889, S. 628.

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teiphrasen, und es ist die Natur selbst, die natürliche Grenzscheiden zwischen die Menschenspezies gesetzt hat.“459

Ganz ähnlich sah es August Boshart, deutscher Offizier und Söldner im Dienste des Kongostaates, der unverhohlen die These vertrat, „[…] daß der Neger einer untergeordneten Rasse angehört, von der Vorsehung geschaffen, dem Weißen zu dienen […]. Sein Instinkt sagt dem Neger, dass der Weisse ihm in allen weit überlegen ist; er erkennt ihn bereitwillig als höheres Wesen an; in diesem Glauben muss der Neger nicht nur belassen, sondern bestärkt werden.“

In letzter Konsequenz hatten für Boshart „so durchaus unproduktive Völker, wie es die schwarzen Stämme sind, keine Existenzberechtigung.“ Deshalb würde an dem Tag, an dem die Weißen den afrikanischen Kontinent durchdrungen und erschlossen hätten, „den Schwarzen die Totenglocke“ läuten.460 Ähnlich wie Boshart dachte auch Julius Scharlach, dessen Standpunkt zur Rassenfrage für Vietor den Anschauungen des Kongostaates entsprach, denn Scharlach hatte nach seiner Meinung für „die Auslieferung der Neger an die Gesellschaften […] mehr als ein Jahrzehnt wie ein Löwe gekämpft und wir sind im Kolonialrat oft hart aneinandergekommen“.461 Wie Carl Peters war Scharlach offensichtlich von einem rassischen Naturgesetz überzeugt, denn er „vertrat aufs extremste (sic) den Standpunkt, daß der Neger nur 459 Peters, Carl: Gesammelte Schriften (Bd. 1), München 1943, S. 448. Koloniale Expansion einer europäischen Macht war für Peters nur auf Kosten und zum Schaden indigener Völker denkbar. Das gerade am Anfang der deutschen Kolonialzeit oft bemühte kulturmissionarische Paradigma lehnte er gänzlich ab. „Die Kolonialpolitik will nichts anderes als die Kraftsteigerung und Lebensbereicherung der stärkeren, besseren Rasse, auf Kosten der schwächeren, geringeren, die Ausbeutung der nutzlos aufgespeicherten Reichthümer dieser im Dienste des Kulturfortschrittes jener. Es ist ein Irrthum, der gerade dem Deutschen naheliegt und der deshalb umso unzweideutiger zurückgewiesen werden muss, wenn man meint, die Kolonialpolitik bezwecke allein die moralische und materielle Hebung fremder Volksstämme. Sie soll weitblikkend genug sein, um sich diese Aufgabe als ein hervorragendes Mittel zum Zweck zu stellen. Dieser ist und bleibt aber schliesslich die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer schwächerer Völker Unkosten, zit. nach Helbig, Ludwig: Imperialismus. Das deutsche Beispiel, Frankfurt a. M. 1976, S. 76f. 460 Giesebrecht, Franz (Hrsg.): Die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien. Ein Sammelwerk, Berlin 1897, S. 45–47. Boshart plädierte gegen jede Form von Philanthropie gegenüber dem Schwarzen und sah in ihm ein „blutdürstiges, grausames Raubtier, das nur durch das Auge und die Peitsche des Bändigers in Respekt erhalten werden kann. Durch Bibelverteilungen und Segenssprüche ist bei ihm noch nie und nirgends etwas erreicht worden“, ebd. S. 41. Das Buch des linksliberalen Journalisten Giesebrechts, das das Spektrum der verschiedenen zeitgenössischen Haltungen zur Frage der Bewertung indigener Völker in etwa vierzig Beiträgen wiedergibt, findet sich, mit zahlreichen Glossen und Anmerkungen versehen, die wahrscheinlich von J. K. Vietor stammen, im Privatarchiv der Familie Vietor. Neben die Aussage Bosharts über den „blutdürstigen Neger“ finden sich drei Ausrufezeichen, die Aussage über die Totenglocke für den Schwarzen ist unterstrichen und mit zwei Ausrufezeichen markiert. Offensichtlich Zeichen von Vietors Empörung. Entsprechend empört zeigte sich Vietor jedenfalls während einer Schiffsreise gegenüber einem deutschen Offizier, „der nach Kamerun ging und so wahnsinnige Ansichten über die Schwarzen äußerte, daß wir uns gleich böse in die Haare kamen“, J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 5.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 461 Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 61f.

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um des Weißen willen da sei.“462 In seinem „viel bestaunten“463 Artikel vom 25.8.1899 hatte Scharlach in den Hamburger Nachrichten seinen rassistischen Standpunkt selber erschreckend offen formuliert: „Kolonisieren, das zeigt die Geschichte der Kolonien, bedeutet nicht, die Eingeborenen zu zivilisieren, sondern sie zurückdrängen und schließlich vernichten. Der Wilde verträgt die Kultur nicht, auf ihn wirken nur ihre schlimmen Seiten […] Der Neger ist seiner Natur nach ein Sklave, wie der Europäer seiner Natur nach ein Freier ist […] Wo immer ein mächtiges Herrenvolk auf ein Sklavenvolk trifft und die Herrschaft über dasselbe erwirbt, ist das letztere dem Untergang geweiht.“ Wer das nicht in Kauf nehmen wolle, solle lieber überhaupt keine Kolonialpolitik betreiben.464

Eine Kolonialpolitik, die dieser Grundlage folgte, war für Vietor und eine wachsenden Opposition aus Handel und Mission nicht länger hinnehmbar. Auf dem Parteitag der Christlich-Sozialen Partei vom 30.9. bis 1.10.1906 in Weimar hielt Vietor eine vielbeachtete Rede, in der er eine rasche Korrektur der bisher begangenen Fehler der Kolonialpolitik und einen „vollständigen Systemwechsel“ forderte. Die umfangreiche öffentliche Diskussion über die Behandlung der indigenen Bevölkerungen und die sinnvollste Kolonialpolitik konnte er nicht nachvollziehen, „weil die Verhältnisse in den Ländern, die wir in Besitz genommen haben so klar und einfach wie nur möglich“ lägen. 465 Die wesentlichste Korrektur der früheren Fehler bestand für Vietor in der Einziehung der vergebenen Konzessionen gegen Aufwandserstattungen und Überlassung des bereits in Kultur genommenen Landes. Den notwendigen Systemwechsel sah er darin, sich in Zukunft auf die beiden Faktoren in den Kolonien zu konzentrieren, die einen wirklichen Wert darstellten: das Land und die einheimische Bevölkerung. „Die erste Forderung, die wir deswegen erheben ist die, daß man mit dem Eingeborenen in Zukunft ganz anders umgehen soll wie bisher. Er soll den Mittelpunkt unserer Kolonialpolitik bilden.“466 462 Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 73. Zu Scharlachs rassistischer Einstellung vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 183. 463 So nennt Vietor den Zeitungsartikel, ohne explizit den Namen Scharlach zu erwähnen, Vietor, 1908/09 (wie Anm. 441), S. 5. 464 Zit. nach Ustorf, Werner, 1983: Humanität und Freihandel, S. 81–92, 87f. Auch St. Paul Illaire vertrat den Standpunkt, Deutschland hätte lieber „die Hände davon [der Kolonialpolitik, Anm. B.O.] gelassen“, wenn es nicht bereit sei, darauf zu bestehen, „daß Kolonialpolitik den Negern gegenüber nicht mit schönen Worten oder Honig- und Zuckerbrot zu betreiben ist, sondern eine starke Hand und Pulver und Blei dazugehört“, von Saint Paul Illaire, 1906 (wie Anm. 449), S. 18. Gründer weist zu Recht darauf hin, dass neben Carl Peters, August Boshart und Julius Scharlach auch der Geograph und Schulbuchautor Alfred Kirchhoff, sowie das gesamte Spektrum der alldeutschen Bewegung zum radikal–rassistischen Lager zu rechnen ist, vgl. Gründer, Zum Stellenwert, 2004 (wie Anm. 456), S. 30–32. Von Kirchhoff stammt die später von Heinrich Himmler rezipierte Redewendung, eine Herrenrasse müsse den Untergang einer unterlegenen Rasse „kühl bis ans Herz hinan“ verkraften, vgl. Gründer, Neger, 1999 (wie Anm. 456), S. 257f. 465 Der Vortrag Vietors wurde im parteinahen Organ „Die Arbeit“ abgedruckt und erschien auch als gesonderte Broschüre, vgl. Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 42 (1906), S. 57–59; Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, Hagen [1906], hier: S. 3, 11. 466 Vietor, 1906 (wie Anm. 465), S. 14.

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Das Fehlen der Verleihung von staatsbürgerlichen Rechten hatte nach Vietors Beobachtung dazu geführt, dass viele Deutsche die einheimische Bevölkerung in den Kolonien nicht als „unabhängige Menschen“, sondern rein als „Untergebene“ ansähen. Exemplarisch dafür stand für ihn die Prügelstrafe, deren Anordnung er nach wie vor in das Belieben von Beamten und Offizieren gestellt sah, was dazu führte, dass dieses Mittel häufig leichtfertig und wegen geringfügigen Delikten angewendet wurde.467 Damit vergab die deutsche Kolonialverwaltung die Chance, die Beziehung zur einheimischen Bevölkerung auf eine vertrauensvolle Grundlage zu stellen und zu verbessern.468 Von entscheidender Bedeutung war für ihn weiter die Unantastbarkeit des althergebrachten Landbesitzes der einheimischen Bevölkerung, der Ausbau der Infrastruktur und die Schulung der Einheimischen zu erfolgreichen und selbständigen Ackerbauern. Eben darin müsste die Haupttätigkeit der Verwaltung bestehen. Die Arbeit des KWK sah er in diesem Sinne aus wegweisend an. Von einer strukturellen Faulheit der Afrikaner konnte für Vietor keine Rede sein. Ihre Weigerung, auf europäischen Plantagen zu arbeiten, war für ihn durchaus nachvollziehbar und alles andere als einer Arbeitsscheu geschuldet. Das bewiesen hinlänglich die beachtlichen Leistungen selbständiger indigener Farmer.469 Vietor forderte wegen der häufigen Übergriffe auf die Bevölkerung, insbesondere durch schwarze Soldaten, eine strikte Trennung von Zivil- und Militärverwaltung in den Kolonien. Die Soldaten sollten grundsätzlich in Garnisonen stationiert bleiben und nur im Fall eines Aufstandes ausrücken dürfen. Für die öffentliche Ordnung hätten dagegen nur mit Knüppeln bewaffnete Polizisten zu sorgen.470 Die letzte Maßnahme eines Systemwechsels sah er in der stärkeren Betonung des Missionswesens in den Kolonien. Die Durchdringung der neuen Völker mit dem christlichen Glau467 Auch der Verbindungsmann der katholischen Missionen zum Kolonialrat, Domkapitular Hespers, beklagte auf der Kolonialratssitzung vom 1.7.1906 das extensive Schlagen in den deutschen Kolonien. Er war empört, weil ein schwarzer Jaundejunge, der gegen den Befehls seines Chefs zur Beichte gegangen und anschließend zu einer Prügelstrafe verurteilt worden war. Er forderte für Subalternbeamte den Entzug des Anordnungsrechtes von Prügelstrafen. Dem stimmte der neue Kolonialdirektor von Hohenlohe-Langenburg zu und verwies auf die bestehende Rechtslage, nach der schon jetzt nur Bezirksamtmänner Prügelstrafen verordnen könnten. Diese würde dieses Recht aber häufig an Subalternbeamte delegieren, vgl. KR vom 19.6.1906, BAB, R 1001-6994, Bl. 19, S. 1–3. 468 Vietor, 1906 (wie Anm. 465), S. 16. Ein Zeichen der fundamentalen Unfähigkeit der deutschen Kolonialverwaltung, die einheimische Bevölkerung zu gewinnen, sah Vietor auch darin, dass bei Ortsbesuchen deutscher Gouverneure die Afrikaner teilweise von der Straße getrieben wurden, damit der Gouverneur sich nicht gleich „über die dreckigen Schwarzen“ ärgern musste. Seiner Meinung nach sollte man vielmehr die Bevölkerung bei Gouverneursbesuchen auffordern, die besten Kleider anzuziehen, auf die Straße zu gehen und den Gouverneur fröhlich zu begrüßen. Wenn dieser dann nur ein paar freundliche Worte an die Bevölkerung richten würde, wäre ein ganz anderes Verhältnis möglich, ebd. 469 Aufgrund der Leistungsfähigkeit der afrikanischen Bevölkerung, widersprach er der angeblichen Minderwertigkeit derselben und erwartete für die Zukunft eine alle überraschende Entwicklung: „Wir wissen heute noch gar nicht, was in wenigen Generationen aus dem Neger zu machen ist. Das Geschlecht, das heute heranwächst, ist schon ein ganz anderes, als das, welches wir antrafen, da wir zuerst unsere Kolonien besetzten“, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 100. 470 Vietor, 1906 (wie Anm. 465), S. 19.

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ben mußte für ihn unweigerlich zu mehr Zufriedenheit und Wohlstand führen.471 Den enormen wirtschaftlichen Aufschwung in der Goldküstenkolonie führte Vietor daher auch auf die jahrzehntelange Arbeit der Basler Mission zurück. Bei einem zum christlichen Glauben konvertierten Afrikaner rechnete er von ganz alleine mit einer Zunahme an Arbeitsfleiß und Ordnung. Für ihn war klar, dass der christliche Glaube dazu führe, dass afrikanische Männer nicht länger ihre Frauen schlagen würden und durch ihre innere Veränderung die soziale Hebung des ganzen Volkes voranschritte.472 Entsprechend deutete er das wirtschaftliche Ost-West Gefälle in Togo. Den höheren allgemeinen Bildungsgrad mit seinen wirtschaftlich positiven Folgen in den westlichen Gebieten Togos führte er, sicher zu Recht, auf den langjährigen Einfluss der Mission zurück.473 Auch wenn Vietor in seinem zunächst unveröffentlichten Reisebericht an den Kolonialrat 1905 erneut und nachdrücklich die Reduzierung der Prügelstrafe gefordert hatte,474 sah er in der exzessiven Anwendung derselben doch nur ein Symptom des grundsätzlich gestörten Verhältnisses der deutschen Kolonialmacht zu ihren einheimischen Schutzbefohlenen.475 Diese tiefer liegende Problematik spiegelte sich für ihn auch in der von Afrikanern als herablassend empfundenen Anrede „Du“ 471 Vietor, 1906 (wie Anm. 465), S. 19. Am Ende seiner Rede gab er sich der Hoffnung hin, durch die Unterstützung der Partei seinen „bisher immer noch so fruchtlosen Bemühungen“ mehr Nachdruck verleihen zu können, ebd., S. 21. Inhaltlich hatte er die hier vorgetragenen Gedanken auch kurz zuvor auf der vorletzten Kolonialratssitzung am 18.6.1906 vertreten, war aber einmal mehr auf erbitterten Widerstand gestoßen, insbesondere Max Schoellers, des Aufsichtsratsvorsitzenden der GNWK. Für Schoeller waren Vietors Reformgedanken „unfaßlich“. Er hielt die Vorstellung Vietors, „mit Versuchsgärtchen und dergleichen die Schwarzen zu erziehen“ für Träumerei und naiven Idealismus und plädierte stattdessen weiterhin für die Überlassung der Kolonien an das „Prospektorentum“, vgl. KR vom 18.6.1906 (ausführliches Protokoll), BAB, R 1001-6985, Bl. 56–60. 472 Vietor, J. K.: Der Einfluß der Mission auf die Deutsche Kolonial-Politik (Flugschriften der Hanseatisch-Oldenburgischen Missionskonferenz), Bremen 1904, S. 6f. 473 Vietor, 1904/05 (wie Anm. 311), S. 7. 474 Vietor, 1904/05 (wie Anm. 311), S. 5. Auf Bitten Stuebels hatte Vietor zunächst auf die Verteilung seines Berichtes und damit seine Antragstellung verzichtet. Der Bericht erschien aber im Druck und dürfte zu einem späteren Zeitpunkt verteilt worden sein. 475 Vietors Kritik an der exzessiven Anwendung der Prügelstrafe führte jedoch nicht zu einem allmählichen Abflauen ihrer Anwendung. Allein die Angaben der amtlichen Statistik, also ohne Berücksichtigung der Dunkelziffer, weisen vielmehr eine stetige Zunahme aus. Wurde die Prügelstrafe in Togo im Berichtsjahr 1900/1901 noch in 119 Fällen verhängt, waren es 1905/06 bereits 290 Fälle. 1909/10 wurde in 566 Fällen auf Prügelstrafe erkannt und 1912/13 in 832 Fällen, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 298; Schröder, 1997 (wie Anm. 443), S. 94; Zurstrassen, 2005 (wie Anm. 438), S. 279. Wie die Entwicklung der Anwendung der Prügelstrafe in französischen oder englischen Kolonien im gleichen Zeitraum verlief, läßt sich freilich nur schwer nachvollziehen. Das Reichskolonialministerium beschwerte sich daher 1919 darüber, dass die allierten Kriegsgegner, insbesondere England, zwar schafe Kritik an der Behandlung der afrikanischen Bevölkerung durch die deutsche Kolonialverwaltung mit dem Ziel übten, eine Rückgabe der Kolonien an Deutschland aus humanitären Gründen auszuschließen, selbst aber keine statistischen Zahlen über ihre Praxis veröffentlichten, Reichskolonialministerium (Hg.): Die Behandlung der einheimischen Bevölkerung in den kolonialen Besitzungen Deutschlands und Englands. Eine Erwiderung auf das englische Blaubuch vom August 1918: Report on the natives of South-West Africa and their treatment by Germany, Berlin2 1919. Im

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wider. Die dadurch zum Ausdruck gebrachte Geringschätzung war für ihn ursächlich, warum „wir Deutsche es noch nicht verstanden haben wie die anderen Nationen, unsere Eingeborenen für uns zu begeistern, was in Wirklichkeit so leicht zu machen wäre.“476 Von seinen europäischen Angestellten verlangte er für Afrikaner die Anrede „Sie“, wenn sie einen gewissen Bildungsstand oder ein gewisses Alter hatten und ging dabei mit gutem Beispiel voran, was wesentlich zu seiner Beliebtheit unter den Afrikanern beitrug.477 Bei deutschen Beamten in Afrika, insbesondere in Kamerun, stieß seine Kritik an der Anrede „Du“ dagegen auf wenig Verständnis.478 Vietor sah darin auch einen wichtigen Grund, warum die Ausbreitung der deutschen Sprache so schleppend vorankam in den Kolonien.479 Auch der neue Gouverneur zu Mecklenburg wollte es trotz Vietors Rat nicht einsehen, zumindest ältere und gebildete Afrikaner mit „Sie“ statt „Du“ anzusprechen, lieber wollte er

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zweiten Teil der Publikation legte das Ministerium zahlreiche Einzelberichte über Misshandlungen von Afrikanern in englischen Kolonien Afrikas vor, ebd., S. 87–203. KR vom 1.7.1904 (ausführliches Protokoll), BAB, R 1001-6980, Bl. 181. Vietor berichtete dann von einem afrikanischen Angestellten mittleren Alters, den die Firma Vietor bereits in den 1880er Jahren für eine kaufmännische Ausbildung nach Deutschland geschickt hatte. Wegen seiner Bildung und Sprachfertigkeit hatte ihn das Gericht gebeten, in einem schwierigen Rechtsfall zwischen einem Weißen und einem Afrikaner das Protokoll zu führen. Das änderte aber nichts daran, dass das Gericht ihn während der Verhandlung, trotz seiner Funktion und seines Bildungsstandes permanent mit „Du“ anredete, was selbst den anwesenden Missionaren unangenehm aufstieß. Stuebel sagte ihm daraufhin zu, Zech von diesem Fall Mitteilung zu machen, damit „das gute Verhältnis zwischen Eingeborenen und Weißen durch solche außerordentlichen Kleinigkeiten“ nicht gestört würde, ebd. S. 188. Die Einstufung der Anrede „Du“ als außerordentliche Kleinigkeit zeigt jedoch, wie wenig Stuebel offensichtlich begriffen hatte, welchen Stellenwert eine höfliche Behandlung der Einheimischen tatsächlich hatte. Bereits 1903 hatte Vietor gegenüber den Missionaren der NMG geklagt, dass die Deutschen es bislang noch nicht wie die Engländer und Franzosen verstünden, die Herzen der Afrikaner für Kaiser und Reich zu gewinnen, J. K. Vietor an die Herren Missionare der Norddeutschen Missionsgesellschaft im deutschen Togogebiet vom 14.4.1903, StAB, 7,1025,98-1; vgl. auch Vietor, 1908/09 (wie Anm. 441), S. 2. Er sprach die afrikanischen Kunden entweder mit „Mr.“ oder „Sie“ an, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 15.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10; vgl. auch J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 27.12.1904, ebd., Mappe 7; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), VPAH, S. 13f.; Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 104. Anläßlich einer Einladung bei Kapitän Ireke in Kamerun, zu der neben dem Bezirksamtmann auch führende Persönlichkeiten geladen waren, tadelte Vietor, zum Leidwesen des Bezirksamtmanns, den Umgang der Deutschen mit den Afrikanern. Man würde alle Leute mit „Du“ ansprechen und sie so herablassend behandeln, dass es kein Wunder wäre, wenn auf diese Weise „nur freche, dumme und faule Kerls“ erzogen würden, J. K. Vietor (Kamerun) an Hedwig Vietor vom 24.10.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Nirgendwo in Afrika hatte Vietor so aufsässige und provozierende Afrikaner getroffen wie in Duala, führte das aber auf ihre „mit ausgesuchter Unhöflichkeit“ praktizierte Behandlung durch die Deutschen zurück. „Wenn der Schwarze noch so höflich und demütig grüßt, bekommt er keine Antwort. Man läßt ihn möglichst lange stehen, ehe man fragt, was er will“, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 102f. Der fehlende Gebrauch der deutschen Sprache war keinesfalls immer auf Unkenntnis zurückzuführen, wie Vietor in Kamerun feststellen konnte. Wenn er Afrikaner freundlich und unter Verwendung der Anrede „Sie“ ansprach, konnten viele, von denen ihre deutschen Chefs annahmen, sie sprächen überhaupt kein Deutsch, „zur Verwunderung ihrer Herren auch ganz gut deutsch reden“, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 104.

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Englisch mit ihnen sprechen.480 Vietors Einfluss auf Graf Zech scheint in diesem Punkt stärker gewesen zu sein. Zech teilte im November 1908 dem Reichskolonialamt mit, er beabsichtige den Erlaß einer Bekanntmachung, in der es heißen sollte: „Eingeborene über 30 Jahre, die einen tadellosen Leumund haben, durch ihren bisherigen Lebenswandel die Gewähr für ein ordentliches Verhalten geben und deutsch sprechen können, sind von den Dienststellen mit der Anrede ,Sie‘ anzureden. Gegen sie ist die Anwendung der körperlichen Züchtigung ausgeschlossen.“ Dieser Vorstoß Zechs wurde im Juni 1909 jedoch vom Reichskolonialamt verworfen.481 Einen weiteren Grund, warum es häufig zu unhöflichem und verletzendem Verhalten der kleinen weißen Schicht gegenüber Afrikanern kam, sah Vietor in der Tatsache begründet, dass „fast kein Verkehr zwischen den Weißen und Schwarzen“ stattfand.482 Während unter Deutschen in den Kolonien die Redewendung „Ich würde doch nie mit einem Schwarzen zusammen essen“ kursierte,483 lud Vietor gerne afrikanische Mitarbeiter zu gemeinsamen Festen und gemeinsamen Essen ein.484 Auch damit stieß er beim neuen Gouverneur zu Mecklenburg, mit dem er 1912 gemeinsam nach Togo ausreiste, auf hartnäckigen Widerstand. Während Mecklenburg sich ein gemeinsames Essen mit Afrikanern partout nicht vorstellen konnte, nahm Vietor nach seiner Ankunft die erste Einladung von einem schwarzen Anwalt zum Essen ohne Zögern an.485 Vietor gehörte allerdings auch zu der Generation von Kaufleuten, die noch Geschäftserfahrungen in vorkolonialer Zeit gemacht hatten. In Klein Popo, wo die deutsche Flaggenhissung erst 1886 stattfand, war es in vorkolonialer Zeit üblich gewesen, dass Schwarze und Weiße ihre Mahlzeiten gemeinsam einnahmen und Weiße auch ganz selbstverständlich an Festen 480 481 482 483

J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 13.8.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 546f. Vietor, 1904/05 (wie Anm. 311), S. 5. Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 102. Nicht ohne Ironie verweist Vietor darauf, dass diese Redewendung besonders gern von solchen benutzt wurde, „die anstandslos mit schwarzen Weibern verkehren“, also sich schwarze Konkubinen hielten, ebd. 484 Zur Weihnachtsfeier in Grand Popo 1904 hatte er neben seinen schwarzen Angestellten Tetye, Atchissu und Sanvee auch seine schwarzen Clerks eingeladen, die dann mit den Weißen zusammen aßen, was sie als große Ehre betrachteten. Hillmann quittierte diese Feier und Vietors grundsätzlichen Umgang mit den Afrikanern mit den Worten, „er hätte sich viel in Amerika, Asien und hier herumgetrieben, aber noch nie gesehen, daß jemand mit den Schwarzen so umgegangen wäre wie wir, aber er sähe ja auch den Erfolg“, J. K. Vietor (Eleonore Woermann) an Hedwig Vietor vom 27.12.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. 485 J. K. Vietor (Tarquah) an Hedwig Vietor vom 28.8.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Um das Verhältnis zu afrikanischen Mitarbeitern, Freunden und Geschäftskollegen zu stärken, schickte Vietor auch Bilder von sich und seiner Familie nach Afrika. Seine Frau schickte je ein gerahmtes Familienbild von Vietors an Robert Sanvee in Grand Popo und William Aquereburu in Ouidah und brachte, auf Vietors Bitte hin, im Begleitbrief zum Ausdruck, dass sie schon so viel von ihrem Mann über sie gehört hätte und dieser sich jetzt über das Wiedersehen sehr freute, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 18.9.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Noch bis etwa 2009 hatte ein Bild Vietors im ehemaligen Haus von Robert Sanvee in Sanvee Kondji bei Anecho, unmittelbar an der Grenze zu Benin, gehangen. Im Zuge eines geplanten Ausbaus der Grenzanlagen soll das Haus abgerissen werden und wurde daher 2009 komplett ausgeräumt.

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der Schwarzen teilnahmen.486 Zudem hatte Vietor bereits als Kind mit Afrikanern zusammen gegessen und damit früh ein grundsätzlich aufgeschlossenes Verhältnis zu ihnen gefunden.487 Nach der Konsolidierung der deutschen Kolonialherrschaft wandelte sich das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß zusehends.488 Diese Entwicklung muss jedoch im Gesamtkontext der kolonialen Expansion Europas im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Auch in den englischen Kolonien Afrikas vollzog sich seit den 1880er Jahren ein Wandel im Verhältnis der Rassen, wenngleich die englische Kolonialpolitik weiterhin als liberal galt. Nicht zuletzt wegen des ungesunden Klimas und der damit einhergehenden Schwierigkeit, ausreichend europäisches Personal zu bekommen, hatte England in seinen westafrikanischen Besitzungen lange Zeit auf eine breite Schicht einheimischer, afrikanischer Beamter gesetzt, selbst in gehobenen Positionen. 1883 waren neun der 43 höheren Verwaltungspositionen der Goldküste von Afrikanern besetzt. 1875 stellten in Lagos Afrikaner sowohl den Polizeichef, den Leiter des Post- und Telegrafenamtes und den Leiter der Zollbehörde.489 In den 1880er Jahren begann jedoch, stärker als in den französischen und belgischen Gebieten Afrikas, der Umschwung zur einer im Prinzip fast bis zum Ende der Kolonialzeit andauernden Politik der „Colour bar“, in der Afrikaner zunehmend aus einflussreichen Positionen herausgedrängt wurden.490 Während der Gouverneur von Sierra Leone, Frederic Cardew, zwischen 1894 und 1900 versuchte, Kreolen aus den höheren Positionen der Verwaltung zu entfernen und durch englische Beamte zu ersetzen, hatte sich auch das Bild in der Goldküste nach der Jahrhundertwende grundlegend geändert. 1908 zählten hier zu den 274 Beamten nur noch fünf Afrikaner.491 Trotz Ärztemangels wurden ab 1902 die wenigen im Regierungsdienst stehenden afrikanischen Mediziner entlassen, Gouverneur Lugard schloss zuerst in Nordnigeria, 1914 auch in Südnigeria, alle afrikanischen Rechtsanwälte von den Gerichten aus. Der Trend zur Segregation und Abschottung der kleinen weißen Schicht von der schwarzen Bevölkerung vollzog sich in gleicher Weise auch im privaten Sektor.492 Auch in der 486 Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 101. 487 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), VPAH, Forts., S. 1. 488 Diese Entwicklung wies bereits Giesebrecht 1897 nach, als er feststellte, dass von etwa 40 befragten Personen insbesondere die Forschungsreisenden der älteren Generation, die Afrika schon in den 1860er Jahren bereist hatten, im Vergleich zur jüngeren Generation zu einer freundlicheren Haltung gegenüber der indigenen Bevölkerung neigten, Giesebrecht, 1897 (wie Anm. 460), S. 12. Auch Vietor bestätigte das, vgl. Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 100f. 489 Stoecker, Helmuth: Koloniale Rassendiskriminierung. Das Beispiel Britisch-Westafrika, in: Wagner, Wilfried (Hrsg.): Rassendiskriminierung, Kolonialpolitik, und ethnisch-nationale Identität. Referate des 2. Internationalen Kolonialgeschichtlichen Symposiums 1991 in Berlin (Bremer Asien-Pazifik Studien; 2), Münster 1992, S. 77–88, 80. 490 Der Gründer der englischen Kongoliga (Congo Reform Association), Edmund Dene Morel, beschrieb das persönliche Verhältnis von Engländern zu Eingeborenen in Westafrika 1911 als distanziert. Kumpelhaftes, freundschaftliches Miteinander zwischen ihnen und Eingeborenen, wie er das bei Franzosen beobachtet hatte, lag seiner Beobachtung nach Engländern völlig fremd, Koloniale Rundschau 1911, S. 323f. 491 Stoecker, 1992 (wie Anm. 489), S. 84. Noch 1942 zählten zu den 365 Verwaltungsbeamten in Nigeria nur vier Afrikaner, ebd., S. 85. 492 Stoecker, 1992 (wie Anm. 489), S. 85f. Ein ähnliches Zurückdrängen von Afrikanern zeigte

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Südafrikanischen Union kam es nach dem Burenkrieg, trotz des englischen Sieges, zu einem deutlichen Perspektivwechsel in der Rassenfrage.493 Der Umschwung der öffentlichen Meinung in der Frage der Mischehen, stellt ein weiteres Indiz der allgemein zunehmenden Tendenz zur Abgrenzung der Europäer von kolonial beherrschten Völkern nach der Jahrhundertwende dar. Das Fehlen von sozialen Kontakten privater Natur zwischen Weißen und indigener Bevölkerung spiegelt daher keine rein deutsche Entwicklung wider, sondern muss im Zusammenhang des dominierenden sozialdarwinistischen Zeitgeistes in Europa vor dem Ersten Weltkrieg gesehen werden. Vietor vermutete daher, dass auch die Angehörigen anderer Kolonialmächte innerlich eine gewisse Trennung von Schwarz und Weiß befürworteten, es nur nicht so offen zeigten wie die Deutschen. „So lange ich denken kann, erinnere ich mich, daß die Weißen jedesmal unzufrieden waren, wenn ein verständiger Gouverneur einmal an Kaisers Geburtstag auch die hervorragendsten Schwarzen zur Feier mit eingeladen hatte. Dies gilt bei den anderen Nationen als ganz selbstverständlich, und wenn die Angehörigen der anderen Mächte innerlich vielleicht ebenso denken wie die Deutschen, dann zeigen sie es aber im Umgang durchaus nicht.“494

Für ihn offenbarte diese Haltung ein schwerwiegendes mentales Defizit und offenbarte den „schlimmste[n] Fehler unserer Kolonialpolitik.“495 Von seinem eigenen, sich, mit Ausnahme der Methodisten, auch bei den protestantischen Missionen. War bereits 1840 der Mulatte Thomas B. Freeman zum Generalsuperintendent der wesleyanischen Mission an der Goldküste berufen worden und 1864 Samuel Adjai Crowther zum ersten anglikanischen Bischof der Niger-Territorien, vergingen danach sechzig Jahre bis erneut ein Afrikaner zum anglikanischen Bischof in Nigeria berufen wurde, ebd. S. 80, 85. Stoecker irrt aber, wenn er Crowther als Yoruba bezeichnet, er stammte aus Sierra Leone. Zu Crowther vgl.: Ludwig, Frieder: Kirche im kolonialen Kontext. Anglikanische Missionare und afrikanische Propheten im südöstlichen Nigeria, 1879 – 1918 (Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums; 80), Frankfurt 1992. Ludwig weist auf den Umschwung der Politik der anglikanischen CMS seit Ende der 1870er Jahre hin, in dessen Folge der Einfluss der die Mission im Nigerdelta bis dahin tragenden Missionarsschicht aus Sierra Leone zugunsten weisser Missionare zurückgedrängt wurde, vgl. auch ders.: Weder Europäer noch Einheimische. Die spannungsreiche Situation afrikanischer Missionare im Nigerdelta 1891–1918, in: Kirchliche Zeitgeschichte (KZG) 1 (1992), S. 253–269. In Simbabwe, dem früheren Südrhodesien kam es ab den 1920er Jahren zu einer innergemeindlichen Segregation von weißen und schwarzen Gemeindegliedern. Weiße Missionare hielten gerne auf Abstand zu schwarzen Gemeindegliedern, Mapuranga, Tapiwa / Chitando, Ezra: The World Council of Churches and Politics in Zimbabwe, in: Kunter, Katharina / Schjørring, Jens Holger (Hrsg.): Changing Relations between Churches in Europe and Africa. The Internationalization of Christianity and Politics in the 20th Century (Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte: Asien, Afrika, Lateinamerika; 11), Wiesbaden 2008, S. 119–133, 121. In Uganda wurde der erste schwarze anglikanische Bischof erst nach der Unabhängigkeit geweiht, der erste schwarze „assistant bishop“, ein „Archdeacon“, 1947, vgl. Hansen, Holger Bernt: Import and Impact of New Visions, in: Kunter, Katharina / Schjørring, Jens Holger, 2008: Changing Relations, S. 11–23, 13, 15. 493 Nach Bildung der südafrikanischen Union war „ein großer Umschwung in Britisch-Südafrika in der Beurteilung der Rassen- und Arbeiterfrage zugunsten der alten konservativen Auffassung der Buren eingetreten“, Hartmann, Georg: Die Arbeiterfrage in den Kolonien, in: Der Tropenpflanzer 6 (1912), S. 283–308, 286. 494 Vietor, 1905 (wie Anm. 311), S. 4. 495 Vietor, 1905 (wie Anm. 311), S. 4. Als Vietor beim Besuch eines Christendorfes ohne europä-

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ungezwungenen Umgang mit Afrikanern erhoffte er sich daher nicht zuletzt auch Anstösse zum Umdenken bei Kolonialdeutschen. Als er seinen afrikanischen Mitarbeiter und Freund, Rovert Sanvee, auf eine längere Geschäftsreise mitnahm, ein völlig ungewöhnlicher Vorgang, brachte er deutsche Offiziere in Verlegenheit, da sie sich gezwungen sahen, nun auch Sanvee die Hand schütteln zu müssen. „Vielleicht gibt es den Herren doch Stoff zum Nachdenken, wenn sie so etwas von mir sehen.“496 Dabei strebte Vietor in keiner Weise eine völlige Gleichstellung von Weiß und Schwarz an. Ganz im Sinne einer paternalistischen Grundhaltung stand für ihn die zumindest temporäre Überlegenheit des weißen Mannes nicht in Frage.497 Ein schneller Übergang zu einer von Afrikanern verantworteten Selbstverwaltung kam für ihn mit Hinweis auf die schlecht verwaltete „Negerrepublik Liberia“ schon im eigenen Interesse der Schwarzen auf absehbare Zeit nicht in Betracht. Vietor bestand aber darauf, dass sich der Weiße seines Patronats als würdig erwiese und damit die Basis für ein positives Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß legte. Daher forderte er härtere Strafen für Weiße, die sich an Schwarzen vergangen hatten, Garantie der persönlichen Freiheit für Afrikaner, Beschränkung auf Barsteuern und Zölle und das Unterlassen von Konfiszierungen von Vieh und pflanzlichen Produkten.498 Das Mindeste, was er erwartete, war ein freundlicher und wohlwollender Umgang mit der indigenen Bevölkerung.

ische Betreuung auf die Einwohner zuging, ihnen die Hände schüttelte und sie freundlich grüßte, meinte der anwesende schwarze Lehrer: „Herr Vietor, wenn nur alle Leute das so machen wollten. Die meisten Europäer, die hier durchkommen, treiben die Leute weg und kümmern sich gar nicht um sie.“ Für Vietor wiederum ein Beweis dafür, warum es die Deutschen bislang nicht geschafft hätten, die Einheimische Bevölkerung Afrikas zu begeisterten Deutschen zu machen, so wie es den Engländern mit ihren kolonialen Völkern gelungen wäre, Vietor, 1908/09 (wie Anm. 441), S. 2f. Staatssekretär Solf bestätigte in einer Notiz vom 15.6.1912 Vietors Einschätzung des gestörten Verhältnisses zwischen schwarz und weiß in den deutschen Kolonien und konstatierte: „Die Eingebornen hassen die Weißen, und die Weißen verachten die Eingeborenen. Andere Beziehungen zwischen diesen beiden Polen scheinen nicht vorhanden zu sein. Freundlichkeit gilt als Schwäche und Schlappheit, Schimpfen und Schlagen als die natürliche Verkehrsform“, zit. nach Schuberth, Michael: Der „dunkle Kontinent“. Rassenbegriffe und Kolonialpolitik im Deutschen Kaiserreich, in: Becker, Frank (Hrsg.): Rassenmischehen, Mischlinge, Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich (Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte; 90), Stuttgart 2004, S. 42–53, 52. 496 J. K. Vietor (Agome Palime) an Hedwig Vietor vom 13.11.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Nachdem Vietor vom Obersteward die Erlaubnis erhalten hatte, durfte Sanvee 1912 als einziger Schwarzer unter 32 europäischen Freunden und Angestellten Vietors am Abschiedsessen an Bord eines Dampfers teilnehmen, J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 8.12.1912, ebd., Mappe 10. 497 Für Vietor war daher klar, dass eine Reform der Kolonialpolitik nicht auf die politische Freiheit der Afrikaner zu zielen hätte, sondern lediglich auf ihre persönliche und ökonomische, vgl. Vietor, 1906 (wie Anm. 465), S. 18. 498 Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 107–112.

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4 Kolonialpolitisches Engagement bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges „Wenn ich einem Mann die Hand gebe oder ihm etwas schenke, dann ist er begeistert. Er arbeitet willig zwei bis drei Stunden wie er muß und freut sich ein Loch in die Mütze, wenn ich ihm dann sage, ich danke auch vielmals. Welch ein Unverstand, solche Leute nicht gut zu behandeln.“499

Schlechte Behandlung der einheimischen Bevölkerung resultierte nach Vietors Erfahrungen meist aus Frustrationen, die nach einem „Blitzableiter“ suchten. „Ich habe noch nie gehört, daß ein tüchtiger Mann, der das Leben und die Menschen zu nehmen weiß, viel über die Rassenfrage gesprochen hat. Wenn aber einer kein Geld verdienen kann, als Beamter Schwierigkeiten hat oder als Missionar die Leute nicht beeinflussen kann, dann ist natürlich der verdammte Schwarze daran schuld.“500

Gänzlich fehl am Platze war für Vietor jegliche Zwangsarbeit, wozu er auch die Steuerarbeit zählte, wie sie nach der Jahrhundertwende sowohl in Togo501, als auch in Kamerun502 und Ostafrika503 eingeführt wurde und in den Augen der Afrikaner 499 J. K. Vietor (Agome-Palime) an Hedwig Vietor vom 13.11.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Allerdings teilten nicht alle Mitarbeiter Vietors sein Verhalten gegenüber der afrikanischen Bevölkerung. Während sein Kamerad aus Detmolder Rekrutentagen, Hillmann, Vietors Entscheidung, Robert Sanvee wie einen Europäer zu behandeln begrüßte, scheint sein Partner Freese das eher abgelehnt zu haben, ebd. Auch die anderen europäischen Mitarbeiter brauchten für den Umgang mit Afrikanern ständig neue Erinnerungen durch das gelebte Beispiel Vietors. Ihm war klar, dass er wohl öfters nach Afrika kommen müsse, denn „meine Anschauungen und Denkungsweise, meine Behandlung der Menschen geht ganz verloren, wenn ich sie nicht immer wieder auffrische und die Leute selbst sehen wie ich es mache, und wenn ich ihnen nicht meine Ansichten auseinandersetze. Dazu haben die Leute, selbst die besten, den großen Gesichtspunkt verloren und reiben sich in verschwindenden Kleinigkeiten auf und übersehen infolgedessen das Wichtigste“, J. K. Vietor (Ouidah) an Hedwig Vietor vom 18.9.1904, ebd. 500 Vietor, J. K.: 25 Jahre Kolonialpolitik, Teil 2, in: Die Arbeit 30 (1909), S. 5–6, 5. 501 Vgl. Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 185f.; Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 345–354. 502 Für die Bezirke Duala und Johann Albrechtshöhe trat am 15.4.1907 eine Hüttensteuer in Kraft, die in ländlichen Gebieten 6,- Mark, in urbanen Gebieten 12,- Mark betrug. Die Steuer konnte durch maximal 24 Arbeitstage abgelöst werden. Am 20.10.1908 trat für die anderen friedlichen Bezirke Kameruns eine modifizierte Verordnung in Kraft, die alternativ Steuerarbeit oder monetäre Abgeltung für alle männlichen Bewohner vorsah. Wegereinigungsarbeiten zählten nicht zur Steuerarbeit sondern wurden zusätzlich verlangt. Im Falle der Steuerarbeit sollte diese 30 Tage nicht überschreiten, im Falle der monetären Ablösung wurde kein fester Satz angegeben, sondern der ortsübliche Tageslohn ins Verhältnis zur ansonsten geforderten Steuerarbeit gesetzt. Erst die Novelle der Verordnung vom 29.3.1911 führte hier als Regelsteuersatz den Betrag von 6,- Mark ein. Am 22.3.1913 wurde der Regelsteuersatz unter Wegfall der maximalen Obergrenze von 30 Tagen für die alternative Steuerarbeit auf 10,- Mark erhöht, vgl. Winkler, Hella: Das Kameruner Proletariat 1906–1914, in: Stoecker, Helmuth, 1960: Kamerun, 243– 286, 264f.; vgl. auch Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Erhebung einer Wohnungssteuer im Schutzgebiet Kamerun vom 15.4.1907, Ruppel, 1912 (wie Anm. 234), Nr. 227, S. 458f; Verordnung des Gouverneurs, betreffend die Heranziehung der Eingeborenen zu Steuerleistungen vom 20.10.1908, ebd. Nr. 228, S. 460f.; Bekanntmachung des Gouverneurs, betreffend die Besteuerung der Eingeborenen vom 29.3.1911, ebd., Nr. 229, S. 461f. 503 In Ostafrika wurde bereits am 1.11.1897 die Hüttensteuer eingeführt, die nach einer Novelle vom 22.5.1905 durch die Verordnung vom 23.8.1912 in eine Kopfsteuer umgewandelt wurde. Die Hüttensteuer betrug in urbanen Gebieten zwischen 6 und 12 Rupien/Haus oder Hütte, in ländlichen Gebieten 3 Rupien. Die Novelle von 1905 ermöglichte im Binnenland auch, anstelle der Hüttensteuer, die Erhebung einer Kopfsteuer, die 3 Rupien für jeden erwachsenen Mann

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eine willkürliche Massnahme darstellte. Die Erhebung von Steuern für Einheimische begrüßte Vietor dagegen und verwies darauf, dass bereits jetzt ein großer Teil des Steuer- und Zollaufkommens von Afrikanern stammte. Eine Erhöhung derselben sowie eine stärkere Beteiligung der Einheimischen an der kulturellen Entwicklung der Kolonien hielt er durchaus für geboten, insbesondere in Form der Erhöhung des Zolls auf Alkohol. Zwangsmaßnahmen lehnte er aber grundsätzlich ab.504 Abgesehen von Arbeiten zum Wegebau, pochte er darauf, bei angeordneten Regierungsarbeiten die Arbeitsleistungen zumindest mit dem ortsüblichen Satz zu entlohnen, wie es sowohl in der Goldküste wie auch in Dahomey der Fall wäre505 und wohnortnah zu gestalten, blieb aber insgesamt skeptisch: betrug (etwa 4 Mark), aber bis auf 1 Rupie ermäßigt werden konnte, vgl. Rathgen, Karl: Eingeborenensteuern, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 515ff. Die Umwandlung der Hüttensteuer in die Kopfsteuer 1905 stellte für die Betroffenen nahezu eine Vervierfachung der bisherigen Steuerlast dar und bezweckte in erster Linie das Ausweichen auf die alternativ ableistbare Steuerarbeit, die meist auf europäischen Plantagen stattfand. Damit sollte dem Arbeitermangel auf den Plantagen abgeholfen werden, führte aber zu Unruhen und muss als wesentlich für den Ausbruch des Maji Maji Aufstandes im Juli 1905 angesehen werden. Wegearbeiten wurden auf die Steuerarbeit nicht angerechnet, vgl. Isobe, Hiroyuki: Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen „Schutzgebieten“ vor dem Ersten Weltkrieg (Periplus Studien; 13), Berlin 2009, S. 59–61; Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 157f.; Stoecker, Helmuth, 1977: Drang nach Afrika, S. 96f., 137f. 504 Vietor, J. K.: Zur Arbeiterfrage in unseren Kolonien, in: DKZ 10 (1902), S. 90f. 505 Entgegen der Behauptung Vietors veröffentlichte das Colonial Office Office Anfang 1908 die Ergebnisse einer Umfrage in den westafrikanischen Kolonien Englands aus dem Jahr 1907 in Bezug auf die Praxis der Zwangsarbeit. Danach gab es in Gambia, Nord- und Südnigeria (als beide Nigerias bezeichnet) und der Goldküste weiterhin Zwangsarbeit im Falle von Brücken- und Straßenbau. Männer waren bei solchen Projekten zu 3–6 Tagen/Jahresquartal, also max. 12–24 Tage/Jahr Arbeitsdienst verpflichtet., wobei die Auswahl und Entsendung der Arbeiter den Häuptlingen oblag. „Für den Zeitverlust werden den Häuptlingen und deren Untertanen teilweise kleine Entschädigungen zugebilligt.“ Eine echte Entlohnung gab es damit also nicht. Arbeitsverweigerung wurde nur mit „leichten“ Strafen geahndet. In Nigeria mit 1 Pfund Sterling oder 1 Monat Gefängnis, in Gambia konnten bis 20 Pfund Sterling oder 6 Monate Zwangsarbeit verordnet werden, in: Koloniale Zeitschrift, 1908, S. 108. Vietor dürfte aber nicht die hier erwähnten, dem Wegebau ähnlichen Arbeiten im Sinn gehabt haben, die er ja auch für Togo befürwortete, sondern darüberhinausgehende Regierungsarbeiten. Weitaus dramatischer schilderte der Auslandssekretär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Franz Josef Furtwängler, 1929 die Frage der Zwangsarbeit in englischen und französischen Kolonien und Mandatsgebieten Afrikas der 1920er Jahre. Nach Angaben der englischen Labourpartei wurden durch astronomisch hohe Steuern in Nyassaland und Nordrhodesien nahezu 100.000 Afrikaner dazu gezwungen, in Bergwerken zu arbeiten. Für Uganda wurde nach wie vor eine Pflicht zur Steuerarbeit von bis zu 30 Tagen/Jahr angegeben. In den westafrikanischen französischen Kolonien und in Madagaskar war nach Angaben der Labourpartei offiziell ein Militärdienst für Afrikaner eingeführt worden, der in Zwangsarbeit umgewandelt werden konnte. Nach Aussage des Gouverneurs von Madagaskar, wo dieser Militärdienst drei Jahre betrug, erwartete man dadurch für die kommende Zeit, daß 15.000 Männer „den Werken des Fortschritts und des Friedens“ zur Verfügung stehen würden, was aufgrund der Militärdienstpflicht als „gerecht, logisch, gesetzlich und demokratisch“ angesehen wurde. Angesichts der spärlichen Veröffentlichungen Frankreichs konnte Furtwängler für Westafrika keine exakten Zahlen angeben. Abenteuerlich erscheint jedoch seine Berufung auf einen englischen Missionar, der behauptete, in Ruanda und Burundi wären in zwei Jahren 90.000 Zwangsarbeiter ums Leben

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4 Kolonialpolitisches Engagement bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges „Ob eine Ableistung der Steuer durch Arbeit überhaupt practisch (sic) und wünschenswert ist, erscheint mir fraglich, jedenfalls ist sie aber dort doch ungerechtfertigt, wo die Kolonie die Kosten ihrer Verwaltung selbst aufzubringen in der Lage ist.“506

Vietor plädierte stattdessen für eine enge Begrenzung der Schutzgebietseinnahmen auf Importzölle und Barsteuern, wenn zuvor die Möglichkeit für Afrikaner geschaffen worden war, auch tatsächlich Geld zu verdienen. Steuerarbeiten waren für ihn allein auch deswegen abzulehnen, weil es in deren Ausführung immer wieder zu schweren Misshandlungen, insbesondere seitens der beaufsichtigenden schwarzen Soldaten und Aufseher kam.507 Zwangsarbeit in Togo war erstmals 1887 von hanseatischen Firmen vorgeschlagen worden, allerdings nur als Form einer disziplinarischen Maßnahme für gerichtlich verurteilte Einzelpersonen.508 Nach 1895 weitete die Verwaltung die Anwendung von Zwangsarbeit jedoch im Gewand der „Arbeitssteuer“ prinzipiell auf die ganze einheimische Bevölkerung aus.509 Im Vordergrund stand dabei der Bau und die Pflege öffentlicher Wege, aber auch der Bau von Regierungsstationen, Trägerdienste, Arbeit auf den Feldern der Regierungshauptstationen, Lebensmittellieferungen sowie verschiedene andere Bauarbeiten. Widerstand der Bevölkerung gegen diese Inanspruchnahme resultierte dabei häufig nicht nur aufgrund der Forderung an sich, sondern ebenso aufgrund der häufig willkürlichen und plötzlichen Anordnungen dazu.510 Für Togo fehlte zudem bis 1907 eine einheitliche Verordnung zur Frage der Steuerarbeit für das gesamte Schutzgebiet, sodass es lange zu lokal und regional unterschiedlichen Handhabungen kam. Am Zustandekommen einer einheitlichen Verordnung war Vietor nicht unwesentlich beteiligt, hatte die Kolonialabteilung doch auf seinen Druck hin Zech aufgefordert, die Steuerarbeit auf dem Verordnungsweg allgemein zu regeln, um „damit eine gleichmäßige und gerechte Verteilung der Leistung in den einzelnen Bezirken zu sichern.“511 In einem Schreiben vom 1.7.1903 hatte sich Vietor auf Berichte mehrerer Missionare berufen, die auf ernstzunehmende Entvölkerungstendenzen im westlichen Togo hinwiesen.512 Dafür machten die Missionare einerseits fehlende

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gekommen, vgl. Furtwängler, Franz Josef: Koloniale Zwangsarbeit, in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde 12 (1929), S. 789–796, 791–793. Das Blatt war von 1924–1933 das „theoretische Organ“ des ADGB. Zur Zwangsrekrutierung zum dreijährigen Arbeitsdienst in Französisch Westafrika vgl. auch Schicho, Walter: Handbuch Afrika. Westafrika und die Inseln im Atlantik (Bd. 2), Frankfurt 2001, S. 270. Für Mali wurde eine entsprechende Verordnung 1926 erlassen, ebd. In Burkina Faso wurde bis zum Ende des zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit eingesetzt, das gleiche gilt für Franz. Guinea, ebd. S. 144f, S. 328. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 30.5.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 38. Im Schreiben an das Kolonialamt vom Februar 1908 (der Brief liegt nicht mehr vor), hatte Vietor, nach Aussage des Oberleutnant Freude, die Steuerarbeit als „Zwangsarbeit“ bezeichnet, Freude (Misahöhe) an Gouvernement von Togo vom 4.5.1908, ANT, FA 3/2052 [TCS], S. 99ff. Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 111. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 112. Bis 1895 wurde diese Strafe auch als Einzelstrafe angewendet; so kamen etwa beim Bau der Straße von Lome nach Palime Strafgefangene zum Einsatz, ebd. S. 137. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 137, 205, 345. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 205. Kol. Abt. an Gouverneur von Togo vom 10.7.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 48. Bereits im April 1901 hatte es wegen angeforderter öffentlicher Wegearbeiten Klagen der Be-

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Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten sowie lästige Pass- und Pfandbestimmungen aber auch übermäßige öffentliche Pflichtarbeiten verantwortlich, wie etwa der Basler Missionar Mohr nach einer Reise in die Landschaft Boem. „Ganze Dörfer müssen Wochen, ja Monate lang Wege bauen, ohne einen Pfennig zu erhalten. Sie müssen sogar ihre eigene Verpflegung mitbringen und können ihre Plantagen nicht bebauen. Dafür bleibt keine Zeit mehr. „Dieser Frohndienst (sic) ohne jegliche Beköstigung – bis dato wenigstens – treibt die Menschen hinaus aus Togo. Da helfen die 10,- £ [Ausreisesteuer], die man ihnen abnimmt nichts.“

Mohr schlug daher vor, die Regierung sollte den Wegebau zunächst auf eigene Kosten vornehmen und nur die Pflege derselben den Leuten zur unentgeltlichen Pflicht machen.513 Aufgrund der Missionarsberichte und der bedrohlichen Lage bat Vietor Stuebel „dringend, sofort zu veranlassen, dass übermäßige Anforderungen an die Leute nicht mehr gestellt werden dürfen, die sie zum Auswandern veranlassen.“ Er selbst wolle in den nächsten zwei Wochen zu einer persönlichen Aussprache darüber mit ihm nach Berlin kommen514 und appellierte, in Zukunft Steuerarbeiten nur noch in Wohnortnähe gegen ortsüblichen Lohn zu gestatten.515 Stuebel übersandte in der Zwischenzeit die Abschrift dieser „weiteren Eingabe des Herrn Vietor“ nach Togo „zur eingehenden Prüfung und Berichterstattung“. Vietor hatte bereits am 30.5.1903 eine Beschwerde eingereicht, in der er verschiedene Berichte über angeblich überzogene und ungerechtfertigte Zwangsmaßnahmen in Klein Popo und Agome-Palime zur Sprache gebracht hatte.516 Vietors Beschwerden vorausgegan-

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völkerung aus der Gegend von Ho gegeben, die von dem NMG Missionar Jakob Spieth vorgetragen wurden. Das Bezirksamt Misahöhe hatte eine Anordnung erlassen, nach der jeder männliche Bewohner 12 Tage Steuerarbeit leisten sollte oder dieselbe in Form von 6,- Mark abzulösen hatte. Aus Protest dagegen zeichnete sich bereits damals eine Abwanderung aus den westlichen Teilen Togos in die Goldküste ab, vgl. Knoll, 1978 (wie Anm. 7), S. 100; Gründer, Horst, 1982: Christliche Mission, S. 171; Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 133. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 1.7.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 43f. Auch ein anderer Missionar warnte vor der weiteren Zunahme der Abwanderung infolge der „Frohnarbeit“ (sic). Sie würde unweigerlich „ein entvölkertes Land, Dörfer und Städte mit verlassenen und verfallenen Hütten“ zur Folge haben. Die bereits eingetretene dramatische Lage würde ja durch die Absperrung der togoischen Grenze zur Goldküste hin, aufgrund der Togoer nur noch mit Passierscheinen die Grenze überschreiten durften, mehr als deutlich, ebd. Bl. 44f. Missionar Freyburger befürchtete Abwanderungen aus dem Agbetikoland an die Goldküste infolge der Landkäufe Hufpelds, ebd. Bl. 45. Peter Sebald zitiert die Aussage des Missionars Mohr zur „Fronarbeit“ irrtümlicherweise als Aussage Vietors, der den Bericht lediglich einreichte. Trutz von Trotha stützt sich damit zu Unrecht auf Sebald, wenn er Vietor die Verwendung des Begriffs „Fronarbeit“ für „Steuerarbeit“, wie es in Missionskreisen vorkam, im Verkehr mit dem Kolonialamt unterstellt, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 346f.; Trotha, Trutz von: Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994, S. 181. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 1.7.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 46. Zech an Kol. Abt. vom 15.10.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 49. Zech wollte zu diesem Antrag Vietors erst nach Abschluss der laufenden Untersuchungen Stellung nehmen. J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 30.5.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 38–40. Vietor hatte darin kritisiert, dass nach seiner Information Steuerarbeiter in Klein Popo von bewaffneten Polizisten bewacht worden wären, was sich insofern als Irrtum herausstellte, dass es sich nicht um Steuerarbeiter, sondern um Strafarbeiter gehandelt hatte. Der Vorwurf eines Arbeiters in Klein

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gen waren Klagen der Missionare wegen schlechter Behandlung der einheimischen Bevölkerung durch Beamte, die jedoch teilweise sehr „ungenau abgefasst“ waren, sodass sie Vietor nicht zu einer öffentlichen Eingabe verwenden konnte. Vietor rief die Missionare daraufhin zu einer zweifachen Strategie auf. Zunächst sei es ihre Pflicht, die einheimische Bevölkerung zu berechtigten Arbeiten für die Verwaltung anzuhalten, da sie ja wegen des Landfriedens und der Ordnung Grund zur Dankbarkeit hätten gegenüber der deutschen Verwaltung.517 Insbesondere von den Christen unter ihnen erwartete er, dass sie pünktlich zu angeordneten Arbeiten kämen. Erst nach dieser loyalen Unterstützung der Verwaltung könnten sie auch als Anwalt der Einheimischen auftreten. Berechtigte Klagen sollten schriftlich zu Protokoll gePopo, die Verwaltung hätte während der üblichen Bestellzeit der Felder Regierungsarbeiten angeordnet, wurde noch geprüft. In Agome-Palime hatte es Beschwerden der dortigen Bremer Faktorei gegeben. Sie hatte die Verwaltung um die Vermittlung von 40 Trägern gebeten, offensichtlich in Form von Steuerarbeit. Als der Hauptagent von Palime, Küster, davon hörte, verbot er seinem Mitarbeiter Hillmann eine solche Anfrage und ordnete an, den benötigten Trägern einen höheren Lohn zu bieten. Nach der Ernte konnten dadurch auch viele angeworben werden. Trotz der ursprünglichen Anfrage an das Bezirksamt handelte es sich daher nicht um Steuerarbeiter, wie Sebald angibt, sondern um bezahlte Träger, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 347. Vor dem Verbot Küsters hatte es aber solche Gestellungen auch an die Bremer Faktorei gegeben. Von den Vietorträgern mussten einige nach Beendigung ihrer bezahlten Arbeit für die Bremer Faktorei noch 5 Tage für das Bezirksamt nacharbeiten, was zunächst zu einer Beschwerde der Bremer Faktorei geführt hatte, die darin eine Willkürmaßnahme vermutete. Tatsächlich aber hatten sich einige Vietorarbeiter in der Tat ihrer Steuerarbeitspflicht entzogen. Sie hatten angegeben, Angehörige der Tafie zu sein, die zu der betreffenden Zeit mit keiner Steuerarbeit belegt gewesen waren. Sie gehörten tatsächlich aber zu den Nyamboleuten, die eine Steuerarbeitsauflage erhalten hatten. Damit hatten sie die Verwaltung belogen und mussten jetzt nacharbeiten, vgl. Zech an Kol. Abt. vom 15.10.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 49, 51 (Anlage zum Bericht vom 15.10.1903 von Bezirksamtmann Gruner); F. M. Vietor Söhne (Palime) an kais. Station in Misahöhe vom 21.09.02, ebd., Bl. 54; J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 30.5.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 39. 517 Dass die NMG Missionare das sehr wohl auch taten, weist Knoll für den Fall des Missionars „Dien“ nach – gemeint ist wohl Heinrich Diehl. Einen NMG Missionar Dien gab es nicht -, der Zech Personen meldete, die sich im Agutime-Gebiet vor Steuerarbeiten drückten, vgl. Knoll, 1978 (wie Anm. 7), S. 99; Altena, Thorsten, 2003: Ein Häuflein Christen, Anhang Missionarsverzeichnis, S. 377f. Das Argument notwendiger Dankbarkeit der indigenen Völker gegenüber der kolonialen Besitzergreifung einer europäischen Macht war für Vietors Denken grundlegend. Selbst eine ungenügende europäische Kolonialpolitik war für ihn immer noch besser für die einheimische Bevölkerung als die früheren anarchischen Zustände. „Die Besitzergreifung der Länder durch eine europäische Macht ist schon an sich ein großer Fortschritt für die unzivilisierten Völker. Ausschließlich herrschte dort das Recht des Stärkeren, während die deutsche, englische und französische Kolonisation nach Recht und Gerechtigkeit regieren will und nur einzelne (sic) sich Schandtaten zu Schulden kommen lassen.“ Einen Beweis für den Vorteil europäischer Kolonialherrschaft für die afrikanischen Völker sah Vietor in den Zuständen der „Negerrepublik Liberia“, die er 1905 erneut besucht hatte: „Der Zustand des Landes erinnerte mich an die Verhältnisse Togos zur Zeit der Besitzergreifung 1884.“ Überall herrsche Unsicherheit, das Land sei kaum erschlossen, die Wege ins Landesinnere endeten bereits nach wenigen Stunden und das Handelsvolumen sei daher äußerst begrenzt, vgl. Vietor, J. K.: Unsere Berechtigung Kolonien zu erwerben. Teil 2 [der Aufsatzreihe über „Deutsche Kolonialpolitik“], in: Die Arbeit 18 (1907), S. 2f.; ähnlich auch in Vietor, J. K.: Vergangenheit und Zukunft der deutschen Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 39 (1907), S. 9–10, 9.

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nommen werden, da es oft genug vorkäme, dass Afrikaner ihre Aussage später widerriefen. Nach Aufnahme der Klage müßten die Missionare zunächst um einen versöhnlichen Ausgleich mit der Verwaltung bemüht sein, erst im Falle eines Scheiterns der Vermittlung müsste die nächsthöhere Stelle angerufen werden, zuletzt das Gouvernement, wobei in diesem Fall eine Abschrift der Klage an den Missionsinspektor zu gehen habe. Vietor wäre in solchen Fällen gerne bereit, entsprechende Klagen in Berlin vorzutragen „und sie können sich darauf verlassen, daß ich auch im Kolonialrath [sic] energisch ihre Parthei [sic] vertreten werde.“ Im Übrigen ständen den Missionaren im Falle ernsthafter Probleme, etwa übermäßiger Heranziehung zu öffentlichen Arbeiten, Vietors Mitarbeiter in Togo, Hillmann und Küster, hilfreich zur Verfügung.518 Dass Vietors Bemühungen in Berlin durchaus rasche Wirkung zeigten, macht Stuebels Schreiben an das Gouvernement in Togo vom 10.7.1903 deutlich. Darin griff Stuebel den in Vietors Schreiben vom 1.7.1903 hergestellten Zusammenhang von Steuerarbeit und Abwanderung auf, die nach Vietors Meinung durch die Verordnung zur Wanderarbeit vom 15.11.1899 noch verstärkt worden sei. Stuebel monierte zunächst die Praxis der Bezirke Misahöhe und Kpande, von Arbeitern, die die Grenze zur Goldküste passierten, ein Rückkehrpfand von 10,- Mark zu erheben. Diese Maßnahme sei durch die Verordnung nicht gedeckt, ja sie stände sogar im Kontrast zu § 4 der Verordnung, der für kurzfristige Grenzüberschreitungen ausdrücklich keine Auflagen vorsah.519 Wegen gehäufter Beschwerden von unterschiedlichen Seiten verlangte Stuebel jetzt die seit einigen Jahren üblich gewordene Steuerarbeit auf eine allgemeingültige gesetzliche Grundlage zu stellen, die eine gerechte Verteilung der Arbeiten sicherstellte. Die Einreichung eines entsprechenden Entwurfes erwartete Stubel auf der Grundlage einer gründlichen Recherche des Gouvernements, die Aufschluß geben sollte, seit wann und in welchem Maße bisher in den einzelnen Bezirken Steuerleistungen verlangt worden waren. „In der Zwischenzeit bitte ich streng darauf zu achten, daß die Eingeborenen während der Dauer der Farmarbeiten von allen öffentlichen Arbeitsleistungen befreit sind, u. daß auch im übrigen diese Leistungen auf ein vernünftiges Maß beschränkt werden.“520 Die Vorlage des Verordnungsentwurfs zog sich noch bis 1904 hin und wurde nach Verabschiedung im Gouvernementsrat am 15.7.1904 am 12.8.1904 der Kolonialabteilung vorgelegt.521 Sie sah für jeden Mann in Togo 12 Tage Steuerarbeit mit der Ablösemöglichkeit durch eine nicht genau festgelegte Geldzahlung vor. Wegearbeiten waren ausdrücklich ausgenommen und gehörten nicht zur entschädigungslosen Steuerarbeit. Für die Städte Klein Popo und Lome wurde eine reine Geldsteuer vorgeschlagen. Bis zum endgültigen Erlass der Verordnung am 20.9.1907 518 J. K. Vietor an die Herren Missionare der Norddeutschen Missionsgesellschaft im deutschen Togogebiet vom 14.4.1903, StAB, 7,1025,98-1. 519 Dafür drohte die Verordnung im § 5 im Falle ausbleibender Rückkehr mit Sippenhaft, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 354. 520 Kol. Abt. an Gouverneur von Togo vom 10.7.1903, BAB, R 1001-4097, Bl. 47–49. 521 Kais. Gouv. von Togo an Kol. Abt. vom 12.8.1904, BAB, R 1001-4097, Bl. 60f. In der Anlage ist der Wortlaut des Verordnungsentwurfs „betreffend die Heranziehung der Eingeborenen zu Steuer-Leistungen“ abgedruckt, ebd., Bl. 62f.

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und seiner Inkraftsetzung am 1.4.1908 sollten noch einmal vier Jahre vergehen.522 Die Verwaltung in Togo hatte sich lange gegen eine allgemeingültige Verordnung mit monetärer Ablösemöglichkeit gesträubt, da die praktische Steuerarbeit deutlich mehr wert war und in der Vergangenheit wesentlich dazu beigetragen hatte, dass sich das Schutzgebiet wirtschaftlich mit „verhältnismäßig geringen Mitteln“ entwickelt hatte, wie Zech in seiner abschließenden Antwort auf Stuebels Schreiben vom 10.7.1903 betonte.523 Darin nahm er nun auch Stellung zu den Vorwürfen Vietors und der Missionare, die sich in seiner Beurteilung „als durchaus einseitig“ erwiesen hatten. Vielmehr war für ihn deutlich geworden, dass die der einheimischen Bevölkerung auferlegten Arbeiten „durchweg ohne Widerstreben, grossenteils sogar mit Freudigkeit ausgeführt [worden waren], da dieselben überwiegend den Eingeborenen direkt zu Gute kommen, namentlich beim Wegebau.“ Auch eine nennenswerte Abwanderung konnte er nicht erkennen. Er räumte zwar ein, dass einige Arbeiter teilweise für mehrere Jahre das Land verließen, dann aber mit erheblichen Ersparnissen zurückkehrten, sodass sich die vorübergehende Abwanderung an die Goldküste für Togo als Vorteil herausstellte.524 Das hier sichtbar werdende Muster der verharmlosenden Rechtfertigung,525 manchmal auch der wütenden und verärgerten Zurückweisung von Vietors Eingaben und Beschwerden setzte sich auch in Zukunft von behördlicher Seite fort, auch von subalternen Beamten. 1908 hatte Vietor von einem Gewährsmann die Nachricht erhalten, dass vier Ho-Dörfer häufiger zu Wegebauarbeiten herangezogen worden waren als andere. Sie hatten dafür zwar eine 522 Kais. Gouv. von Togo an RKolA vom 4.11.1907, BAB, R 1001-4097. Auch in der endgültigen Verordnung fehlte eine exakte Ablösesumme für die Steuerarbeit. Die Verwaltung legte jedoch einen üblichen Tageslohn von 0,50 Mark fest, sodass sich daraus eine Ablösesumme von 6,Mark errechnete, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 348. In Anecho und Lome wurde die Steuer nach Einkommensgrenzen gestaffelt erhoben. Da sich die Sätze als zu hoch erwiesen, wurden sie mit der Novellierung vom 27.5.1910 gesenkt, Verordnung betreffend der Besteuerung der Eingeborenen in Lome und Anecho; Kais. Gouv. von Togo an RKolA vom 30.10.1910, BAB, R 1001-4097, Bl. 83, 90–92, 202. 523 Kais. Gouv. von Togo an Kol. Abt. vom 12.8.1904, BAB, R 1001-4097, Bl. 60f., vgl. auch Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 347. 524 Kais. Gouv. von Togo an Kol. Abt. vom 12.8.1904, BAB, R 1001-4097, Bl. 61. Einige Jahre später stellte der Stationsassistent von Kpandu, Perl, jedoch fest, dass von Ersparnissen bei Rückkehren aus der Goldküste keine Rede mehr sein konnte: „Im übrigen [sic] möchte ich erwähnen, dass die hohen Löhne an der Goldküste sehr zurückgegangen, häufig Leute von der Goldküste nach 1–3jährigem Aufenthalt dortselbst zurückkehren ohne einen Pfennig und nur mit einem Tuch bekleidet, Perl an Gouvernement von Togo vom 25.3.1908, ANT, FA 3/2052 [TCS], S. 98. 525 Beliebt war die Behauptung, bei gemeldeten Missständen handelte es sich nur um Einzelfälle. So etwa Puttkamer gegenüber dem Vorwurf „grauenhafter Verrohung“ in der Behandlung der Eingeborenen in Kamerun, Puttkamer an Kol. Abt. vom 28.2.1901, ABM, Q 2-14, Bl. 4, S. 3. Auch sein späterer Nachfolger Ebermaier wollte bei ähnlichen Vorwürfen nur von Einzelfällen sprechen. Vietor sah sich daher genötigt zu erklären, Ebermaier erkenne nicht das ganze Ausmaß der Situation, wenn er von Einzelfällen spreche. Er selbst hätte bei seiner erst kurz zurückliegenden Reise nach Kamerun ganz allgemein feststellen können, dass Afrikaner schlecht behandelt würden, J. K. Vietor an Basler Mission vom 12.2.1914, Bericht über meine Unterredung mit Exzellenz Ebermaier am 11. Februar, 11 Uhr vormittags, ABM, E-2,41, Bl. 28, S. 4, ebenso J. K. Vietor an Mumm vom 13.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 151.

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Belohnung des Bezirksamtes in Höhe von 500,- Mark in Aussicht gestellt bekommen, das Geld war aber nicht ausgezahlt worden. Nach einer Intervention Vietors kam es anläßlich des Besuches von Oberleutnant Freude in Ho im Februar 1908 schließlich doch zur Auszahlung des versprochenen Betrages. Einen notwendigen Druck Vietors bestritt Freude jedoch und erklärte die Verzögerung der Auszahlung lediglich mit dem sich länger hinziehenden Wechsel des Stationsassistenten. Freude ärgerte sich bei dieser Gelegenheit, dass sich Vietor „immer und immer wieder als Beschützer des durch die Regierung bedrückten Togovolkes aufspielt.“ Von Zwangsarbeit zu sprechen, wie es Vietor tat, verbot sich für Freude ohnehin. Ganz im Sinne Carl Peters vertrat er die Ansicht: „Mit demselben Recht könnte man bei uns in Deutschland von einer militärischen Zwangsarbeit sprechen, statt von Wehrpflicht.“526 Freude sah in jedem Fall Handlungsbedarf, um Vietors ständigen Hinweisen und Beschwerden das Wasser abzugraben. „Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr scheint es mir, als ob Herr Vietor recht einseitig die Interessen der Eingeborenen vertritt. Herr Vietor hält sich bei der Mission und seinen Faktoreien einen ganzen Stab von Berichterstattern, die emsig Material zusammentragen, welches gegen die Regierung geltend gemacht werden könnte … Ich halte es für zweckmäßiger, wenn diese Angeberei aufhörte. Warum kommen die Gewährsleute für die Berichte des Herrn Vietor nicht zur Regierung und bringen frei und offen ihre Klagen vor, statt sich hinter Herrn Vietor zu stecken, der ja doch niemals die Namen seiner Berichterstatter erwähnt. Wenn das K.G. [Kaiserliche Gouvernement, Anm. B.O.] nur noch direkte Berichte, ohne Vermittlung des H. V., annehmen würde, dann würde es H. V. bald aufgeben, sich fortwährend in Regierungsangelegenheiten zu mischen.“527

Auch auf Vietors letzter Togoreise 1912/13 verschaffte sich der unterschwellige Groll der Beamten und, in diesem Fall, der Bezirksamtmänner gegen Vietor Luft. Nachdem Vietor verschiedene besorgniserregende Beobachtungen des Umgangs der Behörden mit der indigenen Bevölkerung dem neuen Gouverneur Adolf Friedrich zu Mecklenburg, verbunden mit der Bitte auf eine entsprechende präventive Einwirkung auf die Bezirksamtleute, vorgetragen hatte, hatte dieser die Kritikpunkte, ohne Vietors Wissen, schriftlich an die Bezirksamtleute weitergeleitet. Mecklenburg bekam daraufhin von ihnen einen groben Antwortbrief, Vietor hätte sich „in ihre Sachen nicht hineinzustecken“ und ihn „gingen die Sachen gar nichts an.“ Mecklenburg überreichte Vietor diesen Antwortbrief erst eine Stunde vor dessen Abreise, wohl in der Hoffnung, dass er nun nicht mehr reagieren könnte. Vietor

526 Peters hatte sich bereits 1901 für eine gesetzliche Arbeitspflicht der Afrikaner als Pendant zur Wehrpflicht in Deutschland stark gemacht, vgl. Schulte-Althoff, 1982 (wie Anm. 392), S. 413. 527 Oberleutnant Freude (Misahöhe) an Gouvernement von Togo vom 4.5.1908, ANT, FA 3/2052 [TCS], S. 99ff. Freude versäumte es nicht, in seinem Bericht nun auch seinerseits schwere Vorwürfe gegenüber Vietors Geschäftsgebaren in Togo zu erheben. „Die Firma J. K. Vietor war es, die im Atakpamebezirk fortwährend die Einkaufpreise für Baumwolle herabdrückte, wenn keine Konkurrenz am Platze war. Sie ist es auch, die die Waren zu höheren Preisen verkauft als die anderen Firmen und ich habe in Atakpame oft Klagen darüber geführt. Das wird Stationsassistent Unger und Schneider bestätigen. Die Bremer Faktorei ist es, die die meisten Klagen auf Zahlung von Schulden einreicht und die immer beantragt, die Schuldner solange ins Gefängnis zu setzen, bis die ganze Summe bezahlt ist“, ebd.

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nutzte die Zeit jedoch und schrieb sofort „einen noch viel gröberen Brief“ an die Bezirksamtleute, der aber in der Folge von keiner Seite mehr aufgegriffen wurde.528 Angesichts der Möglichkeit von Fehlinformationen oder nicht beweisbaren Behauptungen musste Vietor vorsichtig sein mit seinen Klagen und Eingaben, um sein ohnehin schlechtes Image als ständiger Mäkler nicht überzustrapazieren und schließlich nicht mehr ernst genommen zu werden.529 Nicht umsonst nannte ihn der Tropenarzt Ludwig Külz wegen seines anwaltlichen Selbstverständnisses für die afrikanische Bevölkerung gelegentlich „Großinquisitor“.530 Konfrontiert mit dem geballten Gegenwind in der erneut 1913/14 aufflammenden Kolonialdiskussion, mahnte selbst sein Neffe Fritz, der für ihn seit 1913 in Togo arbeitete, zur Vorsicht in Bezug auf Interventionen zur Landfrage in Togo und Überlegungen, afrikanische Bauern zu Untersaaten in ihren Plantagen zu verpflichten. Das konnte Vietor jedoch nicht überzeugen. [Du weißt] „doch ganz genau, dass in Afrika jeder Zwang in Brutalität übergeht, der wir keinesfalls das Wort reden dürfen. Im Gegenteil, wohin das kleinste Recht der Regierung in das Leben der Schwarzen eingreifen zu können führt, das sehen wir in Ostafrika und Kamerun, wo durch die Arbeiteranwerbung geradezu eine Entvölkerung der Länder eingetreten ist, das Schlimmste, was uns passieren kann, und gerade in Togo sind wir auf dem richtigen Weg und wir müssen uns mit aller Energie dagegen wehren, dass die Regierung ungerechtfertigt in das Leben der Eingeborenen eingreift […] Ich stehe auch dem Plan, die Leute zu zwingen, zwischen Jams und Kassada Baumwolle zu pflanzen, nicht sympathisch gegenüber.“531

Offensichtlich waren Vietors Informationen, die häufig von der Mission kamen, tatsächlich nicht immer so wasserdicht, wie gewünscht.532 Den über Jahre immer 528 J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 8.7.1924, StAB, 7,73-10, S. 5. 529 Die Bitte um gründliches Prüfen aller Informationen wiederholt sich daher in Vietors Briefverkehr mit Informanten immer wieder, vgl. J. K. Vietor an Würz vom 22.5.1905, ABM, E–2,19, Bl. 4, S. 3; J. K. Vietor an Inspektor [Oehler] vom 15.12.1913, ABM, Q 3-4,50, S. 1. Berichte von Afrikanern muss man „sehr vorsichtig behandeln“, ebd.; J. K. Vietor an Fritz Vietor vom 20.4.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 203f. Vietor hatte von seinem Mitarbeiter Euting erfahren, dass 1.500 Familien in die Goldküste abgewandert wären, was Vietor für das Schlimmste hielt, was Togo passieren könne. „Alle Berichte, die ich darüber erhalte, müssen aber durchaus zuverlässig sein, damit ich sie der Regierung gegenüber und wenn notwendig auch in der Oeffentlichkeit verwenden kann“, ebd. Eine entsprechende Abwanderung dürfte im Zusammenhang mit der Festnahme des Oberhäuptlings Dagadu von Kpandu am 9.1.1914 gestanden haben. Ihm wurde vorgeworfen, er wäre der Vater des „Konsuls Dagadu“, der im Goldcoast-Leader mit einer Serie von kritischen Artikeln über die deutsche Kolonialherrschaft begonnen hatte. Trotz seiner Dementi, der Vater zu sein, wurde er im März 1914 nach Kamerun strafdeportiert, Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 569, 672. Nach dem Bericht seines Neffen Fritz war Vietor zu der Überzeugung gekommen, dass die Regierung „Sagadu [hier dürfte ein Schreibfehler vorliegen, es muss Dagadu heißen, Anm. B.O.] sehr unrichtig behandelt hat, und es wäre schön, wenn Du Deinen Einfluss dahin geltend machen könntest, dass man möglichst anständig mit den Leuten umgeht“, J. K. Vietor an Fritz Vietor vom 5.5.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 444. 530 Zurstrassen, 2005 (wie Anm. 438), S. 228, 275. 531 J. K. Vietor an Fritz Vietor vom 21.4.1914 (es dürfte sich um einen Tippfehler handeln, es muss wohl 21.5.1914 heißen), StAB, 7,73-53, Bl. 494f. 532 Der Präses der Basler Mission, Lutz, erkannte das Problem auch selber und hielt manche Berichte deswegen zurück, weil er nicht sicher war, ob die Informationen zutreffend waren, selbst wenn sie von europäischen Mitarbeitern kamen. Er verwies auf das Beispiel des Missionars

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wieder erhobenen Beschwerden seitens der NMG, im Ho-Gebiet wanderten viele Leute, mutmaßlich wegen der Steuerarbeit, in die Goldküste ab, stellte der Bezirksamtmann von Misahöhe, Gruner, am 24.4.1914 eine Statistik gegenüber, nach der sich die Zahl der Steuerzahler resp. Steuerarbeiter seit 1908 kaum verändert hatte.533 Gruner räumte zwar vereinzelte Abwanderungen ein, hielt die Rede der meisten Einheimischen darüber jedoch eher für ein Druckmittel, mit dem sie versuchten, sich Steuerzahlungen und Steuerarbeit entziehen zu können. Der eigentliche Grund für Abwanderungen lag für ihn ohnehin nicht in den Steuern, sondern in der besseren wirtschaftlichen Lage in der Goldküstenkolonie. Abwanderungen und Handelsverlagerungen gab es jedoch nicht nur wegen Steuerarbeiten und wirtschaftlichen Anreizen in den Nachbarregionen. Der gleiche Abwanderungsreflex stellte sich auch in dem Moment ein, als die Verwaltung versuchte, im Zusammenhang mit der Förderung des Baumwollanbaus Druck auf die Bauern auszuüben.534 Nachdem das KWK 1900 eine Expedition nach Togo entsandt hatte, um die Möglichkeiten des Baumwollanbaus zu prüfen,535 setzte die Verwaltung die Kultivierung in Form von Dorfgemeinschaftsanlagen unter Aufsicht des Bezirksamtes in Gang, obwohl das KWK ausdrücklich die Kultivierung in Volkskulturen vorgeschlagen hatte. Auch wenn die Baumwollplantagen durch das Konzept der Verwaltung nicht in staatliche Hand fielen, sondern im Besitz des jeweiligen Stammes verblieben, hatte die so praktizierte Anbauform eher das Gesicht einer staatlich verordneten Produktionsgenossenschaft als die einer freien, selbständig-bäuerlichen Erzeugung. Hinzu kam, dass die Anbaumenge jeweils genau vorgeschrieben und der Verkauf des Produktes nicht freigegeben wurde, sondern die Abgabe an die öffentliche Hand vorsah, wobei der Aufkaufpreis in der BaumwollRechenberg (Lobetal/Kamerun), von dessen Informationen sich nachträglich einige als falsch herausgestellt hatten, was zu entsprechenden Vorwürfen der Verwaltung geführt hatte, vgl. Lutz an Inspektor [Oehler] vom 22.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 34, S. 2f. 533 Danach bezahlten oder arbeiteten ihre Steuer ab: 1908: 5.797 Männer; 1909: 5.599; 1910: 6.136; 1911: 5.839; 1912: 6.048; 1913: 6.241, Bezirksamtmann Gruner (Misahöhe) an Präses der NMG Däuble (Lome) vom 24.4.1914, StAB, 7,1025-98-1. 534 Zur Einführung der Baumwollkultur in Togo und dessen Entwicklung vgl. Supf, Karl (Hrsg.): Deutsche Kolonial-Baumwolle. Berichte 1900–1908, [Berlin] [1909].; vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 432–444; Döpker, Tobias: Die Versorgung der deutschen Industrie mit Rohstoffen aus den eigenen Kolonien – Am Beispiel der Baumwolle, München 2004, S. 75–78. Die besondere Rolle der vier afroamerikanischen Baumwollexperten in der Aufbauphase des KWK Projektes beleuchtet Beckert, Sven: Von Tuskegee nach Togo. Das Problem der Freiheit im Reich der Baumwolle, in: Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 4 (2005), S. 505–545. 535 BAB, R 1001-8221, Bl. 11. Die Abreise der Expedition war für den 10.11.1900 geplant. J. K. Vietor bot als Form seiner Unterstützung die Lieferung einer Ginmaschine an, ebd., Bl. 15. Als sich die Kultivierung der Baumwolle in Togo abzeichnete, wies er seine „Herren draußen“ an, die Baumwollkultur in Togo mit „allen Kräften zu fördern“, J. K. Vietor an Kol. Abt. vom 30.8.1902, BAB, R 1001-8222, Bl. 2. Vietor lobte die KWK Arbeit immer wieder, da sie gerade an dem Punkt ansetzte, den er kolonialpolitisch für den entscheidenden hielt: neue Kulturen einzuführen und die einheimischen Bauern zu schulen und auszubilden. Am 25.8.1913 trug das KWK Vietor die Mitarbeit in der KWK–Oelrohstoffkommission an, was er als große Ehre betrachtete und dankend annahm, J. K. Vietor an KWK vom 28.8.1913, StAB, 7.73-51, Bl. 366.

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konferenz am 31.3.1903 für Jahre auf 25 Pfennig pro 3 Pfund unentkernte Baumwolle festgelegt wurde, gleichgültig wie sich der Weltmarkpreis entwickelte. Eine behördlich derart eingeengte und regulierte Produktionsweise konnte kaum auf die Begeisterung der Bevölkerung zählen, bot dieses System doch keine individuellen Anreize und Entfaltungsmöglichkeiten. Das Gouvernement unter Graf Zech sah jedoch angesichts der gegenüber dem Maisanbau nicht konkurrenzfähigen Gewinnspanne keinen anderen Weg, um die Baumwollkultur großflächig in Togo einzuführen.536 Zechs Vorgänger, Horn, hatte 1902 noch mit Hinweis auf die mehr als dreimal so große Gewinnspanne beim Mais zurückhaltend auf den Baumwollanbau reagiert und staatlichen Druck bei einer etwaigen Einführung für ungeeignet gehalten.537 Unbeschadet davon war die Einladung zur Baumwollkonferenz am 31. März 1903 in seinem Namen erfolgt, auch wenn er selbst nicht teilnahm.538 Bereits nach wenigen Jahren stießen die dirigistischen Maßnahmen auf wachsende Ablehnung und setzten nun auch im östlichen Teil Togos Abwanderungsbewegungen in Gang. Für Vietor bestand ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der einsetzenden Abwanderung von Bauern aus dem Kerngebiet des deutschen Baumwollanbaus, Atakpame, und der seiner Ansicht nach verkehrten, auf Zwang und Reglementierung setzenden deutschen Kolonialpolitik. „Wie kurzsichtig ist dies Benehmen! Das rücksichtslose Vorgehen der Regierung hat große Massen unserer Eingeborenen aus dem Atakpame-Bezirk vertrieben. Sie sind über die Grenze auf das französische Gebiet entwichen. Und dieselben Leute, denen der Zwang unserer Regierung zuwider war, sitzen dort nun und bauen freiwillig die Baumwolle, die sie mir zum Verkaufe nach Porto Novo bringen.“539

Vietor monierte auch den Rückgang der Lebensmittelproduktion aufgrund der staatlichen Anordnungen zur Baumwollkultivierung. In manchen Dörfern hatte das zu einer erheblichen Unterversorgung geführt und in Folge davon zu einer Verfünffachung der Lebensmittelpreise. Unterstützung in seiner Kritik erhielt Vietor vom Leiter des KWK in Togo. Auch er zeigte sich gegenüber Vietors Partner, Claus 536 Auf der Baumwollkonferenz vom 31.3.1903, an der neben Zech auch die Bezirksamtmänner im Landesinneren teilnahmen, wurde in einem 11 Punkte Plan auf der Grundlage des Modells der Volkskultur beschlossen (Punkt 2): „Zur Erzielung einer Massenkultur der Baumwolle durch die Eingeborenen und jährlich sich steigernder Erntemenge ist jedoch eine nachdrückliche Einwirkung der Regierungsorgane auf die Eingeborenen wenigstens für eine Reihe von Jahren hinaus unerläßlich“, Protokoll der Baumwollkonferenz vom 31. März 1903 in Tavie, in: Supf, Karl (Hrsg.): Deutsche Kolonial-Baumwolle. Berichte 1900–1908, [Berlin] [1909], S. 46–48, 46, vgl. auch Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 439. 537 Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 438. 538 Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 46. 539 Vietor, 1905 (wie Anm. 454), S. 669. Das dirigistische Baumwollproduktionssystem führte nach 1910 auch zu Abwanderungen aus dem Kpandu- und Hobezirk und zu entsprechenden Beschwerden von Firmen aus Lome, Sebald, 1988 (wie Anm. 7), S. 443. Auf die bevormundenden und dirigistischen Vorschriften der Verwaltung in Bezug auf den Baumwollanbau und andere cash-crop Produkte weist Gründer in diesem Zusammenhang als einen der Auslöser für den Maji Maji Aufstand in Deutsch-Ostafrika hin. Nach seinem Amtsantritt 1906 verabschiedete sich Gouverneur von Rechenberg daher rasch von dieser Politik, Gründer, 2004 (wie Anm. 7), S. 158, 163.

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Freese, überzeugt, daß die einheimischen Bauern noch weit mehr Baumwolle anbauten, wenn sie nicht dazu gezwungen würden.540 Trotz der Kritik an der behördlichen Strategie gehörte Vietor zu den eifrigsten Förderern der Baumwollkultur in Togo, hatte er sich doch bereits an ersten Anbauversuchen im Zusammenhang mit der Entsendung des Baumwollexperten Goldberg nach Togo 1889/90 beteiligt.541 Sein Interesse konzentrierte sich im weiteren Verlauf zunehmend auf den Versuch der Verhinderung eines Monopols der DTG im Baumwollgeschäft. Da die Baumwollkonferenz vom 31. März 1903 bereits auf der Agu-Plantage der DTG tagte und Hupfeld dabei als Vertreter des KWK fungierte, ging die Initiative im Baumwollgeschäft zunächst auf die DTG über.542 Während die anderen Handelsfirmen zögerten, sich auf das Baumwollgeschäft einzulassen und nicht bereit waren, die von der KWK anfangs aufgestellten Ginanlagen zu übernehmen, hatten die DTG (Palime) sowie die Kpeme Pflanzung bereits im April 1905 je eine eigene, gut gehende Anlage in Betrieb.543 Erst Ende 1905 entschlossen sich mehrere Handelsgesellschaften unter Führung Vietors,544 mit der gemeinsamen Gründung der Togobaumwollgesellschaft (TBG) aktiv in das wachsende Baumwollgeschäft einzusteigen und das Feld nicht länger allein dem KWK und der DTG zu überlassen.545 Mit einem Grün540 Vietor, 1905 (wie Anm. 454), S. 668f. 541 Der Anbau der Baumwolle in den deutschen Schutzgebieten, in: DKB 1891, S. 544–549, 545. Hier wird die Firma Vietor irrtümlich als H. K. Victor bezeichnet, im Register wird sie aber korrekt als J. K. Vietor angegeben. 542 Hupfeld hatte seine Togoreise von Januar bis April 1903 im Auftrag des KWK unternommen und während dieser Reise die Konferenz angeregt, was ausdrücklich im Eingangssatz des Protokolls der Konferenz vermerkt wurde, vgl. [1909] (wie Anm. 95); vgl. auch den Reisebericht Hufpfelds. Hupfeld, Friedrich: Bericht des Direktors Fr. Hupfeld über seine Togoreise 1903, in: Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 36–45. 543 Die Kpeme Plantage hatte bereits 1904 die Ginanlage vom KWK übernommen. J. K. Vietor war im August 1904 nach Togo aufgebrochen, um sich u.a. über „die kaufmännischen Unterlagen einer Dampfginanlage in Palime zu informieren“, vgl. Supf, Karl: Bericht IV. Deutschkoloniale Baumwoll-Unternehmungen. Herbst 1904, in: Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 5. Bis Mitte 1905 wollte die DTG jedoch offensichtlich keine weitere KWK Anlage übernehmen, wahrscheinlich, weil sie mit den beiden eigenen vorerst ausgelastet war. Nach Karl Supf war das KWK auch mit der Firma F. M. Vietor Söhne im Gespräch: „Verhandlungen wegen der Übernahme von Ginbetrieben in Ho, Atakpame und Kpandu mit den Firmen Bödecker & Meyer, Friedr. M. Vietor Söhne, F. & A. Swanzy und der Deutschen Togogesellschaft konnten trotz des weitgehendsten Entgegenkommens seitens des Komitees zu einem befriedigenden Abschluß bis jetzt nicht gebracht werden.“ Dafür hatte aber im Frühjahr 1905 die DeutschWestafrikanische Handelsgesellschaft im Küstenbereich eine eigene kleine Anlage errichtet. Im Besitz des KWK befanden sich 1905 neben den Anlagen in Ho, Atakpame und Kpandu auch die in Nuatschä, Gudewe, Kete-Kratschi und Mangu, Supf, Karl: Deutsch-koloniale Baumwoll-Unternehmungen, in: Der Tropenpflanzer, 1905, S. 317–331, 320; Supf, Karl: Bericht V. Deutsch-koloniale Baumwoll-Unternehmungen. Frühjahr 1905, in: Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 5f. 544 Die erste Aufsichtsratssitzung fand am 22.12.1905 in Hamburg statt, StAB, 7,2016-9. Dass die Hauptinitiative zur Gründung der TBG von Vietor ausging, geht auf eine Aussage Claus Freeses aus den 1950er Jahren zurück, vgl. Diehn, 1956 (wie Anm. 144), S. 89. Die hohen Geschäftsanteile scheinen diese Aussage zu belegen. 545 Nach dem Gesellschaftervertrag vom 8.7.1908 gehörten folgende 10 Handelsgesellschaften zur TBG, die ihren Sitz in Lome hatte. Die hier angegebenen Kapitaleinlagen sind so erst durch

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dungskapital von 30.000,- Mark546 übernahm die TBG noch im selben Jahr vom KWK die Ginanlage in Kpandu.547 Anfang 1906 begann auch der Betrieb einer Anlage in Palime.548 Auf Drängen Vietors wurde 1906 mit dem Bau einer fünftausend Mark teuren Ginanlage in Atakpame begonnen,549 obwohl die DTG dort zur gleichen Zeit „eine ziemlich große Ginanlage“ errichtete.550 Später kam noch eine Anlage in Ho dazu.551 Die TBG lieferte sich in der Folge eine verlustreiche Konkurrenzschlacht mit der DTG, da keine von beiden Seiten ihre Anlagen voll auslasten konnte, was nicht zuletzt auch mit der Stagnation der Baumwollproduktion in Togo ab 1909 zusammenhing.552 Mit den Verträgen vom 4.5.1911 und 8./10.6.1912 fanden beide Seiten schließlich zu einem Abkommen, das den Zugang der jeweils anderen Partei zu den eigenen Entkernungsanlagen erlaubte und die Gewinnverteilung im Verhältnis 60 % (TBG) zu 40 % (DTG) regelte.553

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Beschluss der Außerordentlichen Gesellschafterversammlung vom 23.10.1911 erreicht worden. Bödecker & Meyer: 9.000,- Mark; Bremer Kolonialhandelsgesellschaft, vorm. F. Oloff & Co. AG: 11.000,- Mark, Deutsch-Westafrikanische Handelsgesellschaft (DWAH): 8.000,Mark, C. Goedelt: 7.000,- Mark, Luther & Seyfert: 6.000,- Mark, F. & A. Swanzy Ltd.: 10.000,Mark, Vietor & Freese: 22.000,- Mark, F. M. Vietor Söhne: 20.000,- Mark, Wallbrecht & Co.: 3.000,- Mark, Knoop & Sohn: 4.000,- Mark, VPAH. Müller liegt mit seiner Annahme, das Gründungskapital hätte bei 50.000,- Mark gelegen falsch, vgl. Müller, Hartmut, 1973: Bremen und Westafrika, S. 120. Die erste Erhöhung des Stammkapitals auf 60.000,- Mark erfolgte auf Vorschlag Vietors zum Jahresende 1907. Danach hielten die beiden Vietorfirmen 32.000,- Mark des Gesamtkapitals, also über 50 %. Am 23.10.1911 wurde die Erhöhung auf 100.000,- Mark beschlossen. Danach hielten die Vietorfirmen mit zusammen 42.000,- Mark immerhin noch 42 % des Gesamtkapitals, vgl. StAB, 7-2016-9. Zur ersten Erhöhung des Stammkapitals von 30.000,- auf 60.000,- Mark vgl. auch die Bekanntmachung der TBG aus Lome vom 1.4.1909, BAB, R 1001-3633, Bl. 3. StAB, 7.2016-21. Supf, Karl: Bericht VII. Deutsch-koloniale Baumwoll-Unternehmungen. Frühjahr 1906, in: Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 5. Protokoll der 2. Sitzung des Aufsichtsrates der TBG vom 15.3.1906, StAB, 7-2016-9. Deutsche Togogesellschaft, in: Der Tropenpflanzer 10 (1906), S. 669–671, 669. Am 1.12.1905 hatte die DTG außerdem pachtweise die Ginanlage des KWK in Ho übernommen und die KWK Göpelginanlage in Sokode gekauft, die dann auf Motorbetrieb umgestellt wurde, ebd. StAB, 7,2016-9. 1907 existierten in Togo 14 Entkernungsanlagen und Aufkaufmärkte, von denen 12 von der DTG oder der TBG gehalten wurden. Die DTG und die TBG hatten beide je eine eigene Anlage in Palime sowie Atakpame. Weitere Anlagen bestanden in Anecho, Gudewe, Ho, Kete-Kratchi, Kpandu, Kpeme, Lome und Sagada. Die Anlagen in Nuatschä und Sokodé waren noch im Besitz des KWK, vgl. Supf, Karl: Deutsch-koloniale Baumwoll-Unternehmungen. Bericht IX (Herbst 1907), in: Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 14. Atakpame und der Bezirk Misahöhe (Palime) waren bei einer Gesamtausfuhr von 1205 Ballen 1906/07 mit 474 Ballen (Misahöhe) resp. 549 Ballen (Atakpame) die größten Produktionsgebiete, Supf, Karl: Deutsch-koloniale Baumwoll-Unternehmungen. Bericht X (Frühjahr 1908), in: Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 11. Nach der Aufstellung des KWK von 1908 verteilten die sich 1908 noch existierenden Anlagen auf fünf Anlagen der DTG (Ho, Palime, Sagada, Atakpame, Sokodé) und drei auf die TBG (Ho, Palime, Atakpame). Dazu kam die Anlage auf der Kpeme-Plantage sowie die Anlage in Nuatjä (Nuatschä), die inzwischen vom KWK auf das Gouvernement übergegangen war. Während die DTG alle Anlagen vom KWK übernommen hatte, hatte die TBG ihre drei Anlagen jeweils selbst erstellt, Supf, 1909 (wie Anm. 536), S. 16; vgl. DKB 1908, S. 584. Müller, 1973 (wie Anm. 7), S. 120f. Der Poolvertrag zwischen der DTG und der TBG vom

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In den Wochen nach dem Kolonialkongress 1905 stellte Vietor fest, dass eine „gesunde Kolonialanschauung bedeutende Fortschritte“ machte, wenngleich er nach wie vor nicht von einer entsprechend schnellen Umsetzung in die Praxis ausging.554 Begünstigt durch den Maji Maji Aufstand in Ostafrika kam es im Winter 1905/06 zu einer intensiven Debatte im Reichstag über die bisherige Kolonialpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Behandlung der indigenen Bevölkerungen.555 Im Zusammenhang mit der Suche nach den Hintergründen der Aufstände in Südwest- und Ostafrika wies nun auch das Zentrum energisch auf Versäumnisse im Umgang mit der afrikanischen Bevölkerung hin. Erzberger fand dabei fast die gleichen Worte wie Vietor, wenn er im Rückblick auf zwanzig Jahre deutsche Kolonialpolitik resümmierte: „Heute sitzen wir in der Kolonialpolitik vollständig fest. Die Aufstände in Südwestafrika, in Ostafrika, die Unruhen in Kamerun scheinen mir auf einen totalen und vollständigen Zusammenbruch unserer heutigen Kolonialpolitik hinzudeuten.“556 Neben der „Systemlosigkeit“ und dem Versagen vieler Beamter in den Kolonien sah Erzberger den Kern der Malaise, wie Vietor, „in der total verfehlten Eingeborenenpolitik“. Entscheidende Fehler wären gemacht worden in der Landpolitik und bei der Regelung des Kreditgebens an Afrikaner. Dazu kam für ihn das „Prügelunwesen“, die Behandlung Strafgefangener in den Gefängnissen und die „Einführung des Arbeitszwanges“, die für Erzberger der eigentliche Auslöser des Aufstandes in Ostafrika war. Da andere Kolonialmächte dieses Mittel bereits als untauglich verworfen hatten, hielt er es für anachronistisch. Ähnlich negativ beurteilte er die Bestimmungen zur Hüttensteuer, die bei Zahlungsunfähigkeit eine zwangsweise Abgeltung durch Arbeitsleistung vorsahen.557 Erzberger forderte daher, ganz im Sinne Vietors, eine „Umänderung des ganzen bisherigen Ko-

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8./10.1912 war auf fünf Jahre abgeschlossen worden. Vietor war mit der gefunden Lösung nicht zufrieden, sah aber angesichts des ungeschickten Verhaltens von Friebel, in dessen Folge sich die anderen Togofirmen auf Hupfelds Seite gestellt hatten, keine Alternative dazu. Für jeden geginten Ballen mussten 20,- Mark in die Poolkasse abgeführt werden, deren Gewinn am Jahresende in Verhältnis 60 : 40 (TBG : DTG) verteilt wurde, vgl. J. K. Vietor an Henke vom 27.6.12, StAB, 7,73-50, Bl. 432. Vietor, 1905 (wie Anm. 207), S. 538. Zur entsprechenden Debatte, unter besonderer Berücksichtigung der Prügelstrafe, vgl. Schröder, 1997 (wie Anm. 443), S. 83–87. Überhaupt muss den Aufständen in Südwestafrika und Ostafrika eine wesentliche, katalysatorische Wirkung im Hinblick auf den immer lauter werdenden Ruf nach einer Reform der deutschen Kolonialpolitik zugesprochen werden, vgl. dazu Schulte-Althoff 1982 (wie Anm. 392), passim. SBR, 11. Leg., 2. Sess., 12. Sitzung vom 14.12.1905, S. 320. SBR, 11. Leg., 2. Sess., 12. Sitzung vom 14.12.1905, S. 321, 324f. Auch in seiner Rede am 16.1.1906 betonte Erzberger seine Ansicht, der Auslöser für den Aufstand in Ostafrika sei die Einführung der Zwangsarbeit, z.T. im Zusammenhang mit der Hüttensteuer, gewesen, vgl. SBR, 11. Leg.per., 2. Sess., 21. Sitzung vom 16.1.1906, S. 590f. Nach Informationen Erzbergers waren es in erster Linie die beiden Bezirksamtmänner von Kilwa und Lindi im Süden Ostafrikas, auf die die Einführung der Zwangsarbeit zurückzuführen sei, nicht auf den Gouverneur, der dazu keine Verordnung herausgegeben habe. In Kilwa und Lindi müssten die Afrikaner nun zwischen 24 und 52 Tage, je nachdem ob Frau oder Mann, für einen Tageslohn von etwa ½ Pfennig auf den öffentlichen Baumwollplantagen arbeiten. Für den Fall, dass die Frau eines Afrikaners die Arbeit ableistete, musste sie die doppelte Arbeitszeit ableisten, da ihre Arbeitsleistung geringer als die der Männer angesehen wurde, ebd., S. 591.

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lonialsystems“, ohne die seine Fraktion keine Gelder für die Kolonien mehr bewilligen würde. Die afrikanische Bevölkerung in den Schutzgebieten müsste endlich gesicherte Rechte erhalten, da sie fast wie Sklaven leben müssten. Die Verbesserung ihrer Rechtslage war daher eine Kernforderung Erzbergers.558 Die lange erwartete und geforderte Einleitung eines Systemwechsels im Sinne Vietors und Erzbergers nahm mit dem Eintritt Bernhard Dernburgs in die Kolonialabteilung am 5.9.1906 schließlich konkrete Gestalt an. Bereits am 13.10.1906 besuchte Vietor Dernburg, um ihm seine „Ansichten über die Kolonialpolitik, über die Eisenbahn, über den Betrieb derselben und über eine Dampferlinie von Bremen“ auseinanderzusetzen. Dabei machte Dernburg auf ihn „den Eindruck eines fixen Kerls“, ein positiver erster Eindruck, der sich in den folgenden Jahren festigte.559 Dernburgs Wirken, zunächst als stellvertretender Direktor der Kolonialabteilung, nach Umbildung desselben zum Kolonialamt am 17.5.1907 als Staatssekretär, leitete, zumindest vorübergehend, eine Neuorientierung der deutschen Kolonialpolitik ein. Den in der Reichstagsdebatte 1905/06 angeprangerten Missständen, auch in Bezug auf die Behandlung der afrikanischen Bevölkerung, versprach er zügig nachzugehen. Von Erzberger bekam er auf seine Bitte hin entsprechendes Material. Auch andere Reichstagsabgeordnete hatte er um solches gebeten.560 Dem neugewählten Reichstag konnte er bereits kurz nach Wiederaufnahme des parlamentarischen Betriebes eine Denkschrift vorlegen, die seinen Willen dokumentierte, mit alten Missständen ernsthaft aufzuräumen.561 War sein Bemühen um einen Neuansatz in der Kolonialpolitik zunächst von dem Gedanken geleitet, die Kolonien in eine größere wirtschaftliche Selbständigkeit und in dessen Folge auch zu größerer 558 SBR, 11. Leg., 2. Sess., 12. Sitzung vom 14.12.1905, S. 331. Auch die verstärkte Förderung der Mission sei unumgänglich, da nur die Mission die entscheidende Erziehungsarbeit leisten könnte. Im Verlaufe der weiteren Kolonialdebatte 1906, die schließlich zur Auflösung des Reichstages am 13.12.1906 führte, avancierte Erzberger zu einem der schärfsten Kritiker der deutschen Kolonialpolitik und der Kolonialabteilung, vgl. besonders seine Reden am 13.3., 15.3. und 26.3.1906, ebd. S. 1974–1981; 2046–2050, 2290–2293. 559 J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 13.10.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 6. Der Auf- und Umschwung der deutschen Kolonialpolitik war in Vietors Augen eindeutig auf Dernburg zurückzuführen: „Auf seiner ersten Reise nach Ostafrika hat er sich einen klaren Überblick über die ganzen Verhältnisse geschaffen und alles absolut richtig beurteilt, und der fabelhafte Aufschwung unserer tropischen Kolonien und der Umschwung unserer ganzen Kolonialanschauung ist ihm vor allen Dingen zu danken“, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 92. Während einer Sonderfahrt des Lloydschnelldampfers „Kaiser Wilhelm II.“ vom 10. –12.3.1910, an der neben dem Kaiser, Prinz Heinrich, Tirpitz, Krupp von Bohlen und Halbach und eine Reihe weiterer illustrer Gäste aus Wirtschaft, Bankenwelt und Politik teilnahmen, begeisterte Vietor, der in seiner Funktion als Aufsichtsratsmitglied des Norddeutschen Lloyd an der Reise teilnahm, ganz besonders Dernburg: „Der interessanteste Mann an Bord war der Kolonialminister Dernburg; er war voller Ideen, was er alles tun wolle und entwickelte sehr verständige Anschauungen“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 3), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 16. Ein beschriftetes Photo, das 17 der prominentesten Gästen der Schiffsreise, darunter auch Vietor, darstellt, wurde von der englischen Zeitung „Daily Sketch“ unter dem Titel „The Real Rulers Of Germany“ in der Ausgabe vom 22.3.1910, veröffentlicht. 560 SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 130. Sitzung vom 30.11.1906, S. 4045. 561 Schiefel, 1974 (wie Anm. 158), S. 53f., 62f.

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Selbstverwaltung zu führen,562 was auf kostendeckende Etats der einzelnen Schutzgebiete zielte, anerkannte Vietor, dass er sich nach seiner Ostafrikareise 1907 auch intensiver der Situation der afrikanischen Bevölkerung zuwandte, insbesondere ihrer stärkeren Beteiligung am Wirtschaftskreislauf.563 Der programmatische Satz, die einheimische Bevölkerung der Kolonien wäre „das wichtigste Aktivum in Afrika“ geht allerdings nicht auf ihn zurück, sondern entstammt einer Petition ostafrikanischer Farmer, die Dernburg in der Budgetkommission am 18.2.1908 aufgriff.564 Ähnliche Umschreibungen, um den besonderen Wert der afrikanischen Bevölkerung selbst zum Ausdruck zu bringen, kursierten in abgewandelter Form bereits seit Jahren, wenn auch mit je unterschiedlicher Zielrichtung.565 Anders als die Gruppe der Pflanzer und Siedler erkannte Dernburg auch in der selbständigen Arbeit des 562 „Als Ziel einer erfolgreichen Kolonialpolitik darf man wohl die wirtschaftliche Selbständigkeit der einzelnen kolonialen Gebiete und im Zusammenhang damit eine gewisse Selbstverwaltung der Gebiete im engen Anschluß an das Mutterland hinstellen“, SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 129. Sitzung vom 29.11.1906, S. 3998. 563 Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 93. 564 SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., Anlage 782, S. 4693. Dieser Hintergrund macht es eher verständlich, warum Dernburg sich im weiteren Verlauf seiner Rede gegen den Vorwurf einer weichlichen, „Negerfreundlichen“ Politik wehrte und lieber von „Negererhaltender“ Politik sprach, ebd. S. 494. In seiner Reichstagsrede vom 19.3.1908 versuchte er ähnliche Vorwürfe von Liebert und Paasche, er wäre zu „negerfreundlich“, mit dem peinlichen Vergleich von Vieh und „afrikanischen Negern“ zu kontern: „Was ich von dem afrikanischen Neger verlange, ist nicht viel mehr, als was jedermann für irgendein kostbares Stück seines Haushalts oder für ein Stück Vieh verlangt. Ich will ihm gute Hütten verschaffen, rechtzeitiges Essen verschaffen, er soll einen Arzt haben, seinen Lohn will ich ihm sicherstellen, seine Kontraktzeit soll begrenzt werden, und seine Selbstbestimmung soll nicht ausgeschlossen sein“, SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., 126. Sitzung vom 19.3.1908, S. 4129. Dernburg untermauerte seine erschreckend einseitig utilitaristische Sicht über den Afrikaner mit seiner Überzeugung, der Afrikaner sei „über einen bestimmten Grad hinaus“ nicht kulturfähig, weshalb man keine zu hohen ethischen Anforderungen an ihn stellen dürfe. Man könne ihn aber zu einem guten Arbeiter erziehen, ebd. 565 Aus ganz anderem Blickwinkel als die Pflanzer Ostafrikas hatte schon Franz Giesebrecht 1897 im Afrikaner selbst das größte Aktivum der Kolonien gesehen. Im Anschluss an Clemens Denhardt, der die Afrikaner für den kostbarsten Schatz der tropischen Länder hielt, hoffte er, dieselben im Geiste moderner Humanitätsprinzipien zur Zivilisation führen zu können, Giesebrecht, 1897 (wie Anm. 460), S. 11, 38. L. Kurz bezeichnete 1900 die Afrikaner als eigentlichen Wert der Kolonien Afrikas, Kurz, L.: Zum Bau von Stationen in Westafrika, in: DKZ 1900, S. 22f. Der Geograph und Ostafrikareisende, Professor Hans Meyer, sprach im Zusammenhang mit seinen kolonialen Reformvorschlägen, die vergleichbar mit Vietors Vorstellungen, die Ausbildung des Afrikaners zum eigenständigen Bauern forderten, 1900 von der afrikanischen Bevölkerung als dem „Wertvollsten, was Ostafrika enthält“, dem wahren „Reichtum“ der Kolonie, Meyer, Hans: Zur Bevölkerungspolitik in Deutsch-Ostafrika, in: Koloniale Zeitschrift, 1900, S. 102–104. Auch Vizeadmiral a. D. v. Schleinitz sah bereits 1903 in dem Afrikaner selbst den „wahren Schatz“ der Kolonien und schloss sich, grundsätzlich Vietors Ausführungen auf dem Kolonialkongress 1902 folgend, der Aussage Dr. Hasserts an: „Wir haben allen Grund, uns um die Eingeborenen zu kümmern. Denn in der unerschöpflichen Arbeitskraft der Eingeborenen besteht vor allem der große Schatz, den der dunkle Erdteil birgt. – Die wirtschaftliche Zukunft unsrer Kolonien beruht auf der Erziehung der kolonialen Menschen“, vgl. von Schleinitz, 1903 (wie Anm. 157). S. 98, 105. Schulte-Althoff verweist auf weitere Verwendungen ähnlicher Umschreibungen durch Gustav Müller und Carl Peters bereits Anfang des Jahrhunderts, vgl. Schulte-Althoff, 1982 (wie Anm. 392), S. 424.

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Afrikaners, in der indigenen Bauernkultur, wie sie Vietor seit Jahren forderte, eine angemessene Konsequenz dieser Überzeugung. Allein die Zusammensetzung des ostafrikanischen Handelsvolumens überzeugte ihn davon, daß die Erhöhung der Produktivität und der Konsumfähigkeit der Afrikaner das Mittel der Wahl war, hatte die Plantagenwirtschaft am Gesamthandelsergebnis von 36 Millionen Mark doch lediglich einen wertmäßigen Anteil von 1,6 Millionen Mark.566 Hatte Vietor die deutsche Kolonialpolitik noch 1906 als verfahren und verkehrt charakterisiert, so sah er sie, dank der Politik Dernburgs, 1913 endlich als „aus den Kinderschuhen herausgewachsen“ an und durchaus vergleichbar mit der französischen und englischen. Sein Maßstab war dabei in erster Linie die Entwicklung des Handelsvolumens und der Ausbau der Infrastruktur, vor allem des Eisenbahnnetzes, das auch dem Afrikaner im Landesinneren die Teilnahme am Handel ermöglichte.567 Strukturelle Reformbemühungen und das Ende des Kolonialrats Eine Vietors Bestreben, die deutsche Kolonialpolitik über den Kolonialrat maßgeblich mitgestalten zu können entgegengesetzte Richtung schlug sich seit der Jahrhundertwende in den zunehmenden Forderungen der DKG nach Schaffung von Beiräten in den Kolonien nieder.568 Zwar fühlten sich die Gouverneure durch diesen Vorschlag zunächst in ihrer Entscheidungsfreiheit und Autorität bedroht, aber die diesem Gedanken innewohnende Tendenz zur Dezentralisierung zielte mittelfristig eher zu einer Stärkung ihrer Position, insbesondere der Kolonialabteilung gegenüber. Entsprechende Ansehens- und Rechtfertigungsverluste für den Kolonialrat waren abzusehen. Zuerst hatte Ernst Vohsen, Kolonialratsmitglied der ersten Stunde, am 5.1.1897 in einer Ausschusssitzung der DKG die Schaffung von Beiräten in den Kolonien nach englischem Vorbild gefordert. Johann Albrecht zu Mecklenburg, seit 1895 sowohl Mitglied des Kolonialrats als auch Präsident der DKG, brachte diesen Vorschlag daraufhin am 1.12.1897 in den Kolonialrat ein. Wegen des Widerstandes der Gouverneure von Togo und Ostafrika wurde der Gedanke jedoch zunächst nicht weiterverfolgt. Nachdem jedoch Puttkamer auf der DKG Hauptversammlung in Koblenz 1900 der Bildung eines Beirates in Kamerun zugestimmt hatte, folgte am 8.7.1900 eine entsprechende Eingabe der DKG an den Reichskanzler, die am 17.1.1901 durch eine weitere in Bezug auf Ostafrika ergänzt wurde. Aber erst nach Vohsens erneutem Vorstoß im Ausschuss der DKG im November 566 SBR, 12. Leg. per., 1. Sess., Anlage 782, S. 4671, 4673. Mit diesem Hinweis auf die Handelsstatistik begegnete Dernburg dem Vorwurf der Farmer, er wolle Ostafrika zu einer „Neger- und Handelskolonie“ machen. 567 Wie hoch Dernburgs Anteil an dieser Entwicklung war, zeigte sich für ihn in der Entwicklung der Handelsbilanz. Hatte der Umfang des kolonialen Handels bei Übernahme der Geschäfte durch Dernburg 1906 noch 99 Millionen Mark betragen, hatte er sich bis zu dessen Ausscheiden 1910 auf 232 Millionen Mark gesteigert, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 93f. 568 Zur Entwicklung und Wirkung der Gouvernementsräte vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 268–285.

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1901 und der darauf folgenden erneuten Eingabe an den Reichskanzler vom 17.2.1902 kam Bewegung in diese Frage. Im Dezember 1902 sagte Stuebel der DKG die Vorbereitung einer entsprechenden Verordnung zu, die dem Kolonialrat am 30.11.1903 vorgelegt wurde.569 Damit hatte Stuebel den Kolonialrat in dieser Frage mehr oder weniger überspielt, da er eine vorherige Diskussion der dahingehenden Vorschläge der DKG im Kolonialrat vermieden hatte.570 Immerhin hatte er den Kolonialratsmitgliedern bereits vor der Sitzung, am 20.10.1903, den Entwurf einer Verfügung betreffend die Bildung von Gouvernementsräten zugesandt, in dem er die geplante Einführung dieser Gremien begründete.571 Dabei knüpfte er an die am 10.7.1885 in Kamerun und 16.1.1886 in Togo eingeführten Verwaltungsräte an, die „seit geraumer Zeit […] außer Übung gekommen“ waren.572 In Togo hatte der Rat zwischen März 1886 und Februar 1888 tatsächlich nur insgesamt vier Mal getagt.573 Dann verwies er auf die bereits 1899 in Südwestafrika entstandenen Bezirksbeiräte sowie auf den ebenfalls schon bestehenden Beirat auf Samoa, verschwieg aber nicht die bisherige Zurückhaltung Gouverneur Bennigsens, der einen Beirat für Neuguinea für verfrüht hielt sowie die skeptische Haltung in Togo und 569 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 269–272. 570 Genauso sah es auch der Deutsche Kolonialbund in einer Mitteilung vom 10.12.1903. Für ihn war klar, dass die Sache schon beschlossene Sache gewesen sei, als sie dem Kolonialrat vorgelegt wurde und von diesem auch nicht mehr hätte verhindert werden können, Mitteilungen des Deutschen Kolonialbundes. Kolonial–Reformen III. Beiträte in den Kolonien, in: Koloniale Zeitschrift 1903, S. 484. 571 Stuebel an Kolonialratsmitglieder vom 20.10.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 13. Der begründete Entwurf war angehängt, Bl. 14. 572 Stuebel gibt als Einführungsdaten der Verwaltungsräte 15.1.1886 (Togo) und 20.7.1886 (Kamerun) an, tatsächlich wurden sie aber am 10.7.1885 (Kamerun) und 16.1.1886 (Togo) eingeführt, nachdem das Auswärtige Amt mit Verordnung vom 22.10.1885 für Togo die Einführung eines dem Kameruner Vorbild entsprechenden Verwaltungsrates angeordnet hatte, Auswärtiges Amt an kais. Kommissar Falkenthal (Bagida) vom 22.10.1885, ANT, FA 1-161,Bl. 1; Verordnung betr. die Einsetzung eines Verwaltungsrates im Togogebiet vom 16.1.1886, ebd., Bl. 6f. Die Verordnung für Kamerun findet sich, ebd., Bl. 3–5. Anders als in Kamerun, wo der Verwaltungsrat aus „ansässigen Mitgliedern der Kolonie“ berufen werden sollte, wollte Falkenthal die drei zu berufenden Mitglieder aus dem Kreis der europäischen Kaufleute wählen. Er übernahm auch nicht die Bestimmung für Kamerun, nach der, „wo es sich um einheimische Verhältnisse handelt“, auch Häuptlinge hinzugezogen werden konnten. Überhaupt fehlt für Togo eine eigens präzisierte Verordnung mit näheren Bestimmungen wie in Kamerun. 573 Der Verwaltungsrat trat am 22.3.1886 in Bagida, vom 22. bis 24.9.1886 in Klein Popo, am 9.7.1887 in Klein Popo und zuletzt am 18.2.1888 zusammen. Für die erste Sitzung waren die drei Hauptagenten Friedrich Oloff (F. M. Vietor Söhne, Quittah), Ludwig Randad (C. Goedelt, Ouidah) und Konsul Heinrich Randad (Wölber & Brohm, Klein Popo) eingeladen, kurioserweise alles Vertreter, die nicht auf deutschem Gebiet stationiert waren. Der Grund dafür lag daran, dass die auf deutschem Gebiet tätigen Firmenvertreter keine verbindlichen Erklärungen für ihre Häuser abgeben konnten, ANT, FA 1-161, Bl. 9. Da Oloff bei der ersten Sitzung verhindert war, schlug er J. K. Vietor aus Klein Popo als seinen Vertreter vor. Oloff schaffte es dann aber doch, sodass Vietor nicht kam, Bremer Faktorei (Quittah) an Falkenthal vom 14.2.1886, Protokoll der 1.Sitzung vom 22.3.1886, ebd., Bl. 13, 16, 45. Zur zweiten Sitzung waren sechs Personen anwesend, ebd., Bl. 82. Auf der dritten Sitzung nahm Herr Fehrmann, auf der vierten Sitzung E. Hille für die Bremer Faktorei teil, ebd., Bl. 93, 105.

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Ostafrika.574 Keine Erwähnung in seinem Schreiben fanden dagegen die mit Verordnung vom 29.3.1901 geschaffenen Bezirksräte in Ostafrika, die aus drei bis fünf Beisitzern bestanden,575 zu denen auch (je) ein afrikanischer Vertreter gehören sollte.576 Wenngleich Vietor der Einrichtung von Gouvernementsräten, insbesondere in Ost- und Südwestafrika „mit Freuden“ zustimmte, lehnte er sie für Togo ab. Da es hier aus klimatischen und gesundheitlichen Gründen unerlässlich sei, meist noch sehr junge Firmenvertreter einzusetzen, die über wenig Erfahrung verfügten, sei es nicht ratsam, sie zu Gouvernementsräten zu machen. Sinnvoller wäre es, entsprechende Berufungen an die Firmeninhaber ergehen zu lassen, „die früher in Togo gewesen seien“ und den Gouvernementsrat für Togo in Deutschland zusammentreten zu lassen.577 Das sah Adolf Woermann genauso und beantragte auch für Kamerun eine analog zu Vietors Vorschlag gehende Regelung. Die früheren Verwaltungsräte wären deshalb deaktiviert worden, weil sie sich nicht bewährt hätten.578 Da aber die Gouverneure von Togo und Kamerun bereits zugestimmt hatten, blieben Vietors und Woermanns Vorstellungen unberücksichtigt.579 Auf Seiten der Mehrheit stand Vietor jedoch in Bezug auf die Frage, ob die nichtamtlichen Gouvernementsräte gewählt oder berufen werden sollten. Während Professor Meyer, Scharlach und Staudinger für eine Wahl „der Kolonie“ (Meyer) beziehungsweise „seitens der Bevölkerung“ (Scharlach) plädierten, wollte es Vietor vermeiden, „daß das Wahlgezänk in die Schutzgebiete hineingetragen“ würde. In erster Linie war beim Gedanken der Wahl an die berufsständischen Vertreter gedacht, die auf diese Weise ihre Vertreter im Gouvernementsrat selbst hätten bestimmen können. Am besten drückte Ernst Vohsen die zwiespältige Haltung bei der Bemühung um eine mög574 In Togo hatte man sich aufgrund einer Anfrage aus Berlin wegen des nicht aktiven Verwaltungsrates 1900 auf den Standpunkt gestellt, eine Neubestellung des Rates sei wegen der scharfen Konkurrenz unter den Firmen nur schwierig möglich und die „Heranziehung sämtlicher Firmen“ undurchführbar. Aus Ostafrika hatte Stuebel den Bescheid erhalten, die dominierende Stellung der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft und der Firma Hansing & Co. machten es schwierig, Beiräte zu bestellen. 575 Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1900/1901, SBR, 10. Leg. per., 2. Sess., Anlage 437, S. 2912. 576 Da sich jedoch nicht überall geeignete Afrikaner fanden, die dazu auch noch der deutschen Sprache mächtig waren und damit dem Verhandlungsverlauf der Sitzungen folgen konnten, konnten aufgrund der Verordnung des Reichskanzlers vom 29.1.1904 die für afrikanische Vertreter vorgesehenen Sitze in den Bezirksräten auch stellvertretend von einem Weißen eingenommen werden, Denkschrift 1903/04 (wie Anm. 37), S. 2950. 577 Der Deutsche Kolonialbund kommentierte diesen Vorschlag spöttisch und zumindest in Bezug auf Vietor und Woermann nicht zutreffend: „Wer kann wohl die Verhältnisse draußen besser beurteilen, der Faktoreivorsteher u.s.w., welcher sich seit vielen Jahren in der Kolonie aufhält, oder der Chef in Europa, der ein- oder zweimal im Leben eine Spazierfahrt nach einer Kolonie unternimmt?“, Koloniale Zeitschrift 1903, S. 484. 578 Dieser Behauptung stimmte Friedrich Oloff für Togo ausdrücklich nicht zu, obgleich er ebenfalls gegen die Einführung von Gouvernementsräten in den tropischen Kolonien war. Nach seiner Einschätzung war zumindest der Verwaltungsrat in Togo, dem er selbst angehört hatte, auch deswegen deaktiviert worden, weil er „wenig nach dem Geschmack des damaligen Landeshauptmanns“ war, Oloff, 1905: Zwanzig Jahre (wie Anm. 229), S. 26. 579 KR vom 30.11.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 48, S. 3–5.

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lichst repräsentative Zusammensetzung des Gouvernementsrates aus. Während die Befragung der „Bevölkerung“, wie er sich ausdrückte, an sich das geeignetste Mittel dazu wäre, berge sie andererseits auch die Gefahr in sich, dass dann möglicherweise „ungeeignete Elemente gewählt werden könnten.“ Auch er verwarf daher den Gedanken einer Wahl wieder. Trotz einiger zustimmender Reaktionen wurde auch die Möglichkeit der Hinzuziehung afrikanischer Vertreter zu den Räten sowie die Einholung von Meinungen von „prominenten Eingeborenen“ oder Häuptlingen verworfen. Bereits am 24.12.1903 erließ der Reichskanzler die Verordnung zur Einführung von Gouvernementsräten in den Schutzgebieten.580 In Kamerun wurden die Mitglieder für den neu zu schaffenden Gouvernementsrat am 14.11.1904 ernannt581 und traten daraufhin im Januar, April und Mai 1905 zusammen,582 in Ostafrika bereits erstmals am 27./28.5.1904583 und in Togo ebenfalls erstmals 1904.584 In Südwestafrika konnte der später Landesrat genannte Gouvernementsrat aufgrund der Aufstände erst am 9.10.1906 zusammentreten.585 Trotz des erfolglosen Einspruchs gegen die Bildung von Gouvernementsräten in Togo und Kamerun verstummte die Diskussion darüber nicht.586 Aufsehen erregte insbesondere eine programmatische Schrift Friedrich Oloffs, die er am 28.1.1905 als Eingabe an den Reichstag sandte und in der er eine angemessene und repräsentative Vertretung der Kaufmannschaft im Kolonialrat bestritt587 und die Schaffung eines eigenen in Berlin angesiedelten Beirates für die tropischen Kolonien Togo und Kamerun forderte.588 In diesem neu 580 DKB 1 (1904), S. 1–3; von König: Gouvernementsräte, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 746. 581 Rudin, 1968 (wie Anm. 221), S. 187–191. Der Gouvernementsrat trat in der Folge etwa zwei Mal jährlich zusammen. 582 Denkschrift 1904/05 (wie Anm. 303), S. 2725. 583 Ebd., S. 2710. Zu den vier nichtamtlichen Räten gehörten zwei Pflanzer, ein Kaufmann und ein Gewerbetreibender. Pogge Strandmann gibt unter Berufung auf Iliffe irrtümlich den 28.4.1904 als erstes Zusammentreffen des Gouvernementsrates an, vgl. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 274. 584 Denkschrift 1903/04 (wie Anm. 37), S. 2975f. Zu den sieben nichtamtlichen Mitgliedern gehörten vier Kaufleute, je zwei aus Lome und Klein Popo, ein Pflanzer und zwei Missionare. 585 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 276. 586 Da die Gouvernementsräte nicht zu verhindern gewesen waren, beantragte Vietor zumindest die Vorlage der Beschlüsse derselben im Kolonialrat, KR vom 29.6.1905, ausführliches Protokoll, BAB, R 1001-6982, Bl. 193. 587 Damit widersprach Oloff ausdrücklich einer entsprechenden Behauptung Prof. Dr. Helfferichs in dessen Denkschrift an Bundesrat und Reichstag vom Januar 1905. Die Berufung J. K. Vietors, Woermanns und Thormählens war nach Oloffs Ansicht dafür keine Gewähr, weil sie nicht von den kaufmännischen Interessenten in den Kolonialrat hineingewählt worden wären, sondern als Einzelpersonen vom Kaiser berufen worden seien. Sie hätten damit kein korporatives Mandat. Daran würden auch die hier und da vorkommenden Mitteilungen Vietors gegenüber Oloff und anderen Togokaufleuten über Diskussionen im Kolonialrat nichts ändern. Sie dokumentierten lediglich ein vorhandenes „kollegialisches Verhältnis“ untereinander, Oloff, 1905: Zwanzig Jahre (wie Anm. 229), S. 26. Den Kolonialrat im Sinne seiner Vorschläge „vervollkommnen“ zu können, hielt er wegen der großen Zahl von rein „dekorativen Mitgliedern“ in ihm für „unmöglich“, ebd., S. 21. 588 Oloff, 1905: Zwanzig Jahre (wie Anm. 229), S. 21, 23, 32.

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zu schaffenden Beirat sollten, ganz wie es Vietor bereits 1903 gefordert hatte, die Chefs der in Togo und Kamerun tätigen Firmen sitzen, aber auch die Vorstände der Plantagen- und Missionsgesellschaften.589 Eine Repräsentation über den VWK hielt er dabei für sinnvoll.590 Oloff kritisierte die pauschale Verordnung zur Einrichtung von Gouvernementsräten vom 24.12.1903, da sie keine Rücksicht nähme auf regionale und klimatische Unterschiede in den deutschen Kolonien. Für die tropischen Kolonien übernahm er Vietors und Woermanns Argumentation der zu hohen Fluktuation der Firmenmitarbeiter in Togo und Kamerun aufgrund der klimatischen Bedingungen und der damit verbundenen fehlenden langjährigen Erfahrung. Dass das Votum Vietors und Woermanns in der entscheidenden Kolonialratssitzung vor Erlass der Verordnung nicht berücksichtigt wurde, hielt er für einen großen Fehler.591 Um seinen Anregungen mehr Nachdruck zu verleihen, sicherte sich Oloff auch die Unterstützung des VWK, der am 2.3.1905 ein entsprechendes Empfehlungsschreiben an die Kolonialabteilung sandte, in dem ausdrücklich die Schaffung eines in Deutschland ansässigen Beirates für Togo und Kamerun unterstützt wurde.592 Oloff konnte auch die Bremer Abteilung der DKG für seine Gedanken gewinnen. Die Bremer brachten daraufhin auf der Essener Hauptversammlung der DKG im Juni 1905 einen Antrag im Sinne Oloffs ein, wobei sie jedoch in erster Linie dessen Forderung nach „zweckmäßige[r] Beteiligung der Laien an der Verwaltung der Kolonien“ in den Mittelpunkt rückten. Während Oloff für die tropischen Kolonien Beiräte in Deutschland favorisierte, forderte er für die klimatisch begünstigten Siedlungskolonien Südwestafrika und Samoa eine weit gewichtigere Vertretung als die rein beratende der Gouvernementsräte. Der von der Hauptversammlung schließlich angenommene und von Vietor in Essen unterstützte Beschluss unterstrich aber auch die Forderung besserer Vertretung der Interessen der Handels- und Plantagengesellschaften in der Kolonialabteilung, wenn auch ohne ausdrückliche Forderung eines neuen entsprechenden Beirates.593 Der Vorstand der DKG wurde aufgefor589 Ebd., S. 21. 590 Ebd., S. 32. 591 Oloff, 1905: Zwanzig Jahre (wie Anm. 229), S. 21, 29. Oloff konnte sich jedoch einen Beirat in den tropischen Kolonien vorstellen, wenn dieser wichtige Fragen lediglich „vorbesprechen“ würde und das Ergebnis dieser Besprechungen als Protokoll an die Kolonialabteilung gesandt würde. Die Entscheidung über größere Angelegenheiten und insbesondere über den Etat des Schutzgebietes müsse aber im Rahmen des in Deutschland tagenden Beirates zusammen mit den Firmenchefs in Deutschland erfolgen, ebd., S. 21. 592 VWK an Kol. Abt. vom 2.3.1905, BAB, R 1001-3414, Bl. 13f. 593 Der Beschluss der Hauptversammlung der DKG lautete: „Die Hauptversammlung der Deutschen Kolonialgesellschaft zu Essen beschließt auf Anregung der Abteilung Bremen betreffend die Beteiligung der Interessenten an der Verwaltung der Kolonien und beauftragt den Ausschuß, in dem Sinne des Antrages der Abteilung Bremen bei der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes vorstellig zu werden, in dem sie der Hoffnung Ausdruck giebt (sic), dass es den vereinten Bemühungen der Kolonialabteilung, der Gouverneure, der Ansiedler und Interessenten gelingen werde, diejenigen Maßregeln zu finden, die zu einer wirkungsvolleren Vertretung der europäischen Bevölkerung in den Gouvernementsbeiräten der Ansiedlerkolonien bewz. der Interessenten der Handels- und Plantagengesellschaften in der Kolonialabteilung führen können“, 5. Jahresbericht der Abt. Bremen der DKG für das Jahr 1905, StuUB, Brem.c.619 Nr. 41, S. 8.

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dert, im Sinne des Beschlusses der Hauptversammlung zu Oloffs Vorschlägen bei Reichstag und Regierung vorstellig zu werden.594 Noch im gleichen Jahr veröffentlichte Oloff eine zweite Schrift mit Reformvorschlägen für die koloniale Verwaltung, der er 1906 eine weitere folgen ließ und in denen er seine Forderungen wiederholte und bekräftigte.595 Dabei verschärfte sich sein Ton merklich. Nun griff er das Gerücht über den ehemaligen Gouverneur von Togo, Köhler, auf, das bereits kurz nach dessen Tod 1902 kursierte und ihm eine private Kapitaleinlage bei der Firma Martin Paul nachsagte. Zwar würden ausreichende Beweise dafür bislang fehlen, aber allein die Möglichkeit mache deutlich, wie notwendig ein in Deutschland angesiedelter Beirat wäre, der solche Parteinahmen entweder verhindert oder sofort zur Sprache gebracht hätte.596 Das Problem der Gouvernementsverwaltung bestände einerseits darin, dass sie einer „viel zu autokratischen Verwaltung“ Vorschub leistete und andererseits „Land-, Minen- und Eisenbahnkonzessionsjäger“ über „unkontrollierbare Einflüsse“ ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Hatte sich Oloff bereits im Zusammenhang mit der Arbeiterfrage in allen wesentlichen Punkten auf Vietors Seite gestellt, so suchte er auch hier die Nähe zu ihm und lobte ausdrücklich einen kurz zuvor erschienenen Artikel Vietors über das Problem der Konzessionsgesellschaften, um im Folgenden dessen Agenda in weiteren konkreten Fragestellungen zu vertreten, etwa die Forderung betreffend Zollerhöhungen für Alkohol und Auflagen für den Alkoholtransport mit der Eisenbahn ins Hinterland, Bau der Eisenbahnen in staatlicher Hand und Verwaltung der Landungsbrücke in Lome durch eine Genossenschaft der Kaufleute. Auch Vietors Wertschätzung für den inzwischen zurückgetretenen Direktor der Kolonialabteilung, Stuebel, teilte er voll und ganz und bemängelte undurchsichtige Vorgänge in der Kolonialabteilung.597 Dieselben Kräfte, die bereits unter von Buchka die Politik der Kolonialabteilung bestimmt hatten, waren für ihn immer noch am Werk mit dem Ergebnis, dass die Kolonialabteilung nach wie vor „sehr unproduktiv“ arbeitete.598 Eine Folge davon war seiner Meinung nach auch der Ausbruch des Aufstandes in Südwestafrika, dem man bei rechtzeitiger Schaffung einer ausreichenden politischen Vertretung der dort lebenden deutschen Bevölkerung hätte zuvorkommen können.599 Die Begründung dieser Kritik macht unmißverstänlich klar, dass er trotz weitgehender Deckungsgleichheit in Einzelfragen, grundsätzlich nach wie vor von einem völlig anderen Weltbild als Vietor ausging. Im Falle der rechtzeitigen Schaffung einer politischen Vertretung der weißen Siedler hätte er nicht etwa die Gewähr für ausgleichende Verhandlungen gesehen, sondern vielmehr die politische Lobby für eivon Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 403. Oloff, 1905: Verwaltungsreform (wie Anm. 229); Oloff, 1906 (wie Anm. 229) Oloff, 1906 (wie Anm. 229), S. 56. Oloff stellt sich hier voll und ganz zur gemeinsamen Durchsetzung höherer Spirituosenzölle in Togo durch die Kaufleute, ohne zu vergessen darauf hinzuweisen, „selbst ein bedeutendes Spirituosen-Geschäft“ in Togo zu machen. War er in den 1880er und 1890er Jahren in den Augen der Mission noch ein Feind, so plädierte er nun für „Eingeborenenkommissare“, die am sinnvollsten aus den Reihen der Missionare rekrutiert werden sollten, Oloff, 1906 (wie Anm. 229), S. 65. 598 Oloff, 1906 (wie Anm. 229), S. 69. 599 Oloff, 1905; Zwanzig Jahre (wie Anm. 229), S. 13. 594 595 596 597

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nen rechtzeitigen Präventivkrieg gegen die jetzt aufständische afrikanische Bevölkerung.600 Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß Positionen zu einzelnen kolonialpolitischen Fragestellungen eben nicht ohne weiteres und in jedem Fall auf eine eindeutige Intension schließen lassen. Eine seriöse Abwägung der Gewichtung mehrerer Motivlagen, wie sie bei Vietor immer wieder festzustellen sind, kann nur bei einem ganzheitlichen und umfassenden Blick auf die jeweilige Person vorgenommen werden. Auch Friedrich Hupfeld nutzte die DKG als Forum, um seiner Kritik an der kolonialen Verwaltung Ausdruck zu verleihen. Auch er hatte auf der Hauptversammlung der DKG in Essen ein Reformmemorandum vorgelegt,601 das in seiner Kernforderung nach Schaffung eines institutionellen Rahmens für regelmäßigen und direkten Austausch zwischen Kolonialverwaltung und Kaufmannschaft den Gedanken Oloffs sehr nahe kam. Auch Hupfeld stand den Gouvernementsräten skeptisch gegenüber und forderte eine Rückverlagerung der Entscheidungskompetenzen nach Berlin, unter Hinzuziehung der Chefs der Handelshäuser. Sein Memorandum, das er nach der DKG Hauptversammlung bei der Kolonialverwaltung einreichte, enthielt auch herbe Kritik am Kolonialrat. Er sei falsch zusammengesetzt und statt die wirtschaftlichen Herausforderungen zu lösen, nähmen „idealistische Anstrengungen“ zu viel Raum ein. Um eine effektivere Arbeit des Kolonialrats zu gewährleisten, schlug er die Einrichtung von Fachausschüssen vor, in denen die überwiegende Arbeit geleistet werden sollte. Sie sollten zwar jeweils von einem Kolonialratsmitglied geleitet werden, aber Raum schaffen für die Beteiligung von externen Personen. Für Togo schlug er ein zehnköpfiges Gremium vor, das aus vier Vertretern der Wirtschaftsunternehmen, einen für die Plantagen, einen für die Eisenbahngesellschaft und je einen für die größeren Missionsgesellschaften bestehen sollte. Die Fachausschüsse sollten zweimal im Jahr tagen und sich mit den vom Gouverneur gesetzten Themen beschäftigen und über ihre Ergebnisse dem Kolonialrat Bericht erstatten. Zwar sollten dadurch die Gouvernemtsräte nicht ersetzt, aber zumindest ergänzt werden. Ein besonderes Gewicht gewannen die Vorschläge Hupfelds dadurch, dass sie der DKG Vorsitzende, Johann Albrecht zu Mecklenburg, persönlich an Stuebel und Reichskanzler Bülow übergab.602 Angesichts der zunehmenden Kritik griff der Kolonialrat die Frage effizienteren Arbeitens in seiner Sitzung am 30.6.1905 auf und sah eine Möglichkeit zur Verbesserung darin, die Zahl der ständigen Mitglieder des Kolonialratsausschusses zu erhöhen. Scharlach wollte die Vermehrung der ständigen Mitglieder des Aus600 Für Oloff war klar, dass die weißen Siedler, aber auch die Afrikaner, früh genug ihre zunehmende Konkurrenzsituation um Land und Ressourcen erkannt hatten, die Siedler jedoch in Ermangelung von ausreichenden Mitwirkungsrechten keinen Präventivkrieg durchsetzen konnten. Hierin bestände das Versagen der Verwaltung, nicht etwa in der Einleitung deeskalierender und auf Ausgleich bedachter Maßnahmen. Nur ein rechtzeitiger „Unterwerfungskrieg“ hätte die Opfer und Greueltaten an den Weißen verhindern können. Man dürfe sich eben notfalls nicht scheuen „diese Wilden als das zu behandeln, was sie in Wirklichkeit sind“, andernfalls hätte man die Kolonie niemals erwerben dürfen, Oloff, 1905: Zwanzig Jahre (wie Anm. 229), S. 13. 601 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 417. 602 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 405–407.

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schusses auch mit einer Erweiterung ihrer Kompetenzen verbinden, etwa der Festlegung der Tagesordnung in Zusammenarbeit mit der Kolonialabteilung, Beratungen mit der Regierung über wichtige Fragen der Kolonialpolitik auch außerhalb der Kolonialratssitzungen und der Vorbereitung des für die nächste Kolonialratssitzung benötigten Hintergrundmaterials. Das hätte in der Tat zu einer stärkeren Mitbestimmung und Mitgestaltung geführt, andererseits jedoch den Kolonialrat als Ganzes gegenüber dem Ausschuss deutlich abgewertet. Im Bewußtsein dieser Gefahr einigte man sich vorläufig auf eine Verschiebung der Entscheidung, was im Rückblick durchaus als Fehler bezeichnet werden muß, wurde hiermit doch die letzte Chance vertan, das Image und die Effektivität des Kolonialrats spürbar zu verbessern. Stattdessen schritt man zur turnusmäßigen Neuwahl des bisher dreiköpfigen Ausschusses.603 Hierbei konnte sich Vietor mit seinen Kandidaten gegenüber dem Vorschlag Vohsens durchsetzen.604 In der vorletzten Kolonialratssitzung, ein Jahr später, wurde das Thema erneut diskutiert. Inzwischen hatte sich das Ansehen des Kolonialrats weiter verschlechtert, was Mecklenburg und Prof. Hans Meyer in Sorge versetzte, Heydt jedoch zu der Frage führte, ob das Gremium überhaupt noch am Platze sei. Das hinderte ihn aber nicht, die Aufstockung des Ausschusses auf zehn Mitglieder zu beantragen. Offensichtlich schwebte ihm der gänzliche Ersatz des Kolonialrats durch dieses verstärkte Gremium vor, da eine Zweiteilung in einen rein beratenden Teil und einen beschließenden für ihn keinen Sinn machte. Man einigte sich schließlich auf die Erhöhung des Ausschusses auf sieben Mitglieder, zu denen auch die drei bereits 1905 gewählten gehören sollten. Die restlichen vier konnten nur nominiert werden, weil für ihre Wahl vorher der Erlass zur Einsetzung des Kolonialrats von 1890 entsprechend verändert werden musste.605 Vietor war bei der Nominierungswahl durchgefallen, hoffte aber auf Unterstützung seines Kolonialratskollegen Wiegand, Direktor des Norddeutschen Lloyd, der sich überzeugt zeigte, Vietor leicht noch nachträglich auf die Liste der Nominierten bringen zu können. „Das wäre furchtbar wichtig, dann würde in den Kolonien nichts vorgehen, von dem ich nichts wüsste, und dann hätte ich die Chance, in allem darein zu 603 KR vom 30.6.1905, BAB, R 1001-6994, Bl. 16, S. 14. 604 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 408. Für Pogge Strandmann dokumentierte die Annahme von Vietors Kandidatenliste eine Stärkung seiner Position im Kolonialrat. Da es jedoch zu keiner Kampfabstimmung kam, die die Gewichtsverteilung sichtbar gemacht hätte, bleibt diese Interpretation zumindest unsicher. Vohsen hatte seinen alternativen Wahlvorschlag vor der Abstimmung zurückgezogen, sodass nur noch Vietors Wahlvorschlag übrig blieb. Immerhin wurde kein dritter oder vierter Vorschlag gemacht, was zumindest auf eine geschickte Auswahl der Kandidaten durch Vietor hinweist. Gewählt wurden auf seinen Vorschlag Holleben, Berner und Staudinger. Vohsen hatte Scharlach, Simon und Holleben vorgeschlagen, KR vom 30.6.1905, BAB, R 1001-6994, Bl. 16, S. 14. Vohsen hatte seinen Wahlvorschlag fallen gelassen, nachdem sich Albrecht zu Mecklenburg gegen eine en bloc Wahl und für Einzelwahl ausgesprochen hatte und Scharlach seine Kandidatur daraufhin mit der Begründung zurückzog, er würde mit „grossem Vergnügen auf eine Wahl in den Ausschuss verzichten, sobald man zu einem Zwiespalt kommt“, KR vom 30.6.1905, ausführliches Protokoll, BAB, R 1001-6983, Bl. 61f. 605 KR vom 18.6.1906, BAB, R 1001-6994, Bl. 19, S. 4f. Bei den vier nominierten Ausschussmitgliedern handelte es sich um Heydt, Scharlach, Supf und Vohsen, von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 419.

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reden.“606 Ungünstig auf die Nominierungswahl dürfte für Vietor die Generaldebatte am Tag zuvor gewirkt haben, bei der seine Rede auf „mächtigen Widerspruch“ gestoßen war, aber auch viele Verteidiger gefunden hatte. Er kam aber nicht mehr zu Wort und der neue Kolonialdirektor, Hohenlohe-Langenburg, „verhielt sich ganz ablehnend“.607 Nach Hohenlohes Ausscheiden und der Berufung Dernburgs war dem Kolonialrat nur noch ein kurzes Dasein vergönnt. Durch die Eskalation der kolonialpolitischen Diskussion kam es Ende November und Anfang Dezember 1906 zu erneuten heftigen Angriffen der SPD und des Zentrums auf den Kolonialrat. Erzberger, der den Kolonialrat bereits am 5.9.1906 im Berliner Tagblatt als „Krebsschaden“ der Kolonialpolitik bezeichnet hatte,608 machte am 30.11.1906 im Reichstag nochmals deutlich, dass der Kolonialrat sowohl in seiner Zusammensetzung als auch in seiner Arbeitsweise ein „besonders anstößiger Punkt“ für seine Fraktion wäre. Konkret warf er den Kolonialratsmitgliedern Vorteilsnahme im Amt vor, da sie ihr Insiderwissen nützten, um bei konkret geplanten Projekten vor deren Veröffentlichung lukrative Vertragsabschlüsse unter Dach und Fach zu bringen.609 Das bezog er insbesondere auf die Konzessionsabschlüsse in Kamerun und Südwestafrika, bei denen der Kolonialrat jedoch weitestgehend übergangen worden war. Unbeeindruckt davon nahm am folgenden Tag auch August Bebel Gelegenheit, den Kolonialrat, dessen Unzweckmäßigkeit seit Jahren bekannt sei, als reines Kollegium von „Kolonialinteressenten vom ersten Tag seines Zusammentritts an“ zu bezeichnen. Es sei klar, dass die hier versammelten Herren Politik für die eigene Tasche machten.610 Angesichts des dramatischen Ansehensverlustes und der Umwandlung der Kolonialabteilung zum eigenständigen Kolonialamt hielt es Dernburg nicht für opportun, ein so unbeliebtes und wenig effektiv arbeitendes Gremium länger am Leben zu halten. Die im März 1907 anlaufenden Vorbereitungen zur erneuten Einberufung des Kolonialrats gingen damit ins Leere, ebenso wie Vietors Appell an den VWK, sich an Dernburg zu wenden zwecks einer korporativen Mitgliedschaft im Kolonialrat.611 Am 11.7.1907 stellte Bülow auf Dernburgs Wunsch hin beim Kaiser das Gesuch auf Auflösung des Kolonialrats, dem am 19.7.1907 stattgegeben wurde. Die amtlich–offizielle Auflösung zog sich jedoch bis zum 17.2.1908 hin. Den ehemaligen Kolonialratsmitgliedern wurde daraufhin in Aussicht gestellt, in Zukunft in Sonderausschüssen mitarbeiten zu können,612 was Vietor zustimmend beantwortete.613 Zu einer entsprechenden Ausschussbildung kam es aber unter Dernburg nicht. Erst sein Nachfolger, von Lindequist, rief 1911 mit der „Ständigen Wirtschaftlichen 606 607 608 609 610 611

J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 19.6.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 6. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 19.6.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 6. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 419. SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 130. Sitzung vom 30.11.1906, S. 4030. SBR, 11. Leg. per., 2. Sess., 131. Sitzung vom 1.12.1906, S. 4056. von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 421. Der Jahresbericht des VWK spricht nur von einem Antrag des VWK an Dernburg, den jeweiligen Vorsitzenden des VWK in den Kolonialrat zu berufen, vgl. Bericht über das Vereinsjahr 1907 des VWK, BAB, R 1001-3414, Bl. 31. 612 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 424f. 613 Vietor an Dernburg vom 7.3.1908, BAB, R 1001-6997, Bl. 54.

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Kommission der Kolonialverwaltung“ ein Nachfolgegremium ins Leben. Die Kommission hatte allerdings einen deutlich begrenzteren Auftrag und war in erster Linie nicht als beratendes, sondern gutachterliches Expertenkollegium gedacht. Die Nominierung der Mitglieder erfolgte über die Handelskammern größerer Städte, wobei nur Hamburg und Berlin zwei Personen benennen durften. Die Handelskammer Bremen forderte für sich ebenfalls zwei Nominierungen und schlug den Baumwollexperten Erich Fabarius und als Zweitplazierten J. K. Vietor vor. Lindequist blieb jedoch bei der Begrenzung auf eine Person für Bremen und zog Fabarius Vietor vor.614 An der ersten Sitzung am 28.9.1911 nahmen insgesamt zehn Mitglieder sowie drei Sachverständige als Geladene teil. Damit war der Kreis deutlich kleiner als zuletzt der Kolonialrat, von dem nur zwei Personen auch zur neuen Kommission gehörten.615 Unter Lindequists Nachfolger Solf wurde das Gremium wieder deutlich erweitert und verzeichnete schließlich 37 Mitglieder.616 Wie schon unter Lindequist konzentrierte sich die Arbeit der Kommission auch unter Solf auf die Kreditversorgung der Kolonien sowie die Frage, wie man mit unrentablen Kolonialunternehmen umgehen solle.617 Wichtiger für die kolonialpolitischen Fragen der Tropenkolonien Kamerun und Togo wurde nach Auflösung des Kolonialrats freilich der VWK, der nun faktisch häufiger die Funktion des von Vietor, Oloff und Hupfeld geforderten Beirats der Chefs ausfüllte. Zwar sah man sich nicht in der Lage, den Vereinssitz nach Berlin zu verlegen, um eine ständige Beiratsfunktion ausfüllen zu können,618 aber immerhin trug der Versuch, in einen engeren direkten Kontakt mit den Gouverneuren von Togo und Kamerun zu kommen, Früchte. Konnte der VWK 1906 erstmals ein Abschiedsfest zur Wiederausreise Graf Zechs geben,619 konnte er 1909 ausführliche Gespräche mit Gouverneur Seitz zur Lage in Kamerun führen. Ein deutlicher Fortschritt in der Bedeutung des Vereins, dessen zahlreiche Eingaben und Anträge bei Kolonialamt und Kameruner Gouvernement 1907 noch weitgehend ohne Erfolg geblieben waren.620 Bei den Gesprächen mit Seitz am 15.5.1909, an dem der ge614 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 440 ff. 615 Vgl. „Verzeichnis der Mitglieder der Ständigen wirtschaftlichen Kommission der Kolonialverwaltung und der Sachverständigen bei der Tagung am 28. September 1911“, BAB, R 10016998, Bl. 191. 616 Vgl. „Mitglieder der Ständigen wirtschaftlichen Kommission der Kolonialverwaltung“, BAB, R 1001-6998, Bl. 3. 617 von Pogge Strandmann, 2009 (wie Anm. 38), S. 446 ff.; Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 131. 618 Am 29.10.1907 regte der VWK bei Dernburg nochmals die Einrichtung von in Deutschland ansässigen Beiräten für Togo und Kamerun an, konnte aber dessen Anerbieten, in engeren Kontakt zum VWK zu treten, falls dieser seinen Sitz nach Berlin verlegen sollte oder zumindest einen Bevollmächtigten in Berlin ansiedeln würde, nicht nachkommen, weil die meisten Mitgliedsfirmen in Hamburg und Bremen ansässig waren, VWK an Dernburg vom 29.10.1907, BAB, R 1001-3414, Bl. 33f.; Dernburg an VWK vom 20.11.1907, Ebd. Bl. 35f.; VWK an Dernburg vom 5.3.1909, ebd., Bl. 37f. 619 Bericht über das Vereinsjahr 1906, BAB, R 1001-3414, Bl. 18f. Das Festessen zur Ausreise Zechs fand am 6.10.1906 in Bremen statt. Anschließend wurde beschlossen, jede Ausreise eines Gouverneurs mit einem Festessen zu begehen, um so „in den offiziellen Kreisen bekannt“ zu werden, ebd. 620 Die Strategie des VWK, durch seine Aktivitäten langfristig zum entscheidenden Gremium für

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samte Vorstand des VWK teilnahm, zu dem Vietor seit etwa 1905 gehörte,621 ging es um Im- und Exportzölle, etwa für Gummi und Branntwein, Probleme bei der Behandlung der afrikanischen Bevölkerung, den Eisenbahnbau und die Gouvernementsräte. Vietor, der bis dahin nach wie vor nicht in Kamerun engagiert war, protestierte dabei erfolgreich gegen das Ansinnen des Gouverneurs, von den Unternehmen eine Zollnachzahlung für die letzten vier Jahre zu verlangen, da der Fehler bei der Verwaltung zu suchen sei, die es versäumt habe, einen entsprechenden Verwaltungsakt zur Erhöhung der Aufschläge für Kommissionswaren umzusetzen. Die Forderung wurde fallengelassen. Als Oloff seine altbekannte Idee der Einführung eines in Deutschland ansässigen Beirats zur Sprache brachte, sprang ihm Vietor zur Seite und konnte immerhin die Zusage erreichen, dass die Gouvernementsräte in Zukunft anzuhalten seien, sich vor Entscheidungen mit ihren Chefs im Mutterland abzustimmen, eine Absichtserklärung, die offensichtlich auch den Gouvernementsrat in Togo mit einschloss.622 Hier hatte sich Vietor freilich de facto mit der Existenz des Gouvernementsrats abgefunden und nutzte ihn als realpolitische Bühne, wie die Berufung seines Partners C. Freese in den Gouvernementsrat 1907 beweist.623 Togo und Kamerun aufzusteigen, zeitigte somit Erfolg. Im Bericht über das Jahr 1907 hieß es noch: „Die Tätigkeit des Vereins lag in der Hauptsache in der Behandlung der in Kamerun vorliegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen der daselbst etablierten Kaufmannschaft und dem Gouvernement. Eine Anzahl von Eingaben ist über die verschiedenen Angelegenheiten an das Reichs-Kolonial-Amt sowie das Gouvernement in Kamerun gegangen und wenn dieselben auch meistens von negativem Resultat bis jetzt begleitet sind, so sind wir der Meinung, daß durch diesen Austausch der Ansichten der Kaufmannschaft und der Regierungsorgane durch unseren neutralen Verein ein besseres gegenseitiges Einverständnis gefördert wird, und wir sprechen die Hoffnung aus, daß die berechtigten Ansprüche unserer Kamerun-Mitglieder über kurz oder lang in befriedigender Weise an geeigneter Stelle Gehör finden werden.“ Bericht über das Vereinsjahr 1907, BAB, R 1001-3414, Bl. 30. 621 Ein eindeutiges Datum für den Eintritt Vietors in den Vorstand kann nach den recht dürftigen Unterlagen zum VWK im Bundesarchiv Berlin nicht ermittelt werden. Da laut Satzung ein Vorstandsmandat für jeweils zwei Jahre vergeben wurde und Wiederwahl möglich war, kann aus Vietors Wiederwahl 1907 auf seine Zugehörigkeit im Vorstand mindestens seit 1905 geschlossen werden. Bei der Gründung des VWK 1902 gehörte er noch nicht dazu. Die Satzung des VWK findet sich in AHKH, V 54, Bl. 3 und in BAB, R 1001-3414, Bl. 5–10. 622 Sitzung der Kamerun Firmen des VWK’s vom 15.5.1909, BAB, R 1001-3414, Bl. 54–58. An der Sitzung nahmen insgesamt 15 dem VWK angeschlossene Kamerunfirmen teil sowie der Vorstand des VWK, der teilweise identisch war mit den Vertretern der Kamerunfirmen. Mit seiner Forderung, dass wenigstens für die prinzipiellen Fragen ein Beirat von „Kolonial-Interessenten […] geraume Zeit vor der Zusammenberufung des Gouvernementsrates gehört werden müsse“, konnte sich Vietor dagegen nicht durchsetzen, ebd., Bl. 57. Die vorherige Abstimmung mit den Mutterhäusern verlief jedoch offensichtlich nicht reibungslos. Die Mutterhäuser der in Togo aktiven Firmen sahen sich am 10.1.1912 dazu genötigt, ihren Vertretern im Gouvernementsrat die Anweisung zu geben, ihre Zustimmungen im Gouvernementsrat zukünftig nur noch unter Vorbehalt zu geben. Als daraufhin Gouverneur Brückner an Solf appellierte, gegenüber dem VWK auf eine Rücknahme dieser Order zu drängen, verweigerten die Firmen Boedecker & Meyer, J. K. Vietor, Alfred Kulenkampff und die Deutsch-Westafrikanische Bank ihren Vertretern die Zustimmung zu einer Berufung in den Gouvernementsrat, nur die Firma Woermann gestattete die Annahme des Mandats, vgl. Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 30. 623 DKB 1907, S. 558.

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Am 9.10.1910 kam es erneut zu einer Einladung der Kameruninteressenten des VWK ins Kolonialamt.624 Auch der neue Staatssekretär von Lindequist erkannte offensichtlich im VWK zunächst einen natürlichen Ansprechpartner im Sinne eines faktischen Beirates.625 In den Folgejahren büßte der VWK diese Stellung jedoch vorübergehend wieder ein, da er sich 1913 genötigt sah, die bislang übliche, vorherige Einholung von Gutachten des VWK vor kolonialen Projekten erneut anzuregen. Daran änderte auch die vollmundige Erklärung von Solf gegenüber Vertretern des VWK nichts, die am 23.7.1913 einmal mehr die Einrichtung von Beiräten in Berlin ins Spiel gebracht hatten, er verstehe den Antrag nicht, da der geforderte Beirat für Kamerun doch bereits in Form des VWK und des Verbandes der Kamerun- und Togopflanzer bestehen würde.626 Hintergrund für den vorübergehenden Rückgang des Einflusses dürfte die Gründung der Ständigen Wirtschaftlichen Kommission gewesen sein.627 1913 und Anfang 1914 kam es infolge des erneut aufgebrochenen Konfliktes um die Arbeiterfrage in Kamerun zu mehreren Sitzungen zwischen im VWK organisierten Unternehmen und Staatssekretär Solf sowie Gouverneur Ebermaier, was einen erneuten Bedeutungszugewinn markierte. Dazu trugen sicher auch die Filialgründungen von VWK–Untergruppierungen in den Kolonien bei. Nachdem es 1913 zur einer Reorganisation des VWK gekommen war,628 infolge der branchen- und länderspezifische Sektionen entstanden, die jeweils von einem Vorstandsmitglied geleitet wurden, ging man Ende 1913 dazu über, die bereits früher geschaffenen Handelskammern in den Kolonien durch Filialen dieser 624 Der VWK entwickelte sich zusehends zu einer Interessenvertretung für Kaufleute und später auch für Pflanzer, die in Kamerun engagiert waren. Fünfzig Prozent der 45 Mitgliedsfirmen (1913) hatten ihr Tätigkeitsfeld in Kamerun und sieben der zehn Vorstände gehörten zu einer Kamerunfirma, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 248. 625 Sitzung der Kameruninteressenten mit von Lindequist am 12.9.1910, BAB, R 1001-3414, Bl. 74–77. Vietor, der zu diesem Zeitpunkt noch keine eigenen Handelsniederlassungen in Kamerun hatte, wohnte diesem Treffen nicht bei, da diesmal nicht der gesamte Vorstand eingeladen war. 626 Aufzeichnung über das Gespräch mit den Interessenten in Kamerun und Togo und Solf am 23.7.13, BAB, R 1001-3417, Bl. 52–60, S. 20; vgl. Erbar, 1991 (wie Anm. 7), S. 31f. 627 VWK an RKolA vom 19.5.1913, BAB, R 1001-3414, Bl. 123f. Nur für Togo wurden nach wie vor vorherige Gutachten beim VWK eingeholt. Solf forderte auf diesen Antrag hin den VWK auf, ein vertretungsberechtigtes Mitglied des Vereins in Berlin anzusiedeln, wie es bereits Dernburg 1907 getan hatte, VWK an Solf vom 5.6.1913, BAB, R 1001-3414, Bl. 127. Im Juli 1913 sah sich der VWK erneut gedrängt, das Kolonialamt zu ersuchen, vor wichtigen Entscheidungen den VWK wieder gutacherlich zu hören. Weder vor Enteignung der Duala noch vor Erlass der Trust-Verordnung im Gummihandel sei dies geschehen und zur beabsichtigten Zollerhöhung wegen der Herstellung von Autowegen sei der VWK ebenfalls nicht gehört worden. Eine Anhörung sei aber umso wichtiger als der neugeschaffene wirtschaftliche Beitrat in seiner Zusammensetzung nicht kompetent genug wäre. Auch die Gouvernementsräte verfügten nicht über ausreichende Kompetenz. Die beste Lösung wäre die Schaffung von Beiräten für die tropischen Kolonien in Berlin, VWK an Solf vom 14.7.1913, BAB, R 1001-3417, Bl. 36–38. Solf sagte darauf ein persönliches Treffen mit VWK Vertretern für den 23.7.1913 zu, ebd., Bl. 39. 628 Nach Karin Hausen wurde die Unterabteilung „Verein der Nord- und Mittelkamerun-Kaufleute“ am 5.9.1913 ins Leben gerufen, die bis Jahresende eine Filiale in Duala eröffnen konnte. Die Handelskammer für Nord- und Mittelkamerun wurde daraufhin am 14.2.1914 aufgelöst, Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 245.

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Untergruppierungen zu ersetzen.629 Damit verfügte man über ein wirkungsvolles Instrument „on the spot“, um geschlossen der gouvernementalen Verwaltung entgegentreten zu können.630 Mit dem Pfand der Unterabteilungen, die das ganze Spektrum unterschiedlicher Handels- und Plantageninteressen abdeckte, konnten die Vertreter des VWK Ebermaiers Bedenken, der VWK könne die unterschiedlichen Interessen im Schutzgebiet eventuell nicht ausreichend bündeln, wirksam entgegentreten. Der VWK Vorsitzende, Dr. Lutterroth, verwies zudem darauf, dass über die Unterabteilung des VWK, den Verein der Togo–Kaufleute, ein entsprechendes Verfahren der gutacherlichen Einschaltung des VWK durch das Gouvernenemnt bereits bestehe. Auch wenn Ebermaier nicht restlos zu gewinnen war, versprach er „zunächst einmal versuchsweise sämtliche wichtigen Vorlagen dem Verein Westafrikanischer Kaufleute zur gutachterlichen Äußerung vorzulegen.“631 Nach Ausbruch des Krieges blieb der VWK Ansprechpartner für das Kolonialamt, wurde Ende 1915 jedoch durch Spaltungen in den Untergruppierungen für Togo und Mittelkamerun aufgrund unterschiedlicher Strategien zur Entschädigungsfrage erheblich geschwächt.632 Hier zeigte sich auch, dass die Untergruppierungen ein starkes Eigenleben pflegten und sich teilweise nur lose mit dem VWK verbunden fühlten.633 Es entstand ein verworrenes Bild. Während einige Firmen 629 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 248. Hausen sieht in der vom VWK protegierten Gründung von Handelskammern in den Kolonien bereits den Versuch, ein Gegengewicht gegen die Gouvernementsräte zu schaffen. Tatsächlich aber sah der VWK in den Handelskammern ursprünglich kein Gegengewicht, sondern eine komplementäre Interessenvertretung zu den durchaus erwünschten Gouvernementsräten, vgl. Bericht über das Vereinsjahr 1904, BAB, R 1001-3414, o. Bl. 1918 bestanden sechs Untergruppierungen, zu denen zwischen fünf und fünfzehn Mitgliedsfirmen gehörten: Gruppe I: Nord- und Mittelkamerun (15 Firmen); Gruppe II: Süd-Kamerun (13 Firmen); Gruppe III: Liberia (5 Firmen); Gruppe IV: Die englischen Kolonien (11 Firmen); Gruppe V: „Die sonstigen Gebiete Westafrikas“ (10 Firmen); Gruppe VI: Togo (5 Firmen), BAB, R 1001-3414, Bl. 166–168. Zum Verein gehörten insgesamt noch 40 Firmen. 630 Friedrich Hupfeld, Vorsitzender der VWK Untergruppierung „Verein der Togokaufleute“, sah in diesem Ansatz eine notwendige Maßnahme, um die Zusammenarbeit der heimischen Firmen untereinander sowie der Vertreter der Firmen in den Kolonien zu verbessern, da sich die Firmenchefs von der Kolonialverwaltung „an die Wand“ gedrückt fühlten, Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 250f. 631 Aufzeichnung der Besprechung Ebermaiers mit Mitgliedern des VWK am 2.3.1914, BAB, R 1001-3838, Bl. 171, S. 26; vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 252; Geschäftsbericht der Firma Vietor & Freese vom 3.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 217f. Vietor spach in seinem Geschäftsbericht nicht vom VWK, sondern davon, dass die bisherige Praxis des Kolonialamtes dahingehend geändert würde, dass in Zukunft „ausser der Interessenvertretung im Schutzgebiet auch die heimischen Vertretungen zur Stellungnahme vorher aufgefordert werden.“ 632 Während der VWK sowohl Firmen, die in deutschen, aber auch in nichtdeutschen Kolonien engagiert waren vertrat und daher die Kriegsschäden in allen Kolonien in gleicher Weise als „Schäden in Übersee“ behandelt wissen wollte, setzte der Verein der Togokaufleute aus taktischen Gründen auf eine Sonderbehandlung der Schäden in den deutschen Kolonien, vgl. VWK an RKolA vom 4.10.1915, Anhang: Vermerk über ein Telefongespräch mit F. Hupfeld, BAB, R 1001-3414, Bl. 145. 633 Der Hintergrund dafür dürfte für die Untergruppierungen Togo und Mittelkamerun in der ursprünglich eigenständigen Konstitution von Verbänden für diese Gebiete zu suchen sein. Für Kamerun hatte sich bereits Ende 1907 die „Vereinigung Kameruner Pflanzungen“ gebildet, die 1908 eine Filiale in Duala gründete. 1912 schlossen sich mehrere Pflanzungsunternehmen in

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aus dem zum VWK gehörenden „Verein der Togokaufleute“ austraten, blieben sie weiter Mitglieder im VWK. Andere blieben dagegen Mitglied im Verein der Togokaufleute, traten aber aus dem VWK aus. Ähnlich verhielt es sich mit der Vereinigung für Mittelkamerun.634 Vietors Position im VWK wurde durch diese Vorgänge offensichtlich weiter gestärkt. War er bereits Anfang November 1913 zusätzlich zu seinem Vorstandssitz im VWK auch in den Vorstand des „Verein für Mittel- und Nordkamerun“ gewählt worden,635 stand er 1918 insgesamt drei der sechs Sektionen des VWK entweder als erster oder als stellvertretender Vorsitzender vor.636

Togo dem Verein an, der daraufhin in „Verband der Kamerun- und Togopflanzungen“ umbenannt wurde. Ähnlich wie beim Verein der Togokaufleute, dürften ihre Mitglieder fast alle durchweg auch Mitglied im VWK gewesen sein, den man als seine Vertretung für allgemeine koloniale Fragen ansah, vgl. Vereinigung Kameruner Pflanzungen an RKolA vom 4.12.1907 BAB, R 1001-3417, Bl. 3f.; Gründungsprotokoll vom 27.11.1907, ebd., Bl. 9; Tätigkeitsbericht für 1908, o. Bl.; Verband der Kamerun- und Togopflanzungen an RKolA vom 23.9.1912, ebd., Bl. 18; Verein der Togokaufleute an RKolA vom 1.4.1913, ebd., Bl. 19f. Wie genau und mit welchen Rechten diese Vereinigungen 1913 in den VWK inkorporiert wurden, läßt sich aufgrund der verlorengegangen Akten des VWK nicht mehr exakt nachvollziehen. In der Gründungsmitteilung des Vereins der Togokaufleute wird darauf hingewiesen, dass sich im neuen Verein „sämtliche in Togo im Waren- und Produktenhandel oder in Bankgeschäften tätigen kaufmännischen Firmen“ zusammengeschlossen hätten und das Ziel des Vereins eine gemeinsame Interessenvertretung in Togo und in Deutschland sei. Dabei sah man sich in der Interessenvertretung außerhalb Togos in enger Kooperation mit dem VWK. „In allen wichtigeren Fragen nicht rein örtlicher Natur“ wollte man Hand in Hand Arbeit mit dem VWK arbeiten, DKZ 1913, S. 251. Im ersten Jahresbericht des am 15.3.1913 gegründeten Vereins der Togokaufleute wurde auf die Gefahr der Zersplitterung der Kräfte durch Neugründungen kleinerer Interessenverbände eingegangen. Für den eigenen Verein versuchte man das dadurch zu lösen, dass zu jeder Vorstandssitzung 1–2 Vorstandsmitglieder des VWK eingeladen wurden, die mit beratender Stimme teilnahmen. Anfang 1914 gehörten 11 Firmen, eine Bank und die Woermannlinie zum Verein, 1. Jahresbericht des Vereins der Togokaufleute für das Jahr 1913, BAB, R 1001-3417, Bl. 96–98. 634 Aus dem VWK traten die in Togo engagierten Firmen DTG, Knoop & Sohn, Luther & Seyfert und Martin Paul aus, fühlten sich aber, bis auf Martin Paul, nach wie vor durch den Verein der Togokaufleute repräsentiert. Dagegen traten F. Oloff, C. Goedelt, J. K. Vietor und F. M. Vietor Söhne aus dem Verein der Togokaufleute aus und gründeten später eine neue Togosektion innerhalb des VWK. In gleicher Weise wurde 1915 auch eine neue VWK Sektion für Nord- und Mittelkamerun ins Leben gerufen, zu der die GNWK, Bremer Nordwest–Kamerun–Gesellschaft, Bremer Westafrika–Gesellschaft und Vietor & Freese gehörten, die zusammen aus dem Verein der Nord- und Mittelkamerun-Kaufleute ausgetreten waren. Woermann blieb Mitglied in diesem Verein, trat aber aus dem VWK aus, vgl. F. Hupfeld an RKolA vom 9.12.1915, BAB, R 1001-3414, Bl. 149; VWK an RKolA vom 14.12.1915, ebd., Bl. 150; Woermann an RKolA vom 31.12.1915, ebd., Bl. 154. 635 J. K. Vietor an Freese (o. D.), StAB, 7,73-52, Bl. 80. 636 Vietor war zweiter Vorsitzender der Gruppen I, Nord- und Mittelkamerun, und VI, Togo, sowie erster Vorsitzender der Gruppe III, Liberia, BAB, R 1001-3414, Bl. 166–168.

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VIETOR UND DIE KOLONIALDEBATTE IM REICHSTAG 1913/14 Der Streit um die amtliche Arbeiteranwerbung in Kamerun 1913/14 Vietor hatte sich seit Auflösung des Kolonialrats nicht mehr intensiver mit der Arbeiterfrage in Kamerun beschäftigt und auf gelegentliche Anfragen jeweils die Nachricht erhalten, die Situation dort hätte sich deutlich verbessert. Nach seiner ersten Kamerunreise 1904/05 hatte er zudem von Kolonialdirektor Stuebel und Karl Ebermaier, bis 1904 Regierungsrat in Kamerun und seitdem bis 1912 im Kolonialamt tätig, die Zusage erhalten, dass sich um eine Verbesserung der dortigen Situation gekümmert würde, was dazu führte, dass er eine schonungslose Schilderung der Lage in Kamerun im Kolonialrat unterließ.637 Nach Antritt Dernburgs in der Kolonialabteilung sah er die kolonialpolitische Entwicklung Deutschlands endlich auf dem richtigen Weg638 und ging noch 1913 davon aus, „[…] daß sich unsere deutsche Kolonialpolitik vollständig umgetan hat, daß sie aus den Kinderschuhen herausgewachsen ist, daß wir heute eine weitsichtige großangelegte Kolonialpolitik treiben, welche sich der englischen und französischen würdig an die Seite stellen kann, ja, sie in mancher Weise noch übertrifft.“639

637 Vietor, J. K.: Referat zur Verordnung über die Anwerbung von Arbeitern für land- und forstwirtschaftliche Unternehmungen und über Arbeiterfürsorge, Anhang zum Protokoll der Mitgliederversammlung des VWK am 3.1.1914 in Hamburg, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 9, S. 4–10. Das Referat enthält auch einen Teil der Berichte, die Vietor bis dahin von seinen Informanten aus Kamerun gesammelt hatte. Das Referat wurde samt restlichem Protokoll der Sitzung (S. 1–3) gedruckt, offensichtlich aber nur zur internen Verwendung im VWK. Der Text ist auch als Durchlag im Kopierbuch des StAB 7,73-52, Bl. 364–369 enthalten, kann aber ohne Original nicht exakt zugeordnet werden. 638 Bereits ein Jahr nach Dernburgs Amtsantritt konstatierte Vietor: „Im letzten Jahr sind nun aber gewaltige Aenderungen in unserer Kolonialpolitik vor sich gegangen. Exzellenz Dernburg ist ans Steuer berufen.“ Besonders lobt er ihn für dessen Eintreten für höhere Branntweinzölle, den Bau der Kolonialbahnen in staatlicher Hand und die Konzentration auf die Förderung der afrikanischen Bevölkerung, Vietor, 1907 (wie Anm. 226). Auch im Rückblick stand für Vietor fest, dass der „fabelhafte Aufschwung unserer tropischen Kolonien und der Umschwung unserer ganzen Kolonialanschauung“ vor allen Dingen Dernburg zu verdanken war, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 92; vgl. auch Vietor, J. K.: 25 Jahre Kolonialpolitik, Teil 1, in: Die Arbeit 29 (1909), S. 4f. Vietor bedauerte 1908, dass Dernburg so viel Widerstand von interessierten Kreisen erhielt, freute sich aber, dass er bislang nicht nachgegeben hatte und ging davon aus, dass sich seine Politik durchsetzen würde: „Seitdem die Neger so viel besser behandelt werden, heben sich unsere Kolonien zusehends und da der Erfolg im Leben fast immer entscheidet, so wird sich die Dernburg’sche Kolonialpolitik schon durchsetzen“, vgl. Vietor, 1909 (wie Anm. 46). Nicht nur Vietor wähnte die deutsche Kolonialpolitik nach Beginn der Amtszeit Dernburgs und über ihn hinaus den Kinderschuhen entwachsen, auch der ehemalige Gouverneur von Südwestafrika, Theodor Seitz, erkannte erst im Rückblick, dass die deutsche Kolonialpolitik nach der zweiten Marokkokrise und dem Abgang von Lindequist 1911 wieder zurückfiel auf das Niveau vor der Zeit Dernburgs, vgl. Seitz, Theodor: Vom Aufstieg und Niederbruch deutscher Kolonialmacht. Erinnerungen von Dr. Theodor Seitz: Die Gouverneursjahre in Südwestafrika (Bd. 3), Karlsruhe i. B. 1929, S. 86. 639 Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 94.

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Entsprechend überrascht und enttäuscht zeigte er sich, als er im Herbst 1913 erneut zahlreiche Nachrichten über Missstände in Kamerun erhielt und bedauerte, dass sein erst im Oktober 1913 erschienenes Buch darauf nicht mehr hatte eingehen können.640 Die meisten Berichte, die ihm zugespielt wurden, stammten von Handelshäusern, die durch die relativ geräuschlosen Verhandlungen der Pflanzerlobby mit der Gouvernementsverwaltung über eine amtliche Arbeiteranwerbung aufgeschreckt worden waren. Nachdem sich nach Vortrag der Pflanzungsinteressenten C. J. Langen (Verband der Deutsch-Ostafrikanischen Pflanzungen) und C. Ladewig (Verband der Kameruner Pflanzungen) der KWK Vorstand bereits im April 1912 für amtliche Arbeiteranwerbungen ausgesprochen hatte,641 erhob der Vertreter der Westafrikanischen Pflanzungsgesellschaft Viktoria (WAPV), Wilhelm van de Loo eine entsprechende Forderung im Namen der Kameruner Pflanzer auf der Gouvernementsratssitzung in Duala am 3. und 4.5.1912.642 Für den Fall der Verweigerung drohte er mit einer Blockadehaltung in Bezug auf die in Beratung stehenden 12 Millionen Mark für den Ausbau des Schienen- und Strassennetzes. In seiner Antwort hatte Gouverneur Ebermaier deutlich gemacht, dass die Arbeitersterblichkeit für eine solche Maßnahme viel zu hoch wäre und eine Einigung nur im Falle der Einführung einer Arbeiterfürsorge–Verordnung denkbar sei.643 Der Entwurf dieser Vorlage sollte auf der Gouvernementsratssitzung am 26.11.1913 in Duala beraten 640 J. K. Vietor an Licenziat [Mumm] vom 13.12.1913: „Ich würde ja mein Buch ganz anders abgefasst haben, wenn ich gewusst hätte, dass die Verhältnisse heute noch so schlecht liegen“, StAB 7,73-52, Bl. 269. Vietor muss sich natürlich die Frage gefallen lassen, ob er die Berichte, auf die sich der SPD Abgeordnete Noske in seiner Reichstagsrede vom 1.5.1912 berief, wirklich nicht kannte. Noske hatte auf der Grundlage eines Berichtes der Südkameruner Firmen deutlich gemacht, dass die Schutzbestimmungen zum Trägerwesen vom 24.3.1908 nicht angewandt würden und die Träger daher mörderischen Bedingungen ausgesetzt wären, Nomaden blieben, kein Familienleben führen könnten und körperlich zugrunde gerichtet würden. Ebenso verhielte es sich mit den Schutzbestimmungen für die Plantagenarbeiter durch die Verordnung vom 24.5.1909. Sie würde einfach nicht angewendet oder doch zumindest nur äußerst lax. Beim öffentlichen Wegebau und dem Bau der Mittellandbahn wären viele Menschen ums Leben gekommen, viele seien ins französische Gebiet geflüchtet und die einheimischen Soldaten leisteten sich immer wieder brutale Übergriffe. Da Noskes Informationen einem offiziellen Bericht der Kameruner Südfirmen sowie einer Handelskammer in Kamerun entstammten, dürften sie Vietor durchaus bekannt gewesen sein, vgl. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 52. Sitzung vom 1.5.1912, S. 1601f. 641 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 283. 642 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 284; Vietor, 1914 (wie Anm. 637), S. 4. Vietor zitiert hier aus dem Protokoll der Gouvernementsratssitzung, gibt aber als Datum irrtümlich den 6.7.1912 an. Herr van de Loo hatte seine Forderung anfänglich auch im Namen der Handelskammer Mittelkamerun gestellt, was er nach Protesten der Kaufleute, die nichts von diesem Vorstoß wussten, aber zurücknehmen musste. Van de Loo war Vertreter der WAPV in Kamerun mit Sitz in Viktoria, dessen Vorstandsvorsitzender in Deutschland zu diesem Zeitpunkt Wilhelm Kemner (Berlin) war. Die WAPV war die größte Pflanzungsgesellschaft in Kamerun, arbeitete aber vergleichsweise wenig rentabel. Zwischen 1897 und 1914 wurde lediglich in sechs Jahren eine Dividende ausbezahlt, vgl. KWK: Kolonial-Handels-Adressbuch 15, Berlin 1911, S. 177; Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 222. Zum Vorstand der WAPV gehörte nach wie vor auch der in Kamerun einflußreiche Max Esser, vgl. Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 163. 643 Vietor, 1914 (wie Anm. 637), S. 4.

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werden. Offensichtlich war die Tagesordnung erst kurzfristig in Deutschland durchgesickert und hatte Proteste der Kaufleute hervorgerufen, da sie den Entwurf nicht kannten und eine Verabschiedung befürchteten, ohne auf Inhalt und Form Einfluss genommen zu haben. Die Gruppe der Kaufleute im Verein für Mittel- und Nordkamerun formierte sich daraufhin und bestimmte Vietor zu ihrem Sprecher für die am 20.11.1913 geplante Zusammenkunft des Vereins mit Solf. Vietor war gerade erst nahezu einstimmig in den Vorstand des Vereins gewählt worden, der sich als gemeinsame Interessenvertretung der Kaufleute und Pflanzer in Mittel- und Nordkamerun verstand.644 Ein heterogenes Bündnis, da die Interessen der Kaufleute und der Pflanzer gerade in der Arbeiterfrage weit auseinanderlagen, führten doch die Arbeiteranwerbungen der Plantagen zu regelrechten Entvölkerungen in den Regionen, in denen die Kaufleute Handel mit afrikanischen Kunden trieben. Daneben waren sie ebenfalls an Arbeitern interessiert, die sie als Träger benötigten. Pflanzer und Kaufleute waren daher unmittelbare Konkurrenten im Ringen um Arbeiter. Die gegenläufigen Interessen in der Arbeiterfrage waren bereits bei einer Zusammenkunft zwischen Staatssekretär Solf und Vertretern des VWK am 23.7.1913 Thema gewesen. Der Vertreter der Firma Woermann, Max Brock, machte dabei klar, dass den Kaufleuten der Wunsch der Pflanzer nach amtlicher Arbeiteranwerbung durchaus bewusst sei, hielt aber nichts von Zwangsmaßnahmen, wie sie bereits gang und gäbe waren. Der Vertreter der Pflanzerlobby, C. Ladewig, hielt dagegen, während die Pflanzer lediglich einen jährlichen Arbeitskräftebedarf von 16.000 Arbeitern hätten, bräuchten die Kaufleute 200.000.645 Angesichts dieser Verhältnisse sollten die Kaufleute den Pflanzern ihren Bedarf doch gönnen, umso mehr als die sanitären Verhältnisse auf den Plantagen besser wären als bei den Trägern. Einer weiterhin „freien Anwerbung“ trat er entgegen und forderte offen die Anwerbung durch das Gouvernement, das dann die Arbeitskräfte gerecht an die Interessenten verteilen sollte. Der benötigten Anzahl von 16.000 Arbeitern der Pflanzer widersprach jedoch Regierungsrat Meyer, dem weit höhere Bedarfszahlen vorlagen. Pro Hektar müssten seiner Meinung nach mit drei Arbeitern gerechnet werden, bei Tabakplantagen mit sechs. Meyer machte allerdings klar, dass sich auch der Gouverneur be-

644 J. K. Vietor an Freese, o. D., StAB, 7,73-52, Bl. 80. Vietor freute sich nicht nur über seine Wahl, sondern auch über die nicht erfolgte Wahl von Hupfeld, „denn dessen halbes Herz hängt doch mindestens an den Plantagen.“ 645 Ganz anders bewertete der Forschungsreisende und Alldeutsche Georg Hartmann die Lage und berechnete einen Arbeitskräftebedarf für die Plantagen und Farmen in Kamerun von jährlich nur 10.415 Arbeitern, für den Eisenbahnbau 6.000 bis 7.000 und für Trägerdienste 13.000 Arbeiter. Er kam bei Zugrundelegung eines Arbeitskräftepotenzials von 65.000 bis 75.000 Arbeitern zu dem Ergebnis, dass in Kamerun noch etwa 35.000 bis 45.000 verfügbare Arbeitskräfte vorhanden wären. Offensichtlich sollten die Zahlen einen weiteren Ausbau der Plantagen durchaus als möglich erscheinen lassen, Hartmann, 1912 (wie Anm. 493), S. 300f. Mit seiner Arbeitskräfteberechnung widersprach er Vietors These des zu hohen Tempos bei der Entwicklung der Kolonien und forderte die Einführung von bezahlter Zwangsarbeit. Es wäre schließlich angesichts des Dankes, den die Afrikaner den Weißen für ihre Kolonialherrschaft schuldeten, unsittlich, zu warten, bis „der Neger sich herabläßt, überhaupt noch zur Arbeit zu kommen“, ebd. S. 303f.

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reits für amtliche Anwerbungen ausgesprochen hätte.646 Damit waren die Fronten für das Treffen mit Solf am 20.11.1913 bereits klar abgesteckt. Die Zustimmung des Gouvernementsrates zu einer Arbeiterfürsorge-Verordnung hätte das letzte Hindernis zur Einführung der amtlichen Arbeiteranwerbung beseitigt. Vietor bereitete sich, offensichtlich anhand der Protokolle der Gouvernementsratssitzungen in Kamerun und ersten Berichten zur aktuellen Anwerbesituation, in der Kürze der Zeit so gut wie möglich auf ein Referat für diese Sitzung vor.647 Da kein Vertreter der Firma Vietor & Freese, die seit 1911 in Kamerun tätig war, im Gouvernementsrat saß, erhielt er entsprechende Protokolle wahrscheinlich von Woermann, dessen Haus ein Mitglied des Rates stellte. Vietor forderte Woermann daher auch auf, er solle seinen Vertreter instruieren, sofort auch vor Ort Protest gegen die geplante Sitzung am 26.11.1913 einzulegen.648 Daneben lagen Vietor auch einige Berichte über Missstände bei der bisherigen Arbeiterrekrutierung vor, die er ebenfalls insbesondere von Woermann erhalten hatte. Nach den Berichten wurden viele Afrikaner gewaltsam auf die Plantagen geschleppt, sodass ganze Gebiete entvölkert seien und es in manchen Dörfern nur noch Greise, Frauen und Kinder gäbe. Dazu sei die 646 Aufzeichnung über das Gespräch mit den Interessenten in Kamerun und Togo und Solf am 23.7.13, BAB, R 1001-3417, Bl. 52–60, S. 13f. Im weiteren Verlauf der Sitzung wies Vietor auf den Bevölkerungsrückgang in Kamerun hin, den er nicht zuletzt auf das Verbot des Zuzugs ganzer Familien auf die Plantagen zurückführte. Dem müsse in Zukunft stattgegeben werden. Den Plantagenarbeitern müsse außerdem Land an ihrem Arbeitsplatz zugewiesen werden. Dem pflichtete Brock erneut bei und forderte eine bessere Behandlung der Arbeiter, bessere Löhne und bessere Verpflegung. Das wäre der richtige Weg um mehr freiwillige Arbeiter zu bekommen. Anschließend sahen sich Vietor, Brock, Brettschneider und Oloff dazu veranlasst, gegen das Ansinnen des Kolonialamtes, Arbeitskräfte aus Togo nach Südwestafrika zu entsenden, zu protestieren. Dieser Plan war jedoch wegen des Widerstandes des Gouverneurs von Togo bereits wieder fallengelassen worden, ebd. S. 14, 17. Ebermaier hatte sich bereits am 14.10.1912 in einer Stellungnahme gegenüber dem Kolonialamt für eine amtliche Arbeiteranwerbung ausgesprochen, vermehrt um eine Arbeiterfürsorge–Verordnung, Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 284. Auf der von Vietor mitgetragenen Tabakplantage in Njombe wurde jeder Familie ein Morgen (2.500 qm) Land zur eigenen Bebauung zur Verfügung gestellt, „abgesehen von den Ländereien, auf denen Makabe u.s.w. gebaut werden sollte“, J. K. Vietor an Freese vom 4.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 99. Die Budgetkommission des Reichstags nahm analog zu dieser Regelung am 20.2.1914 eine Resolution an, nach der nur noch Regierungsland für neue Plantagen abgegeben werden sollte, wenn ausreichend eigenes Land für die Arbeiter sowie ordentliche Unterkünfte auf den Plantagen für ganze Familien zur Verfügung gestellt würden, SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., Anlage 1421; SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 230. Sitzung vom 7.3.1914, S. 7913. Klar war jedenfalls, dass der Bedarf an Arbeitern für die Plantagen weiter stark steigen würde, sollte nicht ein vorübergehendes Verbot von Neupflanzungen erlassen werden. Zwischen 1909 und 1913 war die Zahl der Plantagenarbeiter in Kamerun laut den amtlichen Jahresberichten von 8.159 (1909) auf 17.827 (1913) gestiegen, vgl. Winkler, Hella: Das Kameruner Proletariat 1906–1914, in: Stoecker, 1960 (wie Anm. 164), S. 243–286, 247; Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 220. 647 Vgl. J. K. Vietor an Freese vom 21.11.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 154-162, 156. Wegen der zeitraubenden Vorbereitungen musste er sich bei Karl Supf für eine am 20.11.1913 stattfindende Sitzung des KWK entschuldigen, vgl. J. K. Vietor an K. Supf vom 17.11.1913, StAB 7.73-52, Bl. 114. 648 J. K. Vietor an Woermann vom 17.11.13, ebd. Bl. 115.

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Sterblichkeitsrate auf den Plantagen hoch.649 Die Motivlage Vietors in der neuerlichen Frage der Arbeiteranwerbung stellt sich einmal mehr als ein Bündel von Interessen und Überlegungen dar, bei dem die Verwurzelung in christlich–humanitären Überzeugungen erneut eine tragende Rolle spielte. „Ich glaube, es ist nicht nur im Interesse unseres eigenen Geschäftes, sondern auch im Interesse der Eingeborenen und unserer ganzen Kolonialentwicklung, dass du alles Material, welches du von den Kaufleuten, Missionaren und Pflanzern erhältst sammelst […]. Ich meine, unsere Forderung muss dahin gehen, dass die Plantagen so viele Leute haben sollen, als Leute freiwillig dorthin gehen, wenn die Leute aber gezwungen werden sollen, und dann noch massenhaft sterben, so sind das Verhältnisse, die wir uns nicht nur als Geschäftsleute, sondern auch als Kolonialpolitiker und Christen nicht gefallen lassen können.“650

Vietor blieb damit seiner Linie treu, es keinesfalls hinzunehmen, dass der Staat unrentable Unternehmungen subventionierte, ganz abgesehen von ohnehin abzulehnenden Zwangsmaßnahmen bei der Arbeiterrekrutierung.651 Dennoch begab er sich in seiner Funktion als Aufsichtsratmitglied der Deutschen Tabakbaugesellschaft Kamerun (DTK) in einen ähnlichen Graubereich hinein, wie die restliche Pflanzerlobby. Am 14.10.1912 hatte die Vereinigung Kameruner Pflanzungen das Gouvernement um eine Genehmigung ersucht, unter Aufsicht der Verwaltung, eigenständige, privatrechtliche Vereinbarungen über Arbeitergestellungen mit Häuptlingen abschließen zu dürfen.652 Genau das aber hatte die DTK, ganz im Sinne Vietors, bereits getan. Dass solche Kontrakte allerdings nur auf dem Prinzip der Haussklaverei möglich waren, war für Vietor kein Hinderungsgrund. Für ihn stand offensichtlich die gute Behandlung und die Vermeidung von Beunruhigung der Arbeiter, wie sie durch die freie Anwerbung entstand, die er ansonsten für das Mittel 649 J. K. Vietor an Direktor (der Basler Mission) vom 22.11.13, ebd. Bl. 144. Von Woermann erhaltene Berichte über die Zustände bei der Arbeiterrekrutierung schickte Vietor zu Freese, der sich zu der Zeit in Kamerun aufhielt, J. K. Vietor an Freese vom 21.11.1913, StAB 7,73,52, Bl. 156. Woermann hatte bereits am 19.7.1913 dem Kolonialamt mitgeteilt, er verfüge über Berichte, nach denen ganze Dörfer wegen der Anwerber verlassen worden wären und die Felder brach lägen, Winkler, 1960 (wie Anm. 520), S. 262. Wahrscheinlich stammt der am 19.1.1914 von Vietor beim RKolA eingereichte Bericht eines Agenten vom 10.5.1913 ebenfalls von Woermann. Der Agent wurde Zeuge einer amtlichen Anwerbung durch zwei Polizeisoldaten, die die Angeworbenen mit Stricken um den Hals aneinanderbanden. Das Bild wiederholte sich in mehreren Dörfern und überall flohen die Männer bei Erscheinen der Soldaten in den Busch. Das hatte zur Folge, dass die Felder nicht bestellt werden konnten und damit der Handel mit landwirtschaftlichen Produkten einbrach, Winkler, 1960 (wie Anm. 520), S. 262. Dieser Bericht wurde später auch im Budgetausschuss verlesen und vom SPD Abgeordneten Dittmann in der Reichstagsdebatte vom 7.3.1914 zitiert, vgl. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 230. Sitzung vom 7.3.1914, S. 7904. 650 J. K. Vietor an Freese vom 21.11.1913, StAB 7,73,52, Bl. 157. 651 „Wollen die Leute Plantagen machen, so kann ihnen das vollständig unverwehrt bleiben, wenn sie sich selbst ihre Arbeiter suchen, und dabei muss die Regierung auch ganz energisch aufpassen, dass die Anwerber die Leute nicht vergewaltigen. Sie kennen ja meinen Standpunkt, dass der freie Bauer in Afrika das Ideal ist, und dass Plantagen jedenfalls von Seiten der Regierung nicht gefördert werden dürfen“, J. K. Vietor an Mumm vom 13.12.193, StAB, 7.73-52, Bl. 267f. 652 Winkler, 1960 (wie Anm. 520), S. 263.

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der Wahl hielt, im Vordergrund. Zudem plädierte er für die Zulassung längerer Kontrakte, wenn diese auf Freiwilligkeit der Arbeiter, einem Zuzugsrecht ihrer Familien und den notwendigen Fürsorgestandards basierten. „In Wirklichkeit haben wir ja in Kamerun noch bis zum Jahr 1920 Haussklaverei,653 und wir haben mit dem Häuptling Joja darin [in einem Kontrakt, Anm. B.O.] abgemacht, daß wir ihm eine Mark pro Monat pro Kopf bezahlen, aber nach einem Jahr müssen wir die Leute zurückschicken, da, wie ich es verstanden habe, die Regierung dies wünscht. Mir scheint es nun sowohl im kolonialen Interesse, wie auch im Interesse der Plantagen zu liegen, dass die Regierung uns gestattet, mit Joja einen Vertrag abzuschliessen, dass diejenigen Leute, die dazu freiwillig bereit sind, auf der Plantage bleiben können, und ich werde deswegen in der Unterhandlung mit der Regierung den Antrag stellen, dass sie uns erlauben soll, mit Joja einen Vertrag abzuschliessen, dass die Familien, die es wollen, bei uns bleiben können, wenn wir weiter pro Kopf dem Häuptling M. 12 im Jahr ausbezahlen. Aus der ganzen Unterhaltung heute habe ich den Eindruck gewonnen, wie nötig für die Leute die Fürsorgeverordnung ist, und dass dieselbe, ohne dass sich die Regierung verpflichtet Leute zu stellen, einfach durchgeführt wird. Der Hauptschaden der Anwerbung besteht ja in der Beunruhigung der Leute, und ich meine, wir müssen alles tun, was wir können, um diese zu verhindern und die für die Leute doch immerhin sehr anstrengende Reise zum Arbeitsplatz nach Möglichkeit vermeiden.“654

Dieser im Prinzip widersprüchliche Standpunkt Vietors, einerseits Zwangsrekrutierungen abzulehnen, andererseits aber kollektive Arbeitsverträge mit Häuptlingen zu bejahen, die auf ihre Weise Zwang und Druck auf die Arbeiter ausübten, beleuchtet sein Motivbündel einmal von einer anderen Seite. Eindeutig stehen hier die ökono653 Vietor bezieht sich hier offensichtlich auf den Antrag des Zentrums in der Budgetkommission vom 19.4.1912, der mit den Stimmen der SPD angenommen wurde und eine Abschaffung der Haussklaverei in Ostafrika zum 1.1.1920 forderte. Diese Forderung wurde am 27.2.1913 vom Zentrum nochmals in Erinnerung gebracht und führte am 20.2.1914 zur Denkschrift Solfs, in der er sich gegen eine Stichtagsregelung zum 1.1.1920 aussprach, da nach der Reichskanzlerverordnung vom 24.12.1904 ohnehin alle nach dem 31.12. 1905 geborenen Kinder von Sklaven frei sein sollten und somit bis etwa 1930 die Haussklaverei faktisch ausliefe, vgl. Weidner, Fritz: Die Haussklaverei in Ostafrika. Geschichtlich und politisch dargestellt (Veröffentlichungen des Reichs–Kolonialamts; 7), Jena 1915, S. IIIf., 137, vgl. auch die Denkschrift vom 20.2.1914, SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., Anlage 1395. In der englischen Goldküstenkolonie war die Haussklaverei dagegen ohne Übergangsfristen und Entschädigungen und trotz Protesten bereits mit der Verordnung vom 17.12.1874 abgeschafft worden, Ustorf, 1989 (wie Anm. 203), S. 168. 654 J. K. Vietor an Mumm vom 15.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 163f. Der Direktor der Plantage in Njombe, der Vietors energisches Eintreten für eine Ansiedlung ganzer Familien auf der Plantage unterstützte, sah in Kontrakten mit Häuptlingen gegenüber freiem Anwerben ebenfalls die deutlich bessere Alternative, teilte Vietor aber mit, dass die Regierung keine Kontrakte genehmigen wolle, die länger als ein Jahr liefen. Das machte eine Ansiedlung ganzer Familien natürlich erheblich schwieriger und teurer. Nach wiederholter Beschwerde wegen der kurzen Arbeitsverträge konnte die Gesellschaft Ende 1912 erstmals auch Kontrakte über drei Jahre abschließen, vgl. DTK an RKolA vom [3.]8.1912, BAB, R 1001-3555, Bl. 122–124; DTK an RKolA vom 23.8.1912, ebd., Bl. 129–131; DTK an RKolA vom 20.12.1912, ebd., Bl. 147. Bereits in einem Gespräch zwischen Ebermaier und dem Vertreter der DTK, Danielsen, am 11.7.1912 hatte Ebermaier vorgeschlagen, in Zukunft Verträge mit Häuptling Joja abzuschließen, die über drei Jahre liefen, mit einer Verlängerungsoption von zwei Jahren. In diesem Fall sollten ganze Familien angesiedelt werden, Protokoll des Gesprächs vom 11.7.1912, ebd., Bl. 141f.

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mischen Interessen im Vordergrund, wenngleich sie durchaus in ambitionierte humanitäre Rahmenbedingungen eingebettet sind, für die er ohne Frage auch bei Vertragsabschlüssen anderer Gesellschaften eingetreten wäre. Es kann ihm aber nicht verborgen geblieben sein, dass Abschlüsse mit Häuptlingen mit Folgen für die ihm anvertrauten Stammesangehörigen immer die Tendenz zur Korruption und zum egoistischen Gewinnstreben in sich trugen. In gewissem Sinn spiegelt seine Position in dieser Frage aber auch seine grundsätzliche Abneigung wider, um der Gefahren des Missbrauchs von Verantwortung wegen, mehr Demokratie zu wagen. Die Lockerung eines stände- und obrigkeitsstaatlichen Gefüges brachte für ihn ganz allgemein insgesamt mehr Risiken als Chancen. Ob er im Fall von Häuptling Joja allerdings von einer fürsorglich–patriarchalischen Entscheidung ausging, muss eher bezweifelt werden, handelte es sich bei den von ihm gelieferten Arbeitern doch wahrscheinlich um aufsässige Stammesgruppen, die noch dazu mit militärischer Hilfe angeworben wurden, wobei Joja außerordentlich gut verdiente.655 Wie weit Vietor über Details bei den Anwerbungen informiert war, kann zwar nicht im Einzelnen beantwortet werden, aber als Gründungs- und Aufsichtsratmitglied dürfte er zumindest grob über die Fragen und Methoden der Arbeitergewinnung informiert gewesen sein.656 Dazu gehörten anfangs auch wiederholte Appelle der DTK an das Gouvernement, amtlich angeworbene Arbeiter zu stellen. Bis zum Kontrakt mit Joja im Herbst 1912 kam es daraufhin mehrmals zu amtlichen Arbeitergestellungen für die DTK, die allerdings wegen der mangelnden Gesundheit und Eignung der Arbeiter keine Lösung darstellten.657 Für Vietor war jedenfalls klar, dass die Plan655 Bezirksamtmann Schlosser hatte im Gespräch mit Ebermaier und Danielsen darauf hingewiesen, dass es im Süden Kameruns neu zugezogene Stämme gäbe, die sich Joja gegenüber unbotmäßig verhielten. Diese unsicheren Elemente würde er gegen gute Bezahlung sicher abziehen lassen zur Plantagenarbeit, Protokoll der Besprechung zwischen Ebermaier und Danielsen vom 11.7.1912, BAB, R 1001-3555, Bl. 142. Tatsächlich sparte die DTK nicht, um Joja und seine Häuptlinge für einen mehrjährigen Kontrakt zu gewinnen. Mit Unterstützung der Militärstation in Bamenda konnten daraufhin erfolreich Kontrakte abgeschlossen werden. Dabei erhielten sowohl Joja als auch seine „Dschies“ für jedes über das erste Kontraktjahr hinausgehende Arbeitsjahr Zuschläge auf die jährliche „Leihgebühr“ von jeweils 8.000 Mark, B. Bolland und E. Danielsen an Ebermaier vom 7.10.1912, BAB, R 1001-3555, Bl. 144. Auf diese Weise konnten 750 Bamum–Arbeiter mit Familien angeworben werden, DTK an RKolA vom 20.12.12, BAB, R 1001-3555, Bl. 147. Dabei soll es nach Informationen des Präses der Basler Mission in Kamerun, Lutz, entgegen der offiziellen Darstellung gerade nicht freiwillig zugegangen sein, Lutz an Full vom 20.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 32, S. 5f. 656 Vietor wurde schon bei Konstituierung der Gesellschaft als GmbH am 24.3.1910 in den Aufsichtsrat gewählt, nachdem er bereits 1909 zum Vorstand des Gründungsvereins gehört hatte, vgl. Anlage zum Schreiben des Deutschen Tabakvereins an Dernburg vom 5.4.10, BAB, R 1001-3555, Bl. 29; Deutscher Tabakverein e.V. (Frankfurt) an RKolA vom 10.1.1910, ebd., Bl. 15–17. 657 Nachdem das Gouvernement auf einen Antrag auf amtliche Anwerbung im Sommer 1911 noch lediglich mit der Ausstellung eines Anwerbescheines reagiert hatte, den die DTK aber nicht einlöste, lieferte es nach einem weiteren Gesuch im Januar 1912 unter Einsatz einer amtlichen Anwerbung 252 Arbeiter aus dem Bamendagebiet und 247 aus dem Bezirk Johann Albrechts– Höhe, Gouvernenemt von Kamerun an Staatssekretär im RKolA vom 29.9.12, BAB, R 10013555, Bl. 139–141. Die Bamendaleute waren jedoch „wahre Jammergestalten“ und kamen mit Wurmkrankheiten an, sodass ein Drittel sofort im Hospital behandelt werden mußte, vierund-

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tage in Njombe vorbildlich arbeitete und die hohen Sterblichkeitsraten und Vergewaltigungen bei der Anwerbung allein auf das Konto der Kakaopantagen gingen. Vor einer Fürsorgeverordnung müsste man sich in Njombe nicht fürchten. „Aber diese Verordnung scheint mir durchaus notwendig zu sein, und wie unsere Tabaksplantage in Njombe schreibt, die überall auch von der Regierung als vorbildlich dargestellt wird, hätten wir eigentlich überhaupt keine Verbesserung gegen jetzt einzuführen.“

Ganz anders bewertete Vietor die Lage der Kakaoplantagen, die diese Verordnung wegen der erwartbaren Mehrkosten ablehnten, was für ihn jedoch kein Grund war, ihnen entgegenzukommen. „Wir Kaufleute müssen nach meiner Meinung mit aller Energie darauf bestehen, dass den Pflanzungen die Leute nicht gegen ihren Willen geliefert werden, sondern dass sie so behandelt, gepflegt und bezahlt werden, dass sie sich freiwillig stellen.“658 Für die Sitzung am 20.11.1913 schlug er als Ziel vor, Solf zu ersuchen, darauf hinzuwirken, dass die Sitzung des Gouvernementsrates so lange zu verschieben wäre, bis die Firmenchefs in Deutschland den Entwurf der Verordnung begutachtet hätten.659 Dieses Ziel konnte er auch erreichen, wenngleich er sein Referat nicht halten konnte, da sowohl die Vertreter der Plantagengesellschaften als auch Solf erklärten, sie wüssten nichts von einer ArbeiterfürsorgeVerordnung. Das Thema wurde daraufhin verschoben und die Gouvernementsratssitzung auf Solfs Weisung hin vorläufig abgesetzt. Zur weiteren Klärung dieser Frage forderte Solf den Verein auf, darüber direkt mit Gouverneur Ebermaier zu sprechen.660 Vietor begann daraufhin sofort nach der Sitzung mit einer umfangreichen Recherchearbeit und schrieb Firmen, die Basler Mission und seinen Partner Nicolaus Freese an, der sich gerade in Kamerun aufhielt, ihm möglichst viel und zuverlässiges Material zuzuschicken.661 Nachdem er von der Mission nur relativ

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zwanzig starben und über vierzig liefen weg. „Der Rest war zum Skelett abgemagert und tat die erste Zeit ausser Essen gar nichts.“ Selbst noch nach drei Monaten konnte man mit ihnen kaum etwas anfangen, DTK an RKolA vom 23.8.1912, BAB, R 1001-3555, Bl. 129f. J. K. Vietor an Mumm vom 13.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 267. Wilhelm Kemner gibt an, die DTK hätte vom Stamm der Bamum insgesamt 750 Arbeiter, 160 Mädchen und 120 Frauen angeworben und in besonders geschmackvollen Häusern und unter genauer Beachtung hygienischer Standards auf der Pflanzung angesiedelt. Um die Arbeiter dauerhaft für die Gesellschaft zu gewinnen und für die Zukunft einen eigenen Arbeiterstand heranzuziehen, hätte die DTK auch Geburtenprämien ausgelobt. Für jedes auf der Plantage geborene Kind erhielt die Mutter ein Geldgeschenk, ein Kleid und Schmuck, Kemner, 1941 (wie Anm. 299), S. 223. Vgl. J. K. Vietor an Woermann vom 17.11.1913, 7,73-52, Bl. 115, J. K. Vietor an Schiller vom 17.11.1913, Bl. 118. Dabei kam auch die Arbeit von Dr. Bollmann aus dem Jahr 1903 wieder ins Spiel, die Vietor den Empfängern seiner Briefe jeweils beilegte, vgl. Bl. 118f. J. K. Vietor an Freese vom 21.11.1913, StAB 7,73,52, Bl. 156. J. K. Vietor an Direktor [der Basler Mission] vom 22.11.13, ebd. Bl. 144; J. K. Vietor an Freese vom 21.11.1913, StAB 7,73,52, Bl. 157; J. K. Vietor an Schiller vom 25.11.13, ebd. Bl. 179; J. K. Vietor an Woermann vom 28.11.1913, ebd. Bl. 183. Die Missionsleitung in Basel reagierte rasch und rief mit Rundschreiben vom 25.11.1913 die Missionare auf, weiteres Material für Herrn Vietor nach Basel zu senden, vgl. Oettli an Vietor vom 19.12.1913, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 7. Das Schreiben von Oettli bestand aus einer 11-seitigen Antwort von G. Spellenberg vom 2.12.1913, das er auf der ersten Seite lediglich mit Datumsangabe und Unterschrift signiert hatte. Spellenberg hielt sich gerade in der Nähe von Zürich auf, sein Bericht konnte daher nicht aktuell sein.

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wenig verwertbares Material erhalten hatte, bat er darum, dass die Missionare wenigstens eine „Enquete“ machen sollten. Vietor hoffte, durch eine entsprechende Umfrage weitere Sicherheit über die Frage zu bekommen, „ob und wieweit eine Rekrutierung der Arbeiter für die Plantagen unsere Schutzgebiete schädigt.“662 Ganz sicher war er sich nämlich nicht, inwieweit die erhaltenen Berichte verallgemeinert werden konnten, da ihn die relativ harmlosen Nachrichten der Basler Missionare wie auch die ersten Berichte von Freese, der für Buea von einer ruhigen Entwicklung gesprochen hatte, irritierten.663 Aus Basel konnte er allerdings kein weiter erhärtendes Material erhalten, im Gegenteil. Das Antwortschreiben brachte zwar neue Berichte, die „allerdings ganz anders als die Ausführungen der Kaufleute lauten.“ Er konnte sich daher „des Eindrucks nicht erwehren, dass Ihre Herren Missionare die Sache zu ungefährlich ansehen“, sah sich jedoch gezwungen, einstweilen mit seinen bisherigen Informationen zurückhaltend umzugehen.664 Es lag nicht an einem mangelnden Problembewusstsein Basler Missionare, dass Vietor kein aussagekräftigeres Material bekam. Dasselbe war ohne Zweifel vorhanden. Der Präses der Basler Mission in Kamerun, Lutz, hatte Missionar Hässig bereits im Frühjahr 1913 aufgefordert, ihm „zuverlässiges Material“ zu liefern über „Gewalttaten und Übergriffe der Regierung u. ihrer Vertreter etc.“665 Missionar Stutz, an den Hässig die Anfrage weitergeleitet hatte, da sich die meisten Vorfälle in dessen Gebiet ereignet hatten, berichtete Lutz daraufhin von Vorfällen aus dem vergangenen Jahr. Insbesondere der Bau der Strasse von Edea nach Basia hatte unendlich viel Leid in sein Gebiet gebracht und zu einer Dezimierung der Bevölkerung geführt. So wurde in diesem Zusammenhang ein Arbeiterlager mit etwa 500 Arbeitern errichtet, die hier auf gedrängtem Raum leben mussten, was zum Ausbruch einer Dysenteriewelle führte. Täglich starben daran vier bis fünf Personen, ohne dass darauf adäquat reagiert worden wäre. Neben der Dysenterie wurden jedoch auch aufgrund der rohen Behandlung der Arbeiter durch die „Headleute“, die afrikanischen Soldaten, „viele, sehr viele hinweg[gerafft]“. Zwei Arbeiter, die sich wegen dieser Behandlung beschwerten, wurden daraufhin täglich geprügelt, der eine starb 662 J. K. Vietor an Inspektor (Basel) vom 15.12.1913, ebd. Bl. 271. Die Bitte um eine Umfrage der Basler Missionare wiederholte Vietor später noch einmal, vgl. J. K. Vietor an Missionsdirektor (Basel) vom 7.2.1914, StAB 7,73-53, Bl. 128f. 663 J. K. Vietor an Freese vom 21.11.1913, StAB 7,73,52, Bl. 156. 664 J. K. Vietor an Inspektor (Basel) vom 23.12.1913, ebd. Bl. 331. Die Unsicherheit über den tatsächlichen Umfang einer Entvölkerung in Kamerun blieb auch in den nächsten Wochen der Schwachpunkt in seiner Argumentation, wie er Freese gegenüber noch im Januar 1914 zu erkennen gab, vgl. J. K. Vietor an Freese vom 8.1.1914, ebd. Bl. 450. Das Antwortschreiben aus Basel mit dem Bericht des Missionars [Gottfried] Spellenberg, der bereits seit 15 Jahren im Gebiet der Bakundu und Bakosi-Stämme arbeitete, wurde eingeleitet mit der Feststellung, dass die „da und dort“ vorkommenden Mißstände durch die kulturellen und geistigen Vorteile für die Völker „reichlich aufgewogen“ würden. Das Arbeiterproblem und die entsprechenden Verhältnisse für die Bevölkerung am Anfang des Jahrhunderts waren in seinen Augen deutlich schlimmer als die aktuelle Situation. Durch die obligatorische Ausstellung amtlicher Anwerbescheine wäre die Anwerbepraxis heute so gut, „daß Mißstände fast ganz ausgeschlossen sind“, Oettli an Vietor vom 19.12.1913 mit der Antwort auf das Rundschreiben vom 25.11.1913 von G. Spellenberg vom 2.12.1913, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 7, S. 1f., 4. 665 J. Stutz (Sakbayeme) an Lutz vom 27.5.1913, ABM, E-2,39 Kamerun 1913 II, Bl. 150.

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nach vierzehn Tagen, der andere nach drei Monaten. Zuvor hatte Stutz den Gartenbautechniker Lotz von der Misshandlung der beiden unterrichtet. Lotz stellte sich jedoch auf den Standpunkt, er sei hier neu und wisse von nichts, außerdem sei er auf die Headleute angewiesen. Daraufhin wurden die beiden Arbeiter den Headleuten erneut ausgeliefert, was ihren Tod nach sich zog. In der Nähe der Station Lognia wurde eine junge Frau von den Headleuten „in solch viehischer Weise missbraucht, daß sie starb.“ Das gleiche geschah in Logkenga. Hier wurde eine ebenfalls misshandelte Frau tot im Busch gefunden. Auf der Station Ndogboe wurden während der Gottesdienste Jungen und Frauen von Headleuten des Herrn Behrens misshandelt. Als ein Herr Ziegler aus Viktoria erschien, um Arbeiter für die Plantagen zu gewinnen, verzichtete er auf jede Werbung und nahm sie stattdessen gefangen und erpresste anschließend ihre Entsendung von den Häuptlingen. Auch auf einer Station der Basler Mission band Ziegler einige Christen und Taufbewerber und führte sie ab. Er nahm sogar Leute gefangen und fesselte sie, die zufällig an dem Dorfe vorbeigingen. Obwohl zwei von ihnen entkommen konnten und sich auf dem Bezirksamt in Edea offiziell beklagten, „geschah rein nichts“.666 Als Hässig kurze Zeit später ebenfalls antwortete, bekräftigte er die Klagen über die einheimischen Soldaten: „Diese Leute, von der deutschen Regierung bezahlt u. angestellt, sind die ärgste Landplage, die größten Räuber, die frechste, unverschämteste, schändlichste Sorte von Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Was die sich alles zuschulden kommen lassen, ist unglaublich.“

Das Problem bestand nach Hässig darin, dass diese Soldaten nahezu die einzigen Regierungsvertreter in der Gegend waren und die Bevölkerung derart in Angst und Schrecken vor ihnen lebte, dass sie keine Aussagen gegen sie wagten. Für ihn ein Zeichen, dass die Menschen das Vertrauen in die deutsche Verwaltung verloren hatten. „An eine gedeihliche Entwicklung der Kolonie ist nicht zu denken.“ Hier wüchse ein Geschlecht heran, das den Europäern misstrauisch, verbittert und feindlich gegenüberstehe und für die Arbeit der Mission kaum mehr erreichbar sei. Die Menschen würden, obwohl sie ihre Steuern bezahlten „zu jeder Tages- und Nachtzeit aus ihren Hütten gezerrt, gebunden (Ich habe oft Gelegenheit gehabt solche „freiwillig gestellten Träger“ zu sehen) und nach Edea gebracht.“ Dort würden sie dann für 14 Tage oder länger zu Trägerarbeiten eingesetzt, bekämen auch ihre vier bis fünf Mark dafür, kämen danach aber oft krank und elend abgemagert nach Hause. An eine ordnungsgemäße Feldbestellung sei daher nicht zu denken.667 Lutz hatte nach diesen Berichten mit Schreiben an Basel vom 20.9.1913 die Dezimierung ganzer Bevölkerungsgruppen infolge der Arbeiteranwerbungen angeprangert.668 In den Monaten darauf zeigte er sich jedoch zwiespältig. Während er sich gegenüber Freese im Januar 1914 aufgeschlossen zeigte und versicherte, ihm und Vietor das viele Material, das er besäße, gerne zur Verfügung zu stellen,669 666 667 668 669

J. Stutz (Sakbayeme) an Lutz vom 27.5.1913, ABM, E-2,39 Kamerun 1913 II, Bl. 150. Hässig an Fr. Lutz [Juni 1913], ABM, E-2,39 Kamerun 1913 II, Bl. 149. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 281. „Herr Lutze (sic) sagte mir, dass er sehr viel Material besitze und dass er für die von ihm mitzuteilenden Tatsachen voll und ganz einstehen würde, und gab mir ferner die Zusage, dass er

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beantwortete er die zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegende Anfrage aus Basel nicht sogleich mit der Übersendung des genannten Materials. Erst am 22.2.1914 entschloss er sich zur Versendung nach Basel, schickte aber ein Telegramm voraus, in dem er darum bat, nichts davon an Vietor weiterzureichen.670 In dem am gleichen Tag abgesandten Brief an Basel milderte er den Hinweis im Telegramm jedoch wieder ab und bat nur darum, Vietor zumindest darauf zu verpflichten, das Material weder zu verwenden noch zu veröffentlichen. Er begründete seine Vorsicht damit, ihm seien Zweifel über die Richtigkeit der Missionarsberichte gekommen. Nachdem in der Vergangenheit bereits Berichte von Missionar [Gottfried] Spellenberg einer Nachprüfung nicht in allen Punkten standgehalten hatten, wollte er kein weiteres Risiko eingehen, sondern in Zukunft zunächst alle Berichte der Verwaltung vor Ort vorlegen.671 So lange die örtliche Verwaltung nicht Stellung bezogen hätte zu den Berichten, hielt er es für ungeschickt, wenn dieselben bereits in der deutschen Presse veröffentlicht würden.672 Mit dieser Strategie handelte Lutz zumindest teilweise auf eigene Faust wie er in einem Schreiben an Ebermaier am folgenden Tag klar machte. Darin gab er seiner Hoffnung Ausdruck, das Missionshaus in Basel würde seiner Entscheidung zustimmen, bislang kein Material eingeschickt zu haben. Abgestimmt war sein Vorgehen demnach also offensichtlich nicht und hier dürfte der Grund zu suchen sein, warum Vietor so lange nur wenig belastbare Berichte von der Mission in Kamerun erhalten hatte. In seinem Schreiben an Ebermaier erklärte Lutz auch den Hintergrund seines kooperativen Verhaltens. Er hatte von Ebermaier vor dessen Abreise das Zugeständnis erhalten, er sehe keine prinzipiellen Einwände, den Baslern die Verwendung des Bamum, eventuell sogar des Duala als Schulsprache zuzugestehen. Daran war Lutz außerordentlich gelegen, weshalb er im Schreiben an Ebermaier erneut „inständig“ um die amtliche Zusicherung der Verwendung des Bamum für die Bezirke Bamenda, Dschang und Bana bat. Seit der Abreise Ebermaiers war in dieser Richtung nichts mehr geschehen und die Verwaltung zeigte sich nach wie vor unwissend. Es liegt auf der Hand, dass Ebermaier nicht gewillt war, dieses Druckmittel vorschnell aus der Hand zu geben. Im Gouvernementsrat hatte das immerhin bereits dazu geführt, dass sich der Basler Vertreter, sehr zum Ärger von Rechtsanwalt Prange, dessen Beschwerden über die Schutz- und Rechtlosigkeit der einheimischen Bevölkerung nicht angeschlossen das ganze Material, soweit es in Frage kommt, Ihnen zusenden würde“, C. Freese an Inspektor [Oettli] vom 16.4.1914, ABM, Q 3-4,51. 670 „fuer Vietor eingelaufenes material zurückhalten“, Telegramm (Buea) an Basel. Eingang am 23.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 35. Das Telegramm wurde aber laut Brief vom 22.2.1914 bereits am 22.2.1914 abgeschickt, Lutz an Inspektor [Oettli] vom 22.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 34, S. 2. 671 Rüger zitiert aus einem Bericht Spellenbergs, der insbesondere die Gräuel der schwarzen Soldaten thematisiert und sie in erster Linie für Grausamkeiten bei der Arbeiteranwerbung verantwortlich machte wie Verstümmelung der Geschlechtsteile, Erschießungen oder gar das Einschlagen eines Nagels in den Kopf eines Anzuwerbenden. Ebenso führte Spellenberg den Hungertod von hunderten Trägern auf die schwarzen Soldaten zurück, Rüger, 1960 (wie Anm. 164), S. 214–216. 672 Lutz an Inspektor [Oettli] vom 22.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 34, S. 2f. Dem Schreiben waren mehrere Berichte angefügt.

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hatte, was Lutz natürlich nicht vergaß, im Schreiben an Ebermaier nochmals zu erwähnen. Auch in der Frage der Enteignung der Dualas verhielt sich Lutz äußerst zurückhaltend und unterstrich gegenüber Ebermaier, dass er damit das Ansehen der Mission riskiere. Er hatte die Dualas, wohl gegen die eigene Überzeugung, mehrmals gebeten, sich ruhig zu verhalten und der Anordnung zur Umsiedelung Folge zu leisten.673 Es kann also keinem Zweifel unterliegen, dass Lutz ein hohes moralisches Risiko einging, um ein Zugeständnis Ebermaiers in der Sprachenfrage zu erhalten. Wie bewusst ihm das war, erhellen auch die Schreiben an den stellvertretenden Gouverneur Full vom 18. und 20.2.1914, in denen seine Sorge durchschimmert, dass sich seine Zurückhaltung am Ende nicht auszahlen könnte. Mindestens setzte er diese Befürchtung als moralisches Druckmittel ein, um nun auch handfeste Gegenleistungen zu erhalten. Er machte Full einerseits klar, dass er nicht länger schweigen könne, andererseits verwies er darauf, dass er das bereits von Basel angeforderte Material nicht dorthin schicke, sondern einen Teil davon zunächst nur ihm.674 Damit war klar, dass die Verwaltung nun endlich zeitnah reagieren musste, weil Lutz’ Lage andernfalls immer prekärer werden würde. Zwei Tage später schickte er Full weitere Berichte, die auf mündlichen und schriftlichen Aussagen beruhten und deutlich machten, dass Lutz keinesfalls länger warten konnte. „Noch zu keiner Zeit sind wir Missionare so oft und so flehentlich von den Eingeborenen gebeten worden, für sie einzustehen, damit ihnen Hilfe zuteil und der Not gesteuert werde.“675 Von Missionar Champod lag ein Bericht aus dem Bakossi- und Manengubagebiet vor, nach dem der dortige Stationsleiter Godtknecht auf Anordnung von Buea im September 1913 Männer und Frauen aus dem Hinterland angeworben hätte. Er gab vor, ganze Familien für Pflanzungen anwerben zu wollen, vermischte dabei aber willkürlich völlig fremde Männer und Frauen miteinander, von denen einige auch auf die Plantage in Njombe gelangten.676 Hinzu kam, dass er keinerlei 673 Lutz an Ebermaier vom 23.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 36, S. 1–5. Die für die Basler Mission bislang eher ungewöhnlich defensive Haltung wird hier insbesondere im Zusammenhang mit der Enteignung der Dualas deutlich: Wegen Verlegung der Duala „wage ich kaum mehr, Euer Exzellenz gegenüber noch etwas zu sagen“. Er hatte viel gehört über die Art und Weise wie die Enteignung geschähe, was ihn mit großer Sorge erfüllte. „Eure Exzellenz wissen, wie sehr ich von Anfang an bemüht war, die Leute zu beruhigen und dahin zu arbeiten, dass sie sich den Anordnungen und Maßnahmen der Regierung fügen. Auch das ist ihnen bekannt, dass dies unserer Mission nicht zum Vorteil gereicht. Trotzdem habe ich in letzter Woche nochmals versucht, die Leute davon zu überzeugen, dass ihr Widerstreben wertlos und töricht sei.“ Unbeschadet davon bat er Ebermaier hier nochmals, die Umsiedlung und Enteignung zu überdenken, ebd. S. 4f. 674 Lutz an Full vom 18.2.1914, ABM, E-2,14, Bl. 31. 675 Lutz an Full vom 20.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 30, S. 11. 676 Den Bericht aus Basel über die Anlieferung einer gemischten Gruppe hatte Vietor von dort bereits im Dezember erhalten, möglicherweise aber nicht den dazugehörigen Rest der Informationen mit den Details der dahinterstehenden Anwerbepraxis. In seiner Antwort auf diese Nachricht geht er jedenfalls nicht darauf ein, dass es sich hierbei um „amtlich“ angeworbene Personen gehandelt hatte, eine Tatsache, die ihm doch einige Zweifel an der von ihm so gelobten Anwerbepraxis seiner eigenen Plantage hätte hervorrufen müssen. Auch der Aspekt, dass diese Frauen und Männer klimatisch überhaupt nicht für die Plantage in Njombe geeignet waren und Todesängste deswegen ausstanden, findet bei ihm keine Erwähnung. Vietor ging nur auf den

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Rücksicht auf die klimatischen Verhältnisse nahm bei der Zuteilung der Arbeiter an die Plantagen, sodass diese in Todesangst gerieten, weil sie das ungewohnte Klima im Plantagengebiet nicht vertrugen. Insgesamt hatte Godtknecht neben neunzig Männern auch 160 Frauen auf drei Jahre „geworben“, obwohl die Häuptlinge ihn angefleht hatten, die Frauen im Dorf zu belassen. Dreiunddreißig der Frauen waren nach kurzer Zeit gestorben, andere waren schwerkrank wieder nach Hause geschickt worden. Als Missionar Champod die Frauen auf der Plantage in Njombe besuchte, fand er sie mit fremden Männern unter ein Dach einquartiert, wodurch es zu zahlreichen sexuellen Beziehungen gekommen war, obwohl die Frauen verheiratet waren. Auf der Penja–Plantage, auf die ein anderer Teil der Frauen gekommen war, waren neunzehn von ihnen gestorben.677 Aus Bakosi hatte Lutz Berichte bekommen, dass die dortige einheimische Bevölkerung lieber sterben würde als so weiterzuleben, da sie wie Tiere auf einer Treibjagd verfolgt würden. Ganz ähnlich verhielte es sich auch im Kamerungebirge. Dort würden die Stationsboten und Soldaten Menschen erpressen, fesseln und drangsalieren mit „Quälereien aller Art“, sodass sie in beständiger Angst lebten. „Die Leute sind nie sicher, wenn Soldaten oder Stationsboten in ihre Dörfer kommen, um die Männer zu fangen. Häufig werden sie ja auch gebunden und in der Nähe der Station wieder frei gemacht.“678 Von einem vereinten Vorgehen Vietors und der Basler Mission wie in früheren Zeiten konnte somit keine Rede mehr sein. Offensichtlich scheute auch die Missionsleitung einen neuerlichen Konflikt mit dem Gouvernement, wie die mehrmals geäußerten Befürchtungen, Vietor wolle ihm zur Verfügung gestelltes Material sofort an die Öffentlichkeit bringen beweisen.679 Zudem übernahm die Missionsleitung ausdrücklich die Position von Lutz und stellte sich zu dessen Wunsch, zunächst Stillschweigen zu bewahren und abzuwarten, welche Verbesserungen der stellvertretende Gouverneur Full einleiten würde.680 Damit nahm die Mission in

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Mißstand der gemischten Gruppe von Männern und Frauen ein und machte Joja für diese Situation verantwortlich. In Zukunft wollte er bei ihm darauf drängen lassen, dass sich so etwas nicht wiederhole, vgl. J. K. Vietor an Inspektor [Oettli] vom 15.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 270f. Lutz an Full vom 20.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 30, S. 1–4. Lutz an Full vom 20.2.1914, ABM, E-2,41, Bl. 30, S. 5, 8–10. Sowohl Vietor als auch Freese mußten darauf hinweisen, dass sie gar nicht vorhatten, neuerdings erbetenes Material zu veröffentlichen, sodass Basel die Sachen ohne Bedenken schicken konnte, was offensichtlich aber nicht geschah, C. Freese an Inspektor [Oettli] vom 24.4.1914, ABM, Q 3-4,51; J. K. Vietor an Inspektor Oettli vom 25.4.1914, ebd. Bereits am 25.2.1914 hatte Vietor Oettli darauf hingewiesen, dass er das aus Basel erhaltene Material bislang nicht verwendet habe und es auch nicht ohne Zustimmung aus Basel tun würde. Dabei gab er seiner Freude Ausdruck, dass die Beziehung der Basler Mission zur Regierung sich so gebessert habe. Offensichtlich ging nun Lutz’ Strategie langsam auf. Noch anläßlich seiner Besprechung mit Ebermaier am 10.2.1914 hatte sich dieser „missbilligend über das Verhalten Ihrer Missionare gegenüber der Regierung ausgesprochen“, J. K. Vietor an Inspektor [Oettli] vom 25.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 233. „Wir sollten wo irgend möglich auf Missstände, von denen wir draussen Kenntnis erhalten, zuerst das Gouvernement aufmerksam machen und erst, wenn dieses nicht helfen kann oder will, ans Kolonialamt oder an die deutsche Oeffentlichkeit gehen“, Missionsinspektor [Oettli] an J. K. Vietor vom 31.3.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 340.

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Kauf, einen politisch günstigen Moment zu verpassen und die ohnehin unter Druck befindliche Gruppe um Vietor allein zu lassen. Daran änderte auch die Zusage nichts, für den Fall ausbleibender Verbesserungen zu einem späteren Zeitpunkt eine Allianz mit Vietor einzugehen.681 Seinen Parteifreund Mumm hatte Vietor inzwischen mit erstem Material versorgt,682 bat ihn aber, noch nichts davon in die Debatten des Reichstages einzubringen, sondern abzuwarten, bis das Treffen mit Gouverneur Ebermaier am 10.1.1914 stattgefunden habe. Sollten jedoch die Budgetberatungen für Kamerun schon vor dem 10. Januar beginnen, dann bliebe nichts anderes übrig, als die komplette Thematik hier offen anzusprechen.683 Vietor wies Mumm in diesem Zusammenhang auch auf den Bericht des katholischen Paters van der Burgt hin, der in der Dezembernummer der „Kolonialen Rundschau“ von einer massiven Entvölkerung in einigen Gebieten Ostafrikas berichtet hatte.684 Gleichlautende Berichte über Ostafrika hätte er jüngst auch auf der Gründungssitzung der Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenschutz (DGES) gehört.685 Damit deutete sich bereits an, dass das Thema begann, sich vom engen Kontext des Konfliktes zwischen Kaufleuten und Pflanzern in Kamerun zu lösen und zu einer grundsätzlichen Kolonialdebatte zu erweitern. Für den Fall des Scheiterns einer Einigung mit der Regierung dachte Vietor auch an die Veröffentlichung der erhaltenen Berichte, „die ja einen Sturm der Entrüstung in ganz Deutschland hervorrufen würden.“686 Einen ähnlichen Effekt der Entrüstung erhoffte sich Vietor wohl auch von seinem Vortrag anlässlich der Sitzung des VWK am 3.1.1914 in Hamburg.687 Dieser Termin stellte eine große Chance dar, vor dem Treffen mit Ebermaier am 10. Januar einerseits die Reihen der 681 „Von den Reden im Reichstag bis zu den Taten der Regierung ist ja oft noch ein weiter Weg; werden die Missstände draußen nicht abgestellt, so werden wir weitere Schritte tun müssen und ich bin sehr dankbar dafür, dass wir dabei auf Ihren Rat und Ihre Hilfe rechnen dürfen“, Missionsinspektor [Oettli] an J. K. Vietor vom 31.3.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 340. Auch Gründer sieht in der Kolonialdiskussion 1913/14 besonders die „direkt betroffenen Händler“ als „Anwälte der Eingeborenen“, da die Missionen weitgehend schwiegen, vgl. Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 160. 682 Einen Bericht von Schiller reichte er noch nach, J. K. Vietor an Mumm vom 16.12.1913, ebd. Bl. 272. 683 J. K. Vietor an Licenziat [Mumm] vom 13.12.13, ebd. Bl. 268f.. Auch Franz Behrens, dem er am 9. Dezember Material zur Arbeiterfrage in Kamerun zugeschickt hatte, bat er, im Reichstag die Sache vorläufig noch nicht ausführlicher anzusprechen, sondern nur vorsichtig anzudeuten, vgl. J. K. Vietor an Behrens vom 9.12.13, ebd. Bl. 236. 684 van der Burgt: Zur Entvölkerungsfrage Unjamwesis und Ussumbwas, in: Koloniale Rundschau 12 (1913), S. 705–728. Van der Burgt war auch Mitglied des Gouvernementsrates in Ostafrika. Auf seinen Bericht beriefen sich am 7.3.1914 im Reichstag auch der SPD Abgeordnete Dittmann sowie Matthias Erzberger; SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 230. Sitzung vom 7.3.1914, S. 7904, 7912. 685 Die Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenschutz wurde am 5.12.1913 in Berlin gegründet und muss als Nachfolgeorganisation der Deutschen–Kongo–Liga angesehen werden, vgl. Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenschutz, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd.1, S. 300. 686 J. K. Vietor an Freese vom 21.11.13, StAB 7,73-52, Bl. 157. 687 Auf der Tagesordnung standen die Themen: 1. Besprechung des Entwurfes einer Verordnung über die Anwerbung von Arbeitern; 2. Besprechung der Waldverordnung des Gouverneurs von

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Kaufleute geschlossen hinter sich zu bekommen und andererseits weitgehende Zugeständnisse der Plantagenvertreter zu erreichen. Auf die Notwendigkeit von Zugeständnissen der Pflanzer hatte Vietor bereits beim Treffen mit Solf am 20.11.1913 hingewiesen, sofern Pflanzer und Kaufleute eine gemeinsame Linie verfolgen wollten. Genau das Gegenteil trat jedoch ein. Der Vertreter der Plantagengruppe, Wilhelm Kemner, trat Vietors Thesen entschieden entgegen und führte die hohe Sterblichkeitsrate in Kamerun vor allem auf die Schlafkrankheit zurück. Wenn die Arbeiter gesund auf den Plantagen einträfen, könne von einer hohen Sterblichkeit infolge der Arbeit selbst keine Rede sein. Im Übrigen stehe er auf dem Standpunkt, der „Kamerunneger“ würde freiwillig ohnehin niemals zur Arbeit zu bewegen sein. Sein entscheidender Punkt, der im Protokoll nur mit einem Satz angedeutet wird, war aber offensichtlich der Hinweis, dass Staatssekretär Solf inzwischen auch genügend Berichte über Missstände bei der Behandlung von Trägern in Südkamerun gesammelt hätte. Man solle daher nicht so viel über Missstände reden.688 Damit wollte er ganz offensichtlich Druck aufbauen und der Fraktion der Kaufleute zu verstehen geben, dass ihre Verhandlungsposition durch Missstände in ihrem eigenen Umfeld keineswegs so stark war, wie sie annahmen.689 Kemner bot dann den Kaufleuten an, die Träger von den Bestimmungen der Arbeiterfürsorgeverordnung auszunehmen und auf Anwerbungen von Arbeitskräften in den Gebieten weitgehend zu verzichten, in denen die Kaufleute schwerpunktmäßig ihren Handel betrieben.690 Auch wiederholte Appelle Vietors, sich nicht auf diesen Handel einzulassen und in jedem Fall die amtliche Anwerbung von Arbeitern abzulehnen, führten nicht zum Erfolg. Die Firmen, die ihn ursächlich um sein Engagement gegen die amtliche Arbeiteranwerbung gebeten hatten, unterstützten seinen gleichlautenden Antrag jetzt nicht mehr, der somit ebenso abgelehnt wurde wie Vietors Antrag auf vorläufigen Zulassungsstopp für neue Plantagen in Kamerun.691 Stattdessen wurde Kemners Vorschlag angenommen und mit dem Wortlaut beschlossen:

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Kamerun; 3. Verschiedenes. Der erste Tagesordnungspunkt dominierte die Sitzung eindeutig, vgl. VWK-Protokoll vom 3.1.1914 (wie Anm. 637). So stellt Vietor die Argumentation Kemners etwas detaillierter dar, J. K. Vietor an Freese vom 8.1.1914, StAB 7,73-52, Bl. 449. Gegen Vietors Rat wurde Kemner, offensichtlich kurz darauf, in den Aufsichtsrat der DTK gewählt. Vietor und er blieben bis Ende der 1920er Jahre einflußreiche Kollegen dieses Aufsichtsrates, vgl. J. K. Vietor an Freese vom 24.1.1914, StAB, 7,7353, Bl. 44. Mumm gegenüber spricht Vietor auch von einer Drohung Kemners, die Berichte über Missstände bei den Trägern würden veröffentlicht, falls Staatssekretär Solf zu sehr angegriffen würde, J. K. Vietor an Mumm vom 9.1.1914, ebd. Bl. 457. Das wäre sicher für den Fall zu erwarten gewesen, wenn Vietor seine Berichte über die Entvölkerung ganzer Landstriche und brutaler Anwerbemethoden seitens der Regierung veröffentlicht hätte. Dieses Druckmittel wurde somit zum zweischneidigen Schwert für die Fraktion der Kaufleute. So stellt es Vietor in seinem Brief an Freese vom 8.1.1914 dar. Das Protokoll besagt nur, dass die Bestimmungen des Entwurfs zur Arbeiterfürsorge für Kemner „viel zu weit“ gingen und nur von einem Mann ausgearbeitet worden sein könnten, „welcher die für Westafrika tatsächlich in Betracht kommenden Verhältnisse nicht kenne“, VWK-Protokoll vom 3.1.1914 (wie Anm. 637), S. 1. „Meinen Antrag, Kamerun für neue Plantagen zu sperren, hat der Verein leider auch abgelehnt“, J. K. Vietor an Exz. [Solf] vom 19.1.1914, StAB 7,73-53, Bl. 4. Den Weg, über einen

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„Der Verein erklärt sich für das Schutzgebiet Kamerun mit der amtlichen Anwerbung von Arbeitern einverstanden, mit der Maßgabe, 1. daß dort, wo wesentliche Interessen der Kaufleute oder ansehnliche Eingeborenenkulturen von Landesprodukten zu Exportzwecken vorhanden sind, bei der Anwerbung der männlichen Arbeiter besondere Rücksicht auf diese Interessen genommen werden muß und höchstens ein bestimmt festgesetzter Prozentsatz der männlichen erwachsenen Bevölkerung angeworben werden darf, 2. daß von der Anwendung des in Plantagen-Verträgen festgesetzten Zwanges zur Ausdehnung des Anbaues bestehender Plantagen abgesehen werden muß, sofern diese Plantagen ordnungsgemäß bearbeitet werden.“692

Für Vietor war das ein „kolossaler Reinfall“693 und er erinnerte den Vorsitzenden des VWK, Brettschneider, daran, dass dieser Beschluss in eindeutigem Widerspruch zur Eingabe des Vereins für Nord- und Mittelkamerun vom 20.11.1913 an Staatssekretär Solfs stände.694 Für den Augenblick wusste er „nichts anderes zu tun, wie den ganzen Schwung Mumm zu schicken und ihm zu sagen, dass er doch die Fragen in der Kolonialdebatte anschneiden solle.“695 Das umso mehr, als das geplante Treffen mit Ebermaier am 10. Januar ganz offensichtlich auf später verschoben wurde. Ebermaier war nicht bereit, das Gespräch mit dem gesamten VWK zu führen und selbst einem Gespräch mit dem Vorstand des VWK stand er zögerlich gegenüber. Wenngleich Vietor ein Gespräch zwischen Ebermaier und VWK Vorstand befürwortete, lehnte er es ab, angesichts der mehrheitlichen Ablehnung seiner Vorschläge am 3. Januar, seinen Vortrag bei dieser Gelegenheit erneut zu halten. Vielmehr kündigte er die Verfolgung seiner Ziele in dieser Frage nun ohne den VWK an.696 Der Verein für Nord- und Mittelkamerun schien dafür jedoch auch nicht die geeignete Plattform. Der Vorsitzende von Schiller war Anfang Januar 1914 von seinem Amt zurückgetreten und Woermann, bis dahin ebenfalls Vorstandsmitglied, war ganz aus dem Verein ausgetreten. Hintergrund waren ultimative Forderungen der Südkameruner Firmen an die Firmen in Nord- und Mittelkamerun gewesen, ihren Antrag auf Regierungshilfen für ihre Unternehmen zu unterstützen. Andernfalls wollten sie aus dem gemeinsamen Verein austreten. Woermann war bekanntermaßen gegen solche Hilfen und auch nicht bereit, einen vermittelnden dritten Weg mitzutragen. In dieser bedrohlichen Lage hatte man Vietor Anfang

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vorübergehenden Zulassungsstopp für Neuplantagen den Arbeitskräftemangel abzufedern, hatte im Frühjahr 1913 bereits der Leiter der WAPV in Kamerun, van de Loo, vorgeschlagen, was vom WAPV Aufsichtsrat jedoch als geschäftsschädigend abgelehnt worden war. Van de Loos Vorschlag wurde unbeschadet davon noch einmal in Form eines Regierungsantrags auf dem Pflanzertag in Viktoria am 10.2.1914 thematisiert, allerdings erneut, ohne auf Zustimmung zu stoßen, Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 282. In der Budgetausschußsitzung vom 18.2.1914 war es bezeichnenderweise allein die SPD, die gegen den Widerstand aller bürgerlichen Parteien angesichts der Situation in Kamerun ein Verbot der Ansiedlung weiterer Europäerpflanzungen forderte, vgl. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 230. Sitzung vom 7.3.1914, S. 7904. VWK-Protokoll vom 3.1.1914 (wie Anm. 637), S. 3. J. K. Vietor an Mumm vom 9.1.1914, StAB 7,73-52, Bl. 458. J. K. Vietor an Brettschneider vom 16.1.1914, StAB 7,73-52, Bl. 485. J. K. Vietor an Freese vom 8.1.1914, ebd. Bl. 450. J. K. Vietor an Breitschneider, vom 19.1.1914, ebd. Bl. 499f.

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Januar 1914 zum neuen Vorsitzenden gewählt.697 In den nächsten Wochen hatte er alle Hände voll zu tun, den Verein überhaupt zusammen zu halten,698 an ein geschlossenes Vorgehen war somit kurzfristig nicht zu denken. Vietor versuchte daher, auf mehreren Ebenen sein Ziel zu erreichen. 1. Direkter Kontakt mit Staatssekretär Solf Am 19. Januar wandte sich Vietor in einem persönlichen Schreiben an Staatssekretär Solf und teilte ihm offenherzig mit, dass der VWK seine Anträge abgelehnt habe. Er bat nun persönlich um die Einführung der Arbeiterschutzverordnung auf den Plantagen, die so gefasst sein müsste, dass die bisher bestehende Beschäftigungsbefristung von einem Jahr aufgehoben würde. Dann wäre es möglich, ganze Familien auf den Plantagen dauerhaft anzusiedeln, was auch wirtschaftlich Sinn mache, weil man dadurch dauerhaft eingearbeitete Arbeiter bekäme. Natürlich müssten die Plantagen den Familien eine angemessene Fläche Land zur Verfügung stellen, auf dem sie ihre Hütte errichten und auf dem sie einen kleinen Landbau zum eigenen Bedarf betreiben könnten. Dem Schreiben an Solf legte Vietor seine bisher gesammelten Berichte mit der Bemerkung bei, dass sie sicher im Budgetausschuss zur Sprache kämen und er sie ihm daher bereits vorab zur Verfügung stellen wolle. Zum zweiten bat er um Verschiebung des Treffens der Kaufleute mit Gouverneur Ebermaier, da sein Geschäftspartner Freese diesem gerne beiwohnen würde, aber erst im März 1914 aus Kamerun zurückkäme. Seinen Standpunkt in der strittigen Anwerbefrage begründete er abschließend mit humanitären und christlichen Beweggründen, machte aber ebenso klar, dass es auch „wirtschaftlich gesprochen das Schlimmste wäre“, wenn die Entvölkerung Kameruns weiter voranschritte.699 Der Vorstoß bei Solf war einerseits davon gekennzeichnet, eine politische Drohkulisse aufzubauen und andererseits, Zeit zu gewinnen. Jede Verzögerung einer Einigung bei parallel laufender parlamentarischer Überzeugungsarbeit musste seinen Standpunkt stärken. 2. Forcierung der Debatte im Budgetausschuss und im Reichstag Neben den vielfältigen Verbandsverbindungen nutzte Vietor auch seinen direkten Draht in den Reichstag, um seinen Anschauungen Gehör zu verschaffen. Als einflussreiches Vorstandsmitglied der an sich stark innen- und sozialpolitisch ausgerichteten Christlich Sozialen Partei (CSP),700 verfügte er bei weitem über die größte Kompetenz in der Partei zu Fragen der Kolonialpolitik. Seit dem Einzug in 697 J. K. Vietor an Freese vom 8.1.1914, ebd., Bl. 448, vgl. auch J. K. Vietor an Woermann vom 5.1.1914, ebd., Bl. 387; J. K. Vietor an von Schiller vom 6.1.1914, ebd., Bl. 397. Offensichtlich war damit aber nur der stellvertretende Vorsitz gemeint, den er von Schiller übernahm. Infolge der Abwesenheit des zum 1. Vorsitzenden gewählten Max Brock hatte Vietor jedoch vorübergehend den Verein geleitet. Ende Februar konnte er die Geschäftsführung an Brock übergeben, J. K. Vietor an Brock vom 25.2.1914, StAB, 7-73,53, Bl. 237. 698 Vietor berichtet, dass er in einem Monat Vereinsvorsitz 180 Postsendungen verschickt habe. Die Sache sei total verfahren und mache unglaublich viel Arbeit, J. K. Vietor an Freese vom 4.2.1914, ebd., Bl. 100. 699 J. K. Vietor an Exz. [Solf] vom 19.1.1914 , ebd., Bl. 1–4 700 An der überwiegend innenpolitischen Ausrichtung der Partei änderten auch die gelegentlichen

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den Reichstag 1912 hatte sich sein Parteifreund Reinhard Mumm in Anlehnung an Vietor in die Materie eingearbeitet, aber keine eigenständigen Positionen entwickelt. Mumms Biograph, Norbert Friedrich, betont daher zu Recht, Mumm „setzte mit seiner Politik weitgehend die Vorstellungen seines christlich-sozialen Parteifreundes Vietor um.“701 Entsprechend lesen sich die detaillierten inhaltlichen und taktischen Anweisungen Vietors an Mumm in der aktuellen Auseinandersetzung. Als Mimimalziel erwartete Vietor von Mumm, dass durch seine Arbeit im Budgetausschuss das Prinzip der Freiwilligkeit gerettet würde, das einen Arbeitszwang in welcher Form auch immer, zu verhindern habe. „Das ist der Punkt, den Sie doch unter allen Umständen werden durchsetzen können, selbst wenn sie bei der amtlichen Arbeiteranwerbung Ihren Willen nicht durchsetzen können.“702 3. Einschaltung des Auslandes Nachdem ihn seine kaufmännischen Standesgenossen im Stich gelassen hatten, versuchte Vietor nun über ausländische Firmen, die ebenfalls in Kamerun aktiv waren, internationalen Druck auszuüben. Dabei kamen für ihn in erster Linie die Basler Missionshandlungsgesellschaft,703 die englische Ambas Bay Trading Co. Ltd. sowie John Holt & Co. (Liverpool) in Frage, die alle auch zum Verein für Nord- und Mittelkamerun gehörten. In einem Schreiben an die Firma John Holt legte er die Entwicklungen im VWK, im „Verein für Nord- und Mittelkamerun“ sowie in der Bugdetkommission des Reichstages dar und erhielt daraufhin eine Antwort, die er an Mumm in der Hoffnung weiterleitete, damit dokumentieren zu können, welche Stimmungen im Ausland möglicherweise unterstützend in die Waagschale geworfen werden könnten: „Sie können daraus entnehmen, wie die Engländer das Vorgehen der Deutschen Regierung beurteilen und nachdem, was sie bereits im Kongo erreicht haben, kann man annehmen, dass auch bald höheren Ortes dort an eine energische Bearbeitung gegangen wird.“

kolonialpolitischen Äußerungen Adolf Stoeckers nichts. Erst Vietors Einfluss in der Partei schärfte das kolonialpolitische Profil der Partei deutlich. 701 Friedrich, Norbert: „Die christlich-soziale Fahne empor!“. Reinhard Mumm und die christlich–soziale Bewegung (Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte; 14), Stuttgart 1997, S. 88. 702 J. K. Vietor an Licenziat [Mumm] vom 9.1.1914, StAB, 7-73-52, Bl. 460f. „Mit scheint die Frage so außerordentlich wichtig und eine Besprechung halte ich, wenn irgend möglich, für sehr notwendig.“, ebd. Bl. 461. Die Besprechung fand am Nachmittag des 17.1.1914 in Berlin statt, als sich Vietor ohnehin in der Stadt aufhielt. Am Tag zuvor hatte er eine Besprechung mit Herrn Krause gehabt, dem Leiter der Kameruner Tabakplantage der DTK. An der Besprechung nahm auch Gustav Stresemann teil, mit dem sich Vietor, in Ermangelung von mehr Geschirr, eine Tasse Kaffee teilte. Am Abend hatte er daraufhin eine längere, „sehr nette“ Unterhaltung mit ihm im Hotel und gewann dabei den Eindruck, dass Stresemann „ein ganz verständiger Mann“ wäre, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 17.1.1914, VPAH, Konv. 1, Teil 5. 703 Vietor erhielt durch Herrn Binhammer von der Missionshandlungsgesellschaft politisch verwertbares Material zur Arbeiteranwerbung, das er sofort an Mumm weiterreichte, vgl. J. K. Vietor an Mumm vom 2.2.1914, 7,73-53, Bl. 84.

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Die Firmen Ambas Bay Trading und John Holt & Co. übertrugen Vietor ihr Stimmrecht im Verein für Nord- und Mittelkamerun und baten ihn, in ihrem Namen gegen jegliche amtliche Anwerbung von Arbeitern zu stimmen.704 4. Anstreben einer Mehrheit im Verein für Nord- und Mittelkamerun Auch wenn der Verein für Nord- und Mittelkamerun kurzfristig nicht als Machtfaktor in Frage kam, setzte Vietor mittelfristig auf klare Mehrheitsverhältnisse, falls eine Kampfabstimmung unvermeidlich würde. In diesem Sinne rechnete er der Firma Ambas Bay Trading vor, wie es um die Mehrheitsverhältnisse und das Gewicht der einzelnen Mitglieder im Verein bestellt wäre. Danach waren gegen die amtliche Anwerbung: Ambas Bay Trading Ltd, John Holt & Co., Woermann, GNWK, Basler Missionshandelsgesellschaft sowie Vietor & Freese. Alle diese Gesellschaften zusammen verfügten über 110 weiße Angestellte in Kamerun, die sechs Firmen, die für eine amtliche Anwerbung waren dagegen nur über 58. Die vier weiteren, sich ohnehin neutral oder unentschieden verhaltenden Firmen, brächten es zusammen auf 25 weiße Angestellte vor Ort. Beim Vereinstreffen am 28.1.1914 vermied Vietor vorerst eine Abstimmung und behandelte den Fragenkomplex zur Arbeiteranwerbung nur unter „Sonstiges“. Eine förmliche Abstimmung wurde für das nächste Vereinstreffen auf die Tagesordnung gesetzt, wobei allen Beteiligten klar war, wie die eigentlichen Stimmverhältnisse lagen.705 Diese vierfache Strategie wurde noch dadurch verstärkt, dass Vietor auf eine Differenzierung, und notfalls sogar Spaltung der verschiedenen Pflanzungsgesellschaften hinarbeitete. Er selbst gehörte aufgrund seines Aufsichtsratsmandats bei der DTK706 nicht nur zur Kaufmannschaft, sondern zugleich auch zur Fraktion der Tabakpflanzer, die angesichts der allgemein höheren Hygiene- und Wohnstandards für afrikanische Arbeiter auf den Tabakplantagen die Einführung einer Arbeiterfürsorgeverordnung nicht zu fürchten hatten. Anders stand es um die Kakaopflanzungen. Auf einem gemeinsamen Treffen der Tabak- und Kakaopflanzungsunternehmen im Januar 1914 kam es zur Konfrontation der beiden Pflanzungslager. Nachdem Vietor noch einmal sein bereits auf der VWK Sitzung am 3.1.1914 gehaltenes Referat vorgetragen hatte, stellte er den Interessengegensatz zwischen Tabakpflanzern und Kakaopflanzern so deutlich heraus, dass das Protokoll zunächst von einem „krassen Gegensatz“ der beiden Gruppen sprach. Um nicht unnötig zu provozieren, ließ Vietor das Wort „krass“ jedoch wieder streichen. Immerhin hatten die Tabakpflanzer nur unter Androhung ihres Austritts aus dem gemeinsamen Verband ein 704 J. K. Vietor an Ambas Trading Co. Limited, Liverpool vom 30.1.1914, StAB 7,73-53, Bl. 75. Vietor dankte in diesem Antwortschreiben für die Autorisierung vom 26. Januar, im Namen der Firma abstimmen zu dürfen („against forced labour“). Das Schreiben vom 26. Januar ist nicht erhalten; J. K. Vietor an John Holt vom 30.1.1914, ebd. Bl. 80–83. Auch hier liegt nur das Bestätigungsschreiben über die Autorisierung zur Stimmabgabe vor. 705 J. K. Vietor an Ambas Trading Co. vom 30.1.1914, StAB 7,73-53, Bl. 75–78. Das Treffen am 28.1.1914 war so angespannt gewesen, dass es Vietor als reinstes „Hundebeissen“ bezeichnete, bei dem man „in gegenseitigen Ausführungen bis an die Grenze des Erlaubten gegangen“ sei. 706 Vietor hoffte 1912 als Aufsichtsratsmitglied bei der geplanten Kapitalerhöhung der Gesellschaft von 400.000,- auf 2,5 Millionen Mark insgesamt Anteile im Wert von 40.000 bis 50.000,Mark zu bekommen, J. K. Vietor an Henke vom 6.4.1912, StAB 7,73-52, Bl. 248.

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teilweises Entgegenkommen der Kakaopflanzer durchsetzen können. Vietor erreichte durch sein nachdrückliches Insistieren sogar den gemeinsamen Beschluss, vom Kolonialamt sowohl die Einführung der Fürsorgeverordnung zu fordern wie auch auf eine freiwillige Arbeiteranwerbung zu bestehen, was beides den Zielen der Kakaopflanzer grundlegend widersprach. Wilhelm Kemner (WAPV), Sprecher der Kakaopflanzer, wies denn auch nachdrücklich daraufhin hin, dass die Einführung der Verordnung für ihn Mehrkosten von etwa 250.000 Mark mit sich bringen würde, da seine Arbeiter bislang nur 1 Pfund Reis in der Woche erhielten.707 Für eine Kompromissformel war Vietor jedoch nicht zu gewinnen. „Die amtliche Anwerbung muss unter allen Umständen fallen, da sie ja nur allzu sehr dem Sklavenhandel gleicht.“ Zudem entspräche sie einer „Kolonialpolitik, die vollständig das Land ruiniert und den Eingeborenenkulturen auf das allerempfindlichste schadet.“708 Lieber wollte er sein Aufsichtsratsmandat bei der DTK niederlegen, als die Durchsetzung der Forderungen der Kakaopflanzer hinzunehmen.709 Wilhelm Kemner beklagte sich daraufhin bei Gouverneur Ebermaier anlässlich einer Sitzung der Pflanzer mit ihm, alle hätten der amtlichen Arbeiteranwerbung zugestimmt, selbst die Kaufleute, nur Vietor hätte dagegen protestiert. Im weiteren Verlauf der Sitzung beklagten sich auch die anderen Pflanzer über Vietor. Erst als der Leiter der Tabakplantage in Njombe, Krause, für Vietor Partei ergriff, wurde eingeräumt, dass Vietors Standpunkt nicht materiellen Interessen, sondern grundsätzlich kolonialpolitischen Grundsätzen geschuldet sei. Das führte zu Ebermaiers Bitte an Krause, Vietor zu einem gesonderten Treffen mit ihm einzuladen.710 Damit sich Ebermaiers Position bis zu diesem Treffen weiter der von Vietor annähern könne, bat Vietor Mumm, Ebermaier mit dem Material bekannt zu machen, das Mumm in der Budgetkommission verwenden wollte. Zugleich veröffentlichte er selber einen Artikel, in dem er die bisherige plantagenfreundliche Politik des Kolonialamtes sowie den ausbeuterischen Charakter der verfehlten Plantagenwirtschaft scharf kritisierte: „Von jeher hat die Regierung fast ausschließlich auf Seiten der Plantagen gestanden, natürlich in der Meinung dem darin angelegten deutschen Kapital eine Rente zu sichern […] Eine Plantagenwirtschaft, die die Kosten scheut, freie Arbeiter anzuwerben und Familien anzusiedeln, die ihnen einen Stamm zuverlässiger, tüchtiger Arbeiter schaffen, wie es in allen anderen Betrieben und, mit Ausnahme der portugiesischen, in jeder anderen Kolonie in Afrika der Fall ist, ist ein Krebsschaden jeder Kolonie.“711 707 708 709 710

J. K. Vietor an Freese vom 24.11914, StAB 7,73-53, Bl. 45. J. K. Vietor an Freese vom 4.2.1914, ebd., Bl. 99. J. K. Vietor an Freese vom 24.1.1914, ebd., Bl. 46. So gibt Vietor den Bericht des Pflanzungsleiters von Njombe, Krause, wieder, der ihn am 26. Januar über den Verlauf des Treffens der Pflanzer mit Ebermaier informiert hatte, J. K. Vietor an Mumm vom 26.1.1914, ebd., Bl. 60f. 711 Vietor, J. K.: Afrika und die Hansestädte, in: Die Arbeit 10 (1914), S. 3. Der Artikel findet sich auch in Vietors Briefverkehr (Kopierbuch), StAB 7.73-53, Bl. 143–148. Anders als Vietor sah es Georg Hartmann, Schwiegersohn Adolf Woermanns und ehemaliger Direktor der South West Africa Company in Südwestafrika, bereits 1912, als er vehement für die amtliche Anwerbung plädierte. Private Anwerbung war für ihn erstens zu kostspielig und zweitens führte sie seiner Meinung nach zu einer „wilde[n] Anwerberei“, durch die die Löhne in die Höhe getrieben würden, der weiße Unternehmer als Bittsteller erschiene und der afrikanische Arbeiter „ein total falsches Wertgefühl für seine Arbeit beigebracht“ bekäme. „Es mutet fast merkwürdig an,

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Bei Erscheinen des Artikels hatte das Treffen mit Ebermaier jedoch schon stattgefunden. Dabei hatte Vietor Ebermaier mit Berichten aus der Kamerun Post konfrontiert, in denen der stellvertretende Gouverneur zugegeben hatte, dass angeworbene Arbeiter für die Bahn mit gefesselten Füßen transportiert worden wären. Auch Kaufmann Steinhausen wurde zitiert, demzufolge amtlich angeworbene Arbeiter mit zusammengebundenen Füßen in Jabassi angekommen waren. Trotz Vietors ernsten Bedenken in Bezug auf die Gesamtlage waren dies für Ebermaier jedoch nur Einzelfälle.712 Im Verlauf der Debatte um die Missstände bei der Behandlung der Arbeiter wurde immer deutlicher, dass inzwischen auch die Entvölkerungsproblematik, teilweise mit dramatischen Folgen, ganze Landstriche Kameruns erreicht hatte. Freese berichtete Vietor in diesem Zusammenhang von einem Gespräch mit dem Bezirksamtmann von Jaunde, der behauptete, von 100.000 Männern seines Bezirkes, der so groß wie ganz Togo wäre, seien 92.000 als Träger und Arbeiter in anderen Gebieten des Landes tätig. Für die Feldbestellung und Ernährung ständen in seinem Gebiet demnach nur noch 8.000 Männer zur Verfügung.713 An eine eigenständige bäuerliche Landwirtschaft der afrikanischen Bevölkerung war somit nicht zu denken, ganz abgesehen von den Engpässen bei der Ernährung von Frauen und Kindern, die sich daraus ergaben. Mumm sollte nun auch diesen Aspekt im Reichstag nachdrücklich vertreten und öffentlich machen und in seine Resolution die bislang noch fehlende Forderung des Verbots von jeglichem Arbeitszwang aufnehmen. Abhilfe zur Eindämmung des Umfangs der Anwerbungen versprach sich Vietor darüber hinaus, wie auch Freese, von der Einführung von Arbeitsnachweisen auf den Bezirksämtern.714 Die Anregungen kamen jedoch zu spät. Mumms Resolution war bereits am 18.2.1914 von der Budgetkommission angenommen worden. Da auch Erzberger das Thema in der Budgetkommission aufgegriffen hatte, war die Regiewenn man hört und sieht, was alles dem farbigen Arbeiter verordnungsmäßig und freiwillig gewährt werden, muß“: Gesunde Wohnungen, die er zu Hause so überhaupt nicht hätte, reichliche und angepaßte Beköstigung, Extra-“Poscho“, dazu die nötige freie Zeit zur Erholung und besondere Feste mit „Sing Sing“. Er lehnte so viel Fürsorge strikt ab, denn es könne ja nicht sein, dass man dem schwarzen Arbeiter auf alle erdenkliche Weise die Arbeitszeit auf der Plantage so angenehm wie möglich machen würde, Hartmann, 1912 (wie Anm. 493), S. 305f. 712 J. K. Vietor an Mumm vom 13.2.14, StAB 7,73-53, Bl. 150f. Bei den zitierten Ausgaben der Kamerun Post handelte es sich um die Nummern 97 und 98 [wohl des Jahrgangs 1912, Anm. B.O.], die offensichtlich aus Protokollen einer Gouvernementsratssitzung schöpften. 713 Bericht über die Enteignung der Duala, StAB 7,73-53, Bl. 162–164. Der Bericht stammt ganz offensichtlich von Freese. Angesichts der beschriebenen Entvölkerung hält Freese die Enteignung der Dualas und die umfangreichen Bauplanungen in Duala für völlig übertrieben. Eine Planung, die mit 10.000 Europäern rechnet sei angesichts einer rapide schrumpfenden Bevölkerung unsinnig, denn ohne Handelspartner würden keine Europäer kommen. Auf der Sitzung Ebermaiers mit Vertretern des VWK am 2.3.1914 brachte der Prokurist der Firma Vietor & Freese, Fricke, den Hinweis, dass in einem Bezirk von 100.000 Männern 92.000 als Träger und Plantagenarbeiter abgezogen worden wären in die Diskussion ein. Ebermaier bezweifelte jedoch die Richtigkeit dieser Zahlen und bat um nähere Unterlagen dazu, Aufzeichnung der Besprechung Ebermaiers mit Mitgliedern des VWK am 2.3.1914, BAB, R 1001-3838, Bl. 168, S. 20. 714 J. K. Vietor an Licenziat [Mumm] vom 18.2.1914, StAB 7,73-53, Bl. 171.

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rung nach Vietors Einschätzung inzwischen sehr kompromissbereit geworden.715 Vietor wollte diese Chance nutzen, um möglichst viel zu erreichen, das umso mehr, als ihn nun auch Berichte seines Mitarbeiters in Togo, Euting, erreicht hatten, die davon sprachen, dass aus dem Bezirk Misahöhe 1.500 Familien in die Goldküste abgewandert sein sollten. Er drang nun auf mehr und unbedingt zuverlässige Informationen darüber, damit er sie öffentlich und „der Regierung gegenüber“ verwenden konnte.716 Aufgrund der Vorstöße Mumms und Erzbergers in der Budgetkommission sah es für die Sache des Arbeiterschutzes in Kamerun zunächst tatsächlich günstig aus und versetzte Vietor in Hochstimmung. „Wir werden jetzt sicher eine sehr grosse Besserung der Verhältnisse in kürzester Zeit sehen […] Ich hätte nicht gedacht, dass es uns gelingen würde, in diesen paar Monaten einen solchen Sturm der Entrüstung in ganz Deutschland hervorzurufen, und das scheint es doch zu werden, und ich bin sehr dankbar, dass unsere Bemühungen von solchem Erfolg gekrönt sind.“717

Von einem wirklichen Erfolg konnte allerdings kaum gesprochen werden. Zum einen hatte die amtliche Arbeiteranwerbung in Kamerun auch ohne Gouvernementsratsbeschluss eine feste Struktur in Form der „Vereinigung für Arbeiterbeschaffung“ gefunden, die sich am 11.12.1913 konstituierte.718 Das Gouvernement übernahm damit für die nächsten zweieinhalb Jahre die amtliche Arbeiteranwerbung für den Verband der Kamerun- und Togopflanzungen, den Verband der Kameruner Tabakpflanzungen sowie dem Verband angeschlossene land- und forstwirtschaftliche Einzelunternehmen, nicht aber für die Fraktion der Kaufleute. Den Vorsitz des Verbandes in Deutschland führte Wilhelm Kemner. In Duala hatte der Verband ein „Arbeitsamt“, über das die Anwerbungen organisiert und verteilt wurden. Das Gouvernement erhielt für jeden angeworbenen Arbeiter zehn Mark plus zusätzliche Auslagen.719 Zum anderen blieben die Gegner Vietors nicht untätig, doch noch 715 J. K. Vietor an Woermann vom 19.2.1914, ebd., Bl. 178. Handschriftlich ergänzte Vietor das Schreiben: „Die Regierung will sich unbedingt unseren Wünschen fügen.“ In der Motivation Erzbergers sah Vietor einen gewissen Ehrgeiz, da er mit seiner Resolution „unsere Stellungnahme noch übertreffen will“. Ebenso äußerte er sich gegenüber Freese, gab dabei aber zu, dass Mumms Antrag nach seinem Geschmack „etwas zu zart ausgefallen“ wäre und Erzberger zwei viel weiter gehende Anträge gestellt hatte, J. K. Vietor an Freese vom 20.2.1914, ebd., Bl. 218f. Erzberger selbst wähnte sich im Vergleich zu Mumm tatsächlich im Besitz von weitaus schwerwiegenderen Berichten und erklärte daher am 18. Februar, er könne Mumms Ausführungen „noch durch weit erschreckenderes Material“ ergänzen, in: Koloniale Rundschau 3 (1914), S. 160. 716 J. K. Vietor an Fritz [Vietor] vom 20.2.1914, ebd., Bl. 204. 717 J. K. Vietor an Claus [Freese] vom 20.2.1914, ebd., Bl. 219f. 718 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 286. Die Mitteilung über die Konstituierung erfolgte am 17.12.1913, Vereinigung für Arbeiterbeschaffung an RKolA vom 17.12.1913, BAB, R 10013419, Bl. 2. 719 Vgl. Satzungen der Vereinigung, BAB, R 1001-3419, Bl. 4–7; Nach dem 7. Jahresbericht des Verbandes der Kamerun- und Togopflanzungen vertraten C. Ladewig und Wilhelm Kemner die Vereinigung für Arbeiterbeschaffung in Deutschland gemeinsam, wobei Ladewig, nicht Kemner, den Vorsitz im Ausschuss führte, zu der auch zwei Vertreter der Kameruner Tabakpflanzungen zählten. In Kamerun gehörte auch der Pflanzungsleiter der DTK, Bolland, zum dortigen Ausschuß. Auf diese Weise war auch Vietors Unternehmen in die amtliche Anwerbepraxis eingebunden, ohne dass Vietor seine Drohung, notfalls aus dem Aufsichtsrat auszuscheiden,

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zum Erfolg zu kommen. Nach den Beratungen im Budgetausschuss hatte der Ausschuss der DKG am 20.2.1914 eine Protestnote verfasst, in der dem Budgetausschuss vorgeworfen wurde, in „unzulässiger Verallgemeinerung einzelner zu verurteilender Mißstände“ den gesamten Plantagenbau in den deutschen Kolonien anzugreifen. Zu Vietors Erleichterung gehörte jedoch auch sein ehemaliger Kolonialratskollege Vohsen zum DKG Ausschuss, von dem er sich einen mäßigenden Einfluss versprach.720 Zeitgleich zum DKG Ausschuss sandte der Verband der Togound Kamerunpflanzungen eine Petition an Solf, in der er sich über „die unberechtigten Schilderungen der „Pflanzungsgreuel““ in der Budgetkommission beschwerte und sich gegen diese „maßlosen Entstellungen und Übertreibungen“ verwahrte.721 Am 2.3.1914 kam es nun doch zu einem Treffen des VWK mit Ebermaier,722 an dem Vietor wegen einer Urlaubsreise nicht teilnehmen konnte und Kurt Woermann keine Erlaubnis seines Onkels Eduard Woermann erhielt, teilzunehmen, um die Minderheitsmeinung im VWK zu vertreten.723 Vietor schickte zwar seinen Prokuristen Fricke mit einer schriftlichen Erklärung zu dem Treffen, das zum Ausdruck brachte, dass „die bedeutendsten Firmen Dualas sich mit einer amtlichen Arbeiteranwerbung nicht einverstanden erklären könnten“, aber das konnte kaum seine persönliche Anwesenheit ersetzen.724 Erschwerend kam hinzu, dass Brock wegen sei-

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wahrmachte. Die Stimmverteilung und damit wohl auch die Arbeiterverteilung in der Vereinigung für das Jahr 1914 wurde gemäß § 5 nach folgendem Schlüssel vorgenommen. Der Verband der Kamerun- und Togopflanzungen mit 11.130 Arbeitern hatte 22 Stimmen. Der Verband der Kameruner Tabakpflanzungen mit 5.170 Arbeitern hatte 10 Stimmen, die sog. „Außenseiter“, die keinem Verband angehörten, bekamen mit 900 Arbeitern 2 Stimmen. Zwei Drittel der bebauten Fläche (1912) waren in den Händen von Verbandsgesellschaften, Tätigkeits–Übersicht des Verbandes der Kamerun- und Togopflanzungen für das siebte Berichtsjahr 1914, BAB, R 1001-3417, Bl. 111, S. 14–17. Die Behandlung der Farbigen auf den Pflanzungen unserer Schutzgebiete, in: DKZ 1914, S. 144–145, 144. Die Ausgabe kam am 28.2.1914 heraus. Vietor hatte bereits mit Vohsen gesprochen und von ihm die Zusage erhalten, notfalls eine eigene Resolution zu verfassen, falls die Stellungnahme des DKG Ausschusses zu scharf ausfallen sollte, vgl. J. K. Vietor an Claus [Freese] vom 24.2.1914, StAB, 7,73-53,Bl. 222. Erzberger nannte die Hintermänner dieses Protestes und anderer ähnlicher Artikel in der Presse, die „alten Afrikaner“, eine „Clique“, deren Macht und Kampfweise auch er bereits erfahren habe und gegen die sich durchzusetzen nicht leicht sei, vgl. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 230. Sitzung vom 7.3.1914, S. 7911. Verband der Kamerun- und Togopflanzungen an Solf vom 20.2.14 1914, BAB, R 1001-3417, Bl. 111, S. 21. Hausen geht zu Unrecht davon aus, das der Protest der Pflanzer von der Vereinigung für Arbeitsbeschaffung als Ganzes ausging. Der Verband der Kamerun- und Togopflanzungen war aber nur eine Mitgliedspartei der Vereinigung, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 288. Aufzeichnung der Besprechung Ebermaiers mit Mitgliedern des VWK vom 2.3.1914, BAB, R 1001-3838, Bl. 158–171. Zunächst hatte Vietor Eduard Woermann noch überreden können, seinen Neffen Kurt dorthin zu schicken. Am 23.2.1914 hatte er ihn deswegen in Hamburg besucht. „Eduard Woermann war furchtbar dagegen, doch überredete ich ihn, Kurt Woermann hingehen zu lassen“. Kurz darauf wollte Kurt Woermann aber trotzdem nicht mehr hinfahren, J. K. Vietor an Claus [Freese] vom 24.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 223. Den Rückzieher von Kurt Woermann erklärte sich Vietor mit einer neuerlichen Intervention seines Onkels, J. K. Vietor an Brock vom 25.2.1914, ebd., Bl. 237. Fricke begann den Tagesordnungspunkt 5 über die Frage der amtlichen Arbeiteranwerbung mit

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ner längeren Abwesenheit als möglicher Exponent einer abweichenden Meinung ebenfalls schlecht gerüstet war.725 Ein Einlenken Ebermaiers konnte daher nicht erreicht werden. Ebermaier stellte sich nun auf den Standpunkt, die amtliche Arbeiteranwerbung sei nur als vorübergehende und zeitlich befristete Notlösung gedacht. Dabei verwies er ausdrücklich auf die seinerzeitige amtliche Arbeiteranwerbung für die DTK und Vietors Aufsichtsratsmandat bei dieser Gesellschaft. Auch sie hätten nicht ohne eine amtliche Arbeiteranwerbung „auch nur annähernd genug Arbeiter bekommen.“ Die positive Erfahrung damals hätte ihn überhaupt erst dazu ermutigt, die Arbeiterfrage über eine amtliche Anwerbung zu lösen.726 Es liegt auf der Hand, dass das Bekanntwerden der Inanspruchnahme einer amtlichen Arbeiteranwerbung durch eine Gesellschaft, in der Vietor im Aufsichtsrat saß, seine Position nicht gerade verbessern konnte. Ebermaier schloss die Sitzung entsprechend unangefochten mit der Feststellung, dass die überwiegende Zahl der Vertreter des Handels darüber einig sei, dass die Maßnahmen der Regierung in der Arbeiteranwerbungsfrage den Interessen des Handels nicht zuwiderlaufen.“727 Reinhard Mumms blieb in seiner Reichstagsrede vom 7.3.1914 daher nichts anderes übrig, als mitzuteilen, dass Ebermaier auf dem Treffen mit dem VWK „ausdrücklich“ auf einer amtlichen Arbeiteranwerbung beharrt hatte.728 Ein Eingeständnis, das Vietors kurz zuvor geäußerte Siegeszuversicht ebenso relativierte wie Solfs Ausführungen im Reichstag zwei Tage später. In seiner Rede bezeichnete Solf die Situation der Träger in Kamerun als deutlich bedenklicher als das Los der Plantagenarbeiter und spielte das Gewicht der Berichte der „alten Afrikaner“ über die Missstände in Kamerun herunter. Die Berichte müssten vor dem Hintergrund unterschiedlicher berufsständischer Interessen gesehen werden, da sich Kaufleute und Plantagenbesitzer in der Arbeiterfrage „ziemlich scharf gegenüber“ ständen. Wenn daher Beschwerden vorgelegt würden, sei anzunehmen, sie stammten von Kaufleuten und wären damit interessegeleitet.729 Solf zeigte sich daher wenig beeindruckt von den Enthüllungen im Budgetausschuss und der Kritik im Reichstag, der es überdies bei der Verurteilung von Zwangsmaßnahmen, der Klage über Entvölkerungstendenzen und dem Appell baldiger Abhilfe beließ, sich aber zu keiner Resolution, etwa zur Frage der amtlichen

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der Vorlage eines schriftlichen Protestes gegen eine amtliche Anwerbung der Firmen C. Woermann, Vietor & Freese, John Holt & Co., Ltd., Ambas Bay Trading Co., Ltd. und R. u. W. King. Das Schreiben enthielt auch Gegenvorschläge, wie man das Problem anders lösen könne, löste jedoch eine energische Kritik Hufpelds und Kemners aus, die dagegen protestierten, dass Vietor den vorgelegten Protest im Namen der Nord- und Mittelkamerungesellschaften eingelegt hatte. Vietor sei dazu nicht berechtigt gewesen, da der Verein diese Meinung nicht teile, Aufzeichnung der Besprechung Ebermaiers mit Mitgliedern des VWK am 2.3.1914, BAB, R 10013838, Bl. 167, S. 19. J. K. Vietor an Brock vom 25.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 237–239. Aufzeichnung, BAB, R 1001-3838, Bl. 166, S. 18. Aufzeichnung, ebd., Bl. 168, S. 20. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 230. Sitzung vom 7.3.1914, S. 7934. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 231. Sitzung vom 9.3.1914, S. 7949. Solf stellte sich auf den Standpunkt, dass die Berichte aus Kamerun „bei 40 Grad Reaumur geschrieben“ worden waren und daher „nicht allzu schwer zu nehmen“ seien, sondern ruhig geprüft werden müßten.

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Arbeiteranwerbung aufraffen konnte.730 Während die parlamentarische Empörung nach der Reichstagsdebatte bald wieder verblasste, vollzog sich in der Praxis das, was Vietor mit seinen ganzen Bemühungen zu verhindern gesucht hatte. Im Mai 1914 konnte Ebermaier die Zustimmung der Kaufleute zur Arbeiterfürsorge-Verordnung erreichen und damit das letzte Hindernis zur offiziellen Einführung der amtlichen Arbeiteranwerbung aus dem Weg räumen. Dafür musste er den Kaufleuten allerdings zugestehen, sie vom Anwerbemonopol der Regierung auch weiterhin auszunehmen. Bereits am 1.5.1914 hatte sich Ebermaier gegen wichtige Zugeständnisse auch mit den Pflanzern einigen können. Gegen Streichung des noch im November 1913 zäh verteidigten § 47 der geplanten Arbeiterfürsorge–Verordnung konnte in der Verhandlung mit der „Vereinigung für Arbeiterbeschaffung“ ein Ausgleich gefunden werden. § 47 hatte den Entzug von Arbeiterzuteilungen angedroht, falls es in einer Plantage zu Verstößen gegen die Fürsorgebestimmungen kommen sollte. Auch die einzelnen Fürsorgestimmungen selbst sollten nun nochmals überprüft werden, was auf eine Lockerung derselben hinauslief.731 Ob die Nachgiebigkeit Ebermaiers gegenüber den Pflanzern auf dessen unsicheren Stand in der Dualafrage zurückzuführen war, wie Hausen vermutet, bliebt fraglich. Richtig ist zwar, dass die Debatte über die Sanierung der Stadt Duala sowie die Enteignung der dort wohnenden einheimischen Bevölkerung am 12.5.1914 im Reichstag anstand, ob allerdings die Kameruner Pflanzerlobby über so viel Rückhalt im Reichstag verfügte, dass sie eine Entscheidung darüber hätte beeinflussen können, muss bezweifelt werden. Angesichts der Fraktionsstärken im 13. Reichstag kam es für die Regierung insbesondere auf das Zentrum und die Linksliberalen an. Im Budgetausschuss hatte sich jeweils eine breite Mehrheit sowohl für die Sanierung der Stadt als auch für die Enteignung der Dualas ergeben. Von einer knappen oder unsicheren Abstimmung kann daher nicht gesprochen werden.732 Für Vietor hatte der Konflikt mit den Pflanzern und dem VWK auch persönliche Konsequenzen. Nach den Resolutionen in der Budgetkommission kochte die Stimmung gegen ihn so hoch, dass er froh war, nicht zur VWK Sitzung am 2.3.1914 mit Ebermaier fahren zu können. „Ich glaube, es ist ganz gut, dass ich an dieser Sitzung nicht teilnehme, denn ich höre von allen Seiten, dass die Leute eine furchtbare Wut auf mich haben, und es ist gut, wenn diese erst einmal etwas abflaut.“733 So schnell flaute die Erregung gegen Vietor jedoch nicht ab. Im Gegenteil. Die Fronten schienen sich zu verhärten. Auch vier Wochen später hatte sich die Lage nicht entspannt.

730 Mumms Resolution im Budgetausschuss hatte allerdings auch keinen entsprechenden Vorstoß des Reichstags angeregt, J. K. Vietor an Woermann vom 19.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 178. 731 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 288f. 732 SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 255. Sitzung vom 12.5.1914, S. 8775. Allerdings wurde der Enteignung und Umsiedlung der Dualas nur gegen umfassende Entschädigung zugestimmt. Hausen resümmiert aber völlig zurecht, dass die Gefahr der Zwangsarbeit, die Vietor als faktische Folge der amtlichen Anwerbepraxis voraussah, aufgrund der Entwicklungen im Frühjahr 1914 deutlich größer geworden war, Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 289. 733 J. K. Vietor an Freese vom 24.2.1914, StAB, 7-73-53, Bl. 223.

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„Ich stehe ja leider mit unserer ganzen Konkurrenz wie Katz und Hund, da auf unsere Veranlassung hin die Eingeborenenfrage mit solcher Energie angeschnitten ist, und die Leute, die Plantagen haben, sich furchtbar dadurch beeinträchtigt fühlen.“734

Vietor erlebte nach wie vor eine „energische Pressfehde“ gegen sich,735 dachte allerdings auch nicht daran, es bei der vorübergehenden Beeinflussung des Reichstags zu belassen. Auf seine Veranlassung hin wandte sich Freese am 6.5.1914 in einem umfangreichen Bericht nochmals an Solf, in dem er die Situation in Kamerun durchaus mit Zwangsarbeit verglich. Daraufhin machte Solf in einem Schreiben an Buea vom 22.5.1914 erneut klar, dass er Zwangsarbeit keinesfalls dulden würde.736 Der Kampf ging weiter und ließ keinen Raum zur Entspannung. „Wir führen in dieser Beziehung die allerenergischsten Kämpfe und die Plantagenleiter haben eine Wut auf mich, die einfach unglaublich ist, was mich aber nicht stören kann, da ich ganz genau weiss, dass ich vielmehr für die Zukunft unserer Kolonien tue, wie die, die in ihrer Engherzigkeit nur an ihren momentanen Gewinn denken.“737

Zu den Auseinandersetzungen um die Arbeiteranwerbung kamen auch noch Differenzen mit der Verwaltung wegen der Enteignung der Dualas. In dieser Frage dürfte sich Vietor jedoch im Konsens mit dem Vorstand des Vereins der Nord- und Mittelkamerunleute befunden haben, da sich dieser auf seiner Sitzung vom 7.4.1914 gegen die von Solf erbetene Sympathiekundgebung für die Enteignungen in Duala ausgesprochen hatte. Anders sah es dagegen offensichtlich bei den Vertretern der Handelskammer in Duala aus. Vietor befürchtete eine zustimmende Adresse der Kammer für die Enteignungen und für Unterstaatssekretär Conze, der sich auf der Reise nach Duala befand und wies seinen dortigen Vertreter, Reinhard, an, einer solchen Sympathiekundgebung keinesfalls beizutreten. Eine gleichlautende Weisung hatte auch Brock von der Firma Woermann seinem Vertreter in Duala gegeben. „Herr Freese nannte in einem seiner Briefe die Enteignung einen Schwabenstreich der Regierung, womit sie der Entwicklung um hunderte von Jahren vorauseile. Dass man für 400 Europäer 900 Hektar enteignet, ist doch absolut unsinnig und kostet ein enormes Geld. Auch mit den amtlichen Arbeiteranwerbungen scheinen ja enorme Missstände zu sein und ich bitte Sie, auch alles, was Ihnen hierüber bekannt ist, offen in der Handelskammer zur Sprache zu bringen.“738

Die Auseinandersetzungen um die amtliche Arbeiteranwerbung spiegeln die politisch produktivste Phase im Leben Vietors wider, auch wenn seine Bemühungen

734 J. K. Vietor an F. M. V. [gemeint ist Fritz Vietor, Anm. B.O.] vom 23.[3.1914], StAB, 7,73-53, Bl. 287. 735 J. K. Vietor an Fritz [Vietor] vom 22.4.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 400. In diesem Schreiben äußerte sich Vietor auch über die „himmelschreienden“ Verhältnisse in Duala im Zusammenhang mit den Enteignungen der einheimischen Bevölkerung und machte deutlich: „Wir müssen uns immer klar machen, daß jeder Missbrauch der Eingeborenen sich bitter rächt.“ 736 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 289. 737 J. K. Vietor an Fritz [Vietor] vom 21.5.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 494f. Der Brief ist irrtümlich mit 21.4. bezeichnet, ist aber chronologisch richtig eingeordnet. 738 J. K. Vietor an Reinhard vom 8.4.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 368. Der entsprechende Bericht Freeses über seinen Besuch in Duala findet sich in, StAB, 7,73-53, Bl. 162–164.

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nicht zum gewünschten Erfolg führten.739 Sie stellen Vietors vielfältige kolonialpolitischen Verflechtungen und Einflussmöglichkeiten in ein helles Licht und verdeutlichen sein persönliches Gewicht in Fragen der Kolonialpolitik. Andererseits machen die Auseinandersetzungen aber auch Vietors isolierte Lage bewusst. Die schwache parlamentarische Basis in Form der drei CSP Abgeordneten reichte nicht aus, um nachhaltigen Einfluss nehmen zu können, das umso mehr, als die konservative Grundausrichtung dieser Kleinpartei eine engere Zusammenarbeit etwa mit dem Zentrum nicht möglich machte. Nicht zuletzt verdeutlicht Vietors Isolierung aber auch seine mehr oder weniger singuläre Bindung an kolonialpolitische und christliche Grundüberzeugungen im Kreis seiner kaufmännischen Standesgenossen. Während sich die überwiegende Anzahl der Kaufleute im VWK durch das Angebot Kemners am 3.1.1914 „kaufen“ ließ, da der Kompromiss ihre drohenden wirtschaftlichen Nachteile größtenteils ausschloss, blieb Vietor beharrlich auf seinem Standpunkt, weil es ihm eben nicht nur um wirtschaftliche Vorteile ging, sondern mehr noch um kolonialpolitische Grundsätze, die sowohl ordnungspolitisch als auch weltanschaulich begründet waren. Von der Kongoliga zur Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenschutz Neben den wirtschaftlichen Verbandsebenen und der politischen Mitwirkung über die Christlich–Soziale Partei eröffnete sich für Vietor mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenschutz (DGES) am 5.12.1913 noch eine weitere Möglichkeit, im Sinne seiner kolonialpolitischen und humanitären Vorstellungen öffentlich Einfluss zu nehmen und gegen die geplante amtliche Arbeiteranwerbung mobil zu machen. Die Gesellschaft übernahm in Analogie zum englischen Vorbild die humanitären Aufgaben der am gleichen Tag aufgelösten Deutschen Kongoliga, die neben dem fürsorglichen Aspekt des Schutzes der einheimischen Bevölkerung auch die Durchsetzung des in der Kongoakte von 1885 festgelegten Freihandels im Kongobecken gesucht hatte und sich nach Erreichung der sich hierauf beziehenden Ziele auflöste.740 Während die Verhältnisse im Kongofreistaat 739 Dass die Monate vor Kriegsausbruch einen Höhepunkt in Vietors politischem Leben darstellten, verdeutlicht auch die Tatsache, dass er in dieser Zeit durch zahlreiche Vorträge, Gespräche und „durch tausenderlei Sitzungen in Anspruch genommen“ wurde, E. Meyer an Lenz vom 17.4.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 378. Auch dem Direktor des Deutsch–Evangelischen Volksbundes (DEVB), Stuhrmann, mußte er deutlich machen, dass er momentan kaum Zeit hätte. In den nächsten sieben Wochen hatte er sechs Vorträge zu halten, neben Vorstandssitzungen und anderen Verpflichtungen, J. K. Vietor an Direktor [Stuhrmann] vom 9.4.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 370. 740 Zur Deutschen Kongoliga und zur DGES vgl. Gann, Lewis H. / Duignan, Peter: The Rulers of German Africa, 1884–1914, Stanford (Calif.) 1977, S. 34–36; Rathgen, Karl: Deutsche Kongoliga, in: Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 310; Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenschutz, ebd., S. 300; Schreiber, A. W.: Die deutsche Kongoliga. Tätigkeitsbericht, erstattet auf der Mitgliederversammlung zu Berlin am 17. November 1911, in: Koloniale Rundschau 1911, S. 753–763. „Sie [die Kongoliga, Anm. B.O.] hat den Zweck, im Dienste der Humanität zur Wahrung deutsch-nationaler Ehre und zur Förderung deutscher Handelsinteressen in dem

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und im französischen Teil des Kongo in England bereits 1903 zur Gründung einer Kongoliga geführt hatten (Congo Reform Association), fand die Thematik in Deutschland im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Konzessionsgesellschaften zunächst einen Raum im Kolonialrat. Ernst Vohsen, der nach Gründung der Deutschen Kongoliga zu dessen Vorstand gehörte, nahm in seiner Denkschrift für die Kommission des Kolonialrats zur Landfrage in Kamerun 1902 auch Bezug auf die rechtswidrige Okkupation herrenlosen Landes durch die Kolonialregierung im französischen Kongogebiet, die von deutscher Seite aus beanstandet werden sollte. Er rief den Kolonialrat zudem zum Protest gegen die Verleihung von Monopolen und Privilegien in diesem Gebiet auf, da sie gegen die Kongoakte verstießen.741 Im Plenum des Kolonialrats hatte er Scharlach bereits vorher ausdrücklich widersprochen, der jegliche deutsche Kritik an der Missachtung der Kongoakte durch fremde Mächte für unangemessen hielt, da Deutschland zu wenig tue für die Verwertung seiner Kolonien. Das gleiche Argument führte auch St. Paul Illaire in einer Antwort auf J. K. Vietor 1905 ins Feld, als er dessen Kritik an der Konzessionspolitik des Kongostaates zurückwies. König Leopold hätte wiederholt europäische Unternehmer aufgerufen, sich im Kongogebiet zu engagieren, es sei aber keiner gekommen. Ganz ähnlich sei es auch in den deutschen Kolonien anfangs gewesen, an einer Konzessionspolitik habe daher als „Übergangsstadium“ kein Weg vorbeigeführt.742 Auch den Vorwurf Vietors, König Leopold habe darüber hinaus das gesamte Land zu Kronland erklärt und damit Handelsaktivitäten europäischer Firmen an seine ausdrückliche Genehmigung gebunden, sodass von einem in der Kongoakte festgelegten Freihandel keine Rede mehr sein könne, ließ er nicht gelten. Letztlich sei das ein normaler Vorgang kolonialer Herrschaftsausübung. Unter Hinweis auf bestehende strenge Schutzbestimmungen wies er auch Vietors Vorwurf zurück, bei den bekannten „Greueltaten“ im Kongo handele es sich nicht um Einzeltaten, „sondern um ein zu verurteilendes Regierungssystem.“743 Abgesehen davon, dass die Berichte über derartige Greuel recht unzuverlässig seien, hätte es noch keine Kulturnation geschafft, die alternativlose Erziehung der einheimischne Bevölkerung zur Arbeit ganz ohne Gewaltanwendung verwirklichen zu können. Nur weil es im Kongo „oft recht häufig“ zu Greueln käme, hätte kein sogenannten konventionellen Kongobecken auf die Durchführung und Innehaltung der Bestimmungen der Berliner Kongo-Akte vom 26. Februar 1885 hinzuwirken. Sie erstrebt daher für dieses Gebiet die Erhaltung sowie die moralische und materielle Förderung der eingeborenen Völkerschaften […] die Herbeiführung einer gesunden Boden- und Wirtschaftspolitik durch Beschränkung der Staatsdomänen und Aufhebung der Monopol-Gesellschaften […] Anerkennung der Rechte der Eingebornen auf ihr Land und seine Naturprodukte“, ebd., S. 753. Zur Erfüllung dieses Zweckes wurde neben einer öffentlichen Aufklärungsarbeit durch Publikationen sowie Einflußnahme auf staatliche Institutionen ausdrücklich auch die internationale Verbindung mit „gleichartigen Verbänden“ ins Auge gefaßt, um somit der Forderung nach einer neuen Kongokonferenz Nachdruck verleihen zu können, eine ganz ähnliche Taktik wie sie von der Antialkoholbewegung bereits erfolgreich verfolgt worden war. 741 BAB, R 1001-6993, Bl. 3, Anlage b, S. 9–13. 742 St. Paul Illaire, W. von: Der Kongostaat, in: Die deutschen Kolonien. Monatsschrift des Deutschvolklichen Kolonialvereins 9 (1905), S. 263–269, 263f. 743 Ebd., S. 265f.

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Staat das Recht, dem Kongofreistaat deswegen hineinzureden. Hinter der ganzen Propaganda gegen den Kongostaat steckten für ihn allein englische Interessen, insbesondere die Liverpooler Handelskammer, die er auch als treibende Kräfte der „Kongo Reform Association“ identifizierte. Vietors Vorschlag, dass sich europäische Regierungen um eine Änderung der Kongopolitik bemühen müssten, käme daher nicht in Frage, weil es eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates darstellen würde.744 Vohsen hatte das bereits 1902 im Kolonialrat anders gesehen und die regierungsseitige Kritik an der „maßlose[n] Ausbeutung“ im Kongo für angebracht gehalten.745 Vietor hatte sich damals noch nicht dazu geäußert, lehnte die verkehrte Politik des Kongostaates, deren Fehler die deutsche Kolonialpolitik durch die Konzessionsverleihungen teilweise wiederholt habe, aber in der Kolonialratsdebatte am 18.6.1906 ausdrücklich ab.746 Die Fehler des Kongostaates sah er zum einen im ausbeuterischen Konzessionssystem, zum zweiten in der katastrophalen Behandlung und Entrechtung der einheimischen Bevölkerung und zum dritten in der Beschneidung der Freihandelsrechte anderer Staaten, wie sie durch die Kongoakte 1885 ausdrücklich festgelegt worden waren. Die kolonialpolitischen Grundsätze der Kongoakte, die er in erster Linie Bismarck zuschrieb, waren ihm Vorbild für eine gesunde und gerechte Kolonialpolitik, da sie die Grundsätze der Freihandelspolitik vertraten, die notwendige Verhinderung von Monopolen und Handelsprivilegien an einzelne Marktteilnehmer betonten, aber auch die Pflicht zur „Hebung“ der einheimischen Bevölkerung sowie die Förderung von Mission und Forschung zum Leitgedanken erhoben. „Das ist eine großartige Kolonialpolitik, von dem großen Geiste Bismarcks in die Wege geleitet. Ein Jammer, daß seine Nachfolger so wenig auf die damals vereinbarten Bedingungen gehalten haben!“ 747 Neben dem Kolonialrat hatte sich auch die DKG auf ihrer Hauptversammlung am 4.6.1903 kritisch mit der Kongofrage beschäftigt,748 sich in der Folge jedoch zu keiner entschiedenen Stellungnahme gegen den Kongostaat aufraffen können.749 Die Stimmungslage in der DKG war darüber offensichtlich geteilt und Vie744 Ebd., S. 266–268. 745 KR vom 27.6.1902, BAB, R 1001-6992, Bl. 70, S. 4. Dem Votum Vohsens schloss sich auch Staudinger an. In der Etatberatung zu Kamerun wiederholte Vohsen seine Kritik an der Politik im Kongo, durch die den afrikanischen Bewohnern „jedes Recht an den Produkten des Landes, insbesondere an Kautschuk und Elfenbein abgesprochen“ würde, ebd., S. 7. 746 KR vom 18.6.1906 (ausführliches Protokoll), BAB, R 1001-6985, Bl. 56. 747 Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 55. Bismarcks Charterpolitik in den deutschen Schutzgebieten bewertete er dagegen als „unglücklich“ und „unzeitgemäß“, ebd., S. 19. 748 Rathgen, Kongoliga, 1920 (wie Anm. 740) 749 Das DKG Mitglied Major Schlagintweit äußerte sich in einer oberbadischen DKG Veranstaltung 1905 wohlwollend und anerkennend über den Kongostaat und wies Kritik mit Hinweis auf den Bericht der von König Leopold 1904 eingesetzten dreiköpfigen Kommission, die aus einem Italiener, einem Schweizer und einem Belgier bestand, zurück. Schlagintweit zeigte sich wie St. Paul Illaire überzeugt, dass hinter der internationalen Kritik in erster Linie englische Interessen stünden, die auf eine neue Kongokonferenz zielten, durch die der Kongostaat zerschlagen werden sollte, um den Traum eines sich von Kapstadt nach Kairo ziehenden britischen Kolonialbesitzes zu verwirklichen, wie ihn Cecil Rhodes propagiert hatte. England hätte es beinahe geschafft, auch die DKG in diese Strategie einzubinden, was aber durch die Aufmerk-

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tor war erbost, als ein den Kongostaat betreffender Antrag auf der DKG Hauptversammlung in Königsberg im Juni 1906 wieder zurückgezogen wurde, da König Leopold inzwischen von sich aus Reformen in Aussicht gestellt hatte.750 Vietor sprach auch noch nach der Annexion des Kongostaates durch Belgien 1908 angesichts der Menschenrechtsverletzungen von „dem schmählichen belgischen Kongostaat“.751 Unter tatkräftiger Mitwirkung und dem Vorsitz Vietors wurde daher am 31.3.1910 von hauptsächlich „religiös-human interessierten Kreisen“ die Deutsche Kongoliga ins Leben gerufen. Im Vergleich mit England muss die Gründung der deutschen Sektion freilich als späte Initiative bezeichnet werden, da nach der Annexion des Kongostaates bereits Reformen zum Abbau des „Kongosystems“ eingeleitet worden waren.752 Zu spät auch, um mit internationaler Unterstützung eine neue Kongokonferenz herbeiführen zu können. Bereits 1911 war die englische Sektion der Kongoliga unter gewissen Umständen bereit, die Übernahme des Kongofreistaates durch Belgien zu akzeptieren und auch die deutsche Sektion beschränkte sich nun auf Proteste gegen die nach wie vor inakzeptablen Verhältnisse für die einheimische Bevölkerung im belgischen Kongo.753 Weitaus schlimmer bewertete man jedoch die schlechten Lebensbedingungen der afrikanische Bevölkerung im französischen Kongo, wo sie der Willkürherrschaft der zweiundzwanzig Konzessionsgesellschaften ausgeliefert wären, was einen freien Handel hier unmöglich machte und Verhältnisse wie im Kongofreistaat unter Leopold II. geschaffen hätten.

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samkeit der Münchener DKG Abteilung, zu der er gehörte, vereitelt worden war. Deutschland müsse ein Interesse am Erhalt des Kongostaates haben, um englische Ambitionen zu bremsen, vgl. Deutsche Kolonialgesellschaft, in: Freiburger Zeitung 1 (1905), S. 2. J. K. Vietor, der als Delegierter der Abteilung Bremen nach Königsberg gesandt worden war, fand unter den Delegierten in Bezug auf den Kongostaat und dessen Politik „eine sehr energische Stimmung dafür und dagegen.“ Vietor, der zwar „feste für den Kongostaat agitiert“ hatte, aber als entschiedener Gegner der dortigen Verhältnisse bekannt war, ärgerte sich maßlos, dass dieses Thema einfach von der Tagesordnung abgesetzt wurde, da er insbesondere deswegen die lange Fahrt auf sich genommen hatte, J. K. Vietor (Königsberg) an Hedwig Vietor vom 6. und 7.6.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 6. Zwei Wochen später zeigte sich Vietor im Kolonialrat zufrieden, dass Deutschlands Kolonialpolitik dank des Wirkens des ehemaligen Kolonialdirektors Stuebel nicht ins gleiche Fahrwasser gekommen war wie die des Kongostaates, KR vom 18.6.1906, BAB, R 1001-6985 (ausführliches Protokoll), Bl. 56. Vietor, 1909 (wie Anm. 46). Rathgen, Kongoliga, 1920 (wie Anm. 740). Erster Vorsitzender der Kongoliga war J. K. Vietor, stellv. Vorsitzender Missionsdirektor A. W. Schreiber und Schatzmeister Ernst Vohsen. Zum Vorstand gehörten weiter Prof. Westermann, Prof. G. K. Anton (Jena), Prof. Warneck und Reinhard Mumm, Schwiegersohn Adolf Stoeckers und Parteifreund Vietors. Vietor gab den Vorsitz bereits nach einem halben Jahr wieder auf, blieb aber im Vorstand, Schreiber, Kongoliga, 1911 (wie Anm. 740), S. 753f.; vgl. auch DKZ 26 (1910), S. 439. Denkschrift der Deutschen Kongo–Liga an Se. Exzellenz den Reichskanzler Herrn von Bethmann Hollweg in Angelegenheit des Deutsch–Französischen Marokko-Abkommens, in: Koloniale Rundschau 1911, S. 764–770. Der englische Zweig der Kongoliga hatte der britischen Regierung empfohlen, die Übernahme des Kongostaates durch Belgien nur dann anzuerkennen, wenn die Renkin’schen Reformen vom 22.3.1910 in Bezug auf das freie Pflückrecht der einheimischen Bevölkerung analog zu den Bestimmungen der Kongoakte von 1885 unwiderrufliche Kraft erhalten hätten, ebd., S. 765.

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4 Kolonialpolitisches Engagement bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges „Das bestehende Konzessionssystem schädigt hier in geradezu unerhörtem Maße die Lebensinteressen der Eingeborenen [… ]. Die endlosen Fronarbeiten, verbunden mit den Gewaltakten der Agenten der Gesellschaften, haben sich im französischen Kongo zu einer Art System der Unmenschlichkeit herausgebildet.“754

Nach Abschluss des deutsch–französischen Abkommens vom 4.11.1911 als Ergebnis der zweiten Marokkokrise, forderte die Liga die Aufhebung der Privilegien dieser Konzessionsgesellschaften im nun deutsch gewordenen Teil des vormals französischen Kongogebietes und weitere diplomatische Schritte zur Herstellung der vollen Handelsfreiheit im gesamten Kongogebiet.755 Nachdem sich die englische Sektion der Kongoliga aufgrund fortschreitender Reformen im belgischen Kongo und der Anerkennung der belgischen Annexion des Kongostaates durch die englische Regierung bereits am 16.6.1913 aufgelöst hatte, folgte die deutsche Sektion diesem Beispiel am 5.12.1913. Die Gründung der DGES am gleichen Tag lehnte sich ebenfalls an das englische Vorbild an. Im Gegensatz zur Kongoliga sah die neue Gesellschaft ihre humanitäre Ausrichtung nicht länger auf das Kongobecken begrenzt, sondern dehnte die Verfolgung dieses Anliegens auch auf andere Gebiete aus.756 Besondere Aufmerksamkeit widmete sie dabei der neuerdings stärker ins öffentliche Bewusstsein gedrungenen Problematik der hohen Sterblichkeitsraten unter Teilen der afrikanischen Bevölkerung und der damit verbundenen Entvölkerung ganzer Landstriche.757 Bereits auf der Grün754 Denkschrift (wie Anm. 752), S. 766. 755 Resolution der Deutschen Kongo–Liga betreffend das Marokko- und Kongoabkommen, in: Koloniale Rundschau 1911, S. 763f. Von den ersten Meldungen der deutsch–französischen Verhandlungen während der 2. Marokkokrise zeigte sich die Kongoliga nicht sehr erfreut. Als durchsickerte, dass Frankreich bereit wäre, als Kompensation für Marokko Teile seines Gebietes im Kongobecken an Deutschland abzutreten, zeigte man sich reserviert. Die in Frage kommenden Gebiete seien versumpft, die Bevölkerung von der Schlafkrankheit stark dezimiert und die Probleme bei der Ablösung der privaten Konzessionsrechte nicht absehbar. Deutschland hätte auf einen Ausgleich in Marokko selbst bestehen sollen, etwa Südmarokko, Kompensationen, in: Koloniale Rundschau 1911, S. 593–597. Der Bund deutscher Bodenreformer (BDB) forderte bereits im Vorfeld des Abkommens für den Fall von Landübertragungen die vorherige völlige Ablösung der Konzessionsrechte durch Frankreich, Die deutschen Bodenreformer und die Marokkofrage, in: Deutsche Volksstimme 18 (1911), S. 574–576. Vietor erhoffte sich während der Krise territoriale Zugewinne für Deutschland und bekräftigte auf dem CSP Parteitag 1911 die aktuelle Notwendigkeit, Welt- und Kolonialpolitik zu betreiben, Bericht vom Parteitag, in: Die Arbeit 38 (1911), S. 3f. Die aggressive deutsche Marokkopolitik 1911 interpretierte er daher positiv. „Kolonien aber können wir immer noch wieder gewinnen, wenn wir gut gerüstet und mächtig sind, wie uns das Marokko-Abkommen bewiesen hat“, Vietor, 1913 (wie Anm. 258), S. 51. 756 Rathgen, Kongoliga, 1920 (wie Anm. 739). In England trat die Aborigines Protection Society an die Stelle der aufgelösten Congo Reform Association. Anfang 1914 erfolgte auch in der Schweiz die Ablösung der bis dahin aktiven schweizerischen Kongoliga durch den neugegründeten „Verein zum Schutz unterdrückter farbiger Rassen“, Koloniale Rundschau 3 (1914), S. 162. Die Gründung einer Gesellschaft zum Schutz indigener Völker hatte Missionsinspektor Michael Zahn bereits 1894 dem Ausschuss evangelischer Missionen empfohlen. Der 1893 gegründete Afrikaverein konnte diese Funktion nur sehr unzureichend ausfüllen, vgl. Ustorf, 1989 (wie Anm. 203), S. 280. 757 Koloniallexikon (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 300. Als Vereinsorgan galt forthin die bereits 1909 im

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dungsveranstaltung am 5.12.1913, an der Vietor teilnahm, wurde eingehend über die Entvölkerungstendenzen in Deutsch–Ostafrika gesprochen, aber auch über die Gefahren staatlicher Arbeitervermittlung.758 Vietor gelang es, den Verein, der ein breites und einflussreiches gesellschaftliches Spektrum abdeckte und auch katholische Kreise erreichte, in seine Agitation gegen die amtliche Arbeiteranwerbung in Kamerun einzubinden.759 In einer Eingabe des geschäftsführenden Ausschusses vom 6.2.1914 schaltete sich die DGES in die Diskussion um die Arbeitersituation in Kamerun ein, zwar ohne explizite Kritik an der geplanten amtlichen Anwerbung, aber mit Hinweis auf den festzuhaltenden Grundsatz der Freiwilligkeit. Tenor der Eingabe war die Forderung, dass der Plantagenbau im Einklang stehen müsse mit der Zahl verfügbarer Arbeitskräfte. Die Anwerbung weiter entfernter Arbeiter ohne Familienanhang müsse in jedem Fall unterbunden werden, da sie zu einem Auseinanderreißen von Familien und somit zu geringeren Geburtenraten führe. Neue Plantagen dürften nur noch zugelassen werden, wenn im Umfeld ausreichend Arbeitskräfte vorhanden seien, wo das nicht gegeben sei, müsse man zumindest darauf bestehen, dass ganze Familien im Umfeld der neuen Plantagen angesiedelt würden und ausreichend eigenes Land erhielten. Auf die Einhaltung hygienischer Standards müsse bestanden werden. Über Gesundheitsverhältnisse und Sterblichkeit seien „fortlaufend Erhebungen anzustellen“. Im Übrigen sei aber den Volkskulturen, wo immer möglich, der Vorzug zu geben, Anwerbungen dürften nur dann erfolgen, wenn sie nicht zu einer Zerstörung der Eigenwirtschaft führten.760 Die Eingabe bekannte sich ausdrücklich zur Zuverlässigkeit der Berichte von Pater van der Burgt und bekräftigte ihre Warnung vor Tendenzen der Entvölkerung auch in KaZusammenhang mit der Gründung der Kongoliga ins Leben gerufene Koloniale Rundschau. Entsprechend wurde die Bezeichnung nun erweitert: Koloniale Rundschau. Monatszeitschrift für die Interessen unserer Schutzgebiete und ihrer Bewohner, zugleich Organ der Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenschutz. 758 J. K. Vietor an Mumm vom 13.12.1913, StAB, 7,73-52, Bl. 268. 759 Zu den Gründungsmitgliedern zählten u.a. Matthias Erzberger, Oberhofprediger Exz. Dryander, die Gouverneure a. D. Leutwein und Zech, Vietors Parteikollege Mumm, Dr. Olpp, Direktor des Deutschen Instituts für ärztliche Mission, J. K. Vietor und Konsul Vohsen, Koloniale Rundschau 1 (1914), S. 5. Den geschäftsführenden Ausschuss bildeten Chr. v. Bornhaupt (1.Vors.), Miss.dir. A.W. Schreiber (stellv.Vors.); Konsul a.D. Vohsen (Schatzmeister), Prof. Westermann (Schriftführer), ebd., S. 1. Im Januar 1914 konnten weitere 30 Eintritte verzeichnet werden, darunter Pater van der Burgt, Dr. v. Bezzel, Präsident des Protestantischen Oberkonsistoriums, Nicolaus Blum, Generalsuperior der Steyler Mission, Theodor Bechler, Missionsinspektor der Herrnhuter Brüdergemeinde, Prof. Dr. Mirbt, Prälat Chr. Römer, Dr. Friedrich Spieker, Direktor der Berliner Missionsgesellschaft, Eduard Woermann, Koloniale Rundschau 2 (1914), S. 102f. In der Januarliste der neuen Mitglieder wird statt E. Woermann irrtümlich C. Woermann angegeben. Auch der Abgeordnete der Deutschen Fortschrittlichen Volkspartei, Dr. David Felix Waldstein gehörte seit Februar 1914 zur DGES, womit drei Gesellschaftsmitglieder zur Budgetkommission des Reichstages gehörten, der Mumm und Erzberger am 18./19.2.1914 ihre Berichte über die Arbeitersituation in Kamerun vorlegten, Koloniale Rundschau 3 (1914), S. 159, vgl. auch Gründer, 1982 (wie Anm. 9), S. 238; Gann, Duignan, The Rulers, 1977 (wie Anm. 739), S. 35f. 760 Eingabe an den Reichstag vom 6.2.1914, abgedruckt in Koloniale Rundschau 3 (1914), S. 155–157.

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4 Kolonialpolitisches Engagement bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges

merun mit einer Aussage Staatssekretär Solfs vor der Handelskammer in Südkamerun im Spätsommer 1913: „Das, was ich in Jaunde und Ebolowa auf der Landstrasse gesehen habe, hat mich auf das Tiefste bekümmert. Das Familienleben geht zu Grunde, Eltern, Gatten und Kinder sind getrennt. Es werden keine Kinder mehr geboren, da die Frauen die größte Zeit des Jahres von ihren Männern getrennt sind. Das sind Missstände und Schwierigkeiten, die aufhören müssen.“761

Die Eingabe fand in der Budgetkommission am 18.2.1914 „freundliche“ Aufnahme und lag inhaltlich ganz auf der Linie von Vietor. Solf bekannte sich ausdrücklich zu den Forderungen der DGES und äußerte Sympathie für die neu gegründete Gesellschaft, konnte aber keine Zusicherungen in Bezug auf Zulassungsbeschränkungen für neue Plantagen geben.762 Möglicherweise ermutigt durch die positive Reaktion Solfs legte der geschäftsführende Ausschuss der DGES dem Reichstag und dem Kolonialamt kurz darauf eine Ergänzung zu seiner Eingabe vom 6.2.1914 vor. Angesichts einer Kindersterblichkeit in Kamerun von bis zu 47 % drängte er hierin auf effektive Maßnahmen gegen Geburtenrückgang und Kinder-sterblichkeit und schlug folgende Schritte dazu vor:763 1. Verbot von Abtreibungen, Kinderaussetzungen, Kinderheiraten, Kindesmord 2. Einwirken auf die Bevölkerung, die Polygamie zurückzudrängen, ggf. durch gesetzliche Vorschriften oder die Einführung hoher Zwangs-Mitgiften 3. Schaffung ausreichender Geburtshilfe und Pflege von Mutter und Kind nach der Geburt. Dazu gehöre auch die Ausbildung von Geburtshelferinnen und Heilgehilfinnen. Insgesamt dürften beide Vorstöße der DGES durchaus Wirkung gezeigt haben, wenngleich die Tonart moderat blieb und eine eindeutige Stellungnahme gegen die amtliche Arbeiteranwerbung unterblieb. Karin Hausen spricht daher nur von einer „unkämpferische[n] mittlere[n] Position“, führt diese jedoch zu Unrecht auf eine Unterwanderung der DGES durch dezidierte „Zwangsarbeiter“ wie Rohrbach, Kemner und Ebermaier zurück.764 Ebermaier und Kemner traten zwar beide im Februar 1914 bei, dürften aber noch keinen Einfluss auf die Eingabe vom 6.2.1914 gehabt haben, zumal keiner von beiden zum geschäftsführenden Ausschuss gehörte. Rohrbach gehörte im Februar 1914 noch nicht zur DGES.765 Wenn auch 761 Ebd., S. 156. 762 Ebd., S. 161. 763 Eingabe der DGES an den Reichstag und das RKolA, o. D., abgedruckt in: ebd., S. 129–132. Karin Hausen hat, wohl wegen des nicht chronologischen Abdruckes in der Märzausgabe der Kolonialen Rundschau, in ihre Bewertung der DGES nur diese Ergänzung zur Eingabe vom 6.2.1914 einfließen lassen und die eigentliche Eingabe übersehen. Sie kommt daher zu einem recht schwachen Urteil über die Wirksamkeit der DGES, vgl. Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 287. 764 Hausen, 1970 (wie Anm. 163), S. 287. 765 Koloniale Rundschau 3 (1914), S. 163f. Neben Wilhelm Kemner und Ebermaier traten im Februar 1914 auch Gouverneur a. D. von Rechenberg sowie der Parteifreund Vietors, der Reichstagsabgeordnete Franz Behrens bei.

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noch nicht für Februar 1914 von einer wirksamen Unterwanderung der DGES durch pflanzerfreundliche Kreise gesprochen werden kann, ist der Versuch dazu in den ersten Monaten nach der Gründung in der Tat deutlich erkennbar. Vietor erkannte diese Gefahr bereits früh und als er Ende Februar 1914 das „Vergnügen“ hatte mit „mit unserem Hauptwidersacher Herrn Kemner“ zusammen zu einem Treffen des DGES in Berlin zu fahren, war für ihn klar, dass er an dieser Sitzung „keinesfalls fehlen“ durfte.766 In den Folgemonaten bis zum Ausbruch des Krieges brachte die DGES keine weiteren wirksamen Proteste mehr auf den Weg, möglicherweise um die Konsequenzen aus der Reichstagsdebatte im März abzuwarten, die ja immerhin im Sinne der Gesellschaft erfreulich verlaufen waren, möglicherweise aber auch, weil die Unterwanderungsstrategie allmählich Wirkung zeigte.

766 J. K. Vietor an Claus [Freese] vom 20.2.14, StAB, 7,73-53, Bl. 218–222. Dass Vietor Kemners Eintritt in die DGES als den Versuch einer Unterwanderung interpretierte, machte er auch gegenüber Mumm klar: „Die Gegenpartei wehrt sich ja auch kräftig und das Interessanteste ist, dass Herr Kemner, wie ich am Sonnabend hörte, sich als Mitglied des Vereins zum Schutze der Eingeborenen gemeldet hat“, J. K. Vietor an Licenciat [Mumm] vom 23.2.1914, ebd., Bl. 210.

5 DAS HÖHERE ZIEL: CHRISTLICHES SENDUNGSBEWUSSTSEIN UND TÄTIGER GLAUBE LEITBILD DES CHRISTLICHEN UNTERNEHMERS Als Vietor 1888 sein eigenes Geschäft in Klein Popo eröffnete, rief ihn sein Vater zu sich und sprach ihm ins Gewissen: „Wenn du jetzt ein Geschäft anfängst, dann ist es ja sehr gut möglich, dass du einmal reich wirst. Siehe zu, dass du später nie vor deinem Geld rot zu werden brauchst.“1 Da sich Vietor als „Erziehungsprodukt“ seines Vaters betrachtete, der ihm beides, die „Theorie der Heilslehre und die praktische Ethik des Christentums“2 überzeugend vermittelt hatte, gab es für ihn gar keine Frage, sein Geschäft von Anfang an auf eine christliche Grundlage zu stellen. Im Laufe der Zeit weitete sich seine zunächst auf sein eigenes Geschäft beschränkte christliche Grundlage zu einem gesellschaftlichen Sendungsbewußtsein aus. In der Anwendung christlicher Grundprinzipien im Geschäftsleben sah er nicht nur einzelunternehmerische Vorteile, sondern hielt sie auch für eine gesunde Volkswirtschaft für zwingend erforderlich. In seinem mehrfach gehaltenen Vortrag „Evangelium und Erwerbsleben“, in dem er seine christlich fundierten unternehmerischen Überzeugungen sowie seine volkswirtschaftlichen und ethischen Konsequenzen daraus programmatisch vorlegte, folgte er daher dem Prinzip vom Einzelnen aufs Ganze zu schließen.3 Was sich im lokalen Gemeinwesen und im einzelnen Unternehmen bewähre, müsse auch Ansatz für die Wirtschafts- und Sozialordnung eines ganzen Staates sein. An den Anfang seines Vortrags stellte er die Thesen Charles Monroe Sheldons, die er in seinem Bestseller „In seinen Fußstapfen“4 aufstellt und als Reaktionen einer Erweckung in einer amerikanischen Kirchengemeinde beschreibt. Sheldon spricht in dem Buch über den Preis wahrer Jesus-Nachfolge, den verschiedene Gemeindeglieder bezahlen mußten, nachdem sie sich entschlossen hatten, ein Jahr nach dem täglichen Grundsatz zu leben: „Was würde Je1 2 3

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Vietor, J. K.: Manuskript zum Vortrag „Evangelium und Erwerbsleben“, o. O. [1911], VPAH, Konv. 4, Teil 4, S. 3. Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 3. „Mir liegt es ob, zunächst den Beweis zu erbringen, daß man als Kaufmann erfolgreicher sein Geschäft nach streng christlichen Grundsätzen betreiben kann, als ohne sie, und wenn mir das gelungen ist, dann wird es mir ein Leichtes sein, Ihnen nachzuweisen, wie es sich im wirtschaftlichen Leben eines jeden, auch unseres Volkes recht (sic), wenn man die christlich-sittlichen Pflichten im Erwerbsleben aus den Augen läßt“, Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 1. Vietor hielt diesen Vortrag erstmals 1909 und in der Folge, jeweils ergänzt um aktuelle Entwicklungen, wiederholt und vor wechselndem Publikum bis in die 1920er Jahre hinein. Etwa 1911 wurde der Vortrag von der Geschäftsstelle der CSP als Broschüre herausgegeben. Das 1896 geschriebene Buch erschien 1899 erstmals in Deutsch und erlebte bis 1910 mehrere Auflagen. Bis heute wird es von verschiedenen christlichen Verlagen aufgelegt, zuletzt im Jahre 2009 (Schulte & Gerth, Aßlar).

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sus tun?“ Der Tenor des Buches läuft darauf hinaus, daß sich ernsthafte Christen einer strengen Gesinnungsethik zu unterwerfen hätten, die nicht zurückschreckt vor sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Nachteilen. Auch der gesellschaftliche Rückzug sei zweifelhaften Verhältnissen vorzuziehen. Das Buch berichtet entsprechend davon, dass einige Gemeindeglieder ihren Arbeitsplatz verloren, weil sie sich weigerten, länger unlautere Methoden anzuwenden. Ein Zeitungsverleger erlitt einen starken Umsatzeinbruch, weil sich der Fokus seiner Berichterstattung radikal verändert hatte. Wenngleich sich Vietor prinzipiell begeistert von dem Buch zeigte,5 so widersprach er doch vehement der Entscheidung der beiden Hauptfiguren des Buches, zweier Pastoren, ihre gut bezahlten Pfarrstellen in einem wohlhabenden Viertel Chicagos aufzugeben, um in einem verrufenen Stadtviertel Innenmission zu betreiben. Die Aufgabe ihrer einflußreichen Stellungen wertete er als Weigerung, um Jesu willen zu leiden und hielt die Aufgabe ihrer einflußreichen Position für „krankhaft“. Seiner Meinung nach hätten sie viel mehr erreichen können, wären sie in ihren Stellungen geblieben. „Verlangt der Herr nicht, daß wir ihm gerade an dem Platz dienen sollen, wo er uns hingestellt hat?“ Auch die plötzliche Wendung des beschriebenen Zeitungsverlegers und die spontanen 180 Grad Wendungen von anderen dargestellten Unternehmern kritisierte er mit dem Argument, alles müsse sich allmählich entwickeln, wolle man auf gesunde Art und Weise die Gesellschaft verändern. Während er die in Sheldons Buch beschriebene Leidensbereitschaft einer ernsthaft gelebten Gesinnungsethik zwar durchaus begrüßte, forderte er andererseits und komplementär zu Sheldon den langen Atem einer notwendigen „Verantwortungsethik“ und behielt sich die Entscheidungsfreiheit vor, je nach Situation, auf die ein oder andere Weise zu entscheiden.6 Gesellschaftlicher Rückzug und das „Feld anderen überlassen“ kam für ihn jedenfalls nicht in Betracht. Das pietistische Leitmotiv des „Stillen im Lande“, der sich aus den Angelegenheiten der Welt heraushält, da sie ihn mit Sünde und Ungerechtigkeit in Verbindung bringen könnten, wollte er keinesfalls übernehmen, vielmehr lehnte er übertriebene Bigotterie und unnatürliche Weltflucht entschieden ab,7 ebenso wie eine Trennung von Geschäftsleben und Glaubensleben, wie er das an manchen seiner als 5

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Vietor hatte das Buch wohl zuerst 1904 gelesen und dann intensiv über die praktische Anwendung während seiner Inspektionsreise nach Afrika im gleichen Jahr nachgedacht. Er versuchte das Motto „Was würde Jesus tun?“ dadurch umzusetzen, daß er allen Menschen besonders freundlich begegnete, was bei den Schwarzen hervorragend ankam, von den Weißen dagegen relativ gleichgültig aufgenommen wurde, J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 2.10.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Zu Max Webers Terminologie der verschiedenen ethischen Grundeinstellungen, vgl. ders.: Politik als Beruf, Berlin10 2010. Die dem Buch zugrundeliegende Vortragsmitschrift einer Rede Webers erschien erstmals 1919. Nachdem er von einer Basler Missionarin keine befriedigende Antwort auf seine Frage bekommen hatte, warum die Basler Schwestern immer „möglichst anspruchslos gekleidet seien“, notierte er an seine Frau: „Nichtchristliche Leute sind oft unendlich viel liebenswürdiger und angenehmer im Umgang wie die Christen, besonders die, die sich für extra begnadet halten und immer glauben, sich so benehmen zu müssen, daß sie überall anstoßen und [das] dann als eine Last ansehen, die der Herr ihnen auferlegt hat, wenn sie dann verutzt, verhohnepiepelt und angeulkt werden“, J. K. Vietor (Henny Woermann) an Hedwig Vietor vom 29.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10.

Leitbild des christlichen Unternehmers

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christlich geltenden Kollegen beobachtete. Als ihm ein befreundeter Pfarrer aus dem Ruhrgebiet mitteilte, dass die christlichen Unternehmer hier bei den Arbeitern den schlechtesten Ruf hätten, war er entsetzt: „Das widerspricht der ganzen Art des Christentums.“8 Dieses Auseinanderklaffen von christlichem Bekenntnis und praktischer Lebensführung war für ihn im letzten Grund auch die Ursache für die Niederlage im Weltkrieg, da es das Zusammengehörigkeitsgefühl des deutschen Volk untergraben hatte. „Der Hauptfehler unserer Zeit lag gerade daran, daß wir Christi Wort: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“, im Wirtschaftsleben allzusehr außer der Acht gelassen haben.“9 Für Vietor war klar, dass sich seine christliche Grundeinstellung auch im unternehmerischen Handeln zu bewähren hatte. Christliches Leben mußte für ihn an der Anwendung klarer Prinzipien im Lebens- und Geschäftsvollzug ablesbar sein. Nur dann könne man von einer christlichen Firma sprechen. Diese Grundsätze seiner Geschäftsführung führten unter der weißen Bevölkerung Togos dazu, seine Firma die „fromme Firma“ zu nennen.10 Das war für Vietor alles andere als ein Beigeschmack, eben das wollte er erreichen, als christlich geführte Firma erkennbar werden. Kolonialstaatssekretär Solf gegenüber machte er Ende Mai 1915 klar, daß sein christlicher Geschäftsansatz kein reiner Idealismus sei, sondern Teil seiner kolonialpolitischen Zielsetzung. Er hätte als Afrikakaufmann ganz klein angefangen und stelle jetzt die zweitgrößte Afrikafirma. Das sei keine Folge eines Idealismus, „sondern der Versuch die christliche Anschauung in die [Tat] umzusetzen und das sei so außerordentlich wichtig.“11 Tatsächlich zieht sich der Versuch, eine dezidiert christliche Firma zu führen durch die Firmenbiographie hindurch. Bereits auf der Inspektionsreise 1894/95 hatte Juan Madeiros in der Verabschiedungsrede für Vietor die Quintessenz dessen zusammengefaßt, was er von ihm gelernt hatte: „Christenthum und Civilisation, Civilisation und Christenthum.“12 Den geschäftlichen Erfolg und den Aufstieg seines Firmenkomplexes zu einem der führenden deutschen Handelshäuser im Westafrikageschäft erklärte sich Vietor 8

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Vietor, J. K.: Vortrag über das Christentum [1925], o. O., VPAH, S. 1. Im Bibelkreis, den Vietor lange Zeit regelmäßig besuchte, machte er die gleiche Erfahrung. Während hier das Studium der theoretischen Grundlagen des Glaubens im Vordergrund stand, vermied man meist die Besprechung der praktischen Anwendung. Wenn Vietor selbst den Abend leitete, stellte er aber genau das gerne in den Mittelpunkt. Typisch für die Reaktionsmuster war dann meist der Standpunkt, den eine in der Schule unbeliebte Lehrerin einnahm, Sie beharrte darauf, daß es gleichgültig wäre, was andere Leute über sie sagten, wenn nur ihre Beziehung zu Gott in Ordnung wäre. „Diesen Standpunkt kann ich durchaus nicht teilen. Ich meine gerade umgekehrt. Mein Verhältnis zu Gott geht nur ihn und mich an. Der springende Punkt ist im Gegenteil: Wie beurteilen mich die Leute, mit denen ich zusammen bin, wenn ich mich auch in der Oeffentlichkeit als Christ zu benehmen suche?“, ebd. Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 2. Gründer, Horst (2004): Geschichte der deutschen Kolonien, S. 127f. Otto Diehn gibt an, der Begriff „fromme Firma“ gehe auf den Bezirksamtmann von Lome-Stadt, Oberst Schlettwein, zurück. Nach Schlettwein wurde dieser Begriff allerdings nur von den Europäern in Togo benutzt, nicht von der schwarzen Bevölkerung, Otto Diehn, 1956: Kaufmannschaft, S. 42. J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 31.5.1915, VPAH, Konv. 1,Teil 6. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 19.12.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 2.

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mit dem Segen Gottes und der Anwendung christlicher Grundprinzipien im Geschäftsleben. Er sah sich darin vom Leipziger Nationalökonom Prof. Biermann bestätigt, der um 1905 in seinem Bremer Vortrag, „Konzentration des Kapitals“, darauf hingewiesen hatte, dass in der Geschichte häufig die „streng christlichen“ Kaufleute, Calvinisten, Hugenotten, Quäker und Pietisten, ungewöhnlich erfolgreich gewesen seien. Diese Erkenntnis der akademischen Forschung bestätigte ihm nur die Richtigkeit des biblischen Votums, nachdem die Gottesfurcht der Anfang wahrer Weisheit ist (Sprüche 9,10).13 Zu Beginn seiner Geschäftstätigkeit geriet er jedoch wiederholt in Zweifel, ob er seine betont christlichen Anschauungen auf Dauer durchhalten könne. Letztlich fühlte er sich allerdings dauerhaft der Erziehung seines Vaters verpflichtet, dessen gesamte ethisch-religiöse Lebensanschauung ihn in seinem Handeln zeitlebens prägte und aus der er Kraft und Hoffnung schöpfte: „Davon bin ich innerlich überzeugt, daß mein Christentum meine ganze Kraft und Stärke ist und daß ich ohne es nichts leisten könnte und vor allen Dingen, daß ich im Allgemeinen so einen guten Mut habe, das danke ich meiner Überzeugung nach vor allen Dingen dem Bewusstsein, daß mir nichts passieren kann, was der Herr nicht für gut für uns befunden hat.“14

In der Tradition des Leitbildes vom „Ehrbaren Kaufmanns“ stehend,15 äußerte sich für ihn eine christliche Geschäftsführung in der Befolgung folgender Grundprinzipien: 1. Einstellung christlicher Mitarbeiter Von Anfang an achtete Vietor darauf, nur christliche Mitarbeiter einzustellen, „die innerlich ebenso denken wie man selbst.“16 Dieser innere Gleichklang und die werteorientierte Einstellung seiner weißen Mitarbeiter war ihm wichtiger, als lediglich intelligente und tüchtige Geschäftsleute zu gewinnen, bei denen infolge fehlender christlicher Verankerung die Gefahr bestand, dass sie ihre Gaben nicht voll 13

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Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 1. Die Bestätigung dieser biblischen Regel im Alltag führt er denn auch als wahren Grund seines Glaubens an: „Ich bin kein Christ, weil mein Vater mich so lehrte, oder weil es so in der Bibel steht. Ich bin ein Christ, weil ich sehe, dass im praktischen Leben die Gottesfurcht aller Weisheit Anfang ist“, J. K. Vietor: Vortrag vor einem christlichen Bremer Jünglingsverein [1906], o. O., VPAH, S. 13. J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 8.12.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Oswald Bauer hielt für den „Ehrbaren Kaufmann“ ganz ähnliche Prinzipien für grundlegend wie Vietor: 1. die Fähigkeit, ein lukratives Geschäft notfalls auch ausschlagen zu können sowie das Allgemeinwohl im Auge zu haben. 2. Die „loyale Konkurrenz“, die im Konkurrenten zuerst den Menschen sieht und statt ihm zu schaden, auf seine eigene Kraft vertraut. 3. Der von Achtung und Menschlichkeit geprägte Umgang mit den eigenen Mitarbeitern. 4. Bei allem wirtschaftlichen Handeln auch die Verantwortung für die Armen in der Gesellschaft mittragen, vgl. Bauer, Oswald: Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, Dresden 1906, S. 123, 133–137, 188; 103–106; 89f.; 180f. Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 5. Es gab allerdings auch Ausnahmen. Sein Mitarbeiter in Agome Palime, Schwarz, hatte „als Demokrat usw. natürlich ganz andere Anschauungen als ich.“ Er konnte von ihm natürlich nicht verlangen, „daß er Andachten hielte und daß er vor Tisch betete“, aber Vietor machte ihm klar, daß er es „nicht leiden könne, daß er über das Christentum sich lustig [mache] und spotte“, J. K. Vietor (Agome Palime) an Hedwig Vietor vom 13.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9.

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einsetzten oder in die eigene Tasche wirtschafteten, ein freizügiges Leben mit einheimischen Frauen führten, dem Alkohol übermäßig zusprachen oder sich der Spielsucht hingaben. Das wichtigste war daher für ihn, „dass ein Mann, wenn er vielleicht auch kein Ueberflieger ist, treu und zuverlässig seine Arbeit tut.“17 Charakter kam für ihn vor Kompetenz. Seinen Nachwuchs suchte er sich schwerpunktmäßig aus christlichen Familien aus und nahm sie zunächst in die Lehre ins Bremer Stammhaus. Seine Arbeitsverträge enthielten von Anfang an einen Passus, der bestimmte, dass der Verkehr mit afrikanischen Konkubinen, der in Westafrika weit verbreitet war, wiederholte Trunkenheit und „Hazardspielen“ Entlassungsgründe wären.18 Dieser Absatz war insbesondere in der Gründungsphase des eigenen Unternehmens stark umstritten, erwies sich für ihn jedoch auf Dauer auch ökonomisch als sinnvoll.19 Sexuelle Übergriffe und Konkubinate kamen auch in Vietors Niederlassungen gelegentlich vor, wurden aber in der Regel streng geahndet.20 Bei 17 18

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Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 5. Gründer weist darauf hin, daß trotz aller Eindämmungsversuche „doch über 90 Prozent der Europäer in den Kolonien in Konkubinatsverbindungen“ lebten, vgl. Gründer, Horst, Zum Stellenwert, 2004, S. 27–41, 37. Vietors Verbot der Konkubinatsverhältnisse war gerade in der Anfangszeit seines Geschäftes, also Ende der 1880er Jahre, eine singuläre Erscheinung, bedenkt man, dass zu dieser Zeit selbst im später so forciert auf Segregation bestehenden Südwestafrika, der Landeshauptmann, Curt von François, in einem Konkubinatsverhältnis mit einer Schwarzen lebte und auf Verhältnisse dieser Art kaum geachtet wurde, vgl. Kundrus, Birthe: „Weiß und herrlich“. Überlegungen zu einer Geschlechtergeschichte des Kolonialismus, in: Friedrich, Annegret (Hrsg.): Projektionen – Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur. Beiträge der 6. Kunsthistorikerinnen-Tagung in Trier 1995, Marburg 1997, S. 41–50, 44. Für die Zeit nach der Jahrhundertwende gilt das jedoch nicht mehr, hier näherte sich die öffentliche Meinung zusehends Vietors restriktivem Kurs in dieser Frage an. Die Praxis in den Kolonien dürfte sich deshalb jedoch kaum verändert haben. Nach Meldungen, die Vietor zugetragen wurden, waren „die meisten [Europäer] hier geschlechtskrank“, J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 19.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Auch nach seiner eigenen Beobachtung hatten selbst viele der verheirateten Franzosen und Engländer in Westafrika eine einheimische Konkubine, J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 18.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. „Damals habe ich die Tragweite dieses viel angefochtenen Paragraphen wohl selbst noch gar nicht genügend erkannt, aber heute halte ich es für das wirtschaftlich Klügste, daß ich jemals getan habe, denn dadurch habe ich ganz von selbst meinem Geschäft eine dauernd christliche Grundlage gegeben, da niemand, der nicht innerlich so denkt wie ich, einen solchen Contract unterschreibt“, Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 4. Als Vietor von Otto Lohmann hörte, ein Mitarbeiter in Klein Popo, Kemmer, solle sich „ein Frauenzimmer gehalten“ haben, stand für ihn die Kündigung fest: „Wenn dem so ist, fliegt er unter allen Umständen sofort, denn an und für sich will ich es nicht dulden, und 2. ist [es] doch eine sehr grosse Unverschämtheit, dass er es tut, während ich selbst hier bin“, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 24.10.1897, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 4. Von Kemmer hörte er dann, daß auch die Mitarbeiter Lachner und Schreiber in Konkubinaten mit schwarzen Frauen gelebt hatten. Von beiden wollte er sich daraufhin trennen, vgl. J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 5.11.1897, ebd. Nachdem die beiden Mitarbeiter Müller und Krückeberg sexuellen Kontakt mit einer Minderjährigen gehabt hatten, wurden sie sofort entlassen: „Es ist ja einfach eine gemeine Schweinerei“, J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 23.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Nach Vorwürfen, alle Vietor Mitarbeiter in Anecho würden sexuelle Kontakte zu einheimischen Frauen pflegen, führte Vietor mit

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afrikanischen Mitarbeitern hingegen drang Vietor mit seinen Moralvorstellungen oft nicht durch. Selbst sein enger Freund Robert Sanvee enttäuchte ihn mit seiner polygamen Lebenspraxis.21 2. Gute Behandlung und Bezahlung Neben der sorgfältigen Auswahl neuer Mitarbeiter nach religiös-ethischen Kriterien legte Vietor besonderen Wert auf gute Behandlung und Bezahlung seiner Angestellten, „damit sie Grund zur Zufriedenheit haben.“22 Eine von britischen Unternehmern wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage geforderte Lohnsenkung von 5 % hielt er für das Verkehrteste, was man machen könnte, zumal die Fehler ganz woanders zu suchen seien. Ebenso hielt er die Verweigerung von Mindestlöhnen, wie sie im Kalibergbau und für Heimarbeiter gefordert wurden, für einen großen Fehler. Christen müßten besonders laute Fürsprecher für ordentliche Löhne sein und allein schon wegen der Teuerungsrate für Lohnsteigerungen eintreten. Das übliche Argument, niedrige Löhne wären aus Wettbewerbsgründen gegenüber ausländischer Konkurrenz notwendig, verwarf er und machte es mitverantwortlich für soziale und gesellschaftliche Verwerfungen. Höhere Löhne machten für ihn auch deswegen Sinn, weil sie die Binnennachfrage stärkten und somit auch der verarbei-

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jedem Einzelgespräche, die jedoch das Gegenteil ergaben. Nur ein Mitarbeiter, Riechstein, war nicht zum Rapport erschienen, J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 12.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Im Allgemeinen scheinen sich die Mitarbeiter aber an Vietors Wertvorstellungen gehalten zu haben. Bei seiner Abreise aus Afrika 1894/95 bedankte er sich für den entsprechend gelebten Glauben: „Vor allen Dingen ist es mir auch eine grosse Freude, daß ich von Ihnen Allen gesehen habe, daß Sie sich eines solchen ordentlichen Lebenswandels befleissigen und daß Sie sich alle bemühen, auch im Leben Ihr Christenthum zu beweisen. Lassen Sie mich Sie bitten und so ernst und eindringlich gemahnen, wie ich nur kann: bleiben Sie dabei“, Circularbrief von J. K. Vietor an die Stationen Klein Popo, Grand Popo, Quidah [1894], VPAH, Konv. 2, S. 2. „Und dann das Christentum der Schwarzen! Ich habe mit Robert [Sanvee] wieder sehr ernstlich gesprochen, daß ich ganz traurig sei, daß mein Einfluß auf ihn und die anderen Schwarzen in 25 Jahren es nicht so weit gebracht hätte, daß sie in anständiger Ehe leben könnten und wie immer tat er dann sehr geknickt.“ Viele seiner schwarzen Mitarbeiter waren engagierte Mitarbeiter in der Kirchengemeinde und eifrige Kirchgänger. In Grand Popo gingen die meisten sonntags drei bis vier mal in die Kirche, hatten täglich früh morgens Gebetsstunde und abends Bibelkreis, „aber bis auf einen können sie die Frauenzimmergeschichten doch nicht lassen. Eine eigentümliche Welt“, J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 18.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Robert Sanvee hatte bei seiner Konversion zum Christentum erst zwei Frauen, von denen er nach Vietors Ermahnungen eigentlich eine wegschicken wollte. Stattdessen nahm er sich während einer längeren Abwesenheit Vietors jedoch noch eine dritte Frau, vgl. J. K. Vietor: Vortrag vor einem christlichen Bremer Jünglingsverein [1906], VPAH, S. 12f. Die Problematik der polygamen Neigung christlicher afrikanischer Clerks betonte auch Missionar Pfisterer aus Atakpame als er am 5.12.1905 nach Bremen meldete: „Fast (ich glaube ich könnte das Wörtchen „fast“ weglassen) jeder Clerk hat neben seiner rechtmäßigen Frau eine oder mehrere Concubinen“, zit. bei Azamede, Kokou: Transkulturationen? Ewe-Christen zwischen Deutschland und Westafrika, 1884–1939 (Missionsgeschichtliches Archiv; 14), Stuttgart 2010, S. 87. Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 7, vgl. auch Gründer, 2004 (wie Anm. 10), S. 127f.

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tenden Industrie zu Gute kämen. Sein Grundsatz war: Arbeit muß sich lohnen.23 Die Rentabilität und internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens hing für ihn ohnehin mehr von günstiger Rohstoffbeschaffung, sinnvoller innerbetrieblicher Organisation sowie Erhöhung der Produktivität und Leistungsfähigkeit der Arbeiter ab, als von der Lohnhöhe.24 Ein gutes Lohnniveau für seine Angestellten im Afrikageschäft versuchte Vietor unter anderem durch Gewinnbeteiligungen der leitenden Mitarbeiter sicherzustellen. Je nach Alter und Können lag die Gewinnbeteiligung von Niederlassungsleitern zwischen 5 und 25 %. Damit konnten selbst junge Leute in guten Jahren bereits gutes Geld verdienen. Jedem bewährten jungen Mann wurde freigestellt zu heiraten.25 In dem Fall übernahm die Firma die Reise23

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Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 10f. Auch bei seiner Antrittsrede als Präses der Handelskammer Bremen wies er vor dem Publikum der hier versammelten Kaufleute im Hinblick auf die Qualität der Arbeit und die stärkere Binnennachfrage auf die Vorteile ständig steigender Löhne hin, J. K. Vietor: Vortrag vor der Handelskammer Bremen am 2.1.1909, VPAH, Konv. 4, Teil 4, S. 9. An die Bremer Bürgerschaft appellierte er eindringlich, dafür Sorge zu tragen, daß die Mietpreise stabil blieben. Wenn Lohnerhöhungen durch nachfolgende Mietpreissteigerungen permanent wieder aufgezehrt würden, sodaß hart arbeitende Arbeiter sich keine angenehme Wohnung leisten könnten, würde das zwangsläufig den sozialen Frieden gefährden, vgl. J. K. Vietor: Rede über die Bodenreform, o. D., VPAH, Konv. 4. Die „Rede“ stellt einen Antrag zur Überprüfung der Berichte des Bremer Senats und der Steuerdeputation dar. Vietor gehörte der Bremer Bürgerschaft von 1902 bis 1904 an und schied offensichtlich vor Ablauf seines Mandates freiwillig aus, vgl. Staats-Handbuch der freien Hansestadt Bremen auf das Jahr 1903, Bremen 1903, S. 238. Vietor wird hier, gemäß des Bremer 8-Klassenwahlrechts, als einer der 40 von den Mitgliedern des Kaufmannskonvents gewählten Mandatsträger geführt. Sein Mandat lief von 1902 bis 1908. Vietor wird aber bereits 1905 nicht mehr im Staats-Handbuch als MdBü aufgeführt. Offensichtlich trat er nach zwei Jahren zurück, da er die Annahme des Mandats bald als Fehler erkannte. „Ich empfinde es als großen Fehler, daß ich die Wahl zur Bürgerschaft angenommen habe. Ich habe nicht die nötige Unbefangenheit, nicht das schnelle Denken und nicht das gewandte Wort, dass ich durchdringen könnte“, vgl. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 4.12.1902, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 5. Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 17f. Ganz ähnlich argumentierte er bereits 1909, vgl. Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 10f. Sein Sohn Wilhelm berichtet davon, daß sich Vietor in den 1920er Jahren zu einer Lohnfortzahlung seiner Bremer Mitarbeiter an Feiertagen entschloß, nachdem ihm klar wurde, daß Feiertage für seine Arbeiter Lohnausfall bedeuteten. An einem Gründonnerstag verabschiedete er seine Arbeiter einzeln und mit Handschlag in die Osterfeiertage und wünschte ihnen „Frohe Ostern“. Bei der Gelegenheit antwortete einer der Arbeiter nachdenklich: „Na, so froh werden die [Osterfeiertage] nicht werden“, denn sie bedeuteten vier Tage Lohnausfall. Daraufhin vergütete er den Mitarbeitern zwei Osterfeiertage nachträglich und hielt an dieser Regel, gegen anderslautende Appelle aus dem Arbeitgeberverbandslager, auch an zukünftigen Feiertagen fest, vgl. Vietor, Wilhelm (1991): Unter der Speckflagge, S. 95. Auch wenn die öffentlichen Ehebeschränkungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, abgesehen von Bayern, überall in Deutschland abgebaut worden waren, bestanden weiterhin soziale Beschränkungen. Bürgerliche Männer heirateten nach wie vor oft sehr spät, da man von ihnen zunächst eine angemessene Stellung im Beruf erwartete, vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte; 50), München 1999, S. 29f. Auch Vietor selbst hatte 1894 erst im Alter von 32 Jahren geheiratet, der Altersunterschied zu seiner Frau war mit 14 Jahren dabei sogar noch größer als sonst üblich. Rasche Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten waren daher ein wichtiges Kriterium für Nachwuchskräfte; zu Heiratspraxis- und bedingungen Bremer Kaufleute um die Jahrhundertwende vgl. auch Hoffmann, Wiebke (2009): Auswandern und Zurückkehren, S. 389f.

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kosten des Angestellten zur Hochzeit und erhöhte das Gehalt wegen höherer Lebenshaltungskosten um 2000,- Mark jährlich. Die Alterssicherung der Angestellten wurde dadurch gefördert, dass die Firma sich bei Abschluß einer Lebensversicherung bis zur Versicherungssumme von 50.000,- Mark bereit erklärte, 50 % der Prämienbeiträge zu übernehmen.26 Auch die afrikanischen Clerks wurden am Gewinn beteiligt. Sie erhielten 1–2 % des Wertes der abgelieferten Kassen oder Produkten, „um sie zu größerer Tatkraft anzuspornen.“27 Teilweise wurden den Clerks auch Zinsen bezahlt für ihr Guthaben bei Vietor.28 Ansonsten waren die Löhne für afrikanisches Personal vergleichbar mit denen anderer europäischer Firmen.29 Neben angemessener Bezahlung hatte die Behandlung afrikanischer Arbeiter einen hohen Stellenwert. Schlechte Behandlung der Einheimischen durch weisses Personal konnte ein Kündigungsgrund sein: „Unsere beiden christlichsten Leute, Gutekunst und Scheidig benehmen sich mit einem Hochmut und mit einer Selbstgerechtigkeit und einer Unverschämtheit ihren Untergebenen gegenüber, daß ich mir sage, es wäre das einzig Richtige, die Leute laufen zu lassen.“30

Besonders verärgert reagierte Vietor bei Gehaltskürzungen und kleinlicher Behandlung afrikanischer Mitarbeiter oder Gelegenheitsarbeiter von Seiten seiner weißen Niederlassungsleiter, weil es sie entweder in die Arme anderer europäischer Firmen

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Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 4f. Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 8. Im September 1908 wurden zum ersten Mal Zinsen für Guthaben von Clerks bezahlt, J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 5.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Vgl. „Verzeichnis der zur Einkommenssteuer heranzuziehenden Eingeborenen nach der Aufnahme im Juli 1908“, ANT, FA 3, 307. Hier werden die Steuer- und Gehaltlisten der verschiedenen europäischen Firmen angegeben. Die meisten Gehilfen in den Läden der Bremer Faktorei verdienten danach 216,- Mark/Jahr. Der Koch verdiente dagegen 480,- Mark, während von 12 Handlungsgehilfen immerhin vier zwischen 1.200,- und 1800,- Mark verdienten. Dazu kamen noch Provisionen zwischen 180,- und 500,- Mark. Die anderen verdienten meist 600,Mark, plus Provision, vgl. ebd. Seite 85–87. Bei den Handlungsgehilfen lag die Bremer Faktorei mit ihren Löhnen eher im oberen Segment. Von den 16 Handlungsgehilfen, Buchhaltern, Ladenverkäufern und Produkteneinkäufern Oloffs verdiente nur einer über 1000,- Mark, ebd. S. 74. Bei C. Goedelt verdienten nur zwei Personen über 1000,- Mark, einer der Buchhalter 1.320,- Mark und ein Ladenverkäufer 1.080,- Mark plus einer Kommissionsprämie von 1.200,Mark. Arbeiter verdienten bei Goedelt fast alle 216,- Mark, ebd., S. 111–113. Bödecker & Meyer bezahlte sieben mal für Angestellte über 1000,- Mark, Luther & Seyfert dreimal über 1000,- Mark Gehalt, beide Firmen aber jeweils ohne Provisionszuschläge, ebd., S. 92, 97. J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 29.10.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Auch Gutekunst Frau, die als Frauenrechtlerin galt, konnte für Afrikaner wenig Respekt aufbringen. „Das Schelten von ihr auf die dreckigen Schwarzen war mir sehr verdrießlich […] Sie beklagte sich über die Rohheit der Schwarzen gegen Tiere, worin sie ganz recht hat; aber ich habe auch mit meiner Meinung nicht zurückgehalten, daß man Tiere nicht besser als Menschen behandeln soll“, J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 17.11.1912, ebd. Mit einer Kündigung aufgrund schlechter Behandlung der einheimischen Mitarbeiter endete wohl auch das Verhältnis zum Mitarbeiter Bartels, der zudem noch an Syphillis litt:„Er hat die Leute so miserabel behandelt, daß sämtliche Clerks sagen, sie würden weggehen, wenn er hierher käme. Der wird wohl wieder fliegen, denn solche Leute können wir absolut nicht gebrauchen“, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 13.11.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7.

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trieb oder ihre Motivation, gute Arbeit zu leisten zerstörte.31 Keinesfalls duldete Vietor Übergriffe und Gewalttätigkeiten gegenüber schwarzen Mitarbeitern. Selbst der Bruder seines Geschäftspartners Otto Lohmann, Ernst Lohmann, bekam das zu spüren. „Er hatte einen Kerl gehauen und ich hatte ihm das verwiesen und dann sagte er, er würde es doch wieder tun, er hätte auch seine Ansichten. Da hat es aber gepfiffen. Ich habe ihm gesagt, daß seine Ansicht ganz gleichgültig sei, in unseren Diensten hätte er zu tun, was wir wollten, usw. usw. Ich sei der Vorgesetzte […] Ich fürchte, es geht nicht gut mit ihm.“32

Auch einheimische Angestellte wurden entlassen, wenn sie ihre Kollegen bedrohten oder schlecht behandelten.33 3. Das eigene Vorbild Vietor sah die Schicht der Besitzenden und Privilegierten in einer besonderen moralischen Verantwortung. Ihr Leben sollte in allen Bereichen Vorbildcharakter haben, damit sich die Gesellschaft gesund entwickeln könne. Er war davon überzeugt, dass Kriegsniederlage und Revolution möglicherweise hätten vermieden werden können, wenn sich die führenden Schichten mehr Mühe gegeben hätten, ihren Angestellten und Mitarbeitern ein besseres Vorbild zu geben.34 Er war zwar nicht der Meinung, dass man als christlicher Chef keine Fehler machen dürfe, für viel wichtiger hielt er jedoch die Überzeugung bei den Mitarbeitern, dass es der Chef wirklich gut mit ihnen meine und ihr Bestes wolle. Seine eigene Beliebtheit, die er in vielen Reisebriefen beschreibt, führte er in erster Linie, neben seinem unternehmerischen Können, auf seine Menschenführung zurück. „Es ist wirklich nicht so, daß ich viel zurückhaltend bin, aber wenn ich die Leute genug zurecht gesetzt habe, dann suche ich immer möglichst bald nach einer Verständigung. Das tun die meisten Leute nicht und das ist ihr Fehler.“35 31

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„Wieviele gute alte, zuverlässige Leute sind wegen Lappalien weg und wir haben dafür einen so viel schlechteren Ersatz bekommen, daß unser ganzes Geschäft darunter leidet.“ Das gleiche mußte er auch wegen kurzfristigen, angeblich konjunkturell bedingten Gehaltskürzungen feststellen, durch die die besten Leute ihn verlassen hatten. Vietor fragte sich, wie er neue Leute gewinnen sollte für sein Geschäft, wenn „sich so etwas hier herumspricht“, J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 12.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 23.12.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Als sich ein Clerk als „Fetischmann“ entpuppte, der anderen (schwarzen) Angestellten drohte, sie zu verhexen, wurde er sofort entlassen. Zuvor musste er sich jedoch bei Clerk Eugenio entschuldigen und diesem feierlich versprechen, keinen (Zauber-) Schaden anzurichten, was durch die Drohung mit der Polizei auch gelang, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 18.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 7. Angesichts der Prägekraft von Führungspersonen war ihm klar, welche Verantwortung er selbst trug: „Wenn man diesen Gedanken nachgeht, dann tritt uns die ganze ungeheure Verantwortung unseres Lebens vor Augen, die wir, die Gebildeten, Führenden und Besitzenden in unsrem Volke und insbesondere unseren Angestellten gegenüber haben“, Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 6. J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 14.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Fordern und Fördern galt auch Vietor als Maßstab der Mitarbeiterführung: „Nun […] wird es morgen früh an einer gründlichen Belehrung nicht fehlen und der liebe Gott gebe mir nur die

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Vietor versuchte auch ein Vorbild in christlicher Andacht und Gebet als direkten religiösen Lebensäußerungen zu sein. Er pflegte selbst ein regelmäßiges Gebetsleben, las die Bibel und die in pietistischen Kreisen verbreiteten Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine und ging regelmäßig zur Kirche. Auf seinen Inspektionsreisen legte er Wert auf das gemeinsame morgendliche Gebet der Belegschaft und deren persönliche Frömmigkeit. Nicht selten ließ das jedoch zu wünschen übrig, was die vorhandene Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Praxis erkennen läßt.36 4. Nur vertretbare Geschäfte machen Von schnellen Geschäften, die ethische Grundsätze in Frage stellten, hielt Vietor nichts. Man durfte seiner Meinung nach „keine Geschäfte machen, die nicht ganz tadellos sind und sich nicht mancher Kniffe bedienen, um Geschäfte zustande zu bringen, die man eigentlich nicht machen könnte oder sollte.“37 Unter diesen Leitgedanken ordnete er auch den Verzicht auf den Handel mit Alkohol ein.38 Er vertrat den Standpunkt, ein christlicher Geschäftsmann müsse den Mut haben, auf gewisse Geschäfte zu verzichten, im Vertrauen, dass Gott dies segnet und anderweitig Aus-

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rechte Weisheit, denn nur herunterreißen nützt ja nichts, sondern aufbauen“, J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 10.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Sein Sohn Wilhelm unterstellt seinem Vater auch große Beliebtheit bei den Mitarbeitern in Bremen, da er nach seiner Meinung jeden, dem er begegnete, unterschiedslos grüßte, egal ob arm oder reich. Gerne nahm er sich auch Zeit für ein Schwätzchen mit seinen Leuten und als bodenständiger Mensch sprach er mit seinen Arbeitern platt, vgl. Vietor, 1991 (wie Anm. 24), S. 60. Als er bei einem Inspektionsbesuch in Ouidah feststellte, daß eine Bibel „skandalöserweise im Hause fehlt“, drückte er dem jungen Mitarbeiter Schilling in der morgendlichen Mitarbeiterrunde eine Bibel in die Hand, damit er etwas vorlese. Als der sich jedoch darauf beschränkte, die Herrnhuter Losung für den Tag vorzulesen, schlug ihm Vietor 2. Petrus Kapitel 2 auf, ein Abschnitt, in dem es um ein vorbildliches, öffentliches Leben und das Verhältnis zwischen Knechten und Herren geht. Das mußte er dann laut vorlesen. Anschließend sollte er das Vater Unser beten, blieb aber mehrmals stecken, sodaß ihm ein anderer helfen mußte. Nicht nur dieser Mitarbeiter ließ erkennen, daß seine christliche Andacht zu wünschen übrig ließ, auch ein anderer junger Mitarbeiter der dortigen Faktorei gelobte Besserung, nachdem er Vietor unter vier Augen gestanden hatte, er sei als Christ ausgereist, nun aber sei sein Glaube hier ziemlich eingeschlafen, J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 24.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. In Accra ermahnte Vietor wiederholt seine Geschäftspartner Mau und Andrees, ihre christliche Einstellung überzeugend zu leben: „Ich habe beide male (sic) sehr energisch darauf gedrungen und ihnen gesagt, sie müssten sich jedenfalls so stellen, daß die Leute alle wüssten, daß sie christlich seien und leben wollten.“ Nicht tragbar hielt er ihren Kontakt zu zwei rausgeworfenen Missionaren, von denen der eine vor kurzem erst seine Frau verhauen hatte. Stattdessen sollten sie den eingeschlafenen Kontakt mit der (Basler) Mission wieder auffrischen, J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 8.12.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. In Anecho mußte Vietor das Tischgebet wieder einführen, weil sein Faktoreileiter Lutze diesen Brauch abgeschafft hatte, J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 18.11.1912, ebd. Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 8. „Wenn der ein oder andere meiner jungen Leute sich beschwert, daß er kein Geschäft machen könne, weil wir keinen Schnaps verkaufen, dann muß ich immer nur lächeln, denn es erscheint mir geradezu doch immer wie ein Segen vom lieben Gott, daß wir trotzdem oder gerade deshalb so gut vorangekommen sind“, Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 7.

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gleich schafft. Seinen Geschäftsaufstieg führte er nicht zuletzt auf dieses Prinzip zurück. Während die überwiegende Konkurrenz in den Anfangsjahren meist stark auf den lukrativen Handel mit Alkohol setzte, sah sich Vietor gezwungen, auf andere Produkte auszuweichen. Das führte ihn zu einer aufmerksamen Beobachtung der Marktbedürfnisse der afrikanischen Kunden, in deren Folge er neue Muster und Farben im Handel mit Textilien einführte. Auf diese Weise bekam sein Unternehmen den Ruf eines Mode-Trendführers und konnte das Textilgeschäft lange dominieren.39 5. Kulanz im Geschäftsgebaren Auf dem biblischen Grundsatz stehend, mit jedem Menschen Frieden zu halten, so weit es in der eigenen Macht steht (Römer 12,18), drängte Vietor seine Mitarbeiter zu weitgehender Kulanz gegenüber Geschäftspartnern. Er vertrat den Standpunkt, selbst ungerechtfertigten Forderungen zu entsprechen, wenn der Geschäftspartner fest davon überzeugt war, dass ihm eine Leistung oder ein Nachlaß zustehe, es sei denn, es handelte sich um Betrug oder Übervorteilung. Er hielt es aber für wichtig, das Gerechtigkeitsempfinden seiner Geschäftspartner nicht unnötig zu verletzen.40 Kulanz war auch anzuwenden gegenüber den eigenen Mitarbeitern. 6. Ehrlichkeit im Geschäftsleben Darunter verstand Vietor in erster Linie den Verzicht auf kurzfristigen Gewinn durch Geschäfte, die dem anderen nicht wirklich nutzten. „Ich versuche gar nicht die Leute zu überreden, etwas zu kaufen, was sie eigentlich nicht wollen. Ich habe immer auf dem Standpunkt gestanden, daß ich die Geschäfte meiner Kunden, der Weißen wie der Schwarzen, so ansehe wie meine eigenen. Ich versuche ihnen behilflich zu sein, in ihren Geschäften voranzukommen und rate ihnen auch direkt von manchen Unternehmungen ab, die mir nicht richtig erscheinen. Das ist oft gegen meinen momentanen Vorteil, aber doch ist es die richtige Politik, denn je größer und besser die Geschäfte meiner Freunde werden, desto besser und größer werden auch die meinigen.“41

In Vietors Rückschau hatte sich diese Haltung vielfach ausgezahlt. Teilweise verkauften ihm Geschäftspartner selbst dann ihre Produkte, wenn sie von der Konkur39 40

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Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 8. „Jede berechtigte Forderung muß glatt anerkannt werden, ja, man muß noch darüber hinaus gehen, denn ich habe die Erfahrung gemacht, wenn man einen Mann nicht überzeugen kann, dass er Unrecht hat, dann ist es immer besser, ihm auch seine unberechtigte Forderung zu erfüllen, als sie ihm abzuschlagen, wenn man nicht überhaupt mit ihm brechen will. Ich meine ein Christ sollte auch gerade in pekuniärer Beziehung das Wort des Apostels Paulus befolgen: So viel an euch ist, habt mit allen Leuten Frieden“, Vietor, 1925 (wie Anm. 8), S. 8. Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 8. Vietor sah den Grundfehler einer verfehlten Wirtschaftspolitik darin, daß meist nicht der Mensch, sondern das Geld im Vordergrund stehe: „Das ist der allg. Fehler unserer Zeit und beim Nachdenken über die allg. Verhältnisse und Kolonialpolitik bin ich jetzt auf den ganz einfachen und klaren Satz gekommen: der ganze Fehler unserer deutschen Unternehmungen liegt darin, dass wir das Geld und nicht die Person als Hauptsache hinstellen.“ Er bedauerte, daß, in seinen Augen, beinahe jeder, egal ob Regierungsbeamter, Arbeiter, Lehrer, Kaufmann oder Pastor in diesem Wahn gefangen war, J. K. Vietor (Klein Popo) an Hedwig Vietor vom 13.10.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7.

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renz deutlich höher, aber betriebswirtschaftlich nicht vertretbar, bezahlt wurden. Andererseits bezahlten manche Geschäftspartner, die in Zahlungsschwierigkeiten gerieten zuerst ihre Schulden bei Vietor.42 Nach wiederholtem Nachdenken über die Frage, ob eine andere Geschäftsführung ihn am Ende nicht weitergebracht hätte, kam er zumindest zu dem Schluß: „Das weiß ich aber bestimmt, daß ich nicht so viel Freude an meinem Geschäft, an meinen Angestellten und an meinem Geld haben würde, wenn ich es anders gemacht“ hätte.43 Die eigene Bilanz über sein christliches Unternehmertum fiel nach fast 25 Jahren für Vietor positiv aus. Gemessen an der Situation der Konkurrenz empfand er Arbeitsklima, Arbeitsleistung und Lebensstil in seinen westafrikanischen Niederlassungen, bei allen Mängeln und Unzulänglichkeiten, im Allgemeinen als vorbildlich. „Was unsere Leute betrifft, dann muß ich doch sagen, weiß und schwarz stehen turmhoch über den anderen.“44 Ohne Erreichung dieses Niveaus, das war ihm allerdings klar, „können wir nur ruhig einpacken und die Hoffnung aufgeben überhaupt eine christliche Firma zu bleiben. Das sind alles schwerwiegende Fragen, die mir genug zu denken geben.“45 Das gute Arbeitsklima unter seinen Mitarbeitern schloß seine Person nach seiner Warhnehmung mit ein. Vietor fühlte sich von seinen Mitarbeitern geschätzt und geliebt.46 In Klein Popo ging er mit ihnen abends in den „Grünen Kranz“, wo man gemeinsam Lieder sang. „Ein solches Verhältnis wie ich es mit unseren Leuten habe, ist sicher selten.“47 Ein herzliches Verhältnis Vietors zu seinen Bremer Mitarbeitern bezeugt auch Stadtmissionar Otto Brettschneider. „Mit seinen Leute war der Patriarch Vietor auf Du und Du. Es herrschte Vertrauen gegen Vertrauen. Als sein großes Geschäft dem Bankrott entgegenging, sagte sein Prokurist Emil Meyer zu mir: „Obwohl ich das Ende sehe, kann ich mein Geld doch jetzt nicht aus dem Geschäft ziehen. Das darf ich dem Alten doch einfach nicht antun!“48

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Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 8. Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 8. J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 11.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Über die Mitarbeiter der europäischen Konkurrenz hatte Vietor im Allgemeinen keinen guten Eindruck, was ihren sittlich moralischen Standard anbelangte. „Was für eine Freude eine solche Reihe tüchtiger, netter, christlicher Leute zu haben, während ich die tollsten Sachen über die anderen Europäer höre. Man behauptet, daß beinahe die meisten hier geschlechtskrank sind“, J. K. Vietor (Anecho) an Hedwig Vietor vom 19.9.1908, ebd. „Was für ein Glück allein, daß wir lauter so christliche, nette Leute haben. Was für ein Unterschied mit den anderen, die zum großen Teil doch einfach ganz gemeine Schweine sind“, ebd. J. K. Vietor (Porto Novo) an Hedwig Vietor vom 29.10.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Vietor, 1911 (wie Anm. 1), S. 5. Sein Mitarbeiter Maul meinte zu ihm im Hinblick auf sein Ansehen bei den Mitarbeitern, er wäre „für sie alle ein Ideal“, vgl. J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 8.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 6.10.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Ruszkowski, Jürgen: Genossen der Barmherzigkeit. Lebensläufe und Selbstzeugnisse von Diakonen des Rauhen Hauses (Zeitzeugen des Alltags; 11), Hamburg [2002], 6,1–6,18, 12.

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J. K. VIETOR UND DIE NORDDEUTSCHE MISSIONSGESELLSCHAFT BIS 1914 Die Mission als „Weltmacht“ Es liegt auf der Hand, daß Vietor als Sohn des langjährigen Präses der NMG und Neffe der beiden seinerzeit größten Geldgeber von klein auf an mit Thema und Anliegen der Mission vertraut gemacht wurde. Neben den abenteuerlichen Geschichten aus Afrika, die er als Kind von den auf Heimaturlaub befindlichen Missionaren erzählt bekam und die ihn fesselten, blieb ihm auch der Kampf der Missionare um das Seelenheil der heidnischen Afrikaner nicht verborgen.49 Diese Prägung brachte es mit sich, daß er nach Gründung des eigenen Geschäftes in Klein Popo selbst zu einem Förderer und Unterstützer der Mission wurde.50 Trotz seiner bereits 1893 und dann endgültig 1896 erfolgten dauerhaften Ansiedlung in Bremen war er jedoch nicht in den Vorstand der NMG gewählt worden, was möglicherweise auf sein gespanntes Verhältnis zu Inspektor Michael Zahn zurückzuführen war.51 49 50

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Vietor, J. K.: Bericht von J. K. Vietor, unv. Erinnerungen [1905/1930], VPAH, S. 21f. Spenden an die Mission gab Vietor offensichtlich von Anfang an regelmäßig. Im September 1894 beschloß er aufgrund guter Geschäfte, der Mission den ansehnlichen Betrag von 10.000,Mark zu übergeben, das umso mehr, als er der Mission seit seiner neun Monate zurückliegenden Hochzeit nichts mehr gespendet hatte, vgl. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 9.9.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Die Höhe der geplanten Spende lag in etwa in der Größenordnung, die sein Onkel regelmäßig für die Mission aufwandte. Sie lag bei durchschnittlich 15.000,- Mark im Jahr. Einen Monat später ist von einer derart hohen Spende an die Mission jedoch nicht mehr die Rede, was einen Schreibfehler im Brief vom 9.9.1894 vermuten läßt. Seine Gewinnverwendung für das abgelaufene Rechnungsjahr ging jetzt nur noch von 1.000,- Mark für die NMG aus. Weitere 1000,- Mark plante er für die Mission als Gehaltszuschuß für den Fall der Entsendung eines weiteren Missionars nach Klein Popo ein. Das bezog sich jedoch nicht auf die NMG, sondern auf die englische wesleyanisch-methodistische Mission, die hier eine Station unterhielt, vgl. J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 8.10.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 1. Die Ende des Jahres 1894 beschlossene Gewinnverwendung des abgelaufenen Rechnungsjahres räumte der Abtragung seiner hohen Kredite bei der Firma Paul und Klein Priorität ein, nicht aber einer hohen Spende an die NMG. Er hoffte durch eine hohe Abzahlung seinen Schuldenstand bei Paul und Klein von 170.000 Mark auf 100.000,- Mark reduzieren zu können. Als „Opfer“ anläßlich der Taufe seiner im Herbst 1894 geborenen Tochter schlug er eine weitere Gabe an die Mission in Höhe von 1000,- Mark vor, allerdings nicht für die NMG, vgl. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 29.11.1894, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 2. Nachdem Vietor auf Bitten seines Vaters in den 1880er Jahren eine Stellungnahme zur Entwicklung der Mission in Togo verfaßt hatte, die dann von seinem Vater, an Zahn vorbei, im Vorstand verteilt wurde, hatte Zahn ihm einen zwanzig Seiten langen Entgegnungsbrief geschrieben. Derart in die Auseinandersetzungen im Vorstand mit hineingezogen, blieb auch eine Verstimmung zwischen ihm und Zahn: „Mein Verhältnis zu Insp. Zahn war natürlich nicht das allerbeste geblieben.“ Zahns Frau sah das jedoch ganz anders und übertrug ihre Liebe und Verehrung zu J. K. Vietors verstorbenem Onkel Carl nun auf den jungen Vietor. Bei einem Besuch Vietors bei Zahn machte sie den peinlichen Vorschlag: „Michael, setz dich hierher. Du weißt wie ich Onkel Karl immer so verehrt habe, und du weißt, wie lieb ich diesen Karl [gemeint ist J. K. Vietor, Anm. B.O.] habe. Ich gehe jetzt hinunter und hole eine Flasche Wein, und während der Zeit macht ihr beiden „Du“ miteinander.“ Das taten sie dann auch, Vietor bat aber

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Bereits sein streng konservativ denkender Vater hatte sich gegen Ende seiner Tätigkeit als Präses der Mission mit dem politisch liberal eingestellten Zahn wegen der Stellung der Mission zur kolonialen Besitzergreifung Deutschlands nicht mehr einig gewußt. Die Berufung in den Vorstand, zu dem er bis 1930 gehörte, fand bezeichnenderweise kurz nach Zahns Tod 1900 statt.52 Sein Bruder, Pastor C. R. Vietor, trat 1904 dem Vorstand bei. Damit saßen wieder, wie früher, zwei Angehörige der Familie Vietor im Vorstand der NMG.53 In erster Linie teilte Vietor ohne Frage das geistliche Anliegen der Mission wie überhaupt der christlich-erwecklichen Verkündigung, die auf das Heil des Menschen abzielte. Aber die Folgewirkungen einer Bekehrung hatten für ihn gesellschaftspolitisches Gewicht, sodaß die Missionskirche nicht nur eine Heilsanstalt darstellte, sondern als sozialpolitische und kulturelle „Weltmacht“54 zu gelten hatte. „Wenn also die Bekehrung der Leute auch die Hauptaufgabe der Mission ist, aus der alles andere von selbst folgt, so hat sie selbstverständlich nebenbei einen großen zivilisatorischen Einfluß auf das Volk, unter dem sie arbeitet.“55

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darum, vor das „Du“ jeweils „Herr Inspektor“ setzen zu dürfen, vgl. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, Forts., S. 42f. Vgl. Pabst, Martin: „Mission und Kolonialpolitik. Die norddeutsche Missionsgesellschaft an der Goldküste und in Togo bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges“ (Verlagsgemeinschaft Anarche; 23), München 1988, S. 149f. Jahresbericht der NMG mit Statistik und Jahresrechnung. Erstattet für die Zeit vom 15. Mai 1915 bis 15. Mai 1916, StAB, 872 Za, S. 18. Wie im Falle der NMG war Vietor auch mit der Basler Mission persönlich eng verbunden. Während bereits Vietors Vater seit seinen Studententagen eng mit dem späteren Missionsinspektor der Basler Mission, Josenhans, befreundet war, hatte sich J. K. Vietor während seiner Lehrzeit in Bremen im Rahmen des Christlichen Vereins junger Kaufleute mit dem späteren Direktor der Basler Missions-Handelsgesellschaft, Wilhelm Preiswerk, angefreundet. Preiswerk trat bereits 1884 in den Vorstand der Basler Mission ein und übernahm 1895 die Missionshandelsgesellschaft, der er bis zu seinem Tod, 1938, vorstand, vgl. [Nachruf auf] Pastor C. R. Vietor, in: MB 2 (1897), S. 9–11, 9; Ustorf, Werner (1989): Die Missionsmethode, S. 31; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, S. 23. Zu Preiswerk vgl. Dettwiler, Walter: Preiswerk, Wilhelm, in: HLS 9 (2010). Vietor, J. K: Der Einfluß der Mission auf die Deutsche Kolonial-Politik (Flugschriften der Hanseatisch-Oldenburgischen Missionskonferenz), Bremen 1904, S. 4f. Die Hanseatisch-Oldenburgische Missionskonferenz wurde auf Anregung der NMG 1903 ins Leben gerufen und wollte ein Forum für alle in Norddeutschland ansässigen protestantischen Missionen bieten. In der Bündelung der Interessen durch die Konferenz sah Missionsdirektor Schreiber später den Hebel, der zur Erteilung eines Lehrauftrages für den zweiten Missionsdirektors der NMG, Martin Schlunck, am Missionsinstitut der Universität Hamburg führte, Schreiber, A. W., 1936: Die Norddeutsche Missionsgesellschaft, S. 18. In seinem 1913 erschienen Buch spricht Vietor von der Mission als „größte Kulturmacht“, vgl. Vietor, J. K.: Geschichtliche und kulturelle Entwicklung unserer Schutzgebiete, Bremen 1913, S. 136. Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 7. Christliche Schulen etwa erfüllten daher keinen Selbstzweck, sondern seien in erster Linie der missionarischen Strategie geschuldet, die davon ausgeht, Kinderherzen besser mit dem Evangelium erreichen zu können, als Erwachsene. Die Mission verfolge „ausschließlich“ die Bekehrung der Heiden und bringe der einheimischen Bevölkerung das Beste, was die europäische Kultur zu bieten hat: „unser Christentum“, vgl. Vietor, 1913 (wie Anm. 54), S. 138.

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In der Betonung der Heidenpredigt und der Sicht einer indirekten, sozusagen „nebenbei“ erfolgenden zivilisatorischen Wirkung der Mission stand Vietor in der Tradition seiner Familie sowie der älteren Missionsgesellschaften, die sich auf der außerordentlichen Bremer Missionskonferenz 1885 vorerst noch gegen die Friedrich Fabri zuneigende Gruppe, die das Konzept einer Kultur- und Kolonialmission vertrat, durchgesetzt hatten.56 Während Fabri, langjähriger Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft (RMG) und einer der Väter der aufkommenden Kolonialbewegung, bereits 1879 ein Bekenntnis Deutschlands zur „Cultur-Mission“ gefordert hatte,57 warnte Gustav Warneck auf der Konferenz vor einer Instrumentalisierung der Mission durch die Kolonialpolitik. „Denn allein in der Erfüllung ihrer religiösen Aufgabe und der Erreichung ihres religiösen Ziels liegen nun einmal die Wurzeln ihrer Kraft – auch ihrer Kulturkraft. Gewiß wird die Mission mittelbar auch dem kulturellen Ziel der Kolonialpolitik dienen. Aber sie kann und will und wird es nur, wenn sie innerlich frei bleibt und wenn sie im Gehorsam gegen Christi Befehl allein ihr Werk treu treibt.“58

Mit Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte erlebte die vorher meist nur von pietistischen Kreisen geförderte Außenmission zwar einen großen Prestigegewinn, geriet aber gleichzeitig in das Spannungsfeld wirtschaftlich interessierter Kreise und politischer Zielsetzungen.59 Da sowohl Kolonialverwaltung, Handelskreise als auch kapitalintensive Unternehmungen den Wert der Missionen in ihrer 56

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Fabri war ein früher und entschiedener Wortführer der Verschränkung christlicher Mission und kolonialer Besitzergreifung. Im Sinne einer „nationale[n] Erziehungsarbeit“ vertrat er ganz offen einen Arbeitszwang für die in den Kolonialgebieten wohnende afrikanische Bevölkerung, wenn auch einen gelinden, vgl. Bade, Klaus J. (1975): Friedrich Fabri, S. 110–112. „Ein Volk, das auf die Höhe politischer Machtentwicklung geführt ist, [kann] nur so lange seine geschichtliche Stellung mit Erfolg behaupten, […] als es sich als Träger einer Cultur-Mission [Herv. i.Orig.] erkennt und beweist. […] Wir sind politisch und sind auch mächtig geworden […] Der französische National-Oekonom Leroy Beaulieu schließt sein Werk über Colonisation mit den Worten: „Diejenige Nation ist die größte in der Welt, welche am meisten colonisiert; wenn sie es heute nicht ist, wird sie es morgen sein““, Fabri, Friedrich: Bedarf Deutschland der Colonien? Does Germany need colonies? Eine politisch-ökonomische Betrachtung (Studies in German thought and history; 2), Lewiston, NY3 1998, S. 178. Warneck in seinem Vorwort zu den in der AMZ veröffentlichten Beiträgen der Bremer Missionskonferenz vom 27. –29.10.1885, zit. bei Kriele, Edmund: Das Kreuz unter den Palmen. Die Rheinische Mission in Neu-Guinea, Barmen 1927, S. 6. Im Zuge der Expansionsinteressen deutscher Firmen, wurden die vorher kaum beachteten Missionen plötzlich interessant. Bereits 1880 und dann wieder 1885 bat Adolph Hansemann Friedrich Fabri um die Entsendung von Missionaren nach Neuguinea, da sie für die Besitzergreifung und den Kontakt zu den Einheimischen als nicht verzichtbar erschienen. Auch Carl Woermann bat Fabri 1882 um Missionare, da man ohne sie mit der Kultivierung der Küstenvölker Kameruns nicht vorankäme. Trotz der bald wieder einsetzenden Abkühlung des Interesses im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Branntweinfrage stellte der Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte den entscheidenden Wendepunkt für die öffentliche Wahrnehmung und Bedeutung der Missionen in Deutschland dar. Der Kolonialismus machte die Mission in gewisser Weise erst „hoffähig“ (Warneck), vgl. Bade, Klaus J. (1982): Mission und Kolonialbewegung, S. 103–141, 112–118; Bade, Klaus J. (Hrsg.) (1982): Imperialismus und Kolonialmission, S. 14f.; Altena, Thorsten (2003): Ein Häuflein Christen, S. 22–25; Gründer, Horst: Koloniale Mission und kirchenpolitische Entwicklung im Deutschen Reich, in:

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Sprachkompetenz, ihren Schulen, der Förderung der landwirtschaftlichen Leistungsfähgkeit der einheimischen Bevölkerung, der Verbreitung europäischer Lebensart, ganz besonders aber in der Erziehung der Bevölkerung zur Arbeit sahen, mußten die Missionen darauf achten, nicht zum reinen „Alibi des Kolonialismus“60 zu werden. Wenngleich Vietor als Missionsmann, anders als der frühere Missionsinspektor Zahn und sein Onkel F. M. Vietor, keinerlei Berührungsängste mit dem kolonialen Staat hatte,61 erkannte auch er die Gefahr der Vereinnahmung der Mission durch Politik und Verwaltung sehr wohl. Das erste Ziel und die eigentliche Grundlage ihrer Macht konnte nur im Festhalten der Mission an der Heiden- und Bekehrungspredigt liegen.62 Das klassisch pietistische Konzept der inneren Erneuerung des Menschen durch Bekehrung und Wiedergeburt aufgrund der Predigt des Evangeliums prägte nicht nur seine Sicht von der Aufgabe der Mission. Die optimistische Grundannahme, daß die persönliche Aktualisierung des Glaubens an Jesus Christus eine durchgreifende Veränderung in Denken und Handeln des Men-

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Gründer, Horst/Post, Franz-Joseph (Hrsg.) (2004): Christliche Heilsbotschaft, S. 209–226, 210–216. Reinhard, Wolfgang: Christliche Mission und Dialektik des Kolonialismus, in: Boehm, Laetitia u.a (Hrsg.): Historisches Jahrbuch. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben, Freiburg; München 1989, S. 353–370, 364. Walter von St. Paul-Illaire, Kaiserlicher Bezirksamtmann a.D. vertrat ganz offen den Standpunkt, daß Missionen nur nützlich seien, wenn sie den interessierten Kreisen leistungsfähige Arbeiter zur Verfügung stellten: „Als Kolonisator schätze ich also die Tätigkeit eines Missionars – gleichviel welcher Konfession – danach ein, was sie für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, bezw. die kulturelle Entwicklung des Negers leistet. Nicht die Zahl bekehrter oder angeblich bekehrter Neger ist mir also für die Beurteilung des Wertes der Arbeit eines Missionars maßgebend, sondern der Geist, den er verstanden hat, seinen Zöglingen einzuflößen. […] Ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft aber wird kein Neger, der nur singen und beten, nicht aber auch arbeiten gelernt hat […] Durch die Vermittlung der Erkenntnis des Wertes geregelter Arbeit, welcher Art sie auch sein möge, wird der innere Wert des Negers gehoben und das, denke ich, will jede Mission neben der Vermittlung der Lehre des Evangeliums“, Saint Paul Illaire, Walter von: Caveant consules! Kolonialpolitische Zeit- und Streitfragen, Eingeborenen-Politik, Machtpolitik, Rassenpolitik, Kolonisator, Missionar und Kaufmann, interkoloniale Rechtshilfe, Verkehrspolitik, Berlin 1906, S. 30f. Man könnte sagen, in vorauseilendem Gehorsam hatte der Inspektor der Berliner Missionsgesellschaft, Alexander Merensky, bereits 1886 einen von der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft prämierten Beitrag veröffentlicht, der sich mit der Erziehung der afrikanischen Bevölkerung zur Plantagenarbeit beschäftigte und damit seine Sympathie für die von der Kolonialbewegung geforderte Kultur- und Kolonialmission bekundet, vgl. ders.: Wie erzieht man am besten den Neger zur Plantagen-Arbeit?, Berlin 1886. Darin forderte er in Anlehnung an die Praxis in Südafrika, die Einführung einer Hüttensteuer, um dadurch die afrikanische Bevölkerung zur Steuerarbeit zu zwingen. Während Zahn noch jegliche Erziehung der afrikanischen Bevölkerung zu guten deutschen Untertanen abgelehnt hatte, stand für Vietor dieses Erziehungsziel unverrückbar fest, Pabst, 1988 (wie Anm. 52), S. 150. Dieses erste und wichtigste Ziel der Mission fächert Vietor an anderer Stelle auf und unterteilt es in drei Schritte: „1. Die Bekehrung der Heiden; 2. Hebung und Vervollkommnung der gewonnenen Christen; 3. Die Bewahrung der älteren Jugend vor der Gefahr, das erlernte Christentum nur äußerlich als gute Sitte anzusehen und in Wirklichkeit heidnisch zu leben“, J. K. Vietor: Vortragsmanuskript „Mission“ o. O. [1905], S. 2f.

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schen auslöst, war letztlich auch die Grundlage seines politischen Engagements sowie seinem Wirken in Innerer und öffentlicher Mission der Kirche. „Gelingt es ihr [der Mission, Anm. B.O.] aber, einen Menschen wirklich zum Christen zu machen, dann wird er auch äußerlich ganz von selbst ein anderer Mann. Ein Christ wird nicht mehr seine Frau für sich arbeiten lassen. Er wird selbst einen Beruf ergreifen. Er wird anfangen, sich ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen und ein geregeltes Leben zu führen. Deshalb unterscheidet sich ein Christendorf so auffallend von einem Heidendorf.“63

Wegen dieser nach innen wirkenden Kraft, könne allein die Mission die Basis für eine wirkliche kulturelle und gesellschaftliche Erneuerung in den Kolonien liefern. Ohne diese geistliche Kraft konnte für Vietor nur eine schwache „Halbzivilisation“ entstehen.64 Die Mächte, die es zu überwinden gälte, lägen in erster Linie in der Befreiung von Aberglauben, Okkultismus und religiöser Manipulation. Durch „Fetischpriester“ und Schamanen würde die einheimische Bevölkerung zu willfährigen Hörigen gemacht, die sich angesichts ihrer Unwissenheit über die Zusammenhänge nicht von ihrer Angst vor überweltlichen Mächten befreien könnten. Hier könne nur die Heidenpredigt und die christlich religiöse Unterweisung durchgreifende Veränderungen herbeiführen. In ihrer geistlich-emanzipatorischen Dimension und ihrer sittlichen Erneuerungskraft lägen daher die Fundamente für die Weltmacht der Mission.65 Den zweiten Baustein ihrer Weltmacht bezog die Mission für Vietor aus ihrer anwaltlichen Wächterfunktion, insbesondere in der kolonialen Pioniersituation, in der die staatliche Macht noch unzureichend entwickelt und präsent sei und in der es immer wieder zu Vergewaltigungen und Rechtsbrüchen seitens weißer Kolonisatoren und Interessenten käme.66 Hier ganz in der Tradition Zahns stehend,67 sah er die Mission als Anwalt der einheimischen Bevökerung, „weil sie auch in den Kolo63

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Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 6f. Angesichts dieser Wirkungen der Mission ist es sogar „ausschließlich ihre Pflicht den Eingeborenen das Evangelium zu bringen, sie zu bekehren und sie innerlich zu neuen Menschen zu machen.“ Das geschieht durch „Heidenpredigt [und] christlichen Unterricht, [um ihnen dadurch] eine andere Gesinnung beizubringen“. Die Mission hat daher ganz recht, daß sie trotz des Drängens der modernen Kolonialpolitiker, „die Bekehrung der Leute als den Kernpunkt ihrer Aufgabe ansieht“, ebd. S. 6. Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 6. Als Gouverneur Zech ihm mitteilte, er plane die Eröffnung einer von der Regierung getragenen Fortbildungsschule, warnte ihn Vietor davor, da Bildung ohne Christentum gefährlich sei, J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 5.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Die Regierungsfortbildungsschule, deren Besuch zur Voraussetzung einer Anstellung in der deutschen Verwaltung gemacht wurde, wurde, unbeschadet davon, dennoch gegründet und nahm im Januar 1911 ihren Betrieb auf, vgl. von König: Die Eingeborenen-Schulen in den Deutschen Kolonien Afrikas und der Südsee. Teil 2: Togo, in: Koloniale Rundschau 1912, S. 405–417, 407. Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 3–6. Diese zwei Aufgaben, Heidenbekehrung und Anwalt der Eingeborenen sein, beschreibt Vietor an anderer Stelle als die einzigen genuinen Bestimmungen der Mission, vgl. Vietor, J. K.: Vortragsmanuskript „Mission“ [1908/09], VPAH, S. 1. Angesichts zunehmender Übergriffe auf die afrikanische Bevölkerung hatte Zahn schon 1893 beim Deutsch-Evangelischen Missionsausschusses, dem seit Ablösung Zahns 1890 der Inspektor der Basler Mission, Theodor Oehler, vorstand, die Schaffung eines Vereins zum Schutz der Eingeborenen gefordert und auf der 9. Kontinentalen Missionskonferenz in Bremen ein Referat

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nien auf Recht und Ordnung hält und nach Möglichkeit die kurzsichtige, rücksichtslose Ausbeutung der Eingeborenen verhindert.“68 Allerdings ging Vietor über Zahn hinaus, wenn er die anwaltliche Tätigkeit des Missionars auch auf die Ermahnung zum Gehorsam gegenüber der Kolonialmacht ausweitete und ihm damit eine Zweifrontenstellung zuwies. „So energisch wie es sein Amt erfordert, daß er seinen Gemeindemitgliedern immer wieder ihre Schwächen und Fehler vorhält und darauf besteht, daß sie ordentlich leben und ihre Pflicht besonders auch der Regierung gegenüber erfüllen, so bestimmt erfordert es auch sein Amt, für seine Schützlinge einzutreten und ihnen Beistand zu leisten, wenn man sie vergewaltigt und ihnen Unrecht tut.“69

Gerade im anwaltschaftlichen Eintreten der Mission für die indigene Bevölkerung und ihrer Kritik an offenkundigen Mißständen sah Vietor den Hauptgrund vielfacher Anfeindungen gegenüber der Mission.70 Wenngleich er sich darüber ent-

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mit dem Titel „Der Missionar als Anwalt der Eingeborenen“ gehalten, vgl. Ustorf, 1989 (wie Anm. 53), S. 280. Das Referat ist abgedruckt in AMZ 1897, S. 427 f. Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 5. Während er die Gräuel der europäischen Expansionsgeschichte als Hintergrund dieser Aufgabe der Mission in Erinnerung bringt, erwähnt er das Versagen der christlichen Mission innerhalb dieses Kontextes allerdings nicht. Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 8. In einem Brief an die Missionare der NMG betonte Vietor die Pflicht der einheimischen Bevölkerung, zumal der Christen unter ihnen, „Lasten“, die sich aus der Pflicht zu öffentlichen Arbeiten ergäben, willig auf sich zu nehmen und sie „pünktlich“ zu erfüllen. Es sei „durchaus ungehörig“, wenn die Christen erst um 9, 10 oder 11 Uhr zur Wegebauarbeit erschienen, wenn sie um 6 Uhr bestellt waren. Die Missionare sollten dafür Sorge tragen, dass solche Vorkommnisse vermieden würden und auf die Einhaltung der Verpflichtungen hinzuwirken. Wenn die Einheimischen diesen Pflichten aber nachkämen, seien die Missionare umso mehr verpflichtet sich als deren Anwälte zu sehen und für ihre Rechte einzutreten, J. K. Vietor „an die Herren Missionare der Norddeutschen Missionsgesellschaft im deutschen Togogebiet“ vom 14.4.1903, StAB, 7,1025,98-1, S. 1f. „Der tollste Missionsfeind“ in Vietors Augen war A. Herfurth, der für ihn nur das „nackte, brutale Kapital“ vertrat. Seine Meinung über die Mission zitiert Vietor mit den Worten: „Malaria, Schwarzwasserfieber, Heuschrecken, Mission. So unausrottbar die ersteren, so unausrottbar ist leider auch die letztere“, Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 9. Der entsprechende Passus findet sich in Herfurth, A.: Zu den Angriffen auf die Mission, in: Koloniale Zeitschrift 1904, S. 156–157, 157. Er muß als Teil einer anhaltenden scharfen Auseinandersetzung Herfurths mit der Mission und der AMZ gesehen werden. An anderer Stelle bezeichnete er die Mission als „Schädling“, die er neben der Unzulänglichkeit der kolonialen Beamten als „Hauptfaktor für die Verhinderung der wirtschaftlichen Erschließung“ der deutschen Kolonien zu gelten habe, vgl. Herfurth, A.: Ein Wort an rechter Stelle, in: Koloniale Zeitschrift 1903, S. 197–199, 199. Herfurth, der auf Seiten der deutschen Siedler in Südwestafrika stand, kritisierte nach Ausbruch des Hereroaufstandes auch die Unterstützung der Mission für den Verbleib von Gouverneur Leutwein im Amt als „Beleidigung der Bewohner des Schutzgebietes“, vgl. Herfurth, A.: Die Entschädigungsfrage, in: Koloniale Zeitschrift 1904, S. 153–154, 153. Später war er Herausgeber der 1900 von Gustav Meinecke begründeten, scharf antimissionarisch eingestellten Kolonialen Zeitschrift. Wahllose und verallgemeinernde Kritik an der Mission in seiner Gegenwart verbat sich Vietor bei Tischgemeinschaften mit Verweis auf seine Zugehörigkeit zum NMG Vorstand, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 11.12.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Betroffen zeigte er sich über die „colossale Oposition (sic.)“ gegenüber der Mission bei einem Essen am Tisch des neuen Gouverneurs von Togo, Herzog zu Mecklenburg, während der Überfahrt nach Afrika. Auch Mecklenburg erhob den Vorwurf, die Mission hätte bislang

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täuscht zeigte, daß die protestantischen Missionsgesellschaften auf diesem Feld bei weitem nicht genug taten, anerkannte er doch, daß durch ihre Anwesenheit zumindest „die schlimmsten Ausschreitungen“ verhindert wurden.71 Erst in dritter Linie, sozusagen als Nebenprodukt, sah Vietor die Aufgabe der Mission in einer zivilisatorischen Wirkung, deren Beitrag zur Aufwärtsentwicklung der Kolonien gar nicht hoch genug eingeschätzt werden konnte. Auch hier müsse man von der Mission als einer Weltmacht reden.72 Vietor und die Entwicklung der Missionsarbeit in Togo An der Entwicklung der praktischen Missionsarbeit der NMG nahm Vietor als Vorstandsmitglied regen Anteil, wobei er durch seine persönliche Kenntnis und Erfahrung der Situation vor Ort über einen unwiderlegbaren Wissensvorsprung gegenüber allen anderen Vorstandsmitgliedern verfügte. Erst mit der Inspektionsreise A. W. Schreibers 1901/02 kam erstmals ein NMG Inspektor selbst auf das Missionsfeld, um sich ein Bild von der Situation „on the spot“ zu machen. Aktueller Hintergrund der Reise Schreibers war nicht zuletzt die Frage der Übernahme der seit 1890 im deutschen Gebiet liegenden 15 Nebenstationen der Basler Mission

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nur „schlechte Resultate“ erbracht, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 18.8.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. „Es ist ein wahres Glück, daß wir unsere Mission in den verschiedenen Schutzgebieten hatten, die doch etwas wenigstens – die protestantischen nach meiner Meinung noch lange nicht genug – die schlimmsten Ausschreitungen hinderten“, Vietor, J. K.: Vortragsmanuskript „Mission“ [1908/09], VPAH, S. 5. Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 5f. Für 1904 rechnete Vietor allein für die protestantischen Missionen weltweit mit 12.000 Missionaren, 4.100 indigenen Pastoren und 61.000 Gehilfen, die den Betrieb von 20.500 Schulen unterhielten, 1,1 Millionen Kinder unterrichteten und 12 Millionen Heidenchristen betreuten. Dazu wendeten sie 68 Millionen Mark auf. Eine Quelle für seine Zahlen gibt Vietor nicht an. 1911 hatten alle deutschen protestantischen Missionen zusammen 1.417 Missionare auf dem Missionsfeld, was einem Anteil von 6,7 % aller aus Europa und Nordamerika ausgesandter protestantischer Missionare entsprach, vgl. Lehmann, Arno: Der deutsche Beitrag, in: Brennecke, Gerhard (Hrsg.): Weltmission in ökumenischer Zeit, Stuttgart 1961, S. 153–165, 165. 1924 kamen 50 % aller protestantischen Missionare aus den USA und Kanada, 37,5 % aus den „britischen Gebiete[n]“ und nur 12,5 % aus kontinentaleuropäischen Ländern, der deutsche Anteil war auf 2,5 % gesunken, um 1936 immerhin wieder bei 5,6 % zu liegen, ebd., S. 154, 165, vgl. auch Pierard, Richard V.: World War I, the Western Allies, and German Protestant Missions, in: van der Heyden, Ulrich (Hrsg.): Missionsgeschichte, Kirchengeschichte, Weltgeschichte. Christliche Missionen im Kontext nationaler Entwicklungen in Afrika, Asien und Ozeanien (Missionsgeschichtliches Archiv; 1), Stuttgart 1996, S. 361–372, 361. König rechnet für 1911/12 mit insgesamt 124.000 Schülern, die in deutschen protestantischen Missionsschulen unterrichtet wurden und zitiert Prof. Mirbt, der auf dem Kolonialkongreß 1910 die Zahl der Missionsschulen in den deutschen Kolonien mit 2.462 angegeben hatte, von König: Die Eingeborenen-Schulen in den Deutschen Kolonien Afrikas und der Südsee. Teil 6: Die wichtigsten Fragen der kolonialen Schulpolitik, in: Koloniale Rundschau 1913, S. 5–27, S. 6f. Teil 2 der mehrteiligen Artikelserie von König über die Schulen für indigene Kinder beschäftigt sich ausführlich mit der Situation in Togo, vgl. von König, 1912 (wie Anm. 64).

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durch die NMG. Während die NMG mit Verweis auf das Ziel des Aufbaus einer ethnisch geschlossenen Ewekirche nicht auf ihre Stationen im englischen Gebiet verzichten wollte,73 verfolgte die Basler Mission keine vergleichbare ethnische Strategie und war bereit, ihre im deutschen Gebiet liegenden Stützpunkte an die NMG abzutreten. Während sich Schreiber alle Mühe gab den Vorstand der NMG von der Übernahme zu überzeugen, stellte sich Vietor dagegen74 und scheute sich nicht, über seinen Freund Wilhelm Preiswerk selbständig mit Basel in Kontakt zu treten und auf ein Platzen der Verhandlungen zu setzen. Angesichts der unzureichenden finanziellen Ausstattung der NMG und der nur schleppend vorwärts kommenden Ausweitung des Stationsnetzes, hielt er es für dringend erforderlich, die knappen NMG Ressourcen nicht für die Übernahme bestehender protestantischer Missionsstützpunkte aufzubrauchen. Die Arbeit der Basler Mission in Togo begrüßte er vielmehr, weil er glaubte, nur mit ihr zusammen dem starken Vordringen der katholischen Mission und dem Islam effektiv begegnen zu können.75 73 74

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Dazu war sie infolge der kolonialen Grenzziehung von 1890 wiederholt gedrängt worden, vgl. Schreiber, 1936 (wie Anm. 54), S. 12f. Mit Schreiben vom 18.3.1902 legte er dem NMG Vorstand seine abweichenden Gründe „auf das Bestimmteste“ dar. Für ihn ließ sich das angeführte Sprachenproblem „spielend beheben“, zudem sei er nach Rücksprache mit Bergassessor Friedrich Hupfeld, der das Gebiet, in der die Basler Stationen lagen gut kannte, zu der Überzeugung gekommen, daß es sich bei dem betreffenden Gebiet um eine abgelegene, dünn besiedelte Berggegend handele. Es bestände die Gefahr, daß die NMG sich in einem „weltverlassenen Winkel“ festsetze, während die wirklich wichtigen und dichter besiedelten Gebiete Togos nicht in Angriff genommen würden. Die NMG müsse so schnell wie möglich Missionare in die fruchtbaren und gut besiedelten Gebiete wie Atakpame, Pessi und das Land bis Blida entsenden. Die Katholiken hätten schon seit Jahren eine Station in Atakpame, übersäten dazu das Land mit weiteren Stationen und von Norden dränge der Islam „unheimlich vor“. Wegen dieser Bedrohungen habe er jüngst auf der Missionskonferenz in Halle [Februar 1902, Anm. B.O.] „mit aller Macht“ darauf gedrängt, dass sich die deutschen evangelischen Missionen noch viel stärker auf die deutschen Kolonien konzentrieren müßten. Die Unterstützung der NMG durch die Basler in Togo sei daher nur zu begrüßen, J. K. Vietor an den Vorstand der NMG vom 18.3.1902, StAB, 7,1025,96-2 (Basel II). Die hier angedeutete Konkurrenz- und Konfliktsituation zwischen NMG und Steyler Mission in Togo steigerte sich mit den Jahren und führte zuletzt zur Anrufung der Verwaltungsbehörden mit der Bitte um Schlichtung, vgl. von König, 1912 (wie Anm. 64), S. 410. Hatten die fünf am 27.8.1892 in Lome eintreffenden Missionare der Steyler Mission nur 40 Katholiken in Lome angetroffen, so hatten sie bis 1896 bereits fünf Hauptstationen (Lome, Togo, Porto Seguro, Klein Popo, Adjido) und fünf Nebenstationen aufgebaut, die von insgesamt 7 Priestern, acht Laienbrüdern, achtzehn einheimischen Lehrern und zwei Lehrerinnen betreut wurden. Kurz vor der Ausweisung der Steyler Missionare aus Togo im Herbst 1917 war die katholische Missionsgemeinde in Togo von 57 Angehörigen 1892 auf 22.198 angewachsen. Weitere 20.000 Taufbewerber standen auf der Taufliste, Grevelding, Hans Gerd: Das Erzbistum Köln und seine Beziehung zur katholischen Kirche in Togo in den Jahren 1888–1920. Ein plötzlich wieder aktuelles Kapitel zur Kölner Kirchengeschichte, in: Analecta Coloniensia 3 (2003), S. 193–206, 196f., 204. Bereits 1913 hatte die Steyler Mission mit 13 Haupt-, 197 Nebenstationen, 17.052 Christen sowie 6.425 Taufanwärtern die NMG deutlich überflügelt, die nur auf 8 Haupt-, 160 Nebenstationen, 7.780 Christen und 448 Taufanwärter (1912) kam. Der Einsatz europäischen Personals lag viermal so hoch wie bei der NMG, vgl. Sebald, Peter (1988): Togo, S. 489f. Die Sorge um das zu spät Kommen der protestantischen Missionen gegenüber Katholiken und dem Islam veranlaßte Vietor auch in den Folgejahren zu Ermahnun-

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„Ich [sehe], daß ihr offenbar viel mehr Verständnis dafür habt, wie unser Inspektor, daß im Laufe der nächsten Jahre die Entscheidung fallen muß, ob unsere Kolonien katholisch oder evangelisch werden sollen. Ich habe jetzt ja viele Beziehungen zu den verschiedensten Kolonialinteressenten und höre Vieles, was andere heute nicht hören. Ich weiß am Besten, wie aktiv die Katholischen sind und die besten Beziehungen zu Berlin unterhalten. Ich bin überzeugt, wollen wir protestantischen Missionen nicht in das Hintertreffen kommen, dann müssen wir alle Kräfte anspannen und noch vielmehr wie bisher, unsere Missionen in den deutschen Kolonien ausdehnen. Ich freue mich deshalb ganz außerordentlich, daß Ihr uns mit Eurer Mission helft und ich würde es als einen sehr schweren Fehler ansehen, wenn wir Euere Stationen übernähmen […]. Ich hoffe deshalb sehr, daß Ihr den Antrag ablehnt.“76 Schreiber setzte sich mit seinem Anliegen, ein geschlossenes Missionsgebiet im Ewegebiet zu schaffen, jedoch durch und unter großzügigem Entgegenkommen der Basler konnte in einer vierjährigen Stufenphase die Übernahme der Basler Stationen bis 1906 abgeschlossen werden.77 Noch vor Übergabe der letzten Außenstation der Basler Mission an die NMG, äußerte die Basler Mission zu Vietors Freude78 jedoch erneut Bereitschaft, sich durch die Aufnahme einer Missionsarbeit im Norden Togos im deutschen Schutzgebiet zu engagieren. Vietors Einwand, die NMG bräuchte dringend einen Partner, wenn die evangelische Mission in Togo nicht ins Hintertreffen geraten wolle, fand somit doch noch eine späte Bestätigung.79 Am 31.1.1906 einigten sich Steyler und Basler Mission in einem gemeinsa-

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gen, die Expansion der NMG Arbeit energischer zu forcieren, vgl. Vietor, J. K.: 25 Jahre Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 30 (1907), S. 5f. J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk vom 20.3.1902, ABM, D-1,76, Bl. 113. Preiswerk stellte sich in dieser Frage jedoch nicht auf Vietors Seite, sondern votierte im Basler Missionsvorstand für ein weitgehendes Entgegenkommen zu den Übernahmevorschlägen Schreibers, vgl. W. Preiswerk an Komitee der Basler Mission vom 2.8.1902, ebd., Bl. 116. Entscheidend für sein Votum war der Zweifel, ob man bei einem Verbleib der Stationen bei Basel eine wirklich dauerhafte und sinnvolle Lösung für das Sprachenproblem finden könne. Vietor sah die Lösungsmöglichkeiten dafür seiner Meinung nach zu optimistisch, vgl. handgeschriebene Schlußbemerkungen Preiswerks am Ende des Briefes von J. K. Vietor an den NMG Vorstand, J. K. Vietor an den Vorstand der NMG vom 18.3.1902, ABM, D-1,76, Bl. 114, S.VI. Während die Basler Mission in ihren Schulen in Twi unterrichtete, legte die NMG Wert darauf, in der Volkssprache der Ewe zu unterrichten, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 493. Die Details der schrittweisen Übernahme der Basler Stationen erläuterte A. W. Schreiber in einem Schreiben an das Basler Missionskomitee vom 28.6.1902, ABM, D-1-76, Bl. 115. Insgesamt wurden 15 Außenstationen der Basler Hauptstation in Anum (Goldküste) mit 700 Seelen, 100 Taufbewerbern und 400 Schülern übernommen, vgl. Jahresberichte der NMG 1889–1912, StAB, 872 ZA, Bericht für 1902/03, S. 4. Im Jahresbericht räumte Schreiber ein, daß die NMG wegen des starken Vordringens der katholischen Mission sich genötigt sah auch im Agubezirk und in Lome tätig zu werden, was in einer gewissen Spannung zur Übernahme der Basler Stationen stand. Dennoch sei die Übernahme notwendig, da nur so das Ziel einer einheitlichen Ewekirche zu erreichen sei, was seit jeher das Ziel der Mission gewesen wäre, ebd., S. 3f. Vietor unterstützte bereits 1905 Überlegungen in Basel zur Aufnahme einer Nord-Togo Mission, Erbar, Ralph (1991): Ein „Platz an der Sonne“?, S. 276. Durch die Aufnahme der Nordmission durch die Basler Mission wurde freilich eine bessere Form der Unterstützung gefunden, als durch ihren Verbleib mitten im Ewegebiet. Auf diese

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men Gespräch mit Gouverneuer Zech, den Norden Togos in ein katholisches und ein evangelisches Missionsgebiet aufzuteilen, was am 20.5.1906 protokollarisch festgehalten wurde.80 Die kleine und finanzschwache NMG, die an diesen Verhandlungen nicht beteiligt war, konnte nur hoffen, zu seinem späteren Zeitpunkt der Nordmission beitreten zu können.81 Wegen der vorübergehenden Sperrung Nordtogos für die Mission konnte die Umsetzung der Vereinbarung von 1906 allerdings erst 1912 erfolgen.82 Vietors Stellung zu der nach der Jahrhundertwende auch bei den Missionsgesellschaften heftig umkämpften Sprachenfrage wird nicht ganz klar. Während sich die Sprache des Mutterlandes in den englischen und französischen Kolonien sowohl im Schulbetrieb als zunehmend im umgangssprachlichen Bereich durchsetzte,83 war man in Deutschland gespalten über die Frage, ob die Vermitt-

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Weise konnte die NMG das Ziel eines geschlossenen Missionsgebietes für die Ewe verwirklichen, ohne notwendigerweise ganz auf die Unterstützung der Basler Mission verzichten zu müssen. Mit der nun gefundenen Lösung fanden beide Argumente, geschlossenes Missionsgebiet für die Ewe und Unterstützung durch die Basler, ein sinnvolle und beide Seiten befriedigende Lösung, was zum Zeitpunkt der Vereinbarung über die Abtretung der Basler Außenstationen an die NMG, 1902, noch nicht absehbar gewesen war. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 494. Schreiber bestätigte 1907 Tendenzen im Vorstand der NMG, ganz Togo selbst missionieren zu wollen. Zu seinem eigenen Bedauern war diese Absicht aufgrund der finanziellen Situation jedoch nicht realistisch, vgl. Pabst, 1988 (wie Anm. 52), S. 97f. Wie schwer es Schreiber fiel, die neue Missionsaufgabe im Norden Togos nicht selbst anpacken zu können wurde deutlich, als die Basler 1911 nun daran gingen konkrete Vorbereitungen zu treffen. Er sah sich veranlaßt, die Basler Mission daran zu erinnern, daß die Anfrage an Basel, sich im Norden zu engagieren, lediglich mit finanziellen Engpässen der NMG begründet worden war. Er schlug für die Zukunft „ein gewisses Zusammenwirken unserer Missionen nach einem gemeinsam festzustellenden Plan“ vor, damit der NMG die Option eines späteren Einstiegs in die Nord-Togo-Mission erhalten bliebe, A. W. Schreiber an Direktor D. Oehler (Basel) vom 24.5.1911, StAB, 7,1025, 96-2 (Basel II). Zech hatte die Nordbezirke Togos am 20.9.1907 vorläufig mit der Begründung der Unruhen in Südwest- und Ostafrika für die Mission verschlossen, vgl. Pabst, 1988 (wie Anm. 52), S. 99. Zech argumentierte, da die genannten Unruhen in Gebieten aufgebrochen waren, die zuvor ebenso ruhig waren wie der Norden Togos, müsse zunächst der Eisenbahnbau vorangetrieben werden, damit die Verwaltung die nötige Sicherheit garantieren könne bei Aufnahme der Missionstätitgkeit. Zech befürchtete beim Auftauchen christlicher Missionare Unruhen unter den moslemischen Bevölkerungsteilen, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 494f. Erst 1911 konnten die Vorbereitungen für einen Vorstoß der Basler Mission in den Norden Togos eingeleitet werden. Auf einer „Vertrauensmänner-Versammlung“ am 27.6.1911, an der das Missionskomitee, 110 geladene Delegierte der Hauptkomitees und Hauptvereine sowie 300 vom Missionskomitee eingeladene Missionsfreunde und Missionare teilnahmen, wurde einstimmig der Beschluß zur Aufnahme der Mission im Norden Togos getroffen. Vorab hatte Inspektor Oettli deutlich gemacht, daß z.Zt. keine andere deutsche protestantische Missionsgesellschaft zur Aufnahme dieser Aufgabe in der Lage sei, die Zeit aber dränge, da sowohl die Katholiken bereitständen als auch der Siegeszug des Islam gestoppt werden müsse. Innerhalb der nächsten fünf Jahre war zunächst an den Aufbau von zwei Stationen mit zusammen 12 Missionaren gedacht, im Endausbau wurde mit vier bis fünf Stationen und zusammen 18–20 Missionaren gerechnet, Protokoll über die Vertrauensmänner-Versammlung in Basel vom 27.6.1911, StAB, 7,1025, 92-2 (Basel II). Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1995, S. 108.

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lung der deutschen Sprache der Herrschaftssicherung in den Kolonien diene oder diese eher untergrabe.84 In Togo verfolgte Gouverneur Zech einen Zickzack-Kurs. Mit Erlaß vom 9.1.1905 erklärte er die deutsche Sprache, neben der Verwendung der Stammessprachen, zur einzig zulässigen Unterrichtssprache.85 Damit fand über das deutsche Schulwesen keine Vermittlung der englischen Sprache mehr statt, die insbesondere in West-Togo weit verbreitet war.86 1905 waren ihm auch die Stammessprachen ein Dorn im Auge, weil er befürchtete, sie würden der Bildung einer von Deutschland unabhängigen Identität Vorschub leisten. Vielmehr sollte die deutsche Sprache zum identitätsstiftenden Bindemittel zwischen deutscher Kolonialmacht und eingeborener Bevölkerung werden.87 Als er Vietor gegenüber darauf drängte, in den Missionsschulen bereits von Anfang an Deutsch zu lehren und die Elementarschulen um zwei Schuljahre zu verlängern, damit die Schüler eine ausreichende Ausbildung erhielten, antwortete dieser „wie Warneck, Zahn, Missionsauschuss und Missionsinspektoren mich siebenundvierzig Jahre treu gelehrt haben, „Excellenz, das dürfen wir nicht tun, dann bekommt der Neger eine falsche Bildung.“88 Damit stand Vietor zunächst auf dem traditionellen Standpunkt der NMG, wonach der deutschen Sprache gegenüber dem Ewe keine entscheidende Bedeutung beikam. Der spätere Inspektor der NMG, Schlunk, hielt den Deutschunterricht nur für die „gehobenen Schulen“ für sinnvoll. Hier sollten solche Fertigkeiten vermittelt werden, daß das Deutsche „im Handel und im Verkehr mit Deutschen ausreicht“ und zur weiteren Vertiefung auf höheren Schulen befähigte.89 Schreiber dagegen hatte, freilich nach jahrelangem Druck der Kolonialverwaltung, auf der Missionsausschußsitzung der evangelischen Missionen am 14.10.1904, die über die Aufnahme des Deutschunterrichtes in das Curriculum der Missionsschulen 84 85 86

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Kundrus, Birthe: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln, Weimar 2003, S. 189. Diese Frage beschäftigte freilich auch andere Kolonialmächte, vgl. Osterhammel, 1995 (wie Anm. 83), S. 107. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 497. Ein Bericht aus dem Jahre 1903 stellte fest, daß in Togo statt Deutsch Englisch die bevorzugte Handels-, Behörden- und Umgangssprache war, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 496. Der Steyler Missionar Friedrich Schwager warnte 1903 vor einem Verbot der Vermittlung der englischen Sprache in den Schulen, insbesondere in den Küstenregionen Togos. Nachdem die 1892 gegründete katholische Schule in Lome, in der von Anfang an sowohl Englisch als auch Deutsch gelehrt wurde, in der Vergangenheit auf Wunsch der Regierung bereits zweimal den Englisch-Unterricht gestrichen hatte, waren jedes Mal die Schüler weggeblieben. Schwager warnte daher vor einem erneuten Verbot und plädierte für den Erhalt des Englisch- wie des Deutschunterrichtes. Er räumte aber ein, daß die NMG Schule in Lome bislang offensichtlich kein Deutsch, sondern nur Englisch unterrichtet hatte, Schwager, Friedrich: Zur Sprachenfrage in Togo, in: DKZ 52 (1903), S. 520f. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 498. J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 5.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Schlunk, Martin: Das Schulwesen in den deutschen Schutzgebieten, Hamburg 1914, S. 90, 142. „Das Deutsche steht uns zu hoch, als daß es zu einer Spielerei entwürdigt werden dürfte, und Spielerei wäre es, wenn man im Busch Afrikas oder in der Südsee die drei oder vier Jahre des Volksschulunterrichts mit einigen kümmerlichen Anfängen des Deutschen belasten wollte […]. Anfänge, denen die Fortsetzung fehlt, haben erzieherisch gar keinen, höchstens einen sittlich verderblichen Charakter“, ebd., S. 142.

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entscheiden sollte, einer Aufnahme des Deutschunterrichtes in den Unterricht der Elementarschulen zugestimmt.90 Daß Vietors Antwort an Zech nicht sonderlich reflektiert war, beweist seine begeisterte Reaktion auf die Einstellung des „famosen“ und frischen NMG Missionars Flothmeier im englischen Keta, der ihm im Vertrauen mitgeteilt hatte: „H.V. alles, was der Missionsausschuss und die Herrn zuhaus (sic) sagen, ist Unsinn (vielleicht nicht ganz so krass), ich habe es in Kwitta anders gemacht, ich fange gleich mit englisch an und bringe die Leute ebenso weit in Ewe wie die Herren im deutschen Gebiet. Die Ausbildung ist ungenügend, wir müssen eine Fortbildungsschule haben.“91

Damit trat Flothmeier offensichtlich den Bedenken entgegen, die Vermittlung einer europäischen Sprache bereits in der Elementarschule würde sich nachteilig auf das Erlernen der Stammessprache auswirken und ohnehin nur oberflächliche Kenntnisse der europäischen Sprache zur Folge haben. Als Vietor dann die Schule in Keta besuchte, stellte er fest, daß die Kinder tatsächlich sowohl gut Ewe als auch Englisch sprachen.92 Zech gab seine Schulpolitik mit dem Ziel einer umfassenderen Vermittlung des Deutschen schon nach wenigen Jahren wieder auf. Bereits 1909 beantwortete er einen NMG Antrag auf Erhöhung der Zuschüsse für die Sprachvermittlung in den Schulen mit dem Hinweis, die schulische Erziehung zu systematischer Arbeit wäre deutlich wichtiger als die Vermittlung ohnehin nur unzureichender Fähigkeiten in der deutschen Sprache. Die NMG möge daher ihren Antrag zurückziehen, was sie auch tat.93 In der Tauffrage stand Vietor eindeutig auf dem Boden der pietistischen Bekehrungstheologie. Die teilweise extensive Taufpraxis der Katholiken, ohne vorherige 90

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Pabst, 1988 (wie Anm. 52), S. 149; vgl. von König: Schulen, in: Schnee, Heinrich (Hrsg.): Deutsches Koloniallexikon, Bd. 3, S. 308ff.. Schlunk verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß die NMG 1904 nur notgedrungen und aus Sorge ihren guten Ruf zu verlieren, dem Drängen der Verwaltung nach Einführung des Deutschen in den Elementarschulen nachgegeben hatte. Der Antrag der protestantischen Missionen, die deutsche Sprache erst ab dem 4. Schuljahr einzuführen, war nicht durchsetzbar gewesen, vgl. Schlunk, Martin: Die Norddeutsche Mission in Togo. Meine Reise durch das Eweland (Band 1), Bremen 1910, S. 112. J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 5.9.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. Ebd. Das Argument, der Deutschunterricht in den Elementarschulen würde keinen Sinn machen, da er nur bruchstückhafte Kenntnisse vermitteln könne, die in der Praxis nicht brauchbar wären, blieb für die Missionen ein wichtiges Argument. 1910 drängte die katholische Mission mit diesem Argument, das die NMG im Prinzip teilte, auf die Einstellung des minderwertigen Deutschunterrichtes in den Außenschulen. Eine Deutschprüfung sollte nach ihrer Ansicht nur noch in Lome stattfinden dürfen und erst nach fünfjährigem Deutschunterricht. Damit könnten die meisten Außenschulen den Deutschunterricht einstellen und stattdessen ihre Zeit und Kraft auf die Vermittlung von landwirtschaftlichen Kenntnissen konzentrieren, vgl. Schlunk, 1910 (wie Anm. 90), S. 110f. Eine Reduzierung der Schulzeit um zwei bis vier Stunden in der Woche zugunsten landwirtschaftlicher Tätigkeiten auf Missionsgrund wie dem Anpflanzen von Kakao, Kaffee oder Baumwolle hatte Vietor bereits 1903 vorgeschlagen. Er zielte mit seinem Vorschlag aber mehr auf den guten Eindruck, den die Mission damit bei der Verwaltung machen würde, ein sprachenpolitisches Motiv hatte er dabei nicht, J. K. Vietor an die Herren Missionare der Norddeutschen Missionsgesellschaft im deutschen Togogebiet vom 14.4.1903, StAB, 7,1025, 98-1, S. 4. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 498.

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Sicherstellung der persönlichen Aneignung der Glaubensinhalte, lehnte er entschieden ab.94 Er vertrat den Standpunkt, die NMG müsse in Togo eine „Elitegemeinde“ aufbauen, die „nicht jeden Lümmel gleich taufen“ dürfe.95 Nicht alle NMG Missionare teilten diesen Standpunkt. Viele sorgten sich, bei einer weiterhin restriktiven Taufpolitik würde man gegenüber Katholiken und der Sondergemeinschaft der Zionisten ins Hintertreffen geraten, die jedes Kind taufen würden, das sie nur erreichen könnten.96 Diese Sorge war nicht unbegründet, bedenkt man, daß die Taufbewerberzahlen der katholischen Mission 1913 um das Vierzehnfache über denen der NMG lagen.97 Trotz solchen Drängens blieb Vietor skeptisch. In Bezug auf das Begehren vieler afrikanischer Schüler der Missionsschulen, getauft zu werden, reagierte er ähnlich zurückhaltend. Er befürchtete, daß sie nach dem Abgang von der Schule durch den Verlust ihrer christlichen Schulumgebung wieder ins alte heidnische oder rein formal-christliche Fahrwasser abrutschen könnten. Die eigentliche Glaubensbewährung begann für ihn erst nach der Schule. „[Wir können] gar nicht vorsichtig genug mit den Taufen der Kinder sein. Die Zeit, daß sie sich als aufrichtige Christen bewähren sollen, kommt eigentlich erst, nachdem sie die Schule verlassen haben […] Uns kann aber nicht daran liegen, möglichst viele Christen zu haben. Wir, Deutsch-Protestantische Mission, müßten nach unserer Arbeitsweise vor allen Dingen darauf sehen möglichst selbständige, christliche Charaktere zu erziehen, die jeder einzeln, wieder einen größeren Einfluß auf ihre Umgebung ausüben.“98

Vietor war davon überzeugt, daß die Gewinnung einer größeren Anzahl einheimischer Pastoren und Leiter nur durch eine strenge Taufpraxis erreichbare wäre. Nur erprobte und ernsthafte christliche Charaktere boten für ihn die Gewähr einer lang94

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In einem Fall konnte er sich eines Augenzwinkerns über die katholische Taufpraxis allerdings nicht erwehren. Eine Frau, die ein völlig verwahrlostes Mulattenkind, dessen Vater ein Deutscher war, angenommen hatte, wollte von der deutschen Administration eine finanzielle Unterstützung für die Erziehung erhalten. Nun suchte sie nach jemand, der sich an entsprechender Stelle für sie einsetzen könnte. Ein katholischer Missionar hatte ihr daraufhin zugesagt, an die Verwaltung zu schreiben, wenn sie dafür das Kind katholisch taufen lassen würde, was sie auch tat. Lächerlich fand Vietor dagegen die Taufe des ehemaligen Häuptlings Akolatse, der als Gauner bekannt war und häufig seine Frauen wechselte. Er war von Reverend Taylor getauft worden, den Vietor als Geistlichen einer Zionistenkirche beschreibt, einer christlichen Sondergemeinschaft, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 4.9.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Schlunk bezeichnet die Zionisten als „Sekte“, vgl. Schlunk, 1910 (wie Anm. 90), S. 25. J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 4.9.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Schlunk, 1910 (wie Anm. 90), S. 25. In der Petition der evangelischen Gemeinde Lome an Schlunk vom 14.10.1909 klagten die evangelischen Christen darüber, daß die katholische Mission selbst Kinder tauften, die zu Familien gehörten, deren Eltern von der NMG Missionsgemeinde ausgeschlossenen worden waren. Durch diese Praxis befürchteten sie innerfamiliäre Spannungen oder gar Konversionen ganzer Familien zum Katholizismus. Sie appellierten daher an Schlunk, die NMG möge in Zukunft auch Kinder von Ausgeschlossenen taufen, Schlunk, 1910 (wie Anm. 90), S. 45. 1913 gibt die katholische Mission 6425 Taufbewerber an, die NMG (1912) nur 438, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 489f. Vietor, J. K.: Vortragsmanuskript „Mission“ [1905], VPAH, S. 4.

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fristig starken und im christlichen Glauben gegründeten Missionskirche. Ohne die vermehrte Rekrutierung einheimischer Verkündiger konnte für ihn die Mission aber nicht daran denken, in dem Maße zu expandieren wie es nötig sei, da die finanziellen und personellen Ressourcen in der Heimat viel zu begrenzt waren. Einige einheimische Kandidaten waren ihm bereits als geeignet aufgefallen.99 Damit äußerte sich Vietor indirekt auch zu der Frage, ob, wann und wie man einheimische Christen zur Ordination zulassen sollte. Die deutschen evangelischen Missionen waren in der Frage vergleichsweise zurückhaltend. Obwohl der als konservativ geltende ostafrikanische Missionar der Leipziger Mission, Bruno Gutmann, bereits 1912 die Zulassung von Einheimischen zur Ordination gefordert hatte, fand der erste Ordinationskurs der Leipziger Mission mit 14 einheimischen Teilnehmern erst zwischen Januar 1933 und April 1934 statt.100 Auch die Mission der Herrnhuter Brüdergemeine in Ostafrika/Tansania führte die erste Ordination mit einheimischen Kandidaten erst 1934 durch.101 Die Berliner und die Bethel-Mission ordinierten erstmals 1920 schwarze Mitarbeiter zu Pastoren, allerdings nur aus Furcht vor einer drohenden Ausweisung, die Rheinische Missionsgesellschaft sogar erst 1948.102 Die NMG fand in Anlehnung an die Praxis der Basler Mission an der Goldküste dagegen schon vor dem 1. Weltkrieg einen Weg, einheimische Pastoren zu ordinieren, ohne sie mit den europäischen Missionaren gleichzustellen. Die Basler Mission hatte bereits 1881 festgelegt, daß einheimische Pastoren nicht den Titel „Missionar“ erhalten konnten, sondern ihre Ordination lediglich die offizielle Einsetzung zum Pfarrdienst einer örtlichen Gemeinde bedeutete. Der Unterschied zum europäischen Missionar bestand dabei darin, daß die Gemeindepfarrer in der Regel keinen Anteil an der übergeordneten Evangelisationsarbeit hatten, also nicht zur klassischen Heidenbekehrung gerufen waren. Ihre Aufgabe bestand vielmehr in der pastoralen Betreuung der christlichen Gemeinde. Die eigentliche offensive Initiative und damit auch die Gesamtleitung der Missionskirche lag damit weiter in den Händen der europäischen Missionare.103 Im Falle der NMG sprach man bei den Gemeindepastoren offiziell von „Missionars-Gehülfen“. Der damit bezweckte Ausdruck einer untergeordneten Stellung, etwa vergleichbar dem Verhältnis von Pfarrer und Diakon, störte die afrikanischen Mitarbeiter wenig, da der von ihnen benutzte Titel, „Osofo“, ein vollwertiges Pendant zum deutschen Begriff „Pfarrer/Pastor“

99 Ebd., S. 4a. 100 Fiedler, Klaus: Christentum und afrikanische Kultur. Konservative deutsche Missionare in Tanzania, 1900–1940 (Missionswissenschaftliche Forschungen; 16), Gütersloh 1983, S. 102f. 101 Fiedler, 1983 (wie Anm. 100), S. 120. 102 Altena, Thorsten, 2004: Etwas für das Wohl, S. 54–81, 80. 103 Oloukpona-Yinnon, Adjai Paulin: Vom „Gehilfen“ zum „Osofo“. Der Wandel im Status der afrikanischen Mitarbeiter der Norddeutschen Mission in Togo, in: van der Heyden, Ulrich/ Stoecker, Holger (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945 (Missionsgeschichtliches Archiv. Studien der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte; 10), Stuttgart 2005, S. 149–158, 152. Abweichend von dieser grundsätzlichen Sprachregelung verwendete die Basler Mission in Einzelfällen auch die Begriffe „Negermissionar“ oder „afrikanischer Missionar“, ebd.

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darstellte.104 Auch wenn die Ordinationspraxis der NMG damit als vergleichsweise progressiv bezeichnet werden kann, zeigt ein Blick auf die absoluten Ordinationszahlen, wie vorsichtig auch hier dieser Weg beschritten wurde. Nachdem Missionar Louis Birkmaier 1882 ohne Wissen des Vorstandes Ludwig Rudolf Mallet zum ersten einheimischen Osofo der NMG ordiniert hatte, blieb dies bis 1901 ein Einzelfall.105 Erst unter dem neuen Missionsvorstand, zu dem nun neben Inspektor Schreiber auch Vietor gehörte, kam es zwischen 1901 und 1914 zu sechs weiteren Ordinationen, einer allerdings nach wie vor bescheidenen Zahl.106 Vietors Appell zur vermehrten Ordination von schwarzen Mitarbeitern muß daher als progressiver Standpunkt gewertet werden. Seine Ansicht in dieser Frage mochte auch mit seiner Enttäuschung über das Verhalten und die Befähigung der weissen NMG Missionare zusammenhängen. Während mit Schreiber 1901/02 das erste Mal überhaupt ein NMG Inspektor auf das eigene Missionsfeld gekommen war und sich das mit dem Besuch Martin Schlunks, der 1908 als zweiter (Hamburger) Inspektor eingesetzt worden war, erst 1909/10 wiederholte, hatte Vietor augrund seiner persönlichen Erfahrungen in Afrika einen weitaus direkteren Einblick in die Missionswirklichkeit der NMG als die Missionsinspektoren. Seitdem er zum Vorstand der NMG gehörte, besuchte er auf jeder Inspektionsreise auch Schulen und Stationen der NMG.107 Auch von seinen Mitarbeitern auf den Faktoreien, sofern sie in der Nähe 104 Der Begriff Osofo ist ein Lehnwort als der Twi-Sprache der Ashantis und bedeutete dort so viel wie Priester. In der Ewesprache wurde er zum Begriff für den ordinierten Pfarrer, vgl. Diedrich Westermann: Wörterbuch der Ewe-Sprache, II. Teil: Deutsch-Ewe Wörterbuch, Berlin 1906, S. 136, zit. bei Oloukpona-Yinnon 2005 (wie Anm. 103), S. 153f. Das Wort wurde von den deutschen Missionaren akzeptiert und übernommen. 105 Altena, 2003 (wie Anm. 59), Anhang Missionarsverzeichnis, S. 400f. Wegen der fehlenden Zustimmung des NMG Vorstandes durfte Mallets Ordination vorerst nicht offiziell bekanntgemacht werden. Erst ab 1884 wurde sie mit schrittweisen Zugeständnissen an Amtsvollmachten sukzessive anerkannt. Die Spendung der Sakramente blieb ihm vorerst verwehrt. Ein großer Fehler bedenkt man, dass er nach der Freigabe dieses Rechtes etwa 1000 Personen taufte und damit zu den erfolgreichsten Mitarbeitern der NMG gehörte. 106 1901 wurden Adolf Lawo� und Samuel K. Newell ordiniert. Lewell war bereits 1897 von Missionar Seeger zur Ordination vorgeschlagen worden, was jedoch zunächst an Zahns Veto gescheitert war. 1910 wurde Andreas Aku ordiniert, 1911 Sedode Bebli, 1912 Elia Awuma und 1914 Paulo Tumitse, vgl. Altena, 2003 (wie Anm. 59), Anhang Missionarsverzeichnis, S. 363, 367, 398, 404, 413, 420. Ein Photo vom 31.10.1915 zeigt die sieben Osofos der NMG im unterschiedslos gleichen Talar zusammen mit Präses Däuble und einigen NMG Missionaren. Auf äußere Unterscheidungsmerkmale zwischen Osofos und europäischen Missionaren wurde verzichtet; ebd., S. 610. Der Jahresbericht für 1913/14 weist zum 31.12.1913 von 202 farbigen Lehrern (190) und Lehrerinnen (12) fünf Personen als „Pastoren“ aus, vgl. Jahresbericht der NMG 1913/14, StAB, 7,1025, 98-1. J. K. Vietor hebt Newell als Vorbild hervor. Er war viele Jahre Kommissär der Firma Vietor gewesen und hatte hier monatlich mindestens 100,- Mark verdient, „vor zwanzig Jahren ein sehr hohes Gehalt für einen Schwarzen. Zu unserem großen Leidwesen gab er dann aber eines Tages seine Stellung auf und ging als Evangelist zur Mission, obgleich er dort lange Zeit nur zwanzig Mark verdiente.“ Trotzdem legte er regelmäßig einen Betrag von diesem kleinen Gehalt auf die Seite und konnte somit beim 50 jährigen Jubiläum der NMG einen Betrag von 200,- Mark spenden, fast ein Jahresgehalt, Vietor, J. K.: Vortrag vor einem christlichen Bremer Jünglingsverein [1906], VPAH, S. 12. 107 In Kamerun besuchte er auch Stationen der Basler Mission, der katholischen Mission und der

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von Missionsstationen lagen, erwartete er regelmäßigen Umgang mit den Missionaren und die Bewahrung eines guten Einvernehmens mit ihnen.108 Zu seinem Bedauern verhielten sich die Missionare jedoch häufig ungeschickt und unreif und boten damit Anlaß zu einem Ansehensverlust der Mission.109 Einem Missionar hätte er um ein Haar „eine geknallt“, nachdem ihn dieser belogen hatte.110 „Es ist der Missionare eigene Schuld, wenn sie mit den Leuten so schlecht stehen. Ich habe ihnen das auf einer Konferenz gesagt, aber sie haben es nicht eingesehen, sondern kamen immer mit einzelnen, kleinlichen Geschichten […] Ich frug sie direkt, die immer Angst vor einem Aufstand haben, ob die Christen dann wohl immer zu uns halten würden und sie verneinten das. Wenn das wahr ist, dann sind wir mit unserer ganzen Mission auf einem falschen Weg […] Ich glaube auch nicht, daß die Missionare die richtige Vorbildung haben, jetzt, wo die Neger sich wirklich zu leistungsfähigen, tüchtigen Menschen sich allmählich entwickeln.“111

Abhilfe sah er, wohl in Anlehnung an seine eigenen Inspektionsreisen, in erster Linie durch Missions- und Aufsichtsreisen des Missionsinspektors, der die Missionare zur Ordnung rufen und neu anweisen müßte. Vietor scheute sich selbst Präses Däuble gegenüber nicht, seine Autorität als Vorstandsmitglied in die Waagschale zu werfen und, sofern er im Auftrag des Vorstands handelte, Gehorsam einzufordern.112 Daß Vietor eine außerordentlich große Autorität bei den Missionaren in

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deutschen Baptistenmission, J. K. Vietor [Duala] an Hedwig Vietor vom 5.1.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. In Accra zeigte er sich enttäuscht über seinen Geschäftspartner Andrees, der keinerlei Verbindung zur dortigen (Basler) Mission hielt und im Übrigen auch nicht mehr vor dem Essen betete. Bei seinem Besuch knüpfte Vietor das Band zur Mission bald wieder an und erhielt die Zusage, daß die Basler auch geschäftlich wieder mit Andrees kooperieren würden, J. K. Vietor (Accra) an Hedwig Vietor vom 8.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Seinen Mitarbeiter in Keta, Bruns, lobte er dagegen, weil dieser bei den dortigen NMG Missionaren wegen seiner Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit sehr beliebt war. Sein Kollege Gutekunst hatte jedoch heftigen Streit mit einigen Missionaren. Vietor machte darauf mit ihm und Mau eine Bibelarbeit über das Wort „Seid herzlich, freundlich und vergebt einander“ [Epheser 4,32] und lud dann am Abend alle Mitarbeiter der Faktorei und alle Missionare zu einem Versöhnungsfest ein, J. K. Vietor (Quittah) vom 15.9.1912, ebd. Empört zeigte sich Vietor auch über manche Schriften, die die Mission verkaufte: „Einfach skandalös ist es aber, was die Mission für Bücher verkauft! Ich fand bei Zimmering ein Buch auf seinem Nachttisch liegen „lus aeterne“ „das ewige Licht“, eine solch üble Ehebruchsgeschichte, daß man sich kotzen kann. Katholische Pfarrer verführen die Mädchen und alle Einzelheiten in der übelsten Weise beschrieben; der eine verführt dann die uneheliche Tochter des anderen … Ich habe mich in der Mission erkundigt. Sie haben 3 Exemplare davon gehabt und waren stolz, daß sie gleich den ersten Tag weg waren“, J. K. Vietor (Winfried) an Hedwig Vietor vom 3.1.1913, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. J. K. Vietor (Agome Palime) an Hedwig Vietor vom 18.11.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. J. K. Vietor (Agome Palime) an Hedwig Vietor vom 18.11.1904, ebd. Gemeint waren in diesem Fall konkret die Missionare in Ho. Ähnliche Beschwerden äußerte er aber auch über die Situation ganz allgemein: „Ich habe überhaupt von den Leistungen unserer Mission einen recht schlechten Eindruck gegen früher und das wird nicht anders werden bis ein Missionsinspektor herauskommt und die Sache deichselt“, J. K. Vietor (Anecho) vom 18.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. Schreiber hatte Vietor vor seiner Abreise nach Afrika gebeten, vor Ort eine offene Landfrage zu klären. Es handelte sich offensichtlich um die Frage, ob die NMG sich mit der neuen Linie des

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Togo hatte, erklärt sich auch aus der Tatsache, daß die Gehaltszahlungen über Vietors Faktoreien abgewickelt wurden.113 Zwar reduzierte sich der prozentuale Anteil der Vietorspenden an den Gesamteinnahmen der NMG infolge der starken Ausweitung des Haushaltsvolumens nach der Jahrhundertwende deutlich,114 Vietor dürfte aber auch weiterhin der größte Einzelspender der chronisch defizitären NMG geblieben sein.115 Nach dem Tod Friedrich Martin Vietors 1906 hatte J. K. Vietor Gouvernements zum Landerwerb einverstanden erklären konnte und wenn ja unter welchen Bedingungen. Das Gouvernement wollte insbesondere wegen des stark wachsenden Landbesitzes der katholischen Mission sowohl dieser als auch der NMG in den kommenden 30 Jahren nur je 200 ha Landerwerb zubilligen, eine Absicht, die bei Schreiber auf völliges Unverständnis stieß. In seinem Auftrag fand daraufhin am 13.9.1912 ein Gespräch zwischen Vietor, Däuble und dem amtierenden Gouverneur von Doering statt, vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 75), S. 488, vgl. auch die Berichte über das Gespräch an den NMG Vorstand vom 13.9.1912 (Vietor) und 27.9.1912 (Däuble), StAB, 7,1025,45-2. Im Vorfeld hatte Vietor Däuble dreimal um die Überlassung entsprechender Akten gebeten, sie aber nicht erhalten. Däuble entschuldigte das damit, er hätte Wichtigeres zu tun gehabt und außerdem lasse er sich von Vietor nicht kritisieren. „Ich wurde dann leider sehr ärgerlich und sagte, daß ich einen officiellen Auftrag von dem Komitee hätte und daß er mir einfach gehorchen müssse und auch den Verweis von mir anzunehmen habe. Wenn ihm das nicht passe, könne er sich in Bremen beschweren. Mir gefällt die Mission durchaus nicht […]“, J. K. Vietor (Quittah) an Hedwig Vietor vom 15.9.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 10. 113 Wegen der wirtschaftlich schwierigen Situation Vietors 1912 kam es zu Verzögerungen bei den Auszahlungen, was zu Mißstimmungen und einem Gefühl des Ausgeliefertseins an Vietor führte, Heinrich, Uwe/Tell, Birgit: Mission und Handel im missionarischen Selbstverständnis und in der konkreten Praxis, in: Ustorf, Werner (1986): Mission im Kontext, S. 257–292, 274. 114 Die Einnahmen-/Ausgabenstatistik der NMG zeigte nach der Jahrhundertwende stetig nach oben. 1900 lagen die Einnahmen bei 145.204,- Mark, davon kamen allein 85.922,- Mark aus Bremen-Stadt. 1905 beliefen sich die Einnahmen auf 160.053,28 Mark, die Ausgaben auf 192.181.58 (Gesamtdefizit: 47.221,22 Mark). 1906: Einnahmen: 191.754,62 Mark, Ausgaben: 204.767,20 Mark (Gesamtdefizit: 57.737,08 Mark); 1908: Einnahmen: 251,805,67 Mark, Ausgaben: 306.555,48 Mark (Gesamtdefizit: 137.942,01 Mark); 1909: Einnahmen 284.919,62 Mark, Ausgaben 290.408,95 Mark (Gesamtdefizit: 143.431,34 Mark); 1910: Einnahmen 239.385,11 Mark plus Gaben für das Jubiläum in Höhe von 140.347,60 Mark, zusammen: 379.732,71 Mark, Ausgaben 340.845,01 Mark (Gesamtdefizit: 104.543,64 Mark); 1911: Einnahmen 246.149,08 Mark plus Gaben für das Jubiläum 126.174,- Mark, zusammen: 372.323,08 Mark, Ausgaben 350.072,15 (Gesamtdefizit: 82.292,71 Mark); 1912: Einnahmen 303.559,88 Mark, Ausgaben 392.435,62 Mark (Gesamtdefizit: 171.168.45 Mark), Jahresberichte der NMG 1889-1912, StAB, 872 Za. 1913: Einnahmen 367.973,- Mark, Ausgaben 408,542,- Mark (Gesamtdefizit: 211.738,58 Mark). Das Gesamtdefizit konnte jedoch durch die unerwartet hoch ausgefallene Kaiserspende von 255.626,- Mark vollständig abgetragen werden. Das strukturelle Finanzproblem der NMG konnte damit aber nicht gelöst werden. Einem Bedarf von etwa 375.000,- Mark standen nur etwa 220.000,- Mark Einnahmen durch die Hilfsvereine entgegen. Die regelmäßig entstehende Lücke konnte nur zum Teil durch Sonderspenden (Defizitspenden) ausgeglichen werden, Jahresbericht 1913/14, StAB, 872 Za. 115 Mit ihrer strukturellen fi finanziellen nanziellen Unterversorgung stellte die NMG allerdings keine Ausnahme dar. Die häufigen Defizite und die ständige Geldnot der deutschen evangelischen Missionen war eines ihrer typischen Kennzeichen. Ein Missionsdirektor der Berliner Missionsgesellschaft erlebte in den 29 Jahren an der Spitze der Mission nur 12 Jahresabschlüsse ohne Defizit, bei anderen Gesellschaften sah es noch schlechter aus, so daß das Wort von den „poor German missions“ zur stehenden Redewendung wurde, vgl. Lehmann, 1961 (wie Anm. 72), S. 153f, 158; 1886 hatte etwa der Schuldenstand der Berliner Mission die für damalige Verhält-

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zugesagt, aus den Geschäftsgewinnen der alten Vietorfirma (Bremer Faktorei), die er weiterführte, in den kommenden 10 Jahren jährlich jeweils 12.000,- Mark an die NMG abzuführen, ein Betrag, der am unteren Limit der regelmäßigen Spenden seines Onkels an die NMG lag. Diese Summe sollte selbst dann konstant bleiben, wenn die Gewinne der Bremer Faktorei unter diesem Betrag bleiben sollten.116 Damit stand nach wie vor ein nicht unerheblicher Sockelbetrag der Vietors der NMG zur Verfügung. Hinzu kamen weitere Spenden aus den anderen Vietorfirmen, sodaß der jährliche Gesamtspendenbetrag der Vietors nach wie vor zwischen 15.000,- und 20.000,- Mark gelegen haben dürfte. 1912 erklärte Vietor der Erbengemeinschaft, daß er in dem verabredeten Zeitraum, mit dem offensichtlich die Zeit zwischen 1906 und Ende 1911 gemeint war, rund eine halbe Million Mark aus Mitteln der alten Vietorfirma an die Mission gespendet habe, eine Summe, die nur unter Einrechnung von Krediten an die NMG denkbar erscheint.117 An der sogenisse enorm hohe Summe von 200.000,- Mark überschritten, nachdem die Einnahmen-Ausgaben Situation bereits seit Jahren defizitär gewesen war, Lehmann, Hellmut: 150 Jahre Berliner Mission (Erlanger Taschenbücher; 26), Erlangen 1974, S. 70. 116 Protokoll über die Besprechung der Erbschaftsangelegenheiten am Sonntag, 25. März 1906, VPAH, Konv. 5, Mappe 4, S. 3. Damit die Summe von 12.000,- Mark auch in schlechten Jahren an die NMG abgeführt werden konnte, wurde ein Reservekonto eingerichtet, auf das Überschüsse aus guten Geschäftsjahren flossen. Bevor der jeweilige Jahresgewinn an die Erbengemeinschaft ausbezahlt wurde – auch das war auf 10 Jahre begrenzt, danach sollte die Firma in den alleinigen Besitz J. K. Vietors übergehen -, wurden zunächst die 12.000,- Mark abgezogen. Erst wenn der Gewinn über diesem Betrag lag, wurde der überschießende Anteil verteilt. Die NMG Spende hatte damit oberste Priorität. Neben den jährlichen Zahlungen für das laufende Geschäft der NMG wurden aufgrund testamentarischen Willens 100.000,- Mark vom Gesamtnachlaß für die Altersversorgung der Witwe Franz Michael Zahns an die NMG abgeführt, ebd. Das nachgelassene Gesamtvermögen F. M. Vietors belief sich am 1.1.1906 auf 1.460.593,93 Mark, von dem bei der Auflösung noch 1,4 Millionen Mark übrig blieben. Da am Gesamtvermögen F. M. Vietors dessen verstorbene Frau Helene mit 339.000,- Mark beteiligt war, 150.000,- Mark für Stiftungen bestimmt waren und etwa 100.000,- Mark für die Erbschaftssteuer abgezogen werden mußten, verblieben 811.000,- Mark zur Verteilung auf die Erbengemeinschaft. Etwa 600.000,- Mark davon steckten im Afrikageschäft fest. Durch einen schriftlichen Zusatz zum Testament hatte F. M. Vietor, entgegen der testamentarischen Bestimmung, daß die Firma nach seinem Tod liquidiert werden sollte, bestimmt, daß J. K. Vietor seine Firma weiterführen sollte, J. K. Vietor an Erbengemeinschaft vom 26.2.1906, VPAH, Konv. 5, Mappe 4. 117 J. K. Vietor an Geschwister vom 19.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 122–125. Diese außerordentlich hohe Summe ist selbst im gesetzten Fall schwer vorstellbar, daß Vietor hierbei die 100.000.Mark für die Altersversorgung von Zahns Witwe einrechnete und zumindest ein Teil der 150.000,- Mark, die testamentarisch für Stiftungs-zwecke verwendet werden mußten, mit der NMG in Zusammenhang stand. Diesen Fall vorausgesetzt, wären weiterhin die 6 Jahresraten á 12.000,- Mark zu veranschlagen, mithin 72.000,- Mark für den Zeitraum 1906–1911. Im Jubiläumsjahr 1911 hatte die NMG darüberhinaus eine vietorsche Sonderspende von 25.000,- Mark erhalten, außerdem gab es zwischen 1906 und 1911 wiederholt Zusatzgaben in Höhe von 5.000,- Mark, was sich, regelmäßige Zusatzspenden dieser Art vorausgesetzt, bis 1911 auf eine Gesamtsumme von 30.000,- belaufen würde. Alles zusammengerechnet ergäbe das für den Zeitraum 1906–1911 maximal einen Betrag von etwa 350.000,- Mark. Auf die Summe von einer halben Million Mark kommt man nur, wenn man die Schulden, die die NMG bei Vietor hatte, hinzurechnet. Im November 1912 belief sich die Kreditsumme an die NMG auf 143.000,Mark, J. K. Vietor (Grand Popo) an Hedwig Vietor vom 10.11.1912, VPAH, Konv. 1, Teil 5,

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nannten „Kaiserspende“ für die Missionen im Jahr 1913 beteiligte sich Vietor aus Mitteln der alten Vietorfirma, in Absprache mit seinen Geschwistern, mit 10.000,Mark.118 VIETOR ALS FÜHRENDER KOLONIALPOLITIKER DER CHRISTLICH–SOZIALEN PARTEI (CSP) Die CSP als parteipolitische Erscheinung des sozialkonservativen Spektrums im Kaiserreich Nicht nur die Mißstände in der deutschen Kolonialpolitik, auch die zunehmende Säkularisierung und das Verblassen christlicher Moralvorstellungen, ganz besonders aber der tiefe Riß, der durch die deutsche Gesellschaft ging und sich an der sozialen Frage und der kapitalistischen Wirtschaftsform entzündete, veranlaßten Vietor, entgegen der skeptischen Einstellung weiter protestantischer Kreise zur Parteipolitik und entgegen der grundsätztlich apolitischen Einstellung des deutschen Pietismus,119 über den Ansatz der Inneren Mission hinauszugehen120 und sich aktiv Mappe 10. 1925 gab Vietor an, die regelmäßigen Spenden der alten Vietor-Firma an die NMG zwischen 1906 und dem Ausbruch des Weltkrieges hätten sich auf 121.000,- Mark belaufen, J. K. Vietor an Missionsdirektor Hermann Steinberg (Brüder Unität) vom 3.6.1925, StAB, 7,73-16, S. 2. Hier gibt Vietor an, die NMG habe regelmäßig 1.000,- Mark/Monat erhalten, plus Sonderspenden zu gewissen Anlässen. 118 J. K. Vietor an Geschwister vom 31.3.1913, StAB, 7,73-50, Bl. 494f. 119 In Einschränkung des Aufrufs zur Mitwirkung der Geistlichen an der sozialen Frage vom 17.4.1890 drückte der Runderlaß des altpreußischen Evangelischen Oberkirchenrates zur Frage der „Beteiligung der Geistlichen der evangelischen Landeskirche an sozialpolitischen Agitationen“ vom 16.12.1895 die tiefsitzende Skepsis weiter kirchlicher Kreise an einer Vermischung von kirchlich-geistlichem Leben und Politik aus, auch wenn es sich hier in erster Linie um das Engagement von Pfarrern handelte: „Alle Versuche, die evangelische Kirche zum maßgebend wirksamen Faktor in den politischen und sozialen Tagesstreitigkeiten zu machen [müssen] die Kirche selbst von dem ihr von dem Herrn der Kirche gestellten Ziele, der Schaffung der Seelenseligkeit, ablenken“, Huber, Ernst Rudolf/Huber, Wolfgang: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Staat und Kirche von der Beilegung des Kulturkampfs bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (Bd. 3), Berlin 1983, S. 729, vgl. auch Hermelink, Heinrich: Das Christentum in der Menschheitsgeschichte von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Nationalismus und Sozialismus 1870–1914 (Bd. 3), Stuttgart [u.a.] 1955, S. 301f. Die preußische Generalsynode schloß sich am 13.12.1897 dem Votum des Oberkirchenrates vom 16.12.1895 an, Huber, Huber, 1983 (wie Anm. 119), S. 731. Die Folge dieser Beschlüsse war ein spürbarer Rückgang des sozialpolitischen Engagements innerhalb der Pfarrerschaft, ebd., S. 732. Pastor Friedrich Heitmüller, stellv. Vorsitzender des Gnadauer Verbandes, eines Zusammenschlusses vieler diakonischer Einrichtungen und Gemeinschaften pietistischer Couleur innerhalb der evangelischen Landeskirchen, und 1930/32 Reichstagskandidat des Christlich-Sozialen Volksdienstes, einer christlichen Kleinpartei in der christlich-sozialen Tradition Adolf Stoeckers, beklagte später: „Wir Christen [haben] durch unser völliges Abseitsstehen – bis hin zum grundsätzlichen Nichtwählen! – viel versäumt und verschuldet“, Heitmüller, Friedrich: Aus vierzig Jahren Dienst am Evangelium, Witten [1949], S. 135. 120 Die insbesondere mit dem Namen Johann Hinrich Wichern verknüpfte Innere Mission setzte

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in die politische Willensbildung einzuschalten. Insbesondere trieb ihn dabei die Opposition zur Sozialdemokratie an, die in seinen Augen mit ihrer volksverhetzenden Klassenpolitik den Keil immer tiefer in die zerrissene deutsche Gesellschaft trieb. „Leben wir nicht in einer Zeit ganz merkwürdiger Widersprüche? Haben wir Deutsche nicht endlich allen Grund, froh und dankbar zu sein […] unter der kraftvollen Regierung unseres Kaisers […]? Wer aber schärft unserem Volk den Blick für die Vorteile, die wir genießen? […] Ein wie tiefer Riß geht durch die verschiedenen Klassen unserer Bevölkerung, als wenn wir nicht die Bürger eines Reiches wären, die doch zusammengehören. Wie wenig geschieht doch auch, um die vorhandenen Mißstände aus der Welt zu bringen. Wer führt im Deutschen Reich einen energischen Kampf gegen die Unsittlichkeit wie gegen die Unmäßigkeit, wer versucht die Wohnungsnot in den großen Städten zu lindern, wer tritt gegen die Verhetzung des Volkes auf und wer stärkt unseren Leuten das Nationalgefühl und die Vaterlandsliebe?“121

Vietors Schritt in die Parteipolitik war die direkte und offensichtlich spontane Folge eines kolonialpolitschen Votrags auf dem Weimarer Parteitag der Christlich-Sozialen Partei (CSP) Adolf Stoeckers122 1906, zu dem ihn die Partei eingeladen hatdurch Schaffung einer Vielzahl diakonischer und sozial-caritativer Vereine und Einrichtungen darauf, entkirchlichte, entwurzelte und verarmte Gesellschaftsschichten aufzufangen, mit christlichem Geist neu zu erfüllen und in die Gesellschaft zu resozialisieren. Sie verzichtete aber weitgehend auf eine politisch-lenkende Beeinflussung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, was letztlich ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellte und sie in die Gefahr brachte, sich von einem unsozialen und emanzipatorische Tendenzen unterdrückenden System instrumentalisieren zu lassen, vgl. Jähnichen, Traugott: Protestantismus und soziale Frage im 19. Jahrhundert, in: Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hrsg.): Praktische Theologie und protestantische Kultur (Praktische Theologie und Kultur; 9). Für Peter C. Bloth zum 70. Geburtstag, Gütersloh 2002, S. 135–150; In der 1884 vom Zentralausschuß der Inneren Mission veröffentlichten Denkschrift, „Aufgabe der Kirche und ihrer Inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart“, wurden die gesellschaftlichen Verwerfungen zwar schonungslos erörtert, aber als Heilmittel lediglich der persönliche Einfluß des einzelnen Christen sowie Predigt und Verkündigung genannt, vgl. Andresen, Bernd: Ernst von Dryander. Eine biographische Studie, Berlin [u.a.] 1995, S. 109. Trotz der teils beeindruckenden caritativen Leistungen der Diakonie hat man den weitgehenden Verzicht der Evangelischen Kirche auf sozial-politisches Engagement daher auch als Versagen der Kirche vor der sozialen Frage gewertet. Hans-Ulrich Wehler verweist insbesondere für die Industriegebiete Deutschlands darauf, dass die Kirche in den Augen der Arbeiter eben deshalb eine Kirche des „satten Bürgertum[s]“ und des „gnädigen Herrn auf dem Rittergut“ blieb, vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich. 1871–1918 (Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1380), Göttingen2 1975, S. 119. 121 Vietor, 1904 (wie Anm. 54), S. 1 122 Zu Adolf Stoecker vgl.: Brakelmann, Günter/Greschat, Martin/Jochmann, Werner (Hrsg.): Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers (Hamburger Beiträge zur Sozialund Zeitgeschichte; 17), Hamburg 1982; Brakelmann, Günter: Adolf Stoecker als Antisemit, 2 Bd. (Schriften der Hans-Ehrenberg-Gesellschaft; 10, 11), Waltrop 2004; Imhof, Michael: „Einen besseren als Stöcker finden wir nicht“. Diskursanalytische Studien zur christlich-sozialen Agitation im deutschen Kaiserreich (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft; 3), Oldenburg 1996; Frank, Walter: Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung, Berlin 1928. Die hier benutzte, inhaltliche weitgehend unveränderte Ausgabe stammt aus dem Jahr 1935. Eine detailreiche, zeitgenössische, aber z.T. durch zu starke persönlicher Nähe gekennzeichnete Arbeit über Stoecker bietet Stoeckers Weggefährte von Oertzen: Oertzen, Dietrich von: Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte, 2 Bd., Berlin 1910. Eine insbe-

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te.123 Dabei lernte er erstmals auch Stoecker persönlich kennen und freundete sich mit ihm an: „Er war von meinem Vortrag begeistert und ein herzliches Verhältnis hat sich zwischen uns beiden angesponnen, welches sich das ganze Leben durchgehalten hat.“124 Als Vietor zur CSP fand, hatte die Partei ihre besten Zeiten bereits hinter sich.125 1878 zunächst als „Christlich-soziale Arbeiterpartei“ mit dem Ziel gegründet, die immer stärker werdende Anlehnung der Arbeiterschaft an die SPD zu durchbrechen und sie mit dem monarchisch-nationalen Gedanken zu versöhnen, hatte sich die Partei 1881 der Deutsch-konservativen Partei angeschlossen, ohne sich jedoch aufzulösen. Ein Einbruch in die Wählerschichten der SPD war nicht sondere die Entstehungsgeschichte der CSP beleuchtende Arbeit bietet Kaehler, Siegfried A.: Stöckers Versuch, eine christliche Arbeiterpartei in Berlin zu begründen, in: Wentzcke, Paul (Hrsg.): Deutscher Staat und deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Partei- und Ideengeschichte. Friedrich Meinecke zum 60. Geburtstag, München 1922, S. 227–265. 123 Während einer Rede auf dem Parteitag der CSP in Wiesbaden 1911 gab Vietor an, aufgrund einer Einladung auf den Parteitag in Weimar 1906 zur CSP gestoßen zu sein. Seine politisch nationalkonservative Positionierung erklärte er hingegen mit einer längeren Entwicklungsgeschichte, Vietor, J. K.: Redemanuskript vom 19.9.1911: „Christlich-sozialer Parteitag“, VPAH, S. 2. In seinen Erinnerungen verlegt Vietor den Vortrag auf eine Parteiversammlung in Bielefeld, „so um den Anfang dieses Jahrhunderts“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 4. Der Parteitag in Bielefeld 1899 dürfte aber kaum in Frage kommen, Hinweise auf eine so frühe Beziehung zur CSP fehlen. Vietors Ruf als Kolonialpolitiker stammt zudem erst aus der Zeit nach der Berufung in den Kolonialrat, was eine frühere Einladung als Sprecher auf einen Parteitag wenig wahrscheinlich macht. Die Parteitage seit Neugründung der CSP sind aufgeführt bei Fricke, Dieter: Christlichsoziale Partei 1878–1918, in: Fricke, Dieter (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland, 1789–1945. Alldeutscher Verband – Deutsche Liga für Menschenrechte, Köln 1983–1986, S. 440–454, 440. Mitte der 1920er Jahre unterstrich Vietor in einem Zeitungsartikel allerdings den Gedanken, daß er bereits „Ende letzten und Anfang dieses Jahrhunderts […] ungezählte Vorträge für sie [gemeint ist die CSP, Anm. B.O.] in Westund Norddeutschland gehalten“ hatte. Als Ausgangspunkt der Begegnung nennt er einen Parteitag, auf dem er gesprochen haben will, liegt aber mit seiner Vermutung, dieser hätte in Herford stattgefunden, falsch, da hier nie ein CSP Parteitag abgehalten wurde, Artikelentwurf von J. K. Vietor für die Norddeutsche Rundschau [1924], StAB, 7,73-12, S. 1. 124 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 4. Ein Beleg für das persönliche Verhältnis mag das private Frühstück Vietors und Stoeckers am 2.10.1906 im Anschluß an den 10. Parteitag der CSP in Weimar am 30.9. und 1.10.1906 sein, J. K. Vietor (Heidelberg), an Hedwig Vietor vom 2.10.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. 125 Zur Geschichte der CSP vgl. Buchheim, Karl: Stoecker und die Christlich-Sozialen, in: Buchheim, Karl (Hrsg.): Geschichte der christlichen Parteien in Deutschland, München 1953, S. 239–295; Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 123); Imhof, 1996 (wie Anm. 122); Friedrich, Norbert: „Die christlich-soziale Fahne empor!“. Reinhard Mumm und die christlich-soziale Bewegung (Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte; 14), Stuttgart 1997; Busch, Helmut: Die Stoeckerbewegung im Siegerland. Ein Beitrag zur Geschichte der christlich-sozialen Partei, Siegen 1968; Krause, Jörg: Die Christliche-Soziale Partei im Wahlkreis HagenSchwelm (1896–1914), in: Kühne, Thomas/Rauh-Kühne, Cornelia/Mann, Bernhard (Hrsg.): Raum und Geschichte. Regionale Traditionen und föderative Ordnungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde; 40), Leinfelden-Echterdingen 2001, S. 172–197. Parteiprogramme der CSP in: Mommsen, Wilhelm: Deutsche Parteiprogramme (Deutsches Handbuch der Politik, Bd. 1), München3 1960, S. 71–73 (für 1878); S. 80–83 (für 1895); Busch, 1968 (wie Anm. 125), S. 119–121 (für 1910).

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gelungen, obwohl das Parteiprogramm der ab 1881 nur noch Christlich-soziale Partei heißenden Splittergruppe durchaus Anhaltspunkte für eine intensivere Beschäftigung der Arbeiter mit der neuen, konservativ-monarchisch ausgerichteten Partei geboten hätte.126 Es waren aber offensichtlich weniger die programmatischen Inhalte als vielmehr der Mangel der Partei an Milieunähe, der zum Scheitern führte. Neue und für sie dauerhaft typische Wählerschichten fand die Partei in der Folge in protestantisch kleinbürgerlichen Schichten und in eher weniger wohlhabenden bäuerlich ländlichen Regionen, die von der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts geprägt waren.127 Nachdem die Konservativen Stoecker bereits 1879 eine Kandidatur für das preußische Herrenhaus im Ravensberger Land angeboten hatten, schlugen sie ihn 1881 auch als Reichstagskandidaten für den Wahlkreis SiegenWittgenstein vor. Beide Mandate konnte Stoecker erringen und über viele Jahre halten.128 Bereits früh war das politische Wirken des Hofpredigers von einer antisemitischen Grundfärbung gekennzeichnet, wenngleich Stoecker immer wieder den Anschein zu erwecken suchte, daß sein Kampf dem eigentlichen politischen Gegner, dem Liberalismus, galt. Dessen mediale Sprachrohre waren in seinen Augen überwiegend areligiöse Juden, das „moderne Judentum“, die er im Unterschied zu gläubigen Juden als entwurzelt, haltlos und daher destruktiv-zersetzend wahrnahm.129 Somit fiel für ihn antisemitische Agitation gegen säkularisierte Juden und Kampf gegen den wertelosen, profitorientierten und unsozialen Liberalismus zusammen. Von einem rassistischen Antisemitismus kann daher bei Stoecker nicht gesprochen werden, auch wenn die semantischen Grenzen dazu bei ihm häufig verschwammen.130 Auch bei Vietor finden sich immer wieder antisemitische Zwischentöne, wie bei Stoecker teilweise verknüpft mit abwertenden Bemerkungen gegenüber einer rein materialistischen Lebenshaltung.131 Obwohl der Anschluß an 126 Das Parteiprogramm von 1878, an dem neben Stoecker der „Kathedersozialist“ Prof. Adolf Wagner wesentlichen Anteil hatte, forderte neben dem arbeitsfreien Sonntag, höheren Löhnen und kürzerer Arbeitszeit, obligatorische Witwen-, Waisen-, Invaliden-, und Rentenversicherungen, progressive Vermögenssteuern, Börsensteuern und die Schaffung von Arbeitnehmervertretungen (Fachgenossenschaften) als Verhandlungspartner der Arbeitgeber, Mommsen, 1960 (wie Anm. 125), S. 71–73; Brakelmann, Günter: Adolf Stoecker und die Sozialdemokratie, in: Brakelmann, 1982 (wie Anm. 122), S. 84–122, 114–116. Die Frontstellung zur SPD, die in ihrer gegenwärtigen Form als „unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch“ verworfen wurde und die „Liebe zu König und Vaterland“, die „auf dem Boden des christlichen Glaubens“ fußte, stellten das Fundament der Partei dar, Mommsen, 1960 (wie Anm. 125), S. 71. 127 Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 71. 128 Vgl. Buchheim, 1953 (wie Anm. 125), S. 252, 263. 129 Seine Kritikpunkte am liberalen und säkularisierten Judentum faßte er erstmals in seiner programmatischen Rede vom 19.9.1879, „Unsere Forderungen an das moderne Judenthum“, vor Zuhörern seiner Partei systematisch zusammen. Eine diskursanalytische Interpretation der Rede bietet Imhof, 1996 (wie Anm. 122) 130 Vgl. Bussiek, Dagmar: Mit Gott für König und Vaterland! Die Neue Preussische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848–1892 (Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich Ebert Stiftung; 15), Münster 2002, S. 289. 131 Nach dem Besuch einer Gastwirtschaft schilderte Vietor seiner Frau das gesunkene Niveau der anwesenden Gäste gegenüber früheren Zeiten: „Die Traube hat viel verloren. Viele Juden und Leute mit blankem Schädel und dicken Bäuchen. Ich muß darüber nachdenken, wie schwer es

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die Arbeiterbewegung mißlang, verhalf Steocker seine ungemeine Popularität in den 1880er Jahren zu einer einflußreichen Stellung in der Konservativen Partei, in der er sich als enger Weggefährte des Chefredakteurs der Neuen preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), Wilhelm Freiherr von Hammerstein, am rechten Rand ansiedelte.132 Im Zusammenhang mit der Kartellpolitik Bismarcks und der Nähe zu Graf Waldersee geriet er Anfang 1888 in Konflikt mit Bismarck. Dessen eindringliche Warnungen vor Stoecker an Prinz Wilhelm führten zu einer Abkühlung dessen Begeisterung für den Hofprediger. Im März 1889, inzwischen Kaiser, stellte ihn Wilhelm, nach einem von Bismarck geschürten und an die Presse lancierten Konflikt Stoeckers mit dem lutherischen Pfarrer Witte, vor die Wahl, entweder sein politisches Wirken einzustellen oder sein Amt als Hofprediger aufzugeben. Stoecker entschied sich für das Hofpredigeramt,133 verlor dadurch aber seine führende Rolle in der von ihm selbst „hoffähig“ gemachten antisemitischen Bewegung,134 deren Andoch sei unsere niedlichen Kinder so zu erziehen, besonders wenn wir in so guten Verhältnissen bleiben sollten, daß sie nachher nicht so scheußliche Materialisten würden, sondern tüchtige Menschen, die das Kleine klein und das Große groß ansehen. Das Beste muß doch der Herr dazu tun, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 30.6.1904, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Ein Jahr später war er wieder in der Traube, widerstand aber mit seiner Tischgesellschaft der Versuchung, über einige Gruppen im Gasthof zu lästern: „Wir hätten schön lästern können über die Juden, Gourmets etc.“, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 28.11.1905, ebd. In einer CSP Wahlversammlung fiel ihm besonders ein störender Jude auf, dessen Beschreibung eine deutliche Abneigung gegen Juden allgemein erkennen läßt: „Das Tollste war ein ganz dreckiger Jude, der sehr unverschämt war“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 7. Sein Ressentiment gegenüber Juden brachte er auch in der Verwendung der Redefigur vom Judenjungen zum Ausdruck, den man in die christliche Schule schickte, um das Mauscheln abzulegen, am Ende jedoch die ganze Klasse mauschelte, vgl. Vietor, J. K.: Die silbernen und goldenen Kugeln, in: Reichsbote vom 3.7.1915. Den trotz seiner eher weitläufigen jüdischen Abstammung häufig als Juden bezeichneten Kolonialstaatssekretär Dernburg dagegen schätzte er außerordentlich, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 16. Zu Dernburgs zeitgenössischem Ruf als Jude vgl. Hamburger, Ernest: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848–1918 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; 19), Tübingen 1968, S. 81. Dernburg enstammte mütterlicherseits einer evangelischen Pfarrersfamilie, sein Vater, Friedrich Dernburg, war Chefredakteur der Nationalzeitung und von 1871–1881 MdR (NL). Lediglich sein Großvater väterlicherseits war jüdischer Herkunft und konvertierte später zum Christentum, vgl. auch Reichstagshandbuch 1920, S. 199. 132 In den 1880er Jahren hat es „abgesehen von Bismarck, wohl nur wenige Minister oder Politiker – und sicher keinen Kirchenmann – [gegeben], die bekannter gewesen wären als er“, Greschat, Martin: Adolf Stoecker und der deutsche Protestantismus, in: Brakelmann, 1982 (wie Anm. 122). S. 19–83, 21. 133 Die Alternative der Beendigung der politischen Tätigkeit oder dem Abschied vom Hofpredigeramt hatte Wilhelm mit Erlaß an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 20.3.1889 unmißverständlich deutlich gemacht, Huber, Huber, 1983 (wie Anm. 119), Nr. 253, S. 624f. Stoecker beantwortete diese Forderung mit seinem Brief an den Kaiser vom 8.4.1889, in dem er das Hofpredigeramt vorzog und sich bereiterklärte, seine politische Agitation vorläufig ruhen zu lassen, Frank, Walter: Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung, Hamburg2 1935, S. 199. 134 Selbst sein enger Wegbegleiter und Biograph Dietrich von Oertzen gibt zu, daß ohne Stoeckers

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hängerschaft er bislang an die Konservative Partei hatte binden können. Durch seinen vorübergehenden Rückzug von der politischen Bühne traten nun andere und deutlich radikalere Personen wie Dr. Otto Böckel und Hermann Ahlwardt in den Vordergrund dieser ab Ende der 1880er Jahre stark um sich greifenden Bewegung, die sich von Stoecker erst emanzipierte und dann zunehmend radikalisierte.135 Es gelang ihm schließlich nicht mehr, trotz Zugeständnissen,136 diese Strömungen in den Rahmen der Konservativen Partei zu bannen. 1893 kam es zum offenen Bruch, als sich Otto Böckel in Stoeckers Wahlkreis Siegen gegen ihn aufstellen ließ.137 In der Stichwahl konnte sich der Nationalliberale Kandidat Dresler, der im ersten Wahlgang noch klar hinter Stoecker gelegen hatte durch Böckels Eintreten für Dresler knapp durchsetzen. Stoecker verlor sein Reichstagsmandat und konnte es erst in der folgenden Wahl 1898 wieder zurückerobern.138 Die Desintegration der ehemaligen antisemitischen Anhängerschaft führte zu einer Schwächung der Position Stoeckers in der Deutsch-Konservativen Partei, die ohnehin nach seinem von Wilhelm II. am 6.11.1890 provozierten Abschied vom Amt des Hofpredigers angeschlagen war.139 Zugleich geriet er mit Zunahme des Einflusses des saarländischen

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Agitation „die Rassen- und Radau-Antisemiten schwerlich jemals zur Welt gekommen wären“, vgl. von Oertzen, 1910 (wie Anm. 122), Bd. 2, S. 212. Vgl. Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 200f. 1890 zogen bereits fünf Antisemiten in den Reichstag ein, auf Kosten von Mandaten für die Deutsch-Konservative Partei. Bei der Wahl 1893 errangen sie 16 Mandate. 1894 schätzte der ehemalige Redakteur des Stoeckerblattes „Volk“, Hans Leuß, Stoecker hätte in der Reichtagswahl von 1893 durchaus 50–80 antisemitische Abgeordnete unter seiner Führung in den Reichstag bekommen, hätte er seine führende Rolle in der antisemitischen Bewegung behalten, Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 150, 237. Besonders auf Stoeckers Einfluß gehen die antisemitischen Sentenzen im sogenannten „TivoliProgramm“ der Konservativen Partei vom 8.12.1892 zurück. Stoecker fürchtete, ein Ignorieren der antisemitischen Stimmungen durch die etablierten Parteien, würde, wie schon bei der Arbeiterschicht, zur dauerhaften Entfremdung größerer Bevölkerungsanteile von den staatstragenden Schichten und der Kirche führen, vgl. Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 229–234, vgl. auch: Jochmann, Werner: Stoecker als nationalkonservativer Politiker und antisemitischer Agitator, in: Brakelmann, 1982 (wie Anm. 122), S. 123–198, 159. Hintergrund für Böckels Vorgehen war freilich Stoeckers Kandidatur gegen den Antisemiten Prof. Paul Förster im Wahlkreis Neustettin gewesen, zu der Stoecker dringend gebeten worden war. Auch hier verlor er schließlich ebenso wie im Wahlkreis Alsfeld-Lauterbach, für den er 1893 ebenfalls antrat, vgl. Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 237f.; von Oertzen, 1910 (wie Anm. 122), Bd. 2, S. 83–85; Busch, 1968 (wie Anm. 125), S. 77f. Stoecker hatte im 1.Wahlgang 9.212 Stimmen erhalten, Dresler nur 6.789. Böckel hatte etwa 1.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Im zweiten Wahlgang konnte sich Dresler mit 12.072 gegen 11.005 Stimmen für Stoecker durchsetzen. 1898 gewann Stoecker in der Stichwahl denkbar knapp mit 12.099 gegen 12.072 Stimmen für den nationalliberalen Kandidaten Kreutz, Stoecker, Adolf/Mumm, Reinhard: Dr. Adolf Stoecker. Reden im Reichstag, Schwerin 1914, S. 178, vgl. von Oertzen, 1910 (wie Anm. 122), Bd. 2, S. 84. Am 4.11.1890 hatte Stoecker seinen Rücktritt angeboten, nachdem Wilhelm II. ihn, inzwischen zum 2. Hofprediger aufgerückt und dienstältester Hofprediger überhaupt, bei der Vertretung des erkrankten 1. Hofpredigers Kögel demonstrativ übergangen hatte. Zugleich betrieb Kultusminister von Gossler ein Untersuchungsverfahren gegen Stoecker, nachdem sich der Großherzog von Baden beim Kaiser über Stoeckers Rede auf dem Landesparteitag der Konservativen Partei am 13.10.1890 beschwert hatte. Eine Entscheidung war hier jedoch noch nicht gefällt, vgl. Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 217–224.

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Großindustriellen Karl Ferdinand von Stumm-Halberg sowohl auf den Kaiser als auch auf die Parteilinie der Konservativen Mitte der 1890er Jahre auch mit seinen sozialpolitischen Ideen zunehmend unter Druck in der Partei, wozu freilich auch der immer stärker werdende Einfluß des Bundes der Landwirte beitrug.140 Besonders seine jüngere, liberal orientierte christlich-soziale Anhängerschaft um Friedrich Naumann,141 die sogenannten „jüngeren Christlich-Sozialen“, sorgten zunehmend für Differenzen bei den Konservativen und führten am 2.2.1896 schließlich zum freiwilligen Ausscheiden Stoeckers aus der Partei.142 Ein außerordentlich widersprüchlicher Schritt, da er sich in den folgenden Monaten eben nicht mit Naumann und seinen Anhängern enger verband, sondern sie schroff zurückwies und sie von der Neukonstitution der Christlich-Sozialen Partei ausschloß. Auch die Frage des Chefredakteurs des „Volk“ wurde nun mit der Trennung von Gerlach und der Berufung Dietrich von Oertzens zum 4.8.1896 ganz im Sinne der Forderungen der Konservativen gelöst. Hätte er diese Klarstellungen einige Monate früher vorgenommen, wäre eine Trennung von den Konservativen überflüssig gewesen.143 Richtig ist aber, daß Stoeckers Position in der Partei nach dem Hammersteinskandal und der Veröffentlichung seines „Scheiterhaufenbriefes“ im Sommer 1895 so geschwächt worden war, daß eine innerparteiliche Zurückdrängung nur eine Frage der Zeit zu sein schien.144 Offensichtlich sah er nach den neuerlichen Reibungen und 140 Hatte es auf dem Parteitag der Konservativen in der Berliner Tivolibrauerei im Dezember 1892 kurzzeitig so ausgesehen, als ob sich Hammerstein und Stoecker mit den christlich-sozialen Gedanken in der Partei durchsetzen könnten, so begann ihr Abstieg bereits 1893 mit dem Erstarken des Einflusses des im gleichen Jahr gegründeten Bundes der Landwirte, der die Konservativen immer mehr in eine agrarische Interessenpartei verwandelte, vgl. Buchheim, 1953 (wie Anm. 125), S. 281. 141 Naumann bestritt allerdings, jemals ordentliches Parteimitglied der CSP gewesen zu sein, was jedoch angesichts des Zusammengehörigkeitsgefühls eher als rein formaler Aspekt zu werten ist, Naumann, Friedrich: Gestalten und Gestalter. Lebensgeschichtliche Bilder, Berlin [u.a.] 1919, S. 106. 142 Am 16.1.1896 verlangte der Elferrat der Konservativen Partei, das höchste Leitungsgremium der Partei, ultimativ eine eindeutige Abgrenzung Stoeckers von Naumann und dem Chefredakteur des Stoecker-Blattes „Das Volk“, Hellmut von Gerlach. Stoecker kam dieser Forderung jedoch nur unzureichend und halbherzig nach, sodaß er in der Sitzung des Elferrates vom 2.2.1896 nicht nur seinen Platz im Elferrat räumte, sondern zugleich auch freiwillig aus der Partei austrat, Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 269f. Nach Oertzen fand die Sitzung am 1.2.1896 statt, von Oertzen, 1910 (wie Anm. 122), Bd. 2, S. 120. 143 „Es kann nur bedauert werden, daß der Wechsel nicht schon vor einem halben Jahr eingetreten ist, denn dann würde sicher die Trennung Stoeckers von den Konservativen zu vermeiden gewesen sein.“ Kreuzzeitung vom 17.7.1896, zit. bei Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 282. In den folgenden Jahren machte sich insbesondere der von Pastor Engel herausgegebene konservative „Reichsbote“ wiederholt für eine Wiedervereinigung der CSP mit der Konservativen Partei stark, vgl. dazu den Leitartikel zum 20.Jubiläum der CSP vom 3.1.1898, zit. bei von Oertzen, 1910 (wie Anm. 122), Bd. 2, S. 302–304. Auch 1910, ein Jahr nach Stoeckers Tod, war es der Reichsbote, der die Debatte einer Wiedervereinigung der beiden Parteien anstieß, vgl. Krause 2001 (wie Anm. 125), S. 181. 1910 übernahm der Reichsbote die 1903 von Stoecker gegründete und wirtschaftlich nicht mehr lebensfähige Tageszeitung „Das Reich“, vgl. Mumm, Reinhard: Der christlich-soziale Gedanke, Berlin 1933, S. 43f. 144 Walter Frank bezeichnet Hammerstein und Stoecker in Bezug auf ihre politische Beziehung als

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der immer schwieriger werdenden Integration seiner sozialpolitischen Ideen in der Partei keine weitere Zukunft mehr in ihr, was nicht zuletzt die Verhinderung der Übernahme des Hammersteiner Reichstagsmandates durch ihn unterstrichen hatte.145 Ein erfolgreicher eigenständiger Neuanfang der CSP erschien nach der Trennung von der jüngeren Generation aufgrund der schmalen programmatischen Basis der verbliebenen konservativen Teile der Partei unsicher. Bereits 1893 hatte Stoecker in einer Mischung von Zufriedenheit und Perspektivlosigkeit die bisherige Arbeit der christlich-sozialen Partei bewertet und geurteilt: „Wir Christlich-sozialen laborieren daran, daß unsere Forderungen durch ihre Erfüllung so schnell gegenstandslos werden.“146 Damit bezog er sich auf die staatliche Sozialgesetzgebung, die ab 1881 schrittweise im Reichstag durchgesetzt worden war und eine Kernforderung des ersten CSP Programms von 1878 darstellte. Weiter erschwerend für den Neuanfang der Christlich-Sozialen wirkte sich ein Kommentar des Kaisers zum Austritt Stoeckers aus der Konservativen Partei aus, der in der Formulierung gipfelte: „christlich-sozial ist Unsinn“.147 Diese Bezeichnung des Monarchen wurde in der politischen Auseinandersetzung forthin zur stehenden Redewendung der Stoeckergegner, um ihn und seine Partei zu diskreditieren.148 Auch im kirchlichen Bereich läutete das Jahr 1896 den nachhaltigen Niedergang von Stoeckers Einfluß ein. Nachdem Wilhelm II. mit seinen Erlassen vom 4.2.1890 kurzfristig dem Leitmotiv eines Sozialen Kaisertums gefolgt war und infolgedessen der Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche (EOK) der älteren Pro-

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„unzertrennliches Dioskurenpaar“. Der Fall des einen, mußte zwangsläufig auch verheerend auf den anderen wirken, vgl. Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 104. Freiherr von HammersteinGesmold, von 1881 bis 1895 Chefredakteur und Herausgeber der Kreuzzeitung sowie einflußreiches Mitglied der Konservativen Partei war 1895 von finanziellen Unregelmäßigkeiten überführt worden und daraufhin ins Ausland geflohen. Nach seiner Auslieferung an Deutschland wurde er 1896 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zusammenhang mit der Affäre um seine Person war auch ein Brief Stoeckers an ihn aus dem Jahr 1888 ans Licht gekommen („Scheiterhaufenbrief“), in dem Stoecker eine Reihe von taktischen Maßnahmen ( „Scheiterhaufen“) empfohlen hatte, mit denen die Kartellpolitik Bismarcks gesprengt werden sollte. Der Vorwärts veröffentlichte diesen konspirativen Brief am 5.9.1895 und trug damit wesentlich zum weiteren Ansehensverlust Stoeckers bei, vgl. Hoffmann, Wolfgang: Hammerstein-Gesmold, Wilhelm Joachim August Karl Alexander Emil Freiherr von, in: NDB 1967, S. 597; Imhof, 1996 (wie Anm. 122), S. 47. Der „Scheiterhaufenbrief“ ist abgedruckt bei Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 318f.; vgl. auch Huber, Huber, 1983 (wie Anm. 119), Nr. 250, S. 620f. Buchheim, 1953 (wie Anm. 125), S. 290. Stoecker auf einem Kursus der Partei am 19.10.1893 in Berlin, zit. nach Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 248. Der Satz ist Teil eines Telegramms von Wilhelm II. an Geheimrat Hinzpeter, das auf Betreiben des Freiherrn von Stumm und mit Zustimmung des Kaisers am 15.5.1896 in der „Post“ veröffentlicht wurde. Das Telegramm brachte Wilhelms Freude über Stoeckers Ausscheiden aus der konservativen Partei zum Ausdruck und verwarf grundsätzlich jedes politische Engagement von Geistlichen: „Politische Pastoren sind ein Unding.“ Das Telegramm ist abgedruckt bei Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 275f. Das Kaiserwort wurde nicht nur direkt gegen Soecker verwendet, sondern allgemein im Kampf gegen die CSP. So griff etwa Eugen Richter seinen christlich-sozialen Konkurrenten in der Reichstagswahl 1903, Reinhard Mumm, mit diesen Worten an, vgl. Hagener Zeitung Nr. 134 vom 11.6.1903, zit. bei: Krause, 2001 (wie Anm. 125), S. 193.

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vinzen Preußens149 am 17.4.1890 einen Aufruf an alle Pfarrer gerichtet hatte, sich der sozialen Frage anzunehmen,150 hatte Stoecker die Gründung des EvangelischSozialen Kongresses (ESK) vorangetrieben. Dessen Aufgabe sah er darin, die Kirche in eine „öffentliche Mission“151 zu führen und durch sozialpolitische Initiativen wie Vereins- und Genossenschaftsgründungen die Gesellschaft neu mit christlichem Geist zu durchdringen.152 Stoecker wollte den Kongreß zum Sammelpunkt aller sozial engagierten Kräfte in der Evangelischen Kirche machen, auch der theologisch und politisch liberal denkenden Kreise um Adolf Harnack und Friedrich Naumann, die in der Folge eine zunehmend beherrschende Stellung im Kongreß gewannen und Stoecker in die Defensive drängten. Nachdem die liberalen Professoren Harnack und Delbrück am 11.4.1896 Stoeckers Rücktritt vom zweiten Vorsitz des Kongresses gefordert hatten,153 trat Stoecker kurzentschlossen aus dem ESK aus, auf den er erkennbar keinen entscheidenden Einfluss mehr ausüben konnte. Wie im politischen Raum vollzog er jetzt auch im kirchlichen Bereich eine klare Abgrenzung von seinem theologisch und politisch liberalen Umfeld. Innerhalb weniger Monate verlor er damit die gesamte Plattform seines bisherigen kirchlichen und politischen Wirkens. Daran konnte die Neuformierung des konservativen Teiles der Christlich-Sozialen eben so wenig ändern wie die noch im gleichen Jahr 1896 betriebene Gründung der „Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz“

149 Seit 1875 der Name der Evangelischen Kirche in den preußischen Provinzen, die bereits vor 1866 zu Preußen gehört hatten. Die erst nach 1864/66 zu Preußen gekommen Gebiete Hannover, Hessen-Naussau und Schleswig-Holstein behielten ihre selbständigen Landeskirchen und traten nicht der Union bei, vgl.: Hermelink, 1955 (wie Anm. 119), S. 147–149. 150 Der EOK rief darin die Geistlichen auf, sich um die Jugend zu kümmern, Arbeitervereine zu bilden und in Versammlungen mit den Arbeitern zu reden. Dabei sollten sie versuchen, deren Vorurteile zu zerstreuen, Neuser, Wilhelm H.: Das soziale Experiment des Kaisers und der Kirche. Der Evangelisch-Soziale Kongreß, in: Rogge, Joachim (Hrsg.): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850–1918), Leipzig 1994, S. 307–318, 309. Der Aufruf ist abgedruckt in Huber, Huber, 1983 (wie Anm. 119), Nr. 306, S. 694–698. Nach der Kehrtwende Wilhelms II. in der sozialen Frage wurde der Aufruf mit Erlaß des EOK vom 16.12.1895 faktisch widerrufen. Das Engagement lutherischer Pfarrer hinsichtlich der sozialen Frage durfte forthin von keinerlei politischen Implikationen mehr begleitet werden. Diesem Votum schloß sich die preußische Generalsynode am 13.12.1897 ausdrücklich an, ebd., Nr. 321 und 323, S. 727–731. 151 Im Mai 1890 unterstrich Stoecker in seiner Eröffnungsrede des ESK die Notwendigkeit des sozialen Engagements der Kirche jenseits des caritativen Engagements und prägte dafür den Begriff der „öffentlichen Mission“. „Die Kirche muß sich auf ihren sozialen Beruf besinnen; sie wird dabei selbst am meisten gewinnen. Ich möchte diese ganze Arbeit als öffentliche Mission bezeichnen“, zit bei Brakelmann/Greschat/Jochmann (Hrsg.), 1982 (wie Anm. 122), S. 211 (Anm. 188). 152 Greschat, 1982 (wie Anm. 132), S. 54. 153 Frank, 1935 (wie Anm. 133), S. 281. Speziell von Harnack fühlte sich Stoecker hinausgedrängt und sieht dessen Vorgehen gegen ihn in dessen extrem unduldsamen Liberalismus begründet. Da der Liberalismus in seinen Augen von Natur aus intolerant war, wunderte ihn das Verhalten Harnacks nicht, Lehmann, Hartmut: Transformationen der Religion in der Neuzeit. Beispiele aus der Geschichte des Protestantismus (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 230), Göttingen 2007, S. 261.

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(FKSK), das theologisch konservative Pendant zum liberaleren ESK.154 Stoecker war vielmehr zwischen alle Stühle geraten. Er hatte die von ihm selbst angestoßenen Bewegungen nicht dauerhaft in seiner Hand bündeln und zügeln können und war am Ende in unüberbrückbare Gegensätze geraten. Zunächst hatte seine am 26.2.1896 in Frankfurt neugegründete CSP kein Mandat im Reichstag155 und die von ihm zurückgestoßene Gruppe der jüngeren Christlich-Sozialen um Naumann gründete mit dem Nationalsozialen Verein 1896 eine eigene, linksliberal-monarchisch ausgerichtete christlich-soziale Partei.156 Bis 1898 verblieb Stoecker zur parlamentarischen Arbeit nur sein Sitz im preußischen Herrenhaus. Das änderte sich mit seinem denkbar knappen Wahlsieg 1898, als er sein früheres Reichstagsmandat in Siegen-Wittgenstein zurückgewinnen konnte. 1903 kam ein weiteres Mandat für die CSP hinzu, als der Geschäftsführer der Partei, Dr. Burckhardt, im Wahlkreis Dillenburg-Oberwesterwald erfolgreich war. Ein drittes Reichstagsmandat konnte 1907 der Arbeitersekretär Franz Behrens für Wetzlar-Altenkirchen erringen. Während der Wahlkreis Siegen bei der wegen Stoeckers Krankheit und Tod notwendig gewordenen Nachwahl 1909 vorübergehend verloren ging, konnten Burckhardt und Behrens ihre Mandate dauerhaft verteidigen.157 Am 11.12.1903 schlossen sich Stoecker und Burckhardt mit Abgeordneten der antisemitischen Deutsch-Sozialen Partei (DSP), dem Bund der Landwirte (BdL) und dem Bayerischen Bauernbund (BB) zur „ Wirtschaftlichen Vereinigung“ 154 Die FKSK trat erstmals am 27. und 28.4.1897 in Kassel zusammen. In ihr vereinigten sich führende Vertreter der neupietistischen Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegung wie Julius Damman und Otto Stockmeyer sowie konservative Theologen wie August Hermann Cremer, Adolf Schlatter, Martin von Nathusius und W. Lütgert. Während der ESK sich mit sozialethischen Themen beschäftigte und die Landarbeiter- und Frauenfrage weiter bewegte, konzentrierten sich die Kirchlich-Sozialen auf „praktisch-kirchliche Aufgaben“ wie Volkskirche und Evangelisation, Sammlung der Heimarbeiterinnen, Evangelische Arbeitervereine und Christliche Gewerkschaften sowie der Reform der Konfirmation. Generalsekretär der Konferenz war der Stoeckerschüler Reinhard Mumm, der 1912 das 1909 verlorengegangen Stoeckermandat im Wahlkreis Wittgentstein-Siegen-Biedenkopf für den Reichstag zurückerobern konnte. Ab 1910 leitete der renommierte Theologe Reinhold Seeberg die FKSK. 1918 wurde sie in „Kirchlich-Sozialer Bund“ umbenannt, Hermelink, 1955 (wie Anm. 119), S. 303f. Zur FKSK vgl. Pollmann, Klaus Erich: Die Freie kirchlich-soziale Konferenz von ihren Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg (1897–1914), in: Heintze, Gerhard (Hrsg.): „Gott dem Herrn Dank sagen“. Eine Festschrift zum 90. Geburtstag von Landesbischof i.R. Dr. Gerhard Heintze (Arbeiten zur Geschichte der Braunschweigischen ev.-luth.Landeskirche im 19. und 20. Jahrhundert; 8), Wuppertal 2002, S. 253–277. 155 von Oertzen, 1910 (wie Anm. 122), Bd. 2, S. 136. 156 Den Begriff „Partei“ lehnte der Nationalsoziale Verein jedoch mit einer ähnlichen Begründung wie später der Christlich-soziale Volksdienst ausdrücklich ab. Man wollte damit einerseits der tiefsitzenden Skepsis christlich-protestantischer Kreise vor politischem Parteiwesen entsprechen und sich mehr als Ideengemeinschaft denn als politische Partei präsentieren. Einen Einblick in Geschichte und Ideen des Nationalsozialen Vereins, der sich nach der erfolglosen Reichstagswahl 1903 auflöste, bietet Damaschke, Adolf: Zeitenwende. Aus meinem Leben, Leipzig und Zürich (1925), S. 384–447. Zum Verzicht auf die Bezeichnung „Partei“ vgl., ebd., S. 472. Damaschke war von 1898–1903 zweiter Vorsitzender der Partei. 157 1912 konnte Mumm den Wahlkreis Siegen im 1.Wahlgang wieder zurückerobern, vgl. Buchheim, 1953 (wie Anm. 125), S. 292f.

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(WV) zusammen, um dadurch Fraktionsstärke zu erlangen.158 Da die WV nach der Wahl 1912 ihre Fraktionsstärke verlor, vereinbarten die drei CSP Abgeordneten zunächst einen „Zuzählungsstatus“ mit der Deutsch-Konservativen Partei, um dann am 18.1.1916 mit Freikonservativen, Deutsch-Hannoveranern, Bayerischem Bauernbund und DSP die Deutsche Fraktion zu bilden. Mit WV und Deutscher Fraktion hatte die Partei zwar jeweils eine Plattform im Reichstag, blieb dort aber ohne größeren Einfluß, wenngleich die Abgeordneten Mumm und Behrens auf jeweils überdurchschnittlich viele Wortmeldungen im Haushaltsausschuß kamen.159 Auf kommunaler Ebene dagegen konnte die Partei auch in Gebieten, in denen sie vertreten war, aber kein Mandat erringen konnte, durchaus ein nicht zu unterschätzender Faktor sein. Für den Wahlkreis Hagen-Schwelm, in dem die CSP bei Reichstagswahlen nie über einen Wähleranteil von 5,5 % hinauskam, weist Jörg Krause eine wesentlich stärkere Bedeutung der Partei nach, als die Reichstagswahlergebnisse zunächst vermuten lassen. Krause geht davon aus, daß die potentielle Wählerschaft der CSP vielerorts deutlich höher war, als die tatsächlich für sie abgegebenen Stimmen und führt das vor allem auf wahltaktische Überlegungen zurück.160 In den westfälischen und rheinischen Kerngebieten der CSP, dem Siegerland, dem Bergischen Land,161 der Grafschaft Mark mit dem Wahlkreis Hagen-Schwelm, in Minden-Ravensberg und in Wetzlar-Altenkirchen hatte die CSP durch ihre Einbindung in das evangelische Milieu Einfluß auf breite Wählerschichten und musste bei Wahlbündnissen gegen die SPD berücksichtigt werden. Entsprechende Absprachen mit dem Zentrum, später mit den Nationalliberalen,162 zeitweise sogar mit dem Freisinn für die kommunale Ebene im Raum Hagen-Schwelm, lassen sich nachweisen.163 So gelang Behrens 1907 der Einzug in den Reichstag durch die Unterstüt158 Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 123), S. 448; vgl. auch: SBR, Reichstagshandbücher, 1903/08, 11.Leg. per., S. 358. 159 Buchheim, 1953 (wie Anm. 125), S. 292f.; Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 123), S. 448, 450. Buchheim verlegt die Bildung der Deutschen Fraktion irrtümlich auf 1912. Zur Bildung der Deutschen Fraktion vgl. auch Schiffers, Reinhard: Der Hauptausschuss des Deutschen Reichstags 1915–1918. Formen und Bereiche der Kooperation zwischen Parlament und Regierung (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 67), Düsseldorf 1979, S. 119; Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 96f. Schiffers weist daraufhin, daß Mumm und Behrens in der 13. Leg. per. mit 30, resp. 20 Wortmeldungen zu „Hauptrednern“ im Haushaltsausschuß avancierten. 160 Krause, 2001 (wie Anm. 125), S. 194. 161 Hier v.a. die drei Wahlkreise Elberfeld/Barmen, Solingen, Remscheid/Lennep/Mettmann. Die CSP hatte in allen drei Wahlkreisen zusammen 1.166 Mitglieder, konnte bei der Reichstagswahl 1907 aber 7.065 Stimmen gewinnen, vgl. Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 123), S. 447. 162 Bereits 1907 versuchte die CSP für den Wahlkreis Gummersbach einen gemeinsamen Kandidaten mit den Nationalliberalen aufzustellen, der allerdings kein CSP Mitglied sein mußte, Die Arbeit 1 (1907), S. 5. Für die Reichstagswahl 1912 hoffte die CSP auf die Unterstützung der Nationalliberalen im Wahlkreis Halle-Herford, wo man 1907 immerhin 5.796 Stimmen bekommen hatte, die SPD 5.758, die Nationalliberalen 6.080 und die Konservative 8.336 Stimmen. Als Gegenleistung wollte man an anderer Stelle einen Kandidaten der Nationalliberalen unterstützen, vgl. Bericht vom Parteitag in Wiesbaden, in: Die Arbeit 37 (1911), S. 2. 163 Krause, 2001 (wie Anm. 125), S. 195. In der Stichwahl der Reichstagswahlkampfes 1912 versuchte die CSP sich mit dem Freisinn zu arrangieren und bot für die Unterstützung Rippels in

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zung des Zentrums und auch Mumm konnte sich für die Wahl 1912 die Unterstützung des Zentrums sichern, nachdem er ohne ihre Hilfe 1909 gescheitert war.164 Auch Heinrich Stuhrmann wurde 1912 im Wahlkreis Lennep vom Zentrum unterstützt, für einen Einzug in den Reichstag reichte es jedoch nicht.165 Vietor plädierte energisch dafür, die Konservative Partei nicht unnötig zu „vergrätzen“, um sich nicht ihre Gegnerschaft in Wahlkreisen einzuhandeln, in denen die CSP reale Erfolgschancen hatte. Wo nichts zu holen wäre für die CSP, sollten auf keine Fälle Kandidaten gegen die Konservativen aufgestellt werden.166 Auch zu den Nationalliberalen versuchte er eine vorsichtige Annäherung.167 Das durchaus ernstzunehmende Gewicht der CSP in ihren Kerngebieten beweisen auch die guten Reichstagswahlergebnisse des Generalssekretärs der CSP, Wilhelm Wallbaum, und des Hagener Verlegers Otto Rippel.168 Zu den drei Reichstagsmandaten konnte die CSP 1913 noch einen Sitz im preußischen Abgeordnetenhaus erringen,169 was wiederum nur durch Unterstützung anderer rechtsstehender Parteien möglich gewesen war.170

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Bensheim-Erbach die CSP Unterstützung in Frankfurt und Lennep an, was der Freisinn jedoch brüsk ablehnte, vgl. in: Die Arbeit 5 (1912), S. 3f. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 69f., 83f. Siekmann, Birgit: Donnerstimme Gottes. Pfarrer Heinrich Stuhrmann, in: Hentzschel-Fröhlings u.a. (Hrsg.): Gesellschaft – Region – Politik. Festschrift für Hermann de Buhr, Heinrich Küppers und Volkmar Wittmütz, Norderstedt 2006, S. 165–180, 167. J. K. Vietor an Behrens vom 7.11.1910, StAB, 7,73-49, Bl. 24–26. Vietor forderte über das Verhalten gegenüber den Konservativen eine Vorstandsdiskussion und versandte den Brief an Behrens daher in Kopie auch an den Rest des Vorstandes. Mit der Parteileitung durch Burckhard und Behrens zeigte sich Vietor einstweilen nicht sonderlich zufrieden, J. K. Vietor an Wallbaum vom 29.11.10, ebd.,S. 27–29. Als die CSP im Vorfeld der Reichstagswahl und mitten in den Auseinandersetzungen der Marokkokrise in Barmen einen Vortragsabend organisiert hatte, lud Vietor auch den nationalliberalen Amtsgerichtsrat Neddermann ein und trug ihm den Vorsitz der Veranstaltung an, was dieser auch annahm. Die Veranstaltung sollte zwar weniger parteipolitische als vaterländische Züge tragen, dennoch erhoffte sich Vietor dadurch eine Stärkung der Fraktion der Wirtschaftlichen Vereinigung. Die Vorträge waren ganz in ein Macht- und Weltpolitik verherrlichendes Licht getaucht. 1. Marokko und die politische Lage, Allgemeines; MdR Lattmann; 2. Die Notwendigkeit der deutschen Welt- und Kolonialpolitik für den deutschen Handel und die deutsche Industrie und wie treiben wir erfolgreiche Welt- und Kolonialpolitk? J. K. Vietor; 3. Haben wir die Macht, erfolgreich Welt- und Kolonialpolitik zu treiben? Generalmajor Klingender, KleinFlottbeck; 4. Haben wir das christlich-sittliche Recht, Welt- und Kolonialpolitik zu treiben? Direktor Stuhrmann, Barmen, J. K. Vietor an Neddermann vom 14.9.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 69; J. K. Vietor an Amtsgerichtsrat [Neddermann] vom 18.9.1911, ebd., Bl. 70. Wallbaum erreichte im Wahlkreis Herford-Halle 1907 mit 5.795 Stimmen immerhin einen Stimmenanteil von 22,3% und Rippel scheiterte als Kandidat der Wirtschaftlichen Vereinigung im Wahlkreis Bensheim-Erbach erst in der Stichwahl, Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 71. Rippel fehlten am Ende nur 800 Stimmen, Die Arbeit 37 (1911), S. 3. in: Die Arbeit 23 (1913), S. 4. Das Mandat erhielt der frühere Generalsekretär der Partei, Wilhelm Wallbaum. In seinem Wahlkreis Bielefeld-Herford-Halle waren, trotz des sie benachteiligenden Dreiklassenwahlrechts, 101 CSP-Wahlmänner gewählt worden, neben 334 Konservativen, 254 Nationalliberalen, 82 Freisinnigen und 324 Sozialdemokraten. Für die CSP bedeutete das eine Steigerung um 43 Wahlmänner im Vergleich zur Wahl von 1908, Die Arbeit 21 (1913), S. 1. Bericht vom 17. Parteitag in Bielefeld, in: Die Arbeit 37 (1913), S. 2. Da neben dem Einzug

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In Nord-, Süd-, Mittel- und Ostdeutschland war die CSP kaum präsent.171 1907 verfügte die Partei über 171 Ortsgruppen mit 7.700 Mitgliedern sowie weiteren 1.300 Einzelmitgliedern,172 1908 konnte die Mitgliederzahl auf 14.000 gesteigert werden,173 1909 lag sie bei 15.000.174 Hatte die CSP bei der Reichstagswahl 1907 mit 14 aufgestellten Kandidaten insgesamt 84.085 Stimmen erhalten,175 so waren es 1912 in nun 36 Wahlkreisen 103.567.176 Um das gesamte Potenzial der Partei angemessen beurteilen zu können, müssen auch die vielfältigen personellen Verflechtungen der CSP mit der christlichen Arbeiterbewegung, wie sie etwa in evangelischen Arbeitervereinen, der christlichen Gewerkschaftsbewegung und christlichen Arbeitersekretären sichtbar wurde, in Betracht gezogen werden. Zu diesem Spektrum zählte auch der „Deutschnationale Handlungsgehilfenverband“ (DNHV), der sich 1904 in Hagen mit der christlichen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zum „Ausschuss für Arbeitervertreterwahlen und soziale Angelegenheiten“ zusammenschloß. Die enge Verbindung der CSP zum Lager der christlichen Arbeiterbewegung führte dazu, daß die CSP christliche Gewerkschafter und Mitglieder des DNHV bei den Vertreterwahlen zu Gewerbe- und Kaufmannsgerichten sowie den Krankenkassen unterstützte.177 Umgekehrt profitierte sie von deren Unterstützung, was in Hagen dazu führte, daß bis zu

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Wallbaums in den preußischen Landtag ein Kandidat für den württembergischen Landtag nur knapp gescheitert war, sah sich die Partei 1913 durchaus im Auftrieb und rechnete sich für die Zukunft weiter wachsende Chancen durch vermehrte Absprachen mit anderen Parteien aus, ebd. Das war einer der Gründe, warum der Parteitag 1906 in Weimar stattfand. Man wollte die hier nur dünne Unterstützerschicht durch den Parteitag stärken und plante insgesamt eine Ausweitung der Parteibasis auf ganz Deutschland, vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 67. Als Konsequenz dieser Strategie wurde für die Reichstagswahl 1912 erstmals auc h ein Kandidat für Bremen aufgestellt, der Kaufmann Franz Schlunk, allerdings der einzige CSP Kandidat in ganz Nordwestdeutschland, Die Arbeit 37 (1911), S. 2. Er erhielt bei der Wahl lediglich enttäuschende 3.397 Stimmen, vgl. Bericht vom Parteitag in Wiesbaden, in: Die Arbeit 38 (1911), S. 3f.; vgl. auch Schwarzwälder, Herbert: Das große Bremen-Lexikon, Bd. 2, Bremen2 2003, S. 770f. Bereits 1911 war ein Wahlkreisvorstand für Bremen und Bremerhaven gegründet worden. Während der Ortsverband Bremen innerhalb weniger Monate von knapp 300 Mitgliedern auf über 400 Mitglieder angewachsen war, hatte sich ein entsprechender Verband in Bremerhaven erst Anfang 1911 konstituiert, Die Arbeit 2 (1911), S. 7; Die Arbeit 30 (1911), S. 7. Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 123), S. 447; Imhof, 1996 (wie Anm. 122), S. 52f. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 71. Ein weiteres Indiz für die Aufwärtsentwicklung der Partei sind die neun Parteisekretäre, die 1908 bereits beschäftigt werden konnten, ebd. in: Die Arbeit 40 (1909), S. 6. in: Die Arbeit 7 (1907). Im Wahlkreis Elberfeld-Barmen hatte der CSP Kandidat, Oberlehrer Linz, 34.228 Stimmen erhalten, konnte das Mandat aber dennoch nicht erringen. Im ersten Wahlgang hatte er 14.157 Stimmen bekommen. Der deutliche Anstieg im zweiten Wahlgang dokumentiert die Chancen der CSP, über Wahlabsprachen mit anderen Parteien zum Erfolg gelangen zu können. Friedrich geht irrtümlich nur von 54.800 erhaltenen Stimmen für die CSP bei der Reichstagswahl 1907 aus, vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 68. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 84. Vietor schätzte, daß von den erhaltenen Stimmen etwa 30.000 von Katholiken stammten und damit zumindest zum Teil von Zentrumswählern, J. K. Vietor an Neuhaus vom 8.2.1912, StAB, 7,73-49, Bl. 88. Vgl. Krause, 2001 (wie Anm. 125), S. 182–185.

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5 Stadtverordnete der CSP angehörten, was einem Anteil von rund 10 % entsprach. Zu ihnen zählte auch Otto Rippel, ein Freund Vietors und zeitweise zweiter Parteisekretär der CSP.178 Eine gewisse Massenbasis stellte auch der Gesamtverband Evangelischer Arbeitervereine (GEA) dar, deren Vorsitzender der führende Christlich-Soziale Ludwig Weber war, sowie der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands und der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands (GCG), auf die Franz Behrens entscheidenden Einfluß hatte. Behrens war Generalsekretär des Gewerkvereins und seit 1906 stellvertretender Vorsitzender des GCG, 179 der 1907 bereits 287.350 christliche Gewerkschafter vertrat.180 1903 wurde er auf dem ersten Deutschen Arbeiterkongress in Frankfurt, dem wichtigsten Forum der evangelischen und katholischen Gewerkschaftsbewegung, das 1907 bereits rund eine Million Gewerkschafter vereinte, zum Vorsitzenden des Exekutivorgans, dem Ausschuss des Deutschen Arbeiterkongresses (DA), gewählt.181 Auch Reinhard Mumm konnte in seiner Funktion als Generalsekretär der Sozialen Geschäftsstelle für das Evangelische Deutschland, die als kräftebündelnde Koordinationsstelle der vielfältigen Vereine und Körperschaften des sozialen Protestantismus am 20.10.1903 in Berlin eingerichtet worden war, einen gewissen politischen Einfluß ausüben, wenngleich sicher keinen allzu großen.182 Immerhin eröffnete auch diese Funktion einen Zugang zur christlich-nationalen Arbeiterbewegung sowie den evangelischen Arbeitervereinen und dokumentiert die vielfältige personelle Verflechtung der CSP mit dem sozialkonservativ bewegten Protestantismus.183 178 Krause, 2001 (wie Anm. 125), S. 194 f. 179 Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 123), S. 447. 180 Schneider, Michael: Die christlichen Gewerkschaften. 1894–1933 (Forschungsinstitut der Friedrich Ebert Stiftung, Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte; 10), Bonn 1982, S. 239. 1913 hatte der GCG bereits 355.000 Mitglieder und für 1917 werden 404.000 Mitglieder angegeben, ebd. Auch die Zahlen sowie die Mitgliedsorganisationen des Deutschen Arbeiterkongresses finden sich hier. Fricke weist daraufhin, daß die Mitgliedszahlen jedoch in keinem Verhältnis zu denen der freien Gewerkschaften standen, die alleine zwischen 1905 und 1907 eine Steigerung von 1.344.803 auf 1.865.506 erfuhren, vgl. Fricke, Dieter: Zur Förderung der christlichen Gewerkschaften durch die nichtmonopolistische Bourgeoisie, in: ZfG 9 (1981), S. 814–819, 814. Franz Behrens rechnet in einer Denkschrift für den CSP Hauptvorstand für das 1.Kriegsjahr mit 350.000 christlichen Gewerkschaftern, die im GCG organisiert waren und mit 171.589 Mitgliedern evangelischer Arbeitervereine in 1.296 Vereinen. 144.000 von ihnen mit 1.044 Vereinen waren danach dem GEA angeschlossen, „Die christlich-nationale Arbeiterbewegung“, Denkschrift für den Hauptvorstand der CSP [1914/15], BAB, N 2203/31, Bl. 271, 274f. 181 Fricke, 1981 (wie Anm. 180), S. 815, vgl. auch Schneider, 1982 (wie Anm. 180), S. 246. Schneider gibt nur für 1907 an, daß Behrens zum ersten Vorsitzenden des Ausschusses gewählt wurde. Für 1903 führt er lediglich die fünf Mitglieder des Ausschusses, darunter Behrens, auf, ohne anzugeben, wer zum Vorsitzenden gewählt wurde, ebd. S. 240. 182 Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 139. Friedrich stellt fest, daß die Soziale Geschäftsstelle die an sie gerichteten Aufgaben „nie“ habe „wirklich erfüllen können“; vgl. auch Christian Illian: Sozialer Protestantismus im Kirchenkampf, in: Norbert Friedrich, Traugott Jähnichen (Hrsg.): Sozialer Protestantismus im National-sozialismus. Diakonische und christlich-soziale Verbände unter der Herrschaft des Nationalsozialismus [Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus], Münster 2003, S. 25–40, 29. 183 Zur Verflechtung christlich-sozialer Politiker mit den christlichen Gewerkschaften vgl. auch

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Dort wo sie Einfluß innerhalb dieses Milieus nehmen konnte, bewirkte sie ein verstärktes Aufgreifen sozialreformerischer Ideen im christlich-sozialen Sinne.184 Damit kann auch für die Zeit nach 1896 davon gesprochen werden, daß Stoecker mit seinem sozialreformerischen Anliegen weit über die Parteigrenze seiner kleinen CSP hinaus im evangelischen Raum wirksam blieb und zu den herausragenden Initiatoren eines weit verzweigten Netzwerkes von Vereinigungen christlich-sozialer Prägung gezählt werden kann. Seine sozialpolitische Wirkungsgeschichte steht jedenfalls in keinem Verhältnis zu seinem bescheidenen parteipolitischen Erfolg.185 Sozialpolitisches Engagement in der CSP Vietor erklärte 1911 seine politische Entwicklung ins konservative Lager mit seiner zunehmenden Unzufriedenheit mit der Berichterstattung großer, linksliberaler Zeitungen über die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Da er als weitgereister Mann über ausreichende Vergleichsmöglichkeiten mit den gesellschaftlichen Zuständen benachbarter Länder verfügte, erschien ihm die kritisch gestimmte veröffentlichte Meinung in einem krassen Gegensatz zu seinen eigenen Beobachtungen zu stehen. Bei allen Mängeln der gesellschaftlichen Situation in Deutschland, die er keinesfalls bestritt, fehlte ihm der konstruktive, grundsätzlich systembejahende Unterton in der Berichterstattung, die für ihn daher polarisierend und gesellschaftsspaltend war. „Mit Schimpfen und Hetzen, mit Erbitterung und Haß bessert man keine Schäden. Im Gegenteil, man macht die Verhältnisse nur schlimmer. Allzu scharf macht schartig. Druck erzeugt Gegendruck und anstatt eines Ausgleichs schafft er Gegensätze.“186

Der christlich-soziale Konservatismus dagegen war ihm deutlich sympathischer, obwohl sein gesellschaftliches Umfeld in Bremen und teilweise auch das seiner Familie eher linksliberal (freisinnig) gestimmt war.187 Entsprechende Friktionen löste seine politische Orientierung aus, waren die unterschiedlichen Bewertungen Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 140–146. 184 Krause, 2001 (wie Anm. 125), S. 174. 185 Vgl. dazu: Jähnichen, 2002 (wie Anm. 120), S. 143; Jochmann, 1982 (wie Anm. 136), hier v.a. der Abschnitt: Der Sieg des Agitators – Zur Wirkungsgeschichte Stoeckers, S. 185–192. Dieses Spektrum war auch über die CSP Grenzen hinaus parlamentarisch vertreten, wenngleich mehrheitlich im Zentrum organisiert. Nach der Reichtagswahl 1907 stellte „Das Reich“ neben Behrens auch sechs weitere Mandatsträger der christlich-nationalen Gewerkschaftsbewegung vor. Dazu gehörten Karl Mathias Schiffer (Z), Johann Giesberts (Z), Karl Wilhelm Schack (Wirtschaftliche Vereinigung), Johannes Becker (Z), Carl Schirmer (Z), Joseph Wiedeberg, in: Das Reich 321 (1907). 186 Vietor, J. K.: Redemanuskript vom 19.9.1911 „Christlich-sozialer Parteitag“, VPAH, S. 2. Eine Zusammenfassung der Rede bringt der Parteitagsbericht von 1911, vgl. Die Arbeit 37 (1911), S. 1. 187 Vietor, J. K.: Redemanuskript vom 19.9.1911 „Christlich-sozialer Parteitag“, VPAH, S. 2. Bei seinem Weg ins konservative Lager konnte er jedoch den Vorstellungen des Bundes der Landwirte (BdL) zu sozialen Fragen ausdrücklich „nicht immer zustimmen“, eine Bemerkung, die sich offensichtlich auf die Fraktionsgemeinschaft mit dem BdL bezog, ebd.

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Stoeckers in seiner nächsten Umgebung doch bereits seit Jahren kontrovers ausgetragen worden. Missionsinspektor Michael Zahn etwa war ein entschiedener Gegner Stoeckers. Als Stoecker nach seinem Austritt aus der Konservativen Partei von einer Gruppe Pastoren, Professoren und Laien in einer öffentlichen Erklärung angegriffen wurde, führte er die Initiative auf Zahn zurück, dessen mutmaßliche Sympathien für die Deutsche Freisinnige Partei ihm völlig unverständlich waren.188 In der Erklärung der Gruppe um Zahn argumentierte man ähnlich wie der Kaiser in seinem berühmten Telegramm vom 28.2.1896, in dem er politische Pastoren als „Unding“ bezeichnet und von Geistlichen politische Abstinenz gefordert hatte. In den Augen Zahns waren Kirche und Staat zwei streng zu trennende Wirklichkeiten. Es war für ihn nicht zu billigen, daß man „im Namen des Christentums, des Evangeliums, der Kirche bestimmte soziale Forderungen an den Staat stelle oder verlange, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse nach angeblich christlichen Prinzipien geregelt werden sollen.“ Für Zahn war das eine Vermischung des Evangeliums mit weltlichen Dingen. Der Christ habe vom Staat nicht mehr als Glaubensfreiheit zu verlangen und die Kirche nicht mehr als die Erlaubnis, „ihrem Berufe nachzukommen.“ In grundsätzlicher Ablehnung einer politischen Dimension des christlichen Glaubens warf er Stoecker und seiner Partei vor: „Die Christlich-Sozialen übernehmen eine schwere Verantwortung. Sie verleiten die Lehrer der Kirche, statt alle Kraft auf die reine und kräftige Predigt des Evangeliums zu legen, sich in allerlei Nebendinge, die nicht ihres Amtes sind, zu verlieren.“ Damit würden sie zudem unter Christen für Spaltungen sorgen, da nicht alle Christen den politischen Argumenten der Christlich-Sozialen folgen könnten. Zudem könne man nicht mehr allen Bevölkerungsschichten in gleicher Weise dienen, wenn man politisch Partei ergriffe. Daher resümierten Zahn und die Mitunterzeichner: „Wir bitten unsere Glaubensgenossen, von diesem verderblichen Wege umzukehren.“ In seiner Antwort auf den Appell wollte Stoecker von einer Umkehr nichts wissen, sondern gab vielmehr seiner Hoffnung Ausdruck, demnächst auch in Bremen das Aufblühern einer christlich-sozialen Bewegung sehen zu dürfen.189 Nur wenige Jahre später sollte sich diese Hoffnung erfüllen und mit J. K. Vietor dabei ausgerechnet der größte Sponsor der NMG eine herausragende Rolle spielen.190 188 Zum Zeitpunkt der Antwort Stoeckers, 1896, bestand die Deutsche Freisinnige Partei bereits nicht mehr. 1884 in der Erwartung der baldigen Thronbesteigung des Kronprinzen Friedrich aus Liberaler Vereinigung und Deutscher Fortschrittspartei entstanden, zerbrach sie bereits 1893 wieder. Erst 1910 konnte unter Einschluß der Deutschen Volkspartei mit der „Fortschrittlichen Volkspartei“ eine neue linksliberale Sammlungspartei gebildet werden, vgl. Seeber, Gustav: Deutsch-Freisinnige Partei, in: Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 123), S. 657–666. 189 von Oertzen, 1910 (wie Anm. 122), Bd. 2, S. 142–145. Die Erklärung der Gruppe um Michael Zahn wurde außer von ihm u.a. unterzeichnet von Pastor Zöllner (Barmen), Pastor Michaelis (Bielefeld), Pastor Funcke (Bremen), Oberkonsistorialrat Löber (Dresden), Pastor von Velsen (Unna), Prof. Dr. Kolde (Erlangen), Prof. Dr. Zahn (Erlangen), Pastor Dr. Warneck (Halle). Oertzen gibt für das Erscheinungsjahr der Erklärung wie auch für Stoeckers Antwort lediglich das Jahr 1896 an. 190 Jenseits der unterschiedlichen Auffassungen zur Frage des politischen Protestantismus gab es zwischen Zahn und Stoecker im Grunde viele Übereinstimmungen. In den 1880er Jahren hatte Stoecker zu den lautstarksten parlamentarischen Verfechtern der Zahnschen Anschaungen zum

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Die inhaltliche Nähe zu den kolonialpolitischen Überzeugungen Stoeckers, der in den 1870er Jahren durch das soziale Elend in den Missionsgebieten überhaupt erst auf die soziale Frage in Deutschland aufmerksam geworden war,191 dürfte für Vietor ein entscheidender Gesichtspunkt gewesen sein, sich der CSP ernsthaft zu nähern. Übereinstimmungen zeigten sich nicht nur in der Branntweinfrage, sondern auch in der Landfrage. In seiner Reichstagsrede vom 13.1.1902 hatte Stoecker neben dem Thema des Branntweins, dessen komplettes Einfuhrverbot er nach wie vor langfristig anstrebte, auch das Thema der Konzessionsgesellschaften aufgegriffen. Ganz im Sinne Vietors beschrieb er dabei die verheerenden Folgen einer völlig unzureichenden Landzuteilung an die einheimische Bevölkerung und unterstellte der einheimischen Bevölkerung ausreichende Arbeitswilligkeit, wenn man ihnen nur ihr Land ließe.192 Angesichts dieser Übereinstimmungen wundert es nicht, daß Vietors kolonialpolitische Rede auf dem Weimarer Parteitag 1906 stürmisch begrüßt wurde. Seine Ausführungen über die notwendigen nächsten Schritte in der deutschen Kolonialpolitik kreisten um die Fehler der bisherigen Kolonialpolitik, insbesondere die verliehenen Konzessionen und die verfehlte Behandlung der einheimischen Bevölkerung und mündeten in einem Appell zum „vollständige[n] Systemwechsel“.193 Angesichts der seit Frühjahr 1906 schwelenden öffentlichen Diskussion um die deutsche Kolonialpolitik, traf er damit offensichtlich den Nerv der Zeit. An seine Rede schloß sich eine lebhafte Aussprache an,194 die zur Annahme einer Parteitagsresolution führte: „Unter dem Eindrucke des Vortrages des Kaufmanns Vietor aus Bremen über die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik beschließt die christlich-soziale Partei weiteste Verbreitung des Vortrages und stimmt dem Grundgedanken ausdrücklich zu, daß bei einer notwendigen Kolonialreform vor allem der Schutz der Eingeborenen, die Pflege der eingeborenen Kultur

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Branntweinhandel in Westafrika gehört und wie dieser eine von reinem Eigennutz getragene Kolonialpolitik von Anfang an abgelehnt. Auch wenn er wirtschaftliche Interessen im Zusammenhang mit kolonialer Expansion für legitim hielt, standen für ihn wie für Zahn moralische Fragen in der Kolonialpolitik an erster Stelle ebenso wie die Verantwortung der Kolonialmacht gegenüber den Bewohnern der kolonialen Gebiete wie er 1889 im Reichstag deutlich machte: „Wir müssen uns gewissenhaft fragen: was sind wir Deutsche bei Beginn unserer kolonialen Thätigkeit den unterworfenen Völkern schuldig?“, SBR, 7. Leg. per., 2. Sess., 20. Sitzung vom 15.1.1889, S. 434. Stupperich, Robert: Adolf Stoeckers Anfänge. Nach ungedruckten Briefen und unbeachteten Aufsätzen, in: HZ 202 (1966), S. 309–332, S. 320. SBR, 10. Leg. per., 2. Sess., 116. Sitzung vom 13.1.1902, S. 3336. Wie später auch Vietor befürchtete Stoecker in diesem Zusammenhang die Verhinderung jeglicher emotionaler Zustimmung der indigenen Bevölkerung zum deutschen Mutterland, wenn sie sich derart ungerecht behandelt fühlten. Die Rede wurde abgedruckt in Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 42 (1906), S. 57–59. und als eigene Broschüre im Verlag von Otto Rippel herausgegeben, Vietor, J. K.: Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, Hagen [1906]. In der Aussprache bedauerte Mumm, daß man als neuen Kolonialdirektor nicht einen Kolonialkaufmann statt eines Bankkaufmanns berufen hätte und Otto Rippel zeigte sich angesichts der bekannten freisinnigen Kritik an der Kolonialpolitik begeistert über den von nationaler Einstellung getragenen Ansatz Vietors. In dem Zusammenhang bedankte sich Mumm auch bei dem Deutsch-Sozialen Politiker und MdR Lattmann, der sich im Reichstag in anerkennenswerter Weise um die Kolonialpolitik kümmere, vgl. in: Die Arbeit 41 (1906).

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5 Das höhere Ziel: Christliches Sendungsbewusstsein und tätiger Glaube und der Schutz des Bodens durch Erledigung der unangemessenen, rechtlich ungültigen Bodenkonzessionen erstrebt werden muß.“195

Vietor, der an seiner sonst eher mangelhaften Redebegabung litt, zeigte sich über das lebhafte Echo begeistert.196 Bereits im Vorfeld des Parteitages hatte er die Hoffnung gehegt, daß sein Vortrag bei der CSP auf fruchtbaren Boden fallen könnte.197 Der Zuspruch zu seinen Überlegungen und das Interesse an einem zugkräftigen Kandidaten mit kolonialpolitischem Profil dürfte der Hintergrund dafür gewesen sein, ihm im „Hottentotten-Wahlkampf“ von 1907 eine Reichstagskandidatur für den thüringischen Wahlkreis Greiz-Burgk (Reuß ältere Linie) anzutragen.198 Vietor reizte die Aussicht eines Reichstagsmandats zunächst. Im Falle einer Wahl wollte er sich insbesondere für eine Änderung der Kolonialpolitik, den Handel und die Schiff-Fahrt einsetzen.199 Von 1890 bis 1907 war der Wahlkreis ununterbrochen vom SPD Kandidaten, dem Hamburger Zigarrenfabrikanten Karl Hermann Foerster, gewonnen worden. Vietor, ebenfalls hanseatischer Kaufmann, schien ein geeigneter Kandidat, um ihn abzulösen. Durch die politische Isolierung der ChristlichSozialen sahen die Erfolgschancen allerdings zunächst nicht gut aus, wenngleich der christlich-soziale Fabrikant Wagner auf dem Weimarer Parteitag darauf hinwies, daß es in Greiz inzwischen eine christlich-nationale Arbeiterbewegung gäbe, die 1.100 Mitglieder zähle und mit der er hoffte, den CSP Kandidaten durchzubringen.200 Trotzdem zog Vietor seine Kandidatur im Laufe des Wahlkampfes wieder zurück, da er neben den geringen Chancen der Partei auch über keine persönlichen Beziehungen „zu den dortigen Freunden“ verfügte.201 Durch die Aufnahme von Gesprächen mit den Konservativen hätte er allerdings eine reale Chance haben können. Dazu hätte er sich jedoch vermutlich als Hospitant der Konservativen aufstellen lassen müssen, wie der Greizer Amtsrichter Julius Arnold, der den Wahlkreis schließlich gewann.202 Eine ähnliche Überlegung stellte die CSP bei den Wahlen 195 Die Resolution ist abgedruckt in: Die Arbeit 41 (1906). 196 Vietor spricht von einer „urwüchsigen Begeisterung“, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 4.10.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. Noch kurz vor dem Parteitag hatte er seiner Frau geklagt, daß er über keine ausgeprägte Redegabe verfüge: „Wäre ich doch ein Gott begnadeter Redner, wie so manche, was ich dann leisten könnte, aber jeder Mensch hat seine Grenzen“, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 5.9.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. 197 „Es wäre ja zu fein, wenn der [Vortrag] in der Christlich-Sozialen Partei so durchschlüge, daß wirklich eine Änderung käme“, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 1.9.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. 198 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 6. Vietor benennt den Wahlkreis in seinen Erinnerungen, nicht ganz zutreffend, Greiz-Schleiz-Löwenstein. Der „Reußische“ Ortsverband der CSP hatte in Greiz seinen Sitz, in: Die Arbeit 14 (1911), S. 7. 199 J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 17.9.1907, VPAH, Konv. 1, Teil 6. 200 in: Der Reichsbote. Deutsch-Evangelische Wochenzeitung vom 2.10.1906 (Dritte Beilage). 201 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 6. 202 Zu Foerster vgl. SBR, Reichstagshandbücher (Abgeordnete), 1903/08, 11. Leg. per., S. 215f. Zu Julius Arnold vgl. SBR, Reichstagshandbücher (Abgeordnete), 1907, 12. Leg. per., S. 207. Als Beleg für die nicht ganz aussichtlose Lage im Wahlkreis Greiz mag auch der Hinweis des Parteisekretärs Burckhard gelten, nach dem es mit Hilfe der CSP 1908 gelungen war, einen christlichen Abgeordneten in den Landtag des Bundesstaates Reuß ältere Linie zu entsenden, in: Die Arbeit 44 (1908), S. 5.

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zum preußischen Abgeordnetenhaus 1913 auf, als der aus Siegen stammende CSP Kandidat, Bergrat Jüngst, für den Fall seiner Wahl, den Status eines Hospitanten der Konservativen Partei anstrebte.203 Eine nicht unwesentliche Rolle bei Vietors Rückzieher dürfte auch seine Frau gespielt haben, die sein parteipolitisches Engagement, insbesondere wegen den ständigen Krawallen in Wahlkampfveranstaltungen, entschieden ablehnte. Vietor schlich sich wegen ihrer Opposition teilweise sogar aus dem Haus, um an Wahlkampfveranstaltungen teilnehmen zu können, die ihm wegen der permanenten Unruhe allerdings auch selbst alles andere als zusagten.204 „Nur selten verlief eine Versammlung einigermaßen ruhig […], oft genug endeten diese Versammlungen auch mit einem großen Krach und ich freute mich immer sehr, wenn am Ende einer solchen Radauversammlung der Wachtmeister seinen Helm aufsetzte und die Versammlung geschlossen wurde.“205

Störungen von christlich-sozialen Versammlungen gingen in erster Linie vom politischen Hauptgegner, also Anhängern der SPD aus.206 Während Stoecker solchen Störungen meist souverän begegnen konnte, gelang dies anderen Kandidaten der Partei offensichtlich weniger gut. Auch der 1907 in den Reichstag gewählte christliche Gewerkschaftsführer Franz Behrens ließ sich anläßlich einer Veranstaltung der CSP in Bremen auf lange Streitgespräche mit Zwischenrufern der SPD ein, was zur Folge hatte, daß die von Vietor eingeladenen Herren der Handelskammer abgestoßen wurden und den Saal verließen.207 Szenen wie diese dürften seinem öffentlichen Ansehen nicht nützlich gewesen sein und so konnte er letztlich die ablehnende Haltung seiner Frau durchaus verstehen, auch wegen der zu erwartenden familiären Mehrbelastungen im Falle einer erfolgreichen Wahl.208 Im Vorfeld der Reichtagswahl 1912 war Vietor vorübergehend erneut im Gespräch für eine Kandidatur gewesen, reagierte aber erleichtert, als dieser Gedanke wieder fallengelassen wurde. Für den Wahlkreis Greiz stand er nicht wieder zur Verfügung.209 Busch, 1968 (wie Anm. 125), S. 125. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 7. Ebd., S. 5f. In seiner Frontstellung zur SPD ließ sich Vietor während eines Streitgespräches am Rande der Konferenz des Internationalen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke in Scheveningen (Holland) zu der erregten Aussage hinreißen, „die Schweinehunde sollte man sämtlich aufhängen“, J. K. Vietor (Scheveningen) an Hedwig Vietor vom 9.9.1910, VPAH, Konv. 1, Teil 6. Diese verbale Entgleisung bedauerte er anschließend wieder, blieb aber außerordentlich erregbar, wenn jemand den Eindruck erweckte, man könne mit der Sozialdemokratie möglicherweise kooperieren. Die Wahl eines SPD Abgeordneten zum Vizepräsidenten des Reichstages wertete er 1912 als Zeichen kommender schwerer Zeiten. Als er aus den Reichstagsprotokollen entnahm, daß das nur wegen dem „jammervollen Umfall der Nationalliberalen“ möglich geworden war, stand für ihn fest: „Was für schauderhaften Zeiten gehen wir noch entgegen, wenn die Intelligenz so blödsinnig bleibt, wie sie heute noch ist“, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 10.2.1912, ebd. 207 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 6. 208 „Daß du mir geraten hast, nicht in den Reichstag zu gehen, habe ich dir nie verübelt“, J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 17.9.1907, VPAH, Konv. 1, Teil 6. 209 J. K. Vietor an Wallbaum vom 28.10.1910, StAB, 7,73-49, Bl. 21. 203 204 205 206

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Nach der Reichstagswahl 1907 sah Vietor sein parteipolitisches Wirkungsgebiet in erster Linie im Bremer Raum.210 Den wichtigsten Ansatzpunkt einer politischen Einflußnahme sah er hier im Aufbau einer christlichen Gewerkschaftsarbeit. Mit Franz Behrens hatte er darüber bereits in Weimar eingehend gesprochen, offensichtlich am Rande des dortigen Parteitages 1906, und ihn um Entsendung eines christlichen Arbeitersekretärs gebeten. Da der Bedarf an christlichen Arbeitersekretären wegen der hohen Nachfrage jedoch nicht gestillt werden konnte, hatte Behrens zunächst den Aufbau einer christlichen Gewerkschaftsarbeit ohne eigenen Sekretär empfohlen, damit auf diese Weise auch eine finanzielle Grundlage für einen Sekretär geschaffen würde.211 Das erforderliche Jahresgehalt veranschlagte er auf rund 3.000,- Mark und rechnete für den Aufbau einer Gewerkschaftsbasis, die diese Summe aufbringen könne mit etwa drei Jahren. Das war für Vietor ein deutlich zu langer Zeitraum, da die bremischen Sozialdemokraten in seinen Augen „teilweise ganz fanatische Leute“ waren, unter deren „Terrorismus“ bereits ein großer Teil der Arbeiter seufzte.212 Um die Zeit bis zur Einstellung eines Arbeitersekertärs zu verkürzen, suchte Vietor daher nach alternativen Finanzierungswegen. Zunächst gelang es ihm, den Vorstandsvorsitzenden des Norddeutschen Lloyd, Wiegand, zu gewinnen, etwas gegen das „Wühlen“ der Sozialdemokratie in Bremen zu unternehmen.213 Auf Wiegands Fürsprache hin stellten ihm daraufhin einige Bremer Fabrikanten ein Budget von 10.000 Mark zur Verfügung, mit dem die Anstellung eines Arbeitersekretärs ermöglicht werden sollte. Mit dieser Finanzierungszusage wandte sich Vietor erneut und nun schriftlich an Behrens, hob dessen Gewerkschaftsarbeit als aktuell wichtigste Anstrengung, um das deutsche Volk „vor weiterer Verhetzung und Verderbnis durch die Sozialdemokratie zu bewahren“ hervor und und bat ihn anschließend nicht nur um die Entsendung eines, sondern gleich dreier Sekretäre, die in unterschiedlichen Stadtteilen eingesetzt werden sollten.214 Damit es so aussähe, als ob die christliche Arbeiterbewegung die Finanzen dafür bereits allein aufbringen könne, sollte keinesfalls bekannt werden, daß Vietor der eigentliche Geldgeber war. Er räumte zwar ein, daß es noch keine organisierte christliche Arbeiterbewegung in Bremen gab, untertrich jedoch, daß sowohl die 210 Auch Nicolaus Freese, sein Teilhaber, gehörte zur CSP, Prüser, Friedrich: Johann Karl Vietor, in: Lührs, Wilhelm (Hrsg.): Bremische Biographie 1912–1962. Hg. von der Historischen Gesellschaft zu Bremen und dem Staatsarchiv Bremen, Bremen 1969, S. 532–534, 533. 211 Wie groß der Bedarf an hauptamtlichen Funktionären christlicher Gewerkschaften war, zeigt der Vergleich der Jahre 1904 und 1905/07. Während 1904 erst 52 christliche Arbeitersekretäre angestellt waren, waren es im Zeitraum 1905/07 bereits 250, vgl. Fricke, 1981 (wie Anm. 180), S. 817. 212 J. K. Vietor an Franz Behrens vom 15.2.1907, abgedruckt bei Fricke, 1981 (wie Anm. 180), Anhang „Dokument“. 213 Wie stark die Formierung der Arbeiterschaft in Bremen tatsächlich voranschritt, belegt die Mitgliederstatistik der Gewerkschaften. Gab es 1891 nur etwa 3.000 Gewerkschaftsmitglieder, so stieg deren Zahl bis 1900 auf etwa 10.500 und bis 1912 auf rund 38.000, vgl. Witt, PeterChristian: Friedrich Ebert. Parteiführer, Reichskanzler, Volksbeauftragter, Reichspräsident, Bonn 1982, S. 38. 214 Vietors Wertschätzung gegenüber der christlichen Gewerkschaftsarbeit äußerte sich nach der Reichstagswahl u.a. in einer Spende an den Gesamtverband christlicher Gewerkschaften (GCG), vgl. Fricke, 1981 (wie Anm. 180), S. 815.

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Pastoren in den Arbeitervierteln als auch die Herbergsväter der Inneren Mission informiert wären und die Arbeitersekretäre tatkräftig in ihrem Aufbauwerk unterstützen würden. Vietor war der festen Überzeugung auf diese Weise eine nachhaltige Veränderung der politischen Verhältnisse in der Bremer Arbeiterschaft herbeiführen zu können. „Richtig angefasst, verspreche ich mir eine allmähliche vollständige Umwandlung der Anschauungen unserer Arbeiterschaft durch unsere Bemühungen.“215 Bis zur Entsendung des ersten Arbeitersekretärs dauerte es trotzdem noch zwei Jahre. Erst 1909 konnte mit Vietors Geld ein evangelisches Volksbüro eingerichtet werden, das von Vietors Parteifreund, dem späteren Reichstagsabgeordneten der DNVP und Gründer des „Deutschnationalen Arbeiterbundes“, Emil Hartwig, übernommen wurde. Das Amt übte Hartwig bis 1912, parallel zu seinen Geschäften als Parteisekretär der CSP aus.216 Die sozialdemokratische Konkurrenz in Bremen war allerdings groß. Bereits seit 1900 leistete Friedrich Ebert als erster Arbeitersekretär der freien Gewerkschaften Bremens auf diesem Gebiet eine nicht zu unterschätzende Arbeit.217 Die zunehmende Zahl an Gesetzen und Verordnungen zur Sozialversicherung sowie den Arbeitsbedingungen hatte 1894 in Nürnberg erstmals zur Gründung eine Beratungsbüros für Arbeiter geführt, das durch Beiträge der einzelnen städtischen Gewerkschaften finanziert wurde. In dieser Rechtsberatungsstelle konnte man sich informieren, welche Rechte und Ansprüche einem zustanden und wie man diese bei Behörden zur Geltung bringen konnte. In Bremen war eine solche Initiative bereits 1897 von Ebert angestoßen worden, konnte aber erst 1900 verwirklicht werden.218 Die „Wühlarbeit“ der Sozialdemokratie bestand für Vietor dabei sicher auch darin, daß Ebert nicht nur Gewerkschaftsmitgliedern freie Beratung anbot, sondern jedem, der sie suchte. Dadurch konnte er zweifellos zahlreiche Arbeiter für die Sozialdemokratie und die freien Gewerkschaften interessieren und gewinnen.219 Das sahen offensichtlich auch die Unternehmer so, die Vietor das Budget zur Verfügung stellten. Hartwig war jedenfalls klar, daß seine Aufgabe dazu gedacht war, dem „Marxismus ein Paroli zu bieten.“220 Mit dieser Intension folgten Vietor und er dem ursprünglichen Antrieb der christlich-sozialen Idee, Arbeiter für den Staat und für das bestehende gesellschaftliche System zurück zu gewinnen. Evolution, aber keine Revolution. Eine 215 J. K. Vietor an Franz Behrens vom 15.2.1907, abgedruckt bei Fricke, 1981 (wie Anm. 180), Anhang „Dokument“. 216 Friedrich, Norbert: Ein christlich-soziales Leben. Das Beispiel Emil Hartwig, in: Kirche im Revier. Mitteilungen des Vereins zur Erforschung der Kirchen- und Religionsgeschichte des Ruhrgebiets e.V., Nr. 1, 1997, S. 41–49., 42, 45. Seine Arbeit zeitigte jedoch nicht die erhofften Früchte und Anfang 1911 bezweifelte Vietor, ob seine Freunde, die ihm das Startkapital gegeben hatten, im neuen Jahr erneut bereit waren, Mittel zur Verfügung zu stellen. Alles ging zu langsam und ein wirklicher Einbruch ins Arbeitermilieu gelang offensichtlich nicht, J. K. Vietor an Licenciat [Mumm] vom 18.1.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 40f. 217 Vietor saß während seiner Arbeit in der Bremer Bürgerschaft „jahrelang mit Herrn Ebert auf derselben Bank“, Erinnerungen (Fragment) [1925], StAB, 7,73-17, S. 2. Ebert gehörte von 1900 bis 1905 der Bremer Bürgerschaft an, Witt, 1982 (wie Anm. 213), S. 50f. 218 Witt, 1982 (wie Anm. 213), S. 37f. 219 Witt, 1982 (wie Anm. 213), S. 39 f. 220 Friedrich, 1997 (wie Anm. 216), S. 45.

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Klientelpartei für Arbeiter wollte die CSP allerdings nicht sein, vielmehr vertrat sie ausdrücklich den Anspruch einer Volkspartei, eine Ausrichtung, die für Vietor entscheidend war.221 Auf dem Wiesbadener Parteitag 1911 erklärte er, daß er sich nicht wegen einzelner Punkte des Parteiprogramms der CSP angeschlossen hätte, sondern es vielmehr seiner Überzeugung entspräche, daß sich eine „groß gedachte Partei“, nicht in tausend Einzelpunkten festlege, damit sie wirklich allen Schichten des Volkes gerecht werden könne.222 „Es läßt sich doch nicht leugnen, daß ein Arbeiter sich manches anders wünscht wie ein Mittelstandsmann, ein Kaufmann wie ein Bauer. Darauf kommt es aber im letzten Grunde gar nicht an. Es ist nebensächlich, wie ich über die einheitliche Schule und weibliche Fabrikinspektoren denke. Sind wir wirklich eine Partei, was wir doch sein wollen, christlicher, national und sozial gesinnter Männer, dann können wir uns über die Einzelheiten leicht einigen, dann kann ich es auch vertragen, daß der einzelne über diesen oder jenen Punkt anders denkt wie ich. Das Wichtigste in unserer Partei und der springende Punkt scheint mir der zu sein, daß wir das christliche so in den Vordergrund stellen, daß wir auch in das politische Leben, welches immer mehr zu einem Kampf um den Brotkorb und die materiellen Interessen wird, den Geist Christi tragen wollen, daß wir versuchen nach Möglichkeit allen Berufsständen gerecht zu werden und an unserem Teil dazu beitragen, des Herrn Gebot in das tägliche Leben zu übertragen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“223

Diese äußerst pragmatische Konzeption entbehrte zwar konkreter Standpunkte hatte dafür aber den Vorteil, nach vielen Seiten anschlußfähig zu sein. Offensichtlich sah Vietor in einer grundsätzlich kompromissbereiten Haltung, die sich immer 221 Im Zusammenhang mit der gescheiterten Reichsfinanzreform, Reichsfinanzreform, die die CSP für notwendig gehalten hatte, machte der Reichstagsabgeordnete und neue Vorsitzende der CSP, Franz Behrens, auf dem CSP Parteitag 1909 deutlich: „Die christlich-soziale Partei ist eine Volkspartei“, vgl. 1909 (wie Anm. 174), S. 3f. Dagegen sah man sowohl die Konservative, die Nationalliberale wie auch die Freisinnige Partei als Klientelparteien, die einem starken Lobbydruck ausgesetzt waren. Die Konservativen sah man als Partei der Großgrundbesitzer, die Nationalliberalen als Partei der industriellen Unternehmer und den Fortschritt als Sprachrohr des mobilen Großkapitals in Handel, Börsen und Banken, vgl. Hauptgeschäftsstelle der CSP: Was wollen die Christlich-Sozialen?, Herford 1913, S. 16. 222 Eine Bezugnahme auf die antisemitischen Teile des Eisenacher Programms von 1895 findet sich bei Vietor nirgendwo. Den eigentlichen politischen Gegner sah er in erster Linie in der Sozialdemokratie. Kennt das Parteiprogramm von 1878 noch keine antisemitischen Sentenzen, treten sie im Programm von 1895 deutlich hervor, um im Programm von 1910 zumindest in den Hintergrund zu rücken. Die Identifikation der CSP mit einem kulturell-religösen Antisemitismus bei gleichzeitiger Ablehnung eines Rassenantisemitismus versuchte die CSP Broschüre von 1913: „Was wollen die Christlich-Sozialen?“, wenn auch wenig überzeugend, herauszuarbeiten. Während hier kein Zweifel an der Überzeugung gelassen wurde, daß das Judentum auf fast allen gesellschaftlichen Ebenen den Versuch unternähme, „den Deutschen zu verdrängen oder zu beherrschen, um den jüdischen Einfluß als maßgebend durchzusetzen“ und der Geist des Judentums aus jeder Sache ein Geschäft mache und daher nicht zum deutschen Wesen passe, so wollte man von einer aggressiven Attackierung jüdischer Mitbürger oder der jüdischen Religionsgemeineschaft nichts wissen. „Wir kämpfen nicht gegen die jüdische Religion, wollen auch den Juden kein Unrecht zufügen, noch sie in ihren berechtigten Gefühlen verletzen, unser Kampf geht gegen die Eigenschaften der Juden, welche sich auf Kosten des deutschen Volkes betätigen“, „Was wollen die Christlich-Sozialen?“, hg. von der Hauptgeschäftsstelle der CSP, Hagen 1913, S. 10. 223 Vietor, J. K.: Redemanuskript vom 19.9.1911: „Christlich-sozialer Parteitag“, VPAH, S. 2f.

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am Gemeinwohl und nicht an Einzelinteressen oder persönlichen, materiellen Vorteilen orientierte, die bestmögliche Verwirklichung einer vom Geist Christi motivierten Politik. Er pochte daher auf die grundsätzliche Aufgabe eines Volksvertreters, nicht Klientelpolitik zu betreiben, sondern dafür einzutreten, was „für das gesamte Volkswohl das Wünschenswerte“ sei.224 Um eine solche Politik betreiben zu können, hielt Vietor es für unumgänglich, die christlichen Schichten im Volk, die sich bislang zurückhielten und lieber ein anständiges, ruhiges, gewissenhaftes, fleissiges und ordentliches Leben führten, als sich mit der „dreckigen Politik“ die Hände schmutzig zu machen für eine aktive politische Haltung zu gewinnen. Ihnen traute er die sittliche und verantwortliche Kraft zu, nicht das Eigenwohl, sondern das Gemeinwohl zu suchen. Damit zielte Vietor exakt auf die Zielgruppe, die bereits das Eisenacher Programm von 1895 als „die vom christlich-sozialen Geiste durchdrungenen Volksreise aller Schichten und Berufe“ bezeichnet hatte.225 Ähnlich wie das Zentrum dachte sich die CSP das bewußt protestantische Volk aller Schichten und Klassen als eine Einheit, die es insgesamt zu erreichen galt. In diesem Sinne wollte es ein evangelisches Zentrum sein, eine Volkspartei also, die sich allein durch ihre konfessionelle und christliche Ausrichtung begrenzte. Um diese Gruppe für die CSP zu aktivieren und aus ihrer Passivität herauszuholen, sah Vietor keinen anderen Weg als den einer „riesige[n] Aufklärungsarbeit“, die zuletzt, wenn sie greifen sollte, einen völligen Umschwung der politischen Gewichte herbeiführen könnte. „So lange unser christliches Volk sich nicht um Politik kümmert […], so lange haben wir wenig Aussicht auf große Erfolge. Aber jede Arbeit nützt, sie nützt sogar viel, aber sie gebraucht ihre Zeit. Wenn 1848 die Freisinnigen, 70 die Nationalliberalen, vor Kurzem beinahe die Sozialdemokraten maßgebend waren, kann ebenso gut in dreißig Jahren eine großzügige Partei den Ausschlag geben. Aber Arbeit, viele selbstverleugnende, stetige, ununterbrochene Arbeit gehört dazu.“226

Ebenfalls ganz im Sinne des Eisenacher Programms und im Rückgriff auf pietistische Gedankenkreise von der Heiligung des Lebens um Christi willen, betonte Vietor auch die Notwendigkeit des eigenen Lebensvorbildes.227 Jeder CSP Politiker 224 Ebd., S. 3. „Es kann niemals gutgehen, wenn bei uns im Reichstag die Majorität der Abgeordneten nur die Politik eines Standes vertritt, einerlei, ob es die Kapitalisten, der Mittelstand oder die Arbeiter sind.“ 225 Vgl. Eisenacher Programm, Mommsen, 1960 (wie Anm. 125), Grundlagen/1, S. 81. Wendet sich das Programm von 1878 ausdrücklich an Arbeiter und sieht den Parteizweck in der „Friedliche[n] Organisation der Arbeiter“, nennt das Eisenacher Programm von 1895 grundsätzlich alle Volksschichten als Zielgruppe, wenngleich die Interessen der „arbeitenden Klassen“ und des Mittelstandes besonders betont werden. Diese herausgehobene Betonung wird im Programm von 1910 fallengelassen, wodurch der volksparteiliche Charakter noch stärker zum Ausdruck kommt, vgl. Parteiprogramm von 1910, Grundlagen/1, Busch, 1968 (wie Anm. 125), S. 119. 226 Vietor, J. K.: Redemanuskript vom 19.9.1911: „Christlich-sozialer Parteitag“, VPAH, S. 3. 227 Das Eisenacher Programm forderte als erste Voraussetzung für eine durch den christlichen Geist gesundende Gesellschaftsordnung einen sittlich festen und vorbildlichen Beamtenstand, insbesondere in den verantwortungsvollen Positionen, Mommsen, 1960 (wie Anm. 125), Grundlagen/3, S. 81.

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sollte an sich selbst und seiner charakterlichen Entwicklung arbeiten, da das eigene Lebensvorbild eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf das Umfeld hätte und Qualität mehr bewirke als Quantität.228 Vietor als führender Kolonialpolitiker der CSP Vietor wurde auf dem Darmstädter Parteitag vom 26.-28.9.1909 erstmals als einer von 17 Beisitzern in den Vorstand der Partei gewählt, ein Jahr später auch in den Geschäftsführenden Ausschuß, dem eigentlich leitenden Gremium, dem er bis zur Auflösung der Partei Ende 1918 ununterbrochen angehörte.229 Vietors Einfluß in der Partei speiste sich nicht nur aus seinem Bekanntheitsgrad und seinen vielen Kontakten in Politik und Wirtschaft,230 sondern auch aus seiner erheblichen finanziellen Unterstützung der Partei. Allein sein Briefverkehr zwischen August und Dezember 1910 belegt eine Spendensumme für Parteizwecke in Höhe von 5.600,Mark231 und für das Jahr 1911 sagte Vietor der Partei die Gesamtsumme von 228 Vietor, J. K.: Redemanuskript vom 19.9.1911: „Christlich-sozialer Parteitag“, VPAH, S. 3. 229 Bericht vom Parteitag in Darmstadt, in: Die Arbeit 41 (1909), S. 3f.; J. K. Vietor an Wallbaum vom 28.10.1910, StAB, 7,73-49, Bl. 21. Offensichtlich hatte Vietor nicht am Siegener Parteitag 1910 teilgenommen und erfuhr erst durch einen Brief von Wallbaum, daß er dort in den Geschäftsführenden Ausschuß gewählt worden war. 230 Vietor setzte seinen Einfluß im Lager der Arbeitgeber mehr als einmal für die Ziele der CSP ein. Als durch die Aussperrungen im Baugewerbe 1910 auch christlich-soziale Gewerkschafter betroffen waren und erbittert reagierten, wandte sich Vietor an den Ausschuss zur Förderung der Bestrebungen vaterländischer Arbeitervereine in Berlin und bat um Vermittlung. Vom Ausschuß erwartete er eine Einwirkungsmöglichkeit auf die Arbeitgeber. Dabei betonte er die positiven Effekte, die eintreten könnten, wenn durch Vermittlung des Ausschusses die Arbeitgeber zumindest auf die christlichen Gewerkschaften positiv zugehen würden. Ein entsprechender Zulauf zu den christlichen Gewerkschaften müßte davon die Folge sein. Um seiner Bitte um Vermittlung Nachdruck zu verleihen, vergaß er nicht, 100,- Mark an den Ausschuß zu spenden, J. K. Vietor an Ausschuss zur Förderung der Bestrebungen vaterländischer Arbeitervereine vom 3.8.1910, StAB, 7,73-49, Bl. 3f. Offensichtlich in der gleichen Angelegenheit wandte er sich Anfang Oktober 1910 an Senator Biermann. Er befürchtete, daß von den Aussperrungen am Niederrhein ohne Unterschied christlich-nationale und sozialdemokratisch orientierte Gewerkschafter betroffen sein könnten, was in seinen Augen zu negativen politischen Folgen führen mußte. Er drang darauf, daß ein Unterschied zwischen beiden Gewerkschaftsgruppen gemacht würde, J. K. Vietor an Senator Biermann vom 2.10.1910, StAB, 7,73-49, Bl. 74. Der Senator sagte daraufhin eine Prüfung zu, womit für Vietor Hoffnung bestand, daß die christlich-nationalen Gewerkschafter aufgrund seiner Intervention von Aussperrungen ausgenommen blieben, J. K. Vietor an Wallbaum vom 30.10.1911, ebd., Bl. 75f. Bei wem es sich um Senator Biermann handelte wird nicht klar. Offensichtlich zählte er zu den Schlichtern aus dem Lager der bürgerlichen Sozialreformer, die bereits bei den Tarifverhandlungen 1908 erfolgreich interveniert hatten. Zum Arbeitskampf und den Aussperrungen 1910 vgl. Neuhaus, Rolf: Arbeitskämpfe, Ärztestreiks, Sozialreformer. Sozialpolitische Konfliktregelung 1900 bis 1914 (Schriften der Gesellschaft für sozialen Fortschritt; 22), Berlin 1986, S. 148–171. Von den reichsweiten Aussperrungen, die schließlich durch Intervention der Reichsregierung beendet werden konnten, wurden über 170.000 Arbeiter erfaßt, ebd., S. 160. 231 StAB, 7,73-49, Bl. 1–39.

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10.000,- Mark zu.232 Dafür erwartete er allerdings auch angemessene Mitspracherechte.233 Mit Gründung des Deutsch-Evangelischen Volksbundes (DEVB) im Juli 1911 ließ der Geldfluß an die Partei zugunsten der neuen Organisation jedoch deutlich nach.234 Privatzuwendungen an führende Einzelpersonen der CSP dürften seinen Einfluß darüber hinaus weiter gestärkt haben.235 Besonders drang Vietor auf einen zügigen Ausbau der Parteibasis und die Neugewinnung von Mitgliedern, insbesondere aus der Schicht der Gebildeten und Vermögenden.236 Vietors Handschrift in der Parteiprogrammatik läßt sich am klarsten in der Weiterentwicklung der kolonialpolitischen Vorstellungen ablesen, wie das Parteiprogramm von 1910 dokumentiert. Hatte das Eisenacher Programm lediglich eine „Energische Kolonialpolitik“ gefordert, womit offensichtlich in erster Linie die Gewinnung weiterer kolonialer Gebiete für Deutschland gemeint war,237 übernahm das Programm von 1910 drei Kernforderungen Vietors an die Kolonialpolitik:238

232 J. K. Vietor an Neuhaus vom 3.7.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 56. 6.500,- Mark waren bereits ausbezahlt. 233 Als Mumm den Gewerkschaftssekretär für Bremen, Hofsäss, dessen Stelle komplett von Vietor und seinen geschäftlichen Freunden finanziert wurde, vorübergehend nach Magdeburg abzog, beschwerte sich Vietor. Eine solche Maßnahme wäre ohne seine Benachrichtigung nicht in Ordnung, schließlich finanziere er ja den Mann und er sei zweckgebunden für Bremen angestellt worden, J. K. Vietor an Licenciat [Mumm] vom 18.1.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 40f.. 234 Mumm beschwerte sich kurz nach Gründung des DEVB, daß ein Teil der für die CSP zugesagten 10.000,- Mark dorthin gegangen seien statt an die Partei, J. K. Vietor an Behrens vom 28.8.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 63. 235 Während er dem Reichstagsabgeordneten Behrens für Vortragsreisen und politische Agitation monatlich 100,- Mark zur Verfügung stellte, besserte er dem Abgeordneten im preußischen Landtag, Wallbaum, mit 200,- Mark dessen Urlaubskasse auf, da er „pleite“ war, J. K. Vietor an Mumm vom 18.5.1912, StAB, 7,73-49, Bl. 123; J. K. Vietor an Wallbaum vom 9.7.1913, ebd., Bl. 141f. Mumm dagegen verweigerte er die Begleichung seiner offenen Wahlkampfkosten, J. K. Vietor an Mumm vom 7.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 99. Behrens, den Vietor besonders schätzte, erhielt von ihm auch während seines Krankenhausaufenthaltes in Bethel 1917 Unterstützung in Form von Lebensmitteln, da der Arzt dringend gute Ernährung empfohlen hatte, J. K. Vietor (Düsseldorf) an Hedwig Vietor vom 2.12.1917, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932. 236 J. K. Vietor an Wallbaum vom 28.10.1910, StAB, 7,73-49, Bl. 21–23; Von einer Werbetour Wallmanns erwartete er sich 600–800 neue Mitglieder, andernfalls rechne sich der Aufwand nicht, J. K. Vietor an Wallbaum vom 22.12.1910, ebd., Bl. 36–38; J. K. Vietor an Neuhaus vom 25.9.1910, ebd., Bl. 16f. Daß Vietor ein entscheidendes Wort bei der Festlegung des Parteikurses mitreden wollte, erhellt auch seine Aufforderung an die Parteispitze, sich noch vor Zusammentritt des neuen Reichstages zu treffen, um miteinander die neue Linie abzustimmen, vgl. J. K. Vietor an Neuhaus vom 30.1.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 73. 237 In einer CSP Broschüre von 1898 wurden im Zusammenhang mit der Unterstützung der Flottengesetze auch weitere koloniale Zugewinne für Deutschland bei der „Zerteilung der Welt“ gefordert. Eine Politik im Stil Caprivis und des Helgoland-Sansibar Abkommens wurde dagegen ausdrücklich abgelehnt, da dabei „das beste Stück“ ohne Not den Engländern überlassen worden wäre, „Christlich-sozial. Ein Handbuch für Jedermann, Berlin 1898, S. 57. 238 Parteiprogramm von 1910, VI/1–3 (An die Kolonialpolitik), Busch, 1968 (wie Anm. 125), S. 121. Das Programm von 1910 geht im Wesentlichen auf eine Vorlage Reinhard Mumms zurück, vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 81f. Die kolonialpolitische Forderung nach

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1. „Menschliche Behandlung der Eingeborenen und Erziehung derselben zu selbständigen wirtschaftlichen Persönlichkeiten. 2. Erschließung der Schutzgebiete durch Reichseisenbahnen. 3. Sicherung der unterirdischen Bodenschätze für das Reich.“ Vietors praktischer Einfluß auf das kolonialpolitische Wirken seiner Partei wird insbesondere in der parlamentarischen Arbeit Reinhard Mumms deutlich, der 1912 in den Reichstag gewählt wurde und hier die Funktion des kolonialpolitischen Sprechers der Fraktion der Wirtschaftlichen Vereinigung übernahm, da der bislang dieses Politikfeld vertretende Abgeordnete der DSP, Wilhelm Lattmann, kein Mandat mehr erringen konnte. Mumm orientierte sich in seinen Beiträgen weitgehend an den Vorstellungen Vietors.239 Das wurde bereits bei seiner ersten Rede am 1.5.1912 deutlich.240 Neben dem Appell zur Beachtung der Arbeit der Deutschen Kongoliga, konzentrierte Mumm seine Forderungen in erster Linie auf den Ausbau indigener Kulturen sowie die Sicherstellung des natürlichen Bevölkerungswachstums durch eine großzüzige Landpolitik gegenüber der einheimischen Bevölkerung. Auch seine Anregungen zur milderen Behandlung der Namas und Hereros in Südwestafrika, etwa durch Wiederzulassung des Besitzes von Großvieh, sein Aufruf zur Fürsorge gegenüber den Rehoboter Bastards und den Buschleuten sowie seine Erinnerung an einen notwendigen Arbeiterschutz insbesondere in Südwestafrika entsprachen dem von Vietor maßgeblich mitinspirierten ersten kolonialpolitischen Ziel der CSP. Mit seiner Resolution vom 30.4.1912 rief Mumm zur baldigen Wiederaufnahme der Brüsseler Folgekonferenz zur Beschränkung des Alkoholimports in die Kolonien auf241 und vertrat mit seinem finalen Ziel, den Alkoholkonsum für die afrikanische Bevölkerung in den Kolonien schlußendlich ganz zu unterbinden, ein altes Kernanliegen Vietors.242 Im Kampf um die Frage der amtlichen Arbeiteranwerbung in Kamerun 1913/14 setzte sich die enge Verbindung zu Vietor fort, der wegen des effektiven parlamentarischen Einflusses in dieser Frage umso mehr von der Sinnhaftigkeit seines parteipolitischen Engagements überzeugt wurde.243 Auch in der Debatte um die Frage der Mischehen zeigt sich zwischen Mumm

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Sicherung der Bodenschätze für das Reich war ursprünglich nicht im Entwurf enthalten und wurde, wie auch die anderen beiden Forderungen, maßgeblich von Vietor inspiriert. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 88f. Friedrich betont, Mumm habe in seinen kolonialpolitischen Äußerungen „keine Eigenständigkeit“ gegenüber Vietor erkennen lassen. Die Beauftragung Mumms zum kolonialpolitischen Sprecher der Wirtschaftlichen Vereinigung wurde Ende Februar 1912 ausgesprochen, vgl. Günter, K.: Wege zum Wohnungsideal der Bibel, in: Die Arbeit 9 (1912), S. 1f., 9. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 52. Sitzung vom 1.5.1912, S. 1578–1582. Vgl. Resolution Mumm vom 30.4.1912, SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., Anlage 391. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 52. Sitzung vom 1.5.1912, S. 1582. Die Resolution von Mumm, die ursprünglich nur eine stetige Minderung des Alkoholimportes für die afrikanische Bevölkerung geforderte hatte, wurde aufgrund eines Änderungsantrages des SPD Abgeordneten Davidsohn auf alle Bewohner der Kolonien ausgeweitet, also auch der Weißen und so mit großer Mehrheit vom Plenum des Reichstages angenommen, vgl. SBR, 13. Leg. per., 1. Sess., 52. Sitzung vom 1.5.1912, S. 1584–1586. Davidsohn argumentierte mit der Vorbildfunktion der Weißen, die eine Inklusion derselben in die Resolution notwendig mache. „Ich hätte nicht gedacht, dass es uns gelingen würde, in diesen paar Monaten einen solchen

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und Vietor weitgehende Übereinstimmung. Während sich Mumm bei der Abstimmung über die Resolution des Budgetausschusses zur Mischehenfrage am 20.3.1912 noch enthalten hatte,244 stimmten er und sein Parteikollege Dr. Burckhard in der Abstimmung am 8.5.1912 mit SPD, Zentrum und einem Teil des Freisinns für die Forderung eines Gesetzentwurfes der Regierung, der die Gültigkeit von Mischehen sicherstellte.245 Die Mischehenfrage war bald nach Ausbruch des Hereroaufstandes Sturm der Entrüstung in ganz Deutschland hervorzurufen, und das scheint es doch zu werden, und ich bin sehr dankbar, dass unsere Bemühungen von solchem Erfolg gekrönt sind und trotz der schlechten Zeiten habe ich mich veranlasst gesehen noch M 1000,- zur Anstellung eines Generalsekretärs der christlich-socialen Partei zu bewilligen, da ohne Mumm wir ja niemals einen solchen Erfolg hätten erzielen können […] Es erscheint mir eine merkwürdige Fügung Gottes, dass wir, die wir doch nur aus Interesse an unserem deutschen Volk die christlich sociale Partei so unterstützt haben, nun dieselbe so für unsere Zwecke gebrauchen können, um eine wirklich grosse Tat für unsere Kolonien zu tun“, J. K. Vietor an Freese vom 20.2.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 220. 244 Mumm, Reinhard: Die Mischehen in den Kolonien, in: Die Arbeit 13 (1912), S. 3f. Mumm hielt ein Verbot von Mischehen schon deswegen für kaum möglich, weil sie von den anderen Kolonialmächten durchweg erlaubt wurden, ein Standpunkt, den sich später auch die evangelischen Missionen zu eigen machen sollten. Mumm freute sich aber, daß auf seine Anregung hin erreicht werden konnte, daß der Budgetausschuß die Forderung nach rechtlicher Besserstellung unehelicher Mischlingskindern sowie die Pflicht zur Zahlung von Erziehungsgeld deutscher Väter auch in Südwestafrika übernahm. 245 Zur Frage der Mischehen, in: Die Arbeit 22 (1912), S. 1f. Der dritte CSP Abgeordnete Behrens nahm wegen einer Erkrankung an der Sitzung nicht teil. Mit diesem Abstimmungsverhalten markierte die CSP eine deutliche Trennungslinie zur Konservativen Partei. Auch in anderen wesentlichen Fragen unterschied sich die CSP von den Konservativen, etwa in der Diskussion um eine Wahlrechtsreform in Preußen, der Finanzreform, dem Koalitionsrecht für Landarbeiter und der Frage der Fideikommisse in den ostelbischen Gebieten, vgl. Parteitagsbeschlüsse zur Reform des preußischen Wahlrechts und der Reichsfinanzen, Bericht vom Parteitag in Elberfeld, in: Die Arbeit 37 (1907), S. 3f.; Bericht vom Parteitag in Erfurt, in: Die Arbeit 43 (1908), S. 1f.; Das gleiche galt in Bezug auf die CSP-Forderung nach Erhöhung der Erbschaftssteuer, Verminderung indirekter Steuern und Senkung der Steuern für Geringverdiener; vgl. Rüffer, Paul: Soziale Steuerpolitik, in: Die Arbeit 4 (1908), S. 1–4; Bericht vom Parteitag in Wiesbaden, in: Die Arbeit 38 (1911), S. 3f. Fideikommisse lehnte die CSP im Gegensatz zu den Konservativen ab, vgl. Oertzen, Dietrich von: Fideikommisse, in: Die Arbeit 47 (1913), S. 3–4. Anders als die Konservativen forderte die CSP auch für Land- und Forstarbeiter ein Koalitionsrecht, vgl. die entsprechende Anfrage Wallbaums im preußischen Abgeordnetenhaus, Die Arbeit 6 (1914), S. 3. Zur Auseinanderentwicklung von Konservativen und CSP vgl. auch Hauptgeschäftsstelle der CSP, 1913 (wie Anm. 221), S. 16. Hier werden als wichtigste trennende Punkte genannt: Wahlrechts-, Steuer- und Arbeiterfragen. Zudem sei die konservative Partei zu wenig volkstümlich; vgl. auch Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 67. Eine mögliche Fusion zwischen CSP und Konservativen, wie sie insbesondere der seit 1912 amtierende neue CSP Vorsitzende Philipps befürwortete und wie sie nach dem Anschluß der CSP Abgeordneten an die Fraktion der Konservativen nach der Reichstagswahl 1912 denkbar erschien, hätte daher auf dünnem Eis gestanden, vgl., ebd. S. 89–98. In der Frage der monarchischen Ordnung der Gesellschaft und einem starken Kaisertum sah sie sich jedoch mit den Konservativen völlig einig, nicht zu Unrecht verstand sie sich daher als verfassungstreue Partei, vgl. Bericht vom 17. Parteitag in Bielefeld, in: Die Arbeit 37 (1913), S. 2. Der Anschluß der CSP Abgeordneten an die Fraktion der Konservativen war nötig geworden, weil die Wirtschaftliche Vereinigung nach der Wahl nur noch über 8 Abgeordnete verfügte und nicht mehr auf die erforderliche Fraktionsstärke von 15 Sitzen kam, vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 86. Den nach Kriegsaus-

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zuerst in Südwestafrika aufgebrochen und hatte dort bereits 1905 zum Verbot standesamtlicher Trauungen von gemischtrassigen Paaren geführt, 1906 auch zum Verbot kirchlicher Trauungen und 1907 schließlich zur Aberkennung der Legitimität aller entsprechenden Ehen, selbst derer, die vor 1905 geschlossen worden waren.246 Während es in Deutsch-Ostafrika mit der Anweisung Gouverneur von Goetzens an die Standesämter, keine gemischtrassige Trauung mehr ohne seine Zustimmung durchzuführen, 1906 eine zweite innerkoloniale Regelung zu dieser Frage gab, hatte das Mischehenverbot für Samoa vom 17.1.1912 auch deswegen besonderes Gewicht, weil es vom Berliner Kolonialamt ausgesprochen wurde.247 Die Mischehenthematik beschäftigte freilich nicht nur die deutschen Kolonien, sondern seit der Jahrhundertwende auch andere Kolonialmächte.248 Während die britische Rebruch mit neuem Nachdruck verfolgten Fusionsüberlegungen stand Vietor zurückhaltend gegenüber. Er votierte im November 1914 für eine weitergehende Zusammenfassung aller rechten Kräfte und hatte diesbezüglich bereits erste erfolgversprechende Gespräche mit Graf Westarp geführt, ebd., S. 95. Am 17.1.1916 löste sich schließlich die CSP aus der Zugehörigkeit zur konservativen Fraktion („Zuzählungsverhältnis“) und schloß sich mit der DeutschHannoverschen Partei, der Reichspartei (Freikonservative), den Deutschvölkischen und dem bayerischen Bauernbund zur „Deutschen Fraktion“ zusammen, ebd., S. 96f. 246 Kundrus 1997 (wie Anm. 18), S. 45. Die Koloniale Zeitschrift hatte bereits 1904 ein gesetzliches Mischehenverbot gefordert und darauf hingewiesen, daß die bisherige Gleichgültigkeit in dieser Frage nach Ausbruch des Hereroaufstandes nicht mehr hinnehmbar sei, vgl. Die Mischehe in den Kolonien, in: Koloniale Zeitschrift, 1904, S. 439 f. Grundlegend zur Diskussion der Mischehenproblematik in Deutschland ist nach wie vor Schulte-Althoff, Franz Josef: Rassenmischung im kolonialen System. Zur deutschen Kolonialpolitik im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, in: Boehm, Laetitia u.a (Hrsg.): Historisches Jahrbuch, Freiburg, München 1985, S. 52–94; vgl. auch Kundrus, 2003 (wie Anm. 84), S. 219–279; Kundrus 1997 (wie Anm. 18); Grosse, Pascal: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850–1918, Frankfurt/Main, New York 2000, S. 145–192; Axter, Felix: Die Angst vor dem Verkaffern. Politiken der Reinigung im deutschen Kolonialismus, in: WerkstattGeschichte 39 (2005), S. 39–53. 247 Schulte-Althoff 1985 (wie Anm. 246), S. 61, 77. Für die samoanische Bevölkerung war das Verbot vom 17.1.1912 auch deswegen so skandalös, weil der bislang als liberal geltende neue Kolonialstaatssekretär Solf bis 1911 Gouverneur von Samoa gewesen war. Während das faktische Mischehenverbot in Ostafrika kaum durch eine substantielle „Bedrohungslage“ zu rechtfertigen war, belief sich die Zahl der Mischlinge in Samoa im Jahre 1909 bereits auf 978, mehr als das Doppelte der 468 Weißen in der Kolonie. Für Südwestafrika spricht Schulte-Althoff von einem Anstieg der Geburtenzahlen der Mischlingskinder von 1.112 (1908) auf 1.574 (1909), meint damit aber offensichtlich den Anstieg der Mischlingsbevölkerung insgesamt. Seine von ihm angegebene Gesamtzahl der Mischlinge von 4.284 (1909) inkludiert offensichtlich auch die Rehoboter Bastards. Der amtliche Jahresbericht für 1912/13 trennt beide Gruppen jedoch und gibt für Südwestafrika eine Mischlingsbevölkerung von 1.647 (1.1.1912), resp. 1.746 (1.1.1913) an. Die gesondert aufgeführten Rehoboter Bastards werden mit 3.090 (1.1.1912), resp. 3.301 (1.1.1913) angegeben. Die Mischlingsbevölkerung in Samoa wird mit 996 (1.1.1912), resp. 1.025 (1.1.1913) angegeben, Reichskolonialamt: Die Deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1912/1913. Amtliche Jahresberichte, Berlin 1914, S. 55f. 248 In der Burenrepublik Transvaal war bereits 1897 ein Mischehenverbot erlassen worden. Nach dem Burenkrieg kam es 1902/03 auch im früheren zweiten Burenstaat, dem vormaligen Oranjefreistaat, der jetzt zur Südafrikanischen Union gehörte sowie im schon länger englisch regierten Kapland und Natal zu einem Gesetz, das sexuellen Kontakt zwischen schwarzen Männern und weißen Frauen unter Strafe stellte. Ein gleichlautendes Gesetz wurde 1903 auch für Süd-

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gierung 1909 zwar ihren Beamten die Eheschließung mit indigenen Frauen in den Kolonien verbot, verzichtete sie andererseits auf eine entsprechende Ausweitung auf andere, nichtstaatliche Berufsgruppen.249 Anders als in den französischen Kolonien, in denen offiziell eine Politik der Egalität hochgehalten wurde, sorgte in den britischen Gebieten jedoch eine scharfe gesellschaftliche Ächtung für eine weitgehende Begrenzung gemischtrassiger Partnerschaften.250 Innerhalb der CSP war das Abstimmungsverhalten von Mumm und Burckhard in der Mischehendebatte am 8.5.1912 umstritten. Während vom völkischen Standpunkt aus die Reinerhaltung der Rasse gefordert wurde, anerkannte man andererseits das christliche Argument der Gleichheit aller Menschen, wollte daraus jedoch keine Befürwortung von Mischehen ableiten. Die Argumentation des Zentrums in der Debatte des Reichstages, der sich offensichlich die CSP Abgeordneten angerhodesien erlassen. Initiativen, die auch ein Verbot sexueller Kontakte zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen forderten, scheiterten hingegen, vgl. Kundrus, Birthe: Von der Peripherie ins Zentrum. Zur Bedeutung des Kolonialismus für das Deutsche Kaiserreich, in: Müller, Sven/Torp, Cornelius (Hrsg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 359–373, S. 368; vgl. auch Kundrus, 2003 ; (wie Anm. 84), S. 219f. 249 Kundrus, 2009 (wie Anm. 248), S. 368. 250 Nach zeitgenössichen Recherchen von Theodor Gentrup war die Behandlung der Mischehenfrage in den englischen Kolonien und Großbrittanien selbst nicht einheitlich. Die englische Öffentlichkeit war in dieser Frage gespalten. Während es in einigen westafrikanischen Kolonien keinerlei Probleme mit Mischehen gab, führte sie in Südafrika und in Indien in der Regel zur öffentlichen Ächtung. „Wer auch nur einen Tropfen asiatischen Blutes in seinen Adern hat, ist aus allen englischen Klubs ausgeschlossen“, Grentrup, Theodor: Die Rassenmischehen in den englischen Kolonien, in: Koloniale Rundschau 3 (1914), S. 148–154, 153. Für Frankreich sah Gentrup eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der Staatsräson der Egalität, die Mischehen keinerlei Hindernisse entgegensetzte und der öffentlichen Meinung, ebd., S. 148. In Bezug auf die Situation in den britischen Gebieten widerspricht Frank Becker Gentrup und verweist auf Horst Gründer, der die Ächtung der englischen Gesellschaft im Falle von Mischehen nicht nur auf die Südafrikanische Union und Indien begrenzt sieht, sondern sie als Regelfall für das gesamte britische Kolonialreich annimmt, vgl. Becker, Frank: Kolonialherrschaft und Rassenpolitik, in: Becker, Frank, 2004: Rassenmischehen, S. 11–26, 18. Gründer räumt dagegen, wie Gentrup, für die romanischen Kolonialmächte Portugal und Frankreich einen weniger engen Umgang mit der Rassengrenze ein, sieht diese Haltung jedoch im geschichtlichen Verlauf in abnehmender Tendenz, Gründer, 2004 (wie Anm. 18), S. 28. In die gleiche Richtung weist auch Birthe Kundrus, wenn sie betont, dass die in den westafrikanischen Gebieten Frankreichs ehemals geförderten Verbindungen von Schwarzen und Weißen nach der Jahrhundertwende einer wachsenden sozialen Ächtung verfielen, vgl. Kundrus, 2003 (wie Anm. 84), S. 219f. Auch Marc Schindler-Bondiguel sieht die bis Ende des 19. Jahrhunderts von Frankreich postulierte Politik der „fusion des races“ und die „régéneration assimilatrice“ wilder und halbzivilisierter Völker nach der Jahrhundertwende zusehends verblassen. An die Stelle der bisherigen „mixophilen“ Kolonialkonzeptes wurde nun zusehends die Schärfung ethnischer Grenzen in der kolonialen Situation getreten. Die Abkehr von der bisherigen Assimilationsdoktrin sieht er am deutlichsten in der Ankündigung der neuen Politik der „Assoziation“ dokumentiert, die der französische Kolonialminister Cleméntel 1905 offiziell verkündete und die vom Eindringen „rassenpolitischer“ und „rassentheoretischer“ Positionen gekennzeichnet war, vgl. Schindler-Bondiguel, Marc: Die „Mischlingsfrage“ in französisch Indochina zwischen Assimilation und Differenz (1894–1914). „Rasse“, Geschlecht und Republik in der imperialen Gesellschaft, in: Becker, Frank, 2004: Rassenmischehen, S. 269–303, 278f.

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schlossen hatten, leuchtete dagegen ein. Eheverbote führten zwangsläufig zu einer unerwünschten Ausweitung von Konkubinatsverhältnissen.251 Ähnlich gespalten wie die Partei zeigten sich auch die evangelischen Missionen in der Frage der Mischehen. Zwar machte die Denkschrift des Evangelischen Missionsausschusses an Solf vom 2.9.1912 klar, daß man ein Mischehenverbot „auf das Entschiedenste“ ablehne, an deren prinzipieller Unerwünschtheit ließ man jedoch keinen Zweifel.252 Die nach außen so einheitlich wirkende Stellungnahme konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß offensichtlich eine nicht unerhebliche Anzahl von Missionaren in den Kolonien, zumindest in Südwestafrika, einem Mischehenverbot sehr wohl offen gegenüberstand.253 Auch der Inspektor der NMG, A. W. Schreiber, konnte sich dem Votum des Missionsausschusses nicht anschließen und sah darin „eine Gefahr für die Mission.“254 Ähnlich sah es offensichtlich auch der Direktor der Leipziger Mission, Carl Paul, der die Eingabe des Missionsausschusses bedauerte, da sie im Gegensatz zur Haltung der DKG stände.255 Vietor wurde von Fragestellung auf der DKG Hauptversammlung in Hamburg im Juni 1912 überrumpelt. Als er dorthin fuhr, wußte er nicht einmal, daß das Thema hier behandelt werden sollte. Da er sich dazu bislang noch keine Meinung gebildet hatte, nahm er an der Diskussion nicht teil. Er wollte „in dieser schwerwiegenden Frage nicht meine Meinung ohne reifliche Ueberlegung abgeben.“256 An 251 Die Arbeit 22 (1912), S. 1f. Trotz der Unterstellung redlicher Abwägung der Argumente, zog der Artikel, dem sich die Redaktion„im großen und ganzen“ anschloß, insgesamt das Fazit: „Wir verhehlen nicht, daß wir diese Stellungnahme unserer Vertreter sehr bedauern (Herv. i.Orig.). Wir sind auch überzeugt, daß sie selber sich nicht leicht dazu entschlossen haben.“ Der von der „Arbeit“ übernommene Artikel entstammte dem Bremer Beobachter vom 19.5.1912, einer Zeitung die von der CSP eigens für die Reichstagswahl 1912 ins Leben gerufen worden war. 252 Deutscher Missionsausschuss an Exz. Dr. Solf vom 3.9.12, StAB, 7,1025, 98-1. Im Wesentlichen begründete der Ausschuß seine einstimmige Haltung mit der christlichen Wertschätzung des Ehestandes, der Unvereinbarkeit eines solchen Verbots mit den bürgerlichen Freiheitsrechten sowie der Sorge, sich dadurch vom internationalen Umfeld zu isolieren. Er ließ aber keinen Zweifel daran, daß wegen des großen Rassenunterschiedes sowie dem „großen Abstand der Kulturentwicklung“ zu „primitiven Eingeborenen“ Mischehen in keinem Fall erwünscht seien, sondern als „Fehlgriff“ bezeichnet werden müßten. Milder beurteilte man dagegen Verbindungen zu Japanern und Chinesen, da es sich hierbei um „kulturell annähernd gleichstehende Rassen“ handelte. 253 Solf wies darauf hin, dass er auf seiner Reise nach Südwestafrika 1912 sowohl von katholischen wie evangelischen Missionaren ausnahmslos Zustimmung zu seiner Mischehenpolitik erhalten hatte. Die offizielle Zustimmung der südwestafrikanischen evangelischen Pfarrerkonferenz von 1913 zu Solfs Standpunkt scheint diese Angabe zu bestätigen, vgl. Schulte-Althoff 1985 (wie Anm. 246), S. 88f. In die gleiche Richtung geht der Hinweis des Inspektors der Rheinischen Mission, Spieker, an A. W. Schreiber, indem er einräumte, daß zwar auch seine Missionare nicht daran glaubten, daß ein Eheverbot zur Verminderung von Mischlingskindern führen würden, aber „sonst zum grossen Teil auf Deiner Seite stehen“, Spieker (Barmen) an A. W. Schreiber vom 17.10.1912, StAB, 7,10125,98-1, S. 4. Schreiber stand in dieser Frage auf dem Standpunkt Solfs. 254 Spieker (Barmen) an A. W. Schreiber vom 17.10.1912, StAB, 7,10125,98-1, S. 1. 255 Gründer, Horst, 1982: Christliche Mission und deutscher Imperialismus, S. 342. 256 J. K. Vietor an Frau Professor vom 19.6.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 387. Die folgenden Stand-

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der entsprechenden Resolution hatte er demnach keinen Anteil.257 Prinzipiell begrüßte er den „Fortschritt“ in der öffentlichen Meinung, die nun, anders als zehn Jahre zuvor, in der Verbindung von weißen Männern und schwarzen Frauen etwas „entehrendes“ sähe. Er sah sich dadurch nachträglich in seinen Forderungen nach Übernahme der Reisekosten für Beamtenfrauen in die Kolonien bestätigt, die er bereits im Kolonialrat wiederholt eingebracht hatte.258 Prinzipiell stellte sich Vietor in der Mischehenfrage auf den später vom Missionsausschuß eingenommenen Standpunkt. „Gegen ein Eheverbot im Allgemeinen sind aber doch auch aus christlichen Rücksichten stichhaltige Gründe anzuführen. [In gewissen Fällen sollte man] gerechter und richtiger Weise Ausnahmefälle zulassen […] so unerwünscht sie ja für unsere Gesamtentwicklung auch sind.“259

So weit er es überblicken konnte, ließen sich die Eheverbote für Samoa und Südwestafrika gleichwohl rechtfertigen.260 Während er der Meinung war, daß die Weißen in Samoa „durch ihr Verhältnis zu den schwarzen Weibern vollständig generirt (sic)“ seien, leuchtete ihm das Eheverbot in Südwestafrika deswegen ein, weil es sich hier um eine Siedlungskolonie handelte, „und es daher von allergrößter Wichtigkeit ist, dass die weisse Rasse sich möglichst rein erhält.“261 Allerdings war für punkte Vietors sind diesem Schreiben entnommen. 257 Die Hamburger Beschlüsse der DKG gingen über die Resolution von 1908 hinaus, verwarfen das Reichstagsvotum und forderten nun ausdrücklich gesetzliche Mischehenverbote, vgl. Schulte-Althoff, 1985 (wie Anm. 246), S. 84. 258 1903 und 1905 hatte Vietor bessere Unterkünfte, höhere Löhne und höhere Reisekostenerstattungen für Beamte gefordert, damit sie ihre Frauen und ggf. auch ihre Kinder mit in die Kolonien nehmen könnten, KR vom 19.5.1903, BAB, R-1001-6993, Bl. 11, S. 4; KR vom 29.6.1905 (ausführliches Protokoll), BAB, R 1001-6982, Bl. 32–34. 259 So einen Fall sah er dann gegeben, wenn ein weißer Mann ein schwarzes Mädchen verführt habe und es dann anständigerweise heiraten wollte. Ähnlich sah er es im Falle länger währender unehelicher Verhältnisse, die man aufgrund einer Gesinnungsänderung oder des nahenden Todes nun legitimieren wollte. Er konnte sich auch eine Hochzeit aus Dankbarkeit vorstellen, etwa wenn ein schwarzes Mädchen einem Weißen das Leben gerettet hatte. „All das muß möglich sein“, ebd., S. 389. 260 So auch in Vietor, 1913 (wie Anm. 54), S. 96–99. Das einzig Positive an der Reichstagsdebatte von 1912 sah er darin, daß die ungeklärte Alimentenzahlung für Mischlingskinder nun endlich aufgegriffen wurde, da er bereits 1903 im Kolonialrat gefordert hatte, „daß eine Verordnung über Alimentation unehelicher Kinder in den Kolonien erlassen werde, damit für die Erziehung dieser Kinder etwas getan werden könne“, KR vom 19.5.1903, BAB, R 1001-6993, Bl. 11, S. 4. Die bisherige völlige Vernachlässigung dieser „unglücklichen Wesen“, die meist ohne jegliche Erziehung und Aufsicht blieben und häufig völlig verelendeten oder starben wäre der Hintergrund der in den Kolonien häufig erhobenen Behauptung, Mischlingskinder erbten nur die jeweils schlechten Eigenschaften der weißen und schwarzen Rasse, ebd., S. 99. Der Druck von Vietor und der NMG führte 1909 zur Anordnung Gouverneur Zechs, daß Mischlingskinder bis zum 15. Lebenjahr der Vormundschaft der jeweiligen Bezirksamtmänner unterstellt wurden. Bis zu ihrem 6. Lebensjahr sollten sie bei ihrer Mutter bleiben und danach die Regierungsschule in Lomé (Jungens) oder eine Missionsschule (Mädchen) besuchen. Die Kosten dafür übernahm das Gouvernement, Knoll, Arthur J. (1982): Die Norddeutsche Missionsgesellschaft, S. 171. 261 J. K. Vietor an „Frau Professor“ vom 19.6.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 389 [Es wird nicht klar, wer genau der Empfänger war]. Damit nahm er in etwa die mittlere Position Dernburgs ein, der

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ihn mit einem Eheverbot noch nichts gewonnen, für entscheidender hielt er die Stärkung der Sittlichkeit der Europäer.262 Wichtiger als Eheverbote sei es daher, die Verhältnisse durch staatliche Finanzierung der Reise- und Lebenshaltungskosten von Beamtenfrauen zu ändern und in Zukunft darauf zu achten, nur noch charakterfeste Persönlichkeiten in den Kolonialdienst zu entsenden, die „einen solchen Umgang [mit eingeborenen Frauen, Anm. B.O.] als Unrecht ansehen und sich davon freihalten.“263 Trotz dieser relativ moderaten politischen Einstellung machte Vietor keinen Hehl aus seiner grundsätzlichen, mentalen Ablehnung von ehelichen Verbindungen zwischen Schwarz und Weiß. Er war der Meinung, der Weiße untergrabe damit sein Lebensglück und müsse daher als „vollständig minderwertig“ betrachtet werden, auch der Gedanke der Rassenmischung behagte ihm nicht.264 „WÜTENDER BODENREFORMER“ Adolf Damaschkes Einfluß auf Vietors kolonial- und sozialpolitisches Denken Neben den kolonialpolitischen Fragestellungen bewegte Vietor in seiner politischen Arbeit insbesondere das Bodenrecht, das für ihn der Schlüssel zu einer ganzheitlichen staatlichen Sozialpolitik war. Innerhalb der CSP galt er als exponierter Bodenreformer, der versuchte im Sinne der bodenreformerischen Gedanken Einfluß auf die CSP Parlamentarier zu nehmen. 1913 drängte er sie darauf hinzuwirken, daß das Reichszuwachssteuergesetz von 1911, durch das der Wertzuwachs von Grundstücken besteuert wurde, erhalten bliebe, wenngleich er eine Beseitigung von Härten bei der Veranlagung und Freistellung kleinerer Gewinne durchaus begrüßte. „Eine volle Aufhebung des Gesetzes wuerde in der Hauptsache nur gewerbmaessiger Terrainspekulation Riesengeschenke machen.“ In diesem Fall müsste der Steuerausfall durch neue und andere Steuern wieder hereingeholt werden, die den Hausbesitzer, das Gewerbe sowie alle Einkommen stärker belasten würden.265 Die Be-

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zwar ein allgemeines Mischehenverbot für die deutschen Kolonien für verfehlt hielt, es aber aus den gleichen Gründen wie Vietor für Samoa als gerechtfertigt ansah, vgl. Schulte-Althoff, 1985 (wie Anm. 246), S. 85. „Dadurch allein, dass man die Ehe verbietet, bessert man aber die Schäden nicht, denn worauf es ankommt ist doch, dass die Europäer sich in den Kolonien grösserer Sittlichkeit befleissigen“, J. K. Vietor an „Frau Professor“ vom 19.6.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 388. Ebd., Bl. 389f. Vietor, 1913 (wie Anm. 54), S. 96. „Ein Unterschied der Rasse, der Lebensanschauung und Erziehung ist selbstverständlich vorhanden, den man nicht leugnen, über den man sich auch ungestraft nicht hinwegsetzen kann. Eine Ehe z.B. zwischen einem Weissen und einer Schwarzen wird in fast allen Fällen aller Voraussetzungen für ein glückliches, befriedigendes Familienleben entbehren, und man wird im Allg. ruhig sagen können, dass der Weiße ein Narr ist, der eine Schwarze heiratet. Auch die Mischung der Rasse als solches ist nicht wünschenswert“, Vietor, J. K: Kulturvölker und niedere Rassen, Teil 2, in: Die Arbeit 48 (1909), S. 1–3, 1. Teil 1 des Artikels ist abgedruckt in: Die Arbeit 47 (1909), S. 1f. J. K. Vietor an „Herr Abgeordneter“ vom 23.6.1913, StAB, 7,73-49, Bl. 138. Der Brief war offensichtlich an alle drei CSP Abgeordnete adressiert. In der Anlage sandte Vietor auch eine

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mühungen um den Erhalt des erst am 14.2.1911 erlassenen Gesetzes waren jedoch nicht erfolgreich. Da die indirekte Steuererhebung aufgrund dieses Gesetzes zu kompliziert war und zu wenig einbrachte, wurde die Abschöpfung des Wertzuwachses aus Grundstücken mit dem Reichsbesitzsteuergesetz vom 3.7.1913 wieder zurück an die Kommunen übertragen.266 Das Wertzuwachssteuerkonzept war erstmals in der von Adolf Damaschke mitinspirierten Landordnung Kiautschous verwirklicht worden.267 Aufgrund der positiven Erfahrungen dort hatten zwischen 1902 und 1910 insgesamt 652 Stadt- und Landgemeinden sowie verschiedene Landkreise eine entsprechende Steuer eingeführt.268 Wie Vietor vertrat Damaschke den Standpunkt, daß sich die deutschen Kolonien ausgezeichnet zu einer alternativen Bodenpolitik eigneten, da hier über die Besitzverhältnisse noch völlig frei entschieden werden könnte.269 Vietor, der am Rande des Ersten Kolonialkongresses 1902 für die Bodenreform gewonnen worden war270 und bald darauf zu einem der zahlreichen Beisitzer des Vorstands des Bundes der deutschen Bodenreformer (BDB) zählte,271 zog im Wesentlichen aus den Gedanken der Bodenreform seine

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Unterschriftenliste, die zu seinem Bedauern wegen der Kürze der Zeit nicht besonders umfangreich war. Bereits 1912 hatte Vietor Damaschke gedrängt, auf eine Erhöhung der Wertzuwachssteuer hinzuwirken, da die ersten Zahlen des Steueraufkommens enttäuschend niedrig lagen. Vietor hoffte, die Wertzuwachssteuer könnte bei entsprechender Anhebung die gesamten Aufrüstungskosten für Heer und Flotte gegenfinanzieren, J. K. Vietor an Damaschke vom 22.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 139f. Jahnel, Markus J.: Das Bodenrecht in „Neudeutschland über See“. Erwerb, Vergabe und Nutzung von Land in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1884–1915 (Rechtshistorische Reihe; 386), Frankfurt 2009, S. 167. Zu Adolf Damaschke vgl. Liertz, Max: Adolf Damaschke und die deutsche Bodenreform. Ihre Ziele und Wege. [ein Gedenkblatt zur 50. Wiederkehr der Begründung des Bundes deutscher Bodenreformer, 3. April 1898 – 3. April 1948], Düsseldorf 1948; Hugler, Klaus: Adolf Damaschke: Politiker, Bodenreformer und Pädagoge – ein soziales Vermächtnis?, in: Hugler, Klaus (Hrsg.): Adolf Damaschke und Henry George. Ansätze zu einer Theorie und Politik der Bodenreform, Marburg 2005, S. 17–43; Heuss, Theodor: Damaschke, Adolf, in: NDB, Berlin 1957, S. 497f. Jahnel, 2009 (wie Anm. 266), S. 166. Jahnel verweist allerdings darauf, daß der Anteil der Einnahmen aus der Wertzuwachssteuer gerade einmal rund 3 % der Gesamteinnahmen Kiautschous ausmachten. Ihr Wert lag daher nicht in der Generierung ansehnlicher Einnahmen als vielmehr in ihrer sozialpolitischen Lenkungsfunktion, ebd., S. 165. Damaschke, Adolf: Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not, Berlin4 1907, S. 351f.; vgl. auch Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 233. Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 242. „Damals war ich ein wütender Bodenreformer geworden“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 4. Ähnlich wie sein Weg in die Politik entsprang auch sein Engagement in der Bodenreformbewegung einem christlichen Pflichtgefühl, nicht nur Mißstände zu beklagen, sondern sie auch aktiv zu lösen. „In sozialer Beziehung muss mehr geschehen und ich bin z.B. ein überzeugter Bodenreformer, weil ich diese Reform für einen gangbaren Weg halte, um einen sehr grossen Teil der berechtigten Beschwerden unseres Volkes abzustellen. Ich glaube auch, dass es richtig und nötig ist, dass gerade die Christen energisch für die Bekämpfung der Misstände in unserem Volk eintreten und zu (sic) Verbesserung unserer Verhältnisse beitragen“, Vietor, J. K.: Vortrag vor einem christlichen Bremer Jünglingsverein [1906], VPAH, S. 14. Der 15. Bundestag der deutschen Bodenreformer zu Berlin, in: Deutsche Volksstimme 20

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alternativen Vorschläge zum Konzessionssystem in Kamerun, im Kongo und in Südwestafrika.272 Wegweisend für den kolonialpolitischen Bezug der bodenreformerischen Gedanken war Damaschkes Schrift „Kamerun oder Kiautschou?“ aus dem Jahr 1900, in der er die gerade erst entstandene Landordnung Kiautschous der Landpolitik von Buchkas in Kamerun gegenüberstellte.273 Tatsächlich folgte das (1905), S. 594–625, 618. Auch Vietors spätere Parteikollegen und Reichstagsabgeordneten Behrens und Burckhard gehörten als Beisitzer zum Vorstand, ebenso wie der DSP Abgeordnete Lattmann. Die Zeitschrift der Bodenreformbewegung hieß ab 1896 „Deutsche Volksstimme – Frei Lands“, ab April 1907 „Bodenreform. Deutsche Volksstimme, Frei Lands“. Hier wird sie durchgehend als Deutsche Volksstimme angegeben. 272 Auf dem Kolonialkongreß 1905 hatte sich Vietor an der Aussprache über den Vortrag Dr. Georg Hartmanns zum Wiederaufbau Südwestafrikas mit dem Zitat von Fritz Reuter beteiligt: „Rindfleisch und Plummen smecken sehr gut, aber wir kriegen sie man nich!“ Ähnlich erginge es dem Deutschen Volk mit dem Reichtum der Kolonien. Nicht Gesellschaften dürfe der Grund und Boden gehören, sondern Bauern und Viehzüchtern, die es vom Deutschen Reich nach bodenreformerischen Grundsätzen zur Verfügung gestellt bekommen müßten. Wenn nötig vorläufig kostenlos, später gegen die Abgabe angemessener Renten, vgl. Freidank: Die Bodenreform auf dem Kolonialkongreß, in: Deutsche Volksstimme 20 (1905), S. 626–629, 627. Das Zitat von Reuter findet sich nicht im Bericht über den Kolonialkongreß, wohl aber Vietors Forderung, deutschen Bauern gegen die Auflage eines Betriebszwanges Farmen auf „10, 15 bis 25 Jahre“ kostenlos zu überlassen. Danach müßten angemessene, ggf. progressive „Renten“ (Pachten) an den Staat abgeführt werden, Deutscher Kolonialkongreß (Hrsg.): Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses zu Berlin am 5., 6. und 7. Oktober 1905, Berlin 1906, S. 685. 1912 erklärte Vietor Damschke gegenüber, sein jüngster Vortrag über die Konzessionsgesellschaften in den Kolonien sei bewußt im Kontrast zu den Gedanken der Bodenreform konzipiert worden, J. K. Vietor an Damaschke vom 23.1.1912, StAB, 7,73-50, [Bl. 62b]. 273 Damaschke, Adolf: Kamerun oder Kiautschou? Eine Entscheidung über die Zukunft der deutschen Kolonialpolitik (Soziale Streitfragen, Bd. 8), Berlin [1900]. Die Schrift, die den Satz wiederholte, mit dem Damaschke bereits im Dezember 1899 einen Artikel beendet hatte: „Herr Dr. von Buchka, Sie müssen fort von Ihrem Posten!“ wurde an alle Reichstagsabgeordneten geschickt. Das Zitat findet sich, ebd., S. 29 und ist entnommen Damaschke, Adolf: Die nächste Aufgabe deutscher Kolonialpolitik, in: Deutsche Volksstimme 23 (1899), S. 705–708, 708. Am 19.3.1900 konnte Damaschke auch die Berliner Abteilung der DKG für seinen Kampf gegen von Buchka gewinnen und hatte daher nicht unwesentlichen Anteil an dessen Ablösung, vgl. Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 240f. Auf der Hauptversammlung der DKG in Stettin am 27.5.1904 unterstützte er die Eingabe der DKG Ortsgruppe Lippstadt, die eine klarere Position der DKG gegen Landspekulationen forderte und verhinderte damit ein abzusehendes Ignorieren derselben. Lediglich gegen die Stimmen von Rechtsanwalt Rhode und dem Leiter der 1903 von der DKG eingesetzten Landkommission, von Bornhaupt, wurde daraufhin folgende Resolution in Stettin von der Hauptversammlung angenommen: „Die Hauptversammlung der Deutschen Kolonialgesellschaft wolle beschließen, den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, darauf hinzuwirken, daß für die deutschen Kolonien Landordnungen erlassen werden, welche eine regere Ansiedlung ermöglichen und die Landspekulation mit ihren gemeinschädlichen Folgen verhindern“, Die Bodenreform auf dem deutschen Kolonialtag, in: Deutsche Volksstimme 11 (1904), S. 722–727; vgl. Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 244. Damaschke hatte darüberhinaus auch Einfluß auf den Evangelisch-Sozialen Kongreß, den er 1900 für ein Eintreten zugunsten einer gesetzlichen Regelung der Wohnungsnot sowie eine Bekämpfung der Bodenspekulation gewinnen konnte, vgl. Vom Bruch, Rüdiger: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich, in: Vom Bruch, Rüdiger (Hrsg.): Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer (Bücher zur Sozialgeschichte und sozialen Bewegung), München 1985, S. 61–179, 118.

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Reichsmarineamt als Verwaltungsorgan für Kiautschou einer völlig anderen Bodenpolitik als die Kolonialabteilung unter von Buchka. Wenngleich Tirpitz die Entstehungsgeschichte der Landordnung für Kiautschou in erster Linie mit der Anlehnung an das englische Vorbild in Hong-Kong erklärte,274 ist die Beeinflussung durch die Gedanken der Bodenreformbewegung nicht zu übersehen.275 Damaschke gibt an, bereits früh Eingang in führende Marinekreise gefunden zu haben. Im Haus Kapitän Hildebrands in Berlin trafen sich regelmäßig führende Kreise der Marine, vor denen Damaschke wiederholt bodenreformerische Vorträge hielt. Admiral Otto von Diederichs, unter dessen Oberbefehl am 14.11.1897 die Bucht von Kiautschou besetzt worden war, trat nach einem Vortrag Damaschkes dem Bund deutscher Bodenreformer (BDB) bei und bestätigte 1902, daß der Kolonialbeamte Dr. Schrameier wesentlich dazu beigetragen hatte, daß die Landordnung von Kiautschou bodenreformerisch ausgestaltet worden war.276 § 6 der Landordnung vom 2.9.1898 bestimmte für Grundstücksverkäufe eine Gewinnbeteiligung des Fiskus in Höhe von 33,3 %. Ursprünglicher Kaufpreis und getätigte Aufwendungen zur Wertsteigerung des Grundstückes wurden vom Gewinn vorher abgezogen, sodaß die Abgabe lediglich den „unverdienten“ Wertzuwachs infolge industrieller oder kultureller Entwicklung des Umlandes zumindest teilweise abschöpfte. Um Versuchen zu begeg-

274 In seiner Reichstagsrede vom 31.1.1899 erklärte Tirpitz, man habe zwar nicht das „Lean“ System Hong-Kongs übernommen, setze aber wie die Engländer dort auf einen Verzicht von Zöllen, ein weitreichendes Freihandelsprinzip und generiere lediglich eigene Einnahmen aus der steuerlichen Belastung von Grund und Boden. In Anlehnung an das Beispiel englischer Kaufleute in Hong-Kong appellierte er an die deutschen Kaufleute, entsprechende Belastungen bereitwillig auf sich zu nehmen, vgl. SBR, 10. Leg. per., 1. Sess., 22. Sitzung vom 31.1.1899, S. 550. Auch wenn Tirpitz hier keinen Hinweis auf eine Orientierung an Gedanken der Bodenreform gab, war für Damaschke gleichwohl klar, daß Tirpitz in dieser Rede „die Bodenreform in Ostasien im Reichstag vertreten“ hatte, vgl. Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 236. 275 Damaschke verweist in diesem Zusammenhang auf verschiedene zeitgenössische Beobachter wie den amerikanischen Geographen Poultney Bigelow, der bereits 1899 von einer Verwirklichung der Bodenreformgedanken in Kiautschou sprach und den führenden deutschen Pädagogen Prof. Wilhelm Rein, der in seiner 1902 erschienen Arbeit über Ethik und Volkswirtschaft den ersten bodenreformerischen Versuch des Deutschen Reiches in Kiautschou lobt, vgl. Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 349–351; vgl. auch Silagi, Michael/Faulkner, Susan: Land Reform in Kiaochow, China. From 1898 to 1914 the Menace of Disastrous Land Speculation was Averted by Taxation, in: The American Journal of Economics and Sociology 2 (1984), S. 167–177, 169. 276 Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 236–239; vgl. Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 350. Ein Vortrag des Chinesenkommissars und Admiralitätsrats Dr. Schrameier über die Entstehungsgeschichte der Landordnung in Kiautschou wurde 1903 vom BDB veröffentlicht: Wilhelm Ludwig Schrameier: Wie die Landordnung von Kiautschou entstand? Referat, gehalten am 27. November 1902 im „Bunde der Deutschen Bodenreformer“ [Soziale Streitfragen; 14], Berlin [1903]. Die Popularität bodenreformerischer Ideen in führenden Kreisen der deutschen Marine dokumentiert auch der Vortrag Konteradmirals z.D. Oscar Boeters, Bodenreform und Kolonialpolitik, auf dem 14. Bundestag des BDB am 15./16.10.1904 in Darmstadt, Deutsche Volksstimme 22 (1904), S. 674. Der Vortrag erschien 1905 als Band 20 der Schriftenreihe des BDB, Soziale Streitfragen.

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nen, diese Abgabe durch falsche Wertangaben zu unterlaufen, erhielt die Verwaltung für alle Grundstücke das Vorkaufsrecht.277 In der Abschöpfung der Wertsteigerung von Grund und Boden für die Allgemeinheit sah die Bodenreformbewegung ihren sozialpolitischen Hauptansatzpunkt.278 In der Tradition Henry Georges279 stehend, versuchte sie einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu finden,280 der volkswirtschaftlich auf eine gerechtere und gleichmäßigere Verteilung der gesamtgesellschaftlichen Wertsteigerung zielte. Keineswegs durch Verstaatlichung allen Besitzes oder Ausschaltung des privaten Nutzens individueller Leistungsfähigkeit sonderrn vielmehr durch Sozialisation des Produktionsfaktors Grund und Boden.281 Parallelen und Schnittstellen zur CSP, die zumindest die Kluft zwischen arm und reich verringern wollte,282 sind sowohl programmatisch, historisch als auch personell nachvollzieh277 Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 344f. 278 Auf der Rückseite der Schriftenreihe des Bundes Deutscher Bodenreformer, „Soziale Streitfragen“, und leicht verkürzt auf dessen Briefpapier, war dieses der Satzung von 1898 entnommene Ziel, entsprechend abgedruckt: „Der Bund der Deutschen Bodenreformer sieht in der Grundund Bodenfrage den wesentlichen Teil des sozialen Problems. Er tritt dafür ein, daß der Grund und Boden, diese Grundlage aller nationalen Existenz, unter ein Recht gestellt werde, das seinen Gebrauch als Werk- und Wohnstätte befördert, das jeden Mißbrauch mit ihm ausschließt, und das die Wertsteigerung, die er ohne die Arbeit des Einzelnen erhält, möglichst dem Volksganzen nutzbar macht“, vgl. auch Bund Deutscher Bodenreformer an J. K. Vietor vom 12.6.1922, StAB, 7,73-8. 279 Zu Henry George vgl. Andres, Fritz: Fortschritt und Armut. Leben und Werk Henry Georges, Bad Boll 1997; Schratz, Sabine: Das Gift des alten Europa und die Arbeiter der Neuen Welt, Paderborn, Münster 2011, S. 35–47. Zur Verurteilung seiner Lehre und seines Buches Progress and Poverty durch die Kath. Kirche vgl., ebd., S. 325–375; Onken, Werner: Henry George – ein Sozialreformer des Gedankens und der Tat, in: Fragen der Freiheit 245 (1997), S. 3–18; Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 247–297. Zu Adolf Damaschke und seiner Verbindung zu George Henrys vgl. Hugler, 2005 (wie Anm. 263). Bereits in den 1880er Jahren waren mehrere Werke George Henrys in Deutschland erschienen, teilweise in mehreren Auflagen, vgl. George, Henry/Gütschow, G.D.F: Fortschritt und Armuth. Eine Untersuchung über die Ursache der industriellen Krisen und der Zunahme der Armuth bei zunehmenden Reichthum, Berlin 1881; George, Henry/Stöpel, Franz: Schutz oder Freihandel. Untersuchung der Zollfrage mit besonderer Rücksicht auf die Interessen der Arbeit, Berlin 1887; George, Henry: Sociale Probleme. Deutsch von F. Stöpel, Berlin 1885. 280 Damaschkes Schlagwort von „Weder Kapitalismus noch Sozialismus“ bildet die Überschrift zum ersten Kapitel seines programmatischen Buches „Die Bodenreform“, Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 1. 281 Während die Bodenreformbewegung individuelle Arbeitsleistung und unterschiedliche Verteilung des Kapitalbesitzes bejahte, forderte sie den Gewinn aus Bodenwertsteigerungen für die Allgemeinheit. Sie argumentierte, daß die Steigerung des Bodenwertes, etwa durch Urbanisierung und Industrialisierung, keineswegs die Leistung eines Einzelnen darstelle. Vielmehr profitierte der Besitzer des sich im Wert steigernden Grund und Bodens dabei lediglich von der gesellschaftlichen Entwicklung, die wiederum ein Allgemeingut wäre und nicht Einzelnen zu Gute kommen dürfe. Von der Sozialisation des Grund und Bodens bzw. ihres Mehrwertes versprach sich die Bodenreformbewegung Kostenentlastungen für das produzierende Gewerbe und günstige Mietpreise für Berufstätige, sodaß sich ihr Lebensstandard deutlich erhöhen könnte und sie auf diese Weise an der gesamtgesellschaftlichen Leistungs- und Wertsteigerung beteiligt wären, Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 51–53. 282 Bereits das Parteiprogramm der CSP von 1878 betont in seinem Grundsatzteil (4.) das Ziel:

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bar. Der Vorsitzende des 1898 gegründeten BDBs, Adolf Damaschke, hatte 1896 mit Friedrich Naumann den Nationalsozialen Verein gegründet, den linken Flügel der christlich-sozialen Bewegung, der von Stoecker im gleichen Jahr von der Neukonstituierung der CSP ausgeschlossen worden war.283 Von 1898 bis zur Auflösung des Vereins 1903 war er stellvertretender Vorsitzender der national und monarchisch, zugleich aber auch liberal und demokratisch eingestellten Gruppe.284 Bereits seit Jahren eng verbunden mit der 1888 einsetzenden, anfangs noch bescheidenen Bodenreformbewegung,285 führte er die Gedanken der Bodenreform in die neue Partei ein und verankerte deren Ziele im Parteiprogramm.286 Er war auch der maßgebende Kolonialpolitiker des nationalsozialen Vereins und erreichte auf dem Parteitag 1901 zusammen mit Prof. Rathgen die Annahme grundlegender Thesen.287 „Das Ziel der Kolonialpolitik darf nicht die Ausbeutung des Koloniallandes in einseitigem Interesse einzelner Kapitalistengruppen, sondern soll die Hebung und Erziehung der Kolonialbevölkerung und die mögliche Entwicklung der Hilfsquellen des Koloniallandes sein, im Interesse der Gesamtheit der Nation. Von der Kolonialverwaltung fordern wir daher: a. eine Behandlung des Grund und Bodens, die seine Lieferung an kapitalistische Sonderinteressen verhindert;

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„Sie [die CSP, Anm. B.O.] verfolgt als Ziel die Verringerung der Kluft zwischen Reich und Arm und die Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit“, vgl. Mommsen, 1960 (wie Anm. 125), S. 71. Die späteren Parteiprogramme halten mit Abwandlungen an dieser Zielsetzung fest, das Programm von 1910 unterstreicht dabei ausdrücklich den Kampf gegen die Auswüchse des Kapitalismus, aber auch gegen die Sozialdemokratie, vgl. Busch, 1968 (wie Anm. 125), S. 119f. Zum Nationalsozialen Verein vgl. Düding, Dieter: Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus [Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; 6], München [u.a.] 1972. Naumann sieht seinen Gegensatz zu Stoecker, dessen Nähe zu den Konservativen ihm „zu allen Zeiten sachlich unbehaglich“ gewesen war, mehr im „praktisch-religiösen Leben als im politischen“, kommt aber schließlich doch zu der politisch gemünzten Aussage: „Wir stehen links, und er stand rechts“, Naumann, 1919 (wie Anm. 141), S. 106, 115. Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 414. Bereits am 16.9.1888 war der Deutsche Bund für Bodenbesitzreform unter dem Vorsitz von Michael Flürscheim gegründet worden, dem Damaschke 1890 beitrat und dessen stellvertretenden Vorsitz er 1891 übernahm. Der Bund wurde 1898 wegen interner Spannungen aufgelöst, vgl. Seemann, Josef: Bund Deutscher Bodenreformer (BDB), in: Fricke, Dieter (Hrsg.): Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945. Alldeutscher Verband – Fortschrittliche Volkspartei, Leipzig 1968, S. 150–155, 151. Damaschke hatte sich ab 1893 an einem bodenreformerischen Siedlungsprojekt in Oranienburg beteiligt, vgl. Baumgartner, Judith: Erbau dein Haus auf freiem Grund. Bodenreform und Bodenreform und Siedlungsidee: Adolf Damaschke und die Siedlungsgenossenschaft Eden-Oranienburg, in: Hugler, 2005 (wie Anm. 263), S. 139–154, 143f., 147f. Waren bodenreformerische Gedanken bei der Parteigründung noch kein zentrales Thema gewesen, hatte der Einfluß Damaschkes, dessen bodenreformerische Thesen auf dem Parteitag 1899 ins Parteiprogramm aufgenommen wurden, nach den Worten des unter Protest ausgetretenen Paul Göhre dazu geführt, daß sie „nach und nach das Bestimmende in dem nationalsozialen Programm geworden seien“, Damaschke, (1925) (wie Anm. 156), S. 389–391. Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 391.

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5 Das höhere Ziel: Christliches Sendungsbewusstsein und tätiger Glaube b. Entwicklung der Selbstverwaltung und finanziellen Selbständigkeit der Kolonien.“

Auf dem Parteitag 1902 gelang Damaschke eine Verschärfung der von Prof. Alfred Weber geforderten staatlichen Intervention gegen „ungesunde Kartellpreispolitik“ durch Annahme des von ihm formulierten Zusatzes, daß die Partei die „Überführung der großen Verkehrsmittel und der Rohstoffe (Bergbau) in die Kontrolle bezw. das Eigentum der Gesamtheit“ forderte.288 Die Übereinstimmung von Damaschkes und Vietors politischen Überzeugungen in den Hauptfeldern Sozialpolitik, Kolonialpolitik und Wirtschaftspolitik war weitgehend.289 Auch von der CSP wurde Damaschke, im Gegensatz zu den früheren Parteimitgliedern des Nationalsozialen Vereins, die Naumann 1903 in die freisinnige Partei gefolgt waren, weitgehend geschätzt.290 Vietor und Damaschke verband darüber hinaus auch eine tiefe religiöse Verankerung im Denken, die in Da288 Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 392. Damaschke weist daraufhin, daß die Gründung der jungliberalen Vereine, die, im Gegensatz zur nationalliberalen Mutterpartei, Teile der programmatischen Forderungen des nationalsozialen Vereins aufnahmen, auf einen Vortrag von ihm in Hamm zurückgingen, ebd, S. 404. In der vom Reichsverband der Vereine der Nationalliberalen Jugend herausgegebenen Broschüre „Deutschlands Kolonien und seine Kolonialpolitik“ kamen auch Vietor und Oloff mit kolonialreformerischen Gedanken zu Wort, vgl. Helbeck-Elberfeld, Paul (Hrsg.): Deutschlands Kolonien und seine Kolonialpolitik. Aufsätze erster Kolonialpolitiker, Köln 1906. 289 Die enge Beziehung und Nähe zwischen Vietor und Damaschke wurde auch im Vorfeld des 2. Kolonialkongresses sichtbar. Vietor, der auf dem Kolonialkongreß eine Rede über den Handel der deutschen Kolonien hielt, dessen Manuskript er Damaschke vorab schickte, war auch auf dem unmittelbar davor, vom 3.-5.10.1905, stattfindenden Bundestag der Bodenrefomer als Sprecher geladen. Für seine hier zu haltende Rede bat Damaschke um die Aufnahme einiger Details zum Verhalten der GSK und bedauerte, ihn nicht privat beherbergen zu können, da er bereits dem MdR Lattmann zugesagt hatte, vgl. Damaschke an Vietor vom 12.8.1905 und 15.0.1905, VPAH. Konv. 4, Teil 3, Mappe 3. In die Aussprache über Vietors Vortrag auf dem Kolonialkongreß griff Damaschke beherzt zugunsten Vietors ein, vgl. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 7.10.1905, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 7. In der Aussprache zum Vortrag von Dr. Georg Hartmann über den Wiederaufbau Südwestafrikas berief er sich zweimal auf Vietors grundlegende Untersuchung über die Konzessionsgesellschaften, die 1905 in seinem Organ abgedruckt worden waren, vgl. Deutscher Kolonialkongreß (Hrsg.), 1906 (wie Anm. 272), S. 689, 695. Zu Vietors Rede auf dem Kolonialkongreß vgl. Vietor, J. K.: Der Handel der deutschen Kolonien. Sektionssitzung am 6. Oktober, nachmittags, in: Deutscher Kolonialkongreß (Hrsg.), 1906 (wie Anm. 272), S. 629–637. Zu Vietors Rede auf dem Bundestag der Bodenreformer vom 3.–5.10.1905 vgl. Vietor, J. K.: Der deutsche Handel und die Monopole in unseren westafrikanischen Kolonien, in: Jahrbuch der Bodenreform 3 (1905), S. 161–184. Sein Vortrag dort wurde mit lebhaftem und langanhaltenden Applaus quittiert, vgl. 1905 (wie Anm. 271), S. 620. 290 Auch Mumm hatte ab 1900 Kontakt zu Damaschke und war mehrmals Besucher in seinem Haus. Dabei traf er neben Gerlach und Naumann auch den späteren Reichskanzler Dr. Luther, Mumm, 1933 (wie Anm. 143), S. 35. Bei der Reichstagswahl 1907 gehörte die CSP zum Unterstützerkreis einer unabhängigen Kandidatur Damaschkes im Berliner Wahlbezirk I, Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 69; Damaschke, Adolf: Die Bodenreform im Reichstagswahlkampf, in: Deutsche Volksstimme 1 (1907), S. 4–6, 4. Während man ihn zum „besten Teil“ der ehemaligen Nationalsozialen rechnete, hatte man kein Verständnis für Naumann, der zur „Partei der Judenschutztruppe „Freisinnige Vereinigung““ gegangen war und hier nun Arbeiter mit sozialen Vorschlägen gewinnen wolle, vgl. Die Nationalsozialen, in: Die Arbeit 46 (1907), S. 5.

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maschkes bodenreformerischen Überlegungen eine wichtige Rolle spielte. Für Damaschke waren die alttestamentlichen Bestimmungen zum „Jobeljahr“ , nach der alle 49 Jahre die Eigentumsverhältnisse des Grund- und Bodenbesitzes auf ihre ursprüngliche Verteilung zurückzusetzen waren, um dadurch eine dauerhafte Verarmung von Familien und Sippen zu verhindern, wegweisend.291 Wie Damaschke blieb Vietor mit seinen bodenreformerischen Überzeugungen nicht auf dem kolonialen Schauplatz stehen, sondern thematisierte den Ansatz auch mit Nachdruck im Inland, insbesondere in Bezug auf die Wohnungsnot in den Großstädten. Auf Damaschkes Rat hin, den er zuvor persönlich nach Bremen eingeladen hatte, schickte Vietor dessen Buch „Die Bodenreform“ dem Senat der Stadt Bremen mit der Bitte, „wieder neue Steuern auf den Grundbesitz“ einzuführen. „Damit bin ich sehr schlimm angekommen. Ich hatte einen sehr guten Freund, den Vorsitzenden des Deutschen Kolonialvereins, Achelis, der sich sehr viele Verdienste um mich erworben hatte und der mir, als er mir zufällig mal erzählte, daß er in Berlin zu einer Sitzung geladen sei, sich sofort bereit erklärte, mir einen Kredit von 50.000 Mk. für mein Geschäft zu besorgen in Berlin. Er benahm sich dabei sehr großzügig indem er meinte, einem Mann wie mir müsste natürlich alle Unterstützung zu Teil werden, die nur angängig sei. Nun hatte er vor der Stadt aber ein großes Anwesen gekauft, welches er mit großem Vorteil wieder an den Mann zu bringen hoffte. Er war nun durch mein Vorgehen sehr geknickt und hat mich kolossal auf den Schwung gebracht. So habe ich in Bremen mit der Bodenreform nicht viel erreichen können.“292

Johann Christoph Achelis war nicht nur Gründungsmitglied und 1.Vorsitzender der DKG Ortsgruppe Bremen,293 sondern von 1892 bis 1907 auch Senator der Stadt.294 Sein Bruder Fritz Achelis war Vizepräsident des Aufsichtsrates des Norddeutschen Lloyd und ab 1911 dessen Präsident.295 Vietor gehörte dem Aufsichtsrat seit Früh-

291 Helbeck-Elberfeld (Hrsg.), 1906 (wie Anm. 288), S. 160–163. Die Zurücksetzung auf die ursprünglichen Grund- und Bodenbesitzverhältnisse im 50. Jahr bezeichnet das Alte Testament als Hall- oder Jobeljahr. Die Vorschriften dazu werden beschrieben in 3. Buch Mose Kapitel 25. Während das Land in jedem Fall an den ursprünglichen Besitzer, respektive seine Familie, zurückfallen mußte, durften gekaufte Immobilien innerhalb einer Stadt, nach einem auf ein Jahr begrenzten Rückkaufsrecht, dauerhaft im Besitz der Erwerbers bleiben (Vers 29f.). Für Gebäude auf dem Land und in Dörfern galt diese Vorschrift jedoch nicht (Vers 31). Damaschke orientierte sich aber auch an anderen historischen Vorbildern der Bodenreform wie etwa den Reformversuchen der Gracchen im republikanischen Rom, vgl. ebd., S. 227–239. Die 15-seitige Schrift Damaschkes über die biblischen Bestimmungen zur Bodenfrage erreichte bis 1929 eine Gesamtauflage von 210.000 Exemplaren, vgl. ders.: Bibel und Bodenreform (Soziale Zeitfragen, Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart; 28), Berlin 1929. 292 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 4. 293 SuUB, DKG Jahresberichte. Satzungen und Erstes Mitgliederverzeichnis der Abteilung Bremen der Deutschen Kolonialgesellschaft, Bremen 1899, S. 4. 294 Zu Johann Christoph Achelis vgl. Schwarzwälder, Herbert: Das große Bremen-Lexikon. A-K (Bd. 1), Bremen2 2003, S. 13. 295 Prüser, Friedrich: Achelis, Johannes Christoph, in: NDB, Berlin 1953, S. 30. Photos im Bestand Norddeutscher Lloyd zeigen Fritz Achelis, Vietor, Generaldirektor Wiegand und andere Aufsichtsratsmitglieder auf den Jungfernfahrten der Lloyddampfer „Prinz Friedrich Wilhelm“ und „George Washington“ (1909), StAB, 7,2010-90a. Achelis wird auf den Photos bereits für das Jahr 1909 als „Präsident“ des Aufsichtsrates genannt, obwohl er damals noch Vize-Präsident war. Zu Fritz Achelis, vgl. Schwarzwälder, 2003 (wie Anm. 294), S. 13. Fritz Achelis war

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jahr 1906 an.296 Die Initiative zu seiner Berufung war vom Präsidenten des Aufsichtsrates, Georg Plate, ausgegangen, mit dem sich Vietor in der Handelskammer angefreundet hatte.297 Offensichtlich eckte Vietor auch im Aufsichtsrat des Norddeutschen Lloyd wegen seiner politischen und bodenreformerischen Überzeugungen an. Bereits nach seiner Wahl in die Bremer Bürgerschaft 1901 hatte ihm der einflußreiche Kaufmann Philipp Heinecken deutlich gemacht, daß er als Teil der Kaufmannsklasse immer geschlossen mit dieser stimmen müsse, auch wenn er anderer Meinung wäre. Heinecken belehrte ihn bei seinem Eintritt in den Aufsichtsrat des Norddeutschen Lloyd 1906 in ähnlicher Weise, es sei hier Brauch, daß neu eingetretene Mitglieder die ersten zwei bis drei Jahre in den Sitzungen still blieben, um sich zunächst einmal einen Überblick zu verschaffen. Politische Äußerungen seien gar nicht erwünscht.298 Ähnliche Anweisungen dürfte er auch bei seinem Eintritt in die Handelskammer 1901 zu hören bekommen haben.299 Als er sich dort wagte, die Anliegen landwirtschaftlicher Interessenten zu verteidigen, stieß er auf eisiges Schweigen und handelte sich eine strenge Vermahnung des Syndicus der Kammer, Johannes Rösing, ein.300 Vietor schied 1909/10 aus dem Aufsichtsrat des

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bereits seit 1877 Mitglied und seit 1892 Vize-Präsident des Aufsichtsrates des Norddeutschen Lloyd. Von 1882–1917 gehörte er der Bremer Bürgerschaft an. Vietor erwähnt seine Berufung in den Aufsichtsrat in einem Schreiben an Gouverneur Zech, vgl. J. K. Vietor an Zech vom 29.8.1906, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 5. Die Tantiemenabrechnung vom 1.4.1907 für das Jahr 1906 weist einen Betrag von 13.520,15 Mark aus, der sich auf der Grundlage einer Zugehörigkeit von 8 5/6 Monaten errechnete. Danach trat Vietor im April 1906 in den Aufsichtsrat ein. Wegen Steuerabzug und anteiliger Umlage für ein Geschenk des Aufsichtsrates an Herrn Direktor Bremermann wurden Vietor jedoch nur 12.086,05 Mark ausbezahlt, VPAH. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 11–13. Plate, den Vietor in der Handelskammer in allem tonangebend fand, klopfte ihm eines Tages als Zeichen seiner Freundschaft und Anerkennung auf die Schulter und meinte: „Vietor, sie sind der beste Orthodoxe, den ich jemals in meinem Leben getroffen habe.“ Nach Vietors einstimmiger Wahl in den Aufsichtsrat übernahm er dort die Aufgabe des „Kassenprüfers“. Zu Plate vgl. Schwarzwälder, 2003 (wie Anm. 171), S. 678. Plate wurde 1892 sowohl zum Präsidenten der Baumwollbörse in Bremen berufen wie auch zum Präsidenten des Norddeutschen Lloyd. Der Handelskammer gehörte er von 1891–1903 an. Vietor, J. K.: Rede im Haus Seefahrt am 11.2.1930, VPAH. Zu Heinecken vgl. Schwarzwälder, 2003 (wie Anm. 294), S. 372. Heinecken war langjähriges Mitglied der Bremer Bürgerschaft, ab 1902 Mitglied des Aufsichtsrates des Norddeutschen Lloyd, seit 1906 Mitglied des Vorstandes. Nach dem Tod von Wiegand übernahm er 1909 das Amt des Generaldirektors des Lloyd. Vietor wurde am 21.12.1901 vom Kaufmannskonvent zum Mitglied der Handelskammer berufen, Handelskammer Bremen, Präses, an J. K. Vietor vom 21.12.1901, VPAH, Konv. 3, Teil 2. Vietor, J. K.: Rede im Haus Seefahrt am 11.2.1930, VPAH. Hier verlegt er sein Eintreten für die Anliegen der Landwirtschaft in eine Sitzung des Aufsichtsrates des Norddeutschen Lloyd, in seinen Erinnerungen spricht er, wohl richtiger, von der Handelskammer. Sie hätte nach der Jahrhundertwende „ganz unter dem Einfluß der Freihändler“ gestanden und als ein Jahresbericht in der Einleitung einer „Schmähschrift“ gegen die Agrarier glich, wies Vietor auf die Berechtigung der Agrarier hin, da diese immerhin die Städte mit Lebensmitteln versorgten. Rösing ließ das nicht stehen und „putzte mich mächtig herunter und wie es in solchen Versammlungen gewöhnlich geht, antwortete niemand darauf, wenn die Herren sehen, daß sie gegen den Strom schwimmen sollen“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 11. Rösing war fast 35 Jahre Syndicus der Handelskammer und trat im Oktober 1933 aus

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Norddeutschen Lloyd aus, nachdem ein Vortrag von ihm vor einem Kohlensyndikat in Essen wegen seiner christlich-sozialen Tendenzen auf heftige Kritik gestoßen war und eine Beschwerde beim Norddeutschen Lloyd nach sich gezogen hatte.301 Da Vietor nicht bereit war der nun an ihn gestellten Forderung nachzukommen, seine Redemanuskripte in Zukunft dem neuen Generaldirektor Heinecken vorzulegen, sofern sie nicht im Einklang mit der Linie des Lloyds standen, trat er zurück.302 In seiner Kartellschelte stand Vietor Damaschke und dem früheren nationalsozialen Verein inhaltlich möglicherweise näher als der CSP. Während das CSP Parteiprogramm von 1910 lediglich eine „Beaufsichtigung“ der Syndikate forderte (III/10) und in der Frage der Verstaatlichung „geeigneter Betriebe“ unbestimmt und vage blieb, hatte Damaschke 1902 das konkrete Ziel der Verstaatlichung von Bergbau und Bahn, zumindest deren staatliche Kontrolle, in seiner Partei durchsetzen können. Einen entsprechenden Passus im Parteiprogramm der CSP hatte Vietor nur für den Bereich der Kolonien erreicht, nicht aber die nationalsoziale Forderung nach Verhinderung der Auslieferung des Grund und Bodens an „kapitalistische Sonderinteressen.“ Eben das aber war eine Kernforderung Vietors, seitdem er sich der Bodenreformbewegung angeschlossen hatte. „Es handelt sich nämlich im letzten Grunde bei der Bodenfrage um die prinzipielle Frage: Wollen wir unsere Kolonien kapitalistischen Gesellschaften ausliefern und den Millionen Lohnarbeitern zu Hause noch so viele Millionen Proletarier in unseren Kolonien hinzufügen, oder wollen wir in unseren Schutzgebieten unsere Eingeborenen zu freien selbständigen Bauern erziehen, die auf ihrer eigenen Scholle ihre Produkte bauen?“ (Herv. i.Orig.)303 Altersgründen zurück, vgl. Peters, Fritz: Bremen zwischen 1933 und 1945. Eine Chronik, Bremen 2010, S. 36. Vietor vertrat mit seinem Eintreten für die Anliegen der Landwirtschaft die politische Auffassung der CSP, die dem Aufbau eines „künstlichen Gegensatz[es] zwischen Stadt und Land“, widersprach. Da die Landbevölkerung eine deutlich höhere Geburtenrate aufwies, stabilisierte sie für die CSP den Volkserhalt. Schutzzölle und andere Sicherungen für einen gesunden Bauernstand sowie Maßnahmen gegen die Landflucht seien daher vollauf berechtigt, Die Landwirtschaft und die Christlich-Sozialen, in: Die Arbeit 19 (1907), S. 6. 301 Hatte sich das CSP nahe Blatt „Das Reich“ bereits 1904 vehement gegen die rücksichtlose und volksschädigende Politik des Rheinisch-Westfälischen Kohlesyndikats gewandt, wehrte sich ein CSP-Wahlkampfaufruf vom Dezember 1906 gegen den „Mammonssinn“ und den „einseitigen Kapitalismus“, der Deutschland mit Syndikaten und Trusts überziehe und damit Mittelstand und Arbeiterschaft schade, vgl. Fricke 1983–1986 (wie Anm. 123), S. 448. 302 Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 14. Der Austritt aus dem Aufsichtsrat ging offensichtlich auch mit persönlichen Verwerfungen einher: „Meine alten Kollegen im Lloyd beschimpften mich auf das Allergemeinste“, ebd. Vietor hatte bereits 1907 einen persönlichen Kontakt nach Essen aufgebaut und besuchte dort Gustav Krupp von BohlenHalbach, der seit 1906 zum Aufsichtsrat der Friedrich Krupp AG gehörte und 1909 dessen Vorstandsvorsitzender wurde. Vietor wurde bei dem Besuch von Geo Plate begleitet, der mit Vietors Verhalten aber ausdrücklich einverstanden war. Bei diesem Treffen ging es Vietor aber auch in erster Linie um kolonialpolitische Fragen, die er Krupp stellte. „[Ich hatte] tausend Fragen an ihn gestellt und er war jedenfalls immer so anständig, daß er mir in Bezug auf unsere Kolonien, auf die Arbeiterfrage usw. immer sagte, bitte bitte, wenden sie sich an den Herrn Direktor XYZ. Das habe ich dann auch immer redlich getan und wir müssen nun einmal abwarten wie alles läuft“, J. K. Vietor (Essen) an Hedwig Vietor vom 24.9.1907, VPAH, Konv. 1, Teil 6. 303 Vietor, J. K.: Koloniale Bodenpolitik, in: Helbeck-Elberfeld (Hrsg.), 1906 (wie Anm. 288),

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Den Tatbestand einer Auslieferung des Bodens und der Bodenschätze an kapitalistische Gesellschaften sah er nicht nur in Form der Kameruner Landkonzessionen erfüllt, sondern auch im Fall der südwestafrikanischen Konzession an die „South West Africa Company“ (SWAC). In Vietors Augen verfolgte sie als Tochterunternehmen der in Südafrika aktiven „De Beers Company“ rein spekulative Ziele, um den Preis der südafrikanischen Edelsteine künstlich hoch zu halten. Weder nutzte sie ihre eigene Konzession in Südwestafrika, noch ließ sie aufgrund vertraglicher Regelungen ein effektives Arbeiten der Otavi-Minengesellschaft zu. Als Gegenleistung für die Rückübertragung ihrer Eisenbahnrechte hatte sie zudem ein Schürfverbot der Regierung im Ovamboland erreicht.304 Welche Blüten eine verkehrte Bodenpolitik treiben konnte, bewies Vietor insbesondere der staatliche Rückkauf der Bahnrechte von der SWAC, der notwendig geworden war, nachdem die Kolonialverwaltung im Zusammenhang mit der Rinderpest 1897 zwar einen Eisenbahnbau im Konzessionsgebiet der SWAC begonnen hatte, jedoch wegen Rücksichten auf den Konzessionsvertrag die Waggons von Eseln ziehen lassen mußte.305 Wie Damaschke hielt Vietor trotz dieser kolonialpolitischen Fehler eine wirkungsvolle Umsetzung bodenreformerischer Leitlinien in den Kolonien am ehesten für möglich. „Hier in unseren Kolonien ist uns die beste Möglichkeit gegeben, einmal im großen einen praktischen Versuch (Herv. i.Orig.) mit dem Gedanken der Bodenreform zu machen und alle die entsetzlichen Mißstände von Anfang an zu vermeiden, die sich bei uns heute als Wohnungsnot und Landteuerung, besonders in unseren Großstädten, in einer solchen Form zeigen, daß kein gesundes Volksleben dabei gedeihen kann.“306

S. 13–23, 15. 304 Vietor 1906 (wie Anm. 303), S. 18; Vietor 1905 (wie Anm. 289), S. 179. Bei dem von Vietor als „Schürfverbot“ bezeichneten Regelung handelte es sich um die Gewährung eines exklusiven Schürfrechtes für die SWAC in einem Teil des Ovambolandes, vgl. Denkschrift über die im südwestafrikanischen Schutzgebiete tätigen Land- und Minengesellschaften, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 683, S. 3908. 305 Vietor, 1905 (wie Anm. 289), S. 175. Der Bahnbau und die Schienenbenutzung war kurzfristig in Angriff genommen worden, nachdem die Versorgung des Hinterlandes durch die Rinderpest akut gefährdet erschien. Dabei wurde der Schienenverkehr „jedoch vorerst nur mittels Mauleselbetriebs, wodurch die der South West Africa Company im Teil III der Konzession eingeräumten Eisenbahnrechte nicht berührt wurden“, betrieben. Mit Vertrag vom 11.10.1898 erwarb das Reich gegen weitere Zugeständnisse die Eisenbahnrechte zurück. „Als Gegenleistung für die aufgegebenen Eisenbahnrechte hat die South West Africa Company im § 6 des Abkommens vom 11. Oktober 1898 das ausschließliche Recht zur Aufsuchung und Gewinnung von Mineralien in einem Teile des Ovambolandes erhalten“, vgl. Denkschrift über die im südwestafrikanischen Schutzgebiete tätigen Land- und Minengesellschaften, SBR, 11. Leg. per., 1. Sess., Anlage 683, S. 3908; vgl. auch Meyer/Gerhard: South West Africa Company Limited, in: Schnee, Heinrich (Hrsg.): Deutsches Koloniallexikon, Bd. 2, S. 277. 306 Vietor, J. K.: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Afrikaners, in: Norddeutsche Missionsgesellschaft (Hrsg.): Der Afrikaner, seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, geistige Befähigung, religiöse Veranlagung (Bremer Missions-Schriften; 36), Bremen 1912, S. 1–10, 9. Damaschke ging bei einer Verwirklichung bodenreformerischer Grundsätze in den Kolonien von einer öffnenden Rückwirkung auf die Heimat aus, Jahnel, 2009 (wie Anm. 266), S. 166.

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Für die Kolonien hielt er die Kronlandverordnung von 1896 prinzipiell für eine geeignete Grundlage, um bodenreformerische Gedanken umzusetzen.307 Da die Regierung danach alles ungenutzt liegende Land zu Kronland erklären und dasselbe mit frei bestimmbaren Auflagen an Interessenten vergeben könne, hätte sie alle Lenkungsfunktionen in Bezug auf den Produktionsfaktor Gund und Boden in der Hand. Spekulationen wären durch Auflagen zum Betriebszwang wirkungsvoll abwendbar. Angesichts dieser weitreichenden Möglichkeiten war es für Vietor umso bedauerlicher, daß die tatsächliche kolonialpolitische Praxis in Kamerun in eine völlig andere Richtung gegangen war.308 Dennoch sah er nach wie vor gute Möglichkeiten die Prinzipien der Bodenreform in den Kolonien einzuführen, insbesondere nach Antritt Dernburgs, von dem er zunächst noch ein Bekenntnis zur Bodenreform vermißte.309 Er schlug vor, daß die Regierung, wenn sie schon Wert läge auf Großbetriebe in den Kolonien, diese als Musterbetriebe führen solle, auf denen die einheimische Bevölkerung neue landwirtschaftliche Techniken kennenlernen könnten. Das für einen Großbetrieb erforderliche Land sollte nicht mehr verkauft werden, sondern auf 20 oder 30 Jahre kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Wenn die Gesellschaften dann prosperierten, könnte die Regierung eine „kleine entsprechende Rente“ verlangen. Damit wäre die Verwaltung bei künftigem Landbedarf teurer Rückkaufaktionen enthoben und das Land könnte dennoch zeitnah kultiviert werden.310 In Deutschland konzentrierten sich die Bemühungen der Bodenreformbewegung zunächst auf die Bekämpfung der Wohnungsnot in den Großstädten.311 Zwischen 1871 und 1910 hatte die Urbanisierung der deutschen Gesellschaft dramatische Fortschritte gemacht. Lebten noch 1871 in den deutschen Großstädten mit über 100.000 Einwohnern lediglich 4,8 % der Bevölkerung, waren es 1910 bereits 21,3 %. In Berlin kletterten die Einwohnerzahlen von 826.000 auf 2,07 Millionen 307 „Eine vortrefflichere Landordnung kann man sich gar nicht denken […] Den Eingeborenen verbleibt ihr Besitz nebst allen bisherigen Nutzungsrechten, und man nimmt sogar auf die zu erwartende Bevölkerungszunahme Bedacht“, Vietor, 1906 (wie Anm. 303), S. 14. 308 Vietor, 1906 (wie Anm. 303), S. 14. Die Sicherstellung ausreichenden Landbesitzes für die einheimische Bevölkerung sowie das dauerhafte Halten von Kronland in öffentlicher Hand blieben für Vietor entscheidende Forderungen an eine kolonialpolitische Neuausrichtung, Vietor, J. K.: Vortrag vor einem christlichen Bremer Jünglingsverein [1906], VPAH, S. 6. 309 „Wir haben heute noch ideale Verhältnisse in unseren Kolonien. Wir können die Entwicklung heute noch genauso einrichten, wie wir sie haben wollen. Alle Missstände, die durch das dichte Zusammenwohnen der Menschen und durch die ungünstige Gestaltung der Bodenfrage bei uns entstanden sind, können wir auch in Zukunft bei uns vermeiden“, J. K. Vietor: Vortragsmanuskript „Mission“ [1908/09], S. 6f. Auf seinen Inspektionsreisen versuchte Vietor auf maßgebliche Beamte im Sinne der Bodenreform einzuwirken, vgl. etwa J. K. Vietor (Lome) an Hedwig Vietor vom 30.8.1908, VPAH, Konv. 1, Teil 5, Mappe 9. 310 Vietor, J. K: Vergangenheit und Zukunft der deutschen Kolonialpolitik (Schluß), in: Die Arbeit 42 (1907), S. 7. 311 Bereits in Damaschkes Buch über die Bodenreform widmet sich ein längerer Abschnitt der Frage nach den Konsequenzen der Bodenreform für die Städte und der dortigen Wohnungssituation, vgl. Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 58–112; vgl. auch Damaschke, Adolf: Die Bodenreform und die Lösung der Wohnungsfrage, in: Zeitfragen des christlichen Volkslebens 238 (1906), S. 5–56.

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(1914), nicht eingerechnet die Vorstädte, die 1920 eingemeindet wurden.312 Hatten die Mietpreise in Berlin bereits während des Gründerbooms vorübergehend Rekordniveau erreicht, um dann wieder abzusinken, zogen sie zwischen 1900 und 1905 nochmals stark an und erreichten erneut das hohe Niveau der frühen Siebziger Jahre, um 1913 selbst dieses zu überschreiten. Hochkonjunktur, Lohnsteigerungen und expansiver Wohnungsbau führten zwar dazu, daß die absolute Wohnraumbelegung von 1,91 Personen/Raum (1890) auf 1,83 (1910) fiel, aber im Vergleich mit anderen Großstädten wie Hamburg und München auf einem außerordentlich hohen Stand verharrte.313 Zu der engen und häufig überteuerten Wohnsituation kam in vielen Fällen eine nur mangelhafte Heizmöglichkeit hinzu. Rund 200.000 Berliner, mithin deutlich mehr als 10% der Gesamtbevölkerung, lebten 1900 in einer Unterkunft, die für sechs oder mehr Personen nur ein heizbares Zimmer bot, Verhältnisse, die ein harmonisches Familienleben in Frage stellten.314 Obwohl die Situation in Bremen noch verhältnismäßig gut war, appellierte Vietor an Senat und Steuerdeputation der Stadt, ein weiteres Ansteigen der Mietpreise zu verhindern. Durch den starken Zuzug in die Städte lägen die Mietpreise hier im Vergleich zu vergleichbarem Wohnraum auf dem Land bis um das Vierfache höher. Daraus resultierten unzumutbar enge Wohnverhältnisse und selbst bei guten Löhnen könnte die arbeitende Bevölkerung in keinen angemessenen Verhältnissen leben, da ein Großteil des Einkommens für überteuerte Mieten aufgewendet werden müßte. Körperliche und sittliche Schäden seien daher die Folge. Eine geeignete Maßnahme dagegen erkannte Vietor in einer deutlichen Anhebung des Steuersatzes auf Veräußerungsgeschäfte mit Grundstücken, um dadurch die Stadt Bremen in den Genuß höherer Einnahmen zu bringen und einen größeren Anteil der Spekulationsgewinne bei Grundstücken abzuschöpfen.315 Nach intensiv geführten Verhandlungen in der Bürgerschaft wurde schließlich die Gesetzesnovelle angenommen, die die Erhöhung der „Veräußerungsabgabe“ für bebaute Grundstücke von 1,5 % auf 2 % bestimmte. 312 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1849–1914 (Bd. 3), München2 2006, S. 512f. 313 Wehler, 2006 (wie Anm. 312), S. 512f. Die anhaltend hohe Wohnraumbelegung in Berlin stellt eine singuläre Erscheinung dar. In Hamburg konnte der Wert von 1,4 (1890) auf 1,2 (1910) reduziert werden, in München fiel er leicht von 1,15 (1890) auf 1,12 (1910), ebd. 314 Nach der amtlichen Statistik vom 1.12.1900 war in Berlin in 27.792 Haushalten für sechs und mehr Personen nur ein heizbarer Raum vorhanden. In 485 Haushalten standen für 11 oder mehr Personen zwei heizbare Räume zur Verfügung, Damaschke, 1906 (wie Anm. 311), S. 5f. 315 Vietor, J. K.: „Rede I. K. Vietors über die Bodenreform“ [Rede vor der Bremer Bürgerschaft zur Erhöhung der städtischen Grundrente und zur Wohnungsfrage, 1904], VPAH, Konv. 4. Damaschke führt als Beispiel für die verheerende, sittliche Wirkung beengter Wohnverhältnisse einen Prozeß in Berlin im Jahr 1902 an, bei dem vier Kinder im Alter von 12 bis 14 Jahren wegen wiederholter Sittlichkeitsverbrechen und Blutschande vor Gericht standen und verurteilt wurden. In dem Prozeß traten eine Reihe von Kindern als Zeugen auf, die sich des gleichen Deliktes schuldig gemacht hatten, aber nicht belangt werden konnten, da sie noch keine 12 Jahre alt waren. In der Urteilsbegründung wurde auf die beengten Wohnverhältnisse hingewiesen, in denen die Kinder leben mußten, in der Regel stand für die gesamte Familie nur ein einziger Raum zur Verfügung, vgl. Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 3f. Im Jahr 1895 waren in Berlin und Dresden beinahe 50 % aller heizbaren 1 bis 2 Zimmerwohnungen übervölkert, tausende Wohnungen waren überhaupt nicht beheizbar, ebd., S. 59, 61.

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Unbebaute Grundstücke unter einem Veräußerungswert von 15.000,- Mark wurden nun mit 4 % besteuert.316 In Anbetracht der tatsächlich vorhandenen Wohnungsnot in den Großstädten, gab es für die Bodenreformbewegung kein vergleichbares sozialpolitisches Mittel zur Stärkung von Sitte und Zufriedenheit als die Lösung dieser Frage. „So lange Hunderttausende in einer Stadt nicht die elementarsten Vorbedingungen für all’ das haben können, was zu einem gesunden und sittlichen Familienleben gehört, so lange wird jede Reform auf anderem Gebiete eine Kräftezersplitterung sein.“317

Die Lösungsmöglichkeiten sah Damaschke in einem Bündel steuerlicher und gesetzgeberischer Maßnahmen, bei denen die Einführung der Wertzuwachssteuer eine zentrale Rolle spielte. Darüberhinaus sollte der Verkauf von kommunalen Grundstücken an private Investoren verboten werden. Um den kommunalen Grund- und Bodenbesitz zu vergrößern, dachte Damaschke auch an eine Erweiterung des Enteignungsrechtes. Wohnraum selbst sollte allerdings nicht aus staatlicher, sondern weiterhin aus privater Hand zur Verfügung gestellt werden, nur der Boden müsste wieder der Allgemeinheit, dem Staat, zugeführt werden, der ihn dann in Form von Erbpacht dem Markt zurückzugeben hatte. Wenngleich die Bodenreform mit diesem Programm einen Ansatz zur Begrenzung der Bodenspekulation zur Verfügung stellte, blieb sie damit in gewisser Weise auf halber Strecke stehen, da Mietpreissteigerungen nicht allein Folge zu hoher Grundstückspreise für den Investor sind, sondern daneben durch überdurchschnittlich hohe Nachfrage verursacht werden. Da die Bodenreformbewegung aber weder an Wettbewerbseingriffe etwa in Form staatlicher Mietpreisbegrenzung dachte noch an staatlichen Wohnungsbau, um das Wohnraumangebot zu erhöhen, konnte ihre begrenzte Forderung nach Regulierung des Grund- und Bodenmarktes das Problem der rasanten Urbanisierung kaum wirksam lösen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs griff der Gesetzgeber daher durch Einführung staatlich geregelter Mietpreise auf ein weiteres Instrument zur Behebung der Wohnungsnot zurück.318 Die Forderung nach einem Krieger- und Heimstättenrecht Publizistisch schaltete sich Vietor erst nach Ausbruch des Krieges stärker in die Wohnraumproblematik ein und forderte nun die Sicherung des Baulandes an den 316 Vgl. den Bericht des MdBü Päpke in Päpke: Der Kampf um die Steuer-Reform in Bremen, in: Deutsche Volksstimme 13 (1904), S. 388–390. Päpke erwartete von der entsprechenden Veränderung des am 4.6.1904 angenommenen „Gesetzes, betreffend die Abgabe von Veräußerungen von Grundstücken und von Versteigerungen“ Mehreinnahmen für die Stadt Bremen von 200.000,- Mark p.a. 317 Damaschke, 1907 (wie Anm. 269), S. 61. 318 Nörr, Knut Wolfgang: Zwischen den Mühlsteinen. Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 1), Tübingen 1988, S. 91. Am wichtigsten hierbei waren das Reichsmietengesetz vom 24.3.1922, das den Begriff „gesetzliche Miete“ einführte und das Wohnungsmangelgesetz vom 25.7.1923, das die Wohnraumbewirtschaftung begründete.

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Stadträndern für die Kommunen. Da die Entfernung durch die modernen Verkehrsmittel nicht mehr das größte Problem sei, sah er in einem forcierten Wohnungsneubau an den Stadträndern das geeignete Mittel, die Schwierigkeit überteuerter Mieten in den Städten in absehbarer Zeit zu lösen.319 Im Vordergrund von Vietors Überlegungen stand nach Kriegsausbruch jedoch die Frage der Heimstätten, die Schaffung unverfügbaren Grundbesitzes mit Haus und großem Garten.320 Um den Gedanken voranzutreiben, scheute er sich nicht, auch den Einsatz von Kriegsgefangenen zu fordern, die Ödland kultivieren sollten, das später als Grundlage zur Vergabe von vorbereiteten Heimstätten an zurückkehrende Soldaten zu dienen hatte. Auch ein Teil der Kriegsanleihen sollte dazu verwendet werden, damit Grundstücke in Stadtnähe und einer Größe von ½ oder 1 Morgen Land an Arbeiter vergeben werden könnten. Ebenso müsste der Staat durch Schaffung geeigneter Dienstwohnungen dafür sorgen, daß Eisenbahn- und Postbeamte standesgemäßer wohnen könnten. Die bislang dafür aufgewendeten Mittel seien viel zu gering.321 Mit seinen Forderungen traf Vietor den Nerv der Zeit, insbesondere in Bezug auf seine Überlegungen zu „Kriegerheimstätten“, die in der breiten öffentlichen Diskussion über Heimstätten während des Ersten Weltkrieges als geeigneter Lohn für heimkehrende Soldaten einen besonderen Stellenwert einnahmen.322 Sah man einerseits in 319 Vietor, 1915 (wie Anm. 131) 320 Unter allgemeiner Zustimmung forderte Vietor bereits auf der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der CSP am 25.10.1914 für die Zukunft eine starke Betonung der Heimstättenbewegung. Das Thema sollte daraufhin auf dem nächsten Parteitag behandelt werden, BAB, N 2203/32, Bl. 86. 321 Vietor, J. K.: Friedensarbeit unter dem Schwert, in: Kreuz und Kraft 5 (1915). 322 Auch wenn die Heimstättenbewegung durch den Krieg einen enormen Auftrieb erhielt, war die Diskussion darüber bereits seit den 1890er Jahren in Gange und bildete seither den Gegenstand mehrerer Gesetzgebungsvorschläge, vgl. Nörr, 1988 (wie Anm. 318), S. 86. So hatte der Reichstag auf Antrag der Konservativen und des Zentrums am 25.2.1904 eine Resolution angenommen, mit der die Regierung aufgefordert wurde, einen Heimstättengesetzentwurf vorzulegen. Ein bereits vorliegender Gesetzentwurf wurde im Organ der Bodenreformer abgedruckt und mit einer wesentlichen Änderung zustimmend besprochen, vgl. Pohlmann, Adolph/ Hohenaspe: Ein Heimstätten-Gesetz, in: Deutsche Volksstimme 6 (1904), S. 153–157. 1907 schlug der erste Vorsitzende der Vorgängerorganisation des BDB, Michael Flürscheim, auch ein Heimstättengesetz für die Kolonien vor, vgl. Flürscheim, Michael: Ein Heimstättengesetz für unsere Kolonien!, in: Deutsche Volksstimme 14 (1907), S. 426–428. Der BDB griff das Thema jedoch erst ab 1912 intensiver auf. 1908 gründete Gustav von Bodelschwingh, ältester Sohn des Betheler Anstaltsleiters Friedrich von Bodelschwinghs und Mitglied des BDB, in seinem Pfarrort Dünne im Ravensberger Land den Verein „Heimstätte“, mit dessen Hilfe er von Bodenspekulation bedrohte Grundstücke aufkaufte, um sie dann günstig an Arbeiter der Tabakindustrie abzugeben. Von den sieben Gründungsmitgliedern gehörten zwei der CSP an, aber auch zwei der SPD, vgl. Belitz, Wolfgang: Gustav von Bodelschwingh. Der „Lehmbaupastor“ von Dünne. Eine biographisch-sozialethische Skizze (Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus; 8), Berlin, Münster 2007, S. 47. Bodelschwingh gab die Heimstätten jeweils mit einer Grundstücksgröße von 1.125 qm (1/2 Morgen) an Arbeiterfamilien ab, ebd., S. 48. Bereits sein Vater, Friedrich von Bodelschwingh, hatte 1885 in Bielefeld den „Verein Arbeiterheim zu Bielefeld“ gegründet, um damit einen Beitrag zur Linderung der Wohnungsnot der Arbeiter zu leisten. Bereits für den alten Bodelschwingh ging es dabei darum, das Familienleben der Arbeiter durch „eigenen Herd auf eigener Scholle“ zu festigen und dadurch sozialpolitischen Sprengstoff zu entschärfen, ebd., S. 51. Die eigentliche Blüte des Wirkens

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einer großzügigen Vergabe günstigen Bau- und Gartenlandes eine Möglichkeit, nach dem Krieg zu erwartende Versorgungsengpässe aufzufangen, sollten die Heimstätten andererseits auch endlich die Lage am Wohnungsmarkt entspannen. Auf Initiative des BDBs bildete sich am 20.3.1915 der „Hauptausschuß für Kriegerheimstätten“ mit Sitz in Berlin,323 dem bereits kurz nach Gründung zahlreiche Vereine und Körperschaften mit über einer Million Mitgliedern angehörte.324 Den Vorsitz des Hauptausschusses übernahm Adolf Damaschke. 1916 belief sich die Zahl der Mitglieder bereits auf 2400 Gemeinden, Korporationen und sonstige Organisationen, die drei bis vier Millionen Menschen repräsentierten,325 am 1.9.1918 waren 3648 Verbände aller Richtungen angeschlossen.326 Das Ziel des Hauptausschusses war die Schaffung eines Reichsgesetzes, das den heimkehrenden Soldaten die Möglichkeit eröffnen sollte „[…] mit öffentlicher Hilfe im Reich oder seinen Kolonien eine Heimstätte zu erwerben, sei es zum Zwecke ländlicher oder gärtnerischer Siedlung, sei es zum Erwerb eines Wohnheims. Die Heimstätten sollen billig, unverschuldet und unverlierbar sein. Damit auch Unbemittelten die Möglichkeit der Ansiedlung gegeben wird, soll der Boden nicht gegen Bargeld, sondern gegen eine mäßige, unkündbare Rente abgegeben werden.“327

Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde vom Münsteraner Professor Heinrich Erman erarbeitet und auf der Tagung des Hauptausschusses am 20./21.11.1915 angenommen.328 Die große Popularität der Heimstättenbewegung, die 1916 auch Österreich erreichte und ebenso in England populär war,329 speiste sich freilich nicht

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von Gustav von Bodelschwingh als „Heimstättenpastor“ kam allerdings erst in den 1920er Jahren, als er zwischen 1923 und 1933 als „Lehmbaupastor“ den Bau von ca. 300 Einfamilienhäuser in Lehmbauweise im Minden-Ravensberger Raum initiierte, ebd., S. 36. In den 1930er Jahren waren auf diese Weise im Zollamtsbezirk Bünde etwa die Hälfte der Zigarrenarbeiter im Besitz eines Eigenheimes, ebd., S. 41. Der BDB hatte am 20.2.1915 einen Aufruf zur Schaffung von Kriegerheimstätten veröffentlicht, der am 20.3.1915 zur Konstituierung des Hauptausschusses führte, der von 28 großen Verbänden getragen wurde, vgl. Damaschke, Adolf: Der Entwurf eines Reichsgesetzes über Heimstättenrecht und Kriegerheimstätten nebst Begründung, in: Soziale Streitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart 70 (1918), S. 9; vgl. auch Rauchberg, Heinrich: Kriegerheimstätten, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Gesellschaft österreichischer Volkswirte 25 (1916), S. 23–91, S. 26. Der Artikel bietet einen umfassenden, zeitgenössischen, bibliographischen und institutionellen Überblick zum Heimstättenthema. Heimstätten für unsere Krieger, in: Die Arbeit 27 (1915), S. 4; Der Hauptaussschuß für Kriegerheimstätten, in: Deutsche Volksstimme 7 (1915), S. 199–201, hier ist auch die Satzung abgedruckt. Rauchberg, 1916 (wie Anm. 323), S. 27. Damaschke, 1918 (wie Anm. 323), S. 9. Heimstätten für unsere Krieger, in: Die Arbeit 27 (1915), S. 4. Rauchberg, 1916 (wie Anm. 323), S. 27. Der Hauptausschuß für Kriegerheimstätten veröffentlichte einen am 8./9. Juni 1918 angenommenen überarbeiteten Entwurf als Broschüre der Bodenreformbewegung, vgl. Damaschke, 1918 (wie Anm. 323). Der Gesetzentwurf ist auch abgedruckt in Entwurf eines Reichsgesetzes über Heimstättenrecht und Kriegerheimstätten, in: Deutsche Volksstimme 19 (1918), S. 306–309. Heinrich Erman übernahm 1928 den stellvertretenden Vorsitz im BDB, vgl. Seemann 1968 (wie Anm. 285), S. 150. Damaschke, 1918 (wie Anm. 323), S. 9.

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allein aus der Frage einer angemessenen Belohnung für die kämpfende Truppe oder der Lösung der Wohnungsproblematik, sondern ebenso aus Überlegungen zur Stabilisierung der Wehrkraft der Nation. „Was der Forderung nach Kriegerheimstätten die Schwungkraft verleiht, ist die Erkenntnis, daß es sich dabei nicht um eine Übergangsmaßnahme zwischen Krieg und Frieden handelt, sondern um die dauernde Gesundung und Kräftigung des Volkes, um die Wehrkraft und Zukunft des Vaterlandes.“330

Um die Wehrkraft- und motivation dauerhaft zu festigen, das bewiesen die Massenheere des Krieges, war es unumgänglich, die Bevölkerung mit dem Staat zu versöhnen, alle Schichten zu integrieren und auf diese Weise den patriotischen Unterbau im Volk zu schaffen, der für zukünftige Konflikte unverzichtbar war. Für die CSP ging es daher darum, den zurückkehrenden Soldaten durch Heimstätten einen „Anteil an diesem Vaterland“ zu geben.331 Die Wechselwirkung von eigenem Haus, eigenem Grund und Boden und patriotisch-konservativer, staatstreuer Verbundenheit hatten die Christlich-Sozialen bereits vor dem Krieg betont. Auch Vietors Forderung nach Schaffung eines bäuerlich-selbständigen Standes in den Kolonien, folgte nicht zuletzt dieser Einsicht.332 In dieser konservativ wirkendenden Begleiterscheinung sah man in der CSP einen der Gründe für das zögerliche Engagement der SPD, Wohn- und Grundeigentum in den Arbeiterschichten zu vermehren. Man unterstellte der Sozialdemokratie den strategischden Grundsatz: „Los vom Grund und Boden muß der Arbeiter, bevor er revolutionär denken und handeln kann.“333 Diesem Gedanken folgend sah auch Vietor in der Verbesserung der Wohnraumsituation, insbesondere in der Eigentumsübertragung von Grund und Boden, das geeignete Mittel im Kampf gegen die Sozialdemokratie sowie einer weitergehenden Demokratisierung des politischen Systems. „Wir wissen alle, daß die deutschen Bauern, die auf ihrem eigenen Grund und Boden sitzen, daß unser Mittelstand und unsere Arbeiter, die ihren eigenen kleinen Besitz haben, die konser330 Rauchberg, 1916 (wie Anm. 323), S. 26. So sah es auch der BDB, wenn er auf die Stärkung der sittlichen und gesundheitlichen Situation hinwies, die Wirkung auf den sozialen Frieden und auf „die Erhöhung der Wehrkraft“ durch Kriegerheimstätten, vgl. Der Hauptaussschuß für Kriegerheimstätten, in: Deutsche Volksstimme 7 (1915), S. 200f. Ebenso in den Grundsätzen, die der Hauptausschuß am 12.6.1915 annahm, vgl. Grundsätze für ein Reichsgesetz zur Schaffung von Kriegerheimstätten, in: Deutsche Volksstimme 12 (1915), S. 353–355. 331 „Nur dann, wenn unser Volk wieder bodenständig wird, kann es so gesund bleiben und wachsen, wie es nötig sein wird, um die Früchte des siegreichen Ringens dauernd zu sichern“, Heimstätten für unsere Krieger, in: Die Arbeit 27 (1915), S. 4. Damaschke zitiert hierzu den sinnverwandten Ausspruch Hindenburgs von der Notwendigkeit, daß die heimkehrenden Soldaten „heimfroh und heimfest“ werden müßten, vgl. Damaschke, 1918 (wie Anm. 323), S. 9. 332 Entsprechend formulierte Vietor den Schlußsatz in seinem Buch: „Wir müssen die Länder durch Bahnen erschließen und den Negern Absatzmöglichkeiten verschaffen, sie heben, belehren und bekehren [damit sie] als freie Bauern, die glücklich und zufrieden mit Weib und Kind den eigenen Acker bauen, froh des starken Schutzes des gewaltigen Deutschen Reiches“ leben könnten, Vietor, 1913 (wie Anm. 54), S. 143f. 333 Günter, 1912 (wie Anm. 239). Günter sah von seiner bibelzentrierten Sicht her in Grund- und Bodenbesitz ein Zeichen göttlichen Segens. Somit war für ihn die Schaffung günstigen Wohnraums auch ein biblisch-religiöses Gebot.

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vativsten Männer unseres Volkes und seine größte Kraft sind, die Sitte, Ueberlieferung und ihr Christentum viel fester halten als die Proletarier.“334

Vietor war klar, daß viele der heimkehrenden Soldaten nach dem Krieg größere politische Rechte und bessere Löhne erwarteten, für ihn beides nur schwer lösbare Probleme. Er ging aber davon aus, daß diese Fragen in den Hintergrund treten würden, wenn die Soldaten zu Hause eine Heimstätte erwartete, die „ihnen ein menschenwürdiges, gesichertes Dasein“ garantierte.335 Von einer großangelegten Umsetzung der geforderten Heimstättenverordnung erwartete sich Vietor daher in den ersten Kriegsjahren „1000 mal mehr“ nützliche Wirkung als durch „noch so weit gehende politische Vorrechte“,336 gestand dem Ausbau derselben aufgrund der gewaltigen Kriegsleistungen nach der Osterbotschaft des Kaisers 1917 aber eine größere Berechtigung zu, wenngleich er eine großzügige soziale Reform immer noch für „mindestens ebenso wichtig […] wie eine politische Neuordnung“ hielt. Nach 1917 setzte er darauf, daß ein Volk, das in zufriedenen Verhältnissen lebe, auch mit seiner vermehrten politischen Macht verantwortungsvoll umgehen würde.337 Die positive Wirkung von Heimstätten erschöpfte sich für Vietor jedoch nicht in politischen und religiös-sittlichen Gewinnen. Einen durchgreifenden Effekt versprach er sich auch für die Geburtenraten. Ihr Rückgang lag für ihn zum großen Teil in den beengten städtischen Wohnverhältnissen begründet und damit in der Störung eines gesunden Familienlebens. Das aber hielt er für so wertvoll und unverzichtbar für die gesellschaftliche Entwicklung und die Erfüllung des Deutschland von Gott zu334 Vietor, 1912 (wie Anm. 306), S. 9. 335 Vietor, J. K.: Kriegerheimstätten, in: Kreuz und Kraft 8 (1915). 336 Vietor, J. K.: Ein neues Heimstättenrecht, in: Die Arbeit 29 (1915), S. 3f. Auch ein Jahr später sah er in der Heimstättenverordnung beinahe ein Allheilmittel für die sozialen Probleme der Zeit: „Wenn dieses Gesetz zustande kommt, dann wird mit einem Schlag ein großer Teil der berechtigten Beschwerden unseres Volkes in materieller Beziehung aus dem Wege geschafft. Wir würden in gesunde Verhältnisse versetzt, wie sie vor tausend Jahren ein so ganz besonders leistungsfähiges und tüchtiges Volk erzeugt haben“, Vietor, J. K.: Wie kann es besser werden? (Das neue Zeitalter. Deutsche Evangelische Volkshefte zum Verständnis der Gegenwart; 6), Godesberg 1916, S. 22. 337 Vietor, J. K: Was uns not tut. Gedanken zur Neuorientierung, Teil 1, in: Kreuz und Kraft 5 (1917), S. 36 –37, 37. Vietor begrüßte angesichts der anhaltenden Debatten um das preußische Wahlrecht und die Streikaktionen in Berlin den Zeitpunkt der Osterbotschaft und die darin in Aussicht gestellte „möglichst freiheitliche Verfassung“, gab aber zu bedenken: „Es ist aber zugleich gut, daß die Einführung dieser Verfassung bis zum Frieden verschoben wird, denn die Anschauungen über die Art der Reform sind doch sehr verschieden, und ohne große, innere Kämpfe wird es nicht abgehen, die unter allen Umständen jetzt zu vermeiden sind“, ebd. Die Entschließung der am 15.4.1917 stattgefundenen Parteikonferenz der CSP in Düsseldorf hatte die Osterbotschaft des Kaisers und die darin angekündigten Reformen in ähnlicher Weise begrüßt. Besonders positiv reagierte man auf die Reformabsichten in Bezug auf das preußische Dreiklassenwahlrecht und stimmte dem Ziel, ein allgemeines, unmittelbares und auf geheimen Wahlen beruhendes Wahlrecht zu schaffen, ausdrücklich zu. Wenn auch nicht präzise und eindeutig festgelegt, hatte man im Kern eine Weiterentwicklung des Wahlrechtes in diese Richtung seit Jahren gefordert. Auch der geplante Ausbau des Herrenhauses durch „Zuziehung angesehener Männer aus allen Kreisen und Berufen, insbesondere aus Arbeiter- und ländlichem und städtischem Mittelstand“ wurde dankbar und zustimmend zur Kenntnis genommen, Aus der Partei, in: Die Arbeit 16 (1917), S. 4.

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gewiesenen Berufes in der Welt, daß die Politik, „koste es was es wolle“, Lösungen für das Wohnraumproblem schaffen mußte. Das vielversprechendste Instrument sah er auch in dieser Hinsicht in der umfassenden Umsetzung des Heimstättengedankens.338 Das Zwei-Kind Familienmodell lehnte er kategorisch ab und wurde wütend, wenn er von Schwierigkeiten kinderreicher Familien hörte, eine Wohnung zu bekommen, weil der Vermieter ruhigere Leute bevorzugte.339 In gleicher Weise lehnte er auch die künstliche Geburtenkontrolle ab.340 Stattdessen stellte er öffentlich Überlegungen an, ob ein allgemeines und gleiches Wahlrecht wirklich gerecht sei, angesichts der unterschiedlichen Bereitschaft des einzelnen Bürgers Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. Ein Junggeselle etwa, der bewußt auf Ehe und Familie und die damit einhergehenden Mühen verzichte, sei für die Gesellschaft „doch unendlich viel weniger wert“ als ein Familienvater, „der dem deutschen Reich eine Reihe gesunder, tüchtiger und brauchbarer Kinder erzieht.“341 Trotz der enormen öffentlichen Unterstützung für ein Heimstättengesetz kam es vor Kriegsende zu keiner entsprechenden Verabschiedung im Reich.342 Erst mit Artikel 155 der Weimarer Reichsverfassung legte der neue, nun republikanische Staat ein Bekenntnis zur Schaffung von Heimstätten ab. Damaschke und der BDB waren am Zustandekommen des Artikels maßgeblich beteiligt. Zunächst hatte ein Vorschlag vom Reichsamt des Innern zur Aufnahme einer Heimstättenregelung kei338 Vietor, 1915 (wie Anm. 336); vgl. auch Vietor, J. K.: Soziale Kriegsfragen, in: Reichsbote vom 8.8.1915. Die Geburtenrate in Deutschland war zwischen 1871 und 1912 von 4,4 ehelichen Kindern auf 3,8 gefallen, vgl. Wehler, 2006 (wie Anm. 312), S. 498. Besonders signifikant hatte sich die abnehmende Fertilität nach der Jahrhundertwende entwickelt, ebd., S. 8. Den kausalen Zusammenhang zwischen beengter Wohnungslage und Rückgang der Geburtenrate einerseits sowie Lösung derselben Problematik durch Heimstätten andererseits vertrat auch der in Prag lehrende Statistiker Prof. Rauchberg für den Kontext der Habsburger Monarchie: „Es gibt kein besseres Mittel, um der Beschränkung der Kinderzahl entgegen zu wirken, als daß wir möglichst vielen Menschen ein Heim bieten, in dem sie ihre Kinder zu gesunden und tüchtigen Menschen aufziehen können“, Rauchberg, 1916 (wie Anm. 323), S. 38. 339 Als ein Vermieter sich weigerte, einer Frau mit 5 Kindern, deren Mann im Feld stand, einen Mietnachlass zu gewähren und die Meinung vertrat, sie könne froh genug sein, daß er sie überhaupt genommen habe, zeigte er sich empört. „Müssen solche Vorkommnisse uns nicht die Schamröte ins Gesicht treiben?“ Die Vermieter sollten froh sein, dass die Soldaten, deren Kinder sie nicht haben wollten in ihrem Haus, die Feinde fern hielten von ihren Häusern und dass es in Deutschland nicht so aussähe wie in Nordfrankreich, vgl. Vietor, 1915 (wie Anm. 335); vgl. auch Vietor, 1916 (wie Anm. 336), S. 18; Vietor, 1915 (wie Anm. 321). 340 Vietor, J. K.: Zwei Vorträge, Teil 2, in: Kreuz und Kraft 4 (1917), S. 29–30, 29. 341 Vietor, J. K.: Zwei Vorträge, Teil 1, in: Kreuz und Kraft 3 (1917), S. 22–24, 37. 342 In einigen Reichsländern kam es jedoch noch vor Kriegsende zur Verabschiedung entsprechender Gesetze, das erste Land war dabei 1918 Braunschweig, vgl. Nörr, 1988 (wie Anm. 318), S. 86. Da Vietor kriegsbedingt zunehmend eine weltweite Lebensmittelverknappung erwartete, zeigte er sich bereits 1917 enttäuscht, „daß die Frage der Kriegerheimstätten bis jetzt immer noch nicht von Seiten der Regierung eine grosszügige Erledigung gefunden hat.“ Um eine Versorgungskatastrophe abwenden zu können, müsse schleunigst daran gegangen werden, die Voraussetzungen für einige Millionen Kleinwirtschaften zu schaffen, die eine weitgehende Selbstversorgung der Bevölkerung sicherstellen könnten. Bereits jetzt litten breite Schichten in Deutschland an Hunger, dicke Menschen seien eine Seltenheit geworden, vgl. Vietor, 1917 (wie Anm. 337), S. 37.

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nen Eingang in den Verfassungsentwurf gefunden, woraufhin der BDB am 27.2.1919 eine Eingabe an „den Präsidenten des Deutschen Reiches“ richtete und folgenden Passus für die neue Verfassung vorschlug: „Der Boden samt seinen Kräften und Schätzen ist unter einer Recht zu stellen, das jeden Mißbrauch verhütet und jeder deutschen Familie die Möglichkeit erschließt, eine Wohnheimstätte (Eigenheim mit Nutzgarten) oder – bei beruflicher Vorbildung – eine Wirtschaftsheimstätte (gärtnerisches oder kleinbäuerliches Anwesen) zu gewinnen, die ihrem Zweck dauernd gesichert ist. Die Grundrente, d.h. der Ertrag des Bodens, der ohne jede Arbeits- und Kapitalsaufwendung des Besitzers entsteht, ist für die Kulturaufgaben der Gesamtheit nutzbar zu machen.“343

Zusätzlich zur Eingabe setzte der BDB eine Unterschriftenaktion in Gang, durch die hunderttausende von Unterschriften an die Wahlkreisabgeordneten geschickt wurden. Friedrich Naumann, der nach wie vor zur Bodenreformbewegung gehörte, konnte daraufhin als Referent der Verfassungskommission und als Vorsitzender einer Unterkommission wesentlichen Einfluß auf die Formulierung des entsprechenden Artikels 155 nehmen.344 Mit Verabschiedung des Reichsheimstättengesetzes vom 10.5.1920 erhielt Artikel 155 eine gesetzliche Grundlage.345 Nach § 2 wurden dabei Kriegsheimkehrer, Invalide, Kriegerwitwen und kinderreiche Familien bei der Ausgabe von Heimstätten bevorzugt behandelt. Vorschriften über die minimale und maximal zulässige Größe von Heimstätten wurden nachfolgenden Ländergesetzen überlassen (§ 3). Die Ländergesetze ließen allerdings auf sich warten, in Preußen bis zum Ausführungsgesetz vom 18.1.1924. Die Erfolge blieben entsprechend bescheiden.346 Im bürgerlichen Lager erlosch der Eifer für gesetzliche Rege343 Eingabe zur deutschen Reichsverfassung, in: Deutsche Volksstimme 5 (1919), S. 71f. Die Eingabe ging auch an den Ministerpräsidenten (Kanzler) und die Mitglieder der Nationalversammlung. Damaschke wies in der Begründung darauf hin, daß bereits der alte Reichstag am 24.5.1916 die Regierung aufgefordert hatte Kriegerheimstätten zu schaffen und auch der erste Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte, der vom 16.–20.12.1918 in Berlin getagt hatte, einstimmig eine entsprechende Entschließung getroffen hatte. 344 Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 468f. Damaschke, für den die Aufnahme des Artikels „Erfüllung und Verheißung unserer höchsten nationalsozialen Ideale“ war, berichtet von einem Anruf Naumanns im Vorfeld der Verabschiedung: „Jetzt sind wir soweit; diktieren sie ihre Bodenreformgedanken in einer Form, wie sie in der Verfassungssprache möglich ist!“, ebd. Absatz 1 des Art.155 erhielt schließlich folgende Fassung: „Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Missbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern. Kriegsteilnehmer sind bei dem zu schaffenden Heimstättenrecht besonders zu berücksichtigen“, WRV, Art. 155, Abs. 1, zit. nach Nörr, 1988 (wie Anm. 318), S. 83. 345 RGBl. 1920, S. 962–970. Das Gesetz war nicht zuletzt von den Gewerkschaften gefordert worden. In einem öffentlichen Aufruf vom 7.4.1920 verlangten sie nicht nur schleunigst die Verabschiedung eines Heimstättengesetzes, sondern auch die Einrichtung eines Heimstättenamtes, das für die Durchführung eines solchen Gesetzes verantwortlich sein sollte. Der Aufruf war unterzeichnet vom ADGB, DGB, Verband der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Dunkersche Gewerkschaften), Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände, Gewerkschaftsbund der Angestelllten, Deutscher Beamtenbund, vgl. Die deutschen Gewerkschaften und die Bodenfrage, in: Deutsche Volksstimme 9 (1920), S. 117–119. 346 Kellenbenz, Hermann: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis

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lungen zur Heimstättenfrage ohnehin sehr schnell, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die Initiative dazu inzwischen zu den eher linksstehenden Parteien übergegangen war, besonders die SPD.347 Diese Zurückhaltung der rechtsstehenden Kräfte wollte Vietor nicht wahrhaben und kritisierte daher Damschkes Nähe zum linken zum Ende des Zweiten Weltkriegs (Beck’sche Sonderausgaben, Bd. 2), München 1981, S. 355. Nach dem Erfolg bei der Durchsetzung des Art. 155 in der WRV scheint der Scheitelpunkt der Bodenreformbewegung überschritten worden zu sein. Gehörten 1898 bei der Gründung des Bundes deutscher Bodenreformer 140 Mitglieder zum Verein, zählten bereits 1904, nach eigenen Angaben, 194.000 „organisierte Anhänger“ zum Bund, wobei neben Einzelmitgliedern vor allem korporative Mitglieder ins Gewicht fielen. 1934 zählten nur noch 7.600 persönliche Mitglieder zum BDB, zu denen allerdings noch korporative Mitglieder in nicht genannter Größenordnung hinzu kamen, vgl. Schmierer, Wolfgang: Bund deutscher Bodenreformer, in: Taddey, Gerhard (Hrsg.): Lexikon der deutschen Geschichte. Personen, Ereignisse, Institutionen. Von der Zeitwende bis zum Ausgang des 2. Weltkrieges, Stuttgart 1983, S. 178; Adolph Wagner. Eine Festrede, in: Soziale Zeitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart 23 (1905), S. 3; 1908 gehörten als körperschaftliche oder korporative Mitglieder 39 Gemeinden, 53 Beamtenvereine, 23 Gewerbe-, Bildungs- und Bürgervereine, 17 Gesundheits- und Mäßigungsvereine, 29 politische Vereine verschiedener Couleur, 106 Berufs- und Gewerkschaftsorganisationen, 60 evangelische und katholische Arbeitervereine, 24 Bau- und Siedlungsgenossenschaften, 27 Mietervereine und 3 Hausbesitzervereine zum BDB, vgl. Seemann, 1968 (wie Anm. 285), S. 155. Zwischen 1906 und 1913 erhöhte sich die Gesamtzahl der körperschaftlichen Mitglieder von 256 auf 851, zwischen 1912 und 1913 waren allein 103 hinzugekommen, außerdem kamen 2.400 persönliche Mitglieder hinzu, vgl. Der 23. deutsche Bodenreformtag in Straßburg vom 26. bis 30. September 1913. Teil 1, in: Deutsche Volksstimme 20 (1913), S. 640f. Im Oktober 1918 hatte der BDB 1891 „lebenslängliche Mitglieder“, eine Mitgliedsform, die alle die bekamen, die einmalig 100,- Mark spendeten, vgl. in: Deutsche Volksstimme 19 (1918), S. 310; Seemann 1968 (wie Anm. 285), S. 155. Diese Form der Mitgliedschaft war besonders bei Kommunen beliebt. Mit einer Einmalzahlung von 150,- Mark blieben sie von weiteren Mitgliedsbeiträgen verschont, vgl. in: Die Arbeit 25 (1908), S. 10. Die Bedeutung des BDB zeigte sich auch kurz nach dem Krieg noch einmal, als 1919 innerhalb kurzer Zeit 80.000 Unterstützungsunterschriften für eine Reichspräsidentenkandidatur Damaschkes zusammenkamen, vgl. Damaschke, 1925 (wie Anm. 156), S. 371. 347 Als der preußische Landtag am 1.10.1925 über einen Antrag der SPD abstimmte, der die preußische Staatsregierung aufforderte, auf die Reichsregierung einzuwirken, damit dem Reichstag der bereits 1920 vom Ständigen Beirat für das Heimstättenwesen beim Reichsarbeitsministerium ausgearbeitete Gesetzentwurf über die kommunale Pflicht zur Bodenvorratswirtschaft vorgelegt würde, blieben auffällig viele Parlamentarier der bürgerlichen Parteien der Abstimmung fern. Während SPD, DDP und Kommunisten geschlossen dafür stimmten, stimmten die Deutsch-Völkischen, DNVP und Wirtschaftliche Vereinigung geschlossen dagegen. Der Antrag wurde zwar mit 187 zu 149 Stimmen angenommen, 114 Parlamentarier blieben der Abstimmung jedoch fern, was vermuten läßt, daß sie sich in dieser Frage nicht positionieren wollten. Für diese These spricht immerhin das gespaltene Bild, das Zentrum und DVP abgaben. Vom Zentrum stimmten 24 dafür, 41 dagegen, 16 nahmen nicht teil, von der DVP stimmten 6 dafür, 16 dagegen, 23 fehlten. Dabei handelte es sich um einen Gesetzentwurf, der auf Adolf Damaschke und Prof. Erman zurückging, die während des Krieges noch große Teile des bürgerlich-konservativen Lagers hinter sich gewußt hatten, vgl. Albrecht, Otto: Bodenpolitik und Bodenwirtschaft. Ein Gesetz für Bodenvorratswirtschaft?, in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde 1 (1926), S. 58–61, 58. Damaschke war am 26.5.1920 vom Reichsarbeitsministerium zum Vorsitzenden des ständigen Beirats für das Reichsheimstättenwesen berufen worden, vgl. Diefenbacher, Hans: Adolf Damaschkes „Geschichte der Nationalökonomie“, in: Hugler, 2005 (wie Anm. 263), S. 45–79, 78.

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Parteienspektrum. Wiederholt, aber erfolglos, hatte er ihn davon überzeugen wollen, daß er nur im Verein mit nationalen Kreisen sein Programm erfolgreich verwirklichen könne.348 „Ich sehe die betrübenden kleinen Erfolge bisher darin, dass Herr Damaschke, um nach seiner Meinung grösseren Einfluss zu gewinnen mit den Demokraten und anderen Leuten immer in Verbindung geblieben ist, die ausser schönen Redensarten gar nicht daran dachten seine Idee mit Energie in die Praxis umzusetzen.“349

Eine eigene Reichstagskandidatur für die Bodenreformer lehnte Vietor wegen zu geringer Wahlchancen und im Hinblick auf sein Alter ab. Er empfahl dagegen ein Abkommen der Bodenreformer mit einer Partei, am besten der DNVP, aufgrund dem bodenreformerische Kandidaten aufgestellt werden sollten.350 Damaschkes Annäherungsversuchen an das linke Parteienspektrum setzte Vietor 1923 die Gründung der „Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Urbarmachung und Siedlung“ (GAG) entgegen, die er im Verein mit national gesinnten Männern auf den Weg brachte und dessen Aufsichtsratsvorsitz er übernahm.351 Die Gesell348 Auf der 30. Jahrestagung der Bodenreformer vom 21. –24.11.1925 vertrat Dr. Heinz Potthoff in seinem Vortrag „Bodenreform und Gewerkschaften“ die genau umgekehrte These. Es sei zu bedauern, daß die vielen Millionen Gewerkschafter bislang kaum Notiz genommen hätten von den Fragen des Bodenrechts, wenn sie sich dafür einsetzen würden, wäre ein großer Erfolg zu erwarten, vgl. Albrecht, 1926 (wie Anm. 347), S. 60. 349 J. K. Vietor an Albert Snoek vom 1.3.1924, StAB, 7,73-12. Tatsächlich hatte Damaschke sowohl 1918 als auch 1920 auf Anfrage der DDP seine Bereitschaft erklärt, für sie im Wahlkreis Frankfurt/Oder zu kandidieren. 1920 kam er hier, mit seinem Einverständnis, auf den 2. Listenplatz hinter Max Bahr, bat sich aber für den Fall seiner Wahl ausdrücklich eine brückenbauende Funktion aus sowie die Freiheit, „mammonistischer“ Erwartung zu widerstehen, vgl. Meine Kandidatur, in: Deutsche Volksstimme 10 (1920), S. 151–154. Wegen des starken Mandatsverlustes der DDP in den Wahlen von 1920 reichte der vorher für sicher gehaltene 2. Listenplatz jedoch nicht aus. Während Bahr ein Mandat erhielt, ging Damaschke leer aus. Wie sehr Damaschke Mitte der 1920er Jahre das Vertrauen und die Anerkennung weitester Kreise gewonnen hatte, bewies die Gästeliste anläßlich seines 60. Geburtstages. Dazu erschienen 1925 die Spitzen der Reichsregierung, der preußischen Landesregierung, anderer Landesregierungen, Vertreter aller parteipolitischen Couleur, „von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken“ sowie beider großen Kirchen, vgl. Albrecht, 1926 (wie Anm. 347), S. 61. Seine persönliche Popularität konnte aber nicht verhindern, daß die Verabschiedung seines über Jahre geforderten Wohnheimstättengesetzes immer wieder hinausgezögert wurde und schließlich im Sand verlief, vgl. Seemann, 1968 (wie Anm. 285), S. 152f. 350 J. K. Vietor an Albert Snoek vom 1.3.1924, StAB, 7,73-12. Bei der Reichstagswahl 1907 konnten rund 30 Bodenreformer als Kandidaten verschiedener Parteien aufgestellt werden, vgl. Damaschke, 1907 (wie Anm. 290), S. 4. 351 Kurz nach Gründung der am 6.1.1923 zunächst als „Siedlungsgesellschaft Neuland“ e.V. firfirmierenden Gesellschaft versandte der Vorstand am 22.3.1923 ein Rundschreiben an die Vereinsmitglieder, das die Abschlußformel „Mit deutschem Gruß“ wählte, vgl. Rundschreiben vom 22.3.1923, StAB, 7,2018. Der Gruß war zu dieser Zeit jedoch noch nicht bei der NSDAP eingeführt.Hitler hatte den „deutschen Gruß“ nach eigener Aussage erstmals 1921 im „Ratskeller“ in Bremen kennengelernt, führte ihn aber erst auf dem Weimarer Parteitag 1926 in die Partei ein, er ist hier also nicht als Zeichen der Zugehörigkeit zur NSDAP zu werten, sehr wohl aber als Zeichen der Zugehörigkeit zum deutsch-völkischen und deutsch-nationalen Spektrum, vgl. Hitler, Adolf/Bormann, Martin: Hitler’s Table Talk. 1941–1944. His Private Conversations, New York 2000, S. 173. Rudolf Heß betonte 1928, das Ausstrecken des Armes sei in der Partei

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schaft verfolgte das Ziel, Ödland urbar zu machen, um es dann Siedlern und Minderbemittelten zur Verfügung zu stellen. In einem Zeichnungsaufruf wurde deutlich, daß es der Gesellschaft in Anlehnung an den Heimstättengedanken darum ging, möglichst viele Menschen in den Besitz eines eigenen Stück Landes zu bringen, was nach § 1 des Reichsheimstättengesetzes nicht nur dem Reich, den Ländern und den Kommunen oblag, sondern auch von gemeinnützigen Gesellschaften vorgenommen werden konnte. „Ist es nicht eine Torheit, daß Tausende und Abertausende entmutigt ins Ausland wandern, um sich in der Fremde unter schwierigsten Verhältnissen ein neues Leben zu schmieden, während sie mit viel geringerer Mühe sich ein Stück Heimatboden gewinnen könnten, nachdem Wissenschaft und Technik es dahin gebracht haben, Moor und Heide in kürzester Zeit in blühendes Land zu verwandeln?“352

Das Ziel der Gesellschaft war es, selbst und im Verbund mit anderen, ähnlich ausgerichteten Partnern, die etwa 3 Millionen ha Ödland in Deutschland zu kultivieren, was immerhin rund 10% der landwirtschaftlich genutzten Fläche entsprach.353 Mit der Kultivierung großer Flächen sollte auch der Landflucht gewehrt werden, wovon man sich neben der Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem Land und der Steigerung der Binnenachfrage eine sittliche Gesundung des Volkes versprach.354 Für Vietor drängte die Zeit, weil infolge der Inflation der Hunger in Deutschland zugenommen hatte und ihm eine möglichst rasche und weitgehende Versorgungsunabhängigkeit vom Ausland vorschwebte.355 Das erste Projekt, die Kultivierung des rund 350 bis 400 ha großen „Weißen Moors“, konnte 1923 durch einen Vertrag mit dem Landkreis Isenhagen angepackt werden. Das Projekt wurde dadurch erleichtert, daß der Moorvogt des Landkreises ein Christlich-Sozialer war356 und sich die Bremer Sparkasse an der Finanzierung beteiligte. Bis 1924 konnten aber erst 100 ha des Moores urbar gemacht werden, die vorläufig an Bauern verpachtet wurden.357 Auch danach kam das Projekt infolge fehlender Finanzen nicht von der Stelle. Weitere in Frage kommende Moorgebiete konnten daher nicht erworben werden. Konnte man sich eine Zeitlang noch mit dem Verkauf von Dünger über die Runden retten, mußte

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bereits 1921 gegenüber Führern üblich gewesen, vgl. Allert, Tilman: Der deutsche Gruss. Geschichte einer unheilvollen Geste, Frankfurt 2005, S. 83. Vietor selbst unterschrieb ein Einladungsschreiben an den DEVB Vorstand 1922 „Mit deutschem evangelischen Gruss“, Einladung zur Bundesausschuss-Sitzung des DEVB vom 14.5.22, StAB, 7,73-8. Auch der Direktor des DEVB, Stuhrmann, verwendete diese Formulierung, Rundschreiben Stuhrmanns an DEVB Mitglieder vom 16.7.1926, StAB, 7,73-41. Zeichnungsaufruf 1923, StAB, 7,2018. Zeichnungsaufruf 1923, StAB, 7,2018. Tätigkeitsbericht für 1923, StAB, 7,2018. Vietor befürchtete wegen der Inflation und der damit verbundenen Unmöglichkeit, ausreichend Lebensmittel im Ausland zu kaufen, 1923 eine Hungersnot. Abgesehen davon mußte sich für Vietor Deutschland aber auch prinzipiell so schnell wie möglich von der Versorgungsabhängigkeit von den „Feinden“ im Ausland befreien, Vietor, J. K.: Volk in Not, in: Das Vaterland vom 17.7.1923; vgl. auch J. K. Vietor an Otto Hueck vom 26.5.1923, StAB, 7,73-10. J. K. Vietor an Otto Hueck vom 26.5.1923, StAB, 7,73-10. Tätigkeitsbericht für 1923, StAB, 7,2018.

Der Deutsche Evangelische Volksbund und die öffentliche Mission der Kirche

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die Gesellschaft 1927 Konkurs anmelden.358 Für Vietor war der Mißerfolg eine herbe Enttäuschung, sah er in dieser an bodenreformische Gedanken anknüpfenden Tätigkeit doch eine seiner drei verbliebenen Hauptaufgaben im Leben. Die Unterstützung der Mission, die Arbeit dieser gemeinnützigen Gesellschaft zur Urbarmachung von Ödland und die Unterstützung des Deutsch-Evangelischen Volksbundes.359 DER DEUTSCHE EVANGELISCHE VOLKSBUND UND DIE ÖFFENTLICHE MISSION DER KIRCHE Gründung und Ziele des DEVB Schon mit der Entscheidung zum parteipolitischen Engagement bei der CSP hatte sich Vietor im Vergleich zu seinem konservativ-pietistischen Umfeld über das übliche Maß an Beteiligung am öffentlich politischen Diskurs hinausgewagt. Das Feld der Politik mußte für ihn jedoch energisch genutzt werden, um die öffentliche Meinung im Sinne christlicher Überzeugungen zu prägen. Fromme Zurückhaltung an dieser Stelle war für ihn deplaziert und ensprang einem falschen Verständnis des Bibelwortes „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36). Wesentlicher für das Verhalten eines Christen in dieser Welt war für ihn dagegen das Wort aus der Bergpredigt „Ihr seid das Salz der Erde“ und „Ihr seid das Licht der Welt“ (Matthäus 5,13–16). Das Licht durfte für ihn nicht un ter den Scheffel gestellt werden.360 Als ihm 1911 der Vorsitz eines geplanten Dachverbandes zur Bündelung orthodoxpietistischer Bestrebungen im öffentlichen Leben angetragen wurde, entsprach das durchaus seinen eigenen Überzeugungen, wenngleich er aus Zeitmangel den Vorsitz zunächst ablehnte.361 Da der Anstoß zur Gründung des Bundes nicht zuletzt aus dem Parteiumfeld der CSP kam, sah er seinen Zweck anfänglich vor allem in 358 Der Jahresabschluß der Gesellschaft wies bei einem Ausgabenvolumen von 13.738,64 Mark und Einnahmen von lediglich 5.247,05 Mark einen Verlust von 9.005,59 Mark aus (Rechnerisch betrug er nur 8.491,59, Anm. B.O.). Zu den fünf privaten Kreditoren gehörten J. K. Vietor, seine Frau Hedwig Vietor und die Vietorsche Familienstiftung mit zusammen 2.649,91 Mark. Die beiden anderen Kreditoren hatten 8.793,93 Mark (G. Hermann) und 500,- Mark (F. Stammler) zur Verfügung gestellt. Entscheidend für den Konkurs waren die nicht ausreichend bedienbaren Darlehen der Bremer Sparkasse (6.000,-), der Kupsch-Stiftung (3.450,-) und der von unterstützenden Kaufleuten gegründeten Festmark-Bank (5.000,-). Die Summe des Pfeiffer Nachlasses (350,-) spielte keine Rolle, vgl. Gewinn- und Verlustrechnung zum 31.12.1926, Anlage zum Schreiben von J. K.Vietor an Hauptmann [Hermann] vom 11.3.1927, StAB, 7,73-1. 359 „Es ist mir doch eigentlich eine sehr grosse Freude, dass ich trotz meines hohen Alters an den 3 wichtigsten Unternehmungen in Deutschland an massgebender Stelle stehe.“ Gemeint waren die drei genannten Aufgabenfelder, vgl. J. K. Vietor an Stuhrmann vom 9.5.1923, StAB, 7,7310. 360 Vietor, J. K.: Immer mehr Organisation, in: Kreuz und Kraft 1 (1916) S. 3–4, 4. 361 Die Anfrage zur Übernahme des Vorsitzes war ihm am 15.6.1911 von Carl Neuhaus, dem Geschäftsführer der Hauptgeschäftsstelle der CSP angetragen worden, J. K. Vietor an Neuhaus vom 16.6.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 54f. Aus Zeitgründen und wegen seiner Absicht, sich mit

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wahlkampftaktischen Überlegungen.362 Er forderte daher zunächst die Erweiterung des Vereinszweckes um die Bestimmung, daß es der neuen Organisation in erster Linie um die Unterstützung von „positiv christliche[n] Leute[n]“ bei Wahlen ginge, in erster Linie natürlich CSP Kandidaten.363 Diese Aufgabe nahm der nach Vorbild des „Volksverein für das katholische Deutschland“ schließlich am 13.7.1911 gegründete „Deutsche Evangelische Volksbund für öffentliche Mission des Christentums“ (DEVB) auch teilweise in den 1920er Jahren wahr.364 Die latent weiter wirkRücksicht auf sein Geschäft nicht zu sehr politisch zu positionieren, war er zunächst nur bereit in den Vorstand einzutreten, nicht aber den Vorsitz zu übernehmen, J. K. Vietor an Neuhaus vom 11.7.1911, ebd., Bl. 58–60. 362 Stuhrmann weist kurz nach Gründung des DEVB daraufhin, daß der Gründungsaufruf von Politikern der CSP, der Reichspartei und der Konservativen unterschrieben worden war, von einer direkten parteipolitischen Zuordnung daher nicht gesprochen werden könne, vgl. Siekmann, Birgit: Der Deutsche Evangelische Volksbund für öffentliche Mission des Christentums, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 2007, S. 171–192, 180. Die starke personelle Verflechtung zwischen DEVB und CSP deutet aber überwiegend auf das Umfeld der CSP. 363 J. K. Vietor an Neuhaus vom 11.7.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 58–60. Den Satzungsentwurf hatte Vietor von Neuhaus erhalten. Den zunächst vorgeschlagenen Namen der neuen Organisation, „Deutscher evangelischer Volksbund für öffentliche Mission des Christentums“, fand er „scheusslich“. Er plädierte daher dafür, daß er unbedingt geändert werden müsse. Es blieb aber bei dem Namen. 364 Vgl. Hauptarbeitsamt des DEVB: Öffentliche Mission. Geschichte und Grundsätze, Entwicklung und Arbeit des Deutschen Evangelischen Volksbundes für öffentliche Mission des Christentums e.V. (Flugschrift Nr. 5), Godesberg [1922], S. 8f.; [Stuhrmann, Heinrich]: Zwölf Jahre öffentliche Mission, in: [Hauptarbeitsamt des DEVB] (Hrsg.): Illustrierte Rundschau. Bilder aus der Arbeit des Deutschen Evangelischen Volksbundes. Festschrift zum 2. Deutschen Evangel. Volkstag 1923, Barmen [1923], S. 6–18, 6. Daß man sich ein katholisches Verbandsvorbild nahm, hatte zum einen sicher mit dessen außerordentlichem Erfolg zu tun, zum anderen aber auch mit dessen christlich-sozialem Ansatz, seiner Arbeitsweise, Effektivität und seiner Frontstellung gegen die Sozialdemokratie. Der 1890 gegründete „Volksverein für das katholische Deutschland“ hatte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs über 800.000 Mitglieder, vgl. Müller-Dreier, Armin: Konfession in Politik, Gesellschaft und Kultur des Kaiserreichs. Der Evangelische Bund 1886–1914 (Religiöse Kulturen der Moderne; 7), Gütersloh 1998, S. 84. Er galt auch als Basis für die in der Vorkriegszeit nur wenige entwickelte Parteistruktur des Zentrums und zog insbesondere die organisierte katholische Arbeiterschaft im rheinisch-westfälischen Raum an, vgl. Klein, Gotthard: Der Volksverein für das Katholische Deutschland, 1890– 1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B; 75), Paderborn 1996, S. 49f., 65. Zum DEVB vgl. Priebe, Hermann: Kirchliches Handbuch für die evangelische Gemeinde unter besonderer Berücksichtigung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, zugleich ein Beitrag zur Kirchenkunde der Gegenwart, Berlin 1929, S. 347; Siekmann, 2007 (wie Anm. 362). Die Publikation Siekmanns stellt die einzige aktuelle Darstellung zum heute fast vergessenen DEVB dar. Im Nachlaß von J. K. Vietor findet sich ein Ordner, der sich mit der DEVB Situation 1925/26 beschäftigt, vgl. StAB, 7,73-41. Ein umfangreicher Briefwechsel des DEVB’s mit Protokollen, Statistiken und Berichten findet sich ebenfalls hier für die Zeit zwischen 1911–1926 verstreut über den restlichen privaten Briefverkehr Vietors in diesem Zeitraum. Der Direktor des DEVB, Heinrich Stuhrmann, erinnerte auf der Führertagung des DEVB am 7.10.1929 in Elberfeld daran, daß der Bund eine „politische Mission“ zu erfüllen hätte, aber keine „parteipolitische“. Es ginge ihm vielmehr um die Unterstützung von evangelischen Führungspersönlichkeiten in der Politik, die

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same parteipolitische Funktion trat nach Gründung des DEVB jedoch eher in den Hintergrund. Die Zielsetzung der neuen Organisation ging über die parteipolitische Dimension hinaus und erstrebte die öffentlichkeitswirksame Zusammenfassung positiv-bekenntnistreuer Einzelpersonen und Körperschaften des Protestantismus, um „die Lebenskräfte des positiven Christentums für das Einzelleben, für das Familienleben, für das Gemeindeleben, vor allem aber für das öffentliche Volksleben zur Durchsetzung und Auswirkung“ zu bringen.365 Das wollte man erreichen:366 1. „durch eine allgemeine und zusammenfassende Mobilmachung aller in dem deutschen Volk noch vorhandenen biblisch sittlichen Lebenskräfte zu positiver Arbeit an einer inneren Wiedergeburt des Volkslebens 2. durch eine planmässig ausgedehnte und tatkräftig schaffende Aufklärungsarbeit in Wort und Schrift über die allgemeinen christlichen und speziell nationalen und sozialen Pflichten der gläubigen evangelischen Christenheit Deutschlands gegenüber dem Volksganzen 3. durch zielbewusste Bekämpfung einer widerchristlichen Weltanschauung und Lebensauffassung und Lebensbetätigung durch Versammlungen, Vorträge, Flugblätter usw. 4. durch planvolle Förderung und Unterstützung der bereits vorhandenen auf dem Boden positiv christlicher Lebensanschauung stehenden Tagespresse und 5. durch Gründung und Verbreitung einer auf christlich-nationaler Grundlage ruhenden allgemeinen deutschen evangelischen Volkspresse.“

In der Umsetzung dieser Aufgaben sah der DEVB die Fortführung und Weiterentwicklung des auf Wichern zurückgehenden volksmissionarischen Ansatzes. Von der Erreichung dessen Zieles, der „Wiedergeburt“ des deutschen Volkes, sah der DEVB die Innere Mission weit entfernt. Vielmehr sei sie in einer „Anstaltsmission“, einer „Vereinsmission“ und letztlich einer „Einzelmission“ steckengeblieben. Da die öffentliche Meinung, auf die ein volksmissionarisches Engagement einwirken müsse, im neuen Massenzeitalter in erster Linie von Massenmedien und Volksvertretungen geprägt würde, käme die Kirche nicht länger ohne eine öffentliche Mission aus. Adolf Stoecker hätte das erkannt, wäre aber nicht verstanden worden und daher ein Prophet in der Wüste geblieben. Auf evangelischer Seite fehlte es den DEVB Gründern daher nach wie vor an einer wirkungsvollen Organisation und Bündelung der Kräfte wie sie der materialistische Sozialismus, aber auch der „Volksverein für das katholische Deutschland“ auf den Weg gebracht hätte.367 Von einem gänzlichen Fehlen der Bündelung protestantischer Kräfte konnte allerdings man Parteien vorgeschlagen wolle, um auf deren Wahllisten zu kommen. Religion gehörte für Stuhrmann in kein anderes Gebiet so dringend hinein wie in die Politik, Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 181. 365 Hauptarbeitsamt des DEVB, [1922] (wie Anm. 364), S. 10. 366 Vgl. Anzeige der Gründung des DEVB mit Abdruck der Vereinsziele, in: Die Arbeit 29 (1911), S. 1. Um diese Ziele zu erreichen, wollte der DEVB „die bibelgläubigen evangelischen Glieder des deutschen Volkes zu einer persönlichen Mitarbeit an der öffentlichen Mission des Christentums heranziehen und organisch zusammenschließen“, ebd., vgl. auch Hauptarbeitsamt des DEVB, [1922] (wie Anm. 364), S. 11. Die Jahresversammlung des DEVB am 2.und 3.12.1917 in Düsseldorf faßte den Volksbundgedanken in der Kurzaussage zusammen: „Zusammenschluß aller bibelgläubigen evangelischen Christen Deutschlands zu Kampf und Arbeit für Christus und das Evangelium, für Volk und Kirche“, Eine bedeutsame Tagung, in: Kreuz und Kraft 12 (1917), S. 96f. 367 Hauptarbeitsamt des DEVB, [1922] (wie Anm. 364), S. 5–8.

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nicht die Rede sein. Neben dem bereits 1832 gegründeten Gustav Adolph Werk, das sich besonders der Unterstützung von Diasporagemeinden verschrieben hatte, konnte vor allem der 1886 gegründete „Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen“, kurz Evangelischer Bund (EB) genannt, großen Einfluß als protestantische Sammlungsbewegung gewinnen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wuchs er auf über eine halbe Million Mitglieder an.368 Neben der Wahrung evangelischer Interessen gegenüber dem politischen Katholizismus, der mit dem Abklingen des Kulturkampfes als immer ernster zu nehmende Gefahr wahrgenommen wurde, bestimmte die Satzung des EB als zweites Ziel den Kampf gegen den „Indifferentismus und Materialismus der Zeit“.369 Verfolgte der EB das Ziel des Kampfes gegen „die wachsende Macht Roms“ mit „Wort und Schrift“ durchaus energisch, konzentrierte er sein Bemühen zur Verwirklichung des des zweiten Zieles in erster Linie auf den Kampf gegen das Parteitreiben innerhalb der evangelischen Kirchen und auf die Stärkung des Einheitsgedankens aller Landeskirchen zueinander, weniger jedoch auf eine die Gesellschaft durchdringende volksmissionarische Öffentlichkeitsarbeit. Die Stärkung des gesellschaftlichen Einflußes der evangelischen Kirche als Institution überwog daher den von pietistisch-positiven Kreisen geforderten Kampf um die Stärkung der grundlegenden und orthodoxen Glaubensinhalte sowie deren Konsequenzen im öffentlichen Leben. Diese Tendenz befürchtete die altgläubige Fraktion bereits bei Gründung des EB. Das war zumindest einer der Gründe, den die Führer der „Positiven Union“ ins Feld führten, warum sie der Einladung zur Gründungsversammlung nicht nachkommen wollten, einschließlich Adolf Stoeckers, der in der Folge zu einem der stärksten Kritiker des EB avancierte.370 Die skeptische Haltung der Konservativen änderte sich auch nach Gründung des EB nicht wesentlich, sie blieben auf Distanz und unterstellten dem EB eine zweigleisige Linie, die sich am wechselseitigen Betonen oder auch Verschweigen der in der Satzung verankerten Bekenntnisformulierung ablesen ließe, je nachdem, ob man meinte, dem konservativen Lager entgegenkommen zu müssen oder nicht. Der Kampf des EB gegen Rom würde zudem ohne Bibel geführt und die Stellung zum lutherischen Bekenntnis wäre schwammig. Wortführer dieser und ähnlicher Kritik waren die Kreuzzeitung und der Reichsbote.371 Da368 Müller-Dreier, 1998 (wie Anm. 364), S. 80. Hatte der EB nach der Gründung zunächst einen unerwartet großen Zulauf, durch den nach nur fünf Jahren (1891) 82.978 Mitglieder gewonnen waren, überschritt er bis zur Jahrhundertgrenze in einer abgeschwächteren Dynamik die 100.000 Mitgliedergrenze. Zwischen 1901 und 1914 setzte erneut ein starkes Wachstum ein. Die Mitliederzahlen stiegen in nur 13 Jahren von 142.931 (1901) auf 550.000 (1914). 369 Müller-Dreier, 1998 (wie Anm. 364), S. 241 370 Müller-Dreier, 1998 (wie Anm. 364), S. 60–67. Von den konservativen Kreisen reisten zum Gründungskongreß nach Erfurt nur zwei Vertreter an, darunter Gustav Warneck, ebd., S. 63. 371 Müller-Dreier, 1998 (wie Anm. 364), S. 240f. In der bereits bei Gründung 1886 stark umstrittenen Bekenntnisformel stellte sich der EB „zu Jesu Christo, dem eingeborenen Sohn Gottes, als dem alleinigen Mittler des Heils, und zu den Grundsätzen der Reformation.“ Für die christlich-soziale Wochenschrift „Die Arbeit“ war der EB bereits seit Jahren ein „nationalliberaler Schrittmacher“, in: Die Arbeit 2 (1908), S. 4. Die Arbeit begrüßte daher eine Analyse des EB durch die Kreuzzeitung. Diese kritisierte darin das mangelhafte Eintreten des EB für das Glaubensfundament der Kirche. Sie glaubte, der EB wolle trotz des Ansturms des Heidentums lieber

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mit lag die Gründung einer konservativen, bekenntnistreuen, stärker auf Evangelisation und Bekehrung setzenden Alternative an sich in der Luft und wäre sicher bereits eher in die Tat umgesetzt worden, wenn das altgläubige Lager stärker und zentraler organisiert gewesen wäre. Was dem EB nicht gelang, die Schaffung einer das konservative und liberale Lager vereinigenden Organisation, gelang einige Jahre später mit Gründung des Evangelisch-Sozialen Kongreß (ESK) 1890, wenn auch nur vorübergehend. Die insbesondere auf Stoecker zurückgehende Gründung des ESK stand eng im Zusammenhang mit den Februarerlassen Wilhems II., verfügte aber trotz der Fokussierung auf die soziale Frage nicht über ausreichende Bindekräfte für eine dauerhafte Zusammenarbeit konservativer und liberaler Teile der Kirche. Das Ausscheiden Stoeckers bereits 1896 läutete das Ende der zunehmend mühsamen Vereinigung der gegensätzlichen kirchlichen Lager ein und führte 1897 zur Gründung des konservativen Gegenentwurfes zum ESB, der Freien Kirchlich Sozialen Konferenz (FKSK). Ein Gegenentwurf zum thematisch breiter angelegten EB war die FKSK jedoch nicht. Diese Funktion füllte erst der DEVB aus, der in gleicher Weise wie der EB, die öffentliche Interessenvertretung der Kirche nicht nur in der sozialen Frage sondern in allen Fragen des gesellschaftlichen Lebens für sich reklamierte.372 Dabei grenzte sich der DEVB vom EB durch die besondere Betonung des sittlich-evangelistischen und bekenntnistreuen Aspektes ab. Damit stand er ganz in der Tradition des bekenntnistreuen, kämpferischen Pietismus, wie er sich seit der Aufklärung entwickelt und in der Deutschen Christentumsgesellschaft 1779/80 erstmals organisatorisch Ausdruck gefunden hattte.373 Insbesonneutral bleiben, weil er mit dem Liberalismus liiert sei, vgl. in: Die Arbeit 31 (1911), S. 2. Die Gründung des DEVB begrüßte die Kreuzzeitung daher lebhaft. Zu einem Zeitpunkt, wo sich Kampf zwischen christlichen und antichristlichen Kräften entscheide, bedeute die Gründung des DEVB „die Erfüllung der einen großen und notwendigen Forderung des Tages an die gläubige evangelische Christenheit Deutschlands.“ Die ernsthaften evangelischen Christen müßten nun endlich Ernst machen mit der „persönlichen allgemeinen Wehrpflicht des Reiches Gottes“. Die positiven Kreise der Kirche müßten sich unter dem zwingenden Notdruck der Zeit vereinigen und die Zersplitterung überwinden, da dieselbe dazu führe, daß man keine ausreichende Wirkung auf die Öffentlichkeit erzielen könne. „Die Zeit des Schweigens ist vergangen, die Zeit des Redens ist gekommen!“ Und als ob sie selbst den DEVB gegründet hätte, schließt sie den Bericht mit den Worten: „Auf zum gemeinsamen Kampf!“, vgl. Deutscher Evangelischer Volksbund, in: Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) 329 (1911), 1. Beilage. 372 vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 130. Friedrich sieht im DEVB eine ausgesprochen positiv-konservative Gegengründung zum EB, der von CSP und Gemeinschaftsbewegung unterstützt wurde, vgl. Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 174. Zur Gemeinschaftsbewegung, die in erster Linie an der persönlichen Erbauung von Gläubigen interessiert war sowie an einer volksmissionarischen Durchdringung der Kirche, aber keine kirchenpolitische Rolle als eigene Partei spielte vgl. Lange, Dieter: Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung (Monographien und Studienbücher), Gießen3 1990. 373 Die 1779 zuerst in London gegründete und seit 1780 in Basel ansässige „Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit“ nahm in Anlehnung an das Vorbild der bereits 1698 in London gegründeten „Society for Promoting Christian Knowledge“ den systematischen Kampf gegen die von der Orthodoxie abrückende Aufklärungstheologie auf. Sie stellte damit die erste neuzeitliche Propagandaorganisation bibeltreuer Kreise dar, die gezielt Instrumente wie Zirkularschriften, Reisesekretäre, Gründung lokaler Filialen respektive „Partikluar-

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dere wollte er den publizistischen und volksmissionarischen Teil des Wichernschen Programms aufnehmen und umsetzen, da klar war, daß weder EB noch der 1910 gegründete Evangelische Pressedienst (epd) daran interessiert waren, ihre publizistischen Möglichkeiten und ihre Beziehungen zu den Tageszeitungen in den Dienst einer im Sinne Wicherns stehenden „Rechristianisierung“ zu stellen. Wichern hatte bereits 1848 gefordert, die Ausbreitung des Reiches Gottes nicht nur innerhalb der Kirche zu fördern, sondern ebenso in Staat, Familie, Gesellschaft und in allen sozialen Gestalten des Volkslebens.374 Im Kontext der revolutionären Bewegung der Jahre 1848/49 und dem Wegfall der Zensur erkannte er, daß die Predigt allein zur volksmissionarischen Durchdringung nicht mehr ausreichte, wollte aber nicht beim Einsatz der klassischen Genres wie Traktate, Erbauungsbücher oder Zeitschriften stehen bleiben, sondern forderte nun auch den Einsatz der Presse, selbst der säkularen.375 In der ersten Anweisung des Central-Ausschusses der Inneren Mission vom 5.5.1849 wurden die Agenten angewiesen, auf die „gesamte periodische Presse“ zuzugehen, von der politischen Tageszeitung bis zu Lokal- und Wochenblättern, um mit dem Mittel der Zeitungen Werbung zu machen für die Innere Mission. Ein schwieriges Unterfangen bei der allgemein „schlechten Presse“, die die Innere Mission hatte. Trotzdem hielt Wichern daran fest, daß durch Einwirkung auf die Presse dieselbe dazu veranlaßt werden sollte, den göttlichen Wahrheiten Raum zu geben. Wichern besuchte auch selbst gelegentlich Zeitungsredaktionen und machte die Erfahrung, daß der Überhang an zerstörender und Sitten und Glauben auflösender gesellschaften“ und Verbreitung erbaulicher Schriften einsetzte. Ihre größte Bedeutung errang sie mit Gründung der Basler Mission 1815. Zur Deutschen Christentumsgesellschaft vgl. Weigelt, Horst: Der Pietismus im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Brecht, Martin/ Deppermann, Klaus (Hrsg.): Der Pietismus im 18. Jahrhundert (Geschichte des Pietismus; 2), Göttingen 1995, S. 701–754, hier: 710–719; Weigelt, Horst: Die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine und die Wirksamkeit der Deutschen Christentumsgesellschaft im 19. Jahrhundert, in: Benrath, Gustav Adolf/Gäbler, Ulrich (Hrsg.): Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus; 3), Göttingen 2000, S. 113–149; Staehelin, Ernst: Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Aufklärung und der beginnenden Erweckung, Texte aus Briefen, Protokollen und Publikationen [Theologische Zeitschrift / Sonderband; 2], Basel 1970; vgl. auch Fuchs, Thomas: Antiaufklärerischer Kulturtransfer als „Umformung christlicher Praxis“. Erweckung und Mission im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Beutel, Albrecht; Leppin, Volker (Hrsg.): Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“ [Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte; 14], Leipzig 2004, S. 43–56. 374 Hafenbrack, Hans: Wichern als Publizist. Zehn Thesen, in: Herrmann, Volker/Gode, Jürgen/ Schmidt, Heinz (Hrsg.): Johann Hinrich Wichern – Erbe und Auftrag. Stand und Perspektiven der Forschung (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts; 30), Heidelberg 2007, S. 211–220, 211. 375 Die 1848 vorübergehend errungene Pressefreiheit wurde freilich in der nachfolgenden Restaurationsphase erneut eingeschränkt. Erst mit dem Reichpressegesetz von 1874 war eine reichsweite Pressefreiheit im Prinzip erreicht, die allerdings mit einfacher Reichstagsmehrheit oder bei Unruhen und Kriegseinwirkung wieder eingeschränkt werden konnte. Davon machte Bismarck während der Zeit des Sozialistengesetzes entsprechend Gebrauch und verbot insgesamt 42 Parteiblätter, vgl. Pürer, Heinz/Raabe, Johannes: Presse in Deutschland, Konstanz3 2007, S. 63. Nach 1848 schossen allerdings zunächst neue Zeitungen „wie Pilze aus der Erde“, das gleiche ereignete sich nach 1874, ebd., S. 65.

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Berichterstattung kein Naturgesetz war, sondern eher der Feigheit oder Faulheit „der besser Gesinnten“ geschuldet war. Neben der Beeinflussung der bestehenden Presse rief er auch zu professionellem Journalismus und der Gründung eigener Zeitungen auf.376 Sein Ansatz wurde von der Inneren Mission jedoch nicht effektiv aufgegriffen und blieb weitgehend unvollendet. Bei Gründung des epd 1910 wurde endgültig und ausdrücklich auf jeden innenmissionarischen Aspekt bei der evangelischen Pressearbeit verzichtet.377 Das energische Aufgreifen der öffentlichen Mission mittels Presse und einer schlagkräftigen Organisation blieb ein Vakuum,378 in das der DEVB vorstoßen wollte. Dabei hofften die Gründer, das als „uferloses Beginnen“ erscheinende Einigungswerk verwirklichen und die zersplitterte positive Szene des Protestantismus zu einer „Einheitsfront“ formieren zu können.379 Die entscheidende Person und der eigentliche Impulsgeber des DEVB war der evangelische Pfarrer und, seit 1906, Bundesdirektor des Westdeutschen Jungmännerbundes Heinrich Stuhrmann.380 Wie Vietor gehörte er zu den führenden Männern der CSP und kandidierte, mit Unterstützung des Zentrums, für die Reichstagswahl 1912 im Wahlkreis Lennep-Remscheid-Mettmann.381 Kurz vor Gründung des DEVB war er als möglicher Nachfolger des zurückgetretenen Generalsekretärs der CSP, Wallbaum, gehandelt worden.382 Stuhrmann galt als mitreißender Redner 376 Hafenbrack, 2007 (wie Anm. 374), S. 214. 377 Rosenstock, Roland: Gefährdete Glaubwürdigkeit, in: zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 2 (2010), S. 46–48, 46. Auf Stanislaus Swierczewski, den langjährigen Leiter des 1891 gegründeten Evangelisch-Sozialen Preßverbandes für die Provinz Sachsen, geht der Ruf „Los von der Inneren Mission, hinein in den Mutterboden der Kirche“ zurück, der für die epd programmatisch wurde. Die evangelischen Presseagenturen wollten nicht länger „Objekt der Mission“ sein. Bis zum 2. Weltkrieg blieb der epd gleichwohl auf nationaler Linie, ebd., S. 47. 378 Das beweist auch die Verteilung konfessionell getragener Tageszeitungen. Während es 1903 in Deutschland 325 katholische Tageszeitungen gab, gab es auf evangelischer Seite praktisch keine, vgl. Pürer, Raabe, 2007 (wie Anm. 375), S. 73. Der Zeitungsmarkt insgesamt expandierte zwischen 1866 (etwa 1.525 Zeitungen) und 1914 (4.200 Zeitungen) stark, was sich auch an der durchschnittlichen Seitenzahl pro Jahr ablesen läßt, die von rund 2.000 (1866) auf etwa 6.000 (1914) stieg, Tilly, Richard: Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Handel, Geld-, Kreditund Versicherungswesen 1850–1914, in: Aubin, Hermann/Zorn, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, S. 563–596, 581. 379 Hauptarbeitsamt des DEVB, [1922] (wie Anm. 364), S. 8. 380 Zu Heinrich Stuhrmann vgl. Siekmann, 2006 (wie Anm. 165); Siekmann, Birgit: Heinrich Stuhrmann, in: BBKL 25 (2005), Sp. 1359–1347. 381 Siekmann, 2006 (wie Anm. 165), S. 167. Nachdem Dr. Burckhard 1914 zu Erkennen gab, daß er in seinem Wahlkreis nicht noch einmal kandidieren wolle, war Stuhrmann als sein Nachfolgekandidat im Gespräch, [Mumm] an Stuhrmann vom 30.4.1914, BAB, N 2203/31, Bl. 325f. Der handgeschriebene Brief wurde nicht abgesandt, der Textinhalt macht aber klar, dass der Schreiber den Auftrag vom politischen Ausschuß der CSP erhalten hatte, Stuhrmann die Nachfolgekandidatur anzutragen. Als Burckhard im Sommer 1918 sein Mandat aus Gesundheitsgründen tatsächlich niederlegen wollte, schlug Vietor jedoch nicht Stuhrmann, sondern Otto Rippel als Nachfolger vor, J. K. Vietor an Hauptgeschäftsführer der CSP vom 10.7.1918, StAB, 7,73-46, Bl. 424. 382 J. K. Vietor an Behrens vom 13.2.1911, StAB, 7,73-49, Bl. 43–46. Der Vorschlag zur Berufung zum neuen Generalsekretär der CSP war von Bodelschwingh gekommen, der Wallbaum ins

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und Prediger, der durch seine jahrelange Tätigkeit für den Westdeutschen Jungmännerbund, später Westbund des CVJM, eine nicht unerhebliche Massenbasis mitbrachte.383 Die persönliche Sympathie der Kreise, aus denen er kam, reichte freilich nicht aus, um ein großangelegtes Forum wie den DEVB zu gründen, allein schon aufgrund fehlender Finanzen. In erster Linie galt es daher, finanzielle Ressourcen zu erschließen und da sich Vietor als Großsponsor der CSP bereits einen Namen gemacht hatte, lag es nahe, ihn um seine Unterstützung zu bitten. Seine Person versprach darüber hinaus auch Zugang zu Wirtschaftskreisen und galt wegen seines Bekanntheitsgrades als Garant für öffentliche Wahrnehmung. Zumindest die erste Hoffnung erfüllte sich relativ schnell, nachdem Vietor für den Vorsitz gewonnen werden konnte. Ein Teil der bereits für 1911 der CSP versprochenen 10.000,- Mark wurden umgehend umgeleitet und nun Stuhrmann zur Verfügung gestellt.384 Ab 1912 nahm der DEVB dauerhaft den entscheidenden Stellenwert in Vietors weitgefächerter Spendenpolitik ein.385 Zunächst schuf er, im Einvernehmen mit der Erbengemeinschaft und unter Zurücksetzung der NMG, aus dem Gewinn der Firma F. M. Vietor Söhne einen Reservefond für das Gehalt Stuhrmanns in Höhe von 10.000,- Mark. Auf das Geld durfte nur im Notfall zurückgegriffen werden und da es auf ein Konto festgelegt wurde, das über Vietor lief, konnten Auszahlungen nur mit seiner ausdrücklichen Zustimmung und Anweisung erfolgen. Als Gegenleistung forderte er das vollzeitige Engagement Stuhrmanns für den DEVB und die regelmäßige Zusendung von Tätigkeitsberichten. Auch die Berufung des noch vakanten 2. Vorsitzenden wollte er maßgeblich mitbestimmen. Weitere 2000,- Mark stellte Vietor für einen Pressefond zur Verfügung.386 Diese Bedingungen machen

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Ravensberger Land holen wollte. Vietor rechnete mit einem Jahresgehalt von 6.000,- Mark für Stuhrmann. Dem Westdeutschen Jungmännerbund gehörten 1908 bereits über 40.000 junge Männer an, 1914 beinahe 55.000, vgl. Siekmann, 2006 (wie Anm. 165), S. 167. Offensichtlich handelte es sich zunächst um 3.500,- Mark, den Teil der versprochenen 10.000,Mark, die von der CSP noch nicht abgerufen worden waren. Nach Protesten Mumms schlug Vietor vor, das Geld könne bei der CSP ja ggf. als Darlehen an den DEVB deklariert werden, der es dann in Raten zurückzuzahlen habe, J. K. Vietor an Behrens vom 28.8.1911, StAB, 7,7349, Bl. 63. Die CSP verzichtete aber unter der Bedingung darauf, daß Vietor 1911 für das Jahresgehalt Stuhrmanns beim DEVB garantieren würde, J. K. Vietor an Neuhaus vom 8.2.1912, StAB, 7,73-49, Bl. 87. Allein schon diese Forderung zeigt, wie eng letztlich CSP und DEVB personell und inhaltlich verbunden waren. Die wichtigsten Spendenempfänger Vietors waren die Innere Mission, die äußere Mission, der evangelische Verein „und außerdem noch für eine ganze Reihe anderer Unternehmungen, je nachdem es die Mittel erlauben“, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa, Liberia) vom 28.11.1923, StAB, 7,73-25. Für die Zeit vor dem Krieg muß natürlich noch die CSP genannt werden. J. K. Vietor an Direktor [Stuhrmann] vom 24.2.1912, StAB, 7,73-49, Bl. 90–93; J. K. Vietor an Pastor [Stuhrmann] vom 12.3.1912, ebd., Bl. 113; J. K. Vietor an Geschwister vom 19.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 122–125. Stuhrmann hatte sich als Bundesdirektor des Jünglingsbundes am 17.6.1911 zunächst für ein Jahr beurlauben lassen, am 1.7.1912 schied er endgültig aus, um die Aufgabe als Direktor des DEVB voll übernehmen zu können, vgl. Siekmann, 2006 (wie Anm. 165), S. 166. Sein Nachfolger als Direktor des Westdeutschen Jungmännerbund wurde sein Schwiegersohn, August Meyer, der später als „Betriebsdirektor“ des DEVB tätig sein sollte, vgl. Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 172.

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klar, daß Vietor nicht gewillt war, im Sinne eines Schirmherrn zu fungieren und nur seinen guten Namen herzugeben, sondern aktiv und bestimmend in die Entwicklung des DEVB einzugreifen gedachte. Während er sich als eigentlichen Leiter und Verantwortlichen sah, sollte Stuhrmann die ausführende Exekutive des DEVBs und „Trommler“ für dessen Ideen sein, eine faktisch nicht unangefochtene Vorstellung, die in der Folge zu zahlreichen Reibungen und 1926 schließlich zum Ausscheiden Vietors führen sollte.387 Hinter Vietors Gestaltungswillen beim DEVB steckte auch die Enttäuschung, mit der CSP bislang nur äußerst unvollkommen in das fromme Lager vorgedrungen zu sein. Von dem weniger parteipolitisch ausgerichteten neuen Verband erhoffte er sich eine erfolgreichere Wirkung.388 Ähnlich wie der EB nahm die Entwicklung des DEVB in den ersten Jahren einen stürmischen Verlauf. Kurz nach der Gründung konnte Stuhrmann am 4.10.1911 einen Beitrittsaufruf veröffentlichen, der von so einflußreichen und wichtigen Persönlichkeiten wie Friedrich von Bodelschwingh, Otto Dibelius, dem späteren Ratsvorsitzenden der EKD und damals bereits Oberkirchenrat, den Generalsuperintendenten Johann Friedrich Rogge und Wilhelm Zoellner sowie Prof. Reinhold Seeberg, Präsident der FKSK und führende Persönlichkeit des konservativ-positiven Lagers in der altpreußischen Landeskirche, unterschrieben worden war.389 Bei Ausbruch des Krieges, nach nur drei Jahren des Bestehens, zählte der DEVB bereits fast 50.000 Mitglieder, von denen der überwiegende Teil allerdings auf korporative Anschlüsse zurückzuführen war. Ähnlich wie der Bund Deutscher Bodenreformer setzte man nicht nur auf persönliche Mitglieder und Mitglieder von eigenen Ortsgruppen, sondern auch auf 387 Mit Übernahme des Vorsitzes vertiefte Vietor sein kirchenpolitisches Engagement. Bereits seit längerem gehörte er zum Vorstand des Evangelischen Vereins in Bremen, dessen Vorsitz er im Herbst 1917 übernahm und anschließend jahrelang innehatte und der von seinem Vater im Verein mit Missionsinspektor Zahn 1864 als ausgesprochenes Gegenstück zum 1863 gegründeten liberalen „Protestantenverein“ gegründet worden war. Der Evangelische Verein bildete ein Sammelbecken für die pietistisch-orthodoxen Kreise Bremens und zog mit der Waffe des „Bremer Kirchenblatts“ gegen die theologisch liberalen Thesen des Protestantenvereins zu Felde, Ustorf, Werner: Norddeutsche Mission und Wirklichkeitsbewältigung. Bremen, Afrika und der „Sclavenfreikauf“, in: Ustorf, 1986 (wie Anm. 113), S. 121–236, 159f.; vgl. auch Prüser, 1969 (wie Anm. 210). Auch an den Evangelischen Verein gingen regelmäßig höhere Summen. In Übereinstimmung mit der Erbengemeinschaft wurden sowohl 1912 (5.000,-) als auch 1913 (3.000,-) ansehnliche Summen der Familie überwiesen, J. K. Vietor an Geschwister vom 19.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 123; J. K. Vietor an Geschwister vom 31.3.1913, ebd., Bl. 494. Im Dezember 1919 wurde der Evangelische Verein in Bremen als körperschaftliches Mitglied des DEVB aufgenommen, vgl. Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 175. Die Übernahme des Vorsitzes im Evangelischen Verein teilte Vietor am 16.11.1917 Pastor Pröhl mit, vgl. J. K. Vietor an Pastor [Pröhl] vom 16.11.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 251. 388 Seinen Geschwistern gegenüber verdeutlichte er die neuen Hoffnungen, die er mit dem DEVB verband. Es sei ihm immer klar gewesen, daß es eine großzüzige Organisation brauche, wenn das deutsche Volk christlich erhalten werden sollte, da Kirchengemeinde und Pfarrer diese Wirkung alleine nicht erzielen könnten, weil so viele Leute überhaupt nicht mehr zur Kirche gingen. Bislang hatte er eine Konzentration der evangelischen Kräfte über die CSP versucht, „habe dort aber, auch besonders bei den christlichen Leuten, mit denen wir vor allen Dingen rechnen mussten, leider ja auch bei einigen von Euch, nicht das Entgegenkommen gefunden, welches ich erhofft hatte“, J. K. Vietor an Geschwister vom 19.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 123f. 389 Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 172.

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5 Das höhere Ziel: Christliches Sendungsbewusstsein und tätiger Glaube

Beitritte ganzer Organisationen, deren Mitglieder damit automatisch zu körperschaftlichen Mitgliedern des DEVB wurden.390 Das brachte zwar keinen substantiellen Gewinn für die praktische Arbeit, verbesserte aber durch die hohen Mitgliedszahlen das Ansehen und das Gewicht des Bundes.391 Der Krieg brachte eine Stagnation des anfangs so rasanten Wachstums. Erst nach Kriegsende gewann die Mitgliederentwicklung wieder an Fahrt, insbesondere Anfang der 1920er Jahre. Danach flachten die Zuwachsraten wieder ab, blieben aber konstant. 1929 rechnete der DEVB damit, etwa eine halbe Million Menschen zu erreichen, was jedoch kaum als Mitgliederangabe verstanden werden kann.392 Selbst bei Berücksichtigung der Verzerrung des wahren Kräftestandes durch die hohe Zahl an korporativen Mitgliedern, ist der stetige Bedeutungszuwachs des DEVB in den 1920 Jahren aber nicht zu verkennen. Damit nahm er eine umgekehrte Entwicklung wie der konkurrierende EB, der seinen Höchststand von 1914 nicht halten konnte und bis 1932 etwa 250.000 Mitglieder einbüßte. Mit 300.000 tatsächlichen Mitgliedern verfügte er damit im Vergleich zum DEVB aber immer noch über etwa das Zehnfache an persönlichen, respektive Ortsgruppenmitgliedern.393 Angesichts der Zersplitterung des konservativen Lagers im Protestantismus darf man die korporativen Mitglieder des DEVB allerdings nicht zu gering bewerten. Letztlich kam es darauf an, ob man diese Gruppen effektiv einbinden konnte in die Zielsetzung des Bundes. Wie die Festveranstaltung auf der Bundeshöhe bei Barmen im Rahmen des 2. Deutschen Evangelischen Volkstags am 10.6.1923 zeigte, konnte der DEVB teilweise sogar mehr Menschen mobilisieren als er Mitglieder hatte, die korporativen eingeschlossen. Die Schätzungen für die Besucherzahl der Freiluftveranstaltung an diesem Tag schwankten zwischen 80.000 und 120.000, letztere Zahl stammte angeblich von der Polizei.394

390 Bei körperschaftlichen Mitgliedern ist an „Männer- und Jünglingsvereine, Frauen- und Jungfrauenvereine, Blaukreuz- und Weißkreuzvereine, [landeskirchliche] Gemeinschaften und dergleichen“ zu denken, [Stuhrmann [1923] (wie Anm. 364), S. 9–11. 391 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.6.1920, StAB, 7,73-3. 392 In einem Aufruf zur Beteiligung an der Gründung einer Stuhrmann-Stiftung vom Mai 1929 heißt es, dem DEVB sei es gelungen, „rd. 2/4 Million bewusst evangelischer Christen um das Banner der öffentlichen Mission zu sammeln und geschlossen in den Kampf zu führen“, [August] Meyer an J. K. Vietor, o. D., Anlage „Aufruf zur Beteiligung an einer freiwilligen Spende zwecks Bildung einer Stuhrmann Stiftung“, StAB, 7,73-23. 393 Müller-Dreier, 1998 (wie Anm. 364), S. 85. 394 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 16.6.1923, StAB, 7,73-10.

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Tabelle 5: Entwicklung des Mitgliederstandes des DEVB Jahr/Datum

19.2.1912397 30.6.1912398 31.12.1912399 31.3.1913400 1.5.1913401 27.6.1913402 30.11.1913403 1.8.1914404 1.10.1915405 Mai 1916406 31.12.1916407 1.12.1917408 1.1.1918409 31.8.1918410 31.12.1918 30.4.1919411 31.12.1919412 31.5.1920413 31.12.1920414 31.12.1921415 31.12.1925416 1927417

Ortsgr.-Mitgl.395

Korpor. Mitgl.396

(Ortsgruppen)

(korp. angeschl. Gruppen)

400 3.000 (21) 5.000 (52) (58)

3.000 (17) 13.000 (60) (79)

13.998 (104) 14.414 (104)

33.510 (143) 36.181 (148)

15.053 (127) (130)

37.248 (151) (159)

15.605 (134) (135) 16.658 (152) 14.625 (160) (166) 19.078 (170)

46.496 (156) 46.496 (165) 64.539 (168)

Gesamtmitgl.

6.000 17.500 25.000 31.780 35.000 42.696 47.508 50.595 52.000 52.301 54.878 54.884 55.584 62.080 62.785 63.154 63.869 82.000 83.617 105.000 110.000

395 Wenn nicht anders angegeben incl. persönlichen Mitgliedern ohne Ortsgruppenzugehörigkeit. 396 Stuhrmann sah in den körperschaftlichen Mitgliedern zwar keinen inneren Kraftzuwachs für den DEVB, sondern sah ihren Wert insbesondere in der Bedeutung für die Außendarstellung, da hohe Mitgliedszahlen Einndruck erweckten, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.6.1920, StAB, 7,73-3. 397 J. K. Vietor an Geschwister vom 19.2.1912, StAB, 7,73-50, Bl. 124. Die Zahl 400 bezieht sich allein auf Einzelmitglieder ohne Ortsgruppenanschluß. Es hatten sich bereits einige Ortsgruppen gebildet mit bis zu 1000 Mitgliedern. Genauere Angaben fehlen. 398 Aus der Volksbundbewegung, in: Kreuz und Kraft 3 (1912), S. 25. 2.000 Personen gehörten zu Ortsgruppen, 1.000 waren Einzelmitglieder. 399 Aus der Volksbundbewegung, in: Kreuz und Kraft 1 (1913), S. 9, vgl. auch Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 173. Siekmann gibt insgesamt 18.000 Mitglieder an und nennt die Mitgliedszahlen der Orts- und körperschaflichen Verbände.

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5 Das höhere Ziel: Christliches Sendungsbewusstsein und tätiger Glaube

Praktische Arbeit und Entwicklung bis zum Ausscheiden 1926 Die Arbeit der Ortsgruppen des DEVB konzentrierte sich einerseits auf die Werbung neuer korporativer Mitglieder aus dem bibeltreuen Milieu, hatte andererseits aber auch eine „volksaufklärende“, aktivistische Funktion. Durch Bildung von Kommissionen, die man sich als Arbeitsgemeinschaften oder Teams vorzustellen hat, sollte die Entwicklung des öffentlichen Lebens bewußt verfolgt und beeinflußt werden. Sittlichkeitskommissionen etwa hatten beinahe die Funktion einer Sittenpolizei. Sie sollten in enger Abstimmung mit der Pressekommission sittliche Entgleisungen bei Kinovorführungen, im Theater, in Form von „Schundliteratur“, die in öffentlichen Bibliotheken verliehen wurde oder in Form von Verletzungen der Sonntagsheiligung der Presse melden. Gegebenenfalls sollte auch mit Protestkundgebungen gegen entsprechende Mißstände vorgegangen werden. Den Kirchenkommissionen oblag die gleiche Wächterfunktion für den Bereich des kirchlichen Lebens. Insbesondere Aktivitäten des „kirchlichen Freisinns“ und des „kirchlichen Liberalismus“ sollten beobachtet werden und bei Kirchenwahlen galt es, sich energisch einzumischen und mitzumachen. Schulkommissionen interessierten sich besonders für die Gestaltung des Religionsunterrichtes und hatten die Aufgabe in Bezug auf die Unterrichtsinhalte, die Interessen bibelgläubiger Eltern zu vertreten. Alle Kommissionen hatten die Aufgabe, mit bestehenden und befreundeten Strukturen wie Lehrervereinen o.ä. zusammenzuarbeiten.418 Die Ortsgruppen waren zugleich die Basis, um breitenwirksame Veranstaltungen wie öffentliche Vorträge 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418

Kreuz und Kraft 4 (1913), S. 33. Aus der Volksbundbewegung, in: Kreuz und Kraft 5 (1913), S. 61. J. K. Vietor an Stuhrmann vom 27.6.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 227. Kreuz und Kraft 12 (1913), S. 170. Bericht der „Kriegstagung“ in Barmen am 28.10.1915, in: Kreuz und Kraft 11 (1915), S. 7f. Ebd. Kreuz und Kraft 5 (1916), S. 57. Kreuz und Kraft 1 (1917), S. 8. Eine bedeutsame Tagung, in: Kreuz und Kraft 12 (1917), S. 96f. Unabhängig von den Ortsverbänden werden 2.682 Einzelmitglieder angegeben, als dritte Möglichkeit der Mitgliedschaft. Kreuz und Kraft 9/10 (1918), S. 39. Ebd. Kreuz und Kraft 5/6 (1919), S. 28. Kreuz und Kraft 1/2 (1920), S. 7. Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.6.1920, StAB, 7,73-3. Die Statistik weist zusätzlich 2.748 Einzelmitglieder aus. Protokoll der Bundesausschusssitzung des DEVB am 10.1.1921, StAB, 7,73-5. Stuhrmann an J. K. Vietor vom 1.2.1922, Bericht für das Jahr 1921, StAB, 7,73-7. Für 1.1.1921 wurden 2.630 Einzelmitglieder angegeben, die am Jahresende statistisch mit den Mitgliedern der Ortsverbände zusammengerechnet wurden. Mit Kelle und Schwert! Bericht über die Arbeit des Deutschen Evangelischen Volksbundes für das Jahr 1925, in: Kreuz und Kraft 1/2 (1926), S. 6–9. Bericht über den 6. Deutschen Evangelischen Volkstag in Mühlheim, in: Der neue Weg 7 (1927), S. 129 ff., zit. nach Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 185. Stuhrmann an J. K. Vietor vom 1.12.1920, Anlage: Anleitung an die Verbände und Ortsgruppen des DEVB zur praktischen Durchführung des Bundesprogramms, StAB, 7,73-4.

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oder die Deutschen Evangelischen Volkstage vorzubereiten und durchzuführen. Der erste Evangelische Volkstag des DEVB fand vom 13. bis 15.5.1922 in Schwerin statt, strategisch gesehen nicht gerade im Kerngebiet der Bewegung. Ganz anders der 2. Evangelische Volkstag vom 9. bis 11.6.1923, der mit zahlreichen dezentralen Veranstaltungen im gesamten Bergischen Land und Wuppertaler Raum stattfand. Einzige zentrale Veranstaltung und damit Höhepunkt des Volkstages war die Kundgebung auf der Bundeshöhe bei Barmen am 10.6.1923.419 Erwartet hatte man ungefähr 30.000 Besucher, gekommen waren dagegen etwa 100.000, was auf die Veranstalter einen tiefen Eindruck machte und Stuhrman dazu veranlaßte, dem Treffen eine historische Dimension zuzuschreiben: „Der 10. Juni 1923 bedeutet, das ist wohl nicht zu viel gesagt, einen alles überragenden Markstein in der Geschichte des Evangelischen Christentums und der evangelischen Kirche Deutschlands. So etwas haben diese Kirche und dieses Christentum bis heute einfach noch nicht erlebt. Denn das ist eben noch nie dagewesen, dass mehr als 100.000 evangelische Männer und Frauen – wir haben in den offiziellen Berichten eine Zahl allerniedrigster und vorsichtigster Schätzung eingesetzt und nur 80.000 genannt, während die Schupobeamten die Teilnehmerzahl sogar auf 120.000 schätzten – dass 100.000 evangelische Männer und Frauen unter Gottes freiem Himmel in tiefster Bewegung einen Treueid zur ihrem Volk, zu ihrer Kirche und zu dem Glauben ihrer Väter ablegten.“420 Vietor, der dem Volkstag wegen des Ruhrkampfes nicht beigewohnt und sich einen großen Erfolg schon im Hinblick auf das ständige Zurückbleiben der bibelgläubigen Protestanten hinter die Bemühungen der Katholischen gewünscht hatte,421 zeigte sich von dem Erfolg, den er in erster Linie Stuhrmann zuschrieb, ähnlich beeindruckt. „Er hat es fertig gebracht, die 100.000 Leute aufzufordern die Hand zu erheben und zu schwören, dass sie ihre ganze Kraft für den evangelischen Glauben einsetzen wollen bis zum Tod. Ihm habe geradezu das Herz gezittert, als diese unendliche Masse sämtlich den Arm hochgehoben hätten und gerufen hätten: wir schwören.“422

Wegen der strategisch günstigeren Lage fanden auch in Zukunft Volkstage des DEVB in Kerngebieten der Arbeit statt, die in der Regel identisch waren mit Zentren der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts.423 419 Die dreitägige Veranstaltungsreihe war dezentral angelegt und stellte den DEVB vor enorme logistische Herausforderungen. Festgottesdienste fanden in Barmen, Elberfeld, Vohwinkel, Cronenberg, Remscheid, Radevormwald, Ronsdorf, Dahlerau, Langerfeld, Schwelm, Milspe, Voerde, Gevelsberg, Haspe, Velbert, Mettmann, Langenberg und Solingen statt. Neben zwei öffentlichen Kundgebungen und Volksversammlungen in Barmen und in Elberfeld, fanden am letzten Tag vier Schlußversammlungen an vier unterschiedlichen Orten statt: Barmen, Elberfeld, Langerfeld und Schwelm, Veranstaltungsplan des 2. Deutschen Evangelischen Volkstages, StAB, 7,73-10. 420 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 16.6.1923, StAB, 7,73-10. 421 „Es ist tragisch zu sehen, wie wir Evangelischen immer gegen die Katholiken zurückstehen müssen“, J. K. Vietor an Otto Hueck 26.5.1923, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932. 422 J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 4.7.1923, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932. 423 1924 fand der Volkstag vom 24. bis 26.5.1924 in Bünde im Ravensberger Land bei Minden statt. Diesem Volkstag wohnte Vietor bei und hielt die Eröffnungsrede über das Thema „Um

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5 Das höhere Ziel: Christliches Sendungsbewusstsein und tätiger Glaube

Der Sitz des DEVB befand sich zunächst, in enger Anlehnung an die CSP Geschäftsstelle, in Barmen, wurde aber wegen Stuhrmanns Umzug 1912 nach Godesberg verlegt. Dabei blieb es, trotz zwischenzeitlicher Überlegungen den Sitz wieder zurück nach Barmen oder auch nach Berlin zu verlegen, da der Schwerpunkt der DEVB Arbeit in Westfalen und am Niederrhein lag.424 Das Zentrum der DEVB Arbeit blieb unbeschadet vom Sitz in Godesberg weiterhin Barmen, insbesondere durch die hier ansässige Druck- und Verlagsanstalt des DEVB, die Vaterland GmbH. Auf Vorschlag Vietors konnte als 2. Vorsitzender Generalmajor z.D. Rogge gewonnen werden.425 Für den Fall von Rogges Ablehnung hatte Vietor als Ersatzkandidat Generalmajor a.D. Vallette aus Wernigerode vorgeschlagen, für den aus seiner Sicht besonders sprach, daß er mit [Generalmajor] v. Viebahn [a.D.] befreundet war, eine in Kreisen der Evangelischen Allianz und der innerkirchlichen Gemeinschaftsbewegung einflußreiche und populäre Persönlichkeit.426 Neben den 16-köpfigen Vorstand trat ein erweiterter Bundesausschuß, zu dem 24 Personen gehörten.427 Bereits ein Jahr nach Stuhrmanns vollamtlichem Antritt als 1. Direktors zum 1.7.1912 konnte zum 1.10.1913 mit Pastor Ernst Wengel ein zweiter Direktor eingestellt

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Glauben und Heimat“, die zu einem Lobgesang auf den Kaiser geriet und die Einheit Deutschlands bei Kriegsausbruch beschwor, vgl. StAB, 7,73-10. Wegen des starken Regens besuchten die Hauptkundgebung nur rund 10.000 Personen statt der erwarteten 30.000 bis 40.000, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 28.8.1924, StAB, 7,73-10. Mit den 50 verschiedenen Kundgebungen und Veranstaltungen an den Nebenorten konnte man an den drei Tagen jedoch insgesamt wieder rund 50.000 Menschen erreichen, J. K. Vietor an N.N. vom 13.8.1924, ebd. Am Ende des Tages wurde eine Resolution angenommen, die den ultramontanen Einflüssen aus Rom und der unchristlichen Schulpolitik den Kampf ansagte, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 30.5.1924, ebd. J. K. Vietor an General [Rogge] vom 6.5.1913, StAB, 7,73–51, Bl. 103f. J. K. Vietor an Pastor (Stuhrmann) vom 13.3.1912, 7,73-50, Bl. 192. Zunächst war Rogge nur bereit gewesen, den 3. Vorsitz zu übernehmen, wurde im Dezember 1912 dann aber doch zum 2. Vorsitzenden gewählt. 3. Vorsitzender wurde dafür Pastor Prof. D. Möller aus Gütersloh, vgl. Aus der Volksbundbewegung, in: Kreuz und Kraft 4 (1912), S. 35; Aus der Volksbundbewegung, in: Kreuz und Kraft 1 (1913), S. 9. Als sich Rogge 1914 aus persönlichen Gründen gegen eine ablehnende Stellungnahme des Verbandsorgans Kreuz und Kraft zur Frage des Duells aussprach, regte Vietor notfalls eine Trennung von ihm an, J. K. Vietor an Direktor [Stuhrmann] vom 9.4.1914, StAB, 7,73-53, Bl. 370. Siekmann gibt irrtümlicherweise an, 2. Vorsitzender wäre bereits von Beginn an Hofprediger Johannes Vogel gewesen, vgl. Siekmann, 2007 (wie Anm. 362). Er wurde jedoch erst 1921 gewählt, Protokoll der Bundesausschusssitzung des DEVB am 10.1.1921, StAB, 7,73-5. Zu Viebahn vgl. Seidel, Jürgen: Viebahn, Friedrich Karl Hermann Georg von, in: BBKL 12 (1997), Sp. 1365f.; Brandenburg, Hans: Viebahn, Georg von (1840–1915), in: Burkhardt, Helmut (Hrsg.): Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde (ELThG), Wuppertal 1994, S. 2100. Bereits in seiner aktiven Zeit beim Militär hatte Viebahn den „Bund gläubiger Offiziere“ gegründet, der regelmäßige Konferenzen abhielt. Besondere Bedeutung für das bibelgläubige Spektrum hatte er jedoch in seiner Funktion als Evangelist und führender Mann der Blankenburger Allianzkonferenzen. Vietor selbst scheint auch engere Beziehungen zum Gemeinschaftschristentum gehabt zu haben. Sein Sohn Claus gibt an, er hätte in seiner Jugend durch einen „Gemeinschafsmann“ Zugang zum christlichen Glauben bekommen, C[laus] V[ietor] an Hauptmann a.D. Hermann, Wandsbek vom 4.6.1929, StAB, 7,73-23. Aus der Volksbundbewegung, in: Kreuz und Kraft 1 (1913), S. 9.

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werden, der für Pressearbeit, Propaganda und Organisation verantwortlich war.428 Stuhrmann wollte die wachsende DEVB Arbeit bereits vor dem Krieg in vier „Arbeitsämter“ unterteilen, um die Strukturen dezentraler in ganz Deutschland aufbauen zu können. Sobald es die Mittel erlaubten, sollte zunächst in Süddeutschland (Stuttgart) und Norddeutschland (Hamburg) je ein Sekretär für diesen Zweck eingestellt werden.429 Dazu kam es vor dem Krieg aber nicht mehr.430 Erst danach konnte die Arbeit personell Schritt für Schritt ausgebaut werden.431 Zunächst mußte man sich im Wesentlichen auf Vortragstätigkeiten und die Herausgabe des 1912 ins Leben gerufenen Verbandsorgans „Kreuz und Kraft. Zeitschrift für öffentliche Mission des Christentums“ beschränken, das anfänglich in einer Auflage von 11.000 Stück erschien,432 1916 bereits die „Mindestauflage“ von 15.000 Exemplaren erreichte, die 1917 auf 16.000 Stück gesteigert werden konnte.433 Im Krieg konzentrierte man sich auf die Schriftenmission an Soldaten im Feld, Vorträge in Ortsgruppen oder von Ortsgruppen veranstaltet und auf die von vielen Ortsgruppen wöchentlich oder monatlich eingerichteten „Christlichen Kriegsabende“.434 Am 428 Aus der Volksbundbewegung, in: Kreuz und Kraft 9 (1913), S. 124, vgl. J. K. Vietor an Pastor [Stuhrmann] vom 8.10.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 477. P. Ernst Wengel übernahm die Schriftleitung des Verbandsorgans „Kreuz und Kraft“. 429 J. K. Vietor an General [Rogge] vom 6.5.1913, StAB, 7,73-51, Bl. 103. 430 Erst 1920 konnte für Süddeutschland ein Sekretär eingestellt werden, die geplante Einstellung eines Sekretärs für Norddeutschland wurde nicht umgesetzt, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.6.1920, StAB, 7,73-3. 431 Am 31.3.1920 beschäftigte der DEVB neben Stuhrmann einen leitenden Bundesbürosekretär (750,- Mark/ Monat), „Volksmissionar“ Grabe (600,-/Monat, zusätzlich freie Wohnung und freies Licht), eine Bürobeamtin (300,- Mark/Monat, plus Erstattung der Fahrtkosten zum Arbeitsplatz nach Godesberg von monatlich 30,- Mark), einen Bürodiener (200,- Mark/Monat) und Generalsekretärin Frl. Traeder (500,- Mark/Monat). Der NMG Missionar Schröder war zu je 50 % bei der NMG und beim DEVB angestellt, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 31.3.1920, StAB, 7,73-3. Stuhrmann wurde angesichts seiner acht Kinder und seiner angelaufenen Kriegsschulden am 1.3.1920 eine Gehaltserhöhung von 24.000,- auf 30.000,- Mark gewährt, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 27.3.1920, StAB, 7,73-3. Tatsächlich erhielt Stuhrmann 1920 jedoch 36.000,- Mark, 6.000,- Mark wurden als Überstunden gewertet, Jahresbescheinigung von J. K. Vietor an Stuhrmann, StAB, 7,73-4. 432 Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 173. 433 Kreuz und Kraft 5 (1917), S. 43. Einzelne Artikel des Organs wurden teilweise auch als Sonderpublikationen gedruckt und veröffentlicht. Bereits der Leitartikel der 2. Ausgabe erschien 1912 in einer Sonderauflage von 16.000 Stück, J. K. Vietor an Stuhrmann vom 21.6.1912, StAB, 7,73-49, Bl. 127–129. Ab Ende 1915 gab Stuhrmann in eigener Redaktion noch das Periodikum „Das neue Zeitalter“ heraus, das bereits in seiner 3. Ausgabe eine Auflage von 20.000 Stücke erreichte. Hinzu kamen weitere Schriften wie „Wacht und Wehr“ und die Volkspredigtenreihe „Sturm und Stille“. Insgesamt hatte der DEVB in den ersten 1 ½ Kriegsjahren Schriften und Hefte in einer Auflage von mehreren hunderttausend Stück verbreitet, Die Arbeit 2 (1916). 434 Die Arbeit 2 (1916). Seit Kriegsbeginn hatte allein Stuhrmann 125 öffentliche Vorträge gehalten und damit rund 120.000 Menschen erreicht. Es wurde auch Werbung gemacht für ein „Kriegsliederbuch“, das für 10 Pfennig vertrieben wurde und sich besonders zur Versendung ins Feld eignete und zur Gestaltung der Kriegsabende in den Ortsvereinen für „unverzichtbar“ gehalten wurde, Die Arbeit 2 (1915), S. 4. Vietors Nichte, Helene Vietor-Petersen, Frau des Lüdenscheider Pfarrers Petersen, veröffentlichte 1915 in der Reihe „Kriegsgesang zum

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3.12.1917 gründete der DEVB die „Deutsche Evangelische Verlagsgesellschaft“ als eingetragene Genossenschaft m.b.H., um die Grundlage zum Aufbau eines christlichen Zeitungs- und Verlagswesens zu schaffen.435 Für Vietor und Stuhrmann war klar, daß nach Kriegsende alles auf eine schlagkräftige Presse ankäme. In dem dann erwarteten Kampf um die „innere deutsche Zukunft“ konnte sich für sie nur die gesellschaftliche Kraft durchsetzen, die über einen schlagkräftigen Medienkonzern verfügte.436 Wie schwach die Grundlage für einen medialen Kampf allerdings war, war Vietor völlig klar, wenn er er daraufhinwies, daß selbst 10.000 Genossenschafter, die sich mit jeweils mit 100,- Mark beteiligten bei weitem nicht ausreichten. Um mit einer eigenen Tageszeitung für etwa 10.000 Abnehmer beginnen zu können, brauchte es weit mehr als eine Million Mark, ohne einige Großspender konnte die Genossenschaft ihr Ziel daher nicht erreichen.437 Bis Ende 1919 hatte die Verlagsanstalt 600 Genossenschafter gewinnen können und verfügte über ein Kapital von 73.000,- Mark, viel zu wenig, um etwas Bedeutendes bewirken zu können.438 An die Übernahme des Reichsboten oder auch nur des Lokalblattes „Aufwärts“ war damit nicht zu denken.439 Es ist erstaunlich, was sich der DEVB unter Stuhrmanns

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Schwerterklang“ ein Kriegsliederbuch mit 5 eigenen Kompositionen zum Preis von 20 Pfennig. Im Lied „Ein Kaiserwort“ hieß es (V1): „Nun Feinde rings in Ost und West. Marsch, marsch, sie mögen kommen. Die Klingen raus, Gewehre fest! Die sollen ihnen frommen. Hell kling’ es wie Trompetenstoß: Jetzt wollen wir sie dreschen, los! Jetzt wollen wir sie dreschen, los!“ Ein bemerkenswerter Text für eine christliche Abendversammlung. Das Heft erschien im Verlag F. W. Haake in Bremen und wurde bei C. G. Röder in Leipzig gedruckt. Eine bedeutsame Tagung, in: Kreuz und Kraft 12 (1917), S. 96f. Bis Dezember 1917 hatte der DEVB 64.803 „Postsachen“ und 54.000 „Schriften“ (Bibeln, Bücher, Blätter usw.) ins Feld gesandt. Aufruf anlässlich des Reformationsfestes am 31.10.1917, abgedruckt in: Kreuz und Kraft 10 (1917), S. 82. Der Aufruf wurde von Vietor und Stuhrmann unterschrieben und forderte zur Spende für den „Wittenbergfond“ auf, dem Vorläufer der im Dezember gegründeten Genossenschaft. Vietor erkannte auch an der Propaganda der Kriegsgegner Deutschlands wie wichtig die Medienarbeit ist. Der weltweite „Haß“ gegen Deutschland war für ihn nicht auf tatsächliche Taten, sondern allein auf die Verzerrung der medialen Darstellung zurückzuführen, Vietor, J. K.: Kriegslehren, in: Kreuz und Kraft 7 (1915). J. K. Vietor an Stuhrmann vom 15.2.1918, StAB, 7,73-46, Bl. 342–344; J. K. Vietor an Stuhrmann vom 22.2.1918, ebd., Bl. 350. An der Notwendigkeit eines solchen Projektes ließ er aber keinen Zweifel: „Wir sind uns ganz klar darüber, dass, wenn es uns nicht gelingt, eine grosse gute evangelische Zeitung zu schaffen, wir nicht in der Lage sein werden, auf die Dauer den evangelischen Sinn unseres Volkes hochzuhalten“, J. K. Vietor an Pastor Fritz [Vietor] vom 19.1.1918, ebd., Bl. 313f. Vietor, J. K.: Rückblick und Ausblick, in: Kreuz und Kraft 1/2 (1920), S. 3f. Ende 1920 hatte die Gesellschaft 1.100 Genossenschafter, die zusammen 1.440 Anteile gezeichnet hatten, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 24.3.1921, StAB, 7,73-5. Ein Jahr später hatte sich die Zahl der Genossenschafter nicht verändert. Die Anteile waren mit 100,- Mark gegengezeichnet, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 1.2.1922, Anlage: Bericht für 1921, StAB, 7,73-7. J. K. Vietor an Stuhrmann vom 14.7.1920, StAB, 7,73-3. Die Frage der Übernahme oder wenigstens der Teilhaberschaft an beiden Zeitungen war monatelang Gesprächs- und Verhandlungsthema. Beide Zeitungen litten an hohen Defiziten, der Reichsbote hatte eine jährliche Unterdeckung von 50.000 bis 60.000,- Mark, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 10.4.1920, StAB, 7,73-3. Dazu hatte die „Aufwärts“ nicht das Zeug eine große Zeitung zu werden, es stellte die Fortsetzung der früheren christlich-sozialen „Westfälisch Lippischen Volkszeitung“ dar und

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Leitung angesichts dieser beschränkten finanziellen Ressourcen trotzdem zutraute. Dazu gehörte am 1.4.1920 die Einstellung von Frl. Traeder, die Stuhrmann insbesondere im administrativen Bereich entlasten sollte440 sowie am 1.10.1920 die Einstellung des Heidelberger Militärpfarrers Lorentz, der den Ausbau des DEVB in Süddeutschland übernahm.441 1921 wurde mit August Meyer wieder ein 2. Direktor neben Stuhrmann eingestellt.442 Stellten schon die Neueinstellungen den latent dehatte 1920 etwa 6.000 Abonnenten, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 31.3.1920, StAB, 7,73-3. Die Tageszeitung erschien unter dem Titel „Aufwärts. Christlich-nationales Tageblatt mit der Sonntagsbeilage „Für Herz und Haus““ seit 1919 in Bielefeld-Bethel, J. K. Vietor an Stuhrmann vom 16.4.1920, StAB, 7,73-3. 440 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 10.4.1920, StAB, 7,73-3. Aufgrund der knappen Mittel sollte auch Fräulein Traeder, die sich bisher vorwiegend um die Pressearbeit des DEVB gekümmert hatte, ab Herbst 1920 eine eigene Vortragstätigkeit aufnehmen, obwohl das grundsätzliche Problem des DEVB in der Administration lag. Wegen der vielen Reisen kam Stuhrmann nur unregelmäßig dazu, seine Post und Korrespondenz zu erledigen, was zu wiederholten Spannungen führte, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.6.1920, StAB, 7,73-3. 441 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 14.7.1920, StAB, 7,73-3. Vietor kannte ihn nicht, verließ sich in der Berufungsfrage aber voll und ganz auf Stuhrmann. Für Lorentz sprach aus Vietors Sicht besonders seine finanziell abgesicherte Situation, infolge der er dem DEVB nur wenig kosten würde, J. K. Vietor an Stuhrmann vom 6.7.1920, ebd. Tatsächlich akzeptierte er das niedrige Jahresgehalt von 6.000,- Mark und begann seine Arbeit in Neustadt a.d.H. in der Pfalz, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.6.1920, StAB, 7,73-3. Für den Norddeutschen Bereich wollte Stuhrmann möglichst bald Pastor Wedekind aus Ratzeburg einstellen, für Mittel- und Ostdeutschland mittelfristig weitere Sekretäre. Stuhrmann ging davon aus, daß die Einstellung von Generalsekretären im Wesentlichen kostenneutral verlaufen würde, da sie aufgrund ihrer Honorare aus Vortragsreisen ihr Gehalt zum größten Teil wieder einspielen würden. Ein gutes Vorbild war ihm seine eigene Bilanz, nach der er allein im ersten Halbjahr 1920 50 öffentliche Vorträge gehalten hatte, dazu drei Vorträge auf Pastorenkonferenzen und fünf Vorträge bei DEVB Ortsgruppen. Dabei hatte er 20.026,43 Mark an Spenden gesammelt bei einer insgesamten Besucherzahl aller 58 Termine von 52.000 Personen, ebd. Im Jahr 1921 hielt Stuhrmann 65 Vorträge und nahm dabei 15.000,- Mark ein. Der 2. Direktor, Pastor Meyer, war erfolgreicher und konnte durch seine Vortragstätigkeit 42.600,- Mark sammeln, vgl. Bericht für das Jahr 1921, Anlage zu Schreiben von Stuhrmann an J. K. Vietor vom 1.2.1922, StAB, 7,73-7. Das Absinken der Zahlen bei Stuhrmann erklärt sich mit seiner Wahl zum Abgeordneten des preußischen Landtags 1920. Durch die Einstellung des 2. Direktors (Betriebsdirektor) wurde Stuhrmann wieder mehr freigesetzt zu Vortragsdiensten und konnte im ersten Quartal 1922 40 Vorträge halten, für das zweite Quartal waren weitere 32 geplant, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 21.4.1922, StAB, 7,73-8. Pastor Lorentz hatte 1921 84 Vorträge und 4 Festpredigten gehalten und dabei Kollekten in Höhe von 7.300,- Mark eingenommen. „Volksmissionar“ Grabe hatte 1921 229 Vorträge und Bibelstunden gehalten und 10.000,- eingeworben, Bericht für das Jahr 1921, Anlage zu Schreiben von Stuhrmann an J. K. Vietor vom 1.2.1922, StAB, 7,73-7. Ihre Gehälter, die wegen der Inflation Anfang 1921 auf 16.000,- Mark für Generalsekretäre und 12.000,- Mark für Büro- und Reisesekretäre festgesetzt worden waren, konnten sie damit aber nicht refinanzieren, Protokoll der Bundesvorstandssitzung des DEVB vom 9.1.21, StAB, 7,735. 442 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.12.1920, StAB, 7,73-4. Meyer war Stuhrmanns Schwager und war ihm 1912 im Amt des Direktors beim Westdeutschen Jungmännerbund gefolgt, Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 172. Siekmann bezeichnet Meyer als Schwiegersohn Stuhrmanns, Vietor spricht dagegen von Meyer als Stuhrmanns Schwager, J. K. Vietor an Carola, Prinzessin zu Lippe, Äbtissin zu St. Marien vom 25.2.1930, StAB, 7,73-24.

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fizitären Betrieb des DEVB vor eine große Herausforderung, war der Sprung in die Zeitungsbranche mit unvergleichlich höheren Risiken verbunden.443 Da der Aufbau einer evangelischen Volkspresse jedoch einen entscheidenden Bestandteil des Verbandszweckes darstellte, konnte er angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen nach dem Krieg nicht länger dilatorisch behandelt werden. Ab 1920 fanden daher intensive Verhandlungen mit möglichen Partnern, zum Verkauf stehenden unrentablen Zeitungen und Druckereien statt. Die Erfahrung mit der 1910 eingegangen christlich-sozialen Tageszeitung „Das Reich“, für dessen Aufbau Stoecker nach der Reichstagswahl 1903 von Freiherr von Diergardt über vier Jahre verteilt 150.000,Mark erhalten hatte, begleitete dabei entsprechende Pläne als mahnendes Beispiel. Das Reich war nie über eine Auflage von 7.000 Exemplaren hinausgekommen und konnte daher auch nie rentabel geführt werden.444 Im Herbst 1921 kam es zu ernsthaften Verhandlungen mit der Westdeutschen Rundschau, einer Tageszeitung mit einer Auflage von 5.500 Exemplaren, die in Barmen und Hagen erschien. Auch dieses Zeitungsunternehmen arbeitete mit einer Unterdeckung von etwa 18.000,bis 20.000,- Mark/Jahr defizitär und hatte sich bislang nur durch die Überschüsse der im gleichen Besitz befindlichen Druckerei halten können.445 Über den Kaufverhandlungen mit dem Eigentümer, dem DNVP Mitglied Schulrat Friedrich Linz, kam es im DEVB Vorstand zum Zerwürfnis, infolgedessen zwei Vorstände zurücktraten.446 Um sich an dem Gewinn der bislang die Zeitung subventionierenden Dru443 Hatten die ersten Nachkriegsabschlüsse, 1918 und 1919, noch jeweils ausgeglichene Haushalte gehabt, geriet der DEVB in den nächsten Jahren, nicht zuletzt wegen der inflationären Währungsentwicklung, mehrere Male in akute Liquiditätsschwierigkeiten. Vietor mußte wiederholt die Kosten für Gehälter auslegen, vgl. Stuhrmann an J. K. Vietor vom 19.7.1920, StAB, 7,73-3; J. K. Vietor an Meyer vom 25.3.1922, StAB, 7,73-8; J. K. Vietor an Stuhrmann vom 2.6.1922, StAB, 7,73-8. J. K. Vietor an Stuhrmann vom 25.9.1922; StAB, 7,73-9. Der Jahresabschluß 1921 erbrachte bei Einnahmen von 160.929,- Mark und Ausgaben von 235.544,22 Mark ein Defizit von 74.615,22 Mark, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 1.2.1922, Anlage: Kassenbericht für das Rechnungsjahr 1921, StAB, 7,73-7. 1922 mußte das Personal reduziert werden und die Monatszeitschrift Kreuz und Kraft auf vierteljährliche Erscheinungsform umgestellt werden, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 7.8.1922, StAB, 7,73-9. Allerdings konnte das Jahr 1922 mit Einnahmen von 3.280.000,- Mark und Ausgaben von 2.999.000,- Mark mit einer positiven Bilanz abgeschlossen werden, J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 8.1.1923, VPAH, NL Hueck. 444 Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 160–163. Das Reich erschien vom 1.10.1904 bis 31.10.1910 und wurde dann vom Reichsboten, den Pastor Engel herausgab, übernommen. Chefredakteur war bis 30.9.1909 Reinhard Mumm gewesen. Friedrich von Bodelschwingh hatte das Blatt retten wollen, auch Vietor hatte Finanzen zur Rettung beigesteuert, J. K. Vietor an Doctor vom 12.9.1910; StAB, 7,73-49, Bl. 10f.; J. K. Vietor an Neuhaus vom 25.9.10, ebd., Bl. 16f. Vietor rechnete mit einem Bedarf von 20.000,- Mark p.a., um die Zeitung halten zu können und war für den Fall, daß sich auch andere Spender fänden, bereit, sich daran zu beteiligen, J. K. Vietor an Mumm vom 19.10.1910, ebd., Bl. 18. 445 Neuhaus an J. K. Vietor vom 19.10.1925, StAB, 7,73-6; J. K. Vietor an Stuhrmann, Lüttringhaus, Weber vom 24.10.1921, StAB, 7,73-6. . 446 Während der alte CSP Weggefährte Lüttringhausen aus Protest aus dem Vorstand austrat, begründete der Kassierer des DEVB, Daniel Kircher, seinen Rückzug mit gesundheitlichen Gründen, Niederschrift der 14. Bundesvorstandssitung vom 13.5.22, StAB, 7,73-8; J. K. Vietor an Lüttringhausen vom 4.5.1922, ebd., Daniel Kircher an J. K. Vietor vom 14.2.1922, StAB, 7,73-

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ckerei beteiligen zu können, wurde eine Erbschaft in Köln, die dem DEVB 100.000,- Mark einbrachte für eine Beteiligung an der Druckerei verwendet, die über die Godesberger Evangelische Verlagsgesellschaft abgewickelt wurde.447 Neben Weiterführung der lokalen Zeitung „Westdeutsche Rundschau“ entschloss sich der DEVB auch zum 1.1.1922 eine deutschlandweit wirksame neue Tageszeitung herauszugeben, die durch Abonnements der DEVB Mitglieder eine erste wirtschaftliche Grundlage bekommen sollte.448 Für den Betrieb dieser neuen Zeitung wurde eine eigene GmbH gegründet, die wie die Zeitung selbst „Vaterland“ hieß.449 Das „Vaterland“ erschien zunächst in einer Anfangsauflage von 5.000 Stück und sollte in Zukunft zu einer führenden deutschen evangelischen Zeitung ausgebaut werden.450 Im September 1922 hatte es zwar bereits eine Auflage von fast 7.000 Exemplaren erreicht, fuhr aber monatlich ein Defizit von 100.000,- Mark ein, was die Fortführung ernsthaft in Frage stellte. Vietor wollte die Zeitung jedoch unbedingt halten, da der überwältigenden katholischen Pressekonkurrenz etwas entgegengesetzt werden mußte.

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7. Mit Karl Neuhaus kam es zu monatelangen Spannungen, er verblieb schlußendlich aber im Vorstand. Linz war von 1907–1912 als Hospitant der Reichspartei Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Elberfeld-Barmen gewesen. Für den gleichen Wahlkreis war Karl Neuhaus 1920 als DNVP Abgeordneter in den Reichstag gezogen, weshalb ihm Stuhrmann unterstellte, seine Opposition gegen eine Vereinbarung mit Linz hätte politische Hintergründe, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 30.12.1921, StAB, 7,73-7. Angesichts der Tatsache, daß der Parteivorsitzende der DNVP, Hergt, zum 1.1.1922 die Einführung einer parteieigenen Zeitung mit dem Titel „Der deutsche Führer. Nationale Blätter für Politik und Kultur“ plante, war der Gedanke nicht allzu weit hergeholt. Daß Neuhaus’ Argumentation gegen eine Einigung mit Linz auch der Loyalität zu Hergt und zur Partei geschuldet war, ist zumindest wahrscheinlich. Neuhaus führte gegen die Beteiligung ins Feld, daß man sich auf die 27.000 DNVP Wähler in seinem Wahlkreis, davon allein 10.000 in Elberfeld-Barmen, nicht als potenzielle Leser verlassen könne. Sie hätten bereits nach dem Krieg Unterstützung für die Westfälische Rundschau zugesagt, wären aber bald wieder abgesprungen, Mitteilung des Bundesvorsitzenden Hergt vom 25.11.1921, StAB, 7,73-7; Neuhaus an J. K. Vietor vom 19.19.1925, StAB, 7,73-6. Für einen Einstieg bei Linz sprach der Anschluß der von ihm geleiteten „Freien Evangelischen Volksgemeinschaft“ an den DEVB im Dezember 1918, der immerhin 6.000 neue korporative Mitglieder einbrachte, vgl. Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 175. Stuhrmann an J. K. Vietor vom 13.12.1921, StAB, 7,73-7; Stuhrmann an J. K. Vietor vom 23.12.1921, ebd., J. K. Vietor an Stuhrmann vom 27.12.1921, ebd. Bei der Erbschaft handelte es sich um ein Grundstück, das nach einigem Hin und Her auch ohne Bauzwang vom DEVB übernommen werden konnte und damit frei von Auflagen veräußerbar war, Karl Neuhaus an Stuhrmann vom 7.6.1921, StAB, 7,73-5. Für den Fall der Herausgabe einer eigenen Verbandszeitung lagen bereits einige tausend Abonnementsvormerkungen vor, die Vietor nun mit der Herausgabes des „Vaterland“ aktivieren wollte, Lüttringhausen an J. K. Vietor vom 21.11.1921, StAB, 7,73-7. Auch mit den christlichen Gewerkschaften war der DEVB in Verhandlungen getreten, um Chancen eines größeren Bezugskreises auszuloten. Um die Auflage erhöhen und christliche Gewerkschafter als Leser gewinnen zu können, bot man den Gewerkschaften eine regelmäßige Kolummne an, J. K. Vietor an Stuhrmann, Lüttringhaus, Weber vom 24.10.1921, StAB, 7,73-6. Hauptarbeitsamt des DEVB, [1922] (wie Anm. 364), S. 20–22. Zusammenstellung: Erläuterungen zur Kosten- und Rentabilitätsberechnung (Herv.i.Orig.), StAB, 7,73-7; Hauptarbeitsamt des DEVB, [1922] (wie Anm. 364), S. 23.

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5 Das höhere Ziel: Christliches Sendungsbewusstsein und tätiger Glaube Das traurigste (sic) bei der Geschichte ist, dass die Katholiken infolge ihres Fleisses und ihrer Organisation 6 mal soviel Einfluss gewinnen, als die Evangelischen und das ist ja gerade meine Lebensaufgabe diese Organisation der Evangelischen in die Wege zu leiten, damit wir im öffentlichen Leben denselben Einfluss gewinnen können, wie die anderen [...] Unser „Vaterland“ hatte zuletzt ca. 7000 Abonnenten, das Tageblatt aber mindestens 70/100000 und ausserdem wird das Blatt ja ganz ausserordentlich auf den Bahnhöfen gekauft.“451

Zusammen mit der Westdeutschen Rundschau stieg die Gesamtauflage der „Barmer Zeitungen“ des DEVB bis August 1923 auf 15.000 Stück.452 Am 1.10.1922 konnte die Druckerei komplett übernommen werden, was die wirtschaftliche Sicherheit verbessern sollte, aber auch neue Betätigungsfelder ermöglichte.453 Die Vaterland GmbH hatte nun drei Standbeine. Den Betrieb der Großdruckerei mit eigener Buchbinderei, die Herausgabe der Zeitungen „Das Vaterland“ und die „Westdeutsche Rundschau“ sowie eine Annoncenexpedition, mit der man Anzeigen aller Art an alle Zeitungen des In- und Auslandes vermitteln konnte.454 Pastor Lorentz, der Leiter des Süddeutschen Arbeitsamtes hatte zeitgleich, im Sommer 1922, die Pfalzpresse GmbH gegründet und in den nächsten Monaten über diese Gesellschaft drei Tageszeitungen im pfälzischen Raum übernommen, die Zweibrücker Zeitung, die 451 J. K. Vietor an Otto Hueck (Tungkun) vom 5.9.1922, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912– 32. Die Entschlossenheit das „Vaterland“ mit allen Mitteln zu retten, teilte auch Stuhrmann, da sonst die evangelische Welt ein wichtiges Presseorgan verlöre im „Entscheidungskampf“ zwischen Ultramontanismus und Protestantismus, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 7.8.1922, StAB, 7,73-9. Den Anteil der katholischen Zeitungen an der deutschen Tagespresse hat man für die Zeit der Weimarer Republik auf 12% geschätzt. Zwischen 1903 und 1932 stieg die Zahl der katholischen Tageszeitungen in Deutschland von 325 auf 603, Pürer, Raabe, 2007 (wie Anm. 375), S. 73. In Bayern lag der Anteil der katholischen Tagespresse 1932 bei 30%, Hoser, Paul: Presse (20. Jahrhundert), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: (17.10.2012). 452 J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 30.8.1923, StAB, 7,73-10, S. 5. Die Auflage der „Pfalzblätter“ hatte sich verzehnfacht, eine konkrete Druckauflage konnte Vietor jedoch nicht angeben. 453 Nachdem die Druckerei im ersten Halbjahr 1922 einen Gewinn von 250.000,- Mark gemacht hatte, der DEVB im gleichen Zeitraum jedoch ein Defizit von 78.000,- Mark und die Produktion der Zeitung „Vaterland“ durch die Druckkostensteigerung monatlich eine Unterdeckung von 100.000,- Mark brachte, sah Vietor im kompletten Kauf der Druckerei eine Möglichkeit, die Finanzlage insgesamt zu konsolidieren, J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 30.8.1922, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932, S. 4. 454 [Stuhrmann [1923] (wie Anm. 364), S. 14–16. 1923 waren bei der Vaterland GmbH rund 50 Angestellte und Arbeiter beschäftigt, ebd., S. 15. Vietor war aus kaufmännischen Gesichtspunkten an sich gegen den Erwerb der Druckerei und auch bereits gegen den Kauf der Zeitung gewesen, auch wenn er im Vorstand zu Stuhrmann gehalten hatte. Letztlich hatte er sich aber auf das Risiko eingelassen, weil sonst die Ziele des DEVB auf lange Zeit unerreichbar geblieben wären: „Es ist immer gegen meinen Rat gewesen, die riesenhafte Druckerei in Barmen zu übernehmen und das „Vaterland“ zu kaufen, aber er [Stuhrmann] hatte immer einen riesigen Schneid dafür, sodass ich meinen Widerspruch aufgegeben habe, zumal ich ja selbst einsah, wie wichtig die Sache war“, J. K. Vietor an Otto Hueck vom 26.5.1923, StAB, 7,73-10. Letztlich war das Zeitungsprojekt für Vietor, trotz aller wirtschaftlichen Risiken und trotz des vollen Bewußtseins, „dass auch diese Zeitung wie die früheren, mir (sic) viel Geld kosten wird“ eine Frage der christlichen Pflicht, J. K. Vietor an Dr. Hueck (China) vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck, S. 4.

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Homburger Zeitung (Saarpfalz) und die Pirmasenser Morgenzeitung. Damit verfügte der DEVB 1923 bereits über fünf Tageszeitungen.455 Neben diesen eigenen Zeitungsprojekten war bald nach Gründung des DEVB mit dem Aufbau eines Pressedienstes begonnen worden, der 1923 etwa 600 inländische und 250 ausländische Zeitungsredaktionen 14 tägig kostenlos mit Informationen aus der evangelischen Welt versorgte.456 1921 begann man zusätzlich dazu mit einem Dienst für Deutsche im Ausland, insbesondere in Osteuropa, der darin bestand, unentgeltich deutsche Zeitungen und Zeitschriften an Lesehallen zu schicken und Schul- und Unterhaltungsbücher, Bibeln, Andachtsbücher und christliche Literatur an Schulen an Gemeinden oder Einzelpersonen zu liefern.457 Als sozialdiakonischer Arbeitszweig des DEVB firmierte das am 1.10.1922 in Vietors Bauerngut in Hude bei Oldenburg eröffnete „Winterheim für Rentnerinnen“. Es bot finanzschwachen, älteren Frauen „des gebildeten Mittelstandes“ für die kalte Jahreszeit eine befristete Wohnmöglichkeit. Die Frauen wurden von einer Pflegekraft betreut.458 Besondere Aufmerksamkeit widmete der DEVB der Frage des Zusammenschlusses und der Kooperation mit anderen bibelgläubigen Kreisen und Bewegungen. Bereits 1914 hatte Vietor die Fusion des DEVB mit der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz (FKSK) vorgeschlagen,459 weil er darin einen wichtigen Schritt sah, um dem Ziel der Bildung eines ganz Deutschland umspannenden christlichen Propaganda-Verbandes näher zu kommen. Die Verhandlungen darüber zogen sich bis 1915 hin und scheiterten schließlich, obwohl zu den Vorständen von DEVB und FKSK jeweils führende CSP Politiker gehörten, die durchaus eine gewisse Scharnierfunktion hätten bilden können.460 Kurz vor der vorentscheidenden Sitzung des 455 [Stuhrmann [1923] (wie Anm. 364), S. 16. Stuhrmann rechnet mit sechs Tageszeitungen, da er die zwei gesonderten Ausgaben der Westdeutschen Rundschau, für den Raum Barmen-Elberfeld sowie Hagen-Schwelm, einzeln zählt. Über die Auflagenstärke der pfälzischen Zeitungen werden keine Angaben gemacht. 456 Der Pressedienst des DEVB teilte sich in die „Deutsche Evangelische Volkspresse“ (dev) und den „Deutschen Evangelischen Auslandsdienst“ (dea), [Stuhrmann [1923] (wie Anm. 364), S. 13. 457 [Stuhrmann [1923] (wie Anm. 364), S. 12; Hauptarbeitsamt des DEVB, [1922] (wie Anm. 364), S. 23f. Diese Sendungen sollten die „Gesinnungsgemeinschaft mit dem Vierzigmillionenvolk Deutscher ausserhalb der Reichsgrenzen“ pflegen und die geistliche, sittliche und wo möglich auch wirtschaftliche Not evangelischer Christen im Ausland lindern, Informationsblatt über die Ziele der Arbeit des DEVB [1921/22], StAB, 7,73-6. 458 [Stuhrmann [1923] (wie Anm. 364), S. 17. Vietor hatte die Finanzierung des „Rentnerinnenheimes“, das über den DEVB dem Centralausschuß der Inneren Mission angeschlossen war, über den Verkauf, resp. die Verzinsung von Staatsanleihen sichern wollen. Auch Kriegsanleihen dienten zunächst als Sicherheit. Da infolge der Inflation die Papiere nichts mehr wert waren, stand das Heim 1925 vor dem Aus, Central Ausschuß für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (Wirtschaftsabteilung) an J. K. Vietor vom 16.1.1925, StAB, 7,73-13; J. K. Vietor an Zentralausschuss für Innere Mission vom 13.1.1925, ebd. 459 Zur Freien Kirchlichen Konferenz (FKSK) vgl. Pollmann, 2002 (wie Anm. 154) 460 Während Vietor und Franz Behrens zum Vorstand des DEVB gehörten, war der Parteivorsitzende der CSP, Wilhelm Philipps (1912–1916), bis Ende der Weimarer Republik Vizepräsident der FKSK und Reinhard Mumm Generalsekretär. Die dominierende und bestimmende Person der FKSK war aber fraglos Reinhold Seeberg, zudem verfügte die FKSK teilweise über bis zu 3 stellvertretende Vorsitzende und über 120 Vorstandsmitglieder (1913), sodaß die Stellung von

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Auschusses der FKSK am 19.7.1915, nannte der Generalsekretär der FKSK, Reinhard Mumm, als mögliche Einigungsbedingungen die Verlegung des DEVB Sitzes nach Berlin und die Überlassung des 1. Vorsitzes an den amtierenden Vorsitzenden der FKSK, Prof. Reinhold Seeberg. Vietor sollte der 2. Vorsitz angetragen werden, Mumm sollte Generalsekretär bleiben. Damit war Vietor einverstanden, weil er die Fusion trotz des Verzichts auf den 1. Vorsitz offensichtlich eher als Übernahme der FKSK durch den DEVB verstand.461 Die Ausschußsitzungen am 19.7.1915 und 1.11.1915 kamen jedoch zu dem Ergebnis, daß eine Verschmelzung beider Gruppen keine spürbare „Kraftmehrung“ bringen, die zentrale Rolle der Frauenarbeit darunter leiden und die Zusammenarbeit mit Universitätsprofessoren dadurch beeinträchtigt würde. Für eine Weiterentwicklung von einer sozialpolitisch ausgerichteten Arbeitsgemeinschaft zu einem gesellschaftspolitischen Verband war die FKSK nicht bereit.462 Daran änderte auch der Kriegsausgang nichts und die Anfang der 1920er Jahre erneut geführten Verhandlungen verliefen erneut ergebnislos.463 Parallel dazu verhandelte der DEVB auch mit Pastor Jaeger, dem Herausgeber des „Aufwärts“, nachdem dieser im Frühjahr 1920 die Gründung eines „Christenbundes“ angekündigt hatte. Die Entstehung eines Konkurrenzverbandes wollte man unbedingt vermeiden.464 Die Grundlage einer Zusammenfassung des von Jaeger erreichten Spektrums und der Klientel des DEVB war aber wenig vielversprechend. Jaeger hatte wie auch andere bibeltreue Christen Vorbehalte gegen Stuhrmanns „nationalistische Haltung“ während des Krieges. Jaeger trat zudem für eine politisch differenzierte Verbandsgrundlage ein, die konkrete Positionen zu wirtschaftlichen

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Philipps und Mumm wohl nicht ausschlaggebend war, vgl. Pollmann 2002 (wie Anm. 154), S. 260f. 1914 hatte die FKSK 4.657 Mitglieder, davon 1.445 Frauen, ebd., S. 264. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 5.7.1915, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932. Nach dem Sondierungsgespräch mit Mumm und Stuhrmann am 5.7.1915 war sich Vietor sicher, daß die Fusion de facto einer Einverleibung des FKSK in den DEVB bedeutete: „Wir übernehmen seine [gemeint ist Mumm und die FKSK, Anm. B.O.] 4500 Mann […] und wir bekommen eine Masse Gruppen mehr, als wir bisher hatten.“ Friedrich, 1997 (wie Anm. 125), S. 130. Eine Information über den Stand der Fusionsverhandlungen mit dem nun Kirchlich-Sozialer Bund heißenden Partner stand auf der Tagesordnung der Vorstandssitzung vom 9.1.1921, DEVB an J. K. Vietor vom 22.12.1920, StAB, 7,73-4. Stuhrmann teilte auf der Sitzung mit, daß der Kirchlich-Soziale Bund zwei unannehmbare Forderungen gestellt habe. Der DEVB müsse seinen Namen ändern und die Hauptgeschäftsstelle müsse nach Berlin verlegt werden. Eine Änderung des Namens kam nicht in Frage, aber immerhin wollte man eine Zweigniederlassung in Berlin ins Auge fassen und auf dieser Basis die Gespräche weiterführen, Protokoll der Bundesvorstandssitzung vom 9.1.1921, Punkt 9, StAB, 7,73-5. Angesichts des Fusionszieles hatte Stuhrmann bereits im Sommer auch auf die Bedeutung einer soliden Finanzlage für die Verhandlungen hingewiesen, die 1920 jedoch nicht vorzuweisen war, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 10.7.1920, StAB, 7,73-3. Als Vietor im „Aufwärts“ von Jägers Absichten las, einen „Christenbund“ zu gründen, drängte er zur Aufnahme von Gesprächen, um die Bildung eines konkurrierenden Verbandes zu verhindern, J. K. Vietor an Waltemath vom 7.4.1920, StAB, 7,73-3. Unter der gleichen Bezeichnung „Christenbund“ betrieb Jaeger nach seinem Ausscheiden aus der DNVP 1924 die Gründung einer politischen Sammlungsbewegung, die jedoch nicht wesentlich über konstitutionelle Gespräche hinauskam, vgl. Opitz, Günter: Der Christlich-Soziale Volksdienst. Versuch einer protestantischen Partei in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1969, S. 46–62.

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und sozialen Gesichtspunkten formulieren müsse, was Stuhrmann wiederum als „utopisch“ verwarf, umso mehr als Jaegers Partner Studienrat Waltemath entsprechende Vereinbarungen in politischer Nähe zur SPD forderte.465 Das ging auch Vietor zu weit. Wenn Jaeger und Waltemath Kritik üben würden „an unserer nationalistischen Haltung“, wäre ein Zusammengehen mit ihnen ausgeschlossen. „Ich bin ja immer für Zentralisierung solcher Bewegungen, aber doch nicht auf Kosten unserer Ueberzeugung.“466 Waren Jaeger und Waltemath für den DEVB zu links, waren die Gemeinschaftschristen zu fromm. Im November 1920 war der Generalsekretär des Gemeinschafts-Pressebundes, Herr Jüngst, in Gespräche mit Stuhrmann eingetreten, die bald in einen Antrag auf Aufnahme in den DEVB mündeten. Trotz der Chance, durch Aufnahme des Pressebundes mit einem Schlag 20.000 neue Mitglieder und, was noch mehr zählte, Zugang zum weiten Feld des traditionell apolitischen Gemeinschaftschristentum zu bekommen, stieß der Antrag auch auf Bedenken bei Stuhrmann und Vietor. In Flugblättern und Schriften verwendete der Gemeinschafts-Pressebund häufig die „Sprache Kanaans“, die sich durch ein spezifisch frommes und biblisches Vokabular auszeichnete und dadurch andere DEVB Mitglieder irritieren oder gar abstoßen konnte. Stuhrmann, der trotz der Vorbehalte gegen Jaeger und Waltemath auch mit ihnen in Verhandlungen getreten war, um keine Chance, die Zersplitterung des bibeltreuen Lagers zu überwinden, auszulassen, war jedoch bereit, auch diese Einschränkung notfalls in Kauf zu nehmen da sie, abgesehen von der Ausdrucksweise, theologisch als weitgehend deckungsgleich mit dem DEVB anzusehen waren. Er ging sogar so weit, nicht nur einen Anschluß des Pressebundes ins Auge zu fassen, sondern eine Verschmelzung mit demselben.467 Tatsächlich konnte der Pressebund Ende 1920 nicht nur als körperschaftliches Mitglied, sondern als „Arbeitsabteilung“ in den DEVB eingegliedert werden, was den starken Mitgliederzuwachs zwischen Mai 1920 (63.869) und Dezember 1920 (82.000) erklärt.468 Weitere Fusionsgespräche wurden mit dem „Bund der Christusgläubigen“ geführt, einem der vielen kleinen Netzwerke der bibelgläubigen Szene.469 Eine andere Dimension hatte dagegen der Allgemeine Positive Verband, der etwa zur gleichen Zeit wie der DEVB in Berlin gegründet worden war und der größten innerkirchlichen Partei der altpreußischen Landeskirche, der positiven Union, nahestand.470 Damit stand er theologisch zwar in der Nähe zum DEVB, 465 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 29.6.1920, StAB, 7,73-3. Stuhrmann befürchtete, die von Jaeger erreichten Schichten ständen politisch viel zu weit links, was allein schon der im Aufwärts abgedruckte Leserbrief des Münsteraner Prof. Schmidt bewies, der so weit ging zu behaupten, als Christ könne man kein Mitglied der DNVP sein, Stuhrmann an J. K. Vietor vom 10.4.1920, StAB, 7,73-3. 466 J. K. Vietor an Stuhrmann vom 6.7.1920, StAB, 7,73-3. 467 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 10.11.1920, StAB, 7,73-3; J. K. Vietor an Stuhrmann vom 18.11.1920, ebd.; Stuhrmann an J. K. Vietor vom 26.11.1920, ebd. 468 Protokoll der Bundesvorstandssitzung vom 9.1.1921, Punkt 10, StAB, 7,73-5. 469 DEVB an J. K. Vietor vom 22.12.1920, StAB, 7,73-4. Wie die Gespräche mit dem „Bund der Christusgläubigen“ endeten, ist nicht bekannt. Er gehörte jedenfalls zur „positiven evangelischen Christenheit Deutschlands“, ebd. 470 Zu den verschiedenen Kirchenparteien, insbesondere in der altpreußischen Landeskirche, vgl. Beckmann, J.: Parteien. VI. Kirchliche Parteien in Deutschland, in: Campenhausen, Hans von/

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war in den Augen Stuhrmanns aber nur „ein loses Conglomerat verschiedener Vereinigungen und Verbände, welches weder Lebensfähigkeit noch Aktionskraft besitzt.“471 Trotzdem hatte man sich ihm angeschlossen, um von derem kirchenpolitischem Einfluß zu profitieren. Auch nach dem Krieg kam kein neuer Zug in diese lose Gruppierung, die in Stuhrmanns Augen eine Initiative von überwiegend eng konfessionell denkenden Lutheranern darstellte, die ihre Frontstellung mehr im innerkirchlichen Parteiwettbewerb suchte, mit der eine großzüzige Sammlungspolitik, wie sie dem DEVB vorschwebte, jedoch nicht zu machen war.472 Das Ergebnis der Sammlungsbemühungen Anfang der 1920er Jahre fiel daher eher bescheiden aus. Weder mit den politisch liberaler denkenden bibeltreuen Christen war man zusammengekommen, noch mit den mehr akademisch orientierten Kreisen des Kirchlich-Sozialen Bundes, noch mit der bedeutenden Gruppe des konfessionell denkenden positiven Lagers. Nur ein erster Schritt auf das Lager des Gemeinschaftschristentums war gelungen, was immerhin ein sprunghaftes Wachstum von 30 % für den DEVB bedeutet hatte. Hier war das Potenzial aber noch weitaus größer, konnte aber auch in den Folgejahren nicht entscheidend erschlossen werden.473 Auch die mit so vielen Risiken begonnene Pressearbeit blieb weiter hinter den ursprünglichen Zielen zurück. Die Zeitungen konnten sich nicht ausreichend im konservativen evangelischen Lager etablieren und stagnierten in ihren Auflagen mehr oder weniger.474 Schuld daran war nach Stuhrmann der Widerstand „der führenden evangelischen Kreise Deutschlands“, aber auch des evangelischen Presseverbands, den er mit den Worten zitierte: „Die Schaffung einer selbständigen Evangelischen Tagespresse ist ein Unding!“ Nachdem auch die Verhandlungen mit den Tageszeitungen „Reichsbote“, „Aufwärts“ und „Das Volk“ aus Mangel an Entgegenkom-

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Galling, Kurt (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (RGG). P – Se, Tübingen 1961, S. 128–130; zur Positiven Union vgl. Hohlwein, H.: Positive Union, in ebd. S. 472f. Die positive Union, die sich 1876/77 unter Mitwirkung Adolf Stoeckers gebildet hatte und auf Wahrung der Bekenntnisgrundlage der Kirche sowie auf die Durchdringung des öffentlichen Lebens mit der Kraft des Evangeliums hielt, galt als kirchliche Regierungspartei vor dem Krieg. Sie beherrschte, zusammen mit der konkurrierenden Partei der Konfessionellen, die Synoden der Landeskirche und stellte viele kirchenleitende Persönlichkeiten. Stuhrmann an J. K. Vietor vom 17.8.1922, StAB, 7,73-9. Stuhrmann an J. K. Vietor vom 17.8.1922, StAB, 7,73-9. Dennoch schloß sich Stuhrmann nach seiner Wahl in die Synode der Partei der „Positiven Union“ an, da er hier theologisch und kirchenpolitisch die größten Überschneidungen mit seinem Denken erkannte, Siekmann, 2007 (wie Anm. 362), S. 184. Bereits die FKSK hatte sich nach ihrer Gründung 1897 einige Jahre lang intensiv bemüht, das Lager der Gemeinschaftschristen zu gewinnen, was aber ab 1904 als gescheitert angesehen werden mußte, vgl. Pollmann, 2002 (wie Anm. 154), S. 272. Die mit 50 Arbeitern und Angestellten 1922 übernommene Druckerei hatte im Laufe des Jahres 1923 die Belegschaft auf 22 Mitarbeiter reduzieren und bis 24.1.1924 die Wochenarbeitszeit auf 24 Stunden begrenzen müssen, Protokoll über Beiratssitzung der Vaterland GmbH vom 11.4.1924, StAB, 7,73-12. Im Laufe des Jahres 1924 verbesserte sich allerdings die wirtschaftliche Lage der Druckerei wieder, sodaß bei ausreichender Auftragslage kostendeckend gearbeitet wurde, Bericht über die Geschäftslage der Vaterland GmbH vom 23.2.1925, StAB, 7,73-15.

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men vollständig gescheitert waren, hatte man bis 1924 weder die finanzielle Basis noch die Zielgruppe vergrößern können.475 Angesichts dieser unübersehbaren Grenzen der Expansionsmöglichkeiten, hätte man für die Zukunft einen vorsichtigeren und langsameren Ausbau der eigenen Strukturen und Projekte erwarten können. Im Gegensatz dazu drängte Stuhrmann jedoch immer wieder zum großen Wurf. 1924 schlug er die Schaffung einer eigenen „Vaterlandbank“ vor, um die vielfältigen DEVB Projekte besser finanzieren zu können, die Vietor nur mit Mühe verhindern konnte.476 Anfang 1925 erteilte Stuhrmann dem Leiter des Süddeutschen Arbeitsamtes, Pastor Lorentz, den Auftrag, die schon seit zwei Jahren ins Auge gefaßte Gründung einer Druckerei auf den Weg zu bringen.477 Offensichtlich versprach sich Stuhrmann, ähnlich der Vaterlandruckerei, Überschüsse aus dem Betrieb derselben, mit denen die weitere Expansion der Zeitungsarbeit bestritten werden sollte. Begünstigt wurde der Gedanke dadurch, daß Lorentz im Zusammenhang mit der Reichstagswahl am 7.12.1924 einen Landesverband der DNVP unter der Bezeichnung „Christlich nationale Partei (Landespartei der Pfalz der DU.Vp.)“ gegründet hatte und nun bei der Partei ein Darlehen zwischen 25.000,- und 30.000,- Mark beantragte, um eine Druckerei aufbauen zu können.478 Die DNVP stellte daraufhin 25.000,- Mark zur Verfügung und überwies sie zur zweckgebundenen Verwendung für die Pfalzpresse GmbH an die Vaterland GmbH in Barmen.479 Bereits nach kurzer Zeit geriet das Projekt in finanzielle Schieflage, führte zum Zerwürfnis mit Stuhrmann, Lorentz Entlasssung, der Insolvenz der Pfalzpresse GmbH und einer gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen Lorentz und DEVB.480 Vietor, an dem diese Vorgänge, trotz mehrfacher Auf475 Protokoll der Arbeitskonferenz am 26.5.1924 in Bünde i.W., StAB, 7,73-12. 476 Stuhrmann schlug die Übernahme einer Mittelstandsbank vor, was die Einlage von 100.000,Mark bis zum 1.4.1924 erfordert hätte. Der neue Name der Bank sollte „Vaterlandbank A.G.“ heißen und eine rein gemeinnützig arbeitende „Deutsche Evangelische Volksbank“ werden, Hauptarbeitsamt des DEVB: „An unsere Getreuen“ [Januar/Februar 1924], StAB, 7,73-12. Vietor sah in dem Bankprojekt gewaltige Risiken, hatte er doch selbst gerade erst mit anderen Kaufleuten die Festmarkenbank gegründet, um den Ankauf von Ödland zu ermöglichen. Das Unternehmen hatte sich bald als Fehlentscheidung herausgestellt, weshalb Vietor hoffte, möglichst bald wieder aus dem Aufsichtsrat der Festmarkenbank ausscheiden zu können, J. K. Vietor an Stuhrmann vom 18.11.1923, StAB, 7,73-11. Er konnte das Bankprojekt schließlich verhindern, J. K. Vietor an Carola, Prinzessin zu Lippe, Äbtissin zu St. Marien vom 25.2.1930, StAB, 7,73-24. 477 Schon mit Übernahme der pfälzischen Zeitungen 1922/23 war an den Erwerb einer standortnahen Druckerei gedacht worden, vgl. [Stuhrmann [1923] (wie Anm. 364), S. 16. 478 Denkschrift 1 über 25.000 M. aus Berlin, StAB, 7,73-41. 479 Denkschrift No. 5, Anklage, StAB, 7,73-41. 480 Ohne Absprache hatte Lorentz die 50.000,- Mark, die von der Vaterland GmbH erhalten hatte, um zunächst ein Grunstück für die Druckerei zu kaufen, zweckentfrendet und für 38.000,Mark Druckmaschinen gekauft, J. K. Vietor an Otto Hueck vom 16.7.1925, StAB, 7,73-16. Diese Eigenmächtigkeit führte am 26.3.1925 zur Rücktrittsaufforderung durch Stuhrmann, Stuhrmann an Lorentz vom 26.3.1925, StAB, 7,73-41. Dem kam Lorentz am 1.4.1925 nach und schied sowohl als Generalsekretär des Süddeutschen Arbeitsamtes als auch als Direktor der Pfalzpresse GmbH aus, forderte aber in diesem Zusammenhang die Rückzahlung des privat in die Pfalzpresse investierten Kapitals von etwa 30.000,- Mark, Lorentz an Stuhrmann vom 1.4.1925, StAB, 7,73-41. Durch Aufnahme einer Hypothek auf ihr Privatgrundstück hatten sich

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forderung an Stuhrmann, ihm Bericht zu erstatten, weitestgehend vorbeigegangen waren, zeigte sich entsetzt über die Art des Umgangs miteinander, aber auch über die Art der Behandlung der Gläubiger. Zwar war er nochmals bereit, Stuhrmann, der selbst auch Anteile an der Pfalzpresse GmbH hielt und sich nun als Miteigentümer von einer Pfändung bedroht sah, durch ein Darlehen über 10.000,- Mark aus seiner bedrängten Lage zu helfen, das Verhältnis aber war nun nachhaltig gestört.481 Vietor warf Stuhrmann nun offen eine bereits seit Jahren erkennbare Erosion christlich-ethischer Lebensgrundsätze vor und sah in dieser Entwicklung den eigentlichen Grund der „schweren Dissonanz unserer Anschauungen.“482 Hinzu kam die politische Arbeit Stuhrmanns als Abgeordneter der DNVP im preußischen Landtag, die für Vietor der eigentliche Grund für die eklatanten Fehler in der Geschäftsführung des DEVB waren, da Stuhrmanns Kräfte dadurch zu stark gebunden waren.483 Die Fronten verhärteten sich weiter als Stuhrmann auf der Vorstandssitzung im Oktober 1925, den Aufbau eines geistlichen Ausbildungszentrums für Lehrer, Stadtmissionare und Missionare und damit ein neues Prokekt vorstellte, das auch finanauch Lorentz Eltern an den Investitionen beteiligt. Als dann die beiden Wechsel, mit denen Lorentz die Maschinen bezahlt hatte platzten, forderte der Gläubiger das Grundstück von Lorentz Eltern. Schließlich wurde ein Konkursverfahren gegen die Pfalzpresse eingeleitet, bei dem sich Lorentz und Emil Thimm, der Geschäftsführer der Vaterland GmbH, gegenseitig die Unterschlagung, respektive die Verschwendung von Finanzen vorwarfen, J. K. Vietor an Otto Hueck vom 16.7.1925, StAB, 7,73-16; Denkschrift No.5, Anklage, StAB, 7,73-41. 481 J. K. Vietor an J. Kabs (Neustadt/Haardt) vom 28.11.1925, StAB, 7,73-41. Vietor machte Kabs, einem der Gläubiger klar: „Die ganze Behandlung der Pfalzpresse ist ohne mein Wissen und ganz gegen meinen Willen gemacht worden, und ich habe mit den Herren auch energische Auseinandersetzungen deswegen gehabt.“ Dann verwies er auch auf das Privatdarlehen an Stuhrmann über 10.000,- Mark und machte deutlich, daß er zu keinen weiteren Zahlungen bereit sei. Der Entwurf eines Darlehensvertrages vom 29.8.1925 lautete aber nicht auf Stuhrmann, sondern auf die Vaterland GmbH. Hier wird die Summe von 12.000,- Mark genannt, die mit 15 % verzinst werden sollte. Als Kreditgeber wird nicht Vietor, sondern die Vietorsche Familienstiftung genannt, Vaterland GmbH an J. K. Vietor vom 29.8.1925, StAB, 7,73-41. Nach einem Gespräch mit Stuhrmann änderte Vietor den Vertrag jedoch, begrenzte ihn auf eine achtmonatige Laufzeit und verankerte eine monatliche Gläubigerbedienung aus diesem Kredit in Höhe von 1.000,- Mark. Die Rückzahlung an ihn sollte am 1.6.1926 beginnen, Vaterland GmbH an J. K. Vietor vom 4.9.1925, StAB, 7,73-16. Die Johann Karl und Hedwig Vietor Stiftung wurde 1921 gegründet und hatte eine dreifache Aufgabe: Wirtschaftlich in Bedrängnis geratene Einzelpersonen unterstützen, Sicherung eines Teiles der Familienvermögens im Falle eines unternehmerischen Scheiterns, Unterstützung ehemaliger Angestellter in Notlagen. 10 % der Stiftungserträge mußten für christliche Zwecke eingesetzt werden, Begleitschreiben zum Testament [1926], VPAH, Konv. 5, Mappe 5, S. 10f. 482 Stuhrmann an J. K. Vietor vom 7.12.1925, StAB, 7,73-41. Stuhrmann zitiert in dem Schreiben Abschnitte aus dem letzten Brief Vietors an ihn. 483 Bereits im Oktober 1925 hatte Vietor Stuhrmann deswegen heftigste Vorwürfe gemacht und mit seinem Rücktritt gedroht. „Ich habe ihm dann meine Meinung auseinandergesetzt, dass der Volksbund […], seit einem Jahr keine schneidige Arbeit mehr sei, dass sein Parlamentarismus, wie er ihn auffasst, die Hauptschuld sei, dass in so schwierigen Verhältnissen, klotzig gearbeitet werden müsse, […] daß sie die größten Fehler machten, die ich dann decken soll, das passe mir nun aber nun nicht mehr und ich trete zurück, wenn wir uns nicht einigen könnten. Er hatte für alles immer Entschuldigungen […]“, J. K. Vietor (Barmen) an Hedwig Vietor vom 6.10.1925, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932.

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zielle Risiken in sich barg. Zwar zeigte sich Stuhrmann überzeugt, daß die westfälische Synode die Kosten dafür übernehmen und den DEVB mit der Führung des Hauses beauftragen würde, aber feste Zusagen konnte er nicht vorlegen. Auf die bestand Vietor allerdings und blockierte den Antrag damit zunächst. Stuhrmanns Vorschlag, daß in Zukunft die Direktoren des DEVB auch gleichzeitig Gesellschafter der dem DEVB angeschlossenen Unternehmen sein sollten, um so rasche Entscheidungsmöglichkeiten zu haben, lehnte Vietor nach dem jüngsten Debakel mit der Pflalzpresse glatt ab. Er plädierte stattdessen für die Gründung eines Beirates für alle DEVB Unternehmen, der bei allen größeren Entscheidungen konsultiert werden sollte und ein prinzipielles Kontrollrecht erhalten müsste.484 Damit wurde klar, daß die Vorstellungen wie der DEVB geführt werden müsse, zwischen Vietor und Stuhrmann weit auseinanderlagen. Es liegt auf der Hand, daß Stuhrmann, angesichts der heftigen persönlichen Vorwürfe, aber auch angesichts der Absicht Vietors, seine kaufmännischen Entscheidungen in Zukunft stärker kontrollieren zu wollen, nicht daran interessiert war, die Zusammenarbeit mit Vietor fortzusetzen. Trotz wiederholter Rücktrittsdrohungen Vietors unterließ er einen persönlichen Besuch und eine persönliche Aussprache mit ihm, wohlwissend, daß er damit auf kurz oder lang den Vollzug des Rücktritts provozierte, den Vietor mit Schreiben vom 8.1.1926 schließlich mitteilte.485 Wie der Konkurs der Pfalzpresse zeigte, packte Stuhrmann in der Tat, insbesondere seit der Inflationszeit, immer wieder neue und risikoreiche Projekte an, ohne ausreichende kaufmännische Erfahrung, auch wenn Vietor ihn in der Vergangenheit wenigstens teilweise daran gehindert hatte.486 Nach Vietors Ausscheiden sollte Stuhrmann tatsächlich an riskanten und zu groß angelegten Projekten scheitern. 1926 begann er trotz der dem DEVB eher fremden Zielsetzung mit dem Aufbau 484 J. K. Vietor an Claus Vietor vom 12.10.1925, StAB, 7,73-25, S. 6f. Vietor hoffte, auf diese Weise den erneuten „uferlosen Plänen“ Stuhrmanns wirksam entgegengetreten zu sein. In der verfahrenen Streitsache gegen Lorentz konnte er auf der Sitzung auch durchsetzen, daß die Eltern von Lorentz auch dann vom DEVB entschädigt werden müßten, wenn Lorentz den DEVB betrogen haben sollten. Eine Schädigung der „alten Leute“ konnte er nicht verantworten, ebd., S. 5. 485 J. K. Vietor an Stuhrmann vom 15.12.1925, StAB, 7,73-41; J. K. Vietor an Stuhrmann vom 9.1.1926, ebd. Im Schreiben vom 9.1.1926 begründet Vietor seinen Rücktritt damit, daß Stuhrmann „mich und meinen Mann als eine Puppe haben [wolle], die den Vorsitz führt und natürlich ihre Massnahmen und Unternehmungen deckt.“ Zu einer solchen Konstellation war er nicht bereit, vielmehr müsse sich Stuhrmann von ihm Kritik gefallen lassen und die Änderung der mangelhaften Arbeitsweise zusagen. 486 Vietor bestätigt die jahrelange gute Zusammenarbeit, „bis sie und ihre Herren sich, durch die Inflationszeit bewogen, in alle möglichen Unternehmungen eingelassen haben, und in noch viel mehr Unternehmungen eingelassen hätten, wenn ich nicht mit solcher Energie dagegen angegangen wäre“, J. K. Vietor an Stuhrmann vom 26.1.1926, StAB, 7,73-41. Neben dem Bankprojekt konnte Vietor auch die Idee eine Zigarrenhandels verhindern sowie die Beteiligung an einer „Wäschefabrik“. Für diese vielfältigen Geschäftsideen macht er allerdings in erster Linie Stuhrmanns Schwager, den 2. Direktor, August Meyer, verantwortlich, wie er überhaupt die Einbeziehung noch weiterer Familienangehöriger Stuhrmanns in den DEVB Betrieb außerordentlich kritisch bewertete, J. K. Vietor an Carola, Prinzessin zu Lippe, Äbtissin zu St. Marien vom 25.2.1930, StAB, 7,73-24.

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einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft mit Sitz in Mühlheim/Ruhr, die er dem DEVB als neuen Arbeitszweig angliederte.487 Nachdem die Gesellschaft zunächst Erfolge aufzuweisen hatte, rasch auf 1.400 Mitglieder anwuchs und bereits im 1. Jahr ihres Bestehens 57 Eigenheime und 149 Wohnungen erstellen, respektive finanzieren konnte, war sie bereits 1927 zahlungsunfähig. Eine Angliederung der Gesellschaft an die Deutsche Evangelische Heimstättengesellschaft (Devaheim) verhinderte zwar vorübergehend eine Insolvenz, führte 1931 jedoch zum Konkurs beider Gesellschaften. In diesem Zusammenhang wurden Stuhrmann erneut Vorwürfe schlechter Geschäftsführung und Unterschlagung gemacht, die jedoch nicht bewiesen werden konnten. Stuhrmann trat im März 1931 als Direktor des DEVB zurück, blieb aber noch jahrelang geschäftsführend im Amt.488 Für Vietor war der Rücktritt außerordentlich schmerzhaft. Seit seinem weitgehenden Rückzug aus dem öffentlichen Leben nach dem Krieg, hatte er seine ganze gesellschaftsgestalterische Hoffnung und Kraft auf die Arbeit des DEVB gesetzt. „Ich darf wohl sagen, dass ich jetzt, wo ich mich vom öffentlichen Leben mehr zurückgezogen habe, meine einzige Lebensaufgabe noch darin sehe, die evangelischen Christen Deutschlands zu einer machtvollen Gruppe zusammenzuschließen, um im öffentlichen Leben unsere christliche Anschauung mehr vertreten zu können.“489

Sein Ziel war es gewesen, den Vorsitz einmal an seinen Sohn Claus abzugeben und ihm in Form des DEVB eine schlagkräftige Organisation zu übergeben mit einer Reihe von Zeitungen, über die er die öffentliche Meinung mitprägen könne.490 Auch eine kleine Gruppe konnte viel leisten auf diesem Gebiet, das zeigte ihm das Beispiel der Juden, „die sehr wenig verhältnissmässig in Erscheinung treten und die doch in Wirklichkeit in Deutschland den grössten Einfluss haben.“ Er hatte immer bedauert, daß er das freie Reden nie gelernt habe und somit darauf beschränkt blieb als Kaufmann Geld zu verdienen anstatt selbst agitatorisch tätig werden zu können. Klar aber war für ihn immer gewesen, daß sein Beruf als Kaufmann einem höheren Ziel zu dienen habe. Seinem Sohn machte er klar, daß Geldverdienen nie zum Selbstzweck verkommen dürfte oder zur Anhäufung von Reichtümern. Das Ziel müsse vielmehr darin bestehen, möglichst viel zu spenden, um auf diese Weise im christlichen Milieu und in Wirtschaftskreisen einen maximalen Einfluß zu bekommen.491 Für Vietor war es mit einer solchen Stellung nun vorbei und es begann der 487 Er wollte damit die „öffentliche Mission“ und die „Innere Mission“ miteinander verbinden, vgl. Siekmann, 2006 (wie Anm. 165), S. 174. 488 Siekmann, 2006 (wie Anm. 165), S. 174f. 489 J. K. Vietor an Carola, Prinzessin zu Lippe, Äbtissin zu St. Marien vom 17.10.1922, StAB, 7,73-9. 490 Diesen Wunsch hatte er seinem Sohn Claus bereits 1924 diskret mitgeteilt und ihn gebeten, über eine spätere Übernahme des Vorsitzes nachzudenken: „Dadurch würdest du gleich eine ganz kolossale Stellung in Deutschland bekommen. Dir stünden massenhaft Zeitungen und alles Mögliche zu Gebote, und du würdest unser Volk in einer Weise im Grossen beeinflussen können, wie es für dasselbe das einzig gesegnete ist“, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 28.8.1924, StAB, 7,73-10. 491 Diese Sicht zieht sich bei Vietor über Jahrzehnte durch. Nach seinem Eintritt in die CSP und dem abgeschlossenen Reichstagswahlkampf 1907 erläuterte er seiner Frau: „Im Übrigen bin ich nun einmal so, daß mir die Umänderung des deutschen Volkes als die einzige Möglichkeit

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Rückblick und die Bewertung seines bisherigen Lebens unter dem Gesichtspunkt dieses höheren Zieles. „Damit hört dann meine öffentliche Arbeit immer mehr auf, und ich überlege mir oft, ob ich diese auch wohl in der richtigen Weise geleistet habe.“492

erscheint, es vor dem Untergang zu bewahren und ich glaube allmählich auch, daß ein einzelner Mann da sehr viel tun kann und soweit meine Kraft reicht, muß ich dafür arbeiten und geben.“ Zeitweise hatte er gehofft, für dieses Ziel mehr Freiräume nehmen zu können, indem er seinen Geschäftspartnern die Firmenführung mehr überließe, was sich aber als nicht umsetzbar herausstellte: „Ich habe wirklich geglaubt, daß Lohmann und Freese ihren Kram selbständig machen könnten und habe mich darin getäuscht. Das ist nun aber anders und ich behalte die Zügel straff in der Hand.“ Im Kontrast zu seiner sonst eher distanzierten Einstellung zur Katholischen „Konkurrenz“ war ihm damals auch klar geworden, „daß wir ohne die Katholiken unser protestantisches Volk überhaupt nicht in Ordnung bringen können.“ Diese Erkenntnis war allerdings zu Hause bei seiner Frau kaum vermittelbar, J. K. Vietor (Berlin) an Hedwig Vietor vom 17.9.1907, VPAH, Konv. 1, Teil 6. Auch sein Engagement im Vorstand der Inneren Mission, in den er bald nach seiner Geschäftsgründung in Bremen berufen wurde, sah er unter dem Gesichtspunkt der Höheren Aufgabe, der sein wirtschaftliches Handeln zu dienen habe. Seine Hauptaufgabe im Vorstand sah er als Kaufmann darin, so „viel Geld für die Innere Mission zusammen zu sammeln“ wie möglich, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 49), VPAH, 5. Erinnerungen, S. 4. 492 J. K. Vietor an Claus Vietor vom 22.12.1925, StAB, 7,73-25, S. 4f.

6 WELTKRIEG UND UNTERNEHMERISCHER ÜBERLEBENSKAMPF KRIEG UND UNTERNEHMERISCHE IMPROVISATIONEN Der Ausbruch des 1.Weltkrieges stellte für die deutschen Kolonialunternehmer einen existenzbedrohenden Einschnitt dar. Zunächst hoffte man noch auf die Neutralisierung zumindest der Gebiete, die im Vertragsgebiet der Kongoakte lagen. Das betraf, einschließlich Neukameruns, etwa ein Drittel des Gebietes von Kamerun und ganz Deutsch-Ostafrika. Togo und Südwestafrika gehörten nicht zum Vertragsgebiet.1 Nachdem Belgien am 7.8.1914 Frankreich und England die Einhaltung der Neutralität im Kongobecken vorgeschlagen hatte, signalisierte Frankreich am 9.8.1914 entsprechende Bereitschaft, von England kam jedoch keine Antwort. Am 16.8.1914 erklärte sich der zuständige französische Diplomat im Außenministerium, Pierre de Margerie, angesichts der nach wie vor ausstehenden Antwort Englands bereits zurückhaltender und vertrat nun den Standpunkt, man müsse Deutschland treffen, wo es ginge.2 Zumindest müsse Frankreich die 1911 abgetretenen Gebiete zurückerhalten. Mit ähnlichen Kompensationsforderungen rechnete er auch im Falle Englands. Am 17.8.1914 erhielt der belgische Botschafter in London, Graf Lalaing, die Antwort Englands, die mit der Begründung negativ ausfiel, in Ostafrika sei es bereits zu ersten Kampfhandlungen zwischen Deutschland und England gekommen.3 Mit der ablehnenden Haltung Englands war auch für 1

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Die Kongoakte von 1885 bestimmte für den Fall der Neutralitätserklärung einer Signatarmacht auch die Neutralitätspflicht der anderen Staaten, vorausgesetzt, daß sich die neutral erklärende Macht ihren Neutralitätspflichten nachkam (Art. 10). Nach Art. 11 bezog sich diese Bestimmung allerdings nicht auf den casus belli zwischen zwei Signatarmächten, vielmehr wurden die nicht Krieg führenden Signatarmächte aufgefordert, die Bestrebungen nach Neutralität für ihre im Kongobecken liegenden Gebiete der kriegführenden Signatarmacht zu unterstützen. Erst Art. 12 geht auf Spannungen zwischen Signatarmächten ein und schreibt für den Fall von „ernsten Meinungsverschiedenheiten“ zwischen ihnen in Bezug auf das Vertragsgebiet vor, vor Aufnahme von Feindseligkeiten die Einschaltung einer Schlichtung durch einen oder mehrere befreundete Staaten zu suchen, vgl. SBR, 6. Leg. per., 1. Sess., Anlage 290, S. 1666f. Naumann bewertete die Stellungnahme Frankreichs am 16.8.1914 bereits als definitive Absage an die Neutralitätsinitiative Belgiens. Auch er ging von einer Neutralitätspflicht im Kongobekken aus, vgl. Naumann, Friedrich: Das Schicksal der Naturvölker im Zivilisationskrieg. Vortrag gehalten am 16. September 1918 im Abgeordnetenhaus, in: Koloniale Rundschau 9/10 (1918), S. 320–328, 322. Zadow, Fritz: Koloniale Revision, Leipzig2 1942, S. 115f. Zadow betont, daß die Kampfhandlungen mit der Beschießung Daressalams durch England begonnen hätten. Erst danach sei es zu Gegenmaßnahmen der Deutsch-Ostafrikanischen Verwaltung gekommen, vgl. auch Stoekker, Helmuth: Der erste Weltkrieg, in: ders., 1977: Drang nach Afrika, S. 221–242, 221. Stoekker weist daraufhin, daß die Generalstäbe nach der 2. Marokkokrise nicht mehr mit einer Neutralität des Kongobeckens im Falle eines europäischen Krieges rechneten.

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Frankreich und Belgien eine Neutralität keine Option mehr. Daran änderte auch der deutsche Versuch nichts, gemäß Artikel 12 der Kongoakte, die USA als Schlichter einzuschalten.4 Wenn zu Beginn des Krieges zumindest für das Kongobecken mit einer gewissen Berechtigung auf eine Neutralität gehofft werden konnte, entbehrte eine entsprechende Erwartung für die restlichen deutschen Schutzgebiete jeder Grundlage. Das Telegramm Wilhelm Solfs an die deutschen Schutzgebiete vom 2.8.1914 mit der Mitteilung, die Kolonien seien außer Gefahr, bleibt daher unverständlich,5 wenngleich zu berücksichtigen ist, daß England zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Krieg eingetreten war. Die Ankündigung drohender Kriegsgefahr wäre für die Kolonien in jedem Fall angemessener gewesen, insbesondere im Falle des kleinen und relativ schutzlosen Togos. Die Gefahr des Überspringes der europäischen Kriegshandlungen auf die Kolonien veranlaßte den amtierenden Gouverneur von Togo, von Doering, bereits drei Tage später, am 5.8.1914, zu einem Neutralitätsangebot an die Gouverneure der Goldküste und Dahomeys. Dabei berief er sich auf die Neutralitätsregelung der Kongoakte und erwartete deren Anwendung auch für Togo.6 Auch der Verein der Togokaufleute ging offensichtlich davon aus, daß die Regelungen der Kongoakte für alle Gebiete Afrikas galt und zeigte sich entsprechend enttäuscht, daß sie in Togo nicht eingehalten wurde,7 ebenso wie Vietor.8 Der Verband der Togo- und Kamerunpflanzungen sprach dagegen nicht von einer Verletzung der Kongoakte, sah das Übergreifen des Krieges auf die Kolonien aber weder durch das Kriegsinteresse als geboten an noch als sittlich und rechtlich zu rechtfertigen. Der Verband befürchtete, daß eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen weißen Kolonialherren das Ansehen der Kolonialmächte bei der schwarzen Bevölkerung „vernichten“ und in Unabhängigkeitsbestrebungen umschlagen würde.9 Eine durchaus zutreffende Vermutung, setzte die Erfahrung des europäischen Krieges bei den Kolonialvölkern doch ohne Frage einen starken

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Mit Schreiben vom 23.8.1914 wandte sich Unterstaatssekretär Zimmermann an die USA, beschwerte sich über die englische Beschießung Daressalams und bat um diplomatische Schritte, die anderen Mächte zur Neutralität in der Freihandelszone zu bewegen, Zadow, 1942 (wie Anm. 3), S. 118f. Der amerikanische Botschafter in Paris reichte den Antrag Deutschlands jedoch erst am 23.9.1914 beim französischen Außenministerium ein. Das belgische Außenministerium erhielt die deutsche Anfrage erst am 25.9.1914. Dort konnte man sich den langen Zeitraum zwischen Einreichung der deutschen Bitte an die USA und Empfang derselben in Belgien nicht erklären. Inzwischen waren die Feindseligkeiten weiter fortgeschritten und an eine Neutralisierung des Gebietes war nicht mehr zu denken, ebd. S. 120f. Zadow, 1942 (wie Anm. 3), S. 115. Sebald, Peter, 1988: Togo, S. 590. Am 4.8.1914 erreichte die Bremer Firmenzentrale ein Telegramm aus Togo, das vor einem möglichen Angriff aus Dahomey warnte und auf eine mögliche Einberufung der weißen Angestellten hinwies, Tagebuch der Firma Vietor bei Kriegsausbruch 1914, VPAH, Konv. 2, Eintrag 4.8.1914. 2. Jahresbericht des Vereins der Togokaufleute für das Jahr 1914, BAB, R 1001-3417, Bl. 105. Vietor, J. K.: England und die deutsche Kolonialmission, in: Kreuz und Kraft 3 (1915). Für Vietor war der Kolonialkrieg in ganz Afrika, nicht nur in Mittelafrika, ein Verstoß gegen die Kongoakte, ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Tätigkeits-Übersicht des Verbandes der Kamerun- und Togopflanzungen Togopflanzungen für das siebente Berichtsjahr 1914, BAB, R 1001-3417, Bl. 111, S. 3.

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emanzipatorischen Schub frei.10 Diese Gefahr sahen auch die Professoren und führenden Mitarbeiter deutscher Missionsorganisationen in ihrem Aufruf an die evangelischen Christen im Ausland vom 4.9.1914 voraus. Sie verurteilten die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den kriegerischen Auseinandersetzungen in den Kolonien, weil sie die „furchtbare Gefahr des Eingeborenenaufstandes“ heraufbeschworen.11 Nach Ablehnung von Doerings Neutralitätsangebot am 6.8.1914 und nach Ablauf des britischen Ultimatums zur kampflosen Übergabe Togos am 7.8.1914, befahl der englische Captain Barker noch am gleichen Tag die Besetzung Lomes.12 Nachdem die Franzosen am 8.8.1914 ihre Kooperation für eine gemeinsame Operation mit den Engländern angeboten hatten, schalteten sich Einheiten aus Dahomey in die Besetzung der von den Deutschen geräumten Gebiete im Süden ein, was bereits am 25.8.1914 zur Kapitulation der deutschen Seite führte.13 Doerings Kapitulationsbedingung, daß in jeder europäischen Firma je ein Europäer zu belassen wäre „zur Wahrung ihrer Privatinteressen“, wurde zwar nicht akzeptiert, aber eine gute Behandlung der Europäer und die Respektierung privaten Eigentums unverbindlich zugesagt.14 Nachdem in Dahomey bereits kurz nach Kriegsausbruch alle deutschen Faktoreien geschlossen worden waren,15 riß der Kabelkontakt mit An10

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Frieder Ludwig etwa weist daraufhin, daß die Zugeständnisse Englands an Indien während des Krieges in Bezug auf eine zukünftige Selbstverwaltung in Nigeria mit großem Interesse verfolgt und als „epochemachend“ interpretiert wurden. Man hielt die Bedingungen zur Übertragung politischer Freiheiten für die afrikanischen Gebiete im Vergleich zu Indien sogar für deutlich besser, da Nigeria weder von religiösen Antagonismen noch von sozialen Gegensätzen wie dem Kastenwesen geprägt sei, vgl. Ludwig, Frieder: Der Erste Weltkrieg als Einschnitt in die Kirchen- und Missionsgeschichte (Berliner Beiträge zur Missionsgeschichte; 4), Berlin 2003, S. 21. Ludwig, 2003 (wie Anm. 10), S. 10. Zu den Unterzeichnern gehörten die Professoren Harnack, Meinhof, Mirbt und Richter, die Missionsdirektoren Axenfeld (Berlin), Bodelschwingh (Bethel) und Hennig (Herrnhut) sowie der Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe A. W. Schreiber. Schreiber war 1914 zum Direktor der am 6.12.1913 „im Herrenhause zu Berlin unter dem Protektorat Seiner Majestät des Kaisers“ gegründeten Deutschen Evangelischen Missionshilfe berufen worden, vgl. Jahrbuch der Hamburgischen Wissenschaftlichen Anstalten. 1913 (31.Jg.), Hamburg 1914, S. 9; Pabst, 1988: Mission, S. 152. Das Firmenbuch Vietors berichtet, Deutsche Zeitungen hätten bereits am 7.8.1914 die Besetzung Togos durch England gemeldet und dabei ausdrücklich die Ankündigung Englands unterstrichen, privates Eigentum zu respektieren und Zivilpersonen zu schützen, vgl. Tagebuch Firma Vietor bei Kriegsausbruch 1914, VPAH, Konv. 2, Eintrag 7.8.1914. Die Besetzung von Lome erfolgte am 12.8.1914. Vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 6), S. 595–604. Ab dem 8.8.1914 besetzten französische Einheiten aus Dahomey Anecho, Porto Seguro und Togoville, vgl. Coquery-Vidrovitch, Catherine/ Edwards, Elisabeth/Roberts Andrew: French Black Africa, in: Roberts A. D. (Hg.): The Cambridge History of Africa, Volume 7: From 1905 to 1940, Cambridge 1986, S. 329–398, 351. Vgl. Sebald, 1988 (wie Anm. 6), S. 604. Tagebuch der Firma Vietor bei Kriegsausbruch 1914, VPAH, Konv. 2, Eintrag 4.8.1914. Von einer kompletten Liquidation des Firmenbesitzes Vietors in Dahomey konnte man 1915 offensichtlich noch nicht sprechen. Aufgrund einer Mitteilung von Vietors Mitarbeiter Zimmering konnte Karl Rieke vermelden, daß in Dahomey nur die Waren und die Verkaufsläden liquidiert worden waren, nicht aber die Stores und das Inventar,

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echo am 5.8.1914 ab.16 Die sich noch hier befindlichen deutschen Zivilisten wurden nach Einmarsch der französischen Einheiten nach Lagos verbracht, wie auch viele der Deutschen aus Dahomey und Kamerun, um im Oktober nach England weitertransportiert zu werden.17 Während die deutschen Faktoreien im französisch besetzten Teil Togos umgehend liquidiert wurden,18 konnten die Niederlassungen in dem von den Engländern besetzten Teil Togos zunächst noch weiter arbeiten, auch wenn die Bremer Faktorei in Lome wegen des Widerstandes der einheimischen Mitarbeiter geplündert wurde.19 Die deutschen Mitarbeiter Vietors in Conakry/ Franz.Guinea wurden von der französischen Verwaltung sofort ins Gefängnis gebracht und blieben dort unter schlechten Bedingungen vom 6.-27.8.1914. Vietors Geschäftspartner in Liberia, Oskar Huber, wurde vom Kriegsausbruch in Monrovia überrascht, seine Niederlassung aber nicht geplündert, da Liberia bis 1917 neutral blieb.20 Anders sah es in Kamerun aus. Dort wurden die Faktoreien und auch die Wohnhäuser von Vietor & Freese in Bellstadt von Engländern aufgebrochen und

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K. Rieke (Las Palmas) an J. K. Vietor vom 1.6.1915, StAB, 7,2001-3. Einheimische Mitarbeiter der deutschen Firmen führten die Geschäfte weiter, allerdings wurden sie zunehmend verdächtigt, mit den Deutschen zu kollaborieren. Das Haus von Herrn d’Almeida in Cotonou wurde deshalb am 15.3.1915 durchsucht, Jakob Lawson (Porto Novo) an Karl Rieke vom 13.4.1915, StAB, 7,2001-3. Tagebuch der Firma Vietor bei Kriegsausbruch 1914, VPAH, Konv. 2, Eintrag 6.8.1914. Ebd., Eintrag 28.9.1914; Niederschrift nach einem Berichtes von Frau Schulz [Nov./Dez. 1914], VPAH, Konv. 2. Frau Schulz gehörte zu der Gruppe der internierten Deutschen aus Dahomey. Teilweise wurden die Deutschen aus Kamerun auch nach Cotonou/Dahomey gebracht, ebd. Vietors Partner, Otto Lohmann, wurde vom Kriegsausbruch in Dahomey überrascht und wurde ebenfalls interniert und nach Lagos gebracht. Nicht alle Deutschen, die in Dahomey interniert wurden, gelangten über Lagos nach England. Verbliebene deutsche Zivilgefangene in Dahomey wurden im Sommer 1915 nach Bedeau in Algerien gebracht, deutsche Kriegsgefangene nach Casablanca in Marokko, RKolA an von Schiller vom 21.8.1915, TCS, BAB, R 1001-3640-6, Bl. 9. Sebald, 1988 (wie Anm. 6), S. 608. Der Verein der Togokaufleute ging 1916 allerdings nicht von einer Liquidation aus. Er wies darauf hin hin, daß im französisch besetzten Teil Togos schwarze Angestellte das Geschäft fortführten. Da keine Gewinne aus diesem Geschäftsbetrieb nach Deutschland fließen konnten und die Geschäfte tatsächlich nach dem Krieg nicht wieder in deutsche Hände gelangten, kann zumindest von einer faktischen Liquidation bereits zu Beginn der Krieges gesprochen werden, vgl. Jahresbericht des Vereins der Togokaufleute für das Jahr 1915 vom 7.4.1916, BAB, R 1001-3417, Bl. 118–123, 119. „Auszug aus einem Brief aus Las Palmas vom 10.September 1914“, VPAH, Konv. 2, S. 1. Unter den deutschen Gefangenen, die nach Accra gebracht wurden, befand sich offensichtlich auch Vietors Neffe, Fritz Vietor. Vietor will später von Missionaren erfahren haben, daß seine schwarzen Mitarbeiter in Anecho nach der Gefangennahme der weißen Angestellten die Plünderung der Faktorei mit Waffengewalt verhindert hätten. Über die Situation in Lome hatte er gehört, daß eine seiner christlichen schwarzen Mitarbeiterinnen, nach Gefangennahme der weißen Angestellten die anderen schwarzen Mitarbeiter aufgefordert hätte, sich jetzt die größte Mühe zu geben, um der Firma Vietor später das Besitztum „in tadellosester Weise zurückzugeben“, vgl. Vietor, 1915 (wie Anm. 8). Vietor gibt in dem Bericht irrtümlich an, Engländer hätten Anecho besetzt. Die Besetzung Togos von Osten her, erfolgte jedoch von Dahomey aus. „Auszug aus einem Brief aus Las Palmas vom 10. September 1914“, VPAH, Konv. 2, S. 2. Eine Kopie des Briefes findet sich auch in StAB, 7,2001-38.

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geplündert.21 Damit war fast das gesamte Westafrikageschäft Vietors bereits kurz nach Kriegsausbruch lahmgelegt und das hier festgelegte Kapital in Waren, Gebäuden, Grundstücken, Inventar und Bargeld, das sich allein für die Firma J. K. Vietor in Togo auf einen Wert von 441.192,31 Mark belief, blockiert.22 Hinzu kam ein Kapitalverlust von mehreren hunderttausend Mark infolge Versenkung oder Beschlagnahmung verschiedener Schiffe, die bei Kriegsausbruch Waren von Vietorfirmen transportierten.23 Angesichts dieser erheblichen Einbrüche regte Vietor bereits am 21.8.1914 eine Entschädigungslösung an und beklagte die Bindung von 600.000,- Mark, die er allein in französischen Kolonien investiert habe und die durch deren Schließung für den deutschen Handel nun unverfügbar seien.24 Die Situation wurde dadurch etwas abgemildert, daß der englische Gouverneur der Goldküste, Clifford, die Fortführung des Betriebes der deutschen Handelshäuser in dem von Engländern besetzten Teil Togos zunächst weiter gestattete. Die Bremer Faktorei konnte selbst im englischen Keta noch bis Anfang 1915 weiterarbeiten, dann griff auch hier die Vorschrift, daß alle Unternehmen, die zu mehr als 25 % im Besitz von Deutschen waren, liquidiert werden sollten.25 Vorher jedoch bekam der 21 22 23

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Missionsgesellschaft der Deutschen Baptisten an J. K. Vietor vom 16.1.1915, VPAH, Konv. 2, S. 1f. Tagebuch der Firma Vietor bei Kriegsausbruch 1914, VPAH, Konv. 2, Eintrag 28.9.1914. Allein für die Firma J. K. Vietor veranschlagte Vietor seine Forderungen an Versicherungen infolge des Verlustes von Schiffsladungen bei Kriegsausbruch auf 102.275,- Mark, Aufstellung der Forderung an die Assekuranz vom 13.12.1915, StAB, 7,2001-28. Ende September 1914 war er noch von einer Summe von 108.730,- Mark ausgegangen, wobei sich die verlorengegangen Waren auf deutsche (91.070,- Mark) und französische (17.660,- Mark) Schiffe verteilten, Tagebuch der Firma Vietor bei Kriegsausbruch 1914, VPAH, Konv. 2, Eintrag 28.9.1914 . Für die Firma F. M. Vietor Söhne berechnete er eine entsprechende Forderung von 107.730,- Mark, Forderungen an die Assekuranz o. D., StAB, 7,2001-28. Nach dem Krieg veranschlagte er für die Firma Vietor & Lohmann eine Versicherungssumme für „schwimmende Ladungen“ von 191.847,- Mark, die sich auf insgesamt 28 verschiedene Dampfer verteilten, Aufstellungen über unsere schwimmenden Ladungen o. D., ebd. J. K. Vietor an Behrens vom 21.8.1914, BAB, N 2203/31, Bl. 293. Neben Behrens bat Vietor zeitgleich auch Mumm, sich um seine Verluste im Parlament zu kümmern und eine Entschädigungslösung anzustoßen, was Mumm ihm auch zusagte, Mumm an J. K. Vietor vom 25.8.1914, BAB, N 2203/31, Bl. 287. Einige Niederlassungen und Grundstücke Vietors in der Goldküste wurden am 1.2.1918 endgültig verkauft, bis dahin war über die zukünftige Behandlung deutscher Firmen in der Goldküste offensichtlich noch nicht entschieden. Aufgrund des Zusatzvertrages zu Art. 8 des Friedensvertrages mit der Ukraine vom 9.2.1918 hoffte Vietor jedoch, bald nach Kriegsende sein Afrikageschäft wieder aufnehmen zu können. Der Zusatzvertrag zu Art. 8, der gleichzeitig mit dem Friedensvertrag in Kraft trat, sagte den „Ersatz für Zivilschäden, die durch Kriegsgesetze oder völkerrechtswidrige Akte angerichtet worden sind“ ausdrücklich zu, vgl. Continental-Telegraphen-Compagnie Wolff’s Telegraphisches Büro: Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff’schen Telegr.-Bureaus. 1. August 1917 – 31. Mai 1918 (Bd. 7), Berlin [1919], S. 2607. Vietor hoffte demnach auf einen ähnlichen Passus in einem späteren Friedensvertrag mit den Westmächten, vgl. J. K. Vietor an Binhammer vom 12.2.1918, StAB, 7,73-46, Bl. 335. Am 1.2.1918 waren drei Grundstücke der Bremer Faktorei in der Goldküste verkauft worden, darunter das in Keta und in Danoe. Außerdem wurde am 1.2.1918 ein Grundstück der Firma Henry Dietrich & Co. verkauft sowie der Grundbesitz der Firma Augener & Mau in Accra versteigert, J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 26.2.1918, StAB, 7,73-46, Bl.

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frühere deutsche Faktoreiverantwortliche Scheidig die Möglichkeit, die Warenbestände zu verkaufen. Dafür wurde er für einen Tag aus der Kriegsgefangenschaft in Accra entlassen, eine so kurz bemessene Zeit, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als den dortigen Warenbestand im Wert von 181.000,- Mark mehr oder weniger an die Meistbietenden zu verramschen.26 Im britisch besetzten Teil Togos, wozu auch Lome und Palime gehörten, konnte das Geschäft noch bis Anfang 1916 weitergeführt werden, wenn auch bei stetig sinkenden Umsätzen, da es keinen Warennachschub aus Europa mehr gab.27 Mit Anordnung aus London vom 17.1.1916 und 6.3.1916 mussten alle deutschen Unternehmen bis 31.3.1916 ihren Betrieb einstellen, anschließend wurden sie liquidiert.28 Die Bremer Faktoreien in Lome und Pa-

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358–361. Möglicherweise stand der Verkauf von Vietors Niederlassungen in der Goldküste im Zusammenhang mit der Ausweisungspolitik Englands gegenüber den bislang geduldeten Deutschen und Schweizern in der Goldküste, die zur Basler Mission und zur Basler Missionshandlungsgesellschaft gehörten. Nachdem bereits seit 1916 Planungen liefen, die Arbeit der Basler Mission in die Hände von schottischen Presbyterianern aus Nigeria zu legen, kam es Ende 1917 zur Internierung aller deutschen Missionare der Basler Mission und im Februar 1918 zur Ausweisung der Schweizer Missionare, Schweizer, Peter A.: Mission an der Goldküste. Geschichte und Fotografie der Basler Mission im kolonialen Ghana, Basel 2002, S. 95f. J. K. Vietor an Geschwister und Verwandte vom 10.2.1915, VPAH, Konv. 5, Mappe 6, S. 1. Die Angabe des hier genannten Warenwertes beruhte auf der Inventur vom 31.12.1914. In seinen Erinnerungen gibt Vietor später an, nach Ausbruch des Krieges Warenbestände im Wert von mehreren hunderttausend Mark an die Basler Handelsgesellschaft verkauft zu haben. Woher die Waren kamen, sagt er allerdings nicht, möglicherweise stammten sie auch aus den Faktoreien im britisch besetzten Teil Togos, sodaß das Geschäft erst in die Zeit Anfang 1916 fiel. Die Auszahlung durch die Basler geschah jedenfalls in Raten, was wegen der stark fallenden Wechselkurse dazu führte, daß der anfangs taxierte Preis für Vietor immer mehr zusammenschmolz, vgl. Vietor, J. K.: Bericht von J. K. Vietor, unv. Erinnerungen [1905/1930], VPAH, Forts., S. 60. Das Geschäft in Lome wurde von Vietors Neffen Fritz Vietor weitergeführt. Eine Aufstellung der sich am 4.8.1915 noch in Lome befindlichen Deutschen nennt ihn, seine Frau Auguste, ihr Kind und Herrn Zimmering als Angehörige der Firma Vietor, vgl. TCS, BAB, R 1001-3940-6, Bl. 166. Nach Kriegsausbruch war Fritz Vietor nach Mitteilung von Frau Lucie von Rothkirch und Panthen wegen Spionageverdacht zunächst eingesperrt worden, war aber nicht, wie die deutsche Familie Lippe, wegen diesem Verdacht ausgewiesen worden. Frau von Rothkirch war die Ehefrau des Zollaufsehers von Lome und wohnte seit 1.3.1914 dort. Am 4.12.1914 reiste sie von Lome über Las Palmas nach Spanien aus, ebd., Bl. 217ff. Sebald, 1988 (wie Anm. 6), S. 614; vgl. auch Müller, Hartmut, 1973: Bremen und Westafrika, S. 135. Nach Angaben des Vereins der Togokaufleute deutete sich die Liquidation deutscher Handelshäuser bereits Ende 1915 an. Nachdem bereits Anfang November 1915 die Niederlassungen einer deutschen Firma ohne Angabe von Gründen geschlossen worden war und die beiden deutschen Angestellten in englische Kriegsgefangenschaft kamen, wurde Ende Dezember 1915 eine zweite deutsche Firma geschlossen, vgl. Jahresbericht des Vereins der Togokaufleute für das Jahr 1915 vom 7.4.1916, BAB, R 1001-3417, Bl. 120. Nach der bereits am 10.2.1916 erfolgten Lageraufnahme in Lome und Palime wurden die Vietor-Faktoreien und die dazugehörigen Dokumente am 16.3.1916 den englischen Behörden übergeben, StAB, 7,200113. Die Immobilienliste (Mappe 1) wies den bislang noch in Vietors Eigentum resp. Besitz befindlichen Grundbesitz nach: Neue Faktorei in Lome in Hamburger Strasse (Eigentum); Bagida: Gundstück (Eigentum); Danoe Faktorei (1899): Eigentum; Grundstück in Kpando; Avegame: Grundstück; Kpando: Grundstück; Palime: Grundstück; Grundstück Tsevie; Grundstück Dodo; Grundstück Noepe; Lome: Marktstand. Hinzu kam ein Grundstück und ein Laden in Gbikpi (Mappe 2). In Mappe XZ wurden Landverträge und Kontrakte mit Häuptlingen

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lime hatten die Aufforderung zur Schließung des Geschäftes am 29.1.1916 erhalten sowie die Mitteilung, daß ein Ausverkauf der Warenbestände zwischen dem 2. und 10.2.1916 noch möglich sei. Auch hier kam es angesichts der knapp bemessenen Zeit zu Preisnachlässen von 40–50 %. Fritz Vietor, der sich zu diesem Zeitpunkt in Palime aufhielt, wurde dort mit seinen Leuten am 7.2.1916 verhaftet.29 Nach der Abschlussbilanz der beiden Faktoreien verlor Vietor mit der Liquidation einen Gegenwert von mehreren hunderttausend Mark.30 Die Schließung der Bremer Faktoreien hatte auch Auswirkungen auf die Missionsarbeit der NMG. Zwar hatte die Firma vor der Liquidierung mit der englischen Besatzungsmacht vereinbart, daß von dem Firmenguthaben nach der Schließung weiterhin regelmäßig Geld an die Mission ausbezahlt werden sollte, das Vietor dann in Bremen von der Mission wieder erstattet wurde, aber die Zahlungen hörten bereits auf, als erst ein Drittel der berechneten Gesamtsumme ausbezahlt worden war.31

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zwischen 1891 und 1902 übergeben: Nr. 1: 2.12.1899: Agreement with Amussu Bruce in Kpandu for land … in Lome; Nr. 3: 18.12.1902: Sale contract of land in Palime (by Chief Gidde-Gidde); Nr. 5: 30.6.1902: Sale contract of land in Kpandu (by Chief Dagadu, Aligida & Kofi); Nr. 7: 10.7.1898: Land statement in Keteschenke; Nr. 24: 4.4.1891: Chief Dagadu, Kpandu land contract; Nr.25: 17.8.1897: Sketch & measurement of land in Kpandu; Nr. 26: 30.9.1895: Statement with Chief Gidde Gidde for land in Palime; Nr. 27a: 30.9.1895: letter from Government about a land in Palime. F. N. Vietor (Palime) an J. K. Vietor vom 12.2.1916, TCS, BAB, R 1001-3420-6, Bl. 235. Die Nachricht von der Schließung der Faktorei in Lome war bereits Anfang Februar 1916 per Kabel über Rotterdam in Bremen eingetroffen und wurde dem RKolA am 8.2.1916 mitgeteilt, ebd. Bl. 159. Die Lageraufnahme der Bremer Faktorei in Palime wies allein für Grundstücks- und Immobilienbesitz einen Buchwert von 231.000,- Mark aus. Da die Faktorei in Lome einen dreimal so hohen Umsatz machte, dürfte ihr Grundstücks- und Gebäudewert weit darüber gelegen haben. Genaue Zahlen werden nicht angegeben. Gegenüber dem Haupthaus in Bremen bestanden Verbindlichkeiten in Höhe von 287.957,84 Mark (Lome) und 82.546,95 Mark (Palime), was als Verlust für Vietor anzusehen ist. Der Verlust von 160.000,- Mark Bargeld dürfte ein Teil des Gegenwertes dieser Verbindlichkeiten gewesen sein und Verkaufserlöse darstellen, die kriegsbedingt noch nicht abgeführt werden konnten. Für Lome wurde der Wert des Restwarenbestands mit 23.902,93 Mark, in Palime mit 21.718,25 Mark angegeben. Die Warenbestände sind ebenfalls als Gegenwert der Verbindlichkeiten gegenüber den Haupthaus anzusehen, vgl. Lageraufnahme der Bremer Factorei Lome vom 15.5.1916, StAB, 7,73-46, Bl. 199; Lageraufnahme der Bremer Factorei Palime vom 1.5.1916, ebd., Bl. 202; J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 27.4.1917, ebd., Bl. 124. J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 26.2.1918, StAB, 7,73-46, Bl. 358. Die Absprache mit der englischen Verwaltung sah vor, daß der NMG monatlich ein Betrag von 5.000,Mark ausbezahlt werden sollte, damit sie ihren Betrieb aufrecht erhalten konnte. Laut Bestandsaufnahme bei der Liquidation fanden sich in der Firma £ 3991.19.2, die dafür verwendet werden sollten. Nachdem jedoch erst £ 1.300 ausbezahlt worden waren, teilte die englische Verwaltung mit, die Finanzen wären aufgebraucht. Nach Mitteilung einer Unterabteilung im Reichskolonialamt flossen die Liquidationserlöse in die Kassen der englischen Verwaltung, die davon auch die Liquidationskosten bestritt, was möglicherweise zum schnellen Versiegen der Mittel beitrug, vgl. Vorschläge zur Eingabe [des Verein der Togokaufleute, Verband der Kamerun- und Togopflanzungen, Verein der Nord- und Mittelkamerun-Kaufleute, Verband Kameruner Tabakpflanzungen an Solf] vom 15.5.1916, BAB, R 1001-7061, Bl. 11.

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Im Gegensatz zu Togo, Dahomey, der Goldküste und Kamerun blieben die alten Besitzverhältnisse in Südwestafrika dauerhaft erhalten und die deutschen Handelsgeschäfte konnten fortgeführt werden.32 Der deutsche Vertreter der Firma Vietor in Südwestafrika berichtete während des Krieges von gut gehenden Geschäften. Der Nachrichtenaustausch war jedoch gestört und Gewinnanteile dürften kaum nach Deutschland gelangt sein.33 Auch der Handel mit Liberia lief bis 1917 weiter, wenn auch mit geringen Umsätzen. Hans Weber, der Vertreter der Firma Vietor & Lohmann in Conakry, konnte bei Kriegsausbruch einer Internierung durch Flucht nach Las Palmas entkommen und von dort auf das spanische Festland reisen, wo er in Barcelona in das Geschäft des deutschstämmigen Kaufmanns Federico Grosch eintrat. Über spanische Schiffe konnte er dadurch den Handel mit Liberia wieder aufnehmen, wenn auch nur in geringem Umfang, da jeweils nur im Abstand von einigen Monaten Schiffsladungen versandt werden konnten.34 Wegen Abbruch der diplomatischen Beziehungen und der nachfolgenden Kriegserklärung Liberias an Deutschland am 20.5.1917, respektive 4.8.1917 mussten alle Deutschen das Land verlassen. Bis Ende 1917 konnte das Geschäft noch mit einheimischen Kräften

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Rüger, Adolf: Der Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik, in: Stoecker, 1977 (wie Anm. 3), S. 243–279, 256. J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 27.4.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 123. Exakte Geschäftsunterlagen aus Südwestafrika zum 31.12.1916 konnte Vietor nicht bekommen. Von den meisten anderen Handelsplätzen in Übersee hatte er keine Nachricht. Ab 1919 konnte Vietor seinem Mitarbeiter in Südwestafrika, Herrn Meier, wieder Waren senden und dabei gute Gewinne erzielen, wenn auch bei geringem Umsatz, J. K. Vietor an van Nuys vom 25.8.1920, StAB, 7,73-3; J. K. Vietor an Reichsentschädigungsamt für Kriegsschäden vom 7.2.1925, StAB, 7,73-13. Neben Meier arbeiteten auch Herr Maul und Herr Kapellhoff während des Krieges für die Firma Vietor in Lüderitzbucht. 1917 fand Vietor über das internationale Friedensbüro in Bern einen Weg, um mit Meier und Maul zu kommunizieren, vgl. J. K. Vietor an Meier (Lüderitzbucht) vom 15.6.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 192; J. K. Vietor an Maul (Lüderitzbucht) vom 16.6.1917, ebd., Bl. 193. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, Forts., S. 60f., Geschäftliches, S. 49f. Nach dem Bericht eines Mitarbeiters von Vietor in Las Palmas, kam Weber dort am 7.9.1914 an, „Auszug aus einem Brief aus Las Palmas vom 10. September 1914“, VPAH, Konv. 2, S. 2. Weber hatte das Geschäft mit einem Kredit von Vietor in Conakry selbständig begonnen, in Bremen wurde es von Otto Lohmann vertreten. Seinem Bankhaus meldete Vietor noch kurz vor Abbruch der diplomatischen Beziehungen, der Geschäftsbetrieb in Liberia verliefe sehr ruhig, den Mitarbeitern ginge es aber gut, vgl. J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 27.4.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 123. Nach dem Tod von Federico Grosch, Anfang 1917, konnte Weber die Firma übernehmen und Vietor hoffte, von ihm nach Kriegsende Ölprodukte beziehen zu können, J. K. Vietor an Vorstand des Kriegsausschusses für pflanzliche und tierische Öle und Fette vom 17.3.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 70f.

Krieg und unternehmerische Improvisationen

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aufrechterhalten werden,35 dann wurden auch sie interniert und die Niederlassungen liquidiert.36 Durch den überwiegenden Wegfall des Kolonialhandels nach Ausbruch des Krieges war Vietor dringend auf neue Geschäftsfelder angewiesen. Durch eine Finanzhilfe seines Cousins Karl in den USA am Anfang des Krieges blieb er liquide genug, um unternehmerisch tätig zu bleiben und den ständig auf ihm lastenden Schuldendruck abzufedern.37 Zunächst bewarb er sich um die Verwaltung und Vermittlung von Beutegut aus dem Belgienfeldzug, das er in einer angemieteten leerstehenden Mühle lagerte. Überwiegend handelte es sich dabei um Garne und Manufakturen, die nach behördlichen Anweisungen an Inlandsfirmen verschifft wurden.38 Nachdem dieses Geschäft bald auslief, versuchte er mit einem Zigarrenhandel für das Rote Kreuz, Granatendrehen, der amtlichen Verteilung von Stockfischen an die Bremer Bevölkerung und der Zensur von Postsendungen seinen Angestellten Arbeit zu verschaffen und die Firma am Leben zu halten.39 Die wichtigste Kriegs35

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Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, Forts., S. 61. Zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen vgl. Continental-Telegraphen-Compagnie Wolff’s Telegraphisches Büro: Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff’schen Telegr.-Bureaus. 1. Februar 1917 – 31. Juli 1917 (Bd. 6), Berlin [1919], S. 2229. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen wurde mit dem unbeschränkten U-Bootkrieg Deutschlands begründet. Zur Kriegserklärung am 4.8.1917 vgl. Goldstein, Erik: Wars and Peace Treaties, 1816–1991, London2 2005, Appendix A, S. 198; vgl. auch Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 272. J. K. Vietor an Moergenthaler vom 2.1.1918, StAB, 7,73-46. Die Niederlassungen deutscher Handelshäuser wurden an englische und spanische Firmen verkauft, vgl. Müller, 1973 (wie Anm. 28), S. 135. J. K. Vietor an Karl Vietor vom 7.7.1920, StAB, 7,73-3. In einer Dankesadresse an den amtierenden Präses der Bremer Handelskammer, Alfred Lohmann, hebt Vietor 1915 dessen Verdienste hervor, nach Kriegsbeginn den Transport des „Plündergutes“ von Antwerpen nach Bremen in die Wege geleitet zu haben, vgl. Gesammelte Schriften von J. K. Vietor, VPAH, Bl. 8. Alfred Lohmann, 1914 und 1915 Präses der Handelskammer Bremen, war Sohn des langjährigen Lloyd-Direktors Johann Georg Lohmann (1877–1892), Scholl, Lars U.: Lohmann, Johann Georg, in: NDB (1987), S. 127f. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, Geschäftliches, S. 100, 2. Erinnerungen, S. 201f. Für Beschäftigte der Exportbranche, die nicht eingezogen wurden, stellte der Kriegsausbruch zunächst eine besondere Gefahr dar. Die Arbeitslosenquote in Deutschland schnellte in kurzer Zeit auf 22 % hoch, wobei die Exportwirtschaft naturgemäß besonders stark betroffen war. Das Phänomen der Arbeitslosigkeit wurde jedoch bereits nach wenigen Wochen vom Problem des Arbeitskräftemangels infolge der Kriegsproduktion abgelöst. Für Unternehmer ging es nun darum, ihr Stammpersonal behalten zu können, weshalb öffentliche Aufgaben und kriegswirtschaftliche Tätigkeiten vor allem für die Unternehmer selbst entscheidend waren, da man damit dem Druck auf Freistellung von Mitarbeitern am ehesten ausweichen konnte, vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949 (Deutsche Gesellschaftsgeschichte; 4), München 2003, S. 48. Zu Zensuraufgaben wurden nach Kurt Mühsam von Anfang an nicht nur Journalisten berufen, sondern auch „Protektionskinder aus allen möglichen Berufen“, zit. bei Lokatis, Siegfried: Der militarisierte Buchhandel im Ersten Weltkrieg, in: Jäger, Georg (Hrsg.): Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1871–1918, Berlin 2010, S. 444–469, 446. Die Zensurverwaltung lag in den Händen des Militärs und arbeitete auf der Grundlage des mit Kriegsbeginn in Kraft tretenden Belagerungsrechts.

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6 Weltkrieg und unternehmerischer Überlebenskampf

investition war zweifellos der Erwerb der Ölwerke Justus Gruner & Co. bei Schwanewede am 1.1.1916 für 75.000,- Mark.40 Bis zum staatlichen Verbot des Imports ölhaltiger Rohstoffe für die Seifengewinnung im März 1916 und schließlich auch der Verwendung von Knochen, Rinderfüßen, Hornschläuchen sowie Spülwasserund Extraktionsfetten im April 1916 florierte das Werk und konnte rund 40 Arbeiter beschäftigen. Danach musste die Seifenproduktion eingestellt werden. Bis zum Rumänienfeldzug konnte zumindest die Ölfabrikation und der Ölhandel noch fortgesetzt werden, musste dann aber infolge des Ausbleibens von Rohstoffen ebenfalls eingestellt werden.41 Trotz dieser zunehmenden Einschränkungen des Geschäftsbetriebes und trotz hoher Abschreibungen konnte das Ölwerk das Geschäftsjahr 1916 mit einem Gewinn von 143.000,- Mark abschließen.42 Nach Ausbleiben der Rohstoffe für die Ölproduktion erhielt Vietor von der Stadt Bremen den Auftrag, die Spedition, Lagerung und Verteilung eines Großteils der Lebensmittel der Stadt zu übernehmen, was mit hohen Umsätzen verbunden war und einen wichtigen Deckungsbeitrag zur Unterhaltung der Firma leistete. In einem zweiten Kontrakt mit der Stadt hatte Vietor die Produktion und Lieferung von Kraftstroh als Futterersatz 40 41

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Vietor schätzte den Erwerb der Ölwerke später als überlebenswichtig für den Bestand seines Unternehmens ein, vgl. Begleitschreiben zum Testament [1926], VPAH, Konv. 5, Mappe 5, S. 8. J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 27.4. 1917, StAB, 7,73-46, Bl. 123; J. K. Vietor an Karl Vietor vom 7.7.1920, StAB, 7,73-3; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, Geschäftliches, S. 101–104. Bereits mit Beschlagnahmung aller margarinefähigen Öl- und Fettbestände der Seifenindustrie am 8.11.1915 hatte die staatliche Bewirtschaftung des Fettund Ölmarktes die Seifenindustrie empfindlich getroffen. Bis März 1916 war die Rohstoffbeschaffung aus nichtdeutschen Gebieten aber noch erlaubt. Am 6.1.1916 war der Seifenindustrie auch die Verwendung von inländischen nicht margarinefähigen Ölen und Fetten verboten worden, vgl. Ewald, M.: Die pflanzlichen und tierischen Oele und Fette, ausschließlich der Molkereiprodukte in Frieden und Krieg (Beiträge zur Kriegswirtschaft; 33), Berlin 1918, S. 19f. Der monatliche Öl- und Fettverbrauch der Seifenindustrie wurde auf diese Weise ab April 1916 von 20.000 Tonnen auf 1.500 Tonnen reduziert. Etwa drei Viertel der Seifenproduzenten mussten den Betrieb einstellen, nur einige wenige Mittel- und Großbetriebe konnten weiterarbeiten, der Verbrauch und der Absatz wurden aber reguliert. Wegen des Mangels an Ölen und Fetten war im Januar 1915 der „Kriegsausschuß für pflanzliche und tierische Öle und Fette GmbH“ in Berlin gegründet worden, der mit der Beschaffung von Ölen und Fetten für alle Industriezweige beauftragt wurde, vgl. Brede, Christina: Das Instrument der Sauberkeit. Die Entwicklung der Massenproduktion von Feinseifen in Deutschland 1850 bis 2000, Münster 2005, S. 77. Der Kriegsausschuss forderte durch Plakate die Zivilbevölkerung auf, als patriotischen Beitrag öl- und fetthaltige Pflanzen zu sammeln und anzupflanzen, wie etwa Mohn oder Sonnenblumen, vgl. Kroll, Katrin: Zwischen Werbung und Propaganda. Die Plakatsammlung des Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseums; [anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Kieler Stadtmuseum Warleberger Hof vom 19. März bis 11. Juni 2006], Kiel 2006, S. 86. J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 27.4. 1917, StAB, 7,73-46, Bl. 123; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 211. Von dem Gewinn kaufte er für 135.000,- Mark das Schiff „Hedwig“, um nach dem bald erwarteten Kriegsende so schnell und unabhängig wie möglich seinen Überseehandel wieder aufnehmen zu können. Der Schiffskauf erwies sich freilich bald als Fehlinvestiton, da sich der Krieg hinzog und das Schiff nicht eingesetzt werden konnte. Es wurde 1917 wieder verkauft, allerdings mit Gewinn, J. K. Vietor an August Schreiber vom 27.2.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 52.; J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 26.2.1918, ebd., Bl. 360.

Zwischen innenpolitischer Kontinuität und außenpolitischer Flexibilität

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vereinbart.43 Ein weiteres Geschäftsfeld konnte mit Torf- und Moorabbau erschlossen werden. Aus sogenannten „Raseneisenerzgruben“ konnte Vietor 1916 insgesamt 148 Eisenbahnwaggons Torf-/Moorboden abbauen und überwiegend nach Hamburg und Bremen versenden, wo der Boden als Filter bei der Gasfabrikation eingesetzt wurde. Das Geschäft rentierte sich aber nicht und wurde wieder eingestellt.44 Im letzten Kriegsjahr konnte das Ölwerk wegen der weiterhin spärlichen Rohstofflieferungen nur auf Sparflamme weitergeführt werden, die Hauptaktivität blieb die öffentliche Verwaltung und Verteilung von Fischen und Konserven.45 ZWISCHEN INNENPOLITISCHER KONTINUITÄT UND AUSSENPOLITISCHER FLEXIBILITÄT Die tiefgehende Enttäuschung weiter bürgerlicher Schichten Deutschlands über den Kriegseintritt Englands am 4.8.1914 ergriff auch Vietor. Während Mumm „milder über England“ dachte46, war für Vietor von Anfang an klar, daß England der größte Feind Deutschlands war und das auch bleiben würde, so lange es ein geeintes Deutschland gäbe. Im August 1914 forderte er, daß England mit Zeppelinen attackiert und nach einem siegreichen Krieg „stark gedrückt“ werden müsse. Vietor dachte gar nicht daran, der Bitte nachzukommen, in Bezug auf England mäßigend auf sein Umfeld einzuwirken, vielmehr bat er Behrens seine Gedanken über England an maßgeblichen Stellen bekannt zu machen und an den Reichstag zu lancie43

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J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 27.4. 1917, StAB, 7,73-46, Bl. 125; J. K. Vietor an Karl Vietor vom 7.7.1920, StAB, 7,73-3; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 208. Durch Zugabe von Ätznatron oder Ätzkali wurden die an sich schwer verdaulichen Zellulosekomplexe des Strohs für Tiere leicht verdaulich gemacht und damit ein, wenn auch ziemlich salzhaltiges, Futter gewonnen. Entsprechen 100 kg Rohstroh etwa 11 Stärkewerten, so entsprechen 100 kg Kraftstroh etwa 70 Stärkewerten. Trotz des Substanzverlustes infolge der Behandlung von etwa 50 % verblieb durch die Behandlung immer noch ein Überschuss von 35 Stärkewerten, ganz abgesehen von der leichteren Aufnahme des Futters durch die Tiere. Der Herstellungsvorgang verlief meist in einem sechsstündigen Kochvorgang unter Zusatz des Ätznatrons. Auf diese Weise konnte ein Beitrag zur Kohlehydratversorgung geleistet werden, deren Fehlbedarf infolge Kriegseinwirkung auf fünf Millionen Tonnen geschätzt wurde. Da von Menschen verdauliche Kohlehydratträger wie Kartoffeln der Tierproduktion im Krieg zunehmend entzogen wurden, sollte Kraftstroh zumindest einen Teil des Futtermittelengpasses ausfüllen, Beckmann: Beschaffung der Kohlehydrate im Kriege. Reform der Strohaufschließung, in: Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften. Januar bis Juni 1919, Berlin 1919, S. 275–289, 275f. Nachdem die Verfütterung von Weizen und Roggen bereits 1915 verboten worden war, konnte die im Oktober gegründete Reichskartoffelstelle auch die Verwendung von Kartoffeln als Viehfutter verbieten, vgl. Wehler, 2003 (wie Anm. 39), S. 60. Für Vietor kam bei dem Kraftstrohgeschäft allerdings nicht viel heraus, vgl. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 208. J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 27.4. 1917, StAB, 7,73-46, Bl. 125; J. K. Vietor an Karl Vietor vom 7.7.1920, StAB, 7,73-3; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 218. J. K. Vietor an Direktion der Bremer Bank vom 26.2.1918, StAB, 7,73-46, Bl. 361. Mumm an J. K. Vietor vom 25.8.1914, BAB, N 2203/31, Bl. 287.

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6 Weltkrieg und unternehmerischer Überlebenskampf

ren.47 Bei aller Verehrung für den Kaiser hielt er die Unterlassung der Bombardierung Londons in den ersten Kriegswochen auch später noch für einen schweren Fehler, der wie andere vermeintliche Rücksichtnahmen in seinen Augen aller Wahrscheinlichkeit nach den unglücklichen Kriegsausgang verschuldet hatte. „Wären wir so gemein gewesen wie die Engländer mit ihrer Hungerblockade und der Beschlagnahme des ganzen Vermögens und der Festnahme aller wehrlosen einzelnen Deutschen, wären wir wahrscheinlich die Sieger geblieben. Es wäre uns im Anfang des Krieges ein Leichtes gewesen, ganz London mit unseren Zeppelinen zusammenzuschiessen und ganz andere Sachen hätten wir von Anfang an mit der größten Rücksichtslosigkeit betreiben müssen.“48

Natürlich traf ihn als Kolonialkaufmann der Verlust seiner Handelsplätzte besonders stark, sodaß die bald einsetzende antibritische Propaganda umso mehr bei ihm verfing.49 Das üblicherweise England unterstellte Motiv des Handelsneides erschloß sich ihm wie selbstverständlich.50 Seine Vorkriegsbeobachtung, daß die eng47

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J. K. Vietor an Behrens vom 21.8.1914, BAB, N 2203/31, Bl. 292. Vietor dürfte mit seiner frühen und scharfen Englandkritik eher die Stimmungslage in der CSP widergegeben haben als Mumm, wie der Leitartikel der Arbeit am 22.8.1914 über England als „das perfide Albion“ belegt, Das perfide Albion, in: Die Arbeit 34 (1914), S. 1. In einem Manuskript vom 23.8.1914, dem Tag der Kriegserklärung Japans, gab sich Vietor der Überzeugung hin, dass England selbst dann weiter gegen Deutschland hetzen würde, wenn Frankreich und Russland bereits besiegt wären und deshalb nachhaltig geschlagen und geschwächt werden müsse. „Ein mächtiges Deutschland wird sich nur befriedigender Friedensarbeit hingeben können, wenn England in diesem Krieg durch eine schwere Züchtigung dahin gebracht wird, die Ueberlegenheit Deutschlands anzuerkennen.“ Er hoffte deshalb darauf, man könne England „am Ende des Krieges unsere Bedingungen vorschreiben“, Gesammelte Schriften von J. K. Vietor, VPAH, Bl. 9, S. 4. J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk vom 24.3.1921, StAB, 7,73-5; ebenso in Eröffnungsrede von J. K. Vietor auf 3. Deutsch-Evangelischen Volkstag in Bünde 1924, StAB, 7,73-10. Einen Luftangriff auf London forderten auch Erzberger (1915) und Graf Zeppelin (1916) noch zu einem Zeitpunkt, als durch die weiter entwickelte Luftabwehr ein durchschlagender Erfolg nicht mehr erwartet werden konnte, vgl. Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf3 1964, S. 361. Während sich gegen Kriegsende und in der Nachkriegszeit die Entrüstung über die Behandlung Deutschlands wieder gleichmäßiger verteilte und sich mit dem Ruhrkampf endgültig auf Frankreich konzentrierte, war England bis 1916 der meist attackierte Kriegsgegner, Dreyer, Michael/Lembcke, Oliver: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19 (Beiträge zur politischen Wissenschaft; 70), Berlin 1993, S. 34. Bethmann Hollweg richtete sich am 2.12.1914 in der ersten Reichstagssitzung nach der Vertagung vom 4.8.1914 insbesondere scharf gegen England und sah die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch eindeutig dort, vgl. SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., 3. Sitzung vom 2.12.1914, S. 18–20. Für den DEVB wirkte diese Stellungnahme des Kanzlers in Anlehnung an die Kölnische Volkszeitung „wie eine Erlösung“, Umschau / Der Heilige Krieg, in: Kreuz und Kraft 12 (1914), S. 5. Volkstümlich wurde Ernst Lissauers „Haßgesang gegen England“, das nach Aussage Stefan Zweigs „wie eine Bombe in ein Munitionsdepot“ fiel. In den ersten Kriegsjahren dürfte es kaum einen Deutschen gegeben haben, der das Haßlied nicht kannte, Heymel, Charlotte: Touristen an der Front. Das Kriegserlebnis 1914–1918 als Reiseerfahrung in zeitgenössischen Reiseberichten, Berlin 2007, S. 235f. „Es läßt sich nicht leugnen, daß die Engländer als sie sahen, daß sie überall in der Welt ins Hintertreffen kamen, sich mehr Mühe gegeben haben als früher. Aber so fleißig, beharrlich und ausdauernd wie die Deutschen wurden sie doch nicht […] Und dieser Schmerz [darüber] verkehrte sich allmählich in Unwillen und schließlich in Wut, die ja auch in Wirklichkeit der ei-

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lischen und französischen Firmen an der Westküste Afrikas nach und nach immer mehr von deutschen Firmen verdrängt wurden, schien ihm das zu bestätigen.51 In zahlreichen Beiträgen und Reden griff er England entsprechend heftig an. Dem Vorbild Bethmann Hollwegs folgend, der die traditionelle englische Politik der „balance of power“ als maskierte Formel der Allianzbildung gegen die jeweils stärkste kontinentaleuropäische Macht bezeichnet hatte,52 spiegelte ihm der Erste Weltkrieg das uralte hegemoniale Prinzip der englischen Politik wider. „Darum haben sie jetzt versucht, uns durch die brutale Gewalt zu zwingen, wie sie früher Spanien, Portugal, Holland und Frankreich niederzuzwingen versucht haben, um uns als lästigen Konkurrenten loszuwerden.“53 Das gängige Bild vom „perfiden Albion“ nutzend stellte Vietor England als besonders feige und verschlagen dar, das andere Völker wie Frankreich und Rußland, aber auch Kanadier, Australier, Afrikaner und Japaner aufwiegelte, um für seine Interessen zu kämpfen, sich selbst dabei aber schonte. Während die Deutschen auf Gott vertrauten und tapfer kämpften, verließe sich England nicht auf Gott, sondern auf seine Bundesgenossen und die Neutralen, die mit politischem Druck zum Eintritt in den Krieg gegen Deutschland gezwungen würden.54 Das wahre Gesicht Englands zeigte sich für Vietor auch in der Ablehnung des deutschen Friedensangebotes vom 12.12.1916. Anstatt in ernsthafte Verhandlungen einzutreten, „versuchen sie, auf gewissenloseste Weise die brennende Welt noch weiter in Brand zu setzen.“ Dazu zählte Vietor auch den Kriegseintritt der USA und anderer Länder. „Fieberhaft arbeitet ihre Diplomatie und es ist ihr gelungen, Amerika, China und Brasilien in ihr Garn zu fangen, und sie entwürdigen sich sogar so weit, die kleinsten Räuberstaaten wie Liberia und Guatemala ohne jedes Machtmittel zu veranlassen, uns den Krieg zu erklären, nur

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gentliche Grund des heutigen Weltkrieges ist“, Vietor, J. K.: Der deutsche Handel als Träger der deutschen Kultur, in: Vom deutschen Michel (Sechste Liebesgabe deutscher Hochschüler), Berlin/Kassel 1915, S. 134–144, S. 141. Der Handelsneid Englands und die Furcht vor der wachsenden Macht Deutschlands als Motiv für Englands Kriegseintritt sind für Dreyer und Lembcke in den ersten Kriegsjahren geradezu ein „Stereotyp“ der veröffentlichten Meinung in Deutschland, Dreyer, Lembcke, 1993 (wie Anm. 49), S. 33f. Dreyer und Lembcke listen eine Kurzzusammenstellung verschiedener Autoren unterschiedlicher politischer Couleur mit entsprechenden Äußerungen auf. Auch Bethmann Hollweg stellte sich auf den Standpunkt, dass der Ausbruch des Krieges wesentlich durch Englands Absicht, sich eines leidigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu entledigen, verschuldet war, vgl. SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., 3. Sitzung vom 2.12.1914, S. 18. In Bezug auf das allmähliche Zurückweichen anderer europäischer Handelshäuser vor deutschen Firmen in der Vorkriegszeit fasste Vietor später zusammen: „Im Laufe der Zeit sah ich die portugiesische Flagge ganz, die französische zum grössten Teil verschwinden, und die englische auch immer mehr in den Hintergrund treten“, Vietor, J. K.: Der Beruf und das Leben des Kaufmanns (Vortragsmanuskript vom 22.1.1929), VPAH, Konv. 4, Teil 2, S. 13. SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., 3. Sitzung vom 2.12.1914, S. 19. Vietor, 1915 (wie Anm. 49), S. 142. Den gleichen antibritischen Tenor tragen auch andere Beiträge aus der Kriegszeit, vgl. etwa Vietor, 1915 (wie Anm. 8); Vietor, J. K.: Zwei Reden, in: Kreuz und Kraft 10 (1916), S. 112–114; Vietor, J. K.: Zwei Vorträge, Teil 1, in: Kreuz und Kraft 3 (1917), S. 22–24. Besonders hart ins Gericht mit England geht Vietor in seinem Manuskript von 1917, Englands Wahnsinn [Juni 1917], VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 5. Vietor, 1916 (wie Anm. 53), 112.

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6 Weltkrieg und unternehmerischer Überlebenskampf um wieder einige Dutzend Millionen deutschen Vermögens in ihre Hand zu bringen und zu zerstören.“55

Ohne mit der Wimper zu zucken opfere England in seinem Wahn von der Weltherrschaft andere Völker und Nationen und nutze dazu die Dummheit derer aus, die sich bereitwillig vor seinen Karren spannen ließen. Eine so scharfe Kritik an England blieb freilich nicht unwidersprochen in den christlichen Kreisen, in denen Vietor zu Hause war. Auch im DEVB wurde eindrücklich vor pauschalen Verurteilungen aller Engländer gewarnt, besonders vor der völlig überzogenen Redewendung „Gott strafe England!“. „Hüben und Drüben schießt man weit über das Ziel. Manche christlichen Kreise – namentlich in Gemeinschaften und Freikirchen – wenden sich entschieden gegen den Englandhaß; die überwiegend nationalen predigen ihn scharf.“56

Eine Mittellinie vertrat Pastor Schulz auf einer DEVB Veranstaltung in Wernigerode. Zwar unterstellte er der englischen Regierung einen Hang zur Heuchelei, sprach das englische Volk aber von einer derartigen Mentalität frei. Verantwortlich für die Überzeugung vieler Engländer von einem gerechten Krieg gegen Deutschland sei ohnehin die Worthcliff-Presse.57 Vietor neigte in seinem Urteil über England eindeutig zur streng nationalen Fraktion der bibelgläubigen Christen und zeigte erste Anzeichen einer chauvinistischen Verhärtung, die für seine politische Einstellung nach dem Krieg bestimmend werden sollte. Angesichts des Völkerringens im Krieg setzte sich im DEVB nun zunehmend der Gedanke der geschichtlichen Sendung Deutschlands für die Völker durch, sodaß die eigene Arbeit, die ursprünglich auf die geistliche Wiedergeburt Deutschlands ausgerichtet gewesen war, nun in einen weltweiten Horizont gestellt wurde. In dem aufgezwungenen Krieg müsse sich Deutschland als „Nationalstaat“ und „Weltreich“ durchsetzen, um seine weltgeschichtliche Bestimmung für die Völker ausüben zu können: „Die Deutschen vor die Front der Völker!“ Mit dieser Entschließung endete die Kriegstagung von Bundesvorstand und Bundesausschuß des DEVB unter Vietors Leitung am 28.10.1915.58 Vietor vertiefte die Vorstellungen der weltgeschichtlichen Sendung Deutschlands bereits kurz darauf in zwei Beiträgen für die „Arbeit“. Im ersten Beitrag, der noch ganz im Zeichen eines Frontbesuches in Galizien stand, bei dem er die Überzeugung der Minderwertigkeit der Ruthenen gewonnen hatte, sah er Deutschlands Aufgabe an die Völker im Modell eines starken, christlichen Kaisertums.59 In idealer Weise sah er beides, sowohl tiefe 55 56 57 58 59

Vietor, J. K.: Englands Wahnsinn [Juni 1917], VPAH, Konv. 4. Teil 3, Mappe 5, S. 2f. Umschau / Der Heilige Krieg, in: Kreuz und Kraft 2 (1915), S. 5. Kreuz und Kraft 9 (1915), S. 8. Bericht der „Kriegstagung“ in Barmen am 28.10.1915, in: Kreuz und Kraft 11 (1915), S. 7f. Vietor reiste insgesamt drei Mal an die Front, um vor Soldaten zu sprechen, 1915 (Ostfront/ Galizien), 1917 (österreichische Alpenfront) und 1918 (Ostfront/Baltikum). Während er 1917, wohl ähnlich wie 1915, die Schuld Englands am Krieg betonte, verzichtete er 1918 rasch auf seine Themen wie Bodenreform, Kolonialgeschichte und Auslandsdeutschtum und unterhielt die Soldaten mehr mit Anekdoten und „Ulk“. Die Reise 1917 stand im Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes Karl, der im Herbst 1917, nach nur sechs Wochen Fronteinsatz, gefallen war. Eine Rede vor österreichischen und deutschen Soldaten vom Oktober 1917 findet sich in

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gläubige Frömmigkeit als auch vorausschauende und durchsetzungsstarke Machtausübung in Wilhelm II. vereint. In einem starken christlichen Kaiser und einer tiefen Verankerung des deutschen Volkes im christlichen Glauben sah er die Voraussetzung, daß von Deutschland „ein großer Segen auf diese ganze Welt ausgehen“ könne.60 Das Modell eines starken Kaisertums, das nicht von interessegeleiteten parlamentarischen Kräften, sondern von einem mit weitreichenden Rechten ausgestatteten und von unabhängigen Experten beratenen Monarchen dominiert wird, war auch das Ideal Houston Steward Chamberlains, dessen Buch „Politische Ideale“ Vietor in seinem zweiten Beitrag allen Deutschen wärmstens empfahl. Abgesehen von der Übereinstimmung in Bezug auf das politische System, zeigte sich Vietor besonders angesprochen von Chamberlains These der überdurchschnittlichen Tüchtigkeit des deutschen Volkes.61 Von dieser Überlegenheit war Vietor ohnehin schon seit langem überzeugt, nun aber erwies sich gerade diese Eigenschaft für ihn als ein substantieller Bestandteil der weltgeschichtlichen Sendung Deutschlands. An die Seite der Tüchtigkeit trat nach Vietors Meinung auch die besondere Veranlagung und Befähigung der Deutschen, sich in andere Kulturen einfühlen zu können.62 Der Welt-Beruf Deutschlands konnte sich für Vietor dann entfalten, wenn durch einen siegreichen Krieg der „neidische, reiche Engländer“ und der „liebenswürdige, elegante Franzose“, die beide bislang Deutschlands Einfluß auf die Völker begrenzt hatten, an „die zweite Stelle gerückt“ würden. In enger gedanklicher Nähe zu Theodor Rohmers hegemonialer Vision von Deutschland in Europa und der Welt, sah Vietor für diesen Fall den Moment als gekommen, in dem Deutschland damit beginnen könne „[…] auf friedlichem Wege die Völker mit unserer Kultur zu durchdringen, ihnen unsere Lebensanschauung und Pflichtgefühl, unsere Disziplin, unseren Fleiß und unsere Leistungsfähig-

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VPAH, Konv. 4, Teil 4. Ein Bericht über seinen von Ende April bis Mitte Juni dauernden Frontbesuch 1918 findet sich in Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 213–217. Eine für Sommer 1917 geplante Vortragsreise nach Ungarn wurde wegen des geplanten U-Bootthemas von Ungarn wieder abgesagt. Vietors Frontreisen geschahen im Auftrag der Regierung, ebd. Vietor, J. K.: Zwei Ideale, in: Kreuz und Kraft 12 (1915), S. 3–5. Die innere Veränderung des Volkes in christlichem Sinn wie sie der DEVB auf seine Fahnen geschrieben hatte, war daher auch Zurüstung Deutschlands für seine weltgeschichtliche Bestimmung, vgl. Vietor, J. K.: Wie kann es besser werden? (Das neue Zeitalter. Deutsche Evangelische Volkshefte zum Verständnis der Gegenwart; 6), Godesberg 1916, S. 15. Vietor, J. K.: Immer mehr Organisation, in: Kreuz und Kraft 1 (1916), S. 3–4. Ihn sprachen besonders die Statistiken über die im Vergleich zu Frankreich, Russland und Österreich höhere Produktivität der deutschen Landwirtschaft an. Ansonsten war ihm das von Chamberlain gemalte Bild von den Deutschen aber „etwas zu ideal und gut geschildert“, vgl. Vietor 1915 (wie Anm. 50), S. 143. Vietor, 1915 (wie Anm. 50), S. 139. In der besonderen Einfühlungsgabe der Deutschen sah er nach dem Krieg auch die Chance, sich wieder wirtschaftliche Spielräume weltweit zu erobern: „Der Deutsche kann nun einmal sich leichter in die Sitten und Gebräuche der Eingeborenen hineinfinden und kommt ihnen in den meisten Fällen wenigstens freundschaftlicher entgegen als die anderen Nationen es gewöhnt sind“, Vietor, J. K.: Volk in Not, in: Das Vaterland vom 17.7.1923.

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6 Weltkrieg und unternehmerischer Überlebenskampf keit zu bringen und ihnen mit unserem Handel der Wegweiser zu sein, um selbst in der Welt eine bessere Stellung einzunehmen, leistungsfähiger und wohlhabender zu werden.“63

In der eng mit Deutschlands Berufung zusammenhängenden Frage der Kriegsziele finden sich bei Vietor unterschiedliche, jeweils analog zum Kriegsverlauf stehende Forderungskataloge.64 Seine machtpolitischen Standpunkte fielen während der Kriegszeit fast ausnahmslos mit der offiziellen Regierungslinie zusammen. 1915 forderte er gegenüber Solf, der gerade mit der Ausarbeitung einer Denkschrift über die zukünftige Kolonialpolitik beschäftigt war, ein großes Kolonialreich und umfangreiche Reparationsleistungen der Kriegsgegner. „Ich habe ihm dann meine Anschauung über den Frieden entwickelt, daß eine solche Zeit nie wieder komme, daß wir in der Lage sein würden das innere Volksleben zu gesunden und ein großes Kolonialreich zu begründen. Wir müssten 100 Milliarden fordern und wenn sie kein Geld hätten Kohle, Erze, Schiffe, Getreide nehmen.“65

Einen Tag später brachte er in einer Sitzung, den Antrag ein, die Regierung aufzufordern bei einem Friedensschluß „ein großes, centrales Reich in Africa zu beanspruchen“, der aber nicht angenommen wurde.66 Diese Forderung entsprach durch63

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Vietor, 1915 (wie Anm. 50), S. 143. In einem ähnlichen Kontext nationaler Erregung, der Rheinkrise, hatte Theodor Rohmer 1841 den notwendigen Dreiklang beschrieben, der Deutschland zu einem Erzieher der Welt machen könnte: Vaterlandsliebe, Menschheitsliebe und Gottesliebe. Deutschland, das „den Stempel der geistigen Oberhoheit“ trage, habe aufgrund seiner überragenden Begabung, sich in andere Kulturen hinein zu fühlen, sein Organisationstalent und seine Begabung Maß zu halten, das Mandat zur europäischen Hegemonie, vgl. Rohmer, Theodor: Deutschlands Beruf in der Gegenwart und Zukunft, Zürich 1841, S. 168f. Emanuel Geibels Gedicht über „Deutschlands Beruf“ von 1861 mit dem berühmten Schlusswort „und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen“, an das die Wortfigur Vietors vom Segen, den Deutschland für die Völker werden soll, erinnert, stellt nicht wie Rohmer die Charaktereigenschaften Deutschlands in den Vordergrund. Nicht von ihnen, sondern von einer politischen und hegemonialen Ordnungsmacht Deutschlands versprach sich Geibel eine heilsame Wirkung, vgl. Geibel, Emanuel: Emanuel Geibels Gesammelte Werke. Heroldsrufe. Zeitgedichte von 1849 bis 1866 (Bd. 4), Stuttgart3 1893, S. 214f. Zu kolonialen Kriegszielvorstellungen in Deutschland, vgl. Stoecker, 1977 (wie Anm. 3), S. 229–241; Gründer, 2004: Geschichte der deutschen Kolonien, S. 213–216; Fischer, 1964 (wie Anm. 48), S. 120–123, 791–798. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 31.5.1915, VPAH, Konv. 1, Teil 5. Eine hohe Kriegsentschädigung sollte nicht nur den Kriegsschaden ersetzen, sondern so hoch ausfallen, dass davon auch Hinterbliebene und Kriegsversehrte ausreichend versorgt und in ganz Deutschland gesunde Lebensverhältnisse geschaffen werden könnten, vgl. Vietor, J. K.: Friedensarbeit unter dem Schwert, in: Kreuz und Kraft 5 (1915). Mit der Forderung einer so hohen Kriegsentschädigung kam Vietor in die Nähe der Vorstellungen von Alldeutschen wie Heinrich Claß, der in seiner „Denkschrift zum deutschen Kriegsziel“ Anfang September 1914 eine nachhaltige wirtschaftliche Schwächung der Kriegsgegner durch hohe Kriegsentschädigungen gefordert hatte, freilich aber auch in die Nähe der Erzbergerschen Kriegsentschädigungspläne, vgl. Fischer, 1964 (wie Anm. 48), S. 120, 122. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 1.6.1915, VPAH, Konv. 1, Teil 5. Um was für eine Sitzung es sich handelte, wird nicht klar. Das versammelte Gremium umfasste 14 Personen. Es könnte sich um eine Unterabteilung des VWK, den Verband der Kamerun- und Togopflanzungen oder den Verein der Togokaufleute gehandelt haben. Die Ablehnung von Vietors Antrag, der wahrlich nichts Neues in die Diskussion einbrachte, mag auch der gerade erst, am 20.5.1915, einge-

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aus der offiziellen, wenn auch nicht weiter konkretisierten Linie des Septemberprogramms Bethmann Hollwegs, in dem er ganz allgemein von der Schaffung eines mittelafrikanischen Kolonialreiches gesprochen hatte.67 Die Vision eines großen deutschen Mittelafrikareiches war damals bereits von verschiedenen Seiten ins Spiel gebracht worden68 und knüpfte an Vorkriegsüberlegungen an. Solf legte in seinem Mittelafrikaprogramm schon am 28.8.1914 konkrete Expansionsvorstellungen vor, in denen er die Aufteilung der französischen, belgischen und portugiesischen Afrikakolonien zwischen Deutschland und England favorisierte. Deutschland sollte danach Angola, die Nordhälfte von Mosambik, einen Teil des belgischen Kongo, Französisch Äquatorialafrika bis zur Höhe des Tschadsees, Dahomey, den östlichen Teil des heutigen Burkina Fasos und den südlichen Teil des heutigen Malis bis Timbuktu erhalten. Für den Fall eines Sieges über England ergänzte er diese Vorstellungen 1916 um die Eingliederung Nigerias in das deutsche Mittelafrika.69 Trotz dieser weitgesteckten Ziele gehörten weder Solf noch Vietor mit ihren Mittelafrikagedanken zum extrem annexionistischen Flügel der Alldeutschen oder zur Gruppe um den DKG Präsidenten Johann Albrecht zu Mecklenburg, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, im Prinzip die Übernahme des gesamten subsaharischen europäischen Kolonialbesitzes Afrikas forderten.70 Ohnehin mußte Solf seine kolonialen Ziele, angesichts der sich zuspitzenden Kriegslage ab 1917 Stück für Stück zurücknehmen. Im Juni 1917 genügte ihm bereits, gegen Abtretung Südwestafrikas und Aufgabe der Südseegebiete, die Verwirklichung des Vorkriegsabkommens mit England über die Aufteilung des afrikanischen Besitzes Portugals,71 im Dezember 1917 wollte er keine kolonialen Ziele mehr nennen. Vielmehr plädierte er jetzt für eine zweite Kongokonferenz, die im Sinne des Nutzens für die indigenen

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reichten Kriegszielpetition des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands, Heinrich Claaß, geschuldet gewesen sein, die Alfred Hugenberg angeregt hatte und die von sechs großen Wirtschaftsverbänden mitgetragen wurde. Claaß’ Vorstellungen gingen dabei weit über ein Mittelafrika hinaus, wie es sich Vietor vorgestellt haben mag. Er forderte, mit einigen Ausnahmen, im Prinzip die Übernahme des gesamten afrikanischen Kolonialbesitzes der europäischen Kriegsgegner, vgl. Stoecker, 1977 (wie Anm. 3), S. 229f.; Gründer, Geschichte, 2004 (wie Anm. 64), S. 214. Das Septemberprogramm ist kommentiert abgedruckt bei Fischer, 1964 (wie Anm. 48), S. 116–118. Bereits im August 1914 hatten mehrere Wirtschaftsvertreter die Ausweitung des deutschen Kolonialbesitzes mit Schwerpunkt Mittelafrika gefordert. Arthur von Gwinner, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank schwebte die Übernahme der französischen Kolonien durch Deutschland vor, August Thyssen plädierte für die Übernahme des belgischen und französischen Kongos sowie Marokkos und Albert Ballin sprach ganz allgemein von einem großen zu schaffenden Kolonialbesitz, vgl. Stoecker, 1977 (wie Anm. 3), S. 229–231. Erzberger hatte am 2.9.1914 Bethmann Hollweg seine Vorstellungen über ein „großes deutsches Zentralafrika“ erläutert. Es sollte von Daressalam am Indischen Ozean bis an die Atlantikküste Westafrikas reichen und nördlich davon Senegambien erreichen, Gründer, 2004 (wie Anm. 64), S. 213; Fischer, 1964 (wie Anm. 48), S. 114, 121–123. Stoecker, 1977 (wie Anm. 3), S. 232; Gründer, 2004 (wie Anm. 64), S. 213; Fischer, 1964 (wie Anm. 48), S. 115f. Vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 64), S. 214; Stoecker, 1977 (wie Anm. 3), S. 229f., 235; Fischer, 1964 (wie Anm. 48), S. 791–793. Vgl. Gründer, 2004 (wie Anm. 64), S. 215f.

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Völker eine Einigung der europäischen Kolonialmächte über eine sinnvolle Aufteilung Afrikas herbeiführen sollte.72 Auch Vietor konnte 1917 nur noch die Frage stellen, ob es nicht notwendig sei, den englischen Kolonialbesitz so zu beschneiden, daß es England nicht mehr möglich sei „asiatische und afrikanische Söldner bei einem zukünftigen Kriege unsere[n] eigenen Leuten entgegenzustellen, damit nicht so vieles edles deutsches Blut auf so schändliche Weise verspritzt wird?“73 Realpolitisch dürfte er Ende 1917 kaum noch damit gerechnet haben, konnte er jetzt doch nur noch hoffen, dass Dahomey nach dem Krieg deutsch würde, da er davon ausging, dass die englischen und französischen Kolonien nach dem Krieg den Deutschen wahrscheinlich verschlossen bleiben würden.74 Konnte sich die CSP in der Frage der Kriegsziele noch einigen und einen rechts der Mittellinie Bethmann Hollwegs liegenden Standpunkt finden,75 brachte die 72

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Solfs Eingeborenenpolitik, in: Koloniale Rundschau 1/2 (1918), S. 3–8. Diese offizielle offizielle Zurückhaltung hinderte ihn aber nicht, Ludendorffs weiter ausgreifendes Kolonialprogramm vom 23.12.1917 sowie das im Vergleich zu 1914 leicht variierte Programm Johann Albrecht zu Mecklenburgs vom Frühjahr 1918 inoffiziell zu begrüßen und im Kolonialamt intern aufzugreifen, vgl. Fischer, 1964 (wie Anm. 48), S. 791–793. Gesammelte Schriften von J. K. Vietor, VPAH, Bl. 6, S. 6. Mit der Annahme, die Engländer führten Afrikaner gegen die Deutschen ins Feld lag Vietor jedoch falsch, zumindest was den europäischen Kriegsschauplatz anbelangte. Während Frankreich wie schon im Krimkrieg und im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 farbige Soldaten auf den europäischen Schlachtfeldern einsetzte, beschränkte sich England auf die Verwendung afrikanischer Hilfstruppen auf dem kolonialem Schauplatz, etwa in den Auseinandersetzungen um Togo, Kamerun und Ostafrika, vgl. Maß, Sandra: Der andere Mann. Afrikanische Soldaten als Spiegel weißer Männlichkeit und Weiblichkeit (1870–1923), in: Discussions 1 (2008), S. 1–22, 1; Clarke, Peter B.: West Africans at War, 1914–18, 1939–45. Colonial Propaganda and its Cultural Aftermath, London 1986, S. 5. Frankreich setzte insgesamt 235.000 Afrikaner auf dem europäischen Kriegsschauplatz ein. 161.250 gehörten zu einem der 94 afrikanischen Bataillone, von denen 134.210 Soldaten aktiv in die Kampfhandlungen eingriffen, 29.520 starben dabei, ebd., vgl. auch Kettlitz, Eberhard: Afrikanische Soldaten aus deutscher Sicht seit 1871. Stereotype, Vorurteile, Feindbilder und Rassismus (Afrika und Europa. Koloniale und Postkoloniale Begegnungen; 4), Frankfurt 2007, S. 92. J. K. Vietor an Griepe vom 13.12.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 277f. Unter dem Einfluß Reinhard Mumms, der zum Alldeutschen Verband gehörte, übernahm die CSP Führung 1915 neben der Mittelafrikakonzeption auch die Forderungen des Septemberprogramms in Bezug auf Anschluß von Teilen Belgiens sowie des französischen Erzbeckens von Briey und Longwy. Sie vermehrte die Forderungen Bethmann Hollwegs jedoch um Annexionsvorschläge in Osteuropa, konkret der Angliederung Kurlands ans Reich, vgl. Friedrich, Norbert, 1997: „Die christlich-soziale Fahne empor!“, S. 103. Im März 1916 einigte sich der Hauptvorstand der Partei auf eine konkrete Kriegszielentschließung, die nach Freigabe der Kriegszieldiskussion am 27.11.1916 veröffentlicht wurde. Darin wurde gefordert: 1. Fortführung des Krieges, bis zu einem Frieden, der Deutschlands Entfaltung sichert; 2. Schaffung eines Deutschland angegliederten germanischen Königreiches Flandern mit einem deutschen Regenten und innerer Selbstverwaltung. Die wallonischen Gebiete können Frankreich angegliedert werden; 3. Anschluß von Briey und Longwy an Deutschland; 4. Aufteilung ElsaßLothringens unter deutsche Bundesstaaten; 5. Gewinn ausgiebigen Siedlungslandes durch Rückgewinnung der deutschen Ostseeprovinzen; 6. Strategisch notwendige Grenzkorrekturen, besonders im Osten; 7. Deutscher Grenzstreifen zur Trennung von Polen und Rußland; 8. Mittelafrikanisches deutsches Kolonialreich; 9. Kriegsentschädigungen von Kriegsgegnern; 10.

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Diskussion um U-Bootkrieg und Friedensresolution die Partei in eine schwere Zerreißprobe. Als sich der Parteivorsitzende Philipps in der Anfang 1916 neu aufgebrochenen Frage des unbeschränkten U-Bootkrieges nicht durchsetzen konnte, trat er zurück und wenig später auch aus der Partei aus.76 Die drei Reichstagsabgeordneten der CSP, Behrens, Burckhard und Mumm, hatten sich am 17.1.1916 aus dem Zuzählungsverhältnis mit den Konservativen gelöst und mit der Deutsch-Hannoverschen Partei, der Reichspartei (Freikonservative), der Deutsch-Sozialen Partei und den zwei Abgeordneten des bayerischen Bauernbunds zur „Deutschen Fraktion“ zusammengeschlossen. Anders als die Mehrheit ihrer neuen Fraktion unterzeichneten sie aber nicht die Eingabe der Konservativen Partei vom 17.3.1916, die eine „rücksichtlose Anwendung“ aller militärischen Mittel, einschließlich der UBoote, forderte.77 Da sich Kaiser und Reichskanzler im Frühjahr 1916 noch gegen die Aufnahme des unbeschränkten U-Bootkrieges aussprachen, dürfte Vietor und ein Großteil der Partei einverstanden gewesen sein mit dem Verhalten der CSP Abgeordneten. Das umso mehr, als die Reichsleitung vorübergehend zumindest das Mittel des verschärften U-Bootkrieges erneut einsetzte und damit der Mehrheitsmeinung im Budgetausschuss entsprach.78 Als es am 1.2.1917 mit Einverständnis des Kaisers und des Kanzlers schließlich doch zur Aufnahme des unbeschränkten U-Bootkrieges kam, fand das angesichts der zurückgewiesenen Friedensofferte und der zunehmenden Wirkung der Hungerblockade Englands die Zustimmung der drei CSP Abgeordneten, wurde aber im politischen Ausschuss der Partei nach wie vor nicht von allen geteilt.79 Vietor, der das Abstimmungsverhalten der CSP Abgeordneten begrüßte, rechnete nun mit einem baldigen siegreichen Kriegsende wie auch

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Gebietsersweiterungen für Österreich und Bulgarien; 11. Freiheit der Meere, Kriegsziele, in: Die Arbeit 50 (1916), S. 1. Friedrich, 1997 (wie Anm. 75). S. 100f. Neben der U-Bootfrage war auch das Ausscheiden der CSP aus dem Zuzählungsverhältnis zur Konservativen Partei einer der Gründe seines Rücktrittes. SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., Anlage Nr. 232, S. 362. Anders als die deutlich weitergehende Eingabe der Nationalliberalen Partei, die ausdrücklich den uneingeschränkten U-Bootkrieg forderte und sich gegen Abmachungen mit Neutralen wandte, die das einschränken könnten, forderten die Konservativen lediglich einen effektiven Einsatz der U-Boote. Die jüngste Entscheidung der Reichsleitung dazu, die den Rücktritt Tirpitz zur Folge gehabt hatte, wurde nur in dem Fall als zielführend bezeichnet, „wenn deren praktisch wirksame Durchführung der Eigenart der Waffe entsprechend gesichert ist“ , ebd. Norbert Friedrich geht irrtümlich davon aus, dass lediglich die 3 CSP Abgeordneten der „Deutschen Fraktion“ die Eingabe der Konservativen nicht unterschrieben hätten. Neben ihnen, unterschrieben auch die 5 Abgeordneten der Deutsch-Hannoveraner, die beiden Abgeordneten des Bundes der bayerischen Landwirte sowie der Abgeordnete der Reichspartei Johannes Zürn die Eingabe nicht, ebd.; vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 75), S. 99. In den Beratungen des Budgetausschusses, seit 1915 auch Hauptausschuss genannt, vom 28.3. –31.3.1916 einigten sich die Mehrheitsparteien auf die dehnbare Formel, „von den Unterseebooten denjenigen Gebrauch zu machen, der die Erringung eines die Zukunft Deutschlands sichernden Frieden verbürgt.“ Die Interessen der neutralen Staaten sollten gewahrt werden, vgl. SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., Anlage 255, Nr. 218 der Kommissionsdrucksachen, S. 377. Während Vietor mit der Mehrheit des Ausschusses der Haltung der Abgeordneten zustimmte, lehnten Lüttringhausen und Neuhaus dies ab, vgl. Sitzung des Politischen Ausschusses der CSP am 28.4.1917, BAB, N 2203-32, Bl. 32.

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das Organ des DEVB, Kreuz und Kraft.80Auch als sich diese Hoffnung im Juni 1917 noch nicht erfüllt hatte, blieb Vietor optimistisch und rechnete längstens mit drei weiteren Monaten bis zum Zusammenbruch Englands.81 Als sich auch dieses Zeitfenster als nicht realistisch erwies, behauptete er, Lloyd George müsse lügen, wenn er die bisherige Wirkung des U-Bootkrieges herunterspiele.82 Auch wenn Lloyd Georges Zahlen ohne Frage selbst propagandistisch gefärbt waren, blieb seine Aussage im Kern richtig. Der uneingeschränkte U-Bootkrieg hatte den erwarteten Erfolg nicht gebracht, dafür jedoch die Kriegslage Deutschlands durch den Kriegseintritt der USA massiv verschlechtert. Eine noch größere Zerreißprobe für die Partei als der U-Bootkrieg stellte die Frage dar, wie man sich zur Friedensresolution des Reichstages stellen solle und welche Position zu Friedensüberlegungen man überhaupt einzunehmen habe. Bei der Abstimmung am 19.7.1917 kam es zu einem geteilten Votum der CSP Abgeordneten im Reichstag. Während Behrens und Burckhard für die Resolution stimmten und damit bei vielen CSP Mitgliedern große Empörung auslösten,83 stimmte 80

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Kreuz und Kraft 2 (1917), S. 19. Den Abgang von Tirpitz 1916 hatte man mit großem Bedauern, aber ohne Kritik an der Reichsleitung zur Kenntnis genommen, vgl. Umschau / Heiliger Krieg, in: Kreuz und Kraft 4 (1916), S. 42–43. Vietor rechnete mit einem siegreichen Kriegsende binnen weniger Monate. „Mit den U-Booten läuft es ja glänzend und wir dürfen doch wohl bald einen siegreichen Frieden erwarten“, J. K. Vietor an August Schreiber vom 27.2.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 51. Vietor, 1917 (wie Anm. 55), S. 2f. Rede vor österreichischen und deutschen Soldaten [Oktober 1917], VPAH, Konv. 4, Teil 4. Vietor beruft sich auf eine Rede Lloyd Georges vom18.8.1917, in der er behauptet haben soll, seit Februar 1917 seien erst 250.000 BRT versenkt worden. Er vertraute jedoch den Zahlen der deutschen Marine, die er mit 5,5 Millionen BRT angab. Da die deutsche Marine nicht lüge, müsse also Lloyd George lügen. Tatsächlich hatte der unbeschränkte U-Bootkrieg im 2. Quartal 1917 zu einem substantiellen Anstieg der Versenkungen geführt, die im Monatsdurchschnitt 700.355 BRT betrugen und England zeitweise in eine prekäre Lage brachte. Insbesondere durch die Einführung des Konvoisystems sanken die Zahlen im Sommer 1917 jedoch wieder und pendelten sich im 4. Quartal mit durchschnittlich 365.489 BRT/Monat in etwa auf das Vorjahresniveau ein. Für den Rückgang der Versenkungszahlen war neben den wachsenden Abwehrerfolgen der Engländer auch die zu geringe Zahl der eingesetzten U-Boote hauptverantwortlich. Im Juni 1917 waren nur 129 U-Boote einsatzbereit, vgl. Neugebauer, Karl-Volker: Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg 1914 bis 1918, in: Hansen, Ernst Willi/Neugebauer, Karl-Volker (Hrsg.): Grundkurs deutsche Militärgeschichte. Drei Bände mit interaktiver DVD, München 2007, S. 1–85, 68. Trotz der ausbleibenden kriegsentscheidenden Wirkung der U-Boote und trotz der gefährlichen Tankoffensive der Engländer in Cambrai, rechnete Vietor im November 1917 für den Fall eines Waffenstillstandes mit Russland erneut mit einem baldigen Kriegsende, J. K. Vietor an Hedwig [Vietor] vom 23.11.1917, VPAH, NL Hueck. Die „Arbeit“ veröffentlichte nach der Verabschiedung der Friedensresolution eine Erklärung Behrens und Burckhards, die deren Beweggründe zur Zustimmung erläuterte. Darin machten die beiden Abgeordneten klar, dass sie der Resolution „in derselben Auffassung wie der Herr Reichskanzler im Einverständnis mit den obersten Heerführern in seiner Rede am 19.7.1917 dargelegt hat, zustimmten, um der in allen Schichten des deutschen Volkes vorhandenen Bereitschaft zu einem ehrenvollen Frieden zum Ausdruck zu bringen.“ Mit dem Hinweis auf die Aussage des neuen Reichskanzlers Michaelis, er behalte sich die Interpretation der Friedensresolution vor, versuchten Behrens und Burckhard offensichtlich aus der Schusslinie zu kommen.

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Mumm dagegen.84 Angesichts der Stimmungen, die er unter seinen Arbeitern und CSP Parteifreunden in Bremen auffing, konnte sich Vietor das Verhalten von Behrens und Burckhard nur damit erklären, daß sie über das parlamentarische Arbeiten den Kontakt zur Basis verloren hatten.85 „Sie sehen heute die Welt nicht, wie sie in Wirklichkeit ist. Ihr Parteiklüngel in Berlin mit Verfassungsausschuß und Mehrheitsausschuß hängt dem Deutschen Volke einfach zum Halse heraus […] Hier in unserer christlich-sozialen Partei wollten nicht nur die Gebildeten, sondern auch die Ungebildeten austreten, weil sie über ihr und Herrn Dr. Burckhards Vorgehen so entrüstet waren.“86

Von einem Parteiaustritt konnte er die Leute jedoch abhalten, ließ Behrens jedoch wissen, daß seine sämtlichen Arbeiter, von denen er annahm, sie wählten sonst die SPD, der Vaterlandspartei beigetreten wären ebenso, wie nach entsprechender Ermutigung durch Vietor selbst, die Bremer Freisinnigen.87 Im Gegensatz zu Mumm und im Einklang mit Behrens beklagte Vietor dagegen den Rücktritt Bethmann Hollwegs und kritisierte scharf die Haltung der Alldeutschen.88 Das Friedensan-

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Die Redaktion hatte deren Abstimmungsverhalten mit dem Hinweis auf das von ihnen abweichende Votum Mumms im Reichstag kommentiert und dabei unterstrichen, dass Mumms Votum „im weiten Maße demjenigen unserer Leser entspricht“, Erklärung, in: Die Arbeit 31 (1917), S. 3. Ob die „Arbeit“ damit richtig lag, bleibt zweifelhaft, jedenfalls konnte sich die Partei auf dem Parteitag am 8.10.1917 in Elberfeld nicht auf eine gemeinsame Entschließung zur Friedensfrage einigen. Weder der Antrag der Herren Eckhoff und Brooks, die Partei solle sich gegen einen „Verzichtsfrieden“ und für einen „deutschen Frieden“, der wirtschaftliche, militärische und territoriale Zugewinne bringen müsse, aussprechen, noch der Antrag Wallbaums, die Partei solle der OHL und der Reichsleitung ihr Vertrauen aussprechen, dass sie einen angemessenen Frieden definierten, fand eine ausreichende Mehrheit. Vietor dürfte dabei dem Antrag Wallbaums zugeneigt haben. Der Parteitag ging ohne Entscheidung dieser Frage auseinander, Christlich sozialer Parteitag vom 8.10.1917 in Elberfeld, BAB, N 2203/31, Bl. 40f. Namentliche Abstimmung, SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., 116. Sitzung vom 19.7.1917, S. 1598– 1600. Die Resolution findet sich, ebd., Anlage 933, S. 1747. Mumm an Vietor vom 29.9.1917, BAB, N 2203-31, Bl. 42, S. 6. Mumms Antwortbrief wiederholt einige Aussagen des Briefes von J. K. Vietor an ihn vom 14.9.1917. J. K. Vietor an Behrens vom 22.9.1917, BAB, N 2203-31, Bl. 46f. Ebd. Zur Vaterlandspartei vgl. Hagenlücke, Heinz: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 108), Düsseldorf 1997. Die Ortsgruppe Bremen wurde Anfang September 1917 unter tatkräftiger Mitwirkung des Präsidenten der Handelskammer, Erich Fabarius, gegründet und konnte anfangs breite Schichten des Bürgertums bis ins liberale Lager hinein gewinnen. Nach Bekanntwerden der führenden Rolle Wolfgang Kapps in der Vaterlandspartei zogen sich jedoch viele Interessierte aus dem liberalen Bürgertum wieder zurück, ebd., S. 290. Mumm an Vietor vom 29.9.1917, BAB, N 2203-31, Bl. 42, S. 1. Erzbergers Entwicklung in den letzten Wochen hielt er dafür fast schon für krankhaft. „Wenn ich das überdenke, was Herr Erzberger in den letzten 6 Wochen zusammengeredet hat, dann muß ich mich doch ernstlich fragen, ob der Krieg wohl spurlos an seiner Gesundheit vorbeigegangen ist.“ Dankesschreiben von J. K. Vietor an Redakteur des Reichsboten vom 29.8.1917, VPAH, Konv. 4, Teil 1, S. 5. Vietor dürfte mit dieser Replik auf Erzberger auf dessen bemerkenswerten Gesinnungswandel vom Annexionisten zum Verfechter eines Verzichtsfriedens anspielen, mit dem er ab dem 3.7.1917 einen Umschwung der Mehrheitsverhältnisse zur Friedensfrage im Reichstag herbeigeführt hatte, vgl. Wehler, 2003 (wie Anm. 39), S. 167; Patemann: Der Kampf um die preußi-

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gebot Deutschlands vom 12.12.1916 hatte Vietor im Gegensatz zur Friedensresolution des Reichstages sehr begrüßt, ja, er zog daraus Kraft für seinen Glauben, da mit diesem Schritt in seinen Augen eine gottwohlgefällige Einstellung und versöhnliche Grundhaltung Deutschlands zum Ausdruck gebracht worden war. „Wir haben ein Ende aller dieser Schrecken gewollt.“ Deshalb habe er nun allen Grund, anders als englische Christen, mit Zuversicht für Deutschland und Deutschlands Sieg zu beten.89 Noch kurz vor Bethmann Hollwegs Demission gab er angesichts der öffentlichen Friedensdebatte zu bedenken, daß England bereits die „herrliche“ Friedensofferte vom Dezember 1916 ausgeschlagen habe. Auch weitere Angebote könnten an Englands „Wahnsinn“, ein Friedensangebot abzulehnen, nichts ändern. Niemand könne nach der Offerte vom 12.12.1916 noch ernsthaft an Deutschlands Friedenswillen zweifeln. Weitere öffentliche Debatten darüber, weder über einen Frieden ohne Annexionen und ohne Entschädigungen noch über einen „sogenannten deutschen Frieden, der so viel fordert“ wären deshalb kontraproduktiv. Der Kaiser, Hindenburg und Bethmann Hollweg würden dann, wenn es aussichtsvoll ist, einen Frieden schließen, „wie er erreichbar ist und den gebrachten Blut- und Geldopfern entspricht. Und damit sollten wir uns jetzt genügen lassen.“90 Wie Behrens und Burckhard, die an der Resolutionsdebatte nur teilgenommen hatten, weil sie nicht mehr zu verhindern gewesen war, befürchtete Vietor, eine öffentlich geführte Friedensdebatte ermutige den Kriegsgegner und richte dessen angeschlagene Moral ungewollt wieder auf, was letztlich nicht zu einer Verkürzung, sondern einer Verlängerung des Krieges führe.91 Das Signal der Debatte an die Gegner könne ja nur sein, Deutschland sei kriegsmüde und am Ende seiner Kraft. „Wir können ruhig behaupten, daß der Beschluß der Reichstagsmehrheit den Krieg verlängert hat. Lloyd George hat sehr ernst zum englischen Volk über die U-Boot Gefahr geredet, als wir im Februar, März mit unseren Versenkungen begannen, jetzt, wo er sah, daß seine Bundesgenossen Angst bekamen, daß unser Reichstag an zu zittern fing, da verlas er wieder hohe Töne wie zu Anfang des Krieges und erfüllt die Völker mit neuer Kampfeslust, zu neuem Durchhalten. Auf deutsch gesagt, ist die Reichstagsmehrheit glatt auf die Anpöbelungen des Lloyd George und Wilson hereingefalllen. Sie haben das selbstlose Friedensangebot unseres Kaisers, seiner Verbündeten mit Hohn und Spott abgelehnt, da es nicht vom deutschen Volke komme und die Volksvertreter haben diese albernen Redensarten für baare (sic) Münze genommen, geglaubt, daß unsere Feinde umfallen würden, wenn sie, die Volksvertreter, nur geredet hätten.“92

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sche Wahlreform im Ersten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 26), Düsseldorf 1964, S. 83. Vietor, J. K.: Beten, in: Kreuz und Kraft 9/10 (1918), S. 33f. Vietor, 1917 (wie Anm. 55), S. 2, 4. Ähnlich bewertete die „Arbeit“ auch die Friedensinitiative des Papstes. War man zunächst der Meinung, die Regierung solle darauf eingehen, schreckte man schon bald wieder zurück, als man den Eindruck bekam, in England würde die Bereitschaft Deutschlands, auf das Angebot einzugehen, als Schwäche und Flehen um Frieden gewertet, vgl. Umschau /Heiliger Krieg, in: Kreuz und Kraft 9 (1917), S. 71; Umschau, in: Kreuz und Kraft 10 (1917), S. 80. Ab Oktober 1917 hieß die Rubrik nur noch „Umschau“. Dankesschreiben von J. K. Vietor an Redakteur des Reichsboten vom 29.8.1917, VPAH, Konv. 4, Teil 1, S. 4.

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Damit machte sich Vietor die Bewertung nationaler Kreise zu eigen, die eben diese fatale Wirkung der Kriegsresolution ins Feld führten, mehr aber freilich noch den angebotenen „Verzichtsfrieden“ bekämpften, was schließlich am 2.9.1917 zum Gründungsaufruf der Vaterlandspartei führte, die ihr Entstehen sowohl mit der Gegnerschaft zum Verzichtsfrieden, als auch mit ihrer Opposition zu einer inneren Neuordnung der politischen Verhältnisse in Deutschland begründete.93 Für die Gründer der Vaterlandspartei wie für Vietor stand fest, daß die Friedensresolution im Gegensatz zum Willen des Volkes stand. Ganz anders bewertete das das liberale Lager um Max Weber, der die Friedensresolution gerade als Ausdruck des Volkswillens bezeichnete und energisch bestritt, die Resolution wäre ein Zeichen der Schwäche.94 Die Notwendigkeit Deutschlands, angesichts der Kriegslage eine feste Geschlossenheit nach außen zu tragen, teilte er voll und ganz, sah die größere Gefahr dieses Bild zu trüben aber in den unverantwortlichen Angriffen der nationalen und alldeutschen Kreise auf die Reichsregierung sowie in deren ständigem öffentlichen Thematisieren der Friedensfrage. Die permanente Kritik an Bethmann Hollweg durch die sogenannte „Kanzlerfronde“ um den Alldeutschen Wolfgang Kapp lehnte auch Vietor entschieden ab und forderte als Preis für die Einheit und Geschlossenheit Deutschlands sowohl deren Ende als auch das Ende des Parteihaders und der Diskussionen um das Wahlrecht und die innere politische Neuorientierung.95 Mit seiner Zustimmung zu wesentlichen Argumenten beider politischer Lager läßt sich Vietor zunächst nicht eindeutig einem der Blöcke zuordnen. Auf der einen Seite kritisierte er scharf die Agitation der Alldeutschen, stimmte der Gründung der von ihnen maßgeblich mitinitiierten Vaterlandspartei jedoch freudig zu, wohlwissend, daß die neue Sammlungspartei eben die Position und Taktik vertrat, die er an den Alldeutschen kritisiert hatte. Ein genauerer Blick auf die politischen Überzeugungen Vietors macht aber schnell deutlich, daß er lediglich mit der Strategie der national-alldeutschen Partei unzufrieden war, nicht aber mit deren Überzeugungen. Eine grundlegende Neuordnung der politischen Verhältnisse lehnte Vietor mit dem Großteil seiner Parteifreunde ab.96 Zwar begrüßte er das Versprechen 93

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Weber, Max/Mommsen, Wolfgang J./Hübinger, Gangolf: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden, 1914–1918 (Max Weber Gesamtausgabe, I/15), Tübingen 1984, S. 320. Der Zulauf zur Vaterlandspartei kam nicht nur aus konservativen Kreisen, sondern auch aus Teilen des liberalen Lagers, wie etwa Angehörigen des früheren National-sozialen Vereins um Friedrich Naumann, ebd. Die in der Literatur durchgängig angegebene Höchstmitgliederzahl der Vaterlandspartei von 1,25 Millionen, basiert nach Hagenlücke auf einer nicht belegten Angabe Karl Wortmanns (1926). Nach Angaben der Partei selber erreichte sie am 1.9.1918 ihren Höchststand von 800.000 Mitgliedern, von denen jedoch etwa die Hälfte lediglich korporative Mitglieder waren, vgl. Hagenlücke, Heinz, 1997 (wie Anm. 87), S. 180f. Wehler geht für Juli 1918 von rund 1,25 Millionen individueller und korporativer Mitglieder in 2.536 Ortsgruppen aus, vgl. Wehler, Hans-Ulrich, 1975: Das Deutsche Kaiserreich, S. 214. Weber/Mommsen/Hübinger, 1984 (wie Anm. 93), S. 301. Am 12.7.1917, einen Tag vor Bethmann Hollwegs Rücktritt, sah er mehr in der Verquickung von Friedensresolution und Verfassungsfrage einen Anlass zur Befürchtung, die Kriegsgegner könnten daraus ein Zeichen der Schwäche ablesen, ebd., S. 299. Vietor, J. K.: Was uns not tut. Gedanken zur Neuorientierung, Teil 2, in: Kreuz und Kraft 6 (1917), S. 45–46, 46. Schon kurz nach Ausbruch des Krieges hatte er seine Befürchtung geäußert, dass die SPD als

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Wilhelms II. in seiner Osterbotschaft vom 7.4.1917, nach dem Krieg eine Wahlrechtsreform in Preußen herbeizuführen, den eigentlichen Wert dieser Ankündigung sah er jedoch in dessen erhoffter beruhigender Wirkung.97 Von einem gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht, das ja gar nicht versprochen worden war,98 hielt er nicht viel, zumindest war es in seinen Augen nicht gerechter als das Dreiklassenwahlrecht, da es der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit und dem unterschiedlichen Beitrag, den jeder Einzelne zum Gesamtwohl beitrage nicht ausreichend Rechnung trüge. Er schloß sich aber der Argumentation des Kaisers an, daß die heimkehrenden Soldaten nach den Opfern des Krieges berechtigte Ansprüche auf mehr Mitgestaltung des Staatslebens hätten. Damit das Volk die gewachsenen Rechte jedoch auch verantwortungsvoll ausübte, hielt er eine großzügige Sozialreform für unverzichtbar, denn nur ein Volk, das in befriedigenden Verhältnissen lebt, konnte in seinen Augen seine gewachsenen politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten verantwortungsvoll gebrauchen.99 In der CSP war man seit langem für eine Änderung des preußischen Wahlrechts eingetreten, die Parteikonferenz am 15.4.1917 in Düsseldorf begrüßte daher die angekündigten Reformen vorbehaltlos.100 In der Frage der inneren Neugestaltung des Reiches, dem weiteren Ausbau des parlamentarischen Systems, zeigte sich dagegen erneut ein Riß in der CSP. Während Mumm den Positionen der Vaterlandspartei zuneigte und ein zukünftiges Ständesystem auf nationaler Grundlage forderte, sympathisierte Behrens mit bürgerlichen Sozialreformen bis hin zu Positionen der SPD. Anders als Mumm schloß er sich der der Vaterlandspartei entgegengesetzten Sammlungsbewegung, dem am 4.12.1917 gegründeten „Volksbund für Freiheit und Vaterland“ an, der vom linken Flügel des Zentrums, dem rechten Flügel der Mehrheits-SPD und der fortschrittlichen Volkspartei getragen wurde und sich zur inneren Reform des Reiches bekannte.101 Unabhängig von den unterschiedlichen Vorstellungen der Weiterentwicklung der Staatsordnung wurde der monarchische Konsens innerhalb der CSP jedoch

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Gegenleistung für die Leistungen der Soldaten im Feld „neue politische Freiheiten“ fordern würde und für ein nur leicht verändertes Wahlrecht in Preußen votiert, damit Preußen weiterhin ein „Bollwerk […] gegen die demokratischen Einflüsse“ bleiben könne. Systemimmanente soziale Verbesserungen hatten für ihn eindeutig Vorrang, J. K. Vietor an Behrens vom 21.8.1914, BAB, N 2203/31, Bl. 290f. Zur preußischen Wahlrechtsreform vgl. Patemann, 1964 (wie Anm. 88) Die Osterbotschaft des Kaisers gestand lediglich die geheime und direkte Wahl zu, nicht aber die gleiche. Das hätte an sich exakt Vietors Vorstellungen entsprechen müssen, vgl. Patemann, 1964 (wie Anm. 88), S. 62f. Vietor, J. K.: Was uns not tut. Gedanken zur Neuorientierung, Teil 1, in: Kreuz und Kraft 5 (1917), S. 36–37. Aus der Partei, in: Die Arbeit 16 (1917), S. 4. Der politische Ausschuss der CSP nahm dementsprechend eine Resolution an, die den preußischen Gesetzgebungsvorschlag vom 26.11.1917 mit Einführung des gleichen und geheimen Wahlrechts unterstützte. In Bezug auf das Herrenhaus plädierte der Ausschuss für einen Umbau zur Ständekammer, vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 75), S. 110f. Sato, Shinichi: Demokratisches Ethos bei Ernst Troeltsch, in: Bockermann, Dirk / Brakelmann, Günter (Hrsg.): Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus. Kommentierte Quellentexte 1789–1989. Festschrift für Günter Brakelmann zum 65. Geburtstag, Göttingen 1996, S. 198–209, 202f.

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nicht in Frage gestellt. Von einer schwachen Scheinmonarchie wollte man allgemein nach wie vor nichts wissen.102 Für Vietor war ein starkes Kaisertum jedoch kaum ohne deutliche Begrenzung demokratischer Grundprinzipien denkbar. „Mag jeder über das Wahlrecht denken wie er will, in einem Punkte sind wir gewiß alle einig, daß wir unseren Kaiser in seiner Machtfülle und eine starke Regierung behalten wollen. Wer die Verhältnisse durchschaut, weiß genau, daß eine starke Monarchie die besten Kräfte für die Verwaltung gewinnt, die dem Lande nutzen, daß die Demokratie aber die Stellen nach Gunst an Politiker verteilt, die durch eigenes oder fremdes Geld sich eine Stellung zu verschaffen gesucht haben. Je demokratischer ein Land regiert wird, desto mehr herrscht in Wirklichkeit das Geld.“103

Aber nicht nur die Herrschaft des Geldes und die Gefahr des überbordenden Lobbyismus machten ihn zu einem Gegner einer voll entwickelten parlamentarischen Demokratie, er stimmte auch der Ansicht Stuhrmanns zu, „daß je demokratischer unsere Verfassung wird, desto mehr unser Christentum im Volk zurückgedrängt wird. Das sehen wir an den anderen Demokratien.“ In Vietors Augen waren die Christen in Frankreich, England und den USA in ihrem öffentlichen Einfluß zu „vollständiger Einflusslosigkeit verurteilt.“104 Auch wenn er diese Gefahr für Deutschland nicht übermäßig hoch einschätzte, blieb das starke christliche Kaisertum sein Ideal, die schwachen Monarchien in England, Italien oder Spanien hielt er für „Affenkram“, bei dem der König nicht mehr als eine „Puppe“ wäre.105 Wilhelm II. war für ihn ohnehin unantastbar. Bis zu seinem Lebensende hielt er an einem idealen Bild von ihm fest, das mit der Wirklichkeit nur wenig gemein hatte und in das er die vollkommensten menschlichen Eigenschaften projizierte.106 In jedem Zimmer seines Hauses hing auch in der Nachkriegszeit ein Bild des Kaisers und sein Geburtstag wurde im Hause Vietor noch bis in die 1950er Jahre gefeiert.107 Er 102 103 104 105

Die Arbeit 41 (1917), S. 2. Vietor, J. K.: Und was haben wir nun zu tun?, in: Kreuz und Kraft 8 (1917), S. 59f. Vietor, 1917 (wie Anm. 103) J. K. Vietor an seine Kinder [Hedwig Vietor] vom 21.4.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 111. Stuhrmann lehnte die voll entwickelte Demokratie als „Diktatur der Masse“ ab, vgl. Stuhrmann, Heinrich: Kaisertum und Demokratie, in: Die Arbeit 7 (1917), S. 52–53, 53. 106 Die 1912 mit Mieteinnahmen der bereits abgeschriebenen Gebäude der Firma F. M. Vietor Söhne in Afrika finanzierte Familienstiftung besagte in ihren Statuten, dass alle, „die öffentlich gegen das Christentum oder gegen den Kaiser etwas unternehmen sollten, von dieser Stiftung ausgeschlossen sein sollen“, [J. K. Vietor] an [Familie] vom 6.4.1912, StAB, 7,73–50, Bl. 247. Neben dieser Stiftung wurde 1921 noch eine weitere Vietor-Stiftung ins Leben gerufen. Mit Stolz dürfte ihn erfüllt haben zu hören, dass der Kaiser den Kolonialroman „Rodenkampp Söhne“, der unter diesem Pseudonym die koloniale Geschichte der Familie Vietor in Afrika, insbesondere J. K. Vietors, erzählte, mit großer Freude gelesen hatte. Hermine, die zweite Frau Wilhelm II., vermutete richtig, dass das Buch „das weltberühmte Bremer Handelshaus Vietor“ beschrieb, „von dessen christlicher Stellung und einflussreichem christlichen Wirken ich schon so manches Hocherfreuliche gehört und gelesen hatte“, Kaiserin Hermine I.R. (Haus Doorn) vom 31.1.1925 an Pfarrer NN (Abschrift), StAB, 7,73–15. 107 Vietor, J. K.: Rückblick und Ausblick, in: Kreuz und Kraft 1/2 (1920), S. 3–4, 4. Der Hinweis auf die Feier von Kaisers Geburtstag bis in die 1950er Jahre stammt von Vietors Enkel, Eckehard Meyer, der sie als Kind selbst noch miterlebt hat. Die Witwe von J. K. Vietor, der diese Feiern offensichtlich zu verdanken waren, verstarb 1956.

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bewunderte ihn als „Friedenskaiser“, der sich um seiner Friedensliebe willen jahrelang Schmähungen und Demütigungen der jetzigen Kriegsgegner hatte gefallen lassen, die soziale Gesetzgebung fördere und für sein Volk bete.108 In seiner christlich-demütigen Gesinnung war es in erster Linie er, der „[…] es mit einer Klugheit und mit einem Weitblick, daß man sich nur immer wundern kann, in seiner langen Friedensarbeit fertiggebracht [hat], das deutsche Volk durch seinen rechtzeitigen Flottenausbau durch die Entwicklung der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels zu einer solchen Blüte zu bringen.“109

Wegen dieser für ihn unbezweifelbaren Tatsachen konnte es Vietor nicht verstehen, dass die Parlamentarier dem Kaiser und seinen „Räten“ so viel Mühe machten, indem sie die Julikrise heraufbeschworen. In diesen Vorgängen konnte er nichts anderes erkennen als Parteiegoismus, um in der Not der Stunde „Sondervorteile“ für sich herauszuschlagen.110 Schon die Frühjahrsdiskussionen um das preußische Wahlrecht und die Forderungen nach einer stärkeren Parlamentarisierung hatten ihm als verwerfliche Klientelpolitik gegolten. Während er dafür die SPD verantwortlich machte, sah er auch in den gleichzeitigen Bestrebungen des Zentrums, das Jesuitengesetz zu Fall zu bringen sowie in der Wiedereinbringung der Fideikommissvorlage ins preußische Herrenhaus durch die Konservative Partei am 16.1.1917 eine verwerfliche und unzeitgemäße Interessenpolitik.111 Zu den unverantwortlichen Auflösungserscheinungen des innenpolitischen Friedens rechnete Vietor auch den „Brotstreik“, der nach Kürzung der Lebensmittelrationen am 15.4.1917 von Berlin und 108 Vietor, 1917 (wie Anm. 103), S. 59. 109 Vietor, 1915 (wie Anm. 60), S. 4. Von einer nachgewiesenen Friedensliebe des Kaisers zeigte sich auch Gustav Stresemann während des Krieges überzeugt. Der Beweis dafür läge in der Tatsache begründet, dass Deutschland in den Vorkriegsjahren zu keiner Zeit die Schwäche anderer europäischer Großmächte ausgenutzt habe, weder im Burenkrieg noch im Russisch-Japanischen Krieg. Auch die Marokkofrage habe Deutschland nicht zur Kriegsfrage gemacht, sondern vielmehr jahrelang zugesehen wie ganz Nordafrika verteilt wurde und weder Frankreich noch Italien daran gehindert. Auch die Spannungen über Einflusssphären zwischen Russland und England in Persien habe man nicht für sich verwertet. „Immer haben wir Frieden gehalten, immer konnte sich die Welt auf die unbedingte Friedensliebe des Kaisers und des deutschen Volkes verlassen“, Stresemann, Gustav: Reden und Schriften. Politik-Geschichte-Literatur, 1897–1926, Berlin2 2008, S. 29f. In diesem Stillhalten des Kaisers in der Vorkriegszeit verbürgte sich auch für Vietor dessen sittliche und ehrbare Gesinnung, gegenüber der das englische und amerikanische Verhalten für ihn negativ abstach. „Wie turmhoch steht da doch die edle Friedensliebe unseres Kaisers über dieser Gesellschaft, der niemals während seiner langen Regierungszeit die anscheinend günstigste Gelegenheit nutzte, unsere Feinde anzugreifen, wenn sie in Schwierigkeiten waren. Niemals würde er auch, wenn wir an diesem Kriege nicht beteiligt gewesen wären, ohne zwingenden Grund wie Amerika einer der kämpfenden Parteien in den Rücken gefallen sein“, Vietor, 1917 (wie Anm. 55), S. 3. 110 Vietor, 1917 (wie Anm. 103), S. 59. 111 Vietor, 1917 (wie Anm. 99). Auch Max Weber, der ein dezidierter Gegner von Fideikommissen war, bewertete die Wiedereinbringung der Fideikommissvorlage durch die Konservativen als Verstoß gegen den Burgfrieden, da die preußische Staatsregierung, um den Parteifrieden zu retten, 1915 die weitere Beratung darüber auf die Nachkriegszeit verschoben hatte, vgl. Weber/ Mommsen/Hübinger, 1984 (wie Anm. 93), S. 204. So sahen es am 22.1.1917 auch die Abgeordneten Waldstein (Fortschritt) und Leinert (SPD) und verlangten nun ihrerseits Zugeständnisse in der Wahlrechtsfrage, vgl. Patemann, 1964 (wie Anm. 88), S. 46.

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Leipzig ausgehend mehrere hundert Tausend Arbeiter in den Streik getrieben hatte.112 Statt der erneuten Vereinzelung von Interessen sah er das Gebot der Stunde nach wie vor im festen Zusammenstehen des ganzen Volkes wie es am Anfang des Krieges gewesen war. Das damalige Überbrücken der gesellschaftlichen Gegensätze in Form des Burgfriedens der Parteien, der Kriegsbegeisterung und des Hintanstellen partikularer Interessen stellte für ihn den Höhepunkt in seinem bisherigen Leben dar. „Die schönsten Tage, die ich jemals erlebt habe, waren die im Anfang des Krieges. Aller Hader schien vergessen; ein einiges Volk, gewillt, sich mit aller Macht zur Wehr zu setzen.“113 Für ihn war das Volk damals „wie durch Zauberhand geeint“114 und trotz der Grauen des Krieges schätzte er sich 1916 glücklich, diese „herrlich große Zeit miterleben zu dürfen“, da er davon ausging, daß alle Soldaten, wie auch er selbst, ob der gewaltigen Kriegsleistungen von Kaiser und Heerführern, der Organisation des Reiches und der heldenhaften Taten im Kriegsverlauf begeistert sein würden.115 Um die Moral im Volk aufrechtzuerhalten, dürften die Parteien jetzt keinesfalls Interessenpolitik betreiben. Statt Diskussionen über eine Wahlrechtsreform oder eine Friedensresolution mussten die Parlamente seiner Meinung nach dem Volk „durch schneidige Reden“ Mut machen.116 Ein Vorbild dafür war ihm Lloyd Georges „Knockout“ Interview vom 28.9.1916, deren Inhalt er zwar für „eine große, faustdicke Lüge“, deren Rhetorik er jedoch für eine Meisterleistung hielt.117 Auch die am gleichen Tag von Bethmann Hollweg im Reichstag gehaltene 112 Vietor, 1917 (wie Anm. 98). Vietor fand den Streik, der im Zusammenhang mit der Februarrevolution in Russland und der im April erfolgten Bildung der USPD zu sehen ist, „ganz unerhört“, da er die Munitions- und Waffenversorgung der kämpfenden Truppe bedrohte. Völlig unverständlich fand er daher die zaghafte Kommentierung und Verurteilung des Streiks durch die bürgerliche Presse und versuchte daher einen eigenen scharfen Beitrag in der Presse unterzubringen, J. K. Vietor an seine Kinder [Hedwig Vietor] vom 21.4.1917, StAB, 7,73–46, Bl. 110f. Bei dem Beitrag handelte es sich wahrscheinlich um den zweiteiligen Artikel „Was uns not tut“, der in der Mai- und Juniausgabe 1917 von „Kreuz und Kraft“ erschien. Damaschke hatte die Veröffentlichung in seiner Schriftenreihe zuvor abgelehnt, vgl. J. K. Vietor an Damaschke vom 27.4.1917, StAB, 7,73–46, Bl. 129. Als sich auch in Bremen eine tausendköpfige Demonstration vor dem Rathaus einfand und mehr Brot forderte, wunderte er sich, daß die Regierung nicht „energisch genug ein[griff], um die Unruhestifter an die Front zu schicken und dafür andere Leute kommen zu lassen“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 26), VPAH, Geschäftliches, S. 218. Zum „Brotstreik“ und der Zunahme der Streiks ab 1917 generell vgl. Wehler, 2003 (wie Anm. 39), S. 86, 137f. 200.000 Streikende legten in Berlin umgehend rund 300 Rüstungsbetriebe lahm, ebd., S. 86. Auf die häufig unterschätzte Rolle der revolutionären Obleute bei den Streiks verweist Hoffrogge, Ralf: Räteaktivisten in der USPD. Richard Müller und die Revolutionären Obleute, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (JBzG) 1 (2008), S. 36–45. 113 Vietor, J. K.: Ansprache anlässlich der Auflösung der Bremer Stadtwehr am 28.2.1921, VPAH. 114 Vietor, J. K.: Einst und jetzt, in: Kreuz und Kraft 9/10/11 (1919), S. 41–43, 41. 115 Vietor, 1916 (wie Anm. 53), S. 113. 116 J. K. Vietor an Mumm vom 14.9.1917, BAB, N 2203-31, Bl. 56. 117 In einem Interview am 28.9.1916 für die US Zeitung „United Press of America“ hatte der damalige englische Kriegsminister Lloyd George die Weiterführung des Krieges bis zum „Knockout“ Deutschlands gefordert. Am Ende des Krieges müsste für Deutschland so ein harter Friede stehen, das es auf lange Sicht zu keinem weiteren Krieg mehr fähig sei, was insbesondere durch die Zerschlagung der preußischen Vorherrschaft in Deutschland erreicht werden sollte, Weber,

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Rede wertete er als die richtige Sprache in dieser harten Zeit. Ihn hatte sie erneut gefestigt in der Überzeugung, dass Deutschland für eine gerechte Sache kämpfe.118 Bereits damals hatte er eine zunehmende Nervosität und zu viel Schwarzseherei in Deutschland wahrgenommen und sie auf fehlendes Gottvertrauen zurückgeführt.119 Ebenso kritisch bewertete er die erneute Nervosität in Deutschland im Frühjahr 1917, wenngleich er die zermürbende Macht des Hungerwinters einräumte.120 Fehlendes Gottvertrauen hatte seiner Meinung nach die fatale Folge, dass man die Dinge nicht mehr ruhig abwarten könne, keine Kraft zur Selbstverleugnung mehr aufbringe und dann in Selbstsucht und Ungeduld fiele. Eben das spiegelte der erneute Parteienstreit für ihn wider.121 Insgesamt konnte für Vietor, die CSP und den DEVB kein Zweifel daran bestehen, dass, unbeschadet der eigenen Überzeugungen, eine „fortschreitende Demokratisierung“ der Gesellschaft nicht aufzuhalten war, wie Stuhrmann auf der Jahresversammlung des DEVB am 2. und 3.12.1917 zugab. Umso dringlicher erschien nun der forcierte Zusammenschluss des bibelgläubigen Lagers, um für den zu erwartenden weltanschaulichen „Entscheidungskampf“ gerüstet zu sein.122 Vorbereitungen auf das nahende Kriegsende beschäftigen auch das Kolonialamt, insbesondere die Frage, wie der Handel wieder aufgenommen werden könne nach Einstellung der Kampfhandlungen. Zu diesem Zweck wurde Vietor in eine Kommission berufen, die sich diesem Thema widmete und die erstmals im März 1918 tag-

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Max/Krumeich, Gerd: Briefe 1915–1917 (Max Weber Gesamtausgabe, II/9), Tübingen 2008, S. 550. In der Rede hatte Bethmann Hollweg auch den pointierten Satz gewagt: „Ein deutscher Staatsmann, meine Herren, der sich scheute, gegen diesen Feind [gemeint ist England, Anm. B.O.] jedes taugliche, den Krieg wirklich abkürzende Kampfmittel zu gebrauchen, ein solcher Staatsmann verdiente gehängt zu werden.“ [Herv. i.Orig.] SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., 63. Sitzung vom 28.9.1916, S. 1693. Damit hatte er sich in der U-Boot Frage jedoch selbst unter Druck gebracht, da ihm dieser Satz ohne weiteres auch persönlich entgegengehalten werden konnte. Als mit der Resolution vom 7.10.1916 auch das Zentrum kurz darauf ins Lager der Befürworter des unbeschränkten U-Bootkrieges einschwenkte, konnte er dem Druck von Parlament und OHL nicht länger standhalten. Wenn Bethmann Hollweg in dieser „Kurskorrektur“ des Zentrums später die endgültige Abgabe der politischen Macht an die OHL sehen wollte, negierte er die Rolle seiner eigenen kontraproduktiven Aussage vom 28.9.1916 geflissentlich, vgl. Bethmann Hollweg, Theobald von: Betrachtungen zum Weltkriege. Während des Krieges (Bd. 2), Berlin 1921, S. 128. Vietor, 1916 (wie Anm. 53), S. 113. Im Hunger durch die Blockadepolitik Englands sah Vietor 1921 die letzte und tiefliegendste Ursache „der Revolution, unseres Waffenstillstandes und des erzwungenen Friedensvertrages.“ Mit Schaudern dachte er an die ständigen Rückenschmerzen und das Herzklopfen in Folge des Hungers zurück. Die Beine waren damals so schwer gewesen, „dass man kaum den täglichen Weg vom Haus zur Arbeit machen konnte“, Vietor, J. K.: Redemanuskript zur Begrüßung der „Cowboys“ am 9.2.1921, VPAH, Konv. 4, Teil 4. Der Hunger und die Folgewirkungen von Unterernährung forderten im 1.Weltkrieg mehr zivile Opfer als der Bombenkrieg im 2.Weltkrieg (500.000), Neitzel, Sönke: Seeblockade, in: Hirschfeld, 2009 (wie Anm. 34), S. 1002– 1004, 1004. Vietor, 1917 (wie Anm. 99), S. 37. Eine bedeutsame Tagung, in: Kreuz und Kraft 12 (1917), S. 96–97, 97.

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te.123 Bereits am 15.5.1916 hatten der Verein der Togokaufleute, der Verband der Kamerun- und Togopflanzungen, der Verein der Nord- und Mittelkamerun-Kaufleute und der Verband Kameruner Tabakpflanzungen eine Eingabe an Solf gerichtet, die rechtzeitige Vorbereitungen für die Übergangszeit nach dem Krieg anmahnte. Die Verbände befürchteten, dass sich die Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit nach Kriegsende infolge zu erwartender monatelanger Friedensverhandlungen hinauszögern könnte.124 Von eklatanter Bedeutung für die Kolonialhandelsgesellschaften war daneben naturgemäß die Entschädigungsfrage. Das Ende des Krieges sah Vietor im Oktober 1918 dann ganz anders kommen, als lange erwartet. Hatte er im Sommer 1918 noch gehofft, Deutschland könne nach dem Krieg seine weltgeschichtliche Bestimmung, seine „Kulturmission“, aufnehmen,125 sah er nun angesichts der traurigen Kriegslage Deutschland schweren Zeit entgegengehen. Die politische Entscheidungsgewalt sah er klar auf die SPD zulaufen und beklagte, daß die besitzenden Schichten ihre Solidarität mit der bisherigen Regierung aufgekündigt hätten. „Alle die Leute, die heute auf unseren Kaiser und die bisherige Regierung so schimpfen, werden wohl bald eines Besseren belehrt werden, wenn die Sozialdemokraten jetzt schon wieder den Prinzen von Baden als Reichskanzler absetzen wollen. Verstand ist eben bei der Masse nicht und ich fürchte, es wird uns noch sehr schlecht ergehen.“126

Vier Wochen später war nicht nur der Krieg zu Ende und stellte nicht nur die SPD den Reichskanzler, sondern auch der von ihm so geliebte Kaiser hatte abgedankt. Für Vietor brach eine Welt zusammen. „Wir sind natürlich tieftraurig, daß der Kaiser abgegangen ist […] Ein schmählicher Undank für den herrlichen Mann, der Deutschland so hoch brachte, der den Krieg 4 Jahre so glänzend führte, denn ohne seine Arbeit wäre Deutschland nicht so reich und mächtig geworden […] Ich bin und wir alle sind innerlich ganz geknickt. Unser geliebtes Vaterland ist von seiner stolzen Höhe ganz herabgestürzt.“127

In seiner ersten Analyse der Ursachen für das unglückliche Kriegsende, sah er das Hauptversagen in „Berlin“, wobei er nicht in erster Linie an die Regierung dachte, sondern an die „reichen Leute“. Die jahrelang verschleppten Sozialreformen bildeten für ihn den Hintergrund für die augenblickliche Lage. Die jüngsten sozialen 123 Die Sitzung sollte zwischen dem 5. und 10.3.1918 stattfinden, vgl. Freese an [J. K. Vietor], o.D., StAB, 7,73-46, Bl. 365; J. K. Vietor an Reinhard vom 6.4.1918, ebd., Bl. 385. 124 Eingabe des Vereins der Togokaufleute, Verband der Kamerun- und Togopflanzungen, Verein der Nord- und Mittelkamerun-Kaufleute, Verband Kameruner Tabakpflanzungen an Solf vom 15.5.1916, BAB, R 1001-7061, Bl. 3–6. Dabei gaben sich die Verbände der Hoffnung hin, dass Togo und Kamerun nach einem Friedensschluss deutsch bleiben würden, hofften aber auf die Ausweitung des Togogebietes um das Voltadreieck und Dahomeys. 1916/17 hatte sich der „Ausschuß für Handel und Gewerbe betreffend Überführung der Kriegs- in die Friedenswirtschaft“ in mehreren Sitzungen ganz allgemein und mit Schwerpunkt der inländischen Wirtschaftsverhältnisse mit der Frage des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft beschäftigt, vgl. dazu die Teilberichte, SBR, 13. Leg. per., 2. Sess., Anlagen 504, 740, 749, 805, 875, 1251, 1269. 125 Vietor, 1918 (wie Anm. 89), S. 34. 126 J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 14.10.1918, VPAH, NL Hueck. 127 J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 16.11.1918, VPAH, NL Hueck, S. 3.

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Errungenschaften wie den 8-Stundentag habe er der Handelskammer Bremen seit etwa 15 Jahren, also fast die gesamte Zeit seiner Mitgliedschaft seit 1900, gepredigt und selbst ebenso so lange bereits praktiziert. Darüber hinaus habe er lange für die Bodenreform gekämpft, für ein persönliches, soziales Verhalten der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitern, für die Bekämpfung der Syndikate und eine gute Behandlung der Neger. Immer sei er auf taube Ohren gestoßen. „Neulich als ich immer so drängte, sagte ein Herr in der Kammer: „Merken sie denn gar nicht, dass sie seit 14 Tagen ganz allein stehen?“ Dann sagte ich: „Nein, seit 15 Jahren und es wäre besser gewesen, sie hätten (sic) mir gefolgt, dann wäre es nicht so gekommen“ und sie gaben mir recht und schwiegen.“128

Ein Kriegsende mit solchen Waffenstillstandsbedingungen wie die vom 11.11.1918 hätte nach seiner Meinung vermieden werden können. In der Handelskammer habe er seit Wochen darauf gedrängt, sich für eine stärkere Anspannung aller Kräfte einzusetzen, kam aber mit seinen Anträgen nicht durch. Nur mit höchster Tatkraft und Anspannung hätte der Krieg gewonnen werden können, aber eben die hätte überall gefehlt. Ein Versäumnis der jetzigen Regierung sah er darin, nicht sofort nach Übernahme der Geschäfte das ganze Volk aufgeboten zu haben zu einem hartnäckigen Endkampf. Dann wären in jedem Fall bessere Waffenstillstandsbedingungen herausgekommen und ein ehrenvoller Frieden, da die Franzosen und Italiener so kriegsmüde gewesen seien, daß sie keine drei Monate mehr weitergekämpft hätten.129 Stattdessen hatte man sich auf die Barmherzigkeit der Alliierten und den Idealismus Wilsons verlassen und sei nun schwer enttäuscht worden. Trotzdem sprach er sich durchaus wohlwollend über die Regierung Ebert aus, auch wenn er die Revolution grundsätzlich ablehnte. „Eine Revolution ist nie gut. Eine solche Umwälzung fängt ganz gemächlich an und geht immer weiter nach links. Würde Ebert bleiben, dann könnte es noch gehen, denn er selbst will das Beste, aber ich fürchte, er bleibt nicht und es geht zu den Unabhängigen und dann zu den Communisten und es giebt (sic) noch ein grosses Chaos, wenn die Feinde nicht kommen und alles besetzen, was ich glaube.“130

Neben der Kritik an den versäumten Sozialreformen, deren rechtzeitige Einführung seiner Meinung nach die Revolution und die Abdankung des Kaisers verhindert 128 Ebd. Nach Vietors Aussage kamen in den ersten Monaten nach der Revolution selbst ehemalige politische Gegner zu ihm und räumten ein, dass bei einer früheren Umsetzung der von der CSP geforderten sozialen Reformen die aktuelle Lage deutlich besser aussähe, Vortragsmanuskript „Im neuen Deutschland“ [1919], StAB, 7,73-15, S. 8. 129 Der spätere Reichskanzler Heinrich Brüning teilte Vietors Standpunkt insofern, als er das Waffenstillstandsgesuch, das die OHL am 30.9.1918 gefordert hatte, bereits Anfang Oktober 1918 als kontraproduktiv für die eigene Verhandlungsbasis bezeichnete. Brüning, der zu den von Ludendorff 1916 gegründeten Maschinengewehr-Scharfschützen (MGSS) Spezialeinheiten gehörte, war davon überzeugt, ein Waffenstillstandsangebot hätte erst gemacht werden dürfen, nachdem die sicheren Truppenteile an die Reichsgrenze zurückgenommen worden waren. Die unsicheren „Bolschewiken-Divisionen“ sowie die Etappe hätten dagegen geopfert werden sollen. Die Schlagkraft der Kriegsgegner schätzte er wegen „erhebliche[r] Ermüdungserscheinungen“ für weit weniger stark ein, als angenommen wurde, vgl. Brüning, Heinrich: Memoiren. 1918–1934, Stuttgart 1970, S. 23. 130 J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 16.11.1918, VPAH, NL Hueck, S. 3.

Zwischen innenpolitischer Kontinuität und außenpolitischer Flexibilität

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hätten, sparte Vietor auch nicht mit Vorwürfen gegen die Christen in Deutschland. Sie hätten sich dadurch schuldig gemacht, dass sie nicht ebenso intensiv am Volk gearbeitet hätten wie die Sozialdemokraten und wären damit ebenfalls verantwortlich für die Revolution. Vietor konnte nicht verstehen, dass selbst jetzt noch Bremer Christen gegenüber dem DEVB skeptisch eingestellt waren, da gerade er sich ja diese präventive Öffentlichkeitsarbeit seit Jahren auf die Fahnen geschrieben hatte.131 Erstaunlich an dieser ersten Analyse kurz nach Abdankung des Kaisers ist das milde Urteil über die Revolution und die Regierung Ebert. Anders als später erklärt er den Umsturz und den verlorenen Krieg nicht mit dem Verrat der Linken, sondern mit dem Versagen der Rechten, der Besitzenden, weil sie zu lange gezögert hatten, auf dem sozialen Feld bessere Lebensverhältnisse für das Volk zu schaffen. Das Versagen und die Uneinigkeit der Christen kam für ihn hinzu. Letztlich sollte aber die bereits hier vernehmbare Kritik an den seiner Meinung nach vermeidbaren Waffenstillstandsbedingungen, die das „geliebte, schöne, stolze Deutschland“ völlig wehrlos machten und die Nation zerschlugen, zum Angelpunkt werden, an dem sich Vietors Nachkriegsentwicklung ins äußerste rechte politische Lager entschied und die anderen anfänglichen Einsichten verblassen ließen.

131 Ebd.

7 POLITISCHE VERHÄRTUNG UND WIRTSCHAFTLICHER RUIN VOM PROGRESSIVEN SOZIALREFORMER ZUM VERDROSSENEN REAKTIONÄR Spätestens das Ende des Krieges, respektive die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages markiert in Vietors Leben den Wendepunkt vom progressiven Sozialreformer zum verdrossenen Reaktionär und Chauvinisten. Hatte bereits die Erregung des Kriegsausbruches mit der weithin geteilten Überzeugung des Verteidigungskampfes gegen Neider und Revanchisten zu einem von chauvinistischen Stimmungen getragenen Umschwung bei Vietor geführt, verhärteten sich seine Ressentiments gegen Franzosen und Engländer nach dem Waffenstillstand zusehends. Dazu trug einerseits das Gefühl bei, Deutschland sei getäuscht worden, als es die schweren Waffenstillstandsbedingen im Vertrauen auf Wilsons 14 Punkteplan unterzeichnet hatte.1 Hinzu kam die Kolonialpropaganda der Engländer, die mit Evans Lewins Propagandaschrift „Deutsche Kolonisatoren in Afrika. Die Kolonisierung mit der Peitsche“ bereits im Sommer 1918 einen Höhepunkt erreicht hatte. In dieser Schrift, die die Aberkennung jeglichen moralischen Rechts der Deutschen auf Kolonialbesitz in späteren Friedensverhandlungen vorbereiten sollte, musste ausgerechnet Vietor als einer der Kronzeugen für Lewins Thesen herhalten. Die Schrift wird eingeleitet mit einem Vietor-Zitat: „Und welch glänzenden Gewinn haben wir von unserer Kolonialpolitik gezogen! Süd-, West- und Ostafrika sind im Aufstand! Wir verstehen die Neger nicht zu behandeln. J. K.Vietor“.2 Lewin versuchte den Gegensatz zwischen deutscher Kolonialpraxis auf der einen Seite und englischer wie französischer auf der anderen auf die These zuzuspitzen, dass den Deutschen das Feingefühl fehle mit Kolonialvölkern umzugehen. Während England und Frankreich es verstanden hätten, mit den traditionellen Eliten der Völker zu kooperieren und sie in ihre Herrschaftspraxis zu integrieren, hätte die deutsche Verwaltung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erbarmungslos gewütet: „Ein abstossender Eigendünkel kennzeichnete die brutale Anwendung dieser Gewaltpolitik. Das preussische Evangelium der Macht wurde mit eiserner Strenge schwächeren Völkern aufgedrängt.“ Neben bezeichnenden Aussagen deutscher Politiker in den Kolonialdebatten der Vorkriegszeit, die die Fehler der deutschen Kolonialpolitik betonten, führte Lewin auch Vietors schockierende Klage über die Entvölkerung in Kamerun an. Dabei zitierte er eine Aussage von ihm, die Vietor 1 2

J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 16.11.1918, VPAH, NL Hueck, S. 3. Lewin, Evans: Deutsche Kolonisatoren in Afrika. Die Kolonisierung mit der Peitsche. Mit einem offenen Brief des Bischofs von Zanzibar Frank Weston., Zürich 1918, S. 5. Zur antideutschen Kolonialpropaganda Englands vgl. auch Clarke, Peter B.: West Africans at War, 1914– 18, 1939–45. Colonial Propaganda and its Cultural Aftermath, London 1986, S. 23–37.

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1913 von einem Plantagenleiter mitgeteilt bekommen hatte, „daß auf der TikoPflanzung 50 bis 75 % der Arbeiter innerhalb 6 Monaten gestorben waren.“3 Einerseits beschwerte sich Vietor über Lewin und andere antideutschen Kolonialpropagandaschriften, andererseits sah er sich in einem peinlichen Zwiespalt. „Über Kolonialpolitik habe ich keine Broschüre geschrieben, nicht weil mir die Zeit fehlte, sondern weil es mir unzeitgemäß erschien. Man kann an die furchtbaren Fehler, die die deutsche Kolonialpolitik in den ersten 30 Jahren gemacht hat, doch nicht vorbei gehen und wie jetzt ein Herr Eduard Lewin eine Schandbroschüre über unsere Kolonialpolitik geschrieben hat, die mit einem Satz aus einer meiner Broschüren anfängt, so wird alles, was man ungünstiges sagt, sofort in der schändlichsten Weise von den Feinden ausgenutzt, wenn man es auch nur gesagt hat, um die Verhältnisse zu bessern. Ich meine, über Kolonialpolitik kann man nur schreiben, wenn man weiß, dass wir unseren Besitz wiederbekommen.“4

So unfair er Lewins „eselhafte“ Anklageschrift auch fand, konnte er die dargestellten Tatsachen doch nicht leugnen und interpretierte die Schrift daher als „Fluch der bösen Tat“.5 An der Wirkung der englischen Propagandaschriften auf die Weltöffentlichkeit und insbesondere Woodrow Wilson konnte weder die deutsche Antwortschrift vom September 1918 noch die 1919 erschienene Antwort auf das englische Blaubuch vom August 1918 etwas ändern.6 Vielmehr spitzte sich die antikoloniale Agitation nach dem Waffenstillstand weiter zu und führte schließlich zu einem Abrücken Wilsons von Punkt 5 des 14 Punkteplans, der Deutschland in der 3 4 5

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Lewin, 1918 (wie Anm. 2), S. 21. Lewin führt insbesondere Zitate aus den Reichstagsdebatten 1906 und 1914 an, wobei er vor allem auf Aussagen von Roeren, Erzberger, Dittmann und Dr. Müller zurückgreift, ebd., S. 27 ff. J. K. Vietor an Stuhrmann vom 29.8.1918, StAB, 7,73-46, Bl. 457. J. K. Vietor an A. W. Schreiber vom 27.8.1918, StAB, 7,73-46, Bl. 452f. In Bezug auf eine mögliche Widerlegung der Anklageschrift des Bischofs von Sansibar plädierte Vietor für eine Stellungnahme des Reichskolonialamtes. Wegen der Vorwürfe des britischen Kolonialamtes gegen die Kolonialpraxis in Togo hatte er eine energische Antwort an den VWK geschickt, was ihm in diesem Fall leicht fiel, „weil die Verwaltung von Togo im Allgemeinen eine sehr gute war.“ Die deutsche Kolonialpolitik vor dem Gerichtshof der Welt. Eine deutsche Antwort von Kolonialpolitikern und Missionaren, Basel 1918; Reichskolonialamt (Hrsg.): Die Behandlung der Einheimischen Bevölkerung in den kolonialen Besitzungen Deutschlands und Englands. Eine Erwiderung auf das englische Blaubuch vom August 1918: Report on the natives of South-west Africa and their treatment by Germany, Berlin 1919. In der Antwort auf Lewin wehren sich Erzberger, Noske, Müller u.a. gegen die Verallgemeinerung von „bedauerlichen Einzelerscheinungen“ und kritisieren den politischen Hintergrund der Angriffe: „Das englische Kabinett gab die Parole aus, dass das alte Deutschland seine Kolonien nicht zurückerhalten werde“, Reichskolonialamt, 1919, S. 3. Der ebenfalls von Lewin zitierte holländische Pater Jan van der Burgt zeigte sich im November 1918 empört, dass er als Neutraler für englische Propaganda herhalten mußte und verurteilte Inhalt und Intension der Schrift: „Ich gestehe ehrlich, daß ich noch nie in meinem Leben so etwas pervers-hypokritisch-pharisäisches gelesen habe“, Eine Unterredung mit Pater van der Burgt, in: Koloniale Rundschau 11/12 (1918), S. 347–364, 348. Auf die französischen Vorwürfe gegen die humanitären Verstöße Deutschlands in den Kolonien geht die Schrift des Reichskolonialministeriums von 1919 ein: Reichskolonialminsterium: Deutsche und französische Eingeborenenbehandlung. Eine Erwiderung auf die im ‚Journal Officiel de la République Française’ v. 8. Nov. 1918 u. 5. Jan. 1919 veröffentl. Berichte, Berlin 1919.

Vom progressiven Sozialreformer zum verdrossenen Reaktionär

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Lansingnote vom 5.11.1918 ausdrücklich als Grundlage des Waffenstillstandes zugesichert worden war. Darin wurde eine unparteiische Prüfung aller kolonialen Fragen zugesichert, die beides, die Interessen der kolonisierten Völker wie auch die Interessen des kolonialen Mutterlandes berücksichtigen sollte.7 Der Verweis auf die Interessen der kolonisierten Völker bildete die Grundlage für die Schlagkraft des bereits 1917 in Auftrag gegebenen britischen Blaubuchs sowie weiterer Weißbücher, die Umfrageergebnisse aus Togo, Kamerun, Ostafrika und Samoa vorlegten. Darin wurden die Ergebnisse von Befragungen der Bewohner der jeweiligen Gebiete, in erster Linie Häuptlinge, dokumentiert, die als repräsentative Willensbekundung der von Deutschland kolonial verwalteten Völker angesehen wurden und schließlich als Begründung für den Ausschluss Deutschlands aus dem Kreis der Kolonialmächte im Versailler Vertrag dienten.8 Eine entsprechende Zielsetzung der Kriegsgegner, insbesondere England und Frankreich, war nach dem Waffenstillstand den kolonial interessierten Kreisen Deutschlands keinesfalls zweifelhaft.9 Bereits am 16.11.1918 forderte der Vizepräsident der DKG, Strauch, die 7

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Punkt 5 des 14 Punkteplans Wilsons lautet: „Eine freie, weitherzige, und unbedingt unparteiische Schlichtung aller kolonialen Ansprüche, die auf einer genauen Beobachtung des Grundsatzes fußt, daß bei der Entscheidung aller derartiger Souveränitätsfragen die Interessen der Bevölkerung ein ebensolches Gewicht haben müssen, wie die berechtigten Forderungen der Regierung, deren Rechtsanspruch bestimmt werden soll“, zit. nach Schnee, Heinrich: Die koloniale Schuldlüge, München7 1927, S. 16; vgl. Graichen, Gisela/Gründer, Horst: Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, Berlin4 2005, S. 371. Schnees international viel beachtete Studie erschien erstmals 1924 und thematisierte das durchsichtige Bemühen Englands und Frankreichs 1918/19, die teilweise bereits 1916 und 1917 in Geheimverträgen verteilten deutschen Kolonien nun unter Vorschützung humanitärer Gründe übernehmen zu können. Schnees Gegendarstellung erreichte bis 1940 12 Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und wurde in der englischsprachigen Welt aufmerksam diskutiert. Dort führte sie zwar zu einer Relativierung der kolonialen Vorwürfe gegen Deutschland, konnte aber keine politische Veränderung auslösen, Schnee, Schuldlüge, 1927 (wie Anm. 7), S. 5. Schnee, Schuldlüge, 1927, (wie Anm. 7), S. 94–96; Graichen/Gründer, 2005 (wie Anm. 7), S. 372, 374f. Nachdem bereits 1925 der südafrikanische Premierminister James Hertzog das Sammelwerk aufgrund seiner „Unzuverlässigkeit und Unwürdigkeit“ als „Kriegshetze“ bezeichnet hatte, distanzierte sich am 29.7.1926 der südwestafrikanische Landesrat in einer Entschließung vom Blaubuch als „Kriegspropaganda“ und beantragte seine Tilgung aus den offiziellen Akten der Südafrikanischen Unionsregierung und der englischen Regierung, Schnee, Schuldlüge, 1927, (wie Anm. 7), S. 31. Der Landesrat bestand aus neun Deutschen, acht Buren und einem Briten. Das Votum erfolgte einstimmig. Hertzog unterstützte diese Entschließung am 27.2.1927 und forderte erneut die Entsorgung des Blaubuchs wie auch aller anderen „derartigen Schriften der Kriegszeit“, vgl. Freytagh-Loringhoven, Axel von: Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien. Quellen und Materialien (Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Kolonialrecht; 1), München 1938, S.VI. Diese Stellungnahmen, die im Falle Südafrikas weniger von Deutschlandfreundlichen als vielmehr eigenen rassendiskriminierenden Tendenzen getragen waren, nützten Deutschland bei seinen Bemühungen um Übertragung von Völkerbundmandaten im Zusammenhang mit dem Beitritt zum Völkerbund allerdings nichts. Englands Absicht, die deutschen Kolonien einer neuen Verwaltung zu unterstellen, war bereits in Lloyd Georges Rede am 5.1.1918 deutlich angeklungen, als er für die einheimischen Bewohner der deutschen Kolonien, nicht aber für die der englischen Kolonien, ein Selbstverwaltungsrecht reklamierte. Eine Parallele zu Wilsons Forderung der Berücksichtigung der Interessen der indigenen Völker bei der Lösung der kolonialen Frage in seinem 14 Punkteplan vom 8.1.1918,

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Reichsregierung zu nachdrücklichen Anstrengungen auf, die Rückgabe der besetzten deutschen Kolonien zu erreichen. Im Dezember wiederholte die DKG diese Forderung und unterstrich sie mit Umzügen, Kundgebungen, Plakaten und Flugschriften.10 Ähnliche Eingaben an die Reichsregierung kamen von verschiedenen Handelskammern, Banken, dem VWK und anderen kolonialen Kreisen, wobei als Mindestforderung die Beteiligung Deutschlands an einem „Weltkolonialamt“ oder einer anderen internationalen kolonialen Gemeinschaftsorganisation erhoben wurde.11 Auf Vorschlag des VWK war Vietor am 7.12.1918 „als Stellvertreter des Schutzgebiets Togo zum Mitgliede des Sachverständigenausschusses beim ReichsKolonialamt“ berufen worden. Der Ausschuss hatte die Aufgabe, sich zu den „im Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen zu erledigenden wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen der Schutzgebiete zu äußern.“ Die erste Sitzung fand am 19.12.1918 in Berlin statt und beschäftigte sich laut Tagesordnung mit der Beratung von kolonialpolitischen Verhandlungspositionen für einen Vorfriedensvertrag und der Diskussion über ein mit England abzuschließendes Abkommen zur Frage der Wiederaufnahme deutscher Handels- und Missionstätigkeit in den von England besetzten Teilen der deutschen Kolonien.12 Unter Einbeziehung der Ergebnisse des Sachverständigenausschusses legte das Reichskolonialamt schließlich drei Denkschriften als Verhandlungsunterlagen für die deutsche Friedensdelegation vor.13 In

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zwei Tage nach Lloyd Georges Rede, ist unverkennbar. Noch klarer hatte der englische Außenminister Balfour im August 1918 Anspruch auf die deutschen Kolonien erhoben und Deutschland moralisch als unfähig zur kolonialen Verwaltung erklärt. Beiden Äußerungen war von Solf öffentlich widersprochen worden, vgl. Solfs Eingeborenenpolitik, in: Koloniale Rundschau 1/2 (1918), S. 3–8; Solfs Rede, in: Koloniale Rundschau 9/10 (1918), S. 273–283. Im Januar und Februar 1919 fanden in insgesamt 29 deutschen Städten Protestversammlungen der DKG und anderer kolonialer Interessengemeinschaften statt, teils auf Anregung Erzbergers und mit Wohlwollen Kolonialministers Bell, um auf diese Weise Druck auf die Friedensverhandlungen in Paris auszuüben, Müller, Helmut/Fieber, Hans-Joachim: Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) 1882 (1887)–1933, in: Fricke, Dieter, 1968: Die bürgerlichen Parteien, S. 390–407, 399. Rüger, Adolf: Der Kolonialrevisionismus, in: Stoecker, Helmuth, 1977: Drang nach Afrika, S. 243–279, 244–246. Auf englische Äußerungen zu einer „Internationalisierung“ der Verwaltung der tropischen Kolonien war Solf bereits in seiner Rede vor der DKG am 21.12.1917 eingegangen, wenn auch skeptisch. Friedrich Naumann griff im Sommer 1918 Solfs alternativen Vorschlag vom Dezember 1917 auf, die Kolonien in Zukunft auf Basis einer internationalen Treuhänderschaft zu verwalten, wobei jede Kolonialmacht die von ihr zu verwaltenden Gebiete durch internationale Absprachen übertragen bekommen sollte. Eine Vorstellung wie sie später in Form der Mandatsvergabe des Völkerbundes verwirklicht wurde, wenn auch nur in Bezug auf die von den unterlegenen Kriegsgegnern übernommenen Gebiete, vgl. Solfs Eingeborenenpolitik, in: Koloniale Rundschau 1/2 (1918), S. 3–8; Naumann, Friedrich: Das Schicksal der Naturvölker im Zivilisationskrieg. Vortrag gehalten am 16. September 1918 im Abgeordnetenhaus, in: Koloniale Rundschau 9/10 (1918), S. 320–328. RKolA an Vietor vom 7.12.1918, VPAH. Offensichtlich gehörte auch Friedrich Hupfeld zum Sachverständigenausschuß, der mehrere Male tagte, Fr. Hupfeld an Dr. Bell vom 20.3.1919, BAB, R 1001-7057, Bl. 132f. Hupfelds Minimalziel für einen Präliminarfrieden war die wenigstens „notdürftige“ Wiederaufnahme des geschäftlichen Betriebs der deutschen Firmen in den Kolonien. BAB, R 1001-7057, Bl. 32; vgl. auch Brief [des Reichskolonialamtes] an Boettinger, Legati-

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einer folgenden Anhörung forderte Vietor den Reichskolonialminister auf, niemals einem Frieden zuzustimmen, der den Verlust der Kolonien festschrieb. Für ihn war nach wie vor England die treibende Macht hinter dem Versuch, Deutschland die Kolonien abzusprechen. Eine Einverleibung der deutschen Kolonien auf Grund des militärischen Sieges hätte er notfalls akzeptiert, aber die Begründung mit aufgebauschten humanitären Vorwürfen war für ihn unerträglich. „Aber nicht mit dem Recht des Siegers, der durch seine erworbene Macht den Sieg ausnutzt, will England uns unsere Kolonien nehmen. Es beschreitet einen üblen schmutzigen Weg, um sich ein schönes Mäntelchen umzuhängen. Es behauptet, daß wir eine schmähliche gemeine Eingeborenenpolitik betrieben hätten, und dass wir nicht wert seien, Kolonien zu besitzen. Ich bin der Letzte, der alle Vorkommnisse in unserer Kolonialpolitik gutheisst. Exellenz (sic) wird auch im Amt bis heute unerledigte Beschwerden von mir vorfinden, aber was die Engländer über unsere Kolonialpolitik im allgemeinen schreiben, ist einfach eine Lüge. Einige sehr bedauerliche Einzelfälle, die 10 oder zwanzig Jahre zurückliegen, werden aufgebauscht, als wenn der Durchschnitt unserer deutschen Beamten und unserer Verwaltung so gewesen wäre.“14

Als eine Gruppe von Kolonialverbänden den Reichskolonialminister am 17.4.1919 zur Hinzuziehung eines Vertreters der Kolonialinteressenten zu den Friedensverhandlungen aufforderte, mögen sie auch an die Wirkung des Berichtes eines Kenners der deutsch-kolonialen Verhältnisse gedacht haben. Vietor wäre als bekannter Vorkämpfer für Kolonialreformen in der Vorkriegszeit und als „Zeuge“ des Berichtes von Lewin ohne Frage ein geeigneter Kandidat dafür gewesen.15 Da es jedoch in Paris zu keinen mündlichen Verhandlungen kam, lief dieser Vorschlag ins Leere. Damit blieb sowohl die „Kriegsschuldlüge“ wie auch die „Kolonialschuldlüge“ im Raum stehen und vergiftete die Beziehungen zwischen Deutschland und den Kriegsgegnern auf Dauer,16 aber auch das Verhältnis der bürgerlichen Schichten zum neuen deutschen Staat. Trotzdem Vietor während des Krieges selbst große koloniale Erwerbungen auf Kosten Frankreichs, Belgiens und besonders Englands

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onssekretär der Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen vom 15.3.1919, ebd. Bl. 116f. An der „Denkschrift über die Schäden in den Kolonien infolge des Krieges dort“ vom 24.1.1919 hatte Vietor mitgearbeitet, vgl. Vortragsmanuskript für Rede vor Exzellenz [Bell], o. D. [1919], VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 5. Vortragsmanuskript für Rede vor Exzellenz [Bell], o. D. [1919], VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 5. Trotz Bells Versuch mit den deutschen Änderungswünschen in der Mantelnote vom 29.5.1919 den Verbleib der Kolonien bei Deutschland zu erreichen, erhielt Deutschland am 16.6.1919 endgültig den Bescheid, dass die Kolonien Deutschland wegen des starken Widerspruchs der indigenen Bevölkerung nicht zurückgegeben werden könnten, vgl. Graichen/ Gründer, 2005 (wie Anm. 7), S. 374f. Unter Berufung auf die Erklärung der Regierung und der Nationalversammlung, dass Deutschland seine Kolonien nicht entbehren könne, forderten mehrere koloniale Verbände das Reichskolonialministerium auf, zu den Friedensverhandlungen auch einen Delegierten der Kolonialinteressenten hinzuzuziehen. Die Eingabe wurde unterzeichnet von: Hamburgischer Verein für deutsche Überseeinteressen, VWK, Vereinigung Südseefirmen Gruppe Hamburg, Vereinigung der Nord- und Mittelkamerun Kaufleute, Hamburgische Vereinigung für Deutsch Südwestafrika, Vereinigung Kameruner Pflanzungen, Hamburgischer Ausschuß der Kolonialdeutschen, DKG Abt. HH, Telegramm an Reichsministerium für die Kolonien vom 17.4.1919, BAB R 1001-7057, Bl. 220f. Vgl. Graichen/Gründer, 2005 (wie Anm. 7), S. 374f.

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gefordert hatte und auch jetzt grundsätzlich das Recht des Siegers auf Zugewinne anerkannte, empfand er die Friedensbedingungen als maßlos. „Seien wir doch ehrlich! Im Falle eines Sieges hätten wir uns auch seine Früchte nicht aus der Hand nehmen lassen, wenn wir auch keinesfalls solch gemeine Bedingungen gestellt hätten, die die anderen Völker vollständig zugrunde richten würden.“

Für Vietor war der angebotene Friede kein gewöhnlicher Tribut an den Sieger, sondern ein völliges „Zugrunderichten“. Mochte das zumindest für die beiden Verbündeten Deutschlands, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich durchaus zutreffen, so gingen die territorialen Beschneidungen Deutschlands zwar über den zu erwartenden Verlust Elsaß-Lothringens und möglicherweise Posens hinaus, tasteten den Bestand des deutschen Reiches aber nicht im Kern an.17 Zusammen mit den anderen empfindlichen Friedensbestimmungen blieb der Versailler Vertrag aber weit hinter den deutschen Erwartungen zurück, die die Entente durch ihre Zustimmung zum 14 Punkteplan Wilsons als Friedensgrundlage selbst geweckt hatte, was das Vertrauen zur Vertragstreue der Kriegsgegner in Deutschland schwer erschütterte.18 Verstärkt durch die sogenannten „Ehrenparagraphen“, die die alleinige Kriegsschuld und die Auslieferung des Kaisers und anderer „Kriegsverbrecher“ festschrieben, entwickelte sich im Mai und Juni 1919 ein temporäres neues Burgfriedensgefühl, das in seiner einmütigen Ablehnung der Vertragsbedingungen das 17

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Die Abtretung Elsaß-Lothringens war seit der Antwortnote der Entente auf die Friedensinitiative Wilsons vom 12.1.1917 feststehendes Kriegsziel Englands und Frankreichs gewesen. Die hier ausgedrückte Forderung der Rückgabe der „Provinzen und Gebiete, die früher den Alliierten durch Gewalt oder gegen den Willen ihrer Bevölkerung“ entrissen worden waren, bezog sich vom Wortlaut nur auf die kriegführenden Parteien, die Alliierten, nicht aber auf neutrale Staaten wie Dänemark oder zunächst mit den Mittelmächten verbundene Staatsgebilde wie Polen, trug aber schon den Kern der Übertragung derartiger Ansprüche auf Länder wie diese in sich. Viel weitreichender waren jedoch die Forderungen gegenüber Österreich-Ungarn und das osmanische Reich, von denen nichts weniger als ihre Auflösung verlangt wurde, vgl. Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht, S. 392f. Etwa zur gleichen Zeit wie England und Frankreich dehnte auch Deutschland sein territoriales Kriegszielprogramm aus und ging jetzt über die Forderung des Septemberprogramms nach Abtretung des Erzbeckens von Briey und der ablehnenden Haltung zur Wiederherstellung Belgiens hinaus. Mit der Polenproklamation vom 5.11.1916 kamen auch Beschneidungen des russischen Territoriums ins Spiel. Hinzu kamen ab 1915 Pläne, die baltischen Gebiete aus dem russischen Staatsverband zu lösen und wenigstens in enger Anlehnung an Deutschland souverän zu machen, Schieder, Theodor: Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum 1.Weltkrieg (1870–1918), in: Albertini, Rudolf von/Schieder, Theodor (Hrsg.): Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg (Handbuch der europäischen Geschichte; 6), Stuttgart 1973, S. 1–196, 174f. Die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk im Frühjahr 1918 dokumentieren eindrücklich, zu welch erheblichen Beschneidungen des Kriegsgegners auch Deutschland im Falle eines siegreichen Kriegsausgangs in der Lage war. Vgl. Schieder, 1973 (wie Anm. 17), S. 195. Die Lansingnote vom 5.11.1918 wurde teilweise bereits als „Vorfriede“ angesehen, Dülffer, Jost: Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Dülffer, Jost/Frey, Marc (Hrsg.): Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, Köln 2008, S. 157–173, 163; Freytagh-Loringhoven, 1938 (wie Anm. 8), S.VII. Reichsaußenminister Simons bezeichnete die Lansingnote 1921 als „Vorvertrag“ und kritisierte den folgenden Friedensvertrag als unvereinbar mit den hier gemachten rechtlichen Zusagen, SBR, 1. Leg. per., 10. Sitzung vom 26.7.1920, S. 257.

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gesamte politische Spektrum von links nach rechts mehr oder weniger umschloss.19 Diese nationale Einheit äußerte sich auch im parteiübergreifenden Konsens zur Frage der Kolonien.20 Die Regierung Bauer und die sie tragende politische Klasse konnte angesichts dieser parteiübergreifenden mentalen Lage das Image des Verräters am Vaterland durch ihre Unterschrift unter den Versailler Vertrag nicht vermeiden und gab, wie es das „Berliner Tagblatt“ am 18.6.1919 vorausschauend und treffend ausdrückte, der „nationalistischen antirepublikanischen Reaktion neue Macht über die Gemüter“.21 Die weitere politische Entwicklung Vietors illustriert diese Voraussage eindrücklich. Im Mai 1919 bezeichnete er die Friedensbedingungen noch als „furchtbares Gericht Gottes“ und war bereit, die eigenen Sünden und die des Volkes zu bekennen, die Deutschland in diese Lage gebracht hätten, insbesondere der Materialismus. Er war sogar bereit, seinen Frieden mit dem neuen Staat zu schließen, denn „die Staatsform, die Gesetze, die Verwaltung sind ziemlich gleichgültig.“ Das Entscheidende war für ihn die innere Erneuerung des Volkes aus dem Geist des Christentums heraus. „Wenn der Mensch innerlich ein anderer wird, wird auch jede Staatsform ihren Beruf erfüllen, wenn ein alter Monarchist sich natürlich auch sehr schwer in eine republikanische Verfassung finden wird.“22 Als 19

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Einen Überblick über die in ihrer Ablehnung des Vertragsentwurfes einmütigen Stimmen der verschiedenen Parteien in der Sitzung der Nationalversammlung am 12.5.1919 bietet, ergänzt um Pressestimmen und Berichte von Kundgebungen u.ä., Dülffer, 2008 (wie Anm. 18), S. 149– 154. Vgl. Graichen/Gründer, 2005 (wie Anm. 7), S. 178–181. Der koloniale Parteikonsens drückte sich in der Entschließung der Weimarer Nationalversammlung zur Wiedererlangung der Kolonien aus, die mit überwältigender Mehrheit gegen nur 7 Stimmen angenommen wurde, Poeschel, Hans: Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles. Dokumente zu ihrer Behandlung, Berlin 1920, S. 67f. Der parteiübergreifende Konsens in der Kolonialpolitischen Frage blieb auch in den Folgejahren erhalten und führte auf Initiative des früheren Kolonialminimisters Dr. Bell am 20.5.1925 zur Gründung der „Interfraktionellen kolonialen Vereinigung“. Die breit angelegte Umfrage unter rund 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens durch das renommierte Hamburger Institut für Auswärtige Politik erbrachte auch noch für die zweite Hälfte der 1920er Jahre den Nachweis einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung zum deutschen Kolonialrevisionismus, vgl. Linne, Karsten: Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika (Schlaglichter der Kolonialgeschichte; 9), Berlin 2008, S. 22–24. 50 Antworten der Umfrage, darunter die des späteren stellv. Vorsitzenden der DKG, Konrad Adenauer, Dr. Bell, Albert Einstein und Thomas Mann wurden im Periodikum des Instituts im Dezember 1927 veröffentlicht, vgl. Soll Deutschland Kolonialpolitik betreiben? Eine Umfrage, in: Europäische Gespräche. Hamburger Monatshefte für Auswärtige Politik 12 (1927), S. 609– 676. Zum Hamburger Institut für Auswärtige Politik vgl. Eisermann, Daniel: Außenpolitik und Strategiediskussion. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955 bis 1972 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn / Reihe Internationale Politik und Wirtschaft; 66), München 1999, S. 56–58. Es gab jedoch auch Stimmen, wie die Hermann Müllers (SPD) oder des früheren Staatssekretärs Solf, die angesichts der erwachenden Freiheitsbestrebungen der kolonisierten Völker ein erneutes Eintreten Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte skeptischer betrachteten. Solf forderte 1927 stattdessen die wirtschaftliche Durchdringung der Rohstoffländer durch Deutschland, Rüger, 1977 (wie Anm. 11), S. 266f. Zit. nach Dülffer, 2008 (wie Anm. 18), S. 152. Vietor, J. K.: Der Weg zur Rettung, in: Kreuz und Kraft 5/6 (1919), S. 21f. Allerdings betont Vietor auch noch 1921 in Bezug auf die Kriegsniederlage, dass Deutschland „diese Demüti-

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Vietor 1919 in die am 5.2.1919 gegründete Bremer Stadtwehr eintrat, legte er ein schriftliches Bekenntnis ab, „auf dem Boden der Regierung Ebert-Scheidemann und der bremischen provisorischen Regierung“ zu stehen. Die Stadtwehr, eine Art Bürgermiliz, hatte den Auftrag, in Zusammenarbeit mit der Polizei, Plünderungen und Diebstähle zu verhindern sowie zukünftige kommunistische Umsturzversuche in Bremen zu vereiteln. Zu diesem Zweck kam sie während der Osterunruhen 1919 und beim Hafenarbeiterstreik im September 1919 zum Einsatz.23 Vietor meldete sich gleich am ersten Tag als Freiwilliger.24 Viele soziale Reformen, die die neue Regierung ins Auge fasste, stießen prinzipiell auf Vietors Zustimmung, nicht zuletzt weil sie seit Jahren zum programmatischen Repertoire der CSP gehört hatten, etwa die Absicht der „Sozialisierung der Bodenschätze, die in Wirklichkeit dem Volk gehören.“25 Die Intention der Revolution, dass der Mensch und die Verbesserung seiner Lebensverhältnisse in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gerückt werden müsse, war für Vietor durchaus ein „gesunder Gedanke“ und auch ökonomisch sinnvoll, da die Wirtschaft davon profitiere, wenn es breiten Schichten gut ginge.26 Für ihn war klar, dass die CSP schon immer für alles eingetreten sei, „was die Revolution den Leuten nun in 24 Stunden mit Gewalt gebracht hat, höhere Löhne, Achtstundentag, Ausbau der sozialen Gesetzgebung, eigene Heime, Verstaatlichung aller natürlichen Monopole und Bodenschätze etc.“27 Vietors inhaltli-

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gung sehr notwendig hatte, weil es sich allzu sehr überhoben und den lieben Gott vergessen hatte“, gab sich aber der Hoffnung hin, dass es „sich sehr schnell von dem heutigen Schicksalsschlägen erholen wird“, J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk vom 24.3.1921, StAB, 7,73-5. Am 6.11.1918 hatte sich in Bremen ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet, der am 14.11.1918 die Bürgerschaft auflöste und bis Ende Dezember die Bewaffnung des Proletariats einleitete. Er boykottierte die Wahlen zur Nationalversammlung, verbot Zeitungen und leitete eine Verhaftungswelle ein. Die MSPD Mitglieder traten Ende November aus dem Rat aus. Am 9.1.1919 wurde der Senat der Stadt für abgesetzt erklärt und durch 9 Volkskommissare ersetzt. Am 4.2.1919 wurde die Stadt von der Division Gerstenberg und dem Freikorps Caspari eingenommen, woraufhin sich eine provisorische Regierung bildete, vgl. Broschüre: Ein Jahr Bremer Stadtwehr, 5. Febr.1919 – 5. Febr.1920, [Bremen 1920], S. 1–3, 11–15. Mit Schreiben vom 14.5.1920 bekam Frau Vietor ein „Ehrenexemplar“ der Broschüre von der Stadtwehr geschickt, mit dem Dank für ihre „liebenswürdige und erfolgreiche Werbetätigkeit“, VPAH. Vietor, J. K.: Ansprache anlässlich der Auflösung der Bremer Stadtwehr am 28.2.1921, VPAH. Vietor hatte bereits einige Tage vor der Revolution zunächst alleine, dann über die Handelskammer, bei der Verwaltung der Stadt Bremen auf die Aufstellung einer „weißen Garde“ gedrängt für den Fall eines Überschwappens der Revolution auf Bremen. In der abschlägigen Antwort des Bürgermeisters hieß es lapidar, an eine Revolution in Bremen sei nicht zu denken, Redemanuskript „Rede von J. K. Vietor, gehalten nach 1919“ [1920], VPAH, S. 5. Den Durchbruch der Revolution in Deutschlands führte Vietor in gleicher Weise auf das Versagen des Reichskanzlers Max von Baden zurück, der aus Furcht Blut zu vergießen, die Meuterei der Matrosen in Kiel nicht rechtzeitig unterdrückt habe, ebd., S. 5f. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 28.2.1919, VPAH, S. 4. Allerdings kritisierte er, dass nach zwei Monaten Diskussion darüber noch immer keine Entscheidung getroffen worden sei. Redemanuskript o.T. [1919], VPAH, Konv. 4 , Teil 3, Mappe 3, S. 1. Vietor, J. K.: „Im neuen Deutschland“ (Vortragsmanuskript) [1919], StAB, 7,73-15, S. 7. Das Redemanuskript findet sich auch im Bestand des VPAH (ohne Signatur). Der 8 Stundentag war mit der Demobilmachungsverordnung vom 23.11.1918 eingeführt worden, konnte in den folgenden Jahren aber nicht in einem ordentlichen parlamentarischen Verfahren auf eine gesetzli-

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che Zustimmung konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er gerade in der gewaltsamen Aneignung und der rein materiellen Argumentation den größten Fehler der Revolution sah.28 Im Gegensatz dazu habe die CSP immer zugleich auch auf die flankierende sittliche und religiöse Erneuerung des Volkes gesetzt und eine Revolution von oben erstrebt. „Die von uns beabsichtigte allmähliche Revolution von oben nach unten ist uns nicht gelungen.“29 Auch wenn Vietor seiner Tochter die Lage in Deutschland Ende Februar 1919 in düstersten Farben malte, verzichtete er auf eindeutige Schuldzuweisungen und sah vielmehr das ganze Volk in einer Verblendung. „Am besten stellst du dich auf den Standpunkt, dass das ganze deutsche Volk mit wenigen Ausnahmen degeneriert und vollständig wahnsinnig geworden ist, dass die Leute alles das, was sie vor vier Jahren als gross, schön und edel angesehen haben heute vergessen und noch niemals in Deutschland oder vielleicht nur nach dem 30 jährigen Kriege, die Verhältnisse so gemein gewesen sind wie jetzt. Gestohlen wird hier wie noch nie.“30

Angesichts der vergangenen Umsturzversuche, der noch existierenden Räteregierungen, der Plünderungen und Diebstähle und des für diesen Tag angekündigten Generalstreiks in Bremen wehrte er die von seiner Tochter vorgetragene These Sylvio Gsells vom „Abbau des Staates“ als baren Unsinn ab. Wohin das führe, sehe man ja an der gegenwärtigen Lage in Deutschland. „Jetzt hat die Masse das Sagen. Die Verbrecher sind die Herren Deutschlands“, eine Aussage, die wohl nicht auf die

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che Grundlage gestellt werden. Nach Ruhrkampf und Hyperinflation wurde der 8 Stundentag wieder abgeschafft, Steinisch, Irmgard: Arbeitszeitverkürzung und sozialer Wandel. Der Kampf um die Achtstundenschicht in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie, 1880–1929 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 65), Berlin, New York 1986, S. 1. Bereits Anfang 1919 bezeichnete das DEVB Blatt „Kreuz und Kraft“ die Revolution als größtes „Verbrechen“ und größten „Betrug“, gibt aber zu, dass das deutsche Volk um jeden Preis den Frieden wollte und selbst Schuld sei an dem „Sklavenbrot“, das man jetzt essen müsse. Auch hier fehlt die konkrete Schuldzuweisung zu einer politischen Gruppe, vielmehr wird das ganze Volk in Haftung genommen, Kreuz und Kraft 3/4 (1919), S. 12. Vietor, 1919 (wie Anm. 27), S. 9; vgl. auch Vietor, 1919 (wie Anm. 22), S. 22. Im Gegensatz dazu sah er in England und den USA eine Revolution von oben wirksam werden. Als Beleg dafür dienten ihm Informationen über Wahlkampfversprechen Lloyd Georges gegenüber den Arbeitern, ihnen alles das freiwillig zu geben, was sich die Revolution in Deutschland nun gewaltsam genommen habe, Redemanuskript [1919], VPAH, Konv.4 , Teil 3, Mappe 3, S. 1f. Lloyd George hatte, allerdings gegen die Opposition der Arbeiter, in Anlehnung an die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung 1911 den „National Insurance Act“ durchgesetzt, mit dem eine gesetzliche Arbeitslosen- und Krankenversicherung in England geschaffen wurde, vgl. encyclopedia britannica: David Lloyd George, 2012, URL: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/345191/David-Lloyd-George/4257/Social-reform-and-the-outbreak-of-war (Aufruf am 12.9.2012). Woodrow Wilson hatte am 3.9.1916 das sogenannte „Adamsongesetz“ durchgesetzt, das mit Wirkung vom 1.1.1917 den 8 Stundentag für staatliche Eisenbahnarbeiter dekretierte und damit einen drohenden großen Eisenbahnarbeiterstreik abwendete, vgl. Steinisch, 1986 (wie Anm. 27), S. 230. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 28.2.1919, VPAH, NL Hueck, S. 1. Auch am Ende des Briefes ruft Vietor seine Tochter auf, den lieben Gott zu bitten, er möge „unserem Volk wieder den notwendigen Verstand“ geben. Einen Gebetsaufruf für eine neue Regierung erteilt er nicht, ebd., S. 7.

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Reichsregierung gemünzt war. In seiner Besprechung der jüngsten „Rede von Ebert-Scheidemann“ hatte er lediglich deren Darstellung über die wahre innere Lage in Deutschland als irreführend bezeichnet, ansonsten die Regierung aber nicht angegriffen.31 Andererseits ist eine innere Abwehr gegen das neue parlamentarischdemokratische System bereits hier nicht zu verkennen. Der Bericht eines Vertreters der Bremer Handelskammer über die Zustände in Weimar scheint ihm aus dem Herzen gesprochen zu haben. Der Mann war „vollständig entrüstet wiedergekommen“ und berichtete, die Parlamentarier lebten dort „herrlich und in Freuden“, bräuchten keine Lebensmittelmarken wie der Rest des Volkes und die Kneipen und Theater seien bis nachts um 3 oder 4 Uhr voll. „Alles ist Parteikram von oben an bis unten […] Die Leute sprechen anstatt über die Zukunft Deutschlands nur über die Parteiverhältnisse und dabei brennt ganz Deutschland, dass einem angst und bange werden kann.“32 Kurz darauf reiste Vietor selbst nach Weimar und besuchte dort mehrere Sitzungen der Nationalversammlung. Eine abfällige Bemerkung über den Lebensstil der Parlamentarier machte er anschließend zwar nicht, konnte sich aber angesichts einer Debatte über die Einführung der Sommerzeit, die für ihn reine Zeitverplemperung war, nicht des Eindrucks erwehren, dass hier alles andere als effektive Arbeit geleistet wurde. Sein Eindruck war, dass Parlament und Regierung „nach innen und aussen vollständig machtlos“ seien, vor sich hinwurstelten und „sich zu keiner entscheidenden Tat, weder zum Guten noch zum Schlechten aufraffen“ konnten.33 Dieses eher mitleidige und bestürzte Gefühl schlug nach Unterzeichnung des „Schandfriedens“ jedoch endgültig um in fundamentale Ablehnung und in ein Empfinden, verraten und verkauft worden zu sein. Dabei schimmerte kurz vor der Unterzeichnung, im Gegensatz etwa zum Deutsch-Nationalen Parteikollegen Posadowsky-Wehner und auch Gustav Stresemann, noch ein gewisses Verständnis für solch einen Schritt durch. „Nehmen wir diesen Frieden an, dann bedeutet das den Ruin unseres Volkes und unseres Landes; und nehmen wir ihn nicht an, dann stehen noch die allerschwersten Jahre uns bevor, die unser Vaterland jemals gesehen hat.“34 Nach erfolgter Unterzeichnung am 28.6.1919 konnte bei Vietor von solch einer abwägenden Mittelposition nicht mehr die Rede sein. Jetzt begann bei ihm, wie bei einem großen Teil des bürgerlich-konservativen Lagers die Suche nach den Schuldigen, wie es das „Berliner Tageblatt“ am 18.6.1919 bereits vorausgesehen hatte.35 Zu den Schuldigen zählte für Vietor unbedingt auch Matthias Erzberger. 31

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J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 28.2.1919, VPAH, NL Hueck, S. 4f. Der Hinweis auf den Generalstreik in Bremen findet sich handschriftlich am Ende des Briefes. Seine Tochter befand sich zu der Zeit in Berlin und er hoffte, dass nicht auch dort ein Generalstreik stattfinden würde. Zu Vietors Wahrnehmung der allgemeinen Werteerosion seit Ende des Krieges vgl. auch Vietor, 1919 (wie Anm. 22), S. 21. J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 28.2.1919, VPAH, NL, Hueck, S. 6f. Vietor, 1919 (wie Anm. 27), S. 6. Vietor, 1919 (wie Anm. 22), S. 21. Stresemann zeigte sich überzeugt: „Es ist möglich, daß wir zugrunde gehen, wenn wir den Vertrag nicht unterschreiben. Aber wir alle haben die Empfindung: es ist sicher, daß wir zugrunde gehen, wenn wir ihn unterzeichnen“, zit. bei Dülffer, 2008 (wie Anm. 18), S. 150. Die Zeitung warnte davor, die Politiker, die unterzeichneten, würden damit verantwortlich sein

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„Es steht doch wohl allmählich fest, dass Erzberger durch seine Intrigen das protestantische Kaisertum zu Fall gebracht hat, woran ihm mehr gelegen war als an der Schande und dem Verderb des ganzen deutschen Volkes, aber auch dieses wäre dem Verräter nicht gelungen, wenn nicht die Mehrheit der Nationalversammlung eine so entsetzliche Feigheit gezeigt hätte.“

Als Unterzeichner des Waffenstillstands kam ihm in Vietors Augen die Hauptverantwortung für die Entwaffnung und Wehrlosmachung Deutschlands zu. Wie bereits unmittelbar nach Kriegsende, pochte er auch jetzt darauf, man hätte noch ein paar harte Monate durchhalten müssen, um einen besseren Waffenstillstand zu bekommen, stattdessen war Deutschland durch die damalige Unterzeichnung jedoch lieber auf Jahrzehnte hinaus „verkauft, versklavt und entehrt“ worden.36 Hatte er bereits schon früher die Meuterei der Matrosen Ende Oktober 1918 als „Verrat“ bezeichnet,37 erschien ihm nun die gesamte Revolution als Werk von „Verrätern“ und nicht länger als allgemeiner, wenn auch verblendeter Volkswille. Die Verräter, die die Revolution angezettelt hatten, waren für ihn nun die gleichen, die den Waffenstillstand unterzeichnet und den Friedensvertrag unterschrieben hatten.38 Die Bruchlinie zwischen Kooperationsbereitschaft mit dem neuen Staat und reaktionärer Verweigerung lag für Vietor damit nicht beim Kriegsende, sondern bei Unterzeichnung des Friedensvertrages. Von seinen an diverse Zeitungen verschickten Artikeln, in denen er seine Sicht der politischen Lage und der Hintergründe darlegte, wurden nun die Hälfte unveröffentlicht wieder zurückgesandt, obwohl er sie selbst für moderat und verbindlich hielt. In öffentlichen Versammlungen erntete er zuweilen Stürme der Entrüstung, was er allerdings auch sich selbst anlastete, wenn er sich trotz seines Alters immer noch als schlechten Politiker bezeichnete, der alles frei heraussagte. Für ihn war nach einem Jahr klar: Die Revolution wurde „in Sünden geboren und empfangen“ und die Verantwortlichen würden von der Geschichte einmal zur Rechenschaft gezogen werden dafür, dass sie mit dem Waffenstillstand und dem Versailler Vertrag Deutschland in die Sklaverei und Wehrlosigkeit gestützt hatten. Zu den Verantwortlichen gehörten für ihn auch die schlaffen Beamten, die sich von der Revolution das Zepter der öffentlichen Gewalt so leicht aus der Hand hatten nehmen lassen.39 Von zentraler Bedeutung und erheblichem Zündstoff

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für kommende Kriege, das Aufflammen eines revanchistischen Geistes und innenpolitische Gefahren für die Republik, vgl. Dülffer, 2008 (wie Anm. 18), S. 152. Vietor, 1919 (wie Anm. 27), S. 6f. Vietor, 1919 (wie Anm. 22), S. 21. Vietor, J. K.: Ansprache anlässlich der Auflösung der Bremer Stadtwehr am 28.2.1921, VPAH. Unmittelbar vor Unterzeichnung des Vertrages hatte noch der „Verräter“ Max von Baden für Vietor im Fadenkreuz gestanden, die Regierung kritisierte er dagegen „nur“ wegen ihres „internationalen“ Fundamentes. „Ich kann den Verrat des Prinzen von Baden an unserem edlen Kaiser nicht vergessen. Ich kann nicht das religionslose, internationale Gebahren (sic) unserer Regierung gutheißen“, Vietor, J. K.: Das christliche Gewissen, in: Kreuz und Kraft 7/8 (1919), S. 31f. Der Artikel dürfte aufgrund des Redaktionsschlusses noch Ende Juni 1919, unmittelbar vor Unterzeichnung des Vertrages, geschrieben worden sein. Vietor, J. K.: Rückblick und Ausblick, in: Kreuz und Kraft 1/2 (1920), S. 3f. Trotz seiner eigenen Schuldzuweisungen hielt er die vielen Publikationen führender Männer des vergangenen Kaiserreiches wie Ludendorff, Tirpitz oder auch des Kronprinzen, in denen sie versuchten „die Schuld am Verlust des Krieges auf andere Leute zu werfen“ für unangemessen. „Die Geschichte wird schon zeigen, wie alles in Wirklichkeit gewesen ist und welche Schuld den Ein-

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blieb für ihn auch seine unerschütterliche Kaisertreue, die er wie sein Bruder, Pastor J. C. Vietor,40 hochhielt, und die seinen öffentlichen Äußerungen eine polarisierende Wirkung verlieh.41 Mit dem Völkerbund und Pazifismus wollte er nichts zu tun haben, von einer versöhnlichen Politik gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern hielt er nichts.42 Damit reihte er sich nahtlos ein in die Linie seiner neuen Partei, der DNVP, der sich die CSP zum Jahreswechsel 1918/19 angeschlossen hatte.43 Stellte die DNVP bereits den Zusammenschluss eines großen Teils des konser-

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zelnen trifft, aber jetzt immer kommen und sagen, er hätte alles schon vorher gewusst, er hätte abgeraten usw. das finde ich durchaus nicht auf der Höhe“, J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 10.3.1923, VPAH, NL Hueck, S. 3. Vietor, J. C: War alles vergeblich?, in: Kreuz und Kraft 9/10 (1920), S. 44. Als Vietor eine Einladung nach Köln erhielt, warnte ihn seine Frau, er würde hier für dieselbe Rede, die er mit Erfolg zuvor in Stettin gehalten hatte, drei Monate Gefängnis bekommen. Er warnte den Gastgeber daher: „Ich kann natürlich nur meine Meinung aussprechen und müsste von Ihnen wissen, ob besondere Vorschriften dort bestehen, dass man seine Meinung über den Kaiser nicht zum Ausdruck bringen darf“, J. K. Vietor an Pfarrer Khüpenburg (Köln) vom 22.11.1920, StAB, 7,73-4. Bei einer öffentlichen Veranstaltung im November 1918, die auf Initiative der Handelskammer, der Gewerbekammer und des Industriebeirats in der Bremer Börse als Protestveranstaltung gegen die jüngsten Beschlüsse der Revolutionsregierung stattfand, hielt Vietor das Referat für die Handelskammer. Die Börse hatte sich inzwischen mit einer großen Menge revolutionärer Gruppen gefüllt. Vor dieser unruhigen Menge begann er seine Rede unerschrocken mit den Worten: „Als unser herrlicher Kaiser das Volk zu den Waffen rief“. Weiter kam er nicht, da sich ein minutenlanger tosender Protest der Menge erhob. Während seine Ratskollegen bald darauf das Weite suchten, blieb Vietor ganz allein bei der Menge, die die Leitung der Veranstaltung nun an sich riß. Da Vietor nicht mehr zu Wort kam, ging er schließlich, unbehelligt, nach Hause, Erinnerungen (Fragment) [1925], StAB, 7,73-17, S. 3; Vietor, J. K.: Bericht von J. K. Vietor, unv. Erinnerungen [1905/1930], VPAH, 2. Erinnerungen, S. 219f. J. K. Vietor an Stuhrmann vom 23.9.1920, StAB, 7,73-3. Fricke, Dieter: Christlichsoziale Partei (CSP) 1878–1918, in: ders., 1968: Die bürgerlichen Parteien, S. 245–255, 254. Einen guten Überblick über die Fusionsgespräche mit der DNVP und alternativ erwogene Konzepte der Neuaufstellung bietet Friedrich, Norbert, 1997: „Die christlich-soziale Fahne empor!“, S. 181–187. Zunächst tendierte der Politische Ausschuß der CSP in seiner letzten Sitzung vom 14.11.1918 zur Bildung einer großen „sozialen Volkspartei“, die eine politische Plattform für die christlich-nationale Arbeiterschaft schaffen sollte. Ein entsprechender Antrag von Behrens wurde dahingehend angenommen, dass man „erwägen“ wollte, sich einer solchen Partei anzuschießen, falls sie entstehen sollte, Protokoll des Politischen Ausschusses vom 14.11.1918, BAB, N 2203/32, Bl. 2. Damit dürfte Behrens auf die Bestrebungen des katholischen Gewerkschaftsführers Stegerwald angespielt haben, der im November die Gründung einer interkonfessionellen christlich-sozialen Partei ins Spiel gebracht hatte. Wallbaum sah diese Variante jedoch bereits am 27.11.1918 aufgrund der Neigung der katholischen Gewerkschafter, sich lieber dem Zentrum anzuschließen, als gescheitert an, Friedrich, 1997 (w.o.), S. 182. Schneider dagegen sieht das Scheitern eher im Anschluß Behrens und eines Teils der evangelischen christlich-nationalen Gewerkschafter an die DNVP begründet, Schneider, Michael: Die christlichen Gewerkschaften. 1894–1933 (Forschungsinstitut der Friedrich Ebert Stiftung, Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte; 10), Bonn 1982, S. 637. Fricke deutet das Votum vom 14.11.1918 für eine soziale Volkspartei auf die DDP, was aber allein angesichts der früheren, z.T. scharfen Auseinandersetzungen mit dem Freisinn kaum in Frage kommen dürfte, Fricke, Dieter: Christlichsoziale Partei 1878–1918, in: ders., 1983– 1986: Lexikon zur Parteiengeschichte, S. 440–454, 451. Vietor sieht den ausschlaggebenden

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vativen Lagers dar,44 wie er Vietor bereits 1914 vorgeschwebt hatte, konnte zu Vietors Bedauern jedoch nicht auch die DVP für das gemeinsame Parteiprojekt gewonnen werden.45 Vietors Ziel, „in dieser grösseren Partei unsere christliche und soziale Anschauung zur Geltung zu bringen“, erschien in den ersten Jahren durchaus realistisch und knüpfte an Stoeckers gleichartige Konzeption innerhalb der Deutsch-Konservativen Partei bis 1896 an. Mumm wollte in Anlehnung an das historische Vorbild die CSP als Gruppe innerhalb der neuen Partei erhalten, Behrens und die Mehrheit des Hauptvorstandes setzten jedoch ein völliges Aufgehen durch. In der ersten Phase der Parteigeschichte konnten die christlich-sozialen Kräfte, zum Leidwesen konservativer Männer wie Graf Westarp, eine überproportional starke Stellung erringen. Dem Ende 1918 gewählten siebenköpfigen geschäftsführenden Parteivorstand gehörten mit Margarete Behm und Wilhelm Wallbaum gleich zwei ehemalige Politiker der CSP an. Mumm und Behrens wurden in den Parteivorstand gewählt.46 In der Reichstagswahl 1920 wurden für die DNVP fünf ehemalige CSP Mitglieder gewählt, zwei mehr als man im Kaiserreich stellen konnte.47 Mit Emil Hartwig konnte die alte CSP einen dominierenden Einfluss auf den Arbeiterflügel der DNVP gewinnen. Hartwig wurde im Oktober 1921 zum Vorsitzenden des neugründeten Deutschnationalen Arbeiterbundes gewählt, in dem etwa 300.000 Arbeiter zusammengeschlossen waren.48 Mumm widmete sich stärker der Verbindung

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Grund zum Zusammengehen mit der DNVP im Drängen der evangelischen Gewerkschafter, Vietor, 1919 (wie Anm. 27), S. 8, so auch Opitz, Günter, 1969: Der Christlich-Soziale Volksdienst, S. 137. Fricke verweist auf ein Rundschreiben Wallbaums vom 27.11.1918, nach dem es der CSP Delegation in den Verhandlungen mit der DNVP nicht gelungen sei, den Erhalt der Monarchie sowie den Anschluß Deutsch-Österreichs an Deutschland programmatisch zu verankern, Fricke, 1983–1986 (wie Anm. 43), S. 451. Das DNVP Programm von 1920 enthielt gleichwohl das Bekenntnis zum „Kaiserreich der Zukunft“ und in den Ausführungen zum Volks- und Staatsleben (I/4) wurde die Monarchie für das Reich, nicht aber für die Länder gefordert. Wenn auch der Anschluß Deutsch-Österreichs nicht als ausdrückliches Ziel genannt wurde, forderte man zumindest das „Selbstbestimmungsrecht“ Österreichs, was im Falle unlimitierter politischer Entscheidungsfreiheit Österreichs faktisch auf einen Anschluß hinausgelaufen wäre, vgl. Mommsen, Wilhelm, 1960: Deutsche Parteiprogramme, S. 535f. Eine Bremer Werbebroschüre der DNVP von 1920 unterstrich das Ziel der Wiedereinführung der Monarchie, aber nicht im Sinne des früheren Kaiserreiches. Vielmehr strebte man „eine gesunde, kontrollierte Monarchie an, etwa nach dem Muster Englands“, StAB, 7,73-4. Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München4 2005, S. 62. Vietor, 1919 (wie Anm. 27), S. 8. Es blieb beim einmaligen Wahlbündnis der DVP und der DNVP für die Wahl zur Nationalversammlung am 19.1.1919, vgl. Friedrich, 1997 (wie Anm. 43), S. 193. Friedrich, 1997 (wie Anm. 43), S. 188f. Friedrich, 1997 (wie Anm. 43), S. 210. Die Zahl der Abgeordneten war im Vergleich zum Kaiserreich allerdings auch um rund 60 gestiegen und innerhalb der Fraktion, zu der nun 77 Abgeordnete gehörten, blieben die alten CSP Mitglieder deutlich unter einem Anteil von 10 %. Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 138f. Wenngleich der Arbeitnehmerflügel in der DNVP nie einen entscheidenden Einfluß gewinnen konnte, stellte er nach der Reichstagswahl vom 4.5.1924 immerhin 13 Abgeordnete, darunter 10 Arbeiter und 3 Angestellte, Friedrich, 1997 (wie Anm. 43), S. 215. Behauptete der Deutschnationale Arbeiterbund bei der Wahl im Mai 1924 1,5 Millionen Stimmen für die DNVP gewonnen zu haben, zeigte er sich überzeugt, bei der Dezember-

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von Partei und Evangelischer Kirche. Er wurde zu einem der Vorsitzenden der am 10.11.1921 unter maßgeblicher Mitwirkung von Otto Dibelius gegründeten „Evangelischen Reichsausschusses der Deutschnationalen Partei“, wenngleich sein innerparteilicher Einfluss gering blieb.49 Einen letzten Erfolg konnten die ChristlichSozialen in der DNVP mit der Ernennung von Wilhelm Koch zum Verkehrsminister im 4. Kabinett von Wilhelm Marx 1927/28 erreichen. Auch wenn sich Vietor nicht mehr aktiv an der Parteipolitik beteiligte, gehörte er bereits früh zum Vorstand des DNVP Landesverbandes Bremen, dessen Vorsitzender bis 1922 der Bremer CSP Kandidat von 1912, Franz Schlunk, war.50 In den ersten Jahren engagierte er sich nachdrücklich für die neue Partei, unterstützte energisch den Wahlkampf 192051 und ließ sich in den 19 köpfigen „Geld-Werbe-Ausschuß“ berufen, dessen Aufgabe es war, Spender für die Partei zur rekrutieren.52 Vietor sah nach der Revolution und der Unterzeichnung des Versailler Vertrags das Heil Deutschlands ausschließlich in einem Rechtsruck, von dem er erwartete, dass „wir bald wieder in geordnete Verhältnisse kommen.“53 Der aktuellen „unverständigen“ Reichsregierung traute er weder die wirksame Durchsetzung der inneren Ordnung zu, noch die Verbesserung der schlechten Versorgungslage, noch die Konsolidierung der Reichsfinanzen,54 wenngleich er 1920 noch nicht an einen Staatsbankrott glaubte, sondern nach wie vor mit einer guten Verzinsung der Kriegskre-

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wahl sogar 2 Millionen Stimmen für die Partei beigesteuert zu haben. Bei der Dezemberwahl wollte der Arbeiterbund 2.000 Versammlungen abgehalten, 83.000 Broschüren sowie 1,5 Millionen Handzettel verteilt und 188 Redner gestellt haben. 10 Abgeordnete konnten im Dezember aus der Arbeiterschaft für die DNVP in den Reichstag entsandt werden, Deutschnationaler Arbeiterbund an J. K. Vietor vom 25.10.1924 und vom 16.2.1925, StAB, 7,73-14. Friedrich, 1997 (wie Anm. 43), S. 223; Klein, Michael: Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-Parteien-Mentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963 (Beiträge zur historischen Theologie; 129), Tübingen 2005, S. 32f. Auf die Mitgliedschaft im Vorstand des Bremer Landesverbands der DNVP weisen mehrere Einladungsschreiben zu Vorstandssitzungen aus dem Jahr 1920 hin, StAB, 7,73-4. Zu Schlunk vgl. Schwarzwälder, Herbert: Das große Bremen-Lexikon. L-Z (Bd. 2), Bremen2 2003, S. 770f. J. K. Vietor an [Pastor] Gerhard [Kaulsmann] vom 20.5.1920, StAB, 7,73-3. DNVP an J. K. Vietor vom 13.10.1920, STAB, 7,73-4. In der Folge berichtet Vietor von seinen Werbebemühungen. Durch Vietors Vermittlung konnte etwa der Direktor der Bremer Schleppschiff-Fahrtsgesellschaft, Herr Barkmeyer angesprochen werden, der bereitwillig 1.000,- Mark spendete. Vietor sprach auch Direktor Noltenius von den Atlaswerken an und konnte von dem Direktor des Norddeutschen Lloyd, Petzet, die gute Nachricht überbringen, dass dieser einige führende Männer des Lloyd zu Spenden bewegen wolle, J. K. Vietor an DNVP vom 30.10.1920, ebd. Welche Summen der Schatzmeister der DNVP, Held, von Vietors Kontakten erwartete, teilte er ihm offenherzig mit. Von Heinrich Kulenkampff 10.000,- bis 20.000,- Mark und von Lloyddirektor Petzet 20.000,- bis 30.000,- Mark. Johannes Daniel Volkmann, der sich der DVP angeschlossen hatte, sollte von Vietor von dort abgeworben, sogleich zu einer Parteispende ermutigt und dann selbst zum Werben weiterer Gelder für die DNVP angehalten werden, Held an J. K. Vietor vom 19.11.1920, ebd. Petzet gehörte seit 1906 zum Direktorium des Norddeutschen Lloyd, war aber nicht, wie von Held vermutet, Generaldirektor, vgl. Schwarzwälder, 2003 (wie Anm. 50), S. 673. Vietor spendete im Wahlkampf 1920 allein für Mumm 900,- Mark, Mumm an J. K. Vietor vom 24.4.1920, StAB, 7,73-3. J. K. Vietor an Hugo Thien am 1.6.1920, StAB, 7,73-3. J. K. Vietor an Karl [Vietor/USA] vom 7.7.1920, StAB, 7,73-3.

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dite rechnete.55 Zum Jahreswechsel 1920/21 sah er die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes in Deutschland als weitgehend gebannt und das Bürgertum nach seiner durch die Revolution ausgelösten Schwächephase als erneut erstarkt an.56 Dafür sprachen auch die Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen in Bremen und die Landtagswahlen in Preußen. Beide hatten empfindliche Einbußen für die Linksparteien gebracht, für Vietor ein „guter Fortschritt, ein Zeichen, dass unser Volk sich auf sich selbst besinnt.“57 Das änderte in seiner Wahrnehmung aber nichts daran, dass die Regierung auf dem linken Auge blind wäre. „Wenn von den national Denkenden einmal ein kräftiges Wörtlein geredet wird, wird die Zeitung verboten, während man mit den U.S. [gemeint ist die USPD, Anm. B.O.] und Kommunisten wie heilige Brüder umgeht.“58 Das war angesichts der geradezu umgekehrten Lage im Bereich der Rechtssprechung und Strafverfolgung eine fatale Fehleinschätzung Vietors, die sich der verzerrten Wahrnehmung durch die Wut und den Ärger über die „Erfüllungspolitik“ der Regierung verdankte.59 Vietor übernahm diesen seit 1921 gebräuchlichen terminus technicus als Kampfbegriff und teilte die damit verbundenen Gefühle eines nationalen Verrats und Ausverkaufs ohne Vorbehalte.60 Für ihn war die seit dem 10.5.1921 amtierende Regierung Wirth völlig unfähig, da sie weder die öffentliche Ordnung in den Griff bekäme, noch den Siegermächten energisch Paroli böte. „Politisch ist es hier zum Heulen. Etwas traurigeres, wie die Regierung mit unserem deutschen Volk umgeht, gibt es ja überhaupt nicht […] Die Regierung [schmeißt] unseren Feinden gutwillig alles in den Hals, was sie nur wollen. Für Zucht und Ordnung tritt sie nicht ein.“61 55 56 57 58 59

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J. K. Vietor an Maria [Vietor/USA] vom 1.4.1920, StAB, 7,73-3. J. K. Vietor an W. Preiswerk vom 3.1.1921, StAB, 7,73-4. J. K. Vietor an seine lieben Kinder [Otto und Hedwig Hueck/China] vom 23.2.1921, VPAH, NL Hueck, S. 1f. J. K. Vietor an Karl Vietor (Richmond) vom 4.1.1922, StAB, 7,73-7. Wehler, Hans-Ulrich: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949 (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4), München 2003, S. 410– 412. Der deutsch-jüdische Mathematiker Emilius Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift „Vier Jahre politischer Mord“, die nachwies, dass von etwa 400 Morden mit rechtsradikalem Hintergrund 330 bislang völlig ungesühnt geblieben waren. Für die restlichen waren statistisch gesehen durchschnittlich je 4 Monate Freiheitsstrafe verhängt worden. Die 22 von ihm erfaßten Morde linker Provenienz dagegen waren allesamt hart bestraft worden, 10 mit Todesurteilen, die restlichen im Durchschnitt je mit 15 Jahren Freiheitsstrafe, ebd., S. 410. Bereits 1921 hatte er mit seiner Broschüre „Zwei Jahre Mord“ auf eine Reihe von rechtsradikal motivierten Morden hingewiesen, die den SPD Abgeordneten Gustav Radbruch zu einer Aufforderung an das Reichsjustizministerium veranlaßte, diesen Fällen nachzugehen. Die Bearbeitung verschleppte sich jedoch, ein „Femeausschuß“ des Reichstages zur Aufarbeitung der inzwischen weiter angewachsenen Zahl politischer Morde von rechts wurde erst 1926 eingesetzt. Die 1929 veröffentlichten Ergebnisse brachten zwar keine spektakulären neuen Erkenntnisse, unterstrichen aber immerhin ein mangelhaftes Verhalten von Justiz und Strafverfolgungsbehörden, vgl. zur parlamentarischen Aufarbeitung rechtsextremer Fememorde Hofmann, Ulrike Claudia: „Verräter verfallen der Feme!“. Fememorde in Bayern in den zwanziger Jahren, Köln 2000, S. 302–338, 305, 338. Dülffer, Jost: Frieden stiften nach einem Weltkrieg? Die mentale Verlängerung der Kriegssituation in den Friedensschluss, in: Dülffer, 2008 (wie Anm. 18), S. 138–156, 155. J. K. Vietor an Karl Vietor (Richmond) vom 4.1.1922, StAB, 7,73-7, S. 2.

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Angesichts der Spannungen mit Frankreich, aber auch mit Polen rechnete Vietor „über kurz oder lang“ mit einem neuen Krieg, bei dem er für Deutschland jedoch sehr gute Chancen sah. Er bat deshalb seinen Cousin in Amerika, Karl Vietor, er möge dort dazu beitragen, dass sich die Deutsch-Amerikaner organisierten, um Deutschland in dem kommenden Konflikt zu unterstützen. Seiner Meinung nach wären die USA gar nicht in den Krieg eingetreten, wenn sich die Deutschstämmigen nur richtig organisiert hätten,62 eine These, die zumindest insofern eine gewisse Beachtung verdient, dass es den prodeutschen Kreisen, etwa dem DeutschAmerikanischen Bund, bis 1917 tatsächlich nicht gelang, zumindest eine Änderung der Ungleichbehandlung der kriegführenden Parteien durch die USA herbeizuführen.63 Während Wilson die Verletzung der Rechte neutraler Staaten durch den Unterseebootkrieg Deutschlands mit einem Ultimatum belegte, was weder der amerikanischen Tradition entsprach noch zwingenden wirtschaftlichen Gründen, tolerierte er letztlich die ebenfalls internationalem Recht widersprechende Seeblockadepolitik Englands. Hinzu kamen Kriegskredite an die Entente.64 Die Ungleichbehandlung in der Seekriegsführung musste auf lange Sicht aber den Druck auf die deutsche Regierung erhöhen und die schließliche Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkrieges am 31.1.1917 argumentierte ausdrücklich mit der Weigerung Englands, die Seeblockade aufzugeben.65 62 63

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J. K. Vietor an Karl Vietor (Richmond) vom 4.1.1922, StAB, 7,73-7, S. 3. Zwar kann von einer politisch einflußreichen prodeutschen Lobby in den USA vor dem Krieg nicht gesprochen werden, doch verkannte Vietor völlig, dass die US-amerikanische Geselllschaft auch ohne eine solche pressure-group mehrheitlich überhaupt kein Interesse an einem Kriegseintritt hatte. Wilson hatte seine Wiederwahl 1916 nicht zuletzt mit dem Versprechen gewonnen, Amerika aus dem Krieg herauszuhalten. Die eigentliche Ursache des Stimmungsumschwunges zuungunsten Deutschlands lag ohne Frage in der Verkündung des uneingeschränkten U-Bootkrieges. In den ersten Wochen änderte jedoch selbst das noch nichts an den Mehrheitsverhältnissen im Abgeordnetenhaus gegen einen Kriegseintritt. Erst als mit der Versenkung der britischen „Laconia“ am 26.2.1917 abermals US Bürger ums Leben kamen und der Inhalt des Zimmermann-Telegramms am 1.3.1917 an die Öffentlichkeit gelangte, kam es zum entscheidenden Umschwung in der öffentlichen Meinung. Nun verstummten auch die bislang prodeutschen Zeitungen und erklärten eine doppelte Loyalität hinfort für unmöglich, Keegan, John: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 487, 489; Reiling, Johannes: Deutschland, safe for democracy? Deutsch-amerikanische Beziehungen aus dem Tätigkeitsbereich Heinrich F. Alberts, kaiserlicher Geheimrat in Amerika, erster Staatssekretär der Reichskanzlei der Weimarer Republik, Reichsminister, Betreuer der Ford–Gesellschaften im Herrschaftsgebiet des Dritten Reiches, 1914 bis 1945, Stuttgart 1997, S. 297f. Reiling, 1997 (wie Anm. 63), S. 300–302. Note der deutschen Regierung an den Botschafter der Vereinigten Staaten in Berlin J. W. Gerard vom 31.1.1917, zit. bei Michaelis, Herbert/Schraepler, Ernst: Die Wende des ersten Weltkrieges und der Beginn der innerpolitischen Wandlung, 1916/1917 (Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, Bd. 1), Berlin [1958], Dokument Nr. 94, S. 158–160. Bereits vor der Note Deutschlands an die USA vom 4.5.1916, in der die Zurücknahme des „verschärften U-Bootkrieges“ angekündigt und mit der Erwartung verknüpft wurde, dass auch die englische Seeblockade aufgehoben werden müsse, hatte Colonel Edward M. House dem deutschen Botschafter von Bernstorff klargemacht, dass

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Mit Joseph Wirth (Z) hatte sich Vietor bereits während dessen Amtsführung als Reichsfinanzminister überworfen. Anlässlich einer Begegnung mit Reichsernährungsminister Andreas Hermes (Z) und Joseph Wirth, die Anfang 1921 Bremen besuchten, kam es zum Eklat als Wirth die Wiederaufbauhilfe Deutschlands für Frankreich zur „sittliche[n] Pflicht“ erklärte.66 Da Vietor weiterhin auf dem Standpunkt verharrte, Deutschland hätte den Krieg nicht gewollt und nur zur Verteidigung geführt, konnte er diesem Gedanken nichts abgewinnen. „Ich bin nachher zu ihm gegangen und habe ihm gesagt, dass er mich mit diesem Ausspruch ganz ausserordentlich enttäuscht hat […] Es könnte also höchstens von einem bitteren Zwang die Rede sein, aber nicht von einer sittlichen Pflicht.“

Im Rückblick auf die Konferenz in Spa vom 5. bis 16.7.1920 und angesichts der aktuellen Reparationsforderungen der Siegermächte, insbesondere Frankreichs, schlug Vietor Wirth im Hinblick auf die bevorstehenden Reparationsverhandlungen in London eine Volksabstimmung vor, „denn die Verantwortung sei doch so gross, dass sie keine Regierung übernehmen könne.“67 Da die Siegermächte in die Vereinbarung von Spa ein Einmarsch- und Besetzungsrecht für den Fall der säumigen Erfüllung der deutschen Verpflichtungen aufgenommen und die interalliierte Konferenz in Paris (24.-29.1.1921) eine Gesamtentschädigungssumme Deutschlands von 226 Milliarden Goldmark festgelegt hatte, sah sich die Reichsregierung in der Tat vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt.68 Es stand das „drohende Gespenst“

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die amerikanische Regierung keine Veränderung in der Haltung Englands erwirken könne. Warum sie aber nicht mit gleicher Strenge gegen England vorging, erklärte House Frank L. Polk gegenüber sehr deutlich: „House pointed out that our relations, as far as Great Britain is concerned, are quite different from our relations with Germany; that war with Germany would be possible, whereas, war with Great Britain was more or less out of the question“, Sedlmaier, Alexander: Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913–1921) (HMRG Beihefte; 51), Wiesbaden 2003, S. 193f., 358. Die Note Jagows an Gerard vom 4.5.1916 findet sich in: Michaelis/Schraepler, Die Wende, [1958], Dokument Nr. 66, S. 116–118. Jagow machte darin deutlich, dass in Deutschland kein Verständnis für die Ungleichbehandlung Deutschlands und Englands existiere und die aufrichtige Neutralität der USA daher in Zweifel gezogen werde, umso mehr als in Deutschland die umfangreichen „Kriegsmittel“ – Lieferungen an die Entente sehr wohl bekannt wären. Im Zusammenhang mit der Konferenz in Spa regte die Reichsregierung eine deutsche Beteiligung am Wiederaufbau der zerstören Gebiete in Frankreich und Belgien an. Auch wenn sich eine derartige Verpflichtung nicht aus dem Versailler Vertrag ergäbe, hätte Deutschland ein reges Interesses an einer baldigen und erfolgreichen Durchführung des Wiederaufbaus, da sonst „die Gefühle des Hasses und der Schrei nach Rache nicht verschwinden“, SBR, 1. Leg. per., Anlage 187 (Weißbuch der deutschen Regierung zur Konferenz von Spa vom 24.7.1920), S. 93 (Anlage 25). Eine Wiederaufbauhilfe war bereits im Vorfeld des Versailler Friedensvertrages angeboten worden, da jedoch als Teil eines nicht berücksichtigten alternativen Vorschlags Deutschlands zur Höhe der Reparationsforderungen der Siegermächte, Meyer, Gerd: Die Reparationspolitik. Ihre außen- und innenpolitischen Rückwirkungen, in: Bracher, Karl Dietrich/ Funke, Manfred/Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft (Studien zur Geschichte und Politik; 251), Bonn 1998, S. 328. J. K. Vietor an meine lieben Kinder [Otto und Hedwig Hueck/China] vom 14.2.1921, VPAH, NL Hueck. Zwar bezog sich die Vereinbarung von Spa streng genommen nur auf die für die nächsten sechs Monate festgelegten Kohlelieferungen, beginnend mit dem 1.8.1920, aber das Prinzip der

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der Londoner Verhandlungen im Raum und Vietor gab sich überzeugt, dass breite Schichten in Deutschland selbst eine Beschickung der Konferenz ablehnten.69 Die Signale des Entgegenkommens auf deutscher Seite erfüllten ihn mit Misstrauen und waren für ihn völlig zwecklos, da die Franzosen ohnehin über kurz oder lang das Ruhrgebiet besetzten,70 eine Meinung die Außenminister Simons nach dem Scheitern der Londoner Konferenz im Prinzip teilte.71 Auf der Londoner Konferenz vom 1. bis 7.3.1921 hatte Simons die Beschlüsse von Paris als unannehmbar zurückgewiesen, da sie die Leistungsfähigkeit Deutschlands überstiegen. Sein „Entgegenkommen“ blieb auf das alternative Angebot einer noch ausstehenden und zu zahlenden Entschädigungssumme von 30 Milliarden Goldmark begrenzt, was erwartungsgemäß als Provokation abgelehnt wurde. 20 Milliarden Goldmark waren nach Simons Meinung bereits durch Kohlelieferungen und andere Leistungen abgegolten worden, sodass die 30 Milliarden Goldmark, die von ihm angebotene Gesamtentschädigung in Höhe von 50 Milliarden Goldmark erfüllt hätten. Eine Einigung konnte angesichts der weit auseinanderliegenden Vorstellungen nicht erreicht werden, sodass die Alliierten am 8.3.1921 mit der Besetzung von Duisburg, Ruhrort und Düsseldorf begannen. Trotz der festen Haltung der Regierung Fehrenbach konnte sie von der Sanktionspolitik der Alliierten im öffentlichen Ansehen nicht profitieren und trat am 4.5.1921 zurück.72 Einen Tag später legte Lloyd George das Londoner Ultimatum vor, das die Annahme der alliierten Forderungen innerhalb von sechs Tagen forderte und mit der Besetzung des Ruhrgebiets drohte. Neben der am 27.4.1921 nunmehr auf 132 Milliarden Goldmark festgelegten Gesamtreparationssumme, zählten zum Ultimatum auch Forderungen nach weiterer Entwaffnung Deutschlands sowie die Verurteilung deutscher Kriegsverbrecher.73 Trotz der Überzeugung, dass die Forderungen des Ultimatums die Leistungsfähigkeit Deutschlands bei Weitem überstiegen, stimmte der neue Kanzler, Joseph Wirth,

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Sanktion durch Einmarsch- und Besetzung war hier erstmals von allen Siegermächten anerkannt worden. Die deutsche Delegation hatte den betreffenden Punkt 7 der Vereinbarung von Spa zwar ausdrücklich nicht anerkannt, konnte aber dadurch an der Geschlossenheit der Alliierten nichts ändern, SBR, 1. Leg. per., Anlage 187, S. 82–87 (Anlage 21); vgl. auch SBR, 1. Leg. per., 10. Sitzung vom 26.7.1920, S. 257f. Tatsächlich erwog Fehrenbach zu demissionieren, um damit einer Vertretung seiner Regierung in London zu entkommen, Klümpen, Heinrich: Deutsche Aussenpolitik zwischen Versailles und Rapallo. Revisionismus oder Neuorientierung? (Studien zur Geschichte der Weimarer Republik; 1), Münster 1992, S. 95. J. K. Vietor an „meine lieben Kinder“ [Otto und Hedwig Hueck/China] vom 23.2.1921, VPAH, NL Hueck, S. 2. Ebenso drückte er sich im Herbst 1921 aus: „Zum Krach und zur Besetzung des Ruhr-Gebiets kommt es ja doch und es ist viel besser, jetzt schon ein energisches „Nein“ zu sagen, als alles was man besitzt, hinzugeben, um dann arm und elend schliesslich noch mehr vergewaltigt zu werden“, J. K. Vietor an Dr. Hueck (China) vom 26.10.1921, ebd., S. 2. Nach Besetzung der rheinischen Städte war Simons in gewisser Weise sogar erleichtert, da nun „endlich Klarheit geschaffen sei. Die Sanktionen wären doch einmal gekommen […]“, zit. nach Klümpen, 1992 (wie Anm. 69), S. 97. Meyer, 1998 (wie Anm. 66), S. 332f.; Klümpen, 1992 (wie Anm. 69), S. 96f.; ausführlich bei Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, S. 124–131. Meyer gibt als Tag der Demission des Kabinetts Fehrenbach den 5.5.1921 an. Winkler, 2005 (wie Anm. 44), S. 155f.

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dem Ultimatum notgedrungen am 11.5.1921 zu und handelte sich damit das Image der „Erfüllungspolitik“ ein.74 Die Annahme des Ultimatums durch die Regierung Wirth folgte der politischen Überzeugung Wirths, dass eine Revision der Reparationsforderungen nur durch den unabweisbaren Nachweis der Unmöglichkeit der Erfüllung zu erreichen sei, ein ähnlicher Ansatz, den Brüning später mit der Deflationspolitik betrieb, um den völligen Erlass der Entschädigungszahlungen durch Deutschland zu erreichen. Statt wie Fehrenbach auf die Reihenfolge „erst Revision, dann Erfüllung“ zu setzen, schlug Wirth gerade den umgekehrten Weg ein, um das gleiche Ziel zu erreichen.75 Die Grenzen der Leistungsfähigkeit Deutschlands waren bald erreicht. Nachdem die ersten beiden Raten über je 1 Milliarde Goldmark noch durch Kredite geleistet werden konnten, stand bereits im Herbst 1921 fest, dass die nächste Rate nicht mehr zu bezahlen war. Am 14.12.1921 musste Deutschland um einen Zahlungsaufschub bitten. Da Wirths Strategie der nachgewiesenen Erreichung der Leistungsgrenze nun aber nicht zu einer Revision der Reparationsverpflichtungen führte, sondern zu einer weiteren Verhärtung der Fronten, stand am Ende der „Erfüllungspolitik“ eben doch die Besetzung des Ruhrgebietes, wie es Vietor vorausgesehen hatte, nur mit dem Nachteil, dass es um die Reichsfinanzen nun noch schlechter bestellt war und die fortgeschrittene Inflation bereits erhebliche Vermögenswerte vernichtet hatte. „Die unselige Erfüllungspolitik, die Wirth im Gegenteil zu dem gesunden Teil unseres Volkes immer verfolgt hat, hat uns einfach in das Unglück gebracht, und das, was Wirth vermeiden konnte, die Besetzung des Ruhrgebietes, Finanzkontrolle und alles mögliche, tritt jetzt, nachdem wir so verarmt sind, ebenso ein, wie es vor 6 oder 8 Monaten eingetreten wäre. Es ist eine traurige Lage, in der wir durch unsere unfähige Regierung gebracht sind.“76

Auch in der Oberschlesienfrage hatte Wirth sein Ziel nicht erreicht. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Annahme des Londoner Ultimatums war die damit verknüpfte Hoffnung gewesen, dass die Siegermächte angesichts des guten Willens der deutschen Regierung den Ausgang der Volksabstimmung vom 20.3.1921 ohne Abstriche akzeptieren würden und das Gebiet ungeteilt bei Deutschland verbliebe. England unterstützte diese Sicht, konnte sich jedoch im Obersten Alliierten Rat nicht gegen Frankreich durchsetzen, sodass die Entscheidung über eine Teilung Oberschlesiens, die nach dem Versailler Vertrag durchaus möglich war,77 am 12.8.1921 an den Völkerbund überwiesen wurde.78 Nachdem der Völkerbundrat, unter maßgeblichem französischem Einfluss, am 12.10.1921 für eine Teilung op74 75 76 77

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Winkler, 2005 (wie Anm. 44), S. 157; Meyer 1998 (wie Anm. 66), S. 334. Klümpen, 1992 (wie Anm. 69), S. 99f.; Michalka, Wolfgang: Deutsche Außenpolitik 1920– 1933, in: Bracher, 1998 (wie Anm. 66), S. 303–326, 309f. J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 30.8.1922, VPAH, NL Hueck. Zur Illustration der monetären Lage gibt Vietor seiner Tochter den aktuellen Butterpreis mit 250,- Mark/Pfund und den aktuellen Milchpreis mit 22,- Mark/Liter an. In Anlage VIII bestimmte der Versailler Vertrag im ergänzenden § 5 zum Art. 88, dass die defi defi-nitive Grenzziehung zwar auf Basis der Ergebnisse der Volksabstimmung, aber auch unter Berücksichtigung geographischer und wirtschaftlicher Aspekte zu erfolgen habe, Verhandlungen der Nationalversammlung, Anlage 478, S. 66; vgl. auch RGBl. (1919), S. 851. Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 134f.

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tiert hatte, legte sich auch der Oberste Alliierte Rat am 20.10.1921 verbindlich darauf fest. Damit fielen rund 80% des oberschlesischen Industriegebietes an Polen, darunter auch die Städte Kattowitz und Königshütte, die bei der Abstimmung mit großer Mehrheit für den Verbleib bei Deutschland gestimmt hatten. Dem folgte zwar am 22.10.1921 die Demission Wirths und seines Kabinetts, aber bereits am 26.10.1921 sah sich Wirth angesichts von Rücktrittsdrohungen Eberts genötigt, ein Minderheitskabinett aus Zentrum und SPD anzuführen. Weder hatte er die DDP in der Koalition halten noch die DVP hinzugewinnen können.79 Vietor, der nach der Demission Wirths die Anerkennung der Abtretung Oberschlesiens durch die nächste deutsche Regierung erwartete, widersprach bei einem Berlinbesuch heftig der dort von DNVP Parlamentariern vertretenen Ansicht, die Partei müsse endlich ihre kategorische Blockadepolitik beenden, sich für die Übernahme von Verantwortung bereit machen und ein Bündnis mit der DVP anstreben. Den Zeitpunkt einer solchen Koalition hielt Vietor angesichts der zu erwartenden unpopulären Entscheidungen der Zukunft für denkbar ungünstig und rechnete bei Verbleib in der Opposition mit parteitaktischen Vorteilen. „Ich bin da ganz anderer Meinung. Ich glaube, wenn die Volkspartei jetzt mit der Sozialdemokratie zusammen eine Regierung bildet und das Ober-Schlesische Ultimatum annimmt, dann werden sehr viele dieser Mitglieder zu uns übertreten. Wirth hat es doch genug bewiesen, dass das ewige Nachgeben unseren Feinden kein bisschen imponiert.“80

Mit dieser Verweigerungshaltung wusste sich Vietor zwar mit einem Großteil seiner Parteifreunde in der Provinz einig, schob damit aber die unangenehme und unabwendbare Verantwortung den politischen Mittelparteien und der Sozialdemokratie zu. Damit wiederholte er den Reflex, der seit Ludendorffs Strategie, die Abwicklung des verlorenen Krieges und den Friedensschluss in die Hände von Politikern der Mehrheitsparteien zu legen und sich selbst rechtzeitig aus der Affäre zu ziehen, zum Standardrepertoire der antirepublikanischen Kreise gehörte.81 Da Vietor andererseits nicht die Konsequenzen einer konfrontativen Politik Deutschlands scheute, hätte er sich eigentlich mit großem Nachdruck für eine Regierungsbeteiligung von DNVP und DVP aussprechen müssen. Als die Nachricht von der Abtretungsentscheidung des Obersten Alliierten Rates bekannt wurde, hielt sich Vietor gerade in Erfurt auf, um Maschinen zu kaufen. Zu seiner großen Enttäuschung löste die Nachricht auf der Messe „nicht die allergeringste Aufregung und Trauer“ aus. Für ihn ein Zeichen mangelnder Scham und mangelnden Anstandes beim hier vertretenen Mittelstand, der ihm wie ein „grässlicher Pöbel“ vorkam, „dem die Ehre Deutschlands höchst gleichgültig ist.“82 Da Wirth seine Erfüllungspolitik auch in seiner zweiten Kanzlerschaft fortsetzte, trieb er für Vietor den Ruin Deutschlands

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Winkler, 2005 (wie Anm. 44), S. 166; Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 135. J. K. Vietor an Dr. Hueck (China) vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck. Am 1.10.1918 hatte Ludendorff gegenüber Offizieren seine Forderung nach Einführung des parlamentarischen Systems mit dem Argument verteidigt, die Politiker sollten „die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben“ und sich damit seiner eigenen Verantwortung entzogen, zit. nach Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich, S. 215. J. K. Vietor an Dr. Hueck (China) vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck.

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weiter voran.83 Auch sein Vorgehen beim Eisenbahnerstreik, der am 2.2.1922 ausbrach84 und an dem sich zuletzt bis zu 800.000 Personen beteiligt haben wollen,85 war für Vietor „ein Skandal“, da sich aus seiner Sicht die Regierung aus „schlotternder Angst“ zu keiner wirksamen Gegenmaßnahme aufraffen konnte. Auch General Groener in seiner Funktion als Reichsverkehrsminister war in seiner Achtung tief gesunken, da er ihn für die Verwahrlosung des Zustandes der Reichsbahnen verantwortlich machte.86 Auch wenn Vietor wegen der Gefährdung der Volksversorgung kein Verständnis für den Streik hatte und härtere Maßnahmen für dringend erforderlich hielt, hatten sich seine Vorstellungen von gerechten Löhnen und angemessenen Arbeitsverhältnissen nach der Revolution nicht geändert. Die Einführung des Achtstundentages, höhere Löhne, Arbeitslosenunterstützung und Betriebsräte fanden nach wie vor seine volle Unterstützung, auch wenn er sich diese Errungenschaften lieber als freiwillige Zugeständnisse der Unternehmer gewünscht hätte.87 Mit seinen Arbeitern in der Ölfabrik hatte er eine Abmachung getroffen, dass sie auf Streiks verzichteten und er ihnen dafür das jeweilige Lohnniveau der umliegenden größeren Fabriken garantierte.88 Dennoch neigte sich für ihn das gesamtgesell83 84

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J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 20.12.1921, VPAH, NL Hueck. Der Streik wurde gegen den Willen des Deutschen Eisenbahnerverbandes von der Reichsgewerkschaft der Eisenbahnbeamten ausgerufen und wurde bereits nach 6 Tagen wieder eingestellt, Pohl, Manfred: Von den Staatsbahnen zur Reichsbahn. 1918–1924, in: Gall, Lothar/Pohl, Manfred (Hrsg.): Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 71–108, 91. Ein Extrablatt der Reichsgewerkschaft der Eisenbahnbeamten vom 6.2.1922 gibt die aktuelle Zahl der Streikenden mit 800.000 an. Die hohe Zahl führt das Extrablatt auf den Anschluß zahlreicher Angehöriger des Deutschen Eisenbahnerverbandes zurück, dessen Verbandsspitze sich gegen den Streik ausgesprochen hatte. Auch der ADGB, der hier als Streikbrecher dargestellt wird, soll seine Anhänger nicht auf seiner Seite gehabt haben. Angesichts der kurzen Streikdauer von nur sechs Tagen scheinen die Angaben des Extrablattes als weit übertrieben. Der Faksimile-Abdruck eines Teils des Extrablattberichtes findet sich bei: Vor 85 Jahren. Zum Streik der Eisenbahner 1922, in: Arbeiterpolitik 4 ( 2007), S. 14–20, 14. Von 800.000 Streikenden spricht auch Paul Fröhlich, MdR der KPD, in seiner zeitgenössischen Dokumentation über den Streik, ders.: Das Verbrechen an den Eisenbahnern. Der Februarstreik und seine Lehren, Berlin 1922, S. 15f., zit. in ebd., S. 17. J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 6.2.1922, VPAH, NL Hueck. Redemanuskript: „Rede von J. K. Vietor, gehalten nach 1919“ [1920], VPAH, S. 8. Bis 1927 gab es in seinem Unternehmen jedoch keinen Betriebsrat, obwohl die Voraussetzungen nach § 1 des Betriebsrätegesetztes vom 4.2.1920 dafür bestanden. Der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband drängte ihn daher, das baldmöglichst nachzuholen, Deutschnationaler Handlungsgehilfen Verband, Gau Nordwest, Geschäftsstelle Bremen an J. K. Vietor vom 4.4.1927, StAB, 7,73-20. Als nach einem sechswöchigen Streik in den umliegenden größeren Fabriken ein höherer Lohn festgelegt wurde, paßte Vietor seine Löhne umgehend an. Er hielt „unbedingt an der alten Schule fest, dass wir den Leuten so weit wie möglich entgegenkommen wollen, uns aber auch nichts von ihnen gefallen lassen.“ Nach der Lohnanpassung fragte er seine Arbeiter, ob sie nicht von den freien Gewerkschaften in eine christliche wechseln wollten. Sie waren jedoch überhaupt keiner Gewerkschaft angeschlossen, um das Beitragsgeld zu sparen. Offensichtlich ein Zeichen des Vertrauens zu Vietor, der es jedoch nicht richtig fand, dass sie sich gewerkschaftlich nicht organisiert hatten. Er verteilte daraufhin allen Arbeitern eine Ausgabe des „Vaterland“, „weil diese Leute entschieden in die christliche Gewerkschaft und nicht unter die

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schaftliche Kräfteverhältnis, das vor dem Krieg noch zugunsten der Unternehmerinteressen ausgeschlagen war, nun zusehends in Richtung der Arbeiter und der gewerkschaftlichen Macht, was seinen sozialpolitischen Standort der Kaiserzeit zusehends verrückte.89 Er fand sich nun mehr auf der Seite der Zurückhaltung und des Abwehrens vor weitergehenden Forderungen wieder anstatt, wie gewohnt, auf der Seite der progressiven Sozialreformer. Vor der Revolution hatt er sich von den Kapitalisten attackiert gesehen und „auf das Rücksichtsloseste bekämpft“, jetzt stand er in Opposition zur anderen Seite. Die Änderung der gesamtgesellschaftlichen und sozialpolitischen Verhältnisse hatten bei ihm zu keiner Koordinatenverschiebung geführt, anders als bei einem früheren politischen Gegner, der nach der Revolution die vormals von ihm bekämpften Standpunkte Vietors übernahm und noch darüber hinausging, „viel weiter nach links, als ich für gut halten kann.“ Das war für Vietor keine Option, vielmehr war er stolz darauf, seine Meinung nach der Revolution nicht ändern zu müssen, er fühlte sich in vielem sogar von ihr bestätigt. Das Festhalten an einmal als richtig erkannten Positionen konnotierte bei ihm freilich auch mit dem Grundsatz christlicher Bekenntnistreue.90 Mit der Ruhrbesetzung durch Franzosen und Belgier ab dem 11.1.1923 dynamisierte sich die ständig latente Krisenstimmung in Deutschland naturgemäß. Trieb sie einerseits die ohnehin schon eklatante Geldentwertung durch den staatlich subventionierten Ruhrkampf endgültig in die Hyperinflation, entfachte die Besetzung des wichtigsten Wirtschaftsraumes andererseits erneut die nationalistischen Wogen und vertiefte die Gräben zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern. Eine besondere Gemeinheit der Franzosen sah Vietor darin, dass sie die deutsche Polizei entwaffnete und damit Plünderungen von marodierenden Banden erleichterte.91 Richtig ist jedenfalls, dass die Entwaffnung der Polizei separatistischen Kreisen Vorschub leistete und damit eine Gefahr für die Integrität des Reiches darstellte.92 Im Juni

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Sozialdemokraten gehören“, J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck vom 5.1.1922, VPAH, NL Hueck, S. 2f. Wehler spricht für die republikanische Zeit von 1918 bis 1928 von einer „präzedenzlose[n] Marktmacht“ der Gewerkschaften, die sich insbesondere durch die erfolgreiche Verteidigung eines relativ hohen Lohnniveaus und einen hohen Grad der Teilhabe am Sozialprodukt auszeichnete. Während die Lohnquote 1913 einem prozentualen Anteil am Sozialprodukt von 46.4 % entsprochen hatte, lag sie 1929 bei 59,8 %, was möglicherweise einer der Gründe dafür war, warum sich die gesamtwirtschaftliche Leistung in den 1920er Jahren im internationalen Vergleich so bescheiden ausnahm, Wehler, 2003 (wie Anm. 59), S. 315. „Ein solches festes Verhalten, wie es zum Glück die meisten Christen bezeigen, führt natürlich zu neuen Kämpfen. Wir werden der heutigen Masse ein Dorn im Auge sein, wie früher so manchem Herrschenden – weil wir die einmal erkannte Wahrheit eben nicht je nach den Zeitverhältnissen umbiegen können. Bei dieser Wahrheit müssen wir bleiben – ganz gleich, ob sie den „Besitzenden“ oder den „Besitzlosen“ unbequem ist“, Vietor, 1919 (wie Anm. 38), S. 2. J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 10.3.1923, VPAH, NL Hueck, S. 2; vgl. auch J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck vom 26.5.1923, StAB, 7,73-10; Regierungspräsident Graf Adelmann beschwerte sich am 29.10.1923 beim französischen Bezirksdelegierten Oberst Gelin in Bonn darüber, dass die fehlende Bewaffnung der deutschen Polizei derselben die Hände gebunden hatte, die Bewaffnung von Separatisten wirksam zu verhindern. Gelin gab ihm daraufhin inoffiziell und indirekt zu verstehen, dass die französische Regierung, offensichtlich nicht zuletzt durch die Begünstigung der Separatisten, eine Abtren-

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1923 hielt er einen Bürgerkrieg für möglich, hoffte aber ungeachtet dessen weiter auf eine schneidige Haltung der Regierung,93 hatte die Empörung über die Besatzungspolitik anfangs doch eine allgemeine patriotische Erhebung ausgelöst, die einem erneuten klassenübergreifenden Burgfrieden glich, ähnlich der Stimmung bei Ausbruch des Krieges.94 Die Regierung Cuno hoffte, den Widerstand so lange durchhalten zu können, bis Amerikaner und möglichst auch die Engländer zugunsten Deutschlands intervenierten. Eine Rechnung, die nicht aufgehen sollte und schließlich zum Rücktritt Cunos führte.95 Angesichts der nach innen vordergründig stabilisierenden Wirkung des Ruhrkampfes musste die Regierung, die diesen Kampf aufgrund seiner Aussichtslosigkeit und seiner verheerenden Folgen für Wirtschaft und Währung beendete, als Verräter gelten. Diese Aufgabe fiel der am 13.8.1923 endlich zustande gekommenen großen Koaltion unter Einschluss von SPD und DVP unter Führung Gustav Stresemanns zu. Als Stresemann am 26.9.1923 das Ende des Ruhrkampfes verkündete, schlug ihm eine Welle schärfster Ablehnung und Verteufelung, insbesondere aus den Reihen des nationalen Lagers, entgegen. Die bayerische Landesregierung, die Stresemanns Entscheidung als „zweites Versailles“ bezeichnete, rief, unter Bruch der Reichsverfassung, den Ausnahmezustand für Bayern aus, woraufhin die Reichsregierung für das ganze Reich den Ausnahmezustand verhängte.96 Damit endete die durch den äußeren Druck erneut möglich gewordene nationale Einheit ähnlich wie der temporäre parteiübergreifende Abwehrkonsens vor Unterzeichnung des Versailler Vertrages mit der Verfemung der Realpolitiker, die sich der Übermacht der Siegerstaaten beugten. Da der Abbruch des Ruhrkampfes zugleich auch die Wiederaufnahme der Reparationsleistungen- und lieferungen an Frankreich und die Siegermächte bedeutete, lag der Vergleich mit dem „Diktat“ von Versailles natürlich nahe. In Vietors Empörung über den Abbruch des Ruhrkampfes mischten sich nun auch deutlich vernehmbar antisemitische Untertöne, die sich auch in der Folgezeit wiederholen sollten. Durch die abermalige nationale Demütigung suchte nun auch er Zuflucht in den sich bereits seit der zweiten Kriegshälfte abzeichnenden Stereotypen von jüdischer Verzichtspolitik, Verursachung der Revolution, der militärischen Niederlage und dem

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nung des Rheinlandes von Preußen erreichen wolle, Erdmann, Karl Dietrich/Booms, Hans: Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Stresemann I und II. 13. August – 6. Oktober 1923; 6. Oktober – 30. November 1923. Bd. 2: 6. Oktober bis 30. November 1923. Dokumente 115–282, Boppard a. Rh. 1978, Dokument Nr. 198, S. 885–887. Poincaré verfolgte das Ziel, das Rheinland als autonomen Staat und Pufferzone unter Völkerbundskontrolle zu stellen, vgl. Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 200f. J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 26.6.1923, StAB, 7,73-10, S. 4. Niedhart, Gottfried: Deutsche Geschichte 1918–1933. Politik in der Weimarer Republik und der Sieg der Rechten, Stuttgart2 1996, S. 83; Schwabe, Klaus: Der Weg der Republik vom Kapp-Putsch 1920 bis zum Scheitern des Kabinetts Müller 1930, in: Bracher, 1998 (wie Anm. 66), S. 95–133, 105. Selbst die Kommunisten reihten sich in die nationale Abwehrfront ein, ebd., S. 106. Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 201; Niedhart, 1996 (wie Anm. 94), S. 84. Vietor hielt die Interventionshoffnungen Amerikas und Englands für „albern“ und aussichtslos, J. K. Vietor an Dr. Hueck vom 26.5.1923, StAB, 7,73-10. Niedhart, 1996 (wie Anm. 94), S. 85.

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Sturz der Monarchie, um auf diese Weise die angestaute Wut und den ohnmächtigen Zorn über das Schicksal Deutschlands auf eine konkrete Zielgruppe ableiten zu können.97 Bereits am Vortag des Abbruches des Ruhrkampfes stand für ihn fest, dass auch dieser bevorstehende „Verrat“ nicht nur auf Politiker, sondern auch auf den jüdischen Einfluss zurückzuführen sei. „Heute ist nun wieder ein ganz schwarzer Tag in der Geschichte unseres deutschen Volkes. Wir sind einmal wieder auf das schmählichste von den Politikern und Juden verraten. Alle die furchtbaren Entbehrungen und Schändlichkeiten, die unser deutsches Volk an Rhein und an der Ruhr ertragen hatte, sollen ungesühnt bleiben. Der liebe Gott muss uns sehr gnädig sein, wenn wir aus diesem Schlamassel allmählich herauskommen.“98

Die nun einsetzenden, sich radikalisierenden Tendenzen, sah er mit Sorge und befürchtete, dass Deutschland wegen Stresemann, der das deutsche Volk „in der schändlichsten Weise an die Franzosen verraten“ und sich damit „versündigt“ hatte, in einen Bürgerkrieg und in eine Hungersnot abrutschen würde.99 Der Ruf nach einer Militärdiktatur, wie sie dem DNVP Vorsitzenden Graf Westarp, dem Industriellen und DVP Abgeordneten Hugo Stinnes sowie dem Chef der Reichswehr Hans von Seeckt vorschwebte,100 fehlt bei ihm zwar, einen Marsch Hitlers und Ludendorffs auf Berlin hätte er jedoch offensichtlich gerne gesehen.101 Zumindest entwickelte er angesichts des „Verrats“ der deutschen Regierung und des als Bedrohung empfundenen Zuzugs von Ostjuden nach Deutschland nun wachsendes Verständnis für den Ruf aus Bayern und Hannover, sich von Berlin loszumachen, ohne damit jedoch einem Separatismus das Wort reden zu wollen.102 Der Ruhrkampf vertiefte 97 Zurecht weist Wehler in diesem Zusammenhang bereits auf den psychologisch bedeutsamen Einschnitt der Judenzählung in Preußen 1916 hin, der als Auftakt einer sich immer weiter steigernden antisemitischen Grundstimmung gedeutet werden kann, die sich nach Revolution und Niederlage weiter dynamisierte, vgl. Wehler, 2003 (wie Anm. 59), S. 495–497. 98 J. K. Vietor an Pastor Winkler (Berlin) vom 25.9.1923, StAB, 7,73-10. Im November 1923 forderte Vietor die Befreiung Deutschlands von der „Fremd- und Judenherrschaft“, J. K. Vietor an General N.N. o.D., StAB, 7,73-10. In veränderter Form hatte Vietor den Briefinhalt in einem Vortrag am 13.11.23 verwendet. In der Eröffnungsrede der Hauptversammlung des 3. DEVB Volkstages in Bünde bedauerte er im Mai 1924, dass Deutschland nach dem Krieg, sein „stolzes deutsches Selbstbewusstsein [gegen] die internationale jüdische Lebensanschauung“ eingetauscht hätte, Vietor, J. K.: „Um Glauben und Heimat“. Eröffnungsrede auf dem 3. Evangelischen Volkstag in Bünde vom 24.-26.5.1924 (Manuskript), StAB, 7,73-10, S. 1. Anläßlich eines großen Aufmarsches des Stahlhelm freute sich Vietor 1927, dass durch den Aufmarsch den „Berliner Judenjungs und Pöbel“ gezeigt werde, dass „noch ehrfurchtgebietende Menschen im deutschen Volk sind, die das Richtige wollen“, J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 3.5.1927, VPAH, NL Hueck, S. 2. 99 J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 3.10.1923, StAB, 7,73-10, S. 1f. 100 Niedhart, 1996 (wie Anm. 94), S. 85f. Das Konzept einer Militärdiktatur hätte aber nur im Falle eines Umsturz- oder Aufstandsversuches von links gegriffen, ohne ein entsprechendes Szenario fehlte der entscheidende Vorwand. 101 Einem General gegenüber bedauerte er Mitte November 1923 die „Fehlschläge, wie sie ja leider auch vor einigen Tagen eingetreten sind“, hoffte aber weiter, „dass unser Volk auf die Dauer sich die Fremd- und Judenherrschaft nicht gefallen lassen wird“, J. K. Vietor an General N.N. o.D., StAB, 7,73-10. Mit den von ihm bedauerten Fehlschlägen war offensichtlich der Hitlerputsch gemeint. 102 „Was kann man aber auch von einer Regierung verlangen, die das deutsche Volk verrät und

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bei Vietor die ohnehin schon vorhandene Verhärtung und Verbitterung gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern nochmals, insbesondere Frankreich.103 Bereits auf dem Höhepunkt des Ruhrkampfes hatte sich Vietor, abgesehen von Schwierigkeiten aufgrund neuer Passvorschriften, im Juni 1923 geweigert, den 2. DEVB Volkstag in Barmen zu besuchen, da es ihm ein „fast unerträglicher Gedanke“ war, die „Schmach und Schande unseres deutschen Volkes bei der Einreise mit eigenen Augen zu sehen.“104 Zwar lag Barmen nicht in der Besatzungszone, aber unmittelbar an der Grenze dazu, sodass Vietor zumindest durch besetztes Gebiet hätte fahren müssen. Hinzu kam, dass er sich bereits früher, bei einem Besuch in Köln, so über das „rücksichtslose Benehmen der englischen Besatzung“ geärgert hatte, dass er sich fest vorgenommen hatte, kein besetztes Gebiet mehr zu betreten, schon gar kein französisches. Bevor er Vortragsreisen ins Rhein- oder Ruhrgebiet zusagte, ließ er sich daher zuvor zusichern, dass er dort nicht auf Besatzungskräfte stieß.105

einen österreichischen, jüdischen U.S.Sozialdemokraten [gemeint ist die USPD, Anm. B.O.] zum Finanzminister macht […] Ich neige mich immer mehr der Neigung zu, daß der bairische und hannoversche Ruf: frei von Berlin eine Lebensnotwendigkeit für uns wird, wenn wir nicht ganz verkommen wollen. 300.000 galizische Juden sind seit der Revolution im Norden und Westen von Berlin eingegangen (sic.), sodass die Deutschen keine Wohnung dort bekommen können“, J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck (China) vom 3.10.1923, StAB, 7,73-10, S. 4. Vietor nimmt hier Bezug auf den gebürtigen Wiener Juden Rudolf Hilferding, der als Finanzminister im ersten Kabinett Stresemann die Einführung der Rentenmark vorbereitete. Zu Hilferding vgl. Smaldone, William: Rudolf Hilferding. Tragödie eines deutschen Sozialdemokraten [Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte; 55], Bonn 2000; Gottschalch, Wilfried: Hilferding, Rudolf, in: NDB (1972), S. 137f. Bis 1925 wanderten etwa 108.000 Ostjuden nach Deutschland ein und machten damit rund 20 % des Gesamtjudentums aus. Wehler, 2003 (wie Anm. 59), S. 499. Allein an der tatsächlich viel niedrigeren Zahl als der von ihm allein für Berlin mit 300.000 bezifferten wird deutlich, dass Vietor von antisemitischer Propaganda beeinflußt war, wie sie besonders von alldeutschen Kreisen und dem Bund der Landwirte (BdL) betrieben wurde, der in Bezug auf den Zuzug von Ostjuden von einer „Heuschreckenplage“ sprach, zit. ebd., S. 328. 103 Die Erbitterung löste bei ihm die Entscheidung aus, sich nach jahrelanger Zurückhaltung wieder durch politisch motivierte Spenden und literarische Betätigung in Form von Leserbriefen und Artikeln in die Tagespolitik einzumischen, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 3.10.1923, StAB, 7,73-10, S. 2. 104 Entwurf des Grußwortes zum 2. DEVB Volkstag vom 9.-11.6.1923, StAB, 7,73-10. Der Passus über die Begründung seines Fernbleibens fehlte später in der offiziellen Programmschrift, vgl. Vietor, J. K.: Ein Wort zum Gruß!, in: [Hauptarbeitsamt des DEVB] (Hrsg.): Illustrierte Rundschau. Bilder aus der Arbeit des Deutschen Evangelischen Volksbundes. Festschrift zum 2. Deutschen Evangel. Volkstag 1923, Barmen [1923], S. 2–4. 105 Vor einer Reise nach Witten fragte er an, ob Witten noch von Franzosen besetzt sei, J. K. Vietor an Lic. Hymmen, Geschäftsführer des Westfälischen Provinzialverbands für Innere Mission, vom 16.1.1925, StAB, 7,73-13. In der Antwort mußte man zwar einräumen, Witten sei noch besetzt, versuchte aber zu beruhigen: „Ihren Anblick werden Sie auf der Strasse nicht ganz vermeiden können, der Verkehr spielt sich aber ohne Belästigungen ab“, Westfälischer Provinzialverband der Inneren Mission (Blankenstein) an J. K. Vietor vom 17.1.1925, ebd. Ob Vietor die Reise angetreten hat, ist nicht bekannt. Als er 1929 eine Einladung nach Bonn erhielt, wollte er seinen Vortrag nur zusagen, wenn die Stadt inzwischen von Franzosen geräumt sei. Dabei spielte aber weniger die Anwesenheit von Franzosen an sich eine Rolle, als vielmehr die Sorge, Schwierigkeiten bekommen zu können, falls er in seinem Vortrag ein „abfälliges Urteil“ über

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Seine Empörung über Frankreich ging nun so weit, dass er sogar einen kollektiven „Haß“ auf Frankreich rechtfertigte. „Herr Pastor von Bodelschwingh war beim Kaiser gewesen und war sehr begeistert von diesem Besuche. Er entwickelte aber nach meiner Meinung nicht ganz richtige Meinungen, z.B. dass wir die Franzosen als Nation nicht hassen dürften, ein Standpunkt, mit dem ich mich nicht einverstanden erklären kann.“106

Die ausgesprochen unchristliche kollektive Verurteilung der früheren Kriegsgegner machte ihn zusehends unfähiger, zwischen der Politik eines Staates und dem einzelnen Menschen zu unterscheiden, was im Zusammenhang mit der Mission zu folgenschweren Verzerrungen in seiner Wahrnehmung führte. Obwohl er eine Entspannung der politischen Lage in Europa nur durch eine Rückwendung der Bevölkerungen zu Gott für möglich hielt, scheiterte er selbst durch seine eigene Unversöhnlichkeit und Bitterkeit an diesem Anspruch und überschätzte die Möglichkeiten des DEVB in seiner volksverändernden Wirkungskraft.107 In diesem Zusammenhang ist auch sein wachsender Antisemitismus zu sehen, sowie die in ein immer düsteres Licht getauchte Retrospektive der Novemberereignisse von 1918. Hatte er während der Novembertage noch gehofft, Ebert würde an der Regierung bleiben, da er einen guten Willen in ihm sah, so lastete er ihm jetzt den größten Teil der Schuld am Ruin des deutschen Volkes an. Eine deutlich mildere Bewertung Eberts durch seinen Bruder, Pastor C. R. Vietor, bezeichnete er als „einfältigen Artikel“, der nicht hätte abgedruckt werden dürfen.108 War er noch nie ein Freund der Sozialdemokratie gewesen, so hatte er bislang doch den Topos der Dolchstoßlegende nicht auf sie in Gesamtheit angewendet. Jetzt aber stand für ihn fest: „Die Sozialdemokratie ist international und vaterlandslos […] Sie hat die Front, die in schwerem Kampf stand unterminiert und durch die Revolution das furchtbare Unglück über Deutschland gebracht.“109 Seinen diese und ähnlich scharfe Thesen enthaltenden Artikel druckte das Bremer Kirchenblatt zu seiner Empörung nicht ab, da die Darstellung zu scharf war und das Blatt dadurch eine Schädigung des „sozialen Friedens“ befürchtete.110

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Frankreich fällen sollte, J. K. Vietor an Dr. Lohmann (Godesberg) vom 16.10.1929, StAB, 7,73-24. J. K. Vietor an Amtsgerichtsrat Dr. Crüwell vom 31.5.1924, StAB, 7,73-10. J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa, Liberia) vom 12.6.1924, StAB, 73-25. „Mir wird es immer klarer, daß wenn nicht nur das deutsche Volk, sondern auch unsere Feinde sich wieder Gott zuwenden, sodaß der ewige Hader und Zank aufhört, wir einen gegenseitigen Vernichtungskrieg haben werden, der wohl nicht viel von der alten Herrlichkeit Europas übrig lassen wird. Deshalb interessiere ich mich auch so für die Arbeit des Evangelischen Volksbundes, von dem man sicher sagen kann, daß er so einen großen Einfluß auf ganze Völkermassen ausübt.“ J. K. Vietor an Pastor Urban vom 10.3.1925, StAB, 7,73-15. 1929 geriet er in Streit mit Herrn Schultheiss, als dieser behauptete Ebert sei in seiner nüchternen Abschätzung der Realitäten nach dem Krieg ähnlich weitblickend gewesen wie Bismarck. Vietor konnte überhaupt nicht verstehen wie ein christlicher Mann Ebert als Vorbild loben konnte, „der doch gerade alles getan hat, was in seinen Kräften stand, um das Christentum in unserem Volke zu unterdrücken, wenn auch nur bedingungsweise“, J. K. Vietor an Schultheiss vom 8.3.1929, StAB, 7,73-23. J. K. Vietor an Pastor Urban vom 28.4.1925, StAB, 7,73-15. Bremer Kirchenblatt an J. K. Vietor vom 13.5.1925, StAB, 7,73-16. Selbst einige Korrekturen an sachlich falschen Aussagen in Vietors nicht veröffentlichtem Aufsatz durch Missionsinspek-

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Die abermalige nationale Demütigung durch den ehemaligen Kriegsgegner hatte Vietors Blickwinkel ganz allgemein weiter verengt. Auch nach Ende der fundamentalen Staatskrise im Herbst 1923, der Einführung der Rentenmark und der allmählichen Beruhigung der allgemeinen Lage, sah Vietor einen Krieg mit Frankreich früher oder später unweigerlich kommen. Er sah auch keine Ansatzpunkte zu einer Entspannung, weil ihm die Ruhrkrise erneut gezeigt hatte, dass die „Feinde“ – der Begriff blieb fester Bestandteil in seinem Wortschatz – nichts weniger als den Untergang Deutschlands wollten. Die Thesen einer ihm zugesandten Veröffentlichung mit Vorschlägen zur Entspannung und Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich konnte er daher nicht unterstützen, so gerne er das offensichtlich auch gewollt hätte. „Wären wir die Siegernation, könnte ich alles was er sagt unterschreiben und würde persönlich auch mein Möglichstes tun zur Versöhnung der Völker beizutragen.“111 Da jedoch nicht von einer versöhnungsbereiten Grundhaltung ausgegangen werden könne, dürfe die deutsche Regierung keinesfalls weiter nachgeben, sondern müsse Mut zum Widerstand, Mut zum Widerspruch und Mut zur Verweigerung haben.112 Wohin das führen würde, hätte ihn die Krise des Jahres 1923 lehren müssen, aber die Verletzung des nationalen Stolzes hatte sich in ihm so verhärtet, dass er, wie weite Teile des rechten politischen Spektrums, dazu nicht mehr fähig war. Angesichts der Zugewinne für die DNVP, die bei den Frühjahrswahlen 1924 mit 19,5 % ihr bestes Ergebnis überhaupt einfuhr, sah er Deutschland im Frühjahr 1924 auf einem Kurs der Gesundung, weil damit die Kräfte, die unzumutbare Reparationsforderungen kategorisch ablehnten, gestärkt worden waren.113 Umso mehr bedauerte er jetzt, der bislang eine Regierungsbeteiligung der DNVP abgelehnt hatte, dass keine Annäherung zwischen Zentrum DDP, DVP und DNVP zustande kam. So lange die DNVP jedoch von der Regierungsverantwortung ausgeschlossen blieb, konnte in seinen Augen kaum mit einer Besserung der Lage gerechnet werden. Immerhin erwartete er durch das stärkere parlamentarische Gewicht der DNVP einen entsprechenden Druck auf die Regierung, energischer in den neuerlichen Reparationsgesprächen in London aufzutreten.114 Auch vom Stahlhelm und nationalen Jugendbünden erhoffte er sich einen gewissen Druck auf die deutsche Verhandlungsführung. Ohne grundlegende Modifikation der aktuell diskutierten Reparationsmodelle befürchtete er Zahlungen Deutschlands bis zum Jahre 2006

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tor Stoevesandt konnten Vietor kaum eines Besseren belehren. Er konnte auch danach keine Schärfe in seinem ursprünglichen Beitrag erkennen, J. K. Vietor an Pastor Urban vom 19.5.1925, ebd. J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk (Basel) vom 8.1.1924, StAB, 7,73-11. Allein aus diesem Grund erschien ihm der Reichspräsidentenkandidat der Rechten im 1. Wahlgang 1925, der Duisburger Oberbürgermeister und Vizekanzler in beiden Kabinetten Marx, Karl Jarres, als geeigneter Kandidat. Vietor imponierte Jarres Widerstand gegen die französische Besatzungsmacht, da er trotz Amtsenthebung und Ausweisung aus dem besetzten Gebiet nach Duisburg zurückgekehrt war, J. K. Vietor an Claus Vietor (Keta) vom 28.3.1925, StAB, 7,73-25. [Vortragsmanuskript/Artikelentwurf Mitte Juni 1924], StAB, 7,73-10; J. K. Vietor an Pastor Gustav von Bodelschwingh vom 23.7.1924, ebd. „Nach meiner Meinung bleibt nichts anderes übrig als ein ganz energisches Sichzurwehrsetzen.“ J. K. Vietor an Carlos Rieke (Sevilla) vom 13.6.1924, StAB, 7,73-10.

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und warnte seinen Sohn: „Du könntest also dein Leben lang als Sklave für die feindlichen Schweinehunde oder die deutschen Verräter arbeiten.“115 Der Eintritt der DNVP in die Regierung war in erster Linie an den unterschiedlichen Vorstellungen zur Reparationsfrage gescheitert. Während Stresemann auf einer aktiven Mitarbeit am vorgelegten Dawes-Plan bestand, rückte die DNVP nicht von ihrer Forderung einer grundsätzlichen Änderung der Verhandlungsposition Deutschlands in der Reparationsfrage ab.116 Nachdem die Regierungsbildung ohne DNVP Beteiligung abgeschlossen worden war und die Verhandlungen über den Dawes-Plan in die Endphase gingen, konnte Vietor dem neuen Reparationsabkommen zwar prinzipiell zustimmen, verlangte von der Regierung jedoch als Bedingung für die Unterzeichnung ein Beharren auf der Forderung des Abzuges der Besatzungstruppen aus dem Ruhrgebiet.117 Eine entsprechende Forderung Deutschlands stellte denn auch einen wichtigen Verhandlungsgegenstand dar. Dabei setzte Stresemann jedoch weniger das nationale Argument ein, sondern unterstrich vielmehr die ökonomische Bedeutung eines geschlossenen Wirtschaftsraumes, für dessen Stärkung und Erhalt die Besatzung hinderlich wäre und konnte sich damit am Ende durchsetzen. Frankreich verpflichtete sich mit Abschluss des Dawes-Abkommens zur Räumung des Ruhrgebietes bis zum Sommer 1925. Selbst Teile der DNVP verhalfen dem DawesPlan durch ihre Unterstützung bei der verfassungsändernden Abstimmung zur Reichsbahnfrage letztendlich zum Erfolg, wenn auch um den Preis eines gefährlichen innerparteilichen Bruchs.118 Nach der Dezemberwahl 1924 trat die DNVP am 16.1.1925 zum ersten Mal in ein Kabinett ein, schied aber bereits am 25.10.1925 im Zusammenhang mit Differenzen über den Locarnopakt wieder aus. Vietor begrüßte den Schritt ausdrücklich und bestand zumindest auf die vollständige Räumung der noch besetzten Gebiete als Gegenleistung für die Unterzeichnung der Locarnoverträge durch Deutschland. „Man hat sehr viel darüber gescholten, dass die Deutschnationalen, als Stresemann den Vertrag von Locarno paraphiert hatte, aus der Regierung ausgetreten sind. Ich halte dieses für das einzig richtige, da auf solche Weise vor aller Welt öffentlich dokumentiert wurde, dass ein grosser Teil und zwar der beste unseres deutschen Volkes, nicht gewillt ist, Friedensverträge 115 J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa, Liberia) vom 12.6.1924, StAB, 73-25. 116 Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 239. Zudem forderte die DNVP einen Rücktritt Stresemanns und schlug Großadmiral a.D. Tirpitz als neuen Reichskanzler vor. 117 J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 15.8.1924, StAB, 7,73-10. Während der ersten Phase der Londoner Konferenz über den Dawes-Plan, an der die deutsche Delegation noch nicht teilnehmen durfte, war Vietor noch weitaus pessimistischer gestimmt und befürchtete, dass nach Ankunft der deutschen Verhandlungspartner, „die Schwächlinge in Berlin wieder neue unhaltbare Verpflichtungen“ eingehen würden, J. K. Vietor an Pastor Gustav von Bodelschwingh vom 23.7.1924, StAB, 7,73-10. Vom 16. – 31.7.1924 tagten die Alliierten ohne deutsche Beteiligung, vom 6. – 16.8.1924 mit der deutschen Delegation, Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 243. 118 Jackisch, Barry A.: Kuno Graf Westarp und die Auseinandersetzungen über Locarno. Konservative Außenpolitik und die deutschnationale Parteikrise 1925, in: Jones, Larry Eugene/Pyta, Wolfram (Hrsg.): Ich bin der letzte Preusse. Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf von Westarp (1864–1945) (Stuttgarter Historische Forschungen; 3), Köln 2006, S. 147–162, 149f. Zu den Verhandlungen über den Dawes-Plan vgl. Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 218–247.

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mit unseren Feinden abzuschließen, solange wir noch eine feindliche, militärische Besatzung in unserem Rheinlande haben.“119

Es fällt auf, dass Vietor als Ausschlusskriterium für die Unterzeichnung des Locarnopaktes nur die vorherige Räumung der besetzten Gebiete nennt, nicht aber auf die Garantie der Westgrenze eingeht, die eine endgültige Preisgabe Elsaß-Lothringens und Eupen-Malmedys zur Folge hatte. Nicht zuletzt aufgrund der Reserve gegenüber einer Anerkennung der Westgrenzen setzten führende DNVP Politiker wie Brockdorff-Rantzau auf der Grundlage des Rapallovertrages von 1922 mehr auf den Ausbau der Beziehungen zu Russland. Eine enge Bindung an Russland schien Brockdorff-Rantzau die beste Gewähr sowohl für eine Revision der Grenzfestlegungen des Versailler Vertrages im Osten wie im Westen, freilich unter Verzicht einer Aussöhnung mit Frankreich und den Westmächten.120 Der Austritt der DNVP aus der Regierung war auf Druck der Landesverbände unausweichlich geworden, nachdem sowohl der Parteivorsitzende Westarp als auch Innenminister Martin Schiele vergeblich um einen Verbleib in der Koalition gekämpft hatten. Auch Hindenburg reagierte verärgert über den Austritt der Partei aus der Regierung und sah sich von ihr getäuscht, da er insbesondere auf Drängen der DNVP die Regierung nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten unterstützt hatte und keine Regierungsbeteiligung der SPD wünschte. Die Locarno-Verträge konnten am 27.11.1925 aber nur durch die Unterstützung der SPD durch das Parlament gebracht werden, wenngleich ohne Kabinettsbeteiligung.121 Statt einer neuen parlamentarischen Regierung, die ohne die DNVP seiner Meinung nach ohnehin nicht stabil sein könne, wünschte sich Vietor jetzt „eine unabhängige Regierung […], die sich nicht nach den einzelnen Parteien zu richten hat“, offensichtlich also eine Präsidialregierung, die sich auf § 48 der Verfassung stützen würde.122 Davon erwartete er zum einen eine deutlich „selbständigere Politik“, als die von Stresemann betriebene, zum anderen aber auch einen starken Eindruck auf Frankreich und England, die dann begreifen würden, dass sich Deutschland „nicht an Nase herumführen lässt.“123 Einer Politik des „Wandels durch Annäherung“ konnte er nach wie vor nichts abgewinnen und positionierte sich mit der Forderung nach einem autoritären Regime am rechten Rand der DNVP. Die unbestreitbaren Vorteile und Handlungsmöglichkeiten für Deutschland durch den Locarnopakt konnte er nicht erkennen, obwohl seine Forderung nach Abzug der alliierten Truppen zumindest für den Kölner Raum ja durch119 120 121 122

Erinnerungen (Fragment) [1925], StAB, 7,73-17, S. 4. Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 284. Jackisch, 2006 (wie Anm. 118), S. 159f. Eine Präsidialregierung, gestützt auf Notverordnungen nach § 48 der Verfassung war jedenfalls sein ausgesprochenes Ziel vier Jahre später. Zwar lobte er Hindenburg, dass er darauf bestanden habe, dass „der blödsinnige Reichstag wenigstens zusammen bleiben muss, bis das sogenannte Arbeitsprogramm erledigt ist“, für die Zeit danach und für den Fall weiterer Schwierigkeiten hoffte er jedoch auf Hindenburgs Rückgriff auf § 48. „Dann kann (sic) mit etwas Energie die wirklich recht bedauerlichen Verhältnisse wohl in Ordnung gebracht werden, denn das Schlimmste ist ja, dass die Sozialdemokraten und die Demokraten es immer mit den Franzosen gegen uns halten“, J. K. Vietor an [Hedwig Hueck] vom 17.3.1928, VPAH, NL Hueck, S. 6f. 123 Erinnerungen (Fragment) [1925], StAB, 7,73-17, S. 4.

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aus zügig entsprochen wurde.124 Für ihn bedeutete der Vertrag nichts weiter als eine weitere Auslieferung Deutschlands, ohne erkennbare Gegenleistung. „Der Vertrag von Locarno hat uns ganz überflüssiger Weise wieder vollständig in die Hände unserer Feinde gegeben, und von den vielen Rückwirkungen, wovon die Herren geredet haben, ist jetzt natürlich keine Rede mehr.“125 Auch den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund sah er als „unheilvoll“ an und zeigte sich entsetzt darüber, dass sich der „alte brave Hindenburg“ nun auf politische Absprachen mit der SPD und Linksliberalen einließ.126 Vietors Sorge in Bezug auf die SPD war jedoch unbegründet. Das Angebot der SPD an Hindenburg über eine „passive Koalitionspolitik“ mündete nicht in eine Kabinettsbeteiligung. Da sich aber keine andere parlamentarische Mehrheit herstellen ließ, musste Hindenburg ultimativen Druck auf die Vertreter des Zentrums, der BVP, der DVP und der DDP ausüben, damit überhaupt eine Regierung zustande kam.127 Die Kritik am Locarnopakt und dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund hinderte Vietor indessen nicht, sich aus der neuen Lage ergebende Chancen, etwa für die Entschädigungsfrage oder die koloniale Revision aufzugreifen. 1928 richtete er einen Appell an die DKG, ihren Einfluss geltend zu machen, dass Deutschland bei den anstehenden Sitzungen der Sachverständigenkommission über die zukünftige und abschließende Reparationslösung erneut die koloniale Frage aufwerfe. Die deutsche Delegation müsse die Rückgabe der deutschen Kolonien verlangen und bei Verweigerung dieser Forderung zumindest den Abzug des Wertes der ehemaligen deutschen Kolonien von der Gesamtschuld Deutschlands erreichen.128 124 Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 296. Die Räumung des Kölner Raumes begann am 1.12.1925 und war nach zwei Monaten abgeschlossen. Auch die Räumung der restlichen Gebiete war nun in greifbare Nähe gerückt. 125 J. K. Vietor an Wilhelm Voss (River Cess/Liberia) vom 2.12.1925, StAB, 7,73-17. 126 J. K. Vietor an Hans Weber (Barcelona) vom 16.12.1925, StAB, 7,73-17. 127 Schulz, Gerhard: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Bd. 2: Deutschland am Vorabend der großen Krise, Berlin 1987, S. 240f. 128 Eine Aufrechnung des Wertes der deutschen Kolonien mit der Wiedergutmachungsschuld schloß Art. 257 des Versailler Vertrages aus, RGBl. (1919), S. 1061. Fritz Zadow schätzte den Wert der deutschen Kolonien, einschließlich der Bodenschätze, auf mindestens 300 Milliarden Reichsmark. Damit wäre bei Anrechnung des kolonialen Wertes auf die Reparationslasten die gesamte Wiedergutmachungsschuld getilgt gewesen und Deutschland hätte sogar noch Erstattungen von den Siegermächten fordern können, Zadow, Fritz, 1942: Koloniale Revision, S. 320f. Es liegt auf der Hand, dass sich die Siegermächte kaum auf ein derart schwieriges Aufrechnungsgeschäft einlassen konnten, auch wenn Zadows Zahlen weit übertrieben gewesen sein mögen, was allein schon die Summe aller bei der deutschen Regierung eingereichten kolonialen Entschädigungsansprüche von rund 11 Milliarden Mark erkennen läßt, die in einem krassen Mißverhältnis zu den von Zadow berechneten 300 Milliarden RM standen, auch wenn die Entschädigungsansprüche nichts über den potenziellen Wert der kolonialen Gebiete an sich aussagten, Burckhard, Richard: Deutsche Kolonialunternehmungen. Ihr Schicksal in und nach dem Weltkrieg, Berlin 1940, S. 51. Graichen und Gründer geben als Wert für die insgesamt eingereichten Entschädigungsansprüche lediglich den Wert von 4,7 Milliarden Mark an, Graichen/Gründer, 2005 (wie Anm. 7), S. 376. Lange umstritten war aber die Frage, ob die Entschädigungszahlungen der deutschen Reichsregierung an die durch Krieg und Verlust der Kolonien geschädigten Kolonialunternehmen von den Zahlungsverpflichtungen des Dawes-Planes abge-

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Die kommenden Verhandlungen stellten für ihn „die letzte Chance“ dar, die alten deutschen Kolonien zurückzuerhalten.129 Im Zusammenhang mit den Beratungen über den Dawes-Plan und einen Beitritt Deutschlands zum Völkerbund hatte er 1924 solche Gestaltungspielräume noch für reine Propaganda gehalten. Die damaligen Hoffnungen auf die Übertragung von Völkerbundmandaten hatte er als reine Ablenkungsmanöver der Regierung abgetan, die damit nur weitere Zugeständnisse in der Reparationsfrage kaschieren wollte.130 Trotz seiner Skepsis an einem realen aktuellen politischen Hebel in Bezug auf die koloniale Frage, freute er sich damals aber über die „schneidigen Reden“ des Kolonialkriegerbundes, der vom 20. bis 22.6.1924 in Bremen seine zweite Jahrestagung abhielt und Vietor in den Ehrenausschuss der Tagung berufen hatte.131 Der Präsident des Kolonialkriegerbundes, Generalmajor Georg Maerker forderte in seiner Eröffnungsrede, im Andenken an die gefallenen Kolonialkrieger nie die Forderung nach Rückgabe des unter „infamen Lügen gestohlene[n]“ Kolonialbesitzes verstummen zu lassen.132 Auch wenn Vietor an sich über keine natürlichen Beziehungen zu Kolonialkriegern verfügte, stand er doch dem von diesen hoch verehrten Paul von Lettow-Vorbeck nahe, der seit 1923 in Bremen lebte. 1922 hatte die Bremer Vereinigung der kolonial Interessierten, der Vietor angehörte, beschlossen, Lettow-Vorbeck ein Haus zu bauen. Zu diesem Zweck einigten sich die Mitglieder auf einen Beitrag von 30.000,- Mark, von dem Vietor 2.000,- Mark übernahm. Für ihn war die Unterstützung Lettow-Vorbecks eine „Ehrenpflicht“.133 Später kamen sich Vietor und Lettow-Vorbeck auch persönlich näher.134 Nur zwei Wochen nach der Tagung des Deutschen Kolonial-

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zogen werden konnten. Diese Frage beschied das Haager Schiedsgericht am 29.1.1927 endgültig abschlägig, Burckhard, 1940: Kolonialkunternehmungen, S. 52. J. K. Vietor an DKG vom 3.11.1928, StAB, 7,73-22. Vietors Antrag fand sowohl im Ausschuss wie auch im Präsidium der DKG „volle Würdigung“. Der Arbeitssauusschuss der Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft (Korag) hatte bereits eine Entschließung an die Reichsregierung in Vorbereitung, mit der die Reichsregierung aufgefordert wurde, Korag-Vertreter zur den Vorbereitungen der Verhandlungen hinzuzuziehen, DKG an J. K. Vietor vom 6.11.1928, StAB, 7,7322. Die Verhandlungen der Finanz- und Wirtschaftssachverständigen Belgiens, Frankreichs, Großbrittaniens, Italiens, Japans, der USA und Deutschlands begannen am 11.2.1929 und hatten das Ziel, eine abschließende Regelung der Reparationen zu erarbeiten, die politisch auch mit dem Abzug der alliierten Truppen aus dem Rheinland verknüpft war. Die Beratungen mündeten in den Young-Plan, Krüger, 1985 (wie Anm. 72), S. 476. „Ich glaube an allen diesen Schwindel, den die Regierung in die Zeitung setzt, nicht. Dieses ewige Entgegenkommen gegen die Feinde ist einfach unbegreiflich und wir erreichen natürlich gar nichts damit“, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 8.7.1924, StAB, 7,73-10, S. 2. Deutscher Kolonialkrieger Bund an J. K. Vietor vom 24.5.1924, StAB, 7,73-11. Maß, Sandra: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland, 1918–1964, Köln [u.a.] 2006, S. 60f. General Maerker, der mit Unterbrechungen von 1888–1910 in deutschen Schutzgebieten eingesetzt war, zuletzt als General der südwestafrikanischen Schutztruppe, hatte den Deutschen Kolonialkriegerbund 1922 gegründet, Nöhre, Joachim: Das Selbstverständnis der Weimarer Kolonialbewegung im Spiegel ihrer Zeitschriftenliteratur (Uni Press Hochschulschriften; 103), Münster 1998, S. 26, vgl. auch den Nachruf auf Maerker in von Boemcken: Maerker, in: Koloniale Rundschau 1 (1925), S. 3–6. J. K. Vietor an Senator Biermann vom 28.7.1922, StAB, 7,73-9. Im November 1923 war Lettow-Vorbeck samt einem kleinen Kreis bekannter Persönlichkeiten,

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kriegerbundes reiste Vietor am 6.7.1924 zur Festveranstaltung anlässlich des 40. Jahrestages der Unterzeichnung des Schutzgebietsvertrages von Togo nach Berlin und hielt dort den Festvortag über die „Entwicklung der Kolonie Togo“. Den Vortrag sollte eigentlich Friedrich Hupfeld halten, der jedoch kurz zuvor überraschend verstorben war.135 Von einem Ablenkungsmanöver der Regierung konnte im Rahmen der Dawes-Verhandlungen indessen nicht die Rede sein. Stresemann hatte das Ziel der Beteiligung Deutschlands am Mandatssystem des Völkerbundes bereits zu diesem Zeitpunkt fest im Blick. Im Übrigen waren deutsche Forderungen nach einer kolonialen Revision auch auf vorherigen internationalen Konferenzen erhoben worden, so in Spa 1920, auf der Völkerbundversammlung in Genf 1921 und auf der Wirtschaftskonferenz in Genua 1922.136 Daran knüpfte Stresemann an und veranlasste am 20.9.1924 eine terrainvorbereitende Note Deutschlands an den Völkerbund, in der die Erwartung an einer deutschen Beteiligung am Mandatssystem „zu gegebener Zeit“ ausgedrückt wurde. In den „Richtlinien unserer Kolonialpolitik“ vom 10.11.1924 legte der Leiter des am 1.4.1924 neu geschaffenen und im Auswärtigen Amt angesiedelten Kolonialabteilung, Edmund Brückner, eine konkrete Ausgestaltung der deutschen Kolonialpolitik unter den neuen Gegebenheiten einer Entspannung mit den Westmächten vor. Darin zielte er neben der erneuten wirtschaftlichen Durchdringung der Gebiete der ehemaligen deutschen Kolonien auf Siedlungsmöglichkeiten für Deutsche in Südwestafrika, Ostafrika und Angola sowie die Rückgewinnung Togos, Kameruns und Tanganijkas. Nach anfänglichen Signalen Frankreichs, Belgiens und Englands, über eine Beteiligung Deutschlands am Mandatssystem im Falle des Abschlusses des Locarno-Paktes sowie einer Lockerung der Beziehungen Deutschlands zu Russland sprechen zu wollen, konnte Stresemann aber schließlich weder einen prinzipiellen Anspruch Deutschlands auf Kolonialmandate durchsetzen noch einen Freispruch von der Kolonialschuld-These erreichen.137 Auch einige Jahre später, im Zusammenhang mit den Verhandlungen

darunter dem Bremer DNVP Vorsitzenden Marwede, zu einem Abendessen im Hause Vietor geladen, das „einfach entzückend“ war. Lettow-Vorbeck fühlte sich, nach Vietors Darstellung, so wohl, dass er am nächsten Tag nochmal ans Kontor kam und sich für den Abend bedankte, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa, Liberia) vom 19.11.1923, StAB, 7,73-25. 135 Hagens an J. K. Vietor vom 23.6.1924, StAB, 7,73-12. Der Wortlaut der Rede findet sich in StAB, 7,73-10 und in VPAH, Konv. 4, Teil 2. Obwohl es für Vietor „wirklich ein ganz brillianter Tag“ war und alle sich freuten ihn wiederzusehen, mußte er sich doch wundern über die ihm erzeigte Herzlichkeit. „Ich habe ja mit allen den Leuten draussen immer viel Krach über die Behandlung der Schwarzen gehabt, aber von allen diesen alten Sachen war überhaupt keine Rede. Nur Dr. Gruner meinte, dass ich immer der schärfste Kritiker von allen Leuten gewesen sei“, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 8.7.1924, StAB, 7,73-10, S. 5. 136 Rüger, 1977 (wie Anm. 11), S. 254. Im November 1920 hatte die deutsche Regierung gegenüber dem Völkerbund erklärt, dass es sich alle Rechte auf kolonialen Besitz weiter vorbehalte, ebd. 137 Rüger, 1977 (wie Anm. 11), S. 260–262. Zwar wurde 1927 ein deutscher Vertreter in die Mandatskommission des Völkerbundes aufgenommen, konnte dort aber nicht viel erreichen. Von größerer praktischer Bedeutung war Frankreichs nun schrittweise Aufhebung seiner Beschränkungen für den deutschen Handel in den französischen Kolonien und Mandatsgebieten sowie die Einräumung der gegenseitigen Meistbegünstigung, was einer handelspolitischen Gleichbe-

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über den Youngplan, konnte ein entsprechendes Ergebnis nicht erzielt werden.138 Die Rückerstattung der Kolonien spielte auch eine wichtige Rolle auf dem 4. Kolonialkongress, der am 17. und 18.9.1924 in Berlin stattfand. Vietor, der neben Gouverneur a.D. Albert Hahl und Dr. Otto Riedel zum stellvertretenden Vorsitzenden der Abteilung II, Kolonialwirtschaft, ernannt wurde,139 verzichtete unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass er „nichts Positives“ sagen könne, auf einen Vortrag zur Frage der wirtschaftlichen Situation in Togo und Kamerun 1914 und 1924.140 Ohne Frage hatte er dabei auch mögliche Verhandlungen über eine Beteiligung Deutschlands am Mandatssystem im Blick, die er im Hinblick auf die Verwendung früherer Aussagen von ihm durch Evans Lewin, nicht durch erneute kritische Töne erschweren wollte. Daher wehrte er sich zur gleichen Zeit energisch gegen Sentenzen im Kolonialroman Rodenkampp Söhne, die Misshandlungen von Eingeborenen durch Deutsche erwähnten. Der Roman, der die Firmengeschichte der Firma Vietor in Westafrika in Romanform nacherzählte und den Vietor und Freese als Lektoren begutachteten, erwähnte im Druckentwurf einen Akteur, Herrn Uttfeld, der „Leute in englischen und französischen Kolonien anwirbt, resp. als Sklaven wegführt“, um sie dann auf Plantagen in Kamerun einzusetzen.141 Vietor wollte diese Passage unter keinen Umständen im Roman haben und drängte auf Vermeidung aller Hinweise, die die deutsche Kolonialpolitik in irgendeiner Weise angreifbar machen könnten. „Die Entente kann uns allerdings einen Strick daraus drehen, und uns die schlimmsten Vorwürfe aller wohlgesinnten Deutschen zuziehen. Ich bitte sie deshalb, auf keinen Fall diese Sachen, die längst überlebt sind, noch zu bringen, denn wir würden einfach Deutschland damit schädigen.“142

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rechtigung mit anderen Drittstaaten gleichkam, ebd. S. 263; vgl. Gründer, Horst, 2004: Geschichte der deutschen Kolonien, S. 221–224. Am 22.11.1928 hatten führende Vertreter der Kolonialbewegung um die ehemaligen Gouverneure Hahl, von Lindequist, von Rechenberg, Schnee und Schultz-Ewerth „Kolonialpolitische Richtlinien“ beim Auswärtigen Amt eingereicht, die als Grundlage der Verhandlungen über den Young-Plan dienen sollten. Angesichts der Gefährdung anderer Vorteile des Young-Planes konnten ihre Vorstellungen jedoch bei den Pariser Verhandlungen 1929 nicht durchgesetzt werden, Rüger, 1977 (wie Anm. 11), S. 269f. Paul Fuchs (DKG, Berlin) an J. K. Vietor vom 17.6.1224, StAB, 7,73-11; Dt. Kol. kongress 1924, Abt. II Kol. Wirtsch. an J. K. Vietor vom 6.8.1924, StAB, 7,73-14, vgl. Deutscher Kolonialkongreß (Hrsg.): Verhandlungen des deutschen Kolonialkongresses 1924 zu Berlin am 17. und 18. September 1924, Berlin 1924, S. X. Fuchs (Deutscher Kolonialkongreß 1924, Abt. II Koloniale Wirtschaft) an J. K. Vietor vom 17.7.1924; StAB, 7,73-14; J. K. Vietor an Fuchs vom 21.7.1924, ebd. Vgl. Jünger, Nathanael: Rodenkampp Söhne. Deutscher Kolonialroman aus Bremens Vergangenheit und Zukunft, Wismar in Meckl. 1924.. Das Buch wurde unter dem Synonym Nathanael Jünger herausgegeben. Dahinter verbarg sich der evangelische Theologe Lic. Rump, vgl. ebd. S. 395. J. K. Vietor an Lic. Rump vom 21.7.1924, StAB, 7,73-14. Eine Woche später drängte Vietor erneut auf Unterlassung aller despektierlichen Abschnitte im Roman: „Es gehen aber keinesfalls die Ausführungen von Seite 174; das würde unsere Kolonialpolitik in zu schlechter Weise darstellen und könnten einen sehr fatalen Eindruck unseren Feinden gegenüber machen […]. Ich bitte Sie deshalb unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass dieser Teil doch einfach wegbleibt. Wir dürfen in diesem Buche unter keinen Umständen irgendetwas bringen, was

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Auch wenn Vietor sein vielfältiges wirtschaftliches und politisches Engagement in Gremien und Verbänden nach dem Krieg deutlich reduzierte, gehörte er weiterhin dem Hauptvorstand der DKG143 sowie dem Vorstand der Bremer DKG Abteilung144 an, dem Vorstand des KWK,145 dem Beirat der Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenkunde,146 Nachfolgeorganisation der Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenschutz, und dem Vorstand des VWK.147 Angesichts des erhöhten Arbeit-

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unsere Kolonialpolitik in einem sehr schlechten Licht darstellt. Ich weiss, dass Herr Freese derselben Meinung mit mir ist und sich keinesfalls darauf einlassen wird, dass dieses im Buch erscheint“, J. K. Vietor an Lic. Rump, p. Adr. Herrn Wagner (Langensalza/Thüringen) vom 30.7.1924, ebd. Zwei Tage später wiederholte Vietor die Mahnung, entsprechende Stellen zu streichen, vgl. J. K. Vietor an Lic. Rump vom 1.8.1924, ebd. Vgl. Der Präsident der DKG an alle Mitglieder des Aussschusses und des Vorstands vom 9.4.1927, StAB, 7,73-20. Die Einladung bezog sich auf das Vorstandstreffen am 11.6.1927, auf dem unter Tagesordnungspunkt 2 über die Frage beraten wurde, ob es noch Sinn mache, einen deutschen Vertreter in die Mandatskommission des Völkerbundes zu entsenden. Am 12.6.1927 fand in Königsberg die Hauptversammlung der DKG statt. Auf der Hauptversammlung der DKG in Hannover vom 24. bis 25.5.1929 wurde Vietor für drei weitere Jahre in den Hauptvorstand gewählt, DKG (Berlin) an J. K. Vietor vom 31.5.1929, StAB, 7,73-23. Dem Hauptvorstand gehörten 75 Personen an. Auch 1932 wurde er erneut, in Abwesenheit, in den Hauptvorstand gewählt, dürfte die Wahl aber aus gesundheitlichen Gründen nicht angenommen haben, Schnee an J. K. Vietor vom 21.10.1932, VPAH, Konv. 4, Teil 1. 1928 war Vietor stellv. Vorsitzender der Bremer Abteilung, Mitgliederverzeichnis der Abt. Bremen der DKG, Ausgabe Winter 1928, StuUB, 39.c.184, S. 5. KWK an J. K. Vietor vom 15.11.26, StAB, 7,73-19. Mit dem Schreiben wurde Vietor zur Vorstandssitzung am 9.12.1926 nach Berlin eingeladen, nachdem er zuvor vom geschäftsführenden Vorstand erneut für drei Jahre in den Vorstand gewählt worden war, wofür Vietor „ausserordentlich dankbar“ war, J. K. Vietor an KWK vom 13.10.1926, ebd. Vietor war in Abwesenheit in den Beirat gewählt worden. Die Umbenennung und Neuausrichtung ging auf eine Initiative A. W. Schreibers zurück. Laut § 2 der neuen Satzung widmete sich die Gesellschaft nun dem „Studium der Eingeborenen zur Förderung ihrer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Wohlfahrt.“ Prof. Westermann war nach wie vor 1.Vorsitzender und der 1914 aus taktischen Gründen eingetretene Wilhelm Kemner nun Generaldirektor. Zur Gesellschaft gehörten 63 Mitglieder, darunter Dernburg, Direktor Weigelt, Gouv. a. D. Schnee, Gouv. a. D. Hahl, Gouv. a. D. Seitz, Mumm, Frau von Bredow (Frauenbund der Kol.gesellsch.), Dr. theol. Spiecker, Frhr. von Richthofen, Schlunk, Dr. Simons, Fabarius, Pelizaeus, Mirbt u.a. Zum geschäftsführenden Komitee, das den 15 köpfigen Beirat berief, gehörten 10 Personen, Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde an J. K. Vietor vom 13.10.1925. Dem Schreiben hing die neue Satzung und die aktuelle Mitgliederliste an. 1926 erbat die Gesellschaft Vietors Unterschrift für eine Initiative, die eine Beratungsstelle für „afrikanische und amerikanische Neger […], die an einer dt. Hochschule studieren“ wollten ins Leben rufen sollte. Ziel war die Vertiefung persönlicher Kontakte zwischen Deutschland und gebildeten Farbigen, möglicherweise, um prodeutschen Einfluß auf die zukünftige Elite der jetzigen Mandatsgebiete nehmen zu können. Die Beratungsstelle sollte an der Berliner Universität Einführungskurse für die Zielgruppe einrichten, Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde (Berlin) an J. K. Vietor vom 17.3.1926, StAB, 7,73-18. Vietor unterschrieb zwar, glaubte aber nicht, dass deutsche Missionare erfolgreich Studienvorschläge in Bezug auf Afrikaner aus englischen und französischen Kolonien machen könnten, J. K. Vietor an Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde vom 22.3.1926, StAB, 7,73-18. Der VWK mußte nach dem Krieg einen empfindlichen Mitgliederverlust hinnehmen. Allein 1924 traten 8 Firmen aus dem VWK aus, teilweise insolvenzbedingt. Der VWK verfügte damit 1925 nur noch über 25 Mitglieder, 1913 waren es noch 45 gewesen, VWK an Mitglieder des

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spensums im eigenen Unternehmen konnte und wollte Vietor jedoch keine entscheidende Rolle mehr in den kolonialen Verbänden spielen. Sein Hauptinteresse galt neben der Mission dem Engagement im DEVB und den sich dadurch ergebenden Überschneidungspunkten mit der allgemeinen und der Parteipolitik. War Vietor Anfang der 1920er Jahre noch entschiedener Anhänger der DNVP gewesen, schwand seine Identifikation mit ihr allmählich, trotz der Zustimmung zu ihrem weitgehend reaktionären und außenpolitisch unversöhnlichen Kurs. Sein entscheidender Kritikpunkt war die nicht ausreichende christliche Fundierung der Partei, respektive das nicht ausreichende Engagement für Anliegen des bibeltreuen Protestantismus. Als er Anfang Januar 1924 eine Broschüre von Max Huber zugeschickt bekam, der in Offenbach eine christliche Volkspartei gegründet hatte, erkannte er in ihrem Programm den gleichen Ansatz, den früher die CSP vertreten hatte, was Zweifel in ihm auslöste, ob der Anschluss der CSP an die DNVP die richtige Entscheidung gewesen war. Im neuen Staat und in der aktuellen Lage Deutschlands konnte er sich inzwischen für eine christlich-protestantische Partei größere Chancen vorstellen als unter den Bedingungen des Kaiserreiches.148 Andererseits war ihm klar, dass eine neue christliche Partei kaum ein solches Gewicht wie die DNVP gewinnen konnte. Er schwankte daher zwischen dem Wunsch, eine Neugründung zu wagen und der Alternative „einen rechten Flügel der Deutschnationalen zu bilden.“149 Das Wort „links“ wollte er offensichtlich mit politischem Bezug nicht aussprechen, auch wenn das historische Vorbild durchaus auch in diese Richtung wies. Stoecker hatte mit den Christlich-Sozialen innerhalb der Konservativen Partei ohne Frage eher einen linken als einen rechten Flügel gebildet, sofern es um sozialreformerische Zielvorstellungen ging. Mit seinen antisemitischen Auslassungen bediente er dagegen eindeutig den rechten Rand der Partei. Diesen Aspekt wollte Vietor aber nicht stärker betonen als er ohnehin schon in der DNVP lebendig war, vielmehr schwebte ihm ein Sammelbecken der positiven, bibel- und bekenntnistreuen Christen innerhalb der Partei vor,150 die mit ihren christlich-sozialen Politikvorstellungen eher in der linken Hälfte der Partei anzusiedeln gewesen wären.151

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VWK vom 10.3.1925, StAB, 7,73-15, S. 2. 1919 verfügte der VWK noch über sechs Unterabteilungen. Vietor gehörte drei Vorständen der Abteilungen an (Nord- und Mittelkamerun, Togo, Liberia), der Gruppe „Liberia“ stand er als 1. Vorsitzender vor, VWK an Staatsminister Dr. Bell vom 1.4.1919, BAB, R 1001-3414, Bl. 170f. Neuaufnahmen betrachtete Vietor trotz des Mitgliederverlustes skeptisch. Diese Sicht teilten auch die Vorstände Dauelsberg, Müller und West, da sie unangenehme Konkurrenz fürchteten. Fünf Firmen hatten einen Aufnahmeantrag gestellt, Protokoll der Vorstandssitzung des VWK vom 9.2.1925, StAB, 7,73-15. Der Abwärtstrend des VWK setzte sich 1925 fort. Zwei Neuaufnahmen standen weitere 6 Austritte entgegen, sodass der Verein nur noch 21 Mitglieder hatte und nun Neuaufnahmen zu seinem erklärten Ziel machte, Einladungsschreiben des VWK zur ordentlichen Mitgliederversammlung am 30.4.1926, StAB, 7,73-18. J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk (Basel) vom 8.1.1924, StAB, 7,73-11. J. K. Vietor an F. M. Vietor vom 10.1.1924, StAB, 7,73-11. Dieses Sammelbecken hätte für ihn einem „rechten Flügel“ der DNVP entsprochen, Artikelentwurf von J. K. Vietor für die Norddeutsche Rundschau [1924], StAB, 7,73-12, S. 4. Heinrich Stuhrmanns Verbleib im preußischen Landtag wollte er 1925 nur noch zustimmen, wenn es diesem gelänge, einen „christlichen Flügel“ in der Partei aufzubauen. Nach zähen innerparteilichen Verhandlungen gelang es Stuhrmann, einen „sozialen Ausschuß“ der DNVP ins

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Die Gefahr einer antichristlich-deutsch-völkischen Unterwanderung wie er sie im Eintritt „ganz rechtsstehender Kreise“ in die DNVP erkannte, löste bei ihm ambivalente Gefühle aus. Einerseits anerkannte er ihren Willen, Deutschland aufrütteln zu wollen, stimmte auch zu, dass ihre Denkart „ganz gewiss am meisten unserem Volkscharakter“ entspräche, da die Deutschen schon immer ein Heldenvolk gewesen wären, kritisierte aber, „dass ihre führenden Männer absolut nicht das Christentum in den Vordergrund stellen.“ Ihr äußeres Auftreten „mit ihren roten Armbinden und ihrem schwarz und weissen Hakenkreuz“ gefiel ihm dagegen.152 Nicht zuletzt deshalb schickte er seine Söhne Wilhelm und Richard möglicherweise in die offensichtlich deutsch-völkische Jugendorganisation „Wiking“ und nicht, wie sein Geschäftspartner Freese, zum Jugendverband des Stahlhelm, mit dem er sich ebenfalls nah verbunden fühlte.153 Auch sein älterer Bruder, Friedrich Martin Vietor, Pfarrer in Kalk bei Köln, begrüßte die Gründung einer neuen christlichen Partei wie der in Offenbach, da die evangelischen Anliegen in der DNVP nicht genügend vertreten würden. Reinhard Mumm hatte dagegen ihm gegenüber eine Neugründung als politische Zersplitterung der christlichen Szene bezeichnet und abgelehnt. Für ihn waren die entscheidenden Aussagen und Bekenntnisse zum christlichen Glauben im DNVP Programm „präciser und klarer“ ausgedrückt als in der Broschüre der 300 Mitglieder zählenden Splittergruppe aus Offenbach. Außerdem vermisste er in deren Programm ein klares Bekenntnis zur Monarchie.154 Neben dem Offenbacher Parteigründungsversuch entstanden etwa zeitgleich an verschiedenen Orten christliche Parteigründungsinitiativen.155 Dazu gehörte auch der Aufruf Samuel Jaegers zur Bildung von „christlich-sozialen Gesinnungsgemeinschaften“ am 13.3.1924. Jaeger, der vor dem Krieg zur CSP gehört hatte und den Vietor bereits von den Verhandlungen über den Kauf der Zeitung „Aufwärts“ kannte, gehörte bis 1922 zum Vorstand des DNVP Landesverbandes Westfalen-Ost. Nachdem wesentliche Zusagen an die Christlich-Sozialen bei der Parteigründung schrittweise durch Mehrheitsbeschluss wieder aufgehoben worden waren, trat Jaeger nach dem Attentat auf Rathenau aus dem Landesvorstand aus.156 Da Jaeger jedoch zunächst in der Partei blieb, konnten die christlich-sozialen Kreise im Minden-Ravensberger Land nach

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Leben zu rufen, zu dessen Vorsitzenden er gewählt wurde und der ein entsprechendes Sammelbecken für christlich-sozial gesinnte Parteimitglieder bildete, J. K. Vietor an Dr. Hueck (Lüdenscheid) vom 16.7.1925, StAB, 7,73-16, S. 4f. Artikelentwurf von J. K. Vietor für die Norddeutsche Rundschau [1924], StAB, 7,73-12, S. 2f. Die Norddeutsche Rundschau wurde von der Deutsch-Völkischen Bewegung getragen, Bürgermeister Buff an J. K. Vietor vom 26.11.1923, StAB, 7,73-11. J. K. Vietor an Dr. Hueck (Solingen) vom 4.11.1925, StAB, 7,73-17, S. 3. Nachdem Vietor Informationsmaterial von der „Deutschvölkischen Freiheitsbewegung“ bekommen hatte und dadurch überzeugt worden war, dass diese Bewegung auf dem Boden des „absoluten Christentums“ stand, intervenierte er bei zwei Bremischen Pastoren und bat um entsprechende Korrektur ihrer ablehnenden Stellungnahmen dazu. „Entgleisungen“ einzelner Mitglieder könnten nicht der gesamten Gruppierung angelastet werden, J. K. Vietor an Pastor Groscurth (Bremen) vom 18.1.1926, StAB, 7,73-17. Ein textgleicher Brief ging am selben Tag auch an Pastor Mallow (Bremen), ebd. F. M. Vietor an J. K. Vietor vom 16.1.1924, StAB, 7,73-11. Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 40–43. Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 35f.

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Interventionen von Mumm, Behrens, Emil Hartwig, Wilhelm Koch und Margarete Behm überwiegend in der Partei gehalten werden. Wenngleich Jaegers Aufruf zunächst kein unmittelbar sichtbares Echo hervorrief, fiel der Ansatz zur Gründung einer neuen christlichen Partei in Gemeinschaftskreisen, Evangelischer Allianz und den Freikirchen zunehmend auf fruchtbaren Boden. Jaegers Aufruf führte, unbeschadet des vorläufig schwachen Widerhalls, am 9.4.1924 zur Gründung des Reichsverbandes der Christlich-sozialen Gesinnungsgemeinschaften, dem sich auch ein Kreis aus Korntal bei Stuttgart anschloss. Am 31.10.1924 lud der zur Gemeinschaftsbewegung gehörende Reichskanzler a.D. Georg Michaelis zu einer Konferenz ein, die eingehend die Frage der Gründung einer neuen christlichen Partei erörterte. An der Konferenz nahmen auch Walter Michaelis, Bruder des früheren Reichskanzlers und Vorsitzender des mehrere hunderttausend Mitglieder zählenden Deutschen Verbands für evangelische Gemeinschaftspflege und Evangelisation (Gnadauer Gemeinschaftsverband), sowie Vertreter der christlich-sozialen Gesinnungsgemeinschaften teil. Für eine eigene Parteigründung vor den anstehenden Reichstagswahlen im Dezember 1924 war es zu spät und so einigte man sich zunächst nur auf eine Wahlempfehlung nach dem Grundsatz des „kleinsten Übels“, was de facto auf die Unterstützung der DNVP hinauslief.157 Um dem Wahlaufruf Nachdruck zu verleihen, verschickte ihn Michaelis an bekannte Persönlichkeiten, mit der Bitte ihn zu unterzeichnen. Auch Vietor erhielt ein entsprechendes Schreiben, in dem als entscheidendes Auswahlkriterium für die zu wählenden Parteien die Frage genannt wurde, ob sie für die „unbedingte Sicherung des gottgegebenen Elternrechts auf Erziehung und Unterweisung der Kinder in ihrem Bekenntnis und für die volle Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat eintreten.“158 Bei den folgenden Verhandlungen der Gruppe um Michaelis über eine Parteigründung positionierte sich dessen Bruder als schärfster Gegner einer eigenen Partei. Nach zähen Verhandlungen kam es 1925 daher lediglich zur Gründung des „Christenbundes“, dessen Vorsitzender Georg Michaelis wurde. Die Aufgabe des Bundes wurde nicht in einer parteipolitischen Funktion gesehen, sondern stärker in einer politisch aufklärenden, die dem bibeltreuen Lager politische Orientierung und Information vermitteln sollte. Außerdem sollte Einfluss auf die Nominierung von Kandidaten der verschiedenen Parteien genommen werden, wovon man sich die Entsendung bibeltreuer Christen in die Parlamente versprach, ohne sie in einer Partei zusammenzufassen. Als sich die Gruppe der Gemeinschaftschristen von diesem Minimalkonsens bald wieder trennte, zerfiel der Christenbund noch im gleichen Jahr wieder. Die Gruppe der christlich-sozialen Gesinnungsgemeinschaften trat daraufhin bei den Kommunalwahlen in Württemberg im Dezember 1925 als „Christlicher Volksdienst“ an und konnte einige Mandate in Stadt- und Gemeinderäten gewinnen.159 Aus der Fusion des Christlichen Volksdienstes und der Christlich-Sozialen Reichsvereinigung ging Anfang 1930 der Christlich-Soziale Volksdienst hervor, der bei den 157 Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 47f. 158 Dr. Michaelis, Oberpräsident a.D. an J. K. Vietor vom 8.11.1924, StAB, 7,73-13. Vietor unterschrieb den Aufruf. 159 Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 59–62.

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Reichstagswahlen am 14.9.1930 immerhin 14 Mandate erringen konnte.160 Die Christlich-Soziale Reichsvereinigung (CSRV) war am 18.8.1928 auf Initiative Reinhard Mumms als Plattform der Christlich-Sozialen innerhalb der DNVP gegründet worden. Bereits einen Tag später suchte die neue innerparteiliche Plattform jedoch schon den Anschluss an andere christlich-soziale Gruppierungen außerhalb der Partei, darunter den Christlichen Volksdienst.161 Mumm hatte die Gründung des CSRV angeregt, da der Einfluss der Christlich-Sozialen innerhalb der DNVP durch völkische, extrem nationalistische und großkapitalistisch-industriefreundliche Schichten in der Partei immer mehr zurückgedrängt worden war.162 Die Desintegration der Christlich-Sozialen erhielt ihren entscheidenden Impuls aber ohne Frage erst am 21.10.1928 durch die Wahl Hugenbergs zum Parteivorsitzenden. Im Verlauf des Jahres 1929 geriet der CSRV immer mehr unter Beschuss der neuen Parteiführung, was Ende 1929 schließlich zum Ausscheiden des größten Teils der Reichsvereinigung aus der DNVP führte.163 Vietor begrüßte die Gründung der CSRV lebhaft und sah darin bereits die Wiederauferstehung seiner alten CSP. „Jetzt hat man wieder zu meiner Freude die christlich/soziale Partei, in der ich früher ja so viel gewirkt habe, von neuem wieder gegründet, und ich bin sofort wieder Mitglied geworden.“164 Wie früher die CSP wollte er auch jetzt die neue „Partei“ finanziell möglichst stark unterstützen. Die Fusion mit der DNVP 1918 sah er nun endgültig als Fehler an und glaubte jetzt, er hätte schon 1918 vor dem Zusammengehen gewarnt. War ihm schon vorher aufgefallen, dass sich der Parteikurs mehr und mehr von den Interessen der Christlich-Sozialen fortentwickelt hatte, sah er jetzt sehr deutlich, dass das Christliche trotz offizieller Programmatik „kolossal“ ins Hintertreffen geraten 160 Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 181. Damit verfehlte die Partei nur knapp ihr Wahlziel von 15 Mandaten, die man angestrebt hatte, um ohne Verbindungen mit anderen Gruppierungen eine eigene Fraktion bilden zu können. 161 Friedrich, 1997 (wie Anm. 43), S. 238f; vgl. Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 141. Buchheim und Methfessel verlegen irrtümlicherweise das Gründungsdatum des CSRV in den Juni 1928, vgl. Buchheim, Karl: Der Christlich-Soziale Volksdienst, in: ders., 1953: Geschichte, S. 375–408, 394; Methfessel, Werner: Christlich-Sozialer Volksdienst (CSVD), 1929–1933, in: Fricke, Dieter, 1968: Die bürgerlichen Parteien, S. 259–263, 260. 162 Bei der Reichstagswahl 1928 hatte sich der Trend, der bereits 1924 sichtbar geworden war, fortgesetzt, dezidiert christlich eingestellte Persönlichkeiten sowie Vertreter der christlich-nationalen Arbeiterschaft bei der Listenplatzvergabe zurückzudrängen, Friedrich, 1997 (wie Anm. 43), S. 233. 163 Zum Ausscheiden der christlich-sozialen Elemente aus der DNVP 1929/30 und der anschließenden Fusion von CSRV und Christlichem Volksdienst zum Christlich-sozialen Volksdienst vgl. Opitz, 1969 (wie Anm. 43), S. 137–155; Buchheim 1953 (wie Anm. 161), S. 394–400; Klein, 2005 (wie Anm. 49), S. 33–35; Schneider-Ludorff, Gury: Christliche Politik oder christliche Partei? Die sozialkonservative Magdalene von Tiling in der Weimarer Republik, in: Jähnichen, Traugott/Friedrich, Norbert (Hrsg.): Protestantismus und Soziale Frage. Profile in der Zeit der Weimarer Republik (Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus; 1), Münster 2000, S. 203–216, 212f. 164 J. K. Vietor an Frau [Hedwig] Hueck (Tungkun/China) vom 1.2.1929, VPAH, NL Hueck, S. 5. Noch vor der Fusion des CSRV mit dem Christlichen Volksdienstes war Vietor im Oktober 1929 auch Mitglied des Volksdienstes geworden, Christlich-Sozialer Volksdienst an J. K. Vietor o. D., StAB, 7,73-42. Das Schreiben von Anfang 1930 fordert Vietor auf, seinen anteiligen Mitgliedsbeitrag für Oktober – Dezember 1929 zu bezahlen.

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war.165 Seine Skepsis über die Richtigkeit des seinerzeitigen Anschlusses der CSP an die DNVP hatte er 1927 auch den DNVP Reichstagsabgeordneten mitgeteilt, die vormals zur CSP gehört hatten und war darin nach seiner Wahrnehmung von allen unterstützt worden.166 Sein Urteil über Hugenberg war dagegen überraschend mild, wenn nicht zustimmend. Seine Wahl zum Vorsitzenden begrüßte er in auffälligem Kontrast zu seiner Kritik an der Zurückdrängung des Christlichen in der Partei. „Ich glaube sehr stark an eine Wiedergeburt Deutschlands und freue mich, dass Hugenberg an die Regierung gekommen ist und dass der Stahlhelm sich jetzt rührt, dem wir natürlich sämtlich angehören. Ich glaube, wenn nur erst die Jugend herangewachsen ist, werden wir wieder die alten Verhältnisse bekommen.“167

Besonders schätzte er an Hugenberg, dass er mit seinem Medienkonzern den Einfluss der Juden in der Presselandschaft zurückgedrängt hatte und viele Zeitungen unterhielt, aus denen Millionen Deutscher erfahren könnten „wie die Sachen liegen“.168 Mit dieser Einschätzung von Hugenberg ordnete er sich selbst, im Gegensatz zum überwiegenden Teil seiner ehemaligen CSP Weggefährten, einmal mehr am rechten Rand der Partei ein, zumindest was innen- und außenpolitische Fragestellungen anbelangt. In den Folgejahren blieb er im Fahrwasser Hugenbergs und näherte sich damit zusehends der NSDAP an. Unter den Angestellten Vietors auf dem Bremer Kontor wuchs die Sympathie für Hitler seit etwa 1930 zusehends.169 Angesichts der Perspektive Bolschewismus oder „Drittes Reich“ hoffte etwa der langjährige Mitarbeiter Vietors, Hans Heinken, dass sich Hitler durchsetzen möge.170 Heinken rechnete offensichtlich bereits Anfang 1931 damit, dass an eine Rückkehr zum parlamentarischen System nicht mehr zu denken war. Die Sympathien für Hitler wuchsen auch im Hause Vietor selbst. Claus Vietor, der sich in Accra aufhielt, trat der NSDAP Ende 1931/Anfang 1932 bei und versprach sich alleine von ihr noch eine durchgreifende Besserung der Lage in Deutschland171, 165 J. K. Vietor an Frau [Hedwig] Hueck (Tungkun/China) vom 1.2.1929, VPAH, NL Hueck, S. 5. Einige Tage zuvor hatte Vietor eine Aufforderung erhalten, dem CSRV beizutreten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte im christlich-sozialen Spektrum, „alle zersplitterten Kräfte zusammenfassen und ihnen ein festes Gefüge“ zu geben, Christlich soziale Reichsvereinigung (Berlin) an J. K. Vietor vom 29.1.1929, StAB, 7,73-23. 166 J. K. Vietor an Hedwig Hueck vom 21.6.1927, VPAH, NL Hueck, S. 4f. 167 J. K. Vietor an H.Kosemann (Wiesbaden) vom 6.11.1928, StAB, 7,73-22. 168 J. K. Vietor an Frau [Hedwig] Hueck (Tungkun/China) vom 1.2.1929, VPAH, NL Hueck, S. 6. 169 Ein Mitarbeiter gehörte 1930 bereits zu SA. Er konnte einem anderen Mitarbeiter, wohl Herrn Heinken, eine Eintrittskarte zu einer Veranstaltung mit Hitler in Bremen besorgen. Heinken zeigte sich gegenüber Vietors Sohn Wilhelm begeistert: „Hitler hat dann einfach glaenzend gesprochen“, wollte aber die Bewährung der Nationalsozialisten in der Praxis weiter beobachten, [Hans Heinken] an Wilhelm Vietor vom 18.12.1930, VPAH. 4000 Karten im Vorverkauf waren innerhalb von einer Stunde verkauft worden und die Besucher mußten bis zu 4 Stunden vor der Abendkasse warten, bis sie alle eingelassen waren. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg. „Die Nazis haben guten Boden und werden weiter zunehmen“, [Hans Heinken] an C. Freese vom 19.12.1930, ebd. 170 Hans Heinken (Bremen) an R. Finkenstaedt (River Cross) vom 28.1.1931, VPAH. 171 „In Deutschland muss es ja auch ganz traurig aussehen. Na, eines Tages werden die Nazis, die ja nun auch meine Partei sind, da ich ja meinen Beitritt erklaert habe, an die Spritze kommen. So kann es ja nicht weitergehen. Die Leute sind ja doch in Deutschland die einzigen, die noch

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ebenso begrüßte Vietors jüngster Sohn Wilhelm Hitlers Aufstieg.172 Zur Beunruhigung seines Bekannten, Friedrich Hey, einem ernsthaften und bibeltreuen Christen, verhielt sich auch Vietor selbst erschreckend unkritisch gegenüber dem Nationalsozialismus. „Dass Sie und auch einer meiner Jungens so viel Hoffnung auf Hitler setzen, gefällt mir nicht [..]. Auch die Stellung zur Judenfrage, die die Nazis einnehmen, muss uns warnen. Gewiss, auch ich bin der Ansicht, dass die Juden keine Deutschen sind und dass sie kein Recht haben als politische Führer oder als Richter zu amtieren, sie sollen als Ausländer behandelt werden. Aber, wir Christen haben kein Recht, etwas gegen die Juden zu unternehmen, vor allen Dingen dürfen wir sie nicht plagen, denn wer sich an den Juden vergreift, der wird seine Strafe erhalten […]. „Gott will es“ sagten die Kreuzzügler damals und heute sagen es die Nazis.“173

Offensichtlich sprachen sich die Sympathien Vietors für die Nationalsozialisten mit der Zeit herum, wie eine Stellenanfrage mit ausdrücklichem Verweis auf die nationalsozialistische Gesinnung des Bewerbers deutlich machte.174 Vietor begrüßte die Machtübernahme Hitlers 1933 wie zunächst auch viele andere Christen und erhoffte sich davon eine langfristige und nachhaltige Aufwärtsentwicklung Deutschlands.175 Trotz zahlloser Hinweise einer grundsätzlich antichristlichen Einstellung des Nationalsozialismus, ließen sich viele Christen nach der Machtübernahme von der Rhetorik der Regierungserklärung vom 23.3.1933 blenden, in der Hitler versicherte, dass „die Reichsregierung […] im Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen Lebens unseres Volkes“ sähe.176 Hinzu kam das Bekenntnis der Nationalsozialisten zu einem „Positiven Christentum“, was zunächst als Signal an die kirchenpolitische Partei der „Positiven Union“, der bibelund bekenntnistreuen Fraktion der Evangelischen Kirche, gedeutet werden konnte, wenngleich die Begriffsverwendung durch die Nationalsozialisten eine mit ideologischem Gedankengut vermischte reine Worthülse war.177 Angesichts des bald darauf beginnenden Kirchenkampfes wurde jedoch vielen rasch bewusst, dass sich die Realität völlig anders darstellte. Einen Höhepunkt in dem immer unausweichlicher werdenden Scheideprozess innerhalb der Evangelischen Kirche stellte die Rede des stellvertretenden Berliner Gauobmannes der Deutschen Christen, Reinhold Krause,

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das Gute und Moralische in die Hoehe halten. Das hat mich auch zum Beitritt bewogen. Im Uebrigen scheinen sie auch aussenpolitisch ueberragend tuechtige Kerle zu sein, die Rede von Hitler an die Amerikaner war blendend, auch die anderen aussenpolitischen Unternehmungen“, Claus Vietor (Accra) an J. K. Vietor vom 12.2.1932, VPAH, Konv. 4, Teil 1. Diese Aussage basiert auf einer Mitteilung von Vietors Enkel Eckehard Meyer. Dr. med. Friedrich Hey an J. K. Vietor vom 25.5.1932, VPAH, Konv. 4, Teil 1. So bat ein Pfarrer um einen Ausbildungsplatz für einen jungen Mann, der aus „bewusst christlichem und bewusst deutschem Hause (Nationalsozialist)“ stammte, Pfr. Kump (Berlin) an J. K. Vietor vom 4.3.1933, VPAH, Konv. 4, Teil 1. Skrupel und Sorgen wie Friedrich Hey plagten ihn dabei nicht. „Wenn Sie nun in Ihrem letzten Brief sich so sehr freuen zu der nationalen Erhebung, so freue ich mich zwar auch, aber mit Zittern! Werden die Herren, die es ohne Zweifel gut meinen, es auch „gut“ machen?“ Dr. med. Hey an J. K. Vietor vom 28.3.1933, VPAH, Konv. 4, Teil 1. SBR, 8. Leg. per., 2. Sitzung vom 23.3.1933, S. 31. Voigt, Karl Heinz: Freikirchen in Deutschland. (19. und 20. Jahrhundert) (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, III/6), Leipzig 2004, S. 163.

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dar, die er am 13.11.1933 vor rund 20.000 Besuchern im Sportpalast von Berlin hielt. In seiner Rede ließ er keinen Zweifel daran, dass sich das Christentum der Zukunft von seinen jüdischen Wurzeln, wie sie im Alten Testament gegeben seien, lösen müsse, alle judenchristlichen Kirchenmitglieder aus der Kirche zu entfernen habe und Jesus hinfort als heldischer Führer, nicht aber mehr als leidendes Opferlamm zu verehren sei. Die Rede löste einen Stimmungsumschwung im evangelischen Lager aus und führte zu einer Austrittswelle aus der Bewegung der Deutschen Christen, die bislang von Hitler protegiert worden war.178 Dr. Hey wunderte sich, dass Vietor trotz dieser Rede und dem Stimmungsumschwung in evangelischen Kreisen noch so zuversichtlich und positiv gestimmt sein konnte. „Ich kann nicht so rosig oder wenigstens so hoffnungsvoll in die Zukunft schauen wie Sie und ihre Kinder. Kann Gott schweigen zu Reden wie die des Dr. Krause im Sportpalast in Berlin? Das war ja gotteslästerlich! Und auch viele unserer Pastoren, von denen man nicht sagen kann, dass sie ungläubig seien, haben keinen Mut offen dagegen anzugehen?“179

Anders als Hey dürfte sich Vietor jedoch durch die rasch folgenden Dementi und Distanzierungen von Reichsbischof Müller sowie führender Vertreter der Deutschen Christen von der Rede Krauses beruhigt und dieselbe als bedauerlichen Ausrutscher einer Einzelperson abgehakt haben.180 Die Abgrenzungsversuche der Kirchenleitung konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Resolution, die am 13.11.1933 im Sportpalast angenommen worden war, nur lediglich eine Gegenstimme erhalten hatte, also auf einem breiten Konsens beruhte.181 Wie sich Vietor angesichts der Verschärfung des Kirchenkampfes verhalten und ob er schließlich Zugang etwa zur Bekennenden Kirche gefunden hätte, die sich mit der Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934 konstituierte, muss angesichts seines Todes am 17.5.1934 offen bleiben. Vieles spricht aber dafür, dass er, ähnlich wie große Teile des Gemeinschaftslagers oder der Freikirchen, auch in den Folgejahren dem Nationalsozialismus gegenüber indifferent bis zustimmend geblieben wäre.182 178 Weber, Cornelia: Altes Testament und völkische Frage. Der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit, dargestellt am Beispiel von Johannes Hempel (Forschungen zum Alten Testament; 28), Tübingen 2000, S. 44f., vgl. auch S. 63–65. Zu Krause und der Rede am 13.11.1933 vgl. auch Scholder, Klaus: Die Kirchen Reich und das Dritte Reich. Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934 (Bd. 1), Frankfurt [u.a.] 1986, S. 703–706. 179 Dr. med. Hey an J. K. Vietor vom 20.1.1934, VPAH, Konv. 4, Teil 1. 180 Weber, 2000 (wie Anm. 178), S. 64. Voigt weist daraufhin, dass Müllers Abgrenzung gegenüber Krauses Rede als „Irrlehre“ auf massiven Druck von Wilhelm und Martin Niemöller erfolgt war, Voigt, 2004 (wie Anm. 177), S. 167; vgl. Scholder, 1986 (wie Anm. 178), S. 706. 181 Weber, 2000 (wie Anm. 178), S. 63. 182 Zur Haltung der Freikirchen und der Gemeinschaftsbewegung im Nationalsozialismus vgl. Voigt, 2004 (wie Anm. 177), S. 163–186; Rüppel, Erich Günter: Die Gemeinschaftsbewegung im Dritten Reich [Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes; 22], Göttingen 1969. Im bibeltreuen Lager interpretierte man selbst den staatlichen Druck des Nationalsozialismus auf die Juden, den man für die Zukunft noch steigen sah, teilweise als vorbereitendes Gerichtshandeln Gottes an Israel und legitimierte ihn damit faktisch. Man ging dabei davon aus, dass die Juden durch den Druck einerseits geistlich geläutert und andererseits dadurch zur Auswanderung nach Palästina veranlaßt würden, wodurch eine neue staatliche Gründung Israels, die als endzeitliches Zeichen gedeutet wurde, ermöglicht würde. Die Juden wurden von Teilen des bi-

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DER KAMPF UM DEN NMG BESITZ IN TOGO Neben dem Verlust der Kolonien hatte Deutschland nicht nur dem Verzicht auf darin noch bestehende staatliche oder bundesstaatliche Eigentums- und Besitzansprüche Deutschlands zustimmen müssen (VV, Art. 120), sondern auch dem Verlust privatrechtlicher Eigentumsansprüche deutscher Staatsangehöriger und deutscher Unternehmen in allen Gebieten, die unter der Verwaltung eines der Siegerstaaten standen (VV, Art. 297 b).183 Für den Besitz deutscher Missionsgesellschaften galt das jedoch nicht uneingeschränkt. Zwar unterstanden die deutschen Missionsangehörigen wie alle anderen deutschen Staatsbürger dem Ausweisungsrecht der Mandatarmächte (VV, Art. 122),184 ihr Grundbesitz sollte jedoch weiterhin missionarischen Zwecken dienen und einem „Verwaltungsrat“ („Board of Trustees“) bekenntnisverwandter Missionen der jeweiligen Mandatsmacht übergeben werden. Dabei wurde der Eigentumsanspruch der ursprünglichen deutschen Missionsgesellschaften formal nicht aufgehoben (VV, Art. 438).185 Eine spätere Rückübertragung war damit nicht ausgeschlossen. Für diese Sonderbestimmung hatten sich insbesondere John Mott, Präsident der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, und Joseph Houldsworth Oldham, Sekretär des in Edinburgh begründeten „Fortsetzungsausbeltreuen Lagers durchaus als Fremdvolk in Deutschland angesehen, Eheschließungen zwischen Juden und Deutschen wurden nicht nur aus religiösen, sondern auch aus rassischen Gründen abgelehnt, vgl. Die Judenfrage ist brennend geworden, in: Schumacher, Heinz (Hrsg.): Unser 20. Jahrhundert im Lichte der Bibel. Ein Gang durch 75 Jahre (1907–1982) nach zeitgenössischen Quellen, Stuttgart 1982, S. 82–84. Der Aufsatz basiert auf einer Konferenzmitschrift von Superintendent i.R. W. Israel und wurde in der November/Dezemberausgabe 1933 der Zeitschrift „Das prophetische Wort“ veröffentlicht; vgl. auch Schaedel, Heinrich: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen?“, in: Schumacher, Heinz (Hrsg.): Unser 20. Jahrhundert im Lichte der Bibel. Ein Gang durch 75 Jahre (1907–1982) nach zeitgenössischen Quellen, Stuttgart 1982, S. 85–88. Schaedels Beitrag erschien in der Januar/Februar-Ausgabe 1934 der Zeitschrift „Das prophetische Wort“ und interpretiert die Stelle aus Jeremia 16,16, die von Fischern und Jägern spricht, die Israel fangen sollen, in gleicher Weise wie die obige Mitschrift, macht aber deutlich, dass sich Christen an der „Fang- und Fischaktion“ nicht beteiligen dürften, das sei allein Aufgabe der Politik, der man damit aber auch das Recht dazu zubilligte. Die Zeitschrift „Das prophetische Wort“ war 1907 von Prof. Ernst Ferdinand Ströter ins Leben gerufen worden und beschäftigte sich insbesondere mit eschatologischen und heilsgeschichtlichen Fragestellungen. Ströter war Methodistenpastor, Judenmissionar und Professor für historische und praktische Theologie am „Central Wesleyan College“ in Warrenton (Miss.) und anschließend an der Universität Denver (Col.). Zu Ströter vgl. Schaedel, Heinrich (Hrsg.): Lebensbild von Ernst F. Stroeter. Ein Ruhm der Gnade, Klosterlausitz 1923. Die Kirchenleitungen der Evangelischen wie der Katholischen Kirche hatten sich schon früh, im März und April 1933, grundsätzlich dazu entschieden, zur Terrorisierung der Juden zu schweigen, Scholder, 1986 (wie Anm. 178), S. 322. 183 RGBl. (1919), S. 895, 1127. Eine entsprechende Entschädigungspflicht Entschädigungspflicht wurde dabei dem Deutschen Reich übertragen, ebd, Art.297 i, S. 1135. 184 RGBl. (1919), S. 893. 185 RGBl. (1919), S. 1325. „[…] Um die gehörige Ausführung dieser Verpflichtung zu sichern, werden die alliierten und assoziierten Regierungen das bezeichnete Eigentum Verwaltungsräten ausantworten, die sie ernennen oder bestätigen und welche das religiöse Bekenntnis der Mission teilen, um deren Eigentum es sich handelt.“

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schusses“ (Continuation Comittee) eingesetzt.186 Die deutschen Missionsgesellschaften blieben jedoch skeptisch und befürchteten Art. 438 wäre lediglich die Vorstufe einer späteren Enteignung.187 Als Oldham die deutschen Missionsgesellschaften aufforderte, eine Aufstellung ihres bisherigen Missionseigentums anzufertigen, damit es nicht zweckentfremdet würde, witterte Vietor darin eine Falle und riet dringend zur Ablehnung. Von einer positiven Entsprechung befürchtete er indirekt auch die Anerkennung des Art. 438, dessen Übertragung deutschen Missionsbesitzes er als „Vergewaltigung“ empfand. Durch die schweren Friedensbedingungen, den Verlust der Kolonien und die antikoloniale Propaganda der Siegermächte ohnehin zutiefst misstrauisch gestimmt, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich ausländische Missionsgesellschaften letztlich nur am NMG Besitz bereichern wollten. „Die Verhandlungen mit den Wesleyanern haben mir schon bewiesen, wie gerieben die englischen Christen ihren persönlichen Vorteil wahrzunehmen verstehen.“188 Vietors Stimmungslage wurde vom Deutschen Evangelischen Missionsausschuss (DEMA) in gleicher Schärfe geteilt, auch wenn man Oldhams Vorschlag aufgrund bereits geschehener Übergriffe auf Missionseigentum noch bedenken wollte. Für die NMG hatte Schlunk Oldham jedoch bereits mitgeteilt, dass die Übergabe des Missionseigentums an einen ausländischen Treuhänderrat als Entrechtung und „ganz gemeine Vergewaltigung“ angesehen würde. Vietors Vorschlag im Schreiben vom 11.11.1920, den letzten noch verbliebenen NMG Missionar im Togogebiet, den Schweizer Ernst Bürgi, der 1921 nach über vierzigjähriger Missionstätigkeit heimkehrte, anzuweisen in den Mandatsgebieten überall kleine Missionsvereine zu gründen, die den Nachweis erbrächten, dass der Missionsbesitz weiter missionarisch verwendet würde, begrüßte Schlunk.189 Vietor und Schlunk hofften, durch die Schaffung von Missionsvereinen die Unterstellung des Missionsbesitzes unter einen Treuhänderrat möglicherweise umgehen zu können. Im Laufe des Jahres 1921 verdichteten sich die Gedanken einer Organisation ohne Treuhänder weiter zum Modell einer Selbstverwaltung. Das wurde auch in der Antwort Schlunks auf das offizielle Übernahmeangebot der wesleyanisch-methodistischen Mission vom 20.6.1921 deutlich, in dem sich Schlunk sehr zurückhaltend zeigte und auf die Reifung des Gedankens einer vorübergehenden Selbstverwaltung hinwies.190 In diese Richtung zielte auch der Antrag der afrikanischen Pastoren And186 Pierard, Richard V.: World War I, the western Allies, and german protestant Missions, in: van der Heyden, Ulrich (Hrsg.): Missionsgeschichte, Kirchengeschichte, Weltgeschichte. Christliche Missionen im Kontext nationaler Entwicklungen in Afrika, Asien und Ozeanien (Missionsgeschichtliches Archiv; 1), Stuttgart 1996, S. 361–372, 370. 187 Lehmann, Hellmut: 150 Jahre Berliner Mission (Erlanger Taschenbücher; 26), Erlangen 1974, S. 120. 188 J. K. Vietor an Vorstand der NMG vom 11.11.1920, StAB, 7,73-4. Vietor nahm in seinem Schreiben Bezug auf einen Brief Oldhams an den Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Missionshilfe (DEMH), Dr. Wilhelm von Hegel, vom 8.10.1920. 189 Schlunk an Vietor vom 18.11.1920, StAB, 7,73-4. In Atakpame hatte die französische Verwaltung das NMG Gelände, entgegen den Bestimmungen des Art. 438, in Beschlag genommen, bezahlte dafür allerdings 24,- Mark Miete, was jedoch als viel zu gering angesehen wurde. 190 Weitere Gründe gegen eine Übernahme durch die Methodisten im französischen Teil von Togo sah Schlunk in der ablehnenden Reaktion der togoischen Christen darauf sowie in dem nach

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reas Aku und Robert Baéta an den französischen Gouverneur vom 15.2.1922, der dazu führte, dass die Unterstellung der ehemaligen NMG Mission unter eine fremde Missionsgesellschaft im französischen Mandatsgebiet um Jahre hinausgezögert werden konnte.191 Nach vorübergehenden Anzeichen des Verzichts auf ein Übernahmeangebot hatte Schlunk zunächst den Eindruck, gewonnen, dass die Londoner Missionszentrale der Methodisten „auf einem viel gesünderem christlichen Boden als die habgierigen Leute draussen“ stände.192 Diese Einschätzung ließ einen ersten Hoffnungsschimmer erkennen, dass die deutschen protestantischen Missionsgesellschaften aufgrund eines entgegenkommenden Verhaltens der Missionspartner im Ausland allmählich aus ihrer Isolation herausfinden könnten. Der Krieg hatte die hoffnungsvollen und freundschaftlichen Anfänge einer internationalen Missionsökumene grundlegend zerstört. Hatte die Missionskonferenz in Edinburgh 1910 noch einen starken Impuls zur internationalen und interkonfessionellen Zusammenarbeit gebracht, kam es zwischen deutschen und insbesondere angelsächsischen Missionsgesellschaften durch gegenseitige Schuldzuweisungen während der Kriegsjahre zu einem schweren Bruch.193 Als im April 1918 der 35-köpfige Fortsetzungsausschuss (Continuation Comitee) der Edinburgher Konferenz, zu dem auch vier deutsche Missionsvertreter gehört hatten, darunter der Berliner Missionswissenschaftler Julius Richter als stellvertretender Vorsitzender,194 aufgrund der kriegsbedingten Inaktivität aufgelöst und durch ein rein britisch-amerikanisches Komitee ersetzt wurde, waren die internationalen Fäden der deutschen Missionsbewegung weitgehend zerstört.195 Hinzu kam aufgrund des Versailler Vertrages der fast vollständige Verlust der deutschen Missionsgebiete. Lediglich die Missionsgebiete in China, das den Versailler Vertrag nicht unterzeichnet hatte, sowie in Südafrika und Südwestafrika, wo die Ausweisungs- und Übernahmebestimmungen des Versailler Vertrages weitgehend ignoriert wurden, schienen Deutschland in Zukunft

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wie vor nicht ausgeräumten Verdacht unlauterer Motive beim Übernahmeangebot. Unter gewissen verbindlichen Zusagen wie der Zusicherung des bisherigen Bekenntnisstandes und der geregelten Übergabe von möglicherweise neugegründeten Haupt- und Nebenstationen bei einer Rückkehr der NMG, zeigte sich Schlunk aber offen, im Rahmen einer außerordentlichen Mitgliederversammlung das Angebot ernsthaft zu prüfen, Missionsinspektor [Schlunk] an Rev. Thompson (London) vom 20.6.1921, StAB, 7,73-5. Mission Evangélique, Lome, an Seine Exzellenz den Herrn Gouverneur von Togo, Monsieur Bonnecarré vom 15.2.1922, StAB, 7,73-7. Der Brief wurde von Aku und Baéta unterschrieben. Sie begründeten ihren Antrag damit, dass die NMG bislang auch im englischen Gebiet noch keiner ausländischen Missionsgesellschaft unterstellt worden war. Für den Fall der Ablehnung baten sie um Unterstellung unter die Pariser Mission und nicht die Wesleyanisch-Methodistische. Vietor war von diesem Vorgehen Akus und Baétas begeistert. „Wir alle sind stolz darauf wie ausgezeichnet Sie mit den Missionaren und mit der Regierung verhandelt haben und wir sind fest überzeugt, dass Sie die Verhandlungen nun auch zu einem guten Ende führen werden […] Sie wissen ja, wie viel ich von Ihnen und Ihren Landsleuten immer gehalten habe, aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass Ihr Verhalten selbst meine hochgespannten Erwartungen noch übertroffen hat,“ J. K. Vietor an Pastor Aku (Lome) vom 16.3.1922, StAB, 7,73-8. Schlunk an J. K. Vietor vom 4.11.1920, StAB, 7,73-4. Pierard, 1996 (wie Anm. 186), S. 368. Pierard, 1996 (wie Anm. 186), S. 363. Pierard, 1996 (wie Anm. 186), S. 369f.

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noch offen zu stehen.196 Eine entsprechende Verunsicherung und Verletzung auf deutscher Seite hinsichtlich der internationalen Missionsbeziehungen war nach Kriegsende groß und veranlasste Vietor, sich scharf gegen die Teilnahme Schlunks an einer internationalen kirchlichen Konferenz in Genf zu wenden. Schlunk konnte den Einwand aus Gründen der nationalen Ehre gut verstehen und hoffte darauf, gar nicht eingeladen zu werden. Für diesen Fall jedoch wäre er zu einer Teilnahme bereit gewesen, da er sich bewusst war, dass das Pochen auf die nationale Ehre auch nach hinten losgehen könne.197 Als Vietor ein Jahr später erfuhr, dass der frühere Missionsinspektor der NMG und Gründungsvorsitzende der Deutschen Evangelischen Missionshilfe (DEMH), A. W. Schreiber, bereits an internationalen Kirchenkonferenzen teilgenommen hatte, drohte er seinen Rücktritt aus dem Verwaltungsrat der DEMH für den Fall an, dass Schreiber im Oktober 1921 erneut an einer internationalen Konferenz teilnähme. „Die Aufnahme, die die Deutschen noch überall finden ist so unwürdig, dass nach meiner Meinung eine vollständige Enthaltung von internationalen Verhandlungen für uns das einzig Richtige ist.“198 Folgerichtig lehnte er auch amerikanische Hilfsgelder für die verschuldete NMG ab.199 Hinter Vietors strikter Haltung steckte freilich auch eine persönliche Verärgerung. Nur acht Wochen zuvor hatten Polizisten in Singapur seiner Tochter aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit das Verlassen des Schiffes untersagt und sie an-

196 Lehmann, 1974 (wie Anm. 187), S. 122f.; vgl. Pierard 1996 (wie Anm. 186), S. 365, 370. 197 Schlunk an J. K. Vietor vom 15.5.1920, StAB, 7,73-3. Schlunk zeigte sich schließlich erleichtert, dass er „die Verantwortung für diese Reise nicht auf mich zu nehmen brauche“, da der Hallische Missionswissenschaftlicher Prof. Gottlob Haussleitner bereit war, die Einladung anzunehmen, Schlunk an J. K. Vietor vom 26.5.1920, StAB, 7,73-3. Haussleitner hatte bereits 1910 zum Continuation Comitee gehört und war 1919 zum stellv. Vorsitzenden des Deutschen Evangelischen Missionsausschussses gewählt worden, Pierard, 1996 (wie Anm. 186), S. 363; Boberach, Heinz/Nicolaisen, Carsten/Pabst, Ruth: Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe, Ämter, Verbände, Personen. Bd. 1: Überregionale Einrichtungen (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe A, Quellen, Bd. 18), Göttingen 2010, S. 314. Bei der Einladung nach Genf dürfte es sich um die Vorkonferenz der Bewegung Glauben und Kirchenverfassung gehandelt haben, die das Ziel der Annäherung der dogmatischen Bekenntnisse der verschiedenen Kirchen verfolgte, nicht zuletzt um ihrer Einheit willen im gemeinsamen missionarischen Vordringen. Die Vorkonferenz wurde vom Missionsbischof der amerikanisch episkopalen Kirche (der amerikanischen Variante der Anglikanischen Kirche), Charles Henry Brent, geleitet, der den wesentlichen Anstoß zu seiner ökumenischen Arbeit auf der Weltmissionskonferenz in Edinburgh erhalten hatte, Karrer, Andreas: Bekenntnis und Ökumene. Erträge aus den ersten Jahrzehnten der ökumenischen Bewegung (Veröffentlichungen des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes; 38), Göttingen 1996, S. 96– 98. Aufgrund der Vorkonferenz und jahrlanger Folgearbeiten kam es 1927 zur Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, die vom 3. –21.8.1927 in Lausanne stattfand, wie bereits 1920 ohne Einschluß der katholischen Kirche, aber unter Beteiligung orthodoxer Vertreter, ebd. S. 239–297; Vischer, Lukas: Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Freiburg2 1998, S. 269f. 198 J. K. Vietor an Dr. Hegel vom 30.5.1921, StAB, 7,73-5. 199 Schlunk an Vietor vom 26.5.1920, StAB, 7,73-3. Schlunk sagte Vietor wegen seiner Ablehnung eines Hilfsgesuches an eine amerikanische Missionsgesellschaft daher zu, auf einen entsprechenden, von ihm tatsächlich erwogenen Schritt zu verzichten.

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schließend unter Bewachung gestellt.200 Sie war mit ihrem Mann, dem Missionsarzt Dr. Otto Hueck, im Januar 1921 von der Rheinischen Missionsgesellschaft nach Tungkun in China ausgesandt worden, wo sie mit ihrem Mann bis 1951 blieb.201 1922 musste es Vietor aber hinnehmen, dass Missionsinspektor Schlunk, der 1921 zum Sekretär der DEMA berufen worden war, Mitglied des leitendenden Komitees des 1921 gegründeten Internationalen Missionsrates wurde, der Nachfolgeorganisation des 1918 aufgelösten Continuation Comitees.202 Während die NMG Leitung in Deutschland versuchte, eine Übertragung der Missionsverantwortung an ausländische Missionswerke abzuwenden, blieb für die Missionsgemeinde in Togo vor allen Dingen das Ziel einer einheitlichen Ewekirche dominierend. Die Entscheidung auf ihrer ersten selbständigen Synode in Kpalime, vom 18.-22.5.1922, vorläufig auf eine Selbstverwaltung zu setzen, war insbesondere von diesem Gedanken motiviert. Sollte jedoch eine Übertragung auf eine andere Missionsgesellschaft unvermeidlich sein, zog man die schottische presbyterianische Mission (United Free Church of Scotland) vor, da sie in ihrer calvinistischen Grundlage der NMG am nächsten kam, bestand für den Fall jedoch auf der Übernahme für beide Mandatsgebiete. Eine vorherige Übereinkunft mit Bremen hielt man für unabdingbar.203 Die Schottische Mission hatte zu dem Zeitpunkt jedoch bereits die Übernahme der NMG Arbeit im britischen Teil Togos beschlossen und durch Frank Ashcroft einen ersten Inspektionsbesuch durchführen lassen.204 Sie war bereits 1918 mit der Übernahme des Basler Missionsgebietes in der Goldküste beauftragt worden,205 hatte jedoch vor der Synode in Kpalime noch keinen Kontakt zu den Pastoren im französischen Teil Togos aufgenommen.206 Angesichts der ungeklärten Übernahmefrage im französischen Teil Togos drohte nun eine Spal200 J. K. Vietor an Dr. Hegel vom 30.5.1921, StAB, 7,73-5. Vietor und seine Tochter führten diese Schikane auf die Nachwirkung der antideutschen Weltkriegspropaganda zurück. 201 Waldminghaus, Hartmut: Dr. Otto Hueck (1888–1985) Missionsarzt in China und Indonesien, in: Der Reidemeister. Geschichtsblätter für Lüdenscheid Stadt und Land 189 (2012), S. 1593– 1604. Otto und Hedwig Hueck waren im Januar 1921 mit der „Triest“ von Venedig ausgelaufen, durften als Deutsche aber in den englischen Häfen Port Said, Colombo und Singapur nicht an Land gehen. Nach 42-tägiger Schiffsreise kamen sie in Hongkong an, ebd., S. 1595f. 202 Wischnath, Johannes Michael: Schlunk, Carl Albert Martin, in: Ottnad, Bernd/Sepaintner, Fred Ludwig (Hrsg.): Baden-Württembergische Biographien. Band III, Stuttgart 2002, S. 360–362, 362; vgl. Boberach / Nicolaisen / Pabst, 2010 (wie Anm. 197), S. 314. Hier wird seine Berufung zum Sekretär des DEMA mit 1923 angegeben. 1924 wurde er Vorsitzender. 203 A. Aku und R. Baéta (Mission Evangelique de Breme) an Miss. Insp. Schlunk vom 16.6.1922, StAB, 7,73-8; vgl. Grau, Eugene Emil: The Evangelical Presbyterian Church (Ghana and Togo) 1914–1946. A Study in European Mission Relations Affecting the Beginning of an Indiginious Church. Diss., Hartfort Seminary Foundation/Ann Arbor (Mich.) 1964, S. 90f. Die Konstitution der selbständigen Ewekirche „auf dieser denkwürdigen Synode in Palime“ verlegt Schreiber irrtümlich auf den 22.7.1922, vgl. Schreiber, A. W., 1936: Die Norddeutsche Missionsgesellschaft, S. 13. 204 Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 80–86. Der Beschluß zur Übernahme der Missionsarbeit in Britisch-Togo erfolgte am 20.12.1921, ebd., S. 86. 205 Schweizer, Peter A.: Mission an der Goldküste. Geschichte und Fotografie der Basler Mission im kolonialen Ghana, Basel 2002, S. 95–98; Agbeti, John Kofi: West African Church History. Christian Missions and Church Foundations, 1482–1919, Leiden 1986, S. 156–159. 206 Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 90. Der Sekretär der Calabar Mission der schottischen Presby-

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tung der Ewekirche. Um das zu verhindern, konferierten die Vertreter der schottischen Mission, Oldham und Ashcroft, mit dem Vertreter der presbyterianischen Pariser Mission, Allegret, vom 18.-22.9.1922 in London unter Hinzuziehung Schlunks von der NMG und Würz von der Basler Mission. Dabei schlugen die Schotten vor, wieder zwei NMG Missionare ins britische Mandatsgebiet einreisen zu lassen, die unter der Oberaufsicht der Schottischen Mission zu arbeiten hätten, aber von Deutschland aus bezahlt werden müssten. Die Pariser Mission sollte ebenfalls zwei Missionare entsenden, die gleichfalls unter schottischer Oberaufsicht zu arbeiten hatten, aber im Gegensatz zu den deutschen Missionaren von der schottischen Mission bezahlt werden sollten. Der Vorschlag traf auf Bedenken Allegrets, der davon ausging, dass die französische Mandatsverwaltung keinesfalls der Entsendung von zwei deutschen Missionaren in die britische Zone zustimmen würde. Als Schlunk in seinem Bericht über die Londoner Konferenz im Vorstand der NMG erwähnte, dass Allegret in diesem Fall mit der Sperrung der Grenze zwischen britischem und französischem Mandatsgebiet rechnete, warf Vietor empört ein: „Wie kann der Kerl schwindeln“. Vietor zielte damit auf die geringe Wahrscheinlichkeit, dass die französische Verwaltung eine so lange Grenze komplett sperren konnte und unterstellte Allegret und der Pariser Mission, die NMG verdrängen zu wollen. „Schlunk war begeistert von der Liebe und dem Christentum, besonders der Franzosen, und es gab eine grosse Aufregung als ich sagte, so lange die Franzosen so gemein zu uns wären, wir unter keinen Umständen irgendwelche Verhandlungen mit der französischen Mission haben könnten. Der Onkel hätte natürlich wahnsinnig geschwindelt, wenn er behauptet hätte, dass die Grenze mit Hunderten von Soldaten der Missionare wegen gesperrt werden würde. Er hätte nur die Absicht unsere schöne Mission überzuschlucken.“207

Vietor stieß sich auch an dem Vorschlag, die deutschen Missionare selbst zu bezahlen, obwohl sie unter schottischer Leitung arbeiten sollten.208 Nach ungewöhnlich langer Sitzung setzte dann Vietor schließlich „mit aller Gewalt durch“, dass man darauf bestand, zwei Missionare ins britische Mandatsgebiet zu entsenden, die zwar unter formaler Oberaufsicht der schottischen Mission stehen sollten, aber „ihre terianer, A. W. Wilkie, besuchte Aku erst kurz nach der Synode in Kpalime, A. Aku (Lome) an J. K. Vietor vom 21.6.1922, StAB, 7,73-9. 207 J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck (Tungkun, China) vom 18.10.1922, StAB, 7,73-9, S. 1f. 208 Diese Regelung fand auch Missionsinspektor Kriele von der RMG höchst befremdlich: „Es ist mir unfasslich, wie die Bremer Mission den Beschluss fassen konnte, den bekannten Vertrag mit der Freischottischen Mission abzuschliessen.“ Angesichts der hohen Kosten für den Unterhalt und die Ausreise eines Missionars konnte Kriele nicht begreifen, wie ausgerechnet das arme Deutschland diese Last aufbringen müsse, obwohl die Missionare einer fremden Missionsgesellschaft unterstehen würden. „Das begreife wer kann. Ich nicht. Ich habe zu ihrem Herrn Bruder, dem Pastor gesagt: „Wenn ich jetzt Pfarrer wäre, die Bremer Mission bekäme von mir keinen Pfennig mehr.““ Kriele verschwieg allerdings nicht, dass seine Kritik nicht zuletzt daher rührte, dass die NMG aufgrund dieses Abkommens nun nicht mehr in der Lage war, sich an der Finanzierung von deutschen Missionaren nach China zu beteiligen, Kriele (Barmen) an J. K. Vietor vom 5.6.1923, StAB, 7,73-10. Für ein Engagement der NMG an der Seite der RMG in China hatte sich Vietor zeitweise stark gemacht, da es nach dem Krieg nicht danach ausgesehen hatte, dass die NMG jemals wieder an ihre alten Plätze zurückkehren könnte. Hinzu kam ein persönliches Interesse, da seine Tochter mit der RMG nach China ausgereist war.

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Mission selbständig betreiben könnten und sich nur bei Differenzen mit der Regierung oder anderen Schwierigkeiten an sie wenden sollten.“ Damit war der Kompromiss, den man in London gefunden hatte und der statt der Entsendung von zwei NMG Missionaren die Verwendung von zwei Basler Missionaren im britischen Mandatsgebiet vorgesehen hatte, um den französischen Bedenken zu begegnen, während zwei schottische Missionare in das französische Mandatsgebiet gehen sollten, insbesondere an Vietors Hartnäckigkeit gescheitert.209 Anders als Schlunk konnte Vietor nicht über seinen Schatten springen und um der Einheit der Ewekirche auf eine sofortige Entsendung eigener Missionare verzichten. Damit erwies er sich einmal mehr als unfähig, den politischen Realitäten Rechnung zu tragen, um das Bestmögliche aus der Situation herauszuholen. Zum anderen konnte er zwischen französischer Staatsräson und der Motivation einer französischen Missionsgesellschaft nicht mehr ausreichend differenzieren.210 Seine oppositionelle Haltung in der Frage des Londoner Modells verhinderte maßgeblich die einheitliche Betreuung der Ewekirche durch nur eine Missionsgesellschaft über die Mandatsgrenzen hinweg.211 Über die Gefahr einer Spaltung der Ewekirche war man sich aufgrund der Ablehnung durchaus im Klaren, hoffte aber, dass sie nur temporärer Natur und durch die grenzübergreifende Arbeit der einheimischen Pastoren und Katecheten zu überbrücken wäre.212 Als kleinere Lösung blieb nun nur die Koope209 J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck (Tungkun, China) vom 18.10.1922, StAB, 7,73-9, S. 1f.; Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 94–97. Die Ablehnung der Vorschläge von London wurden von Oldham bedauert, der noch angesichts der selbstlosen Haltung Schlunks in London den größten Respekt vor ihm gewonnen hatte, ebd., S. 96. Auch die Basler Mission bedauerte die Ablehnung und gab zu bedenken, dass die Ewekirche im französischen Mandatsgebiet nun weiter verwaist bliebe und verkümmerte, Brief von Missionsinspektor D. Würz an [Vorstand der NMG], o. D., StAB, 7,73-9. 210 Auch wenn Vietor im Vorstand Unterstützung für seine kompromißlose Haltung bekam, fiel seine Unfähigkeit, in Bezug auf die französische Position zwischen politischer Realität und missionarischer Motivation zu differenzieren durchaus unangenehm auf, wenngleich er das nicht sonderlich ernst nahm. „Der pazifistisch gesinnte Küster bedauerte, dass ich die Würde nicht mehr gewahrt und die Christlichkeit dieser Herren nicht anerkannt hätte, die gar nicht zu bezweifeln sei“, J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck (Tungkun, China) vom 18.10.1922, StAB, 7,739, S. 2. 211 Die Ablehnung der Londoner Vorschläge hielt er gegenüber dem Missionsinspektor der RMG, Kriele, auch ein halbes Jahr später noch allein seiner Opposition zugute. Auch die Genehmigung der britischen Regierung, wieder drei deutsche Missionare ins Mandatsgebiet einreisen zu lassen, schrieb er seiner festen Haltung zu, obwohl die prinzipielle Zustimmung dazu ja bereits Verhandlungsgrundlage in London gewesen und in erster Linie Oldhams Bemühungen zu verdanken gewesen war, J. K. Vietor an Kriele (Barmen) vom 8.6.1923, StAB, 7,73-9, S. 2. 212 MB 1923, S. 32, zit. bei Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 97. Freilich wären die Londoner Vorschläge selbst bei einer Zustimmung Bremens noch nicht endgültig verabschiedet gewesen. Oldham und Allegret waren sich nicht sicher, ob ihre Missionsgesellschaften dem vorgelegten Modell aus missionsstrategischen und finanziellen Gründen zustimmen würden, ihr Eintreten dafür hätte aber ohne Frage ein großes Gewicht gehabt, umso mehr, wenn eine Zustimmung aus Bremen erfolgt wäre, ebd. Die Hoffnung, dass die einheimischen Pastoren („Osofos“) den Zusammenhalt der Ewekirche auch trotz der Ablehnung der Londoner Vorschläge gewährleisten konnten, stellte sich bald als schwierig heraus, da ihnen die französische Mandatsverwaltung die Teilnahme an Synoden im britischen Teil Togos untersagte, wie Allegret vorausgesagt

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ration mit der Schottischen Mission im britischen Mandatsgebiet, während man den französischen Teil sich selbst überließ. Da Vietor befürchtete, Schlunk könnte den Wünschen der Schottischen Mission in den Kooperationsverhandlungen zu weit entgegenkommen, begleitete er ihn zu den Verhandlungen mit Ashcroft, die im Januar 1923 in Berlin stattfanden. Dabei konnte erreicht werden, dass den deutschen Missionaren das frühere Missionseigentum wieder zur Verfügung gestellt und für den Fall einer eigenständigen Rückkehr der NMG ganz zurückgegeben würde. Die Bezahlung der Missionare musste die NMG tragen, die praktische Missionsarbeit sollte jedoch weitgehend frei und unabhängig gestaltet werden können, lediglich die größeren Rahmenbedingungen sollten jeweils mit dem Missionsrat (mission council) der schottischen Mission vor Ort abgeklärt werden. Obwohl die Vereinbarung schriftlich fixiert wurde, befürchtete Vietor, dass sich die schottische Missionsleitung vor Ort nicht daran halten würde.213 Bereits im Oktober 1922 hatte er den beiden deutschen Missionaren, die für die Ausreise vorgesehen waren ins Gewissen geredet, sich auf keine Fälle etwas von der schottischen Mission gefallen zu lassen und damit klar gemacht, dass es ihm nicht um eine echte Partnerschaft ging, sondern er die Übernahme der Verantwortung durch die schottische Mission nach wie vor als aufgezwungene Vergewaltigung interpretierte.214 Offensichtlich sah das auch die Mehrheit im NMG Vorstand so und verpflichtete die nun auf drei Personen aufgestockten ausreisebereiten Missionare auf eine betont eigenständige Linie. Nach ihrer Ankunft in Keta sollten sie sich zunächst mit den afrikanischen Kirchenleitern treffen und abstimmen, bevor sie sich mit der schottischen Mission vor Ort über die Arbeitsbedingungen einigten, eine Anweisung, die kaum dazu geeignet war, eine Grundlage für ein partnerschaftliches Miteinander zu legen.215 Entsprechend schwierig und von ständigem Misstrauen getragen, gestaltete sich denn auch die Zusammenarbeit der Schottischen Mission mit den am 2.8.1923 in Accra einhatte, Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses der NMG mit Herrn Missionar Wilkie von der schottischen Mission [Nachtrag vom 27.6.1924], StAB, 7,73-10. Vietors Vorschlag an Wilkie, er solle das Verbot einfach ignorieren und die Osofos trotzdem einladen, wehrte er mit Hinweis auf sein Ehrenwort gegenüber der französischen Verwaltung ab, nichts ohne ihre Zustimmung zu tun. Vietor hatte zum Treffen des Geschäfts- Ausschusses am 26.6.1924 nicht kommen können und war erst am 27.6.1924 mit Wilkie zusammengetroffen. Zwischen 1923– 1926 wurden viele exekutiven Aufgaben, insbesondere zur Entschädigungs- und zur Ewe-Gesangbuchfrage, an einen Geschäfts-Ausschuß delegiert, zu dem Prof. Dr. Stoevesandt, Pastor Noel, Pastor Mallow, J. K. Vietor, F. Küster und Missionssekretär Spieß gehörten, vgl. StAB, 7,1025-90/7. 213 J. K. Vietor an Kriele (Barmen) vom 8.6.1923, StAB, 7,73-9, S. 2. Vietor ging vor den Verhandlungen fest davon aus, dass die schottische Mission nichts anderes im Schilde führte, als die NMG Arbeit ganz für sich zu vereinnahmen und hielt Schlunk daher für den falschen Mann für die Verhandlungen: „Vor allen Dingen misstraue ich ihm sehr in den Verhandlungen mit den feindlichen Inspektoren, die immer so fromm tun und dabei alle Hände in Bewegung setzen, um uns unsere schöne Mission abspenstig zu machen [...]. Ich werde den Antrag stellen, dass ausser Herr Schlunk auch noch sein Vetter nach Berlin fährt, wo Ende Januar eine Verhandlung stattfinden soll. Ich fahre mit.“ J. K. Vietor an [Hedwig Hueck, China] vom 9.1.1923, VPAH, NL Hueck, S. 3. 214 J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck (Tungkun, China) vom 18.10.1922, StAB, 7,73-9, S. 3. 215 Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 102.

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treffenden drei NMG Missionaren Freyburger, Schosser und Schröder,216 auch wenn die Zeit bis zur Konstituierung der ersten Synode im britischen Teil Togos am 12. und 13.9.1923 noch von einer freundschaftlichen Atmosphäre geprägt war.217 Das sich dann jedoch einstellende schwierige Verhältnis mag auch darin begründet gewesen sein, dass die zuvor versprochene überwiegend selbständige Missionsarbeit offensichtlich doch nicht ohne Weiteres zugestanden wurde. Als Vietor die Nachricht erhielt, dass der englische Gouverneur den deutschen Missionaren nach ihrer Ankunft klargemacht hätte, dass sie nun der Schottischen Mission unterständen und ihren Kontakt mit Bremen abzubrechen hätten, fühlte er sich getäuscht und betrogen. Auch das Verbot der Geldsammlung der Einheimischen für die deutschen Missionare irritierte ihn. Er hatte daraufhin beantragt, dass Schlunk einen Protestbrief an die Schottische Mission schreiben solle, der vor der Absendung dem Vorstand vorgelegt werden sollte. Das war aber nicht geschehen, sondern Schlunk hatte lediglich seinem späteren Nachfolger, Stoevesandt, eine Kopie seines Briefes zukommen lassen. Vietor fühlte sich übergangen. „Mir hat man den Brief vorenthalten, wahrscheinlich weil sie sich dachten, dass ich einen Mordsskandal machen würde.“ Vietor bestand nun darauf, dass die Schottische Mission und das englische Gouvernement nachgeben müssten, andernfalls müssten die deutschen Missionare wieder abgezogen werden. Für den Fall, dass man sich nicht auf diese Linie einigen konnte, wollte er aus dem Vorstand austreten.218 Vietor blieb auch in der Folge außerordentlich reizbar, wenn er eine Bevormundung der Schottischen Mission ver216 Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 121–138; Die Finanzierung der drei Missionare lastete nicht allein auf der NMG, sondern konnte mit Hilfe missionsfremder Unterstützer sichergestellt werden. Während Freyburger von dänischen Freunden unterstützt wurde und Schosser von einer Schweizerin, blieb für die NMG nur das Gehalt für Schröder, Auszug aus dem Record der United Free Church of Scotland vom April 1924, StAB, 7,73-15. 217 Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 110. Die Synode fand in Ho statt und wurde vom schottischen Vertreter, Beveridge, mit den Worten eingeleitet, die Ewechristen hätten das Kindheitsstadium hinter sich gelassen und wären von einer Missionsgemeinde zu einer eigenen Kirche vorangeschritten, die den Namen Ewe-Kirche tragen sollte. Daraufhin bat er Osofo „Bensah“ den Vorsitz der Synode zu übernehmen. Der Name „Bensah“ ist von Grau offensichtlich falsch wiedergegeben worden. Wahrscheinlich ist Osofo David Besa gemeint, der 1910 von Missionar Bürgi ordiniert worden war und im Raum Keta arbeitete, vgl. Altena, Thorsten, 2003: Ein Häuflein Christen, Anhang Missionarsverzeichnis, S. 371. 218 J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck (China) vom 3.10.1923, StAB, 7,73-10, S. 4. Nachdem Vietor bei der Formulierung von Schlunks Brief übergangen worden war, schrieb er nun selbst einen Beschwerdebrief an Ashcroft. Darin monierte er die Zurücksetzung der deutschen Missionare, die mit deren geringerer akademischer Qualifizierung begründet wurde. Während die eigenen Missionare der Schottischen Mission über einen Universitätsabschluß verfügten, konnten die Deutschen nur einen Seminarabschluß nachweisen. Abgesehen davon, dass eine derartige Unterscheidung nicht den Abmachungen entsprach, erinnerte Vietor Ashcroft an den Gedanken der „Treuhänderschaft“ der Schottischen Mission, die ja nur Sinn mache, so lange keine deutschen Missionare vor Ort wären. Da sie nun aber eingereist wären, läge es doch auf der Hand, ihnen die Arbeit wieder zu übergeben. Unzulässig fand Vietor auch die „eigenmächtige“ Beanspruchung eines Sitzes in der Synode durch den Leiter der schottischen Mission in der Goldküste, Beveridge, da er nicht gewählt worden war. Auch die Sammlungen der Einhemischen für die deutschen Missionare schnitt er an und verwies auf die Inflation in Deutschland, angesichts der Sammlungen vor Ort doch jedenfalls zu rechtfertigen waren. Eine mögliche Zurückziehung

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mutete. Als Wilkie im Juni 1924 nach Bremen kam, um über weitere finanzielle Regelungen zu sprechen, befürchtete Vietor, er wolle dabei auch über eine jüngst eingegangene Spende aus Hamburg in Höhe von £ 500,- verfügen, die der NMG einigen Spielraum brachte. In einer Sitzung brachte er daher zum Ausdruck, „dass der Engländer einen auf die Schnauze haben müsste, wenn er davon anfinge, da ihn das einstweilen gar nichts anginge. Das hat einen grossen Krach mit Schlunk gegeben, der nach meiner Meinung der ungeeignetste Missionsinspektor ist, den man sich denken kann.“219 Vietor wurde in seiner Skepsis gegenüber dem guten Willen der Schottischen Mission allerdings auch von dem togoischen Osofo Robert Baéta bestärkt, der sich im Sommer 1924 in Deutschland aufhielt und an einer Vorstandssitzung der NMG teilnahm. Vietor hielt Baéta für einen „ganz famose[n] Mann, von einer Überlegung und Erfahrung, die für einen Schwarzen wirklich erstaunlich ist.“ Baéta äußerte Vietor gegenüber den Verdacht, dass die Schottische Mission „direkt bösen Willen“ gegenüber der NMG hätte und machte sie für die Teilung der Ewekirche in einen englischen und einen französischen Teil verantwortlich. Die Frage Vietors, ob die NMG angesichts dieser Lage besser ihre Missionare abberufen sollte, verneinte Baéta jedoch, da sie seiner Meinung nach einen guten Einfluss auf die Afrikaner hatten.220 Die Reibungen mit der Schottischen Mission hielten selbst dann noch an, als auf Betreiben Oldhams und der Schottischen Mission, die NMG am 3.7.1925 vom britischen Kolonialministerium neu als eigenständige Missionsgesellschaft in ihrem früheren Arbeitsgebiet zugelassen worden war.221 Die formelle Übergabe der Arbeit an die NMG erfolgte am 1.4.1926.222 Auch in anderen britischen Mandatsgebieten wurden 1925 wieder deutsche Missionsgesellschaften zugelassen, was eine stillschweigende Ablösung des Art. 438 des Versailler Vertrages bedeutete.223 Die fortgesetzten Reibungen zwischen NMG und Schottischer Mission resultierten aus der Zulassungsbedingung für die NMG, die für deren ge-

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der deutschen Missionare erwähnte Vietor jedoch nicht, J. K. Vietor an Ashcroft vom 6.11.1923, StAB, 7,73-11. J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 8.7.1924, StAB, 7,73-10, S. 4. J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 8.7.1924, StAB, 7,73-10, S. 2–5. Die Reisekosten und- formalitäten für Baéta waren über die Firma Vietor abgewickelt worden, die bereits seit 1922 wieder an der Goldküste vertreten war, J. K. Vietor an NMG vom 6.6.1924, StAB, 7,73-12. Oldham konnte bereits 1924 für alle britischen Mandatsgebiete die Wiederzulassung deutscher Missionen erreichen. Eine Rückübertragung des Eigentums erfolgte schrittweise bis 1933. In die französischen und belgischen Mandatsgebiete konnte dagegen keine deutsche Mission zurückkehren, Pierard, 1996 (wie Anm. 186), S. 171. Protokoll des Geschäfts-Ausschusses der NMG vom 4.5.1926, StAB, 7,1025-90/7. Nach Tanganjika durften 1925 wieder Missionare der Leipziger und der Herrnhuter Mission zurückkehren, Fiedler, Klaus: Christentum und afrikanische Kultur. Konservative deutsche Missionare in Tanzania, 1900–1940 (Missionswissenschaftliche Forschungen; 16), Gütersloh 1983, S. 99, 109, 117; Groves, C. P.: The Planting of Christianity in Africa. Vol.4: 1914–1954 (Lutterworth Library; 50), London 1958, S. 87f. 1925 kehrte auch die Bethel-Mission nach Tanganjika zurück, 1925/26 die Berliner Mission, 1927 die Breklumer Mission, ebd., S. 87–89; Lehmann, 1974 (wie Anm. 187), S. 138. Die Basler Mission kehrte, wie die NMG, 1925 an die Goldküste zurück, Schweizer, 2002 (wie Anm. 205), S. 98. Japan erlaubte 1925 die Rückkehr der Liebenzeller Mission auf die Karolinen, Pierard, 1996 (wie Anm. 186), S. 171.

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samten Schulbetrieb die Einbeziehung eines Missionars der Schottischen Mission vorschrieb, wodurch der Einfluss der englischen Kolonialverwaltung auf Fragen des Schulsystems und der Lehrinhalte sichergestellt werden sollte.224 Nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Strategie im Umgang mit der Schottischen Mission war das Verhältnis zwischen Vietor und Schlunk seit 1922 schwer gestört. Vietor hielt Schlunk darüberhinaus auch für einen „weltfremden“ Theoretiker, der aufgrund weiterer Verpflichtungen in anderen Gremien und seinem Wohnort Hamburg nicht ausreichend präsent war, um die NMG kraftvoll führen zu können. Nachdem 1923 Vietors Versuch gescheitert war, Schlunk nach Barmen „wegzuloben“,225 konfrontierte er ihn in der Geschäftsausschuss-Sitzung vom 29.8.1924 unverblümt mit der Aufforderung zurückzutreten, wenn er nicht bereit sei, seine Mehrfachbelastungen einzuschränken. „Er [gemeint ist Schlunk, Anm. B.O.] beschwerte sich dann sehr, dass, seitdem ich im Geschäftsausschuss sei, er beständig Schwierigkeiten (ich glaube, er brauchte einen viel stärkeren Ausdruck) gehabt hätte, und ich sagte ihm daraufhin, dass er deshalb auch so dagegen gewesen sei, dass ich in den Geschäfsauschuss gewählt sei. Er meinte dann, dass er das sehr taktlos empfunden habe, dass ich mich selbst für den Geschäftsausschuss vorgeschlagen hätte und dass die Wahl stattgefunden hätte, wie Herr Direktor Stoevesandt und er weg gewesen seien. Das stimmte nicht genau, denn ich habe in seiner Gegenwart den Antrag gestellt und er hat ihm widersprochen.“

Da das Votum des Ausschusses über einen Rücktritt geteilt blieb, konnte sich Schlunk einstweilen noch halten, aber das Verhältnis zu Vietor war weiter beschädigt worden.226 1927 gab Schlunk sein Amt als Direktor der NMG, so seine Bezeichnung seit 1925, schließlich an Pastor Gottfried Stoevesandt ab, dessen Vater bereits seit Jahren zum NMG Vorstand gehört hatte. Stoevesandts Amtsantritt wurde von einer neuerlichen Spannung zwischen Vietor und Schlunk überschattet. Gegen den Willen von Stoevesandts Vater und Schlunk hatte Vietor am 30.3.1927 eine Vorstandssitzung durchgesetzt, auf die er sich mit einer 14 seitigen Zusammenstellung des Briefverkehrs der NMG der letzten Monate vorbereitet hatte. Mit den Akten wollte er nachweisen, dass Schlunk seine bisherige Zurückhaltung gegenüber der presbyterianischen Pariser Mission aufgegeben und sich zu deren Ansinnen, die NMG Arbeit zu übernehmen, kooperativ verhalten hätte. Das widerspräche jedoch dem Willen der Afrikaner im französischen Mandatsgebiet und sei wegen der positiven Haltung des französischen Gouverneurs gegenüber den afrikanischen Christen auch nicht geboten. Er verlangte daraufhin, dass Schlunk seine Bereitschaft, der Pariser Mission die Hand zu reichen, begründe. Schlunk reagierte daraufhin verärgert und wies kurzsilbig darauf hin, dass er sich nur wundern könne, wie sich Vietor deswegen so viel Arbeit gemacht hätte. Die Sachlage wäre einfach so, dass die französische Regierung nun darangehen wolle, einen Treuhänder für 224 Grau, 1988 (wie Anm. 203), S. 139–141. 225 J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck vom 26.5.1923; StAB, 7,73-10; vgl. J. K. Vietor an Schlunk vom 2.6.1923, ebd.; Kriele an J. K. Vietor vom 5.6.1923, ebd.; Schlunk an J. K. Vietor vom 16.6.1923, ebd. 226 Protokoll von J. K. Vietor über die Ausschuss-Sitzung vom 29.8.1924, angefertigt am 1.9.1924, StAB, 7,73-14.

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die NMG Arbeit im französischen Teil Togos zu bestellen und dafür die Pariser Mission in Frage käme. Dann griff Schlunk seinerseits Vietor an, er würde hinter seinem Rücken Briefe nach Afrika schreiben. Das stritt Vietor ab und wies darauf hin, dass er den Geschäftsauasschuss vorab über ein entsprechendes Schreiben informiert hätte. Dann entwickelte er seine Strategie, wie man dem Ansinnen der Pariser Mission auf Übernahme der NMG Arbeit im französischen Gebiet begegnen sollte. Er schlug vor, die NMG solle sich auf den Standpunkt stellen, dass ein „Board of Trustees“ bereits seit längerem existiere, der aus den Pastoren Aku und Baéta bestehe. Die Treuhänderfrage sei daher nicht akut und bräuchte keine neuerliche Regelung. Damit wollte Vietor die 1922 erklärte Selbstverwaltung im französischen Teil weiter verstetigen und eine fremde Mission dauerhaft fernhalten. Weiter beantragte er, die Pariser Mission daraufhinzuweisen, dass sich die Zeiten geändert hätten, Deutschland inzwischen zum Völkerbund gehörte, die NMG im englischen Gebiet wieder zugelassen sei und daher den Anspruch erhebe, in Zukunft auch in den französischen Teil wieder eigene Missionare zu entsenden. Vietors Antrag wurde jedoch unter Hinweis auf die Gefahr abgelehnt, ein solches Schreiben würde erste recht die Pariser Mission anspornen, die NMG Arbeit zu übernehmen.227 Vietors Überlegungen konnten ohnehin nichts daran ändern, dass sich die französische Regierung inzwischen entschlossen hatte, die Treuhänderfrage im Mandatsgebiet nun endlich zu regeln. Der Anstoß dazu war eben nicht von der Pariser Mission ausgegangen, sondern von der politischen Ebene, wie sein zusammengestellter Schriftverkehr selbst bewies. Am 19.11.1926 hatte Daniel Couve in Vertretung von Allegret die NMG darauf hingewiesen, dass ein neuer Erlass zur Treuhänderregelung des Missionsbesitzes in Vorbereitung sei und die Pariser Mission dringenden Handlungsbedarf sähe, noch vor in Kraft treten ihren Präses für Kamerun, Maitre, nach Togo zu senden, damit er „an Ort und Stelle die Frage der Uebernahme des Eigentums Ihrer Gesellschaft in Togo und die Form der Mitarbeit“ feststellen könnte.228 Dass sich die Pariser Mission nicht aus eigensüchtigen Motiven zu diesem Schritt genötigt sah, wie Vietor vermutete, zeigte das Verhalten Maitres, nachdem er am 27.2.1927 in Lome eingetroffen war. Auf seine Bemühung hin, verzichtete die Verwaltung auf die Entsendung eines Regierungsvertreters in den Verwaltungsausschuss für das Eigentum der NMG, der daraufhin mit amtlicher Beurkundung am 11.3.1927 aus Charles Maitre (Präsident), Andreas Aku und Robert Baéta gebildet wurde.229 Glücklich war die Missionsgemeinde in Togo jedoch nicht über den Eintritt der Pariser Mission.230 Zunächst blieb die Frage einer end227 J. K. Vietor an Pastor Gottfried Stoevesandt vom 31.3.1927, StAB, 7,73-20. Mit dem Bericht vom Vorstandstreffen wollte Vietor dem neuen Direktor einen besseren Überblick über den Stand der Dinge in der NMG geben. 228 J. K. Vietor an Pastor Gottfried Stoevesandt vom 31.3.1927, Anlage: Daniel Couve an [Vorstand der NMG] vom 19.11.1926, StAB, 7,73-20, S. 12. 229 Robert Baeta an Miss. Direktor M. Schlunk vom 19.3.1927, StAB, 7,73-20. 230 Baéta stand der sich anbahnenden Übernahme der Missionsarbeit durch die Pariser Mission skeptisch gegenüber und beschwerte sich, dass man seinen Vorschlag anläßlich seines Deutschlandbesuches 1924, einen französischen Missionar in eigener Regie anzustellen, nicht nachgekommen war. Für den Fall hätte seiner Ansicht nach die französische Administration keine Handhabe gefunden, die Treuhänder- und Eigentumsfrage neu zu stellen. Ein Eindringen der

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gültigen Abtretung der NMG Arbeit an die Pariser Mission noch in der Schwebe. Die Verordnung der Pariser Regierung vom 28.2.1926 hatte lediglich die Schaffung eines Treuhänderrates gemäß Art. 438 VV veranlasst, mit der Maßgabe, dass diesem ein Missionar der Pariser Mission vorstehen sollte.231 Es dauerte daher bis 1929, bis die Eigentumsfrage des NMG Besitzes weiter vorangetrieben wurde. Nach der Vorstellung des Gouvernements sollte nun der bisher dreiköpfige Verwaltungsausschuss auf fünf Personen erhöht werden, wobei die zwei zusätzlichen Mitglieder Europäer sein sollten. Für den Fall, dass die zwei zusätzlichen Mitglieder von Seiten der Pariser Mission gestellt würden, hätten sich die Mehrheitsverhältnisse entscheidend zugunsten der Franzosen geändert. Einer Eigentumsübertragung auf die eigene Mission hätte dann nichts mehr im Wege gestanden. Aus diesem Grund bemühte sich der im englischen Gebiet eingesetzte NMG Missionar Schosser darum, die beiden Plätze im Verwaltungsrat durch zwei NMG Missionare besetzen zu lassen. Ein entsprechender Antrag beim Gouverneur wurde abgelehnt, da deutsche Missionare im französischen Mandatsgebiet nach wie vor nicht zugelassen waren. Immerhin konnte vereinbart werden, dass die Erhöhung der Mitgliederzahl im Verwaltungsrat zunächst ausgesetzt wurde. Dem Antrag Schossers, die Eigentumsübertragung auf das „Conseil d’Administration de Mission Evangeliques“ in der grammatischen Form der Einzahl und nicht wie vorgesehen in der Mehrzahl vorzunehmen, wurde zwar stattgegeben, aber eine schriftliche Bestätigung dafür wollte der Gouverneur nicht geben.232 Die Verwendung der Mehrzahl hätte bedeutet, dass das Eigentum nicht länger allein bei der NMG gelegen hätte, eine eindeutige Aussage über die wirklichen Eigentumsverhältnisse wäre dann nicht mehr möglich gewesen. Nur wenige Tage zuvor hatte Maitre Vietors Sohn Claus gegenüber noch die Verwendung der Mehrzahl mit der Begründung verteidigt, die NMG sei vom deutschen Staat schon entschädigt worden für ihren Eigentumsverlust in Togo und hätte von daher ohnehin keinen Eigentumsanspruch mehr, was den Verdacht bei Claus Vietor schürte, dass die Pariser Mission eigensüchtige Ziele verfolge und sich nicht lediglich der staatlichen Anordnung füge.233 Zum Bruch zwiPariser Mission hätte somit verhindert werden können. Er wollte nun aber mit allen Mitteln dafür kämpfen, dass das Missionseigentum auch in Zukunft der NMG verbliebe, Robert Baeta an Miss. Direktor M. Schlunk vom 19.3.1927, StAB, 7,73-20. Einen ähnlichen Vorschlag wie Baéta hatte Vietor bereits im Vorfeld der Verhandlungen in London im September 1922 gemacht, als an eine Rückkehr deutscher Missionare noch nicht zu denken war. „Ich vertrete immer den Standpunkt, dass wir einen französischen Missionar, der sich den Engländern angegliedert hat, dort lassen und selbst bezahlen müssen, sodass er in unserem Auftrag die Mission fortsetzt, bis die Esel zu der Einsicht kommen, dass sie uns doch nicht von unserer früheren Arbeit ausschalten dürfen“, J. K. Vietor an Herr Dr. Hueck (China) vom 31.5.1922, VPAH, NL Hueck, S. 2f. Auch von seinem Mitarbeiter in der Goldküste, Euting, erfuhr Vietor, dass man in Lome sehr verärgert war über die Zustimmung Bremens zum Eintritt der Pariser Mission in den Verwaltungsrat, J. K. Vietor an Komitee der NMG vom 18.3.1927, ebd. 231 Stoevesandt an die Mitglieder des Vorstandes der NMG vom 23.1.1930, StAB, 7,73-24, S. 3. 232 Schosser an NMG vom 3.4.1929, Anlage zum Schreiben der NMG an J. K. Vietor vom 2.5.1929, StAB, 7,73-23. Zuvor hatte die NMG Maitre gebeten, die Absicht der NMG zu unterstützen, die NMG Missionare Schosser und Funke als zusätzliche Mitglieder des Verwaltungsrates aufzunehmen, [NMG] an Maitre vom 15.2.1929, StAB, 7,73-23. 233 Claus Vietor an J. K. Vietor vom 3.4.1929, StAB, 7,73-23.

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schen Vietor und dem NMG Vorstand kam es schließlich auf der Vorstandssitzung vom 21.1.1930, auf der Stoevesandt durchsetzte, dem Vorschlag Maitres nachzugeben, ihn zum Leiter des Synodalausschusses zu machen und ihm damit die leitende Verantwortung für alle Fragen der Kirchen-, Schul- und Finanzangelegenheiten zu übertragen. Stoevesandt rechtfertigte die Zustimmung des NMG Vorstandes damit, dass dieses Amt schon lange für Maitre vorgesehen war und angesichts der für die nächsten Wochen geplanten Abreise Maitres aus Togo dringender Handlungsbedarf bestand. Es brauchte auch in Stoevesandts Augen dringend eine Reorganisation der Arbeit, die nur mit entsprechender Entscheidungsgewalt auf den Weg gebracht werden konnte. Da sich Maitre in den letzten Jahren als zuverlässiger und kollegialer Partner erwiesen habe, verdiente er für Stoevesandt dieses Vertrauen.234 Vietor hingegen sah den Spielraum der NMG noch nicht als ausgeschöpft an und verlangte neue Verhandlungen im NMG Vorstand und mit Maitre.235 Zugleich plädierte er für einen Vorstoß beim Völkerbund, um auf diese Weise die Genehmigung der Entsendung von deutschen Missionaren in das französische Mandatsgebiet zu erzwingen.236 Das hielt Stoevesandt für „völlig utopisch“ und befürchtete bei einem solchen Vorgehen schwere Schäden in der Zusammenarbeit vor Ort.237 Ganz ähnlich bewertete das der in internationalen Beziehungen erfahrene A. W. Schreiber, als er sich in die Rücktrittsdebatte um Vietor einschaltete und diesen Weg „nicht nur für völlig ausssichtslos, sondern direkt für schädlich“ hielt. Er erinnerte Vietor daran, dass es aus historischen Gründen unwahrscheinlich sei, dass Frankreich deutsche Missionare in seine von ihm verwalteten Gebiete ließe. Das hätte die NMG bereits 1847 erfahren, als die geplante Entsendung von Missionaren nach Gabun am französischen Widerstand gescheitert war. Schreiber wies auch darauf hin, dass nach der französischen Übernahme der Verwaltung von Madagaskar selbst die englischen Missionare ausgewiesen worden waren. Die aussichtsreichste Möglichkeit bestand für Schreiber darin, einen Elsässer oder einen Schweizer nach Togo zu entsenden, wenn auch unter der Oberaufsicht der Pariser Mission, der aber eben doch, da von Bremen bezahlt, in einem Loyalitätsverhältnis zur NMG stünde.238 Damit deutete er ein ähnliches Modell an, wie das 1922 in London entworfene, das auf Vietors Einspruch hin gescheitert war und letztlich die aktuelle Situation hervorgerufen hatte. Von den 14 Personen, die Vietor nach seinem Austritt am 21.1.1930 inständig bestürmten, seine Entscheidung rückgängig zu machen, dürfte sein Vorstandkollege, Pastor Mallow, die wirklichen Gründe des Rückzugs am klarsten getroffen haben. Vietors Rücktritt resultierte für ihn aus der im Laufe der Zeit immer größer gewordenen Spannung zwischen nationalen und missionarischen Gefühlen. 234 Stoevesandt an die Mitglieder des Vorstandes der NMG vom 23.1.1930, StAB, 7,73-24, S. 2. Maitre gegenüber hatte Stoevesandt dieses Vertrauen bereits ausgedrückt und sich mit allen seinen Vorschlägen zur Reorganisation der Missionsarbeit einverstanden erklärt. Er sah in Maitre eine Idealbesetzung und hoffte, daß er länger in Togo bliebe als beabsichtigt, Stoevesandt an Maitre vom 27.12.1929, StAB, 7,1025-96-3. 235 J. K. Vietor an Vorstand der NMG vom 4.2.1930, StAB, 7,73-24. 236 G. Däuble (Detmold) an J. K. Vietor vom 29.1.1930, StAB, 7,73-24. 237 Stoevesandt an die Mitglieder des Vorstandes der NMG vom 23.1.1930, StAB, 7,73-24, S. 3. 238 A. W. Schreiber an J. K. Vietor vom 26.1.1930, StAB, 7,73-24.

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„Das in seinem nationalen Empfinden durch die Unrechttaten der feindlichen Welt“ tief verletzte Herz Vietors hätte zu einer undifferenzierten Einstellung gegenüber Vertretern aus anderen Nationen geführt, gleichgültig ob sie Politiker oder Missionare waren. Auch im Falle Maitres träfe das auf tragische Weise zu, da Vietor nicht mehr glauben konnte, dass ein zweifellos national denkender Franzose wie er, nicht mehr in der Lage war, die Interessen des Reiches Gottes über seine nationalen Empfindungen zu stellen. Das hätte bei Vietor dazu geführt, dass er Maitre ständig „verschleierte Motive“ unterstellte und kein Vertrauen in diesen ehrenwerten Mann setzen konnte.239 Ganz ähnlich interpretierte Stoevesandt Vietors Austritt als Folge eines falsch verstanden Patriotismus und erinnerte ihn daran, dass er damit gerade einen typisch deutschen Wert verletzte: „Nun heißt ja Deutsch sein nach einem gerade heute viel angewandten Wort: eine Sache um ihrer selbst willen tun, also die Person hinter der Sache zurückzustellen.“240 Dass er Franzosen nicht trauen konnte und aus seinem tiefen inneren Misstrauen ihnen gegenüber nicht mehr herauskonnte, gab Vietor auch unumwunden zu und dokumentierte damit auf tragische Weise, wie weit ihn sein von ihm reklamiertes Recht, Franzosen hassen zu dürfen, vom christlichen Gebot der Liebe und der Vergebungsbereitschaft entfernt hatte. Das dokumentierte auch seine mehrfachen Proteste gegen das Ansinnen, einen Franzosen auf der im Frühjahr 1930 stattfindenden Kontinentalen Missionskonferenz sprechen zu lassen, ein für ihn unerträglicher Gedanke. „Ich verstehe ein solches Vorgehen bei der Gemeinheit der Franzosen, wie sie uns behandeln, wirklich nicht, und ich fürchte, es wird fortgesetzt immer unangenehme Verhandlungen geben, bei denen ich doch nicht durchdringe und schließlich alles doch gegen meinen Willen geschieht.“241

Sein Misstrauen reduzierte sich nicht nur auf französische Christen, sondern galt, wenn auch abgeschwächt, für englische. Auch sie würden, wie die französischen „so gut sie es meinen mögen, immer kolossal ihren Privat Vorteil im Auge“ haben, deswegen sei er nicht mehr, wie Stoevesandt, in der Lage ihnen zu vertrauen. Vietor bedauerte es zwar sehr, Stoevesandt und der NMG mit seinem Austritt einen so großen Kummer zu bereiten, sah aber keinen anderen Weg mehr. „Ich bin so ausser mir über die miserable Behandlung, die Frankreich uns immer wieder von neuem angedeihen lässt, dass ich mich mit aller Energie dagegen sträuben muss, dass die Leute das Sagen in die Finger bekommen, soweit es nicht unbedingt notwendig ist.“242

Mit Vietors Austritt aus dem NMG Vorstand endete eine fast 80jährige Verbindung zwischen NMG und der Firma Vietor, ein epochaler Einschnitt, was neben Stoevesandt auch von den anderen Vorstandsmitgliedern so empfunden wurde.243 Daran 239 Pastor A. Mallow an J. K. Vietor vom 25.1.1930, StAB, 7,73-24. 240 Stoevesandt an J. K. Vietor vom 28.1.1930, StAB, 7,73-24. Mit einem drohenden Unterton fügte Stoevesandt noch hinzu: „Ich kann dir nur von Herzen wünschen, dass der Grundsatz, nachdem du jetzt in der Mission gehandelt hast, nicht von Deinen Angestellten und von Deinen Kindern Dir gegenüber angewandt wird.“ 241 J. K. Vietor an Vorstand der NMG vom 4.2.1930, StAB, 7,73-24, S. 3. 242 J. K. Vietor an Stoevesandt vom 25.1.1930, StAB, 7,73-24, S. 2 243 Besonders bewegend drückte das Stoevesandt aus, wenn er an die geschichtliche Verpflichtung Vietors gegenüber der NMG erinnerte und „inständigst“ um die Rücknahme des Austritts bat:

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änderte auch Vietors Absicht nichts, auch ohne Vorstandsmandat der Mission verbunden zu bleiben und weiterhin an die NMG zu spenden, so lange das Geld nicht im französischen Mandatsgebiet verwendet würde.244 NEUAUFBAU DES KOLONIALHANDELS UND UNTERGANG DER FIRMA Erfolgreiche Rückkehr nach Liberia und an die Goldküste Durch den Verlust der deutschen Kolonien, mehr aber noch durch die Liquidation deutscher Unternehmen in den Überseegebieten der Signatarmächte des Versailler Vertrages sahen die Geschäftsaussichten für die deutschen Kolonialunternehmen, sofern sie überhaupt den Krieg überstanden hatten, ausserordentlich schlecht aus.245 Für drei der fünf eigenständigen Überseefirmen Vietors bedeutete der Verlust der früheren Arbeitsgebiete das unternehmerische „Aus“.246 Die frühere Firma Vietor & Huber, die in Liberia tätig gewesen war, wurde unter dem Namen „Maier & Jürgensmeyer“ weitergeführt,247 die Stammfirma J. K. Vietor am 1.7.1920 in eine

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„Dass du als Verwandter und als Träger Deines Namens das tun konntest! Ich fürchte, dass Dein Schritt unserer Mission in Bremen, im weiteren Heimatgebiet und in Afrika schwere Rückschläge bringen wird [...] Dein seliger Vater hat sein Herzblut für die Mission hingegeben und durch die größten Schwierigkeiten hindurch ihr die Treue gehalten – und sein Sohn tritt wegen einer sachlichen Meinungsverschiedenheit aus dem Vorstand aus“, G. Stoevesandt an J. K. Vietor vom 23.1.1930, StAB, 7,73-24. J. K. Vietor an Stoevesandt vom 25.1.1930, StAB, 7,73-24, S. 2 Von den 73 von Richard Burckhard untersuchten deutschen Kolonialunternehmen hatten 14 bereits während des Krieges ihr Geschäft liquidiert. Nachdem sich in den 1920er Jahren ein Teil der alten kolonialen Handelsplätze für deutsche Firmen wieder geöffnet hatten, hatten 53 Unternehmen einen Neuanfang im Überseegeschäft gewagt. Bis 1940 verloren 10 von ihnen infolge von Fusionen ihre Eigenständigkeit, 14 andere scheiterten. Somit existierten 1940 nur noch 27 von ihnen, von denen die meisten nur einen geringen Umsatz machten, Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 107f. Von den 45 Mitgliedsfirmen des VWK 1914 waren 1925 nur noch 25 übrig geblieben, viele der ausgetretenen Firmen hatten ihr Geschäft liquidieren müssen, VWK an Mitglieder des VWK vom 10.3.1925, StAB, 7,73-15, S. 2. Im Gegensatz dazu verweisen Müller und Fieber darauf, dass zwischen 1919 und 1933 85 Kolonialunternehmen entstanden, von denen allein 61 in den ehemaligen deutschen Kolonien arbeiteten. Angaben zur Dauerhaftigkeit ihrer Existenz machen sie nicht, Müller, Fieber, 1968 (wie Anm. 10), S. 399. Die Liquidation der Firmen F. M. Vietor Söhne, Vietor & Lohmann und Vietor & Fresse wurde am 15.12.1920 amtlich beglaubigt. Zu Liquidatoren wurden J. K. Vietor, Claus Freese und der bisherige Prokurist bei Vietor, Fricke, eingesetzt, StAB, 7,73-15; vgl. auch StAB 4,75/5 –V.74. Oskar Huber war nach dem Krieg aus der Firma Vietor & Huber ausgetreten und nach Hamburg gegangen, hatte aber Vietor die Fortführung des Liberiageschäftes mit den Herren Eugen Maier (Stuttgart) und Karl Jürgensmeyer (Bad Oyenhausen) empfohlen, J. K. Vietor an Alfred M. Ajavon (Assahun/Togo) vom 10.4.1920, StAB, 7,73-3; Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 41), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 232. Ein entsprechender Vertrag, der bis zum 31.3.1931 lief, kam am 11.11.1920 zustande. Am 1.3.1927 schied Maier als Gesellschafter aus, Dr. Noltenius an J. K. Vietor vom 7.1.1929, StAB, 7,73-23. Am 11.11.1925 war der Vertrag schon einmal stillschweigend um 5 Jahre verlängert worden, J. K. Vietor an Noltenius vom 29.12.1928, StAB, 7,73-23. Gegenüber dem Reichsentschädigungsamt gab Vietor später an, auf den eige-

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gemeinsame ohG umgewandelt, in die Claus Freese als Teilhaber eintrat.248 Nachdem Vietor den Krieg geschäftlich nur durch den Kauf und Betrieb der Ölwerke Justus Gruner & Co. überstanden hatte, sah er Möglichkeiten zur Wiederaufnahme seines Im- und Exportgeschäftes in erster Linie in Ländern, die im Krieg neutral geblieben waren oder den Versailler Vertrag nicht unterzeichnet hatten. In den ersten Nachkriegsmonaten entwickelte sich ein starkes Exportgeschäft nach Nordeuropa und auch die Inlandsnachfrage nach Waren aller Art zog an. In der ersten Jahreshälfte 1920 konnte Vietor im Inlandsgeschäft sogar „so grosse Umsätze erzielen wie in unserem Leben noch nicht, da jeder Mensch wild auf Ware war und nach den Preisen nicht fragte.“249 Die Geschäfte konnten mit einer hohen Gewinnspanne abgewickelt werden, trübten sich ab Mitte 1920 jedoch dauerhaft ein. In den ersten Nachkriegsmonaten hatte Deutschland noch mit einer Rezession zu kämpfen gehabt, um dann im Schatten einer schleichenden Inflation von Mitte 1919 bis Mitte 1922 eine kurzlebige konjunkturelle Belebung zu erfahren. Während die Weltproduktion in diesem Zeitraum um 15 % sank und in anderen Industrieländern eine wirtschaftliche Depression auslöste, stieg die deutsche Industrieproduktion von 1920 bis 1922 um 20 %. Auch der deutsche Export profitierte in seinem Handelsgeschäft mit Hartwährungsländern von den Wirkungen der Inflation. Erst der Übergang zur galoppierenden Inflation beendete diese sozialpolitisch und ökonomisch abfedernden Wirkungen und ließ sie in ihr Gegenteil umschlagen.250 1919 nen, vor Ort bekannten, Namen in der Firmenbezeichnung verzichtet zu haben, um einer englisch-französischen Hetzkampagne zu entgehen, J. K. Vietor an Reichsentschädigungsamt vom 7.2.1925, StAB, 7,73-13. Wichtiger für die Namensentscheidung der Firma dürfte jedoch der schlechte Ruf der Firma Vietor & Huber in Liberia gewesen sein, wie Vietor gegenüber seinem früheren Mitarbeiter Euting freimütig zugab. Der Wareneinkauf in Deutschland wurde über die Firma J. K. Vietor abgewickelt, in Liberia waren Maier und Jürgensmeyer Teilhaber der eigentlich Vietor’schen Firma, J. K. Vietor an Euting vom 22.5.1922, StAB, 7,73-8. 248 Der Gesellschaftervertrag vom 16.7.1920 legte die Eigenkapitalbeteiligung in § 5 auf das Verhältnis 70 % (Vietor) zu 30 % (Freese) fest, § 6 bestimmte die Gewinnverteilung. Nach Abzug einer 5 % Verzinsung auf die jeweilige Kapitaleinlage wurden die ersten 50 % des Gewinns im Verhältnis 1:1 aufgeteilt, die zweiten 50 % im Verhältnis 70 % : 30 % verteilt. Bei Verlusten griff der gleiche Verteilungsschlüssel. Zur neuen Firma gehörte nach § 12 nun auch die bisher selbständige Firma „Justus Gruner & Co.“, für die die gleiche Gewinn- und Verlustverteilung wie in § 6 galt, VPAH, vgl. auch Gesellschaftsvertrag, ebd. Konv. 5. Um Steuern zu sparen, nahm Vietor seine Tochter Ende 1921 als Kommanditistin in den Geschäftszweig der Ölwerke auf, da sie ihren Gewinnanteil nur mit 10 % versteuern mußte, Vietor dagegen mit 50 %. Der Betrag der Steuerersparnis sollte als Vermögensgrundstock für seine Tochter dienen. Für die Zukunft plante er wegen der Steuervorteile alle seine Kinder als Kommanditisten aufzunehmen, sobald sie volljährig geworden waren, J. K. Vietor an Hedwig Hueck (China) vom 21.12.1921, VPAH, NL Hueck, S. 1f. Seine Tochter Hedwig wurde aus gleichem Grund auch in die Firma Maier & Jürgensmeyer als Kommanditistin aufgenommen. Vietor stellte für beide Beteiligungen 20.000,- Mark zur Verfügung, J. K. Vietor an Tochter vom 16.1.1922, VPAH, NL Hueck, S. 2. 249 J. K. Vietor an Karl [Vietor/USA] vom 7.7.1920, StAB, 7,73-3. 250 Wehler, 2003 (wie Anm. 59), S. 244–246. Auch Vietor erkannte den Vorteil der Inflationspolitik und die sich daraus ergebenden ökonomischen Chancen für Deutschland. Während England und andere Industrieländer mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten, freute er sich über vergleichsweis moderate Zahlen für Deutschland sowie den jüngsten Außenhandelsüberschuß.

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hatte Vietor große Hoffnungen auf ein Geschäft mit ehemaligen Heeresbeständen gesetzt. Er war zum „Demobilisations-Kommissar in Bremen“ bestellt worden mit der Aufgabe große Heeresbestände, darunter auch Landmaschinen, meistbietend zu veräußern. In diesem Zusammenhang konnte er über seinen früheren Mitarbeiter und späteren Geschäftspartner, Hans Weber, der im Krieg von französisch Guinea nach Spanien entkommen war und von dort bis 1917 das Vietorsche Liberiageschäft mit Waren versorgt hatte, ein aussichtsreiches Geschäft mit spanischen Firmen einfädeln, die Interesse an den Landmaschinen im Wert von 600.000,- bis 800.000,- Mark hatten.251 Nachdem die Maschinen verschifft waren, platzte das Geschäft jedoch, sodass die Waren ein halbes Jahr im Hafen lagen und damit einen Schaden in sechsstelliger Höhe verursachten. Nachdem der Sohn des alteingesessenen Bremer Kaufmanns Pelizäus die Maschinen in Spanien für einen sehr günstigen Preis übernommen hatte, konnte er sie in Portugal absetzen, machte dabei aber ebenfalls ein Verlustgeschäft.252 Unbeschadet davon setzte Vietor seine Geschäfte mit Weber fort, wenn auch bei niedrigen Umsätzen. Parallel dazu beteiligte er sich im September 1919 mit Bremer und Barmer Kaufleuten an der Gründung der Deutsch-Spanischen Handelsgesellschaft, die in Sevilla eine Filiale eröffnete und von Vietors früherem Mitarbeiter Karl Rieke geleitet wurde.253 Das Geschäft lief jedoch nur schleppend an, da die spanischen Behörden Schwierigkeiten mit der Ausfuhr spanischer Güter machten254 und der spanische Markt von deutschen Waren überflutet wurde.255 Auch eine mehrwöchige Reise Vietors nach Spanien 1921 konnte an den schwierigen Geschäftsverhältnissen nichts ändern.256 Nachteilig auf den Geschäftsgewinn wirkten sich mit zunehmender Inflation auch die Wechsel-

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„Die ganze Weltlage ist für uns so günstig wie nur möglich […] Gegen solche Weltverhältnisse sind wir in Deutschland mit unserer schlechten Valuta ja glänzend“ dran, J. K. Vietor an seine lieben Kinder [Otto und Hedwig Hueck/China] vom 23.2.1921, VPAH, NL Hueck. Weber war nach seiner Flucht nach Spanien zunächst in die Firma des deutschstämmigen Federico Grosch eingetreten und hatte die Firma nach dessen Tod im April 1917 übernommen, J. K. Vietor an Vorstand des Kriegsausschusses für pflanzliche und tierische Öle und Fette vom 17.3.1917, StAB, 7,73-46, Bl. 70f. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 41), VPAH, Forts. S. 61; Geschäftliches S. 50f. [Hartmut] Müller, Juni 1970 (Archivaktenbeschreibung), StAB, 7,2019, Deckblatt. Ausschlaggebend für die Beteiligung Vietors an dem Unternehmen war das Drängen Pastor Fliedners gewesen, in Spanien ein Geschäft zu beginnen, mit dessen Gewinn dann eine evangelistische Arbeit im Land begonnen werden sollte. Nachdem Vietor aus Geldmangel zunächst abgelehnt hatte, konnte Fliedner von rheinischen Unternehmern 300.000,- Mark beschaffen, wodurch die Geschäftsaufnahme möglich wurde, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 2.6.1923, StAB, 7,73-10, S. 2. J. K. Vietor an Heinrich Fliedner (Kaiserswerth) vom 21.7.1920, StAB, 7,73-3. J. K. Vietor an Theodor Fliedner (Madrid) vom 20.5.1920, StAB, 7,3-3. In erster Linie führte die Firma Werkzeuge und Motoren nach Spanien ein wie Frässpindeln, Feilen, Handbohrmaschinen, Gleichstrommotoren, Drehstrommotoren, Holzbearbeitungsmaschinen, Schraubstöcke und Langlochbohrer. Angaben nach der Lagerliste, o. D., StAB, 7,2019. Vietors Spanienreise fand von Ende März bis Ende Mai 1921 statt. Die Reise begann von Berlin aus am 29.3.1921 und endete mit dem Eintreffen in Bremen wohl am 25. oder 26.5.1921. Als einfache Reisezeit werden jeweils etwa 10 Tage angegeben, Freese an Otto Lohmann vom 29.3.1921, StAB, 7,73-5; J. K. Vietor an Pastor Fliedner (Madrid) vom 26.5.1921, ebd. Als Ergebnis der Reise war Vietor klar, dass er in Spanien seine „grossen Pläne vollständig“ aufge-

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kurse aus, zumindest vorübergehend.257 1924 wurde die Firma liquidiert,258 die Geschäfte liefen aber in der Folge über die Firma J. K. Vietor auf veränderter Basis weiter.259 Auch die im Oktober 1921 von Vietor und dem portugiesischen Kaufmann Martins gegründete Handelsgesellschaft João de Freitas Martins GmbH wurde 1924 liquidiert.260 Die Firma war für Vietor in erster Linie wegen der Chance interessant, hierüber eine Einreiseerlaubnis in die portugiesischen Kolonien zu bekommen. An einer Geschäftsbeteiligung durch Portugiesen war er dabei allerdings nicht interessiert. Deswegen lehnte er das Angebot Martins ab, mit ihm zusammen ein großes Geschäft in Angola aufzuziehen. Vietor versuchte jedoch eine andere deutsche Firma mit Martins zusammenzubringen und war bereit, in diesem Fall einen Kredit von 1 Million Mark für das Geschäft in Angola bereitzustellen. Am Gewinn dieser Firma wollte er zu 66 % beteiligt werden. Den Wareneinkauf auf Kommissionbasis wollte er über Bremen organisieren und bot Martins für diesen Geschäftszweig eine Gewinnbeteiligung von 50 % an.261 Aus dem Projekt wurde offensichtlich aber nichts. Angesichts seiner zunehmenden Exportschwierigkeiten in Europa erwog Vietor 1920 den Aufbau eines Im- und Exportgeschäftes mit Südamerika, wofür allerdings eine Stabilisierung der deutschen Währung Voraussetzung gewesen wäre.262 Um seine Abhängigkeit vom Exportgeschäft abzubauen, plante er daneben auch

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ben mußte. Er schätzte die wirtschaftliche Situation in Spanien als noch schlechter ein als in Deutschland, J. K. Vietor an Reinhard Diekmann vom 28.5.1921, ebd. Trotz Schwierigkeiten hatte sich das Spaniengeschäft langsam entwickeln können. Nach dem aufgrund der kurzen Geschäftsdauer nur geringen Gewinn für 1919 von 685,09 Mark, konnte 1920 ein Gewinn von 16.034,07 Mark und 1921 von 36.350.66 Mark erzielt werden. Als jedoch der Handelsvertrag zwischen Deutschland und Spanien zum 1.6.1922 gekündigt wurde und fortan ein Valutaaufschlag von 80 % festgesetzt wurde, brach die Rentabilität vorübergehend stark ein. Entsprechend niedrig fiel der Gesamtgewinn für 1922 mit 1.088,29 Peseten aus. 1921 hatte der Gewinnanteil allein aus dem Sevillageschäft bei 6.962,38 Peseten gelegen, vgl. Jahresbilanzen 1919–1922, Jahresbericht über das 4. Geschäftsjahr 1922, StAB, 7,2019. Das Jahr 1923 brachte hingegen wieder einen Gesamtgewinn von 44.209,39 Peseten. Der Gewinnbeitrag allein aus Sevilla betrug dabei 9.626.60 Peseten, vgl. Jahresbilanz zum 31.12.1923, ebd. [Hartmut] Müller, Juni 1970 (Archivaktenbeschreibung), StAB, 7,2019, Deckblatt. Das Spaniengeschäft litt auch an den hohen Einfuhrzöllen, die Vietor als protektionistische Maßnahme wertete. Um dieses Problem zu umgehen, hatte Karl Rieke eine Reparaturwerkstatt für Autos eröffnet, um eine stabilere wirtschaftliche Grundlage zu bekommen, J. K. Vietor an Heinrich Krückeberg (Magdeburg) vom 17.3.1928, StAB, 7,73-21, S. 2. [Hartmut] Müller, Juni 1970 (Archivaktenbeschreibung), StAB, 7,2020, Deckblatt. J. K. Vietor an Euting vom 22.5.1922, StAB, 7,73-8. Portugal hatte Ende 1920 einige Zugeständnisse für die wirtschaftliche Betätigung von Deutschen in portugiesischen Kolonien gemacht, vgl. Rüger, 1977 (wie Anm. 11), S. 256. Für deutsche Kolonialunternehmen waren Beteiligungen an ausländischen Firmen in den zugänglichen Kolonien Spaniens und Portugals in den ersten Nachkriegsjahren eine sichere und erfolgversprechendere Variante gegenüber eigenen Unternehmensgründungen dort, Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 63f., 76–78. J. K. Vietor an Karl [Vietor/USA] vom 7.7.1920, StAB, 7,73-3. Offensichtlich beteiligte sich Vietor aber an einer Handelsbeziehung des Unternehmers Hellwig in Venezuela, für dessen Geschäft er einen Kredit in Höhe von 100.000,- Mark zugesagt hatte, J. K. Vietor an Claus Vietor vom 11.10.1921, StAB, 7,73-6.

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einen Einstieg ins Futtermittelgeschäft,263 ein Geschäftszweig, auf den er später zur Stabilisierung der maroden Siedlungsgesellschaft GAG tatsächlich zurückgriff. Über anfängliche Überlegungen kamen diese Projekte allerdings nicht hinaus und die Ölwerke blieben weiterhin seine Haupteinnahmequelle.264 Erst durch die Wiederaufnahme des Überseegeschäftes mit Südwestafrika und Liberia sollte sich das ändern. Der Handel mit Südwestafrika konnte bereits 1919 wieder aufgenommen werden, nachdem die Geschäfte dort bereits 1916 wieder freigegeben worden waren.265 Die Umsätze blieben anfangs jedoch bescheiden, was Vietor darauf zurückführte, dass man mangels deutscher Waren überwiegend Produkte und Waren aus Südafrika verkaufen musste. Während das Geschäft mit den südafrikanischen Waren stockte, ließen sich die Bremer Waren mit guten Gewinnen verkaufen.266 Noch bevor die Südafrikanische Union die Einreise unbestrafter und gesunder Europäer, und damit auch Deutscher, ab dem 1.11.1924 wieder uneingeschränkt genehmigte,267 hatte Vietor bereits ab 1921 Einreisegenehmigungen für weitere kaufmännische Mitarbeiter in seinen Niederlassungen erreichen können.268 Die Filiale in Lüderitzbucht war nach dem Krieg im Besitz von Vietors früherem Mitarbeiter Meier, der seine Waren aber weiter über Vietor in Bremen bezog.269 Während Meier 1925 über 15 Mitarbeiter verfügte, arbeitete die unter Vietors Namen laufende, nach dem Krieg neu errichtete Niederlassung in Lüderitzbucht defizitär und musste 1925 liquidiert werden.270 Nachdem der Bremer Unternehmer Max Heuser mit 50.000,Mark als Partner in das Geschäft einstieg, wurde der Firmensitz nach Windhuk verlegt, in Lüderitzbucht verblieb nur eine Filiale.271 Weit besser als in Südwestafrika entwickelte sich dagegen das Geschäft in Liberia, das im April 1921 unter dem Namen Maier & Jürgensmeyer erneut aufge-

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J. K. Vietor an Albrecht Carl Meyer vom 27.8.1920, StAB, 7,73-3. J. K. Vietor an W.Preiswerk vom 3.1.1921, StAB, 7,73-5. J. K. Vietor an Reichsentschädigungsamt für Kriegsschäden vom 7.2.1925, StAB, 7,73-13. J. K. Vietor an van Nuys vom 25.8.1920, StAB, 7,73-3; J. K. Vietor an Dr. Otto Hueck (China) vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck, S. 5. Jahnel, Markus J., 2009: Das Bodenrecht, S. 470. Der uneingeschränkten Einreisegenehmigung für Deutsche vorausgegangen war ein Abkommen zwischen der Südafrikanischen Union und Deutschland über die Rechte deutscher Staatsangehöriger in Südwestafrika vom 23.10.1923, Rüger, 1977 (wie Anm. 11), S. 254. Bereits im August 1921 hatte Vietor seinem Angestellten Strohbach ein Dampferticket nach Südwestafrika kaufen können, nachdem das bislang an der fehlenden Einreisegenehmigung gescheitert war, J. K. Vietor an August Strohbach vom 17.8.1921, StAB, 7,73-6. Im September bot er einem weiteren potenziellen Mitarbeiter eine Anstellung in Südwestafrika an, J. K. Vietor an Fischer vom 28.9.1921, ebd. Am 19.1.1922 reiste Johannes Huyssen für Vietor nach Lüderitzbucht aus, J. K. Vietor an Hasenkamp vom 19.1.1922, StAB, 7,73-7. J. K. Vietor an J.Huyssen vom 13.2.1922, StAB, 7,73-7. J. K. Vietor an Alfred Sauer (Lüderitzbucht) vom 14.5.1925, StAB, 7.73-16; J. K. Vietor an Alfred Sauer (Lüderitzbucht) vom 24.8.1925, ebd. Zum großen Ärger Vietors hatte der mit der Liquidation beauftragte J.Huyssen 1927 das Lüderitzbuchter Geschäft 1927 immer noch nicht endgültig abgewickelt, J. K. Vietor an Alfred Sauer vom 6.4.1927, StAB, 7,73-20. Max Rob. Heuser (Bremen) an Firma J. K. Vietor vom 28.8.1925, StAB, 7,73-17.

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nommen werden konnte272 und sich rasch zur „Perle“ von Vietors Unternehmen entwickelte.273 Auch im zweiten Jahr entwickelte sich die Arbeit „brilliant“274 und erreichte eine Ausdehnung, „wie wir sie uns nicht haben träumen lassen.“275 Den Wiederbeginn in Liberia hatte Vietor mit vollem Risiko begonnen. Obwohl noch keine Einreiseerlaubnis vorlag, hatte er Jürgensmeyer Anfang 1921 mit einer Warenfracht im Wert von mehreren hunderttausend Mark ausreisen lassen in der festen Hoffnung, dass die Einreisegenehmigung noch rechtzeitig eintreffen würde.276 Der Erfolg des Liberiageschäftes war nach Vietors Erinnerung neben dem kaufmännischen Geschick von Maier und Jürgensmeyer auch auf einen Fehler des Reichsausgleichsamtes zurückzuführen, das Vietor „aus Versehen“ 10 Millionen Mark überwiesen hatte, was trotz der Inflation eine so gute Finanzausstattung bedeutete, dass das Geschäft weiter ausgebaut werden konnte, ohne einen Kredit dafür aufnehmen zu müssen. Die Erfolge waren so glänzend, dass es möglich war im Oktober 1922 auch das Geschäft in Keta an der Goldküste wieder aufzunehmen,277 nachdem das Einreiseverbot für Deutsche in britische Kolonien am 28.8.1922 ausgelaufen war.278 Als Verstärkung für die Arbeit in Liberia konnte darüber hinaus Vietors Sohn Claus am 17.10.1922 nach Afrika ausreisen.279 Die Arbeit in Keta, die der erfahrene Mitarbeiter Vietors aus der Vorkriegszeit, Ernst Euting, übernommen hatte und die auch ins englische Mandatsgebiet von Togo hineinreichte, lief so gut an, dass die ersten Waren bereits nach drei Tagen ausverkauft waren.280 Mit der Etablierung des 272 J. K. Vietor an Reichsentschädigungsamt für Kriegsschäden vom 7.2.1925, StAB, 7,73-13. Jürgensmeyer war bereits vor dem Krieg einige Jahre für Vietor & Huber in Liberia tätig gewesen, Carl Jürgensmeyer an Auswärtiges Amt (Zweigstelle in Bremen) vom 24.1.1921, StAB, 7,73-5. Maier und Jürgensmeyer hatten bereits seit Sommer 1920 auf ihre Einreiseerlaubnis gewartet, J. K. Vietor an van Nuys vom 25.8.1920, StAB, 7,73-3. 273 J. K. Vietor an Heinrich Ste. vom 4.8.1921, StAB, 7,73-6. Die Geschäfte in Liberia liefen weit besser an, als Vietor erwartet hatte, J. K. Vietor an Liesel Maier vom 26.10.1921, StAB, 7,73-6. 274 J. K. Vietor an Euting vom 22.5.1922, StAB, 7,73-8. 275 J. K. Vietor an F. Gehrold (Grand Bassa) vom 11.8.1922, StAB, 7,73-9. 276 J. K. Vietor an seine lieben Kinder [Otto und Hedwig Hueck/China] vom 23.2.1921, VPAH, NL Hueck, S. 4. Ende Oktober 1921 konnte als zweiter Mitarbeiter für Liberia Herr Gehrold ausreisen, J. K. Vietor an Dr. Hueck (China) vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck, S. 7. 277 J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 26.6.23, StAB, 7,73-10, S. 2f. Eine Auszahlung von 10 Millionen Mark durch das Reichsentschädigungsamt wird nur an dieser Stelle erwähnt und ist sonst nirgendwo nachweisbar. Da ein genaues Auszahlungsdatum nicht genannt wird, könnte der Betrag angesichts der fortschreitenden Inflation zwar von Bedeutung für das Geschäft gewesen sein, aber absolut gesehen dennoch einen eher angemessenen und moderaten Wert dargestellt haben. 278 J. K. Vietor an Otto Hueck (Tungkun, China) am 5.9.1922, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932. Euting hatte im September 1922 eine Einreiseerlaubnis nach Keta erhalten, J. K. Vietor an Hans Stoevesandt vom 27.9.1922, StAB, 7,73-9. Für Vietor war die Erlangung der Einreiseerlaubnis ein Kunststück Eutings: „Auf welche Weise er diese erstaunliche Leistung zu Stande gebracht hat, ist uns nie ganz klar geworden. Er war ein sehr fixer Mensch und brachte das Geschäft bald zu einer großen Blüte“, Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 41), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 232. 279 J. K. Vietor an Otto Hueck (Tungkun, China) am 5.9.1922, VPAH, Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932. 280 J. K. Vietor an [Hedwig Hueck, China] vom 9.1.1923, VPAH, NL Hueck, S. 5. Auch Claus

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Geschäftes in der Goldküste war Vietor, trotz der Beschränkungen des Versailler Vertrages, bereits vier Jahre nach Kriegsende in drei afrikanische Gebiete ehemaliger Kriegsgegner zurückgekehrt. Damit gehörte er zu den beiden einzigen Bremer Firmen, die bis 1926 eine erfolgreiche Rückkehr ins Afrikageschäft schafften.281 Während 1923 weitere deutsche Firmen einen Neuanfang in Nigeria und der Goldküste versuchten,282 stieg der Bremer Friedrich Oloff erst 1927 wieder ins Westafrikageschäft ein, nachdem sein Unternehmen 1922 mit der Firma Mercator fusioniert und zunächst in Südamerika und Ostasien einen Neuanfang versucht hatte. Oloff trat im Afrikageschäft jedoch nicht mehr als eigenständige Firma auf, sondern beteiligte sich lediglich an einem ausländischen Unternehmen. Bereits 1928 rutschte er wegen des Einbruchs der spanischen Währung in die Verlustzone und musste 1930 sein Geschäft mit einem Kapitalschnitt von 1:10 sanieren, 1936 wurde es endgültig liquidiert.283 Einen noch größeren Kapitalschnitt von 1:20 musste die ehemalige Deutsche Kamerun Gesellschaft 1933 vornehmen, die 1922 als Dekage Handels AG ihr Afrikageschäft in Bata, Spanisch-Guinea neu aufgenommen hatte. Bis 1928 hatte sie erfolgreich gearbeitet und 14 Niederlassungen in Spanisch-Guinea, Sierra Leone, Nigeria, Kamerun und Fernando Po eröffnen können. Wegen des starken Rückgangs der spanischen Pesete kam die Gesellschaft wie Oloff in eine existentielle Krise und konnte nach dem Kapitalschnitt erst 1937 wieder in die Gewinnzone kommen und erneut expandieren.284 Die Hamburger Firma Woermann war wie Vietor bereits 1921 nach Liberia zurückgekehrt und konnte hier wie in Spanisch-Äquatorial-Afrika einen neuen Geschäftsanfang machen. In den Folgejahren kamen Niederlassungen in Sierra Leone und der Goldküste hinzu. Die Ersteigerung der früheren Plantagenbesitzungen in Kamerun 1924 führte dagegen nur zu einem kurzfristigen neuen Engagement im britischen Teil des Mandatsgebietes von Kamerun. Es endete bereits 1927 wieder mit dem Verkauf der unrentablen Plantagen.285 Die DTG kehrte in Form einer Beteiligung an der Molive Pflanzungsgesellschaft nach Westafrika zurück und konnte sich seit 1927, wenn auch in bescheidenem Umfang, im französischen Teil von Togo etablieren.286 Damit war sie nach Vietor die zweite Firma, die nach dem Krieg überhaupt wieder in den togoiVietor hatte in Liberia einen guten Geschäftseinstieg gehabt. 281 Manuskript [1926] o. D., o. Verf., StAB, 7,73-18, S. 2. 282 Tätigkeitsbericht des VWK für das 22. Vereinsjahr [1923] vom 3.4.1924, BAB, R 1001-3414, Bl. 175. Der Bericht begrüßt die steigende Zahl neuer deutscher Unternehmensgründungen in der Goldküste und Nigeria, die von den dortigen Kolonialregierungen eine gleiche Behandlung wie Firmen anderer Nationen erfuhren. In Nigeria wurde der Import von Alkohol wieder zugelassen, wenn auch bei hohen Einfuhrzöllen. 283 Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 82. Nach der Fusion der Bremer Kolonial- und Handelsgesellschaft, vorm. F.Oloff & Co. AG mit der Mercator Handelsgesellschaft m.b.H. firmierte das neue Unternehmen als „Mercator-Oloff“, Bremer Kolonial- und Handels A.G. 284 Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 81f. 285 Bavendamm, Dirk, 1987: Wagnis Westafrika, S. 119, 127; Bohner, Theodor, 1935: Die Woermanns, S. 256. 286 Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 101. Der Geschäftsbericht für die Zeit vom 1.5.1927 bis 30.4.1928 gibt an, dass die DTG im März 1928 den Handelsbetrieb in Togo in den Orten Lome, Anecho, Atakpame und Palime wieder aufgenommen hatte, Nussbaum, Manfred: Togo – eine Musterkolonie? (Taschenbuch Geschichte; 21), Berlin 1962, S. 124.

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schen Mandatsgebieten aktiv wurde.287 Der Bremer Alfred Kulenkampff, der 1907 die Firma Funk & Risch in Lome und Keta übernommen und in der Folge ein Filialnetz in Togo, Dahomey und der Goldküste aufgebaut hatte,288 ging nach dem Krieg als Farmer nach Südwestafrika. Friedrich Henry Luther, der vor dem Krieg zusammen mit Erwin Seyfert die in Togo und der Goldküste tätige Firma Luther & Seyfert geleitet hatte, ging nach dem Krieg als Angestellter für die Firma G. F. Overbeck, die in der Goldküste und Liberia einen Neuanfang gemacht hatte, erneut nach Afrika.289 Die Rolle der Reichsentschädigungen Von größter Bedeutung für die Rückkehr der deutschen Exportunternehmen waren die Entschädigungszahlungen, die sowohl die kriegsbedingen Verluste als auch die Totalverluste durch die Liquidation der Geschäftsbasis in den Kolonien und Mandatsgebieten ausgleichen sollten und die nach Art. 297i des Versailler Vertrages der deutschen Reichsregierung auferlegt worden waren.290 Angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren war an eine rasche und umfangreiche Abwicklung der geltend gemachten Ansprüche nicht zu denken. Die Entschädigung, die immerhin eine eingereichte Gesamtschadenssumme von 11,031 Milliarden Mark zu berücksichtigen hatte, konnte daher nur schrittweise erfolgen und gliederte sich in die Vorentschädigung (bis 1923), Endentschädigung (bis 1925), Nachentschädigung (1.4.1925 bis Ende 1927) und Schlussentschädigung (ab 1928). Beihilfen, Wiederaufbaudarlehen, Wiederausreisedarlehen, Kreditdarlehen, Altersbeihilfen und ähnliche Leistungen kamen parallel hinzu.291 Die Höhe der tatsächlich geleisteten Entschädigungssummen lässt sich anhand der Berechnungskriterien der Schlussentschädigung, in die alle bereits vorher ausbezahlten Teilentschädigungen eingerechnet wurden, ablesen. Für Vietor, der alle die Entschädigungssumme steigernden Tatbestände erfüllte und einen aner287 1925 betonte Vietor gegenüber dem Reichsausgleichsamt, dass er bislang als einzige deutsche Firma wieder im togoischen Mandatsgebiet Handel trieb, eine Bemerkung, die seinem Kreditantrag eine besondere nationale Dringlichkeit geben sollte, J. K. Vietor an Reichsausgleichsamt vom 23.4.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 4. 288 Müller, Hartmut, 1973: Bremen und Westafrika, S. 107f. 289 [Claus Freese] an Karl Gärtner (Berlin) vom 21.2.1928, StAB, 7,73-21. 290 Zur Entschädigungsfrage vgl. Burckhard, 1940 (wie Anm. 128); bis 1926 auch Korselt, Theodor: Die Entschädigung kolonialer Kriegsschäden, in: Kolonialkriegerdank e. V. (Hrsg.): Koloniales Hand- und Adressbuch, Berlin 1926, S. 44–60. Eine detaillierte und in den Vorgängen sowie der Größenordnung durchaus mit der Firma Vietor vergleichbare Darstellung der komplizierten und langwierigen Entschädigungsprozesse bietet Birgit Buschmann für die Daimler Motorengesellschaft, Buschmann, Birgit: Unternehmenspolitik in der Kriegswirtschaft und in der Inflation. Die Daimler-Motoren-Gesellschaft 1914–1923 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte / Beihefte; 144), Stuttgart 1998, S. 304–345. 291 Die Zahlen und Leistungen des Reichsentschädigungsamtes wurden im Zusammenhang mit dessen Auflösung in der Berliner Börsen Zeitung vom 29.3.1930 veröffentlicht, Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 51.

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kannten Friedenswert von 3.295.000,- Mark292 einreichen konnte, war danach im besten Fall mit einer Entschädigung von etwa 547.000,- Mark zu rechnen, was 16,6 % der Schadenssumme entsprochen hätte.293 Wesentliche Bedeutung für die Höhe der Entschädigungszahlungen durch das Reich hatte lange Zeit die Frage, ob sie von den Zahlungsverpflichtungen des Dawes-Plan abziehbar waren. Diese Forderung wurde durch das angerufene Haager Schiedsgericht am 29.1.1927 jedoch abgewiesen, eine Entscheidung, die für die Kolonialgeschädigten die ohnehin geringe Chance, eine auch nur annähernd an die tatsächlichen Verluste hinreichende Entschädigung zu erhalten, endgültig zunichte machte.294 Die dadurch bedingte dauerhafte Kapitalschwäche sollte in den folgenden Jahren vielen deutschen Kolonialunternehmen zum Verhängnis werden. Auch die Anrechung der Liquidationserlöse, die neben den „Gewaltschäden“ durch Kriegseinwirkung den größeren Teil des kolonialen Gesamtschadens ausmachten, auf die Reparationsleistungen des Reiches, konnte im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den Dawesplan nur teilweise erreicht werden und bezog sich lediglich auf die Liquidationen, die nach Inkrafttreten des Dawes-Abkommens vorgenommen wurden. Die Versuche Deutschlands, auch die Liquidationserlöse aus der Zeit vor dem 1.9.1924, die ja den weitaus größten Teil ausmachten, mit den Reparationsleistungen zu verrechnen, wurden im Zusammenhang mit dem Abschluss des Youngplans 1929 endgültig fallengelassen.295 Vietor arbeitete mit Hochdruck an einer möglichst raschen Erledigung seiner Entschädigungsansprüche, da er angesichts der wachsenden Inflation fürchtete, das Deutsche Reich könnte möglicherweise bald nicht mehr zahlungsfähig sein,296 zum anderen brauchte er dringend frisches Geld, um seine geschäftliche Tätigkeit in Afrika so schnell wie möglich wieder aufnehmen zu können.297 Wäh292 Reichsentschädigungsamt an Auswärtiges Amt vom 19.5.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 16. Die anerkannte Gesamtsumme setzte sich zusammen aus den Entschädigungsansprüchen der fünf früheren Vietorfirmen. Die Firmen J. K. Vietor, F. M. Vietor Söhne und Vietor & Lohmann kamen zusammen auf einen Anspruch von 1.700.000,- Mark, die Firma Vietor & Huber auf 795.000,- Mark und die Firma Vietor & Freese auf 800.000,- Mark. 293 Die Bestimmungen der Schlußentschädigung sahen vor, dass die ersten 5000,- Mark des anerkannten Grundbetrages mit 100 %, die weiteren 15.000,- Mark mit 50 %, die weiteren 30.000,Mark mit 30 %, die weiteren 50.000,- Mark mit 25 %, die weiteren 100.000,- Mark mit 20 %, die weiteren 800.000,- Mark mit 7 %, die weiteren 49 Millionen Mark mit 5 %, die weiteren 50 Millionen Mark mit 4 % und was darüber hinausging mit 2,5 % erstattet werden sollten. Für den Fall, dass ein Unternehmen „entwurzelt“, d.h. völlig liquidiert worden war und seine Geschäftstätigkeit in Afrika wieder aufgenommen hatte, erhöhte sich der Erstattungssatz für die „weiteren 800.000,- Mark“ auf 15 % und für die „weiteren 49 Millionen Mark“ auf 13 %. Zusätzlich dazu erhielten die wiederaufbauenden Unternehmen mit einem Schadensvolumen von 200.000,- bis 4 Millionen Mark einen zusätzlichen „Wiederaufbauzuschlag“ von 3 %, für die darüberhinausgehenden Summen zwischen 4 Millionen und 49 Mark einen Zuschlag von 2 %, Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 55. 294 Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 53. Für Vietor war durch die Haager Entscheidung klar, dass nun alle Hoffnungen „die Millionen wieder zu bekommen“ dahin waren, J. K. Vietor an [Hedwig Hueck, China] vom 8.2.1927, VPAH, NL Hueck. 295 Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 53. 296 J. K. Vietor an Dietrich vom 16.10.1920, StAB, 7,73-4. 297 Vietor führte seinen raschen Erfolg in Afrika darauf zurück, dass er viel schneller als die Konkurrenz den Neuanfang gewagt hatte und sich dadurch einen erheblichen Vorsprung verschafft

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rend andere Konkurrenten noch in den Anerkennungsmodalitäten ihrer Ansprüche steckten, konnte Vietor bereits im Oktober 1920 eine erste Zahlung für die frühere Firma Vietor & Freese in Empfang nehmen.298 Er scheute allerdings auch keine Mühe, notfalls mehrmals nach Berlin zu fahren, seine Beziehungen ins Spiel zu bringen und wenn es nicht anders ging, auf einen Teil seiner Ansprüche zu verzichten, nur um möglichst schnell einen Bescheid zu erhalten.299 Er nutzte auch die Presse, die Handelskammer300 und den Bund der Auslandsdeutschen,301 um sich zu beschweren oder öffentlichen Druck aufzubauen.302 Von Vorteil war auch, dass er Anfang 1922 zum Beisitzer der Spruchkammer des Reichsentschädigungsamtes in Bremen berufen wurde und damit direkt in Entscheidungsprozesse eingebunden war.303 1927 wurde er in den Vorstand des Vereins „Wiederaufbau im Auslande“ gewählt, dessen Geschäftsführer, der Rechtsanwalt Dr. Bitter, die Antragsverfahren vieler Firmen und Missionsgesellschaften beim Reichsentschädigungsamt führte.304 Dadurch erhielt er weitere direkte Kontakte zu Entscheidungsträgern und zu Parlamentariern. Im Vorfeld der Verabschiedung des Kriegsentschädigungsschlussgesetzes im März 1928 reiste er in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender des Vereins für eine ganze Woche nach Berlin und besuchte tagelang die Abgeordneten des Reichstages, „um alle unsere Freunde und Feinde zu poussieren, eine ganz üble

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hatte. „Wir können nur dankbar sein, daß wir bei der ersten Möglichkeit gleich schneidig das Afrikageschäft angefangen haben. Alle unsere Konkurrenten, die zauderten und auf so schöne Resultate nicht zurücksehen konnten, sind natürlich nicht in der Lage solch ein solches neues Geschäft anzufangen“, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 3.10.1923, StAB, 7,7310, S. 6. Während Vietor bereits im Oktober 1920 seine erste Entschädigungszahlung erhalten hatte, hatte die NMG selbst ein Jahr später noch nichts erhalten, was Vietor auf die nachlässige Arbeit der Mission zurückführte, J. K. Vietor an Dr. Hueck (China) vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck, S. 5. Wie wichtig auch Vietors Beziehungen waren, zeigte die Bearbeitung des Antrages für Liberia. Während der Sachbearbeiter, vom Bruch, Vietors angemeldete Schadenssumme von 350.000,auf 192.000,- Mark herunterrechnete, setzte der Vorsitzende der Bremer Spruchkommission, Dr. Meyer, mit den beiden Beisitzern Möller und Segnitz, „mit denen ich persönlich auch befreundet bin“, wieder die volle beantragte Summe ein, J. K. Vietor an Oskar Huber vom 2.9.1920, StAB, 7,73-3. Vom Bruch war Vietor allerdings auch nicht wohlgesonnen, weil er sich von ihm ständig Kritik anhören mußte wegen seiner langsamen Arbeitsweise, J. K. Vietor an Otto Lohmann vom 14.10.1920, StAB, 7,73-4. J. K. Vietor an Oskar Huber, o.D. [1921], StAB, 7,73-6. J. K. Vietor an H. Dietrich vom 11.1.1921, StAB, 7,73-5. Als die Bearbeitung von Vietors Entschädigungsantrag blockiert wurde, weil seine früheren Geschäftspartner Huber und Lohmann ihre Beiträge zum Reichsnotopfer noch nicht bezahlt hatten und Vietor eine Fortsetzung der Bearbeitung seiner Anträge nur durch ein Vorstrecken ihrer Beträge dafür erreichen konnte, plante er, alle Afrikakaufleute zu einem gemeinsamen Protest gegen dieses Gebaren der Behörden aufzufordern, da die Ausführungsbestimmungen des Reichsnotopfergesetzes noch gar nicht erlassen worden waren und diese Handlungsweise der Behörde in seinen Augen daher nicht gerechtfertigt war, J. K. Vietor an Otto Lohmann vom 5.11.1920, StAB, 7,73-4. Reichsentschädigungsamt für Kriegsschäden (Berlin) an J. K. Vietor vom 16.2.1922, StAB, 7,73-7. J. K. Vietor an Oskar Huber vom 23.4.1927, StAB, 7,73-20.

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Arbeit, die verschiedene Reisen gekostet hat.“305 Eine ähnliche Reise nach Berlin hatte er bereits im Sommer 1927 zusammen mit Kurt Woermann unternommen, „um mich mit all den Fraktionen des Reichstages auseinanderzusetzen, eine sehr undankbare, zeitraubende und miserable Geschichte.“ Vietor sah sich seit seiner Wahl in den Vorstand des Vereins für Wiederaufbau als einen der „Hauptleute“ in der Entschädigungsfrage, der „beständig Sitzungen in Berlin und Hamburg“ zu besuchen hatte.306 Die ersten Entschädigungsvorschüsse, die Vietor bereits im Oktober 1920 erhielt, bezogen sich auf Schäden des Geschäftes der Firma Vietor & Freese. Dabei erhielt Vietor einen kleineren Teil in bar, der größere Teil wurde in Form von Schatzanweisungen mit 4 % Verzinsung abgegolten, die erst einige Monate später fällig wurden. Die Bearbeitung des Entschädigungsantrages war erst nach exaktem Nachweis des entstandenen Schadens abgeschlossen worden, was für viele Kolonialunternehmen eine schwer zu nehmende Hürde darstellte, da die Geschäftsbücher in den Überseegebieten infolge der Kriegseinwirkungen häufig beschlagnahmt worden waren oder nur noch unvollständig vorlagen. Nach Abschluss des Entschädigungsverfahrens erhielten die Geschädigten in der Phase der Vorentschädigung 50 % des anerkannten Schadenswertes, im Falle nachgewiesener Wiederaufnahme der Geschäfte 75 %. Da die Entschädigungshöhe auf der Grundlage des Vermögens- und Besitzstandes vom 25.7.1914 berechnet wurde, mussten die Antragsteller in jedem Fall erhebliche Inflationsverluste hinnehmen. Das konnte auch die später eingeführte Verdreifachung des Friedenswertes als Grundlage der Berechnungen307 nicht ausgleichen, ebenso wenig wie die 1922 erfolgten Heraufsetzungen auf den siebenfachen und später den zweiundzwanzigfachen Friedenswert.308 Wie groß man sich die Kaufkrafteinbuße selbst der frühen Vorentschädigungen vorstellen musste, verdeutlichte Vietor in einem Leserbrief vom November 1921 anhand seiner Entschädigung für Liberia über 314.653,- Mark, die er im Dezember 1920 erhalten hatte.309 Die Spruchkommission hatte den Schaden für Liberia auf 305 J. K. Vietor an Oskar Huber vom 27.3.1928, StAB, 7,73-21; vgl. Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 54. 306 J. K. Vietor an Otto Lohmann vom 4.1.1928, StAB, 7,73-21. Zu Woermanns großem Ärger drückte sich Vietor allerdings vor Gesprächen mit der Fraktion der Kommunisten und überließ ihm das alleine. 307 Buschmann, 1998 (wie Anm. 290), S. 317. 308 Im August 1922 verhandelte Vietor über die Versiebenfachung des Friedenswertes, im weiteren Verlauf des Jahres wurde ihm der zweiundzwanzigfache Friedenswert angeboten, J. K. Vietor an Lohmann vom 11.8.1922, J. K. Vietor an Lohmann o.D. [1922], StAB, 7,73-9. Vietor wurden damit bereits lange vor Verabschiedung des „Liquidationsschädengesetz“ im Mai 1923, in dem inflationsausgleichende Multiplikatoren für die Entschädigungen vorgesehen waren, eine entsprechende Multiplikation angeboten, vgl. Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 57. Im Oktober 1923 bekam Vietor den letzten Teilbetrag der Vorentschädigung für das frühere Liberia Geschäft Vietor & Huber ausbezahlt, der sich inzwischen auf einen Nennbetrag von 135 Milliarden Mark belief, was einem Gegenwert von £ 45,- entsprach, mit dem natürlich nicht viel bewegt werden konnte. „Damit kann natürlich auch unsere Konkurrenz nichts anfangen“, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 3.10.1923, StAB, 7,73-10, S. 6. 309 Der Leserbrief, der in der Weserzeitung erscheinen sollte und den Vietor auch an die Berliner Industrie- und Handelszeitung „Im- und Export“ sandte, bezog sich auf einen Beitrag der

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7 Politische Verhärtung und wirtschaftlicher Ruin

$ 97.527,77 festgesetzt und mit dem Vorkriegswechselkurs von 4,19 Mark auf 408.641,35 Mark umgerechnet. Da sich Vietor zur neuerlichen Geschäftsaufnahme verpflichtet hatte, bekam er 75 % davon, mithin exakt 314.653,90 Mark ausbezahlt. „Ich nahm meine früheren Verbindungen nach diesem Lande im kleinen Masstab wieder auf. Statt der früher betriebenen 3 Niederlassungen eröffnete ich zuerst nur 1. Die allernotwendigsten ersten Aussendungen betrugen schon etwa das dreifache von dem, was ich als Entschädigung für den in dem erwähnten Lande erlittenen Verlust erhalten hatte. Es ist dort Sitte, dass man mit eigenen Booten von den Küstenplätzen die Produkte von den Kunden abholt. Der Geschäftsbetrieb beanspruchte vor dem Kriege 10 Boote, die in beständiger Arbeit waren. Ein Boot kostete vor dem Krieg M. 935,-. Jetzt habe ich einstweilen nur 3 Boote hinausgeschickt, dieselben kosten M. 125.325,-. Wollte ich mein Geschäft wieder in demselben Umfange wie früher aufnehmen, dann müsste ich heute für die gleiche Anzahl Boote M. 417.000,- bezahlen; also eine Summe, die grösser ist, als die ganze mir zugesprochene Entschädigung von M. 408.641,-. In demselben Verhältnis sind natürlich auch die Ausgaben für Beschaffung von Inventar, Wohnung, Ladeneinrichtung, Waagen etc. gestiegen, da alle diese Dinge draussen verschleudert sind.“310

Trotz der hohen Kaufkraftverluste der 1920/21 ausbezahlten Entschädigungen, konnte Vietor mit ihrer Hilfe immerhin überhaupt einen Neuanfang im Afrikageschäft machen. Alle Entschädigungen zwischen Oktober 1920 und September 1921 zusammengerechnet und nach ihrer Kaufkraft bewertet, erhielt er in diesem Zeitraum Zahlungen im Wert von etwa US $ 30.000,-. Das entsprach etwa einem Betrag von 130.000,- Goldmark (GM), mithin rund 4 % des anerkannten Friedenswertes des gesamten Unternehmens.311 Für die in diesem Betrag enthaltenen Entschädigungen für die Teilunternehmen Vietor & Lohmann sowie Vietor & Huber mussten jeweils 50 % an die ehemaligen Geschäftspartner Lohmann und Huber abgeführt werden, sodass für den geschäftlichen Neuanfang in Übersee tatsächlich nur rund 100.000,- GM, respektive etwas über US $ 20.000,- zur Verfügung standen.312

Weserzeitung in ihrer Ausgabe Nr. 793 mit dem Titel: „Entschädigung für afrikanische Kolonial-Deutsche“, J. K. Vietor an Schriftleitung der Weser-Zeitung vom 22.11.1921, StAB, 7,737. 310 Der hier von Vietor beschriebene Kaufkraftverlust der Mark übersteigt den tatsächlichen, bis Mitte 1921 eingetretenen Wertverlust der Mark gegenüber dem Dollar infolge der Inflation um mehr als das Doppelte. Der Dollarkurs verharrte zwischen Oktober 1920 und Juni 1921 etwa um den Wert von 70,- Mark. Erst danach verlor die Mark weiter deutlich an Wert, vgl. Statistisches Reichsamt: Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland 1914 bis 1923 (Sonderhefte zu Wirtschaft und Statistik, Bd. 1), Berlin 1925, S. 12f. 311 Die Zahlen der nachfolgenden Tabellen sind den Angaben des Bestandes 7,2001-27 im Staatsarchiv in Bremen entnommen und decken sich nicht immer exakt mit Angaben an anderer Stelle. Sie bilden aber im Großen und Ganzen das Bild der Jahre 1920/21 ab. 312 In einer späteren Aufstellung des Reichsausgleichsamtes wird der Wert der während der Vorentschädigungsphase erhaltenen Entschädigungen des Reichsentschädigungsamtes mit 121.555,- Goldmark angegeben, eine dieser Angabe zugrunde liegende Berechnung fehlt jedoch, Auswärtiges Amt vom 19.5.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 16. Vietor führte diese Summe auf zwei Zahlungen, respektive Entscheidungen vom 1.3.1919 und 16.11.1920 zurück. Danach wären in diesem Betrag nicht alle Zahlungen bis 1923 inkludiert, J. K. Vietor an Josef Sonntag (Berlin) vom 12.1.1928, StAB, 7,73-21.

Neuaufbau des Kolonialhandels und Untergang der Firma

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Tabelle 6: Vorentschädigung der Firma Vietor & Freese 1920/21 Arbeitsgebiet/ Faktorei

AuszahlungsZeitpunkt

Togo/Kamerun

10/1920 ?313

Entschädigung in Mark (bar)

222.500,-

[1921] 10/1920 ?

51.775,- (Darlehen) 56.900,-

19.5.1921

Wert in US- Dollar 2.133,34314

145.429,50

[1921] Dahomey

Entschädigung in Mark (Schatzanweisung/ Darlehen)

2.120,87 493,52 834,68

15.500,- (fällig 25.9.21)

147,75

Tabelle 7: Vorentschädigung der Firma F. M. Vietor Söhne 1921 Arbeitsgebiet/ Faktorei

Auszahlungszeitpunkt

Entschädigung in Mark (bar)

Lome/Palime

[1921]

129.393,50

[1921]

182.000,- (fällig 23.4.21)

[1921]

34.000,- (Darlehen) 34.000,-316

[1921] Quittah

[1921] [1921]

Wert in US- Dollar 1.993,43315

10.750,- (v. Postministerium)

[1921] [1921]

Entschädigung in Mark (Schatzanweis./Darlehen/ Wechsel)

169,21 2.864,79 535,18 523,80

47.853,79

(DWA Bank)317

136.318,30

753,25 2.145,73

176.000,- (fällig 1.8.21)

2.087,53

313 Bei den bar ausgezahlten Beträgen für Vietor & Freese steht nicht fest, für welches Arbeitsgebiet sie bereits im Oktober 1920 geleistet wurden, für Togo/Dahomey oder Kamerun oder für beide. Die Entschädigungssummen wurden zwischen Vietor und Freese im Verhältnis 50:50 geteilt. Vom Barbetrag für das Dahomeygeschäft erhielt Freese 30.168,10 Mark, Vietor 29.708,30 Mark, StAB, 7,2001-27. 314 Die Barauszahlungen wurden jeweils mit dem Wechselkurs von Oktober 1920 umgerechnet (68,17:1), die Schatzanweisungen und das Darlehen mit dem Kurs für September 1921 (104,91:1). Alle Angaben zu den Dollar-Wechselkursen sind entnommen: Statistisches Reichsamt, 1925 (wie Anm. 310), S. 12f. 315 Die Umrechnung der Markwerte wurde für die beiden Barauszahlungen in Bezug auf Lome/ Palime mit dem Wechselkurs vom Januar 1921 vorgenommen (64,91:1), die Zahlungen des Postministeriums, des Schatzwechsels, des Darlehens und der Zahlung der DWA Bank mit dem Wechselkurs vom April 1921 (63,53:1), ebenso die Barzahlung für Quittah. Die Schatzanweisung für Quittah wurde mit dem Wechselkurs vom August 1921 berechnet (84,31:1). 316 Barausbezahlter Anteil des Bankguthabens der Firma F. M. Vietor Söhne bei der DeutschWestafrikanischen Bank (DWA Bank). Gesamtguthaben ohne Zinsen: 68.274,80,- Mark. 317 Bei diesem Betrag handelte es sich um die Erstattung von Requisitionsansprüchen aus dem

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7 Politische Verhärtung und wirtschaftlicher Ruin

Tabelle 8: Vorentschädigungen für die Firma Vietor & Huber (Liberia) 1920/21 Arbeitsgebiet/ Faktorei

AuszahlungsZeitpunkt

Entschädigung in Mark (bar)

Entschädigung in Mark (Schatzanw./Darlehen/ Wechsel)

Wert in US- Dollar

Grand Bassa

12/1920318

228.461,80

3.129,61319

Sinoe

12/1920

58.794,60

805,41

Marshall Junk

12/1920

27.397,50

375,31

Tabelle 9: Vorentschädigung für die Firma Vietor & Lohmann 1921 Arbeitsgebiet/ Faktorei Cotonou

AuszahlungsZeitpunkt 16.3.1921

Entschädigung in Mark (bar)

16.3.1921

136.000,- (fällig 17.9.21) 103.111,10

19.5.1921 Wydah (Ouidah)

19.3.1921

1.296,35 1.651,10

105.000,- (fällig 17.9.21) 86.083,30

19.5.1921

Wert in US- Dollar 1.896,17320

118.415,80

19.5.1921 Porto Novo

Entschädigung in Mark (Schatzanw./Darlehen/ Wechsel)

1.000,86 1.378,44

71.000,- (fällig 19.9.21)

676,77

Tabelle 10: Vorentschädigung für die Firma J. K. Vietor (Südwestafrika) 1921 Arbeitsgebiet/ Faktorei

Auszahlungszeitpunkt

Entschädigung in Mark (bar)

Lüderitzbucht

[1921]

16.319,31

318 319 320 321 322

5.646,70323

Wert in US- Dollar 193,56321

£ 124.5.2. (Reg. Südafrika)322

[1921] [1921]

Entschädigung in Mark (Schatzanweis./Darl./Wechsel)

494,04 66,98

Lome/Palimegeschäft durch die Deutsch-Westafrikanische Bank (DWA Bank). Die Form der Erstattung wird nicht erwähnt. Die Barauszahlungen erfolgten vor dem 20.12.1920, J. K. Vietor an Eugen Maier vom 20.12.1920, StAB, 7,73-5. Die Umrechnung in Dollarwerte basieren auf dem Wechselkurs von Dezember 1920 (73:1). Die Umrechnung in Dollar für die Barauszahlungen basieren auf dem Wechselkurs von März 1921 (62,45:1), für die Schatzanweisungen auf dem Kurs für September 1921 (104,91:1). Die Umrechnungen basieren auf dem Wechselkurs von August 1921 (84,31:1). Der Wechselkurs zum britischen Pfund lag im August 1921 etwa bei 300:1. Laut Schreiben aus Lüderitzbucht wurde dieser Betrag der Firma Vietor von der Unionsregie-

Neuaufbau des Kolonialhandels und Untergang der Firma

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In der Folge kam es zu weiteren Zahlungen des Reichsausgleichsamtes, die aber nirgendwo vollständig und lückenlos aufgeführt werden. So erwartete Vietor im Oktober 1921 die baldige Auszahlung von 750.000,- Mark als weitere Abschlagszahlung, nirgendwo findet sich aber ein Verweis darauf, ob und wann der Betrag ausbezahlt wurde.324 Erst am 19.9.1922 kam es mit der Überweisung von 1.080.467,95 Mark im Gegenwert von 3.076,50 GM zu einer Zahlung in dieser Größenordnung, die jedoch angesichts der nun eingesetzten Hyperinflation in keinem Verhältnis mehr zum Gegenwert der im Oktober 1921 erwarteten Zahlung stand. Am 23.4.1923 folgte eine weitere Überweisung von 12.536,- Mark im Gegenwert von 1,90 GM und am 19.9.1923 erhielt er 511.000,- Mark, die allerdings nur noch einem Wert von 0,01 GM entsprachen. Während Vietor diese Summen 1925 gegenüber dem Reichsausgleichsamt ebenso angab wie weitere geringfügige Auszahlungen 1924 und 1925,325 und unter Ausblendung der frühen Zahlungen 1920/21 auf eine bislang erhaltene Gesamtentschädigungssumme von 3.612.71 GM kam, erwähnte er den abschließenden Bescheid über die Vorentschädigung für die Firma F. M. Vietor Söhne vom Juni 1923 nicht, möglicherweise, weil er angesichts der Währungsreform im Herbst 1923 nicht mehr in Kraft trat.326 Es fehlt auch die Angabe der im Oktober 1923 erhaltenen 135 Milliarden Mark für die Firma Vietor & Huber mit einem Gegenwert von £ 45.327 Entgegen seiner Berechnungen vom 23.4.1925 summierte das Reichsentschädigungsamt, offensichtlich unter Einschluss der frühen Zahlungen von 1920/21, alle bislang erhaltenen Vorleistungen

323

324 325

326

327

rung erstattet und wahrscheinlich der dortigen Niederlassung zugeeignet. Zur Umrechnung in Dollar wurde der jeweilige Kurs von Mai 1921 angesetzt. Der genaue Auszahlungszeitpunkt wird nicht genannt. Der Betrag wurde Vietor von der Bank of British West-Africa in bar ausbezahlt und von Vietor als Entschädigung für seine Südwestafrikageschäft verbucht. Das Geschäft von P. Leube in Rehoboth, bei dem Vietor Teilhaber war, erhielt, offensichtlich auch 1921, einen Entschädigungsvorschuß über 10.000,- Mark in bar. Welchen Anteil davon Vietor erhielt wird nicht angegeben. Auf dem Blatt mit den Aufstellungen für Südwestafrika finden sich auch Schadensanmeldungen für die Geschäfte von H.Weber sowie Henry Dietrich & Co., bei denen Vietor Teilhaber war. Eine Nachricht über eine anerkannte Summe fehlt hier, liegt aber für die Firma H.Weber (Barcelona) auf einem gesonderten Blatt vor. Die anerkannte Summe belief sich auf 55.600,- Mark, die zu 3.500,- Mark in Schatzwechseln ausbezahlt werden, die restlichen 52.100,- Mark in bar. Wieviel Vietor davon erhielt, bleibt unklar. Offensichtlich sollten die 750.000,- Mark eine weitere Abschlagszahlung für die bis dahin insgesamt anerkannte Entschädigungssumme in Höhe von 2 Millionen Mark darstellen, J. K. Vietor an Dr. Hueck (China) vom 26.10.1921, VPAH, NL Hueck, S. 5. J. K. Vietor an Reichsausgleichsamt vom 23.4.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 11, Anlage 3: „Aufstellung betr. Zahlungen vom Reichsausgleichsamt“. Am 24.5.1924 erhielt Vietor eine Überweisung im Wert von 185,87 GM, am 31.10.1924 eine über 135,46 GM. Am 14.2. (39,05 GM), 28.3. (172,76 GM) und 11.4.1925 (1,16 GM) folgten weitere Gutschriften. Der abschließende Bescheid für die Vorentschädigung der Firma F. M. Vietor Söhne sah für die Zeit zwischen 1924 und 1930 jährliche Ratenzahlungen in bar aus verzinslichen Schatzbriefen vor. Danach hätte Vietor und die Erbengengemeinschaft erhalten: Am 1.1.1924: 593.200,Mark; am 1.1.1925: 810.000,- Mark, am 1.1.1926: 450.200,- Mark, am 1.1.1927: 466.600,Mark, am 1.1.1928.: 483.000,- Mark, am 1.1.1929: 499.400,- Mark, am 1.1.1930: 515.800,Mark, J. K. Vietor an Geschwister vom 29.6.1923, StAB, 7,73-10. J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 3.10.1923, StAB, 7,73-10, S. 6.

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7 Politische Verhärtung und wirtschaftlicher Ruin

für die Vietorfirmen auf die Gesamtsumme von 121.555,- GM.328 Diesen Betrag gab Vietor bei späteren Anträgen entsprechend an.329 Damit wird deutlich, dass Vietor den Geschäftsaufbau in Liberia, der Goldküste und Südwestafrika in erster Linie mit den frühen Zahlungen der Jahre 1920/21 zustande brachte, da die späteren Zuwendungen keinen nennenswerten realen Gegenwert mehr darstellten. Trotz des bescheidenen Kapitals und trotz der Inflation konnte Vietor sein Geschäft bis Ende 1923 erfolgreich ausbauen. Nach dem Ende der Inflation trübten sich die Geschäftsaussichten dagegen ein, wenngleich die Warenumsätze weiter leicht stiegen. Die hohen Fremdkapitalzinsen im Zuge der Währungsstabilisierung bedrohten nun Vietors internationale Konkurrenzfähigkeit empfindlich.330 Die Kreditklemme gilt neben den hohen Löhnen und den damit verbundenen hohen Lohnstückkosten allgemein als einer der wesentlichen Faktoren für das generell schwache Investitionsverhalten in der Weimarer Republik.331 1924 lag der Zinssatz für Vietors Kredite in der Regel zwischen 18 und 20 %, während die englische Konkurrenz mit Zinssätzen von 5 bis 6 % arbeiten konnte. Bei einem durchschnittlich sechsmonatigen Fremdkapitaleinsatz von rund 200.000,- Reichsmark (RM)332 fielen damit zwischen 17.500,- und 20.000,- RM Zinsen pro Jahr an, eine Größenordnung, die eine prosperierende Geschäftsentwicklung außerordentlich erschwerte.333 Bis Ende 1925 fiel 328 Davon entfielen entfielen auf die Firmen J. K. Vietor, F. M. Vietor Söhne und Vietor & Lohmann zusammen 72.262,- GM, auf Vietor & Huber 17.665,- GM und auf Vietor & Freese 31.628,- GM, Reichsentschädigungsamt an Auswärtiges Amt vom 19.5.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 16. 329 Diese Summe aus der Vorentschädigung gibt Vietor auf einem Fragebogen des Vereins für Wiederaufbau im Auslande e.V. vom 19.10.1926 an und beziffert hier seinen anerkannten Friedenswert auf 3.362.637,- Mark, vgl. BAB, R 1001-3664, Bl. 143–144. 330 Für Vietor war das Jahr 1924 wegen der hohen Zinssätze kein gutes Geschäftsjahr, J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk vom 13.1.1925, StAB, 7,73-13. Das Jahr 1923 dagegen war noch von einer geschäftlichen Aufwärtsentwicklung gekennzeichnet, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 3.10.1923, StAB, 7,73-10, S. 5. Trotz der guten Geschäftsentwicklung blieb das Vermögen Vietors jedoch weit hinter dem Stand von 1914 zurück: „Unsere Erfolge sind ja allerdings enorm, aber mein Vermögen beträgt noch nicht 1/6 meines Vermögens vor dem Kriege“, J. K. Vietor an Claus [Vietor] vom 26.6.1923, StAB, 7,73-10, S. 4. Auch während der Inflation hatte Vietor erhebliche Probleme, Kredite zu bekommen, was jedoch weniger auf hohe Zinsen als vielmehr auf die generelle Zurückhaltung bei Kreditvergaben infolge der zunehmenden Geldentwertung zurückzuführen war, J. K. Vietor an [Hedwig Hueck, China] vom 30.8.1922, VPAH, NL Hueck. 331 Vgl. dazu Alecke, Björn: Investitionsverhalten in der Weimarer Republik. Ein Überblick, in: Historical Social Research 2 (1997), S. 105–131. Das Realzinsniveau fiel in der zweiten Jahreshälfte 1925 deutlich ab, um im Jahresverlauf 1926 wieder stetig anzusteigen bis leicht über das Niveau von Anfang 1925. Im Jahresverlauf 1927 fiel das Niveau bis Januar 1928 erneut bis auf einen Rekordwert ab, um dann allmählich, fast linear, bis Anfang 1932 auf ein Rekordhoch zu steigen, ebd., S. 127, Abb. 5. 332 Mit dem Münzgesetz vom 30.8.1924 wurde die Reichsmark eingeführt, die die am 15.11.1923 eingeführte Rentenmark ablöste. Die Rentenmark hatte die durch die Inflation völlig entwertete Papiermark vorübergehend ersetzt, RGBl. (1924), S. 254. 333 Laut einer Aufstellung für das Reichsentschädigungsamt vom 7.2.1925 arbeitete Vietor Anfang 1925 mit einem Fremdkapital von rund 200.000,- Reichsmark (RM). Seine Kreditgeber verteilten sich auf die Bremer Bank (40.000,- RM zu einem Zinssatz von 15 %, bis 1.10.1924 hatte er bei 18 % gelegen), die Commerzbank (20.000,-, RM, die bis zum 1.10.1924 ebenfalls 18 % verlangt hatte, seither 15 %), Heyne & Sohn, Hamburg (30.000,- RM zu 18 %, bis 31.1.1925

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Neuaufbau des Kolonialhandels und Untergang der Firma

der Durchschnittszinssatz für Vietor zwar auf 13–15 %, absorbierte aber immer noch einen Großteil der Gewinnspanne, da die Rückzahlung der Kredite aus dem Erlös der Warenverkäufe nach wie vor erst nach etwa sechs Monaten möglich war. Da seine Umsätze 1925 lediglich 20 % des Vorkriegsvolumens erreichten, konnte die Firma auch nicht durch Masse in eine zumindest absolut höhere Gewinnzone vorstoßen. Vietor war daher, trotz seines Alters, zu persönlicher Mehrarbeit gezwungen, nicht zuletzt um damit auch Personalkosten sparen zu können: „Ich habe infolge der schlechten Zeiten viel mehr zu arbeiten als seit 20 Jahren.“334 Tabelle 11: Geschäftsentwicklung 1922–1924 (in £)335 Jahr Nov./Dez. 1922 Nov./Dez. 1922 1923

Aus-/Einfuhren

Liberia336

Ausfuhren

2.027

Einfuhren

2.864

Ausfuhren

16.477

Goldküste337 880

12.855

Einfuhren

18.155

6.498.18.

1924

Ausfuhren

22.612

12.024

Einfuhren

23.476

663.16. 3

Gesamt 3.570.16. 3 2.864

1923 1924

Südwestafrika

6.179 8338

12.399. 5 . 5339

35.511 24.653.18. 8

4.396

39.032 35.875. 5 . 5

hatte der Zinssatz bei 20 % gelegen), L. W. Brandt & Sohn, Hamburg (30.000,- RM zu 18 %) und Gottfried Steinmeyer & Co. (4.900,- RM zu 12 %). Zu diesen Krediten kamen weitere Darlehen hinzu, die ähnlich hochverzinst waren und teilweise von den gleichen Gläubigern gewährt wurden. Ed. Heyne, Hamburg, hatte ihm zusätzlich ein Darlehen über 30.000,- RM eingeräumt mit 20 % Verzinsung, Gottfried Steinmeyer & Co. 4.360,- RM zu 12 % Zinsen und N. Jürgensen, Flensburg, hatte ihm ein Darlehen über 40.000,- RM zu 18% gewährt, J. K. Vietor an Reichsentschädigungsamt vom 7.2.1925, StAB, 7,73-13. Bereits im Februar 1924 hatte Vietor einen Zins von 18 % bezahlen müssen, andere dagegen von 24–30 %, J. K. Vietor an Missionar Maus (Tungkun, China) vom 27.2.1924, StAB, 7,73-12. Im Mai 1924 mußte Vietor vorübergehend bis zu 42 % Zinsen bezahlen, weshalb eingetroffene Waren aus Afrika infolge des Preisaufschlages für den Schuldendienst wochenlang nicht verkauft werden konnten, J. K. Vietor an Dr. med Hueck (Tübingen) vom 13.5.1924, StAB, 7,73-10. Eine Firmenbilanz für 1924, die Vietor dem Entschädigungsamt im Frühjahr 1925 zur Verfügung stellte, geht sogar von einem Fremdkapitaleinsatz von 250.000,- RM aus, bei einem Eigenkapital von 130.000,RM. Da die Bilanz als Nachweis dringend benötigter staatlicher Darlehen eingereicht wurde, dürfte sie allerdings bewußt überzeichnet worden sein, was der Vergleich mit der Aufstellung vom 7.2.1925 ja zeigt, Reichsentschädigungsamt an Auswärtiges Amt vom 19.5.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 18. 334 J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk (Basel) vom 31.12.1925, StAB, 7,73-17, S. 1f. Für die bescheidenen Gewinne beschäftigte Vietor Anfang 1926 zu viele Mitarbeiter und war daher froh für jeden, der sein Geschäft verließ, weil er eine andere Stelle antreten konnte. Zu betriebsbedingten Kündigungen mußte Vietor aber wohl nicht greifen, J. K. Vietor an Dölberg (Bankhaus Dölberg, Frey & Co., Köln) vom 26.1.1926, StAB, 7,73-17. 335 Angaben nach Vietors Aufstellung für das Reichsentschädigungsamt, J. K. Vietor an Reichsentschädigungsamt vom 7.2.1925, StAB, 7,73-13.

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Ähnlich schwache Renditen und Umsätze erzielte auch das Ölwerk nach der Inflation. Vietor hatte es 1923 an die Herren Staufenbiehl und Wolmath verkauft, ohne jedoch seine Geschäftsanteile ganz aufzugeben.340 1924 belief sich der Gewinnanteil für Vietor und seinen Sohn zusammen auf 400,- Mark.341 Eine Chance, das Afrikageschäft mit frischem Kapital weiter ausbauen zu können, eröffnete sich mit Beginn der zweiten Entschädigungsphase des Reichsentschädigungsamtes ab 1925. Innerhalb weniger Wochen erhielt Vietor zwei Wiederaufbaudarlehen über zusammen 174.000,- Mark, von denen der größere Teil für den Ausbau des Handels im englischen Mandatsgebiet von Togo eingesetzt werden sollte.342 Das Reichstentschädigungsamt setzte die Darlehen intern bereits mit einer realen Entschädigung gleich, obwohl die Umwandlung in nichtrückzahlbare Ausgleichszahlungen erst 1928 beschlossen wurde. Vietor hatte für das Entschädigungsamt daher mit den beiden Darlehen eine für Jahr 1925 ungewöhnlich hohe Entschädigungsrate von rund 9 % des Gesamtschadens erreicht.343 Für die Gewährung der mit 5 % verzinslichen Mittel konnte Vietor allerdings auch politische 336 In Liberia arbeitete Maier & Jürgensmeyer mit zwei Niederlassungen, in River Cross und Grand Bassa. 337 Die Zahlen für die Goldküste weichen geringfügig von den Angaben gegenüber dem Reichsausgleichsamt vom 23.4.1925 ab. Danach lagen die Aussendungen in £ für November und Dezember 1922 sowie Jahre 1923 und 1924 bei 1.082. 5.10 (1922); 13.883 8. 2 (1923); 12.381.19. – (1924). Die Zahlen für die Einfuhren, die er hier als „Rimessen“, also gezogene Handelswechsel, bezeichnet, sind identisch, J. K. Vietor an Reichsausgleichsamt vom 23.4.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 6, Anlage 1. 338 davon in Produkten: £ 3.013 339 davon in Produkten: £ 5.572 340 Während der Inflation lief das Geschäft noch gut und Staufenbiehl und Wolmath konnten im Herbst 1923 allein an einem Tag 38 Fässer Öl verkaufen, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa, Liberia) vom 29.10.1923, StAB, 7,73-25, S. 2; vgl. auch J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa, Liberia) vom 27.11.1923, ebd. Die Umsätze des Jahres 1923 konnte die neue Geschäftsführung zum Ärger Vietors nach der Währungsstabilisierung offensichtlich nicht mehr erreichen, J. K. Vietor an Claus Vietor (Quittah) vom 21.1.1925, ebd. 341 J. K. Vietor an Claus Vietor (Keta) vom 27.2.1925, StAB, 7,73-25, S. 8. 342 Das erste Darlehen über 74.000,- RM teilte sich in drei Darlehensverträge, die am 7.5.1925 mit den Firmen Vietor & Freese (20.000,-), Vietor & Huber (34.000,-) sowie den Firmen J. K. Vietor, F. M. Vietor Söhne und Vietor & Lohmann (20.000,-) formal getrennt geschlossen wurden, unbeschadet der Tatsache, dass von diesen Firmen nur noch die Firma J. K. Vietor existierte. Die Verträge sahen eine Laufzeit von 5 Jahren bei 5 % Verzinsung vor. Die Rückzahlung sollte in 5 Jahresraten beginnend mit 1926 erfolgen, vgl. die Darlehensverträge zwischen dem Reichsentschädigungsamt und den betreffenden Firmen, BAB, R 1001-3664, Bl. 20–28. Das Darlehen über 100.000,- RM, das Vietor am 1.7.1925 gewährt wurde, stammte nicht aus Mitteln des Reichsentschädigungsamtes, sondern aus dem sogenannten „Zehn Millionenfond“, den das Reichsfinanzministerium dem Auswärtigen Amt zum Zwecke der Förderung der Wiederaufbaubestrebungen der deutschen Kolonialfirmen zur Verfügung gestellt hatte. Die mit 5 % verzinste Summe sollte in zwei Teilbeträgen zu je 50.000,- RM am 2.1.1933 und 2.1.1934 zurückbezahlt werden. Der Vertrag bestimmte ausdrücklich die Verwendung des Geldes für den Geschäftsausbau im englischen Mandatsgebiet: „Dieses Darlehen ist bestimmt für den Wiederaufbau des Handelsgeschäftes im englischen Teil von Togo“, vgl. Darlehensvertrag zwischen Deutschem Reich und J. K. Vietor vom 1.7.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 56–58, 56. 343 Reichsentschädigungsamt an Auswärtiges Amt vom 19.5.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 16;

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Gründe ins Feld führen, da er als einziger deutscher Kolonialunternehmer damit in der Lage war, die Geschäftsaktivitäten in das englische Mandatsgebiet von Togo auszuweiten. „Hier besteht ein lebhaftes Interesse daran, dass der deutsche Handel in den früheren deutschen Kolonien wieder Fuss fasst. Aus der früheren Kolonie Togo liegen zahlreiche Beweise treuer Anhänglichkeit der Eingeborenen vor; immer wieder sprechen diese den Wunsch aus, dass die Deutschen zurückkehren. Es erscheint mir politisch wichtig, dass die Fühlung mit den Eingeborenen wieder aufgenommen wird. Die Firma Vietor ist dazu hervorragend geeignet. Ihre von jeher Eingeborenenfreundliche Haltung hat ihr deren Sympathien in besonderem Masse erworben. Die Rückkehr dieser Firma nach Togo wird der deutschen Sache in Togo sehr dienlich sein.344

Mit den erhaltenen Mitteln eröffnete die Firma Vietor 1925 eine Filiale in Ho und bereitete eine weitere Niederlassungsgründung in Kpando, dem früheren Kpandu, vor, wofür die Mittel aber nicht ausreichten.345 Hinzu kam, dass die Zufahrtsstraßen von Keta in das Voltagebiet um Ho, Kpando, Hohoe und Wurupon in einem sehr schlechten Zustand waren, was zunächst die Gründung einer Niederlassung in Accra sinnvoll erscheinen ließ, da Kpando und die umliegenden Orte von hier aus besser erreicht werden konnten. Ohne weitere staatliche Hilfe war das jedoch schwer zu erreichen, weshalb Vietor 1926 ein neues Darlehen in Höhe von 220.000,RM beantragte.346 Um seinem neuerlichen Gesuch Nachdruck zu verleihen, konnte er die Bremer Gesandtschaft in Berlin dazu veranlassen, seinen Antrag zu unterstützen.347 Sowohl Vietor als auch die Bremer Gesandtschaft verwiesen in ihren Anträgen auf die Mittel, die das Deutsche Reich zugunsten des Rückkaufs der Plantagen im englischen Mandatsgebiet von Kamerun zur Verfügung gestellt hatte und hofften auf eine ähnlich großzügige Unterstützung für Projekte im Mandatsgebiet von Togo.348 Obwohl die ohnehin geringen Mittel der Reichsregierung für diese Zwecke

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Auswärtiges Amt (Gunzert) an Reichsfinanzminister, z.Hd. Oberregierungsrat Dr. Lazarus, vom 13.6.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 45. Auswärtiges Amt (Gunzert) an Reichsfinanzminister, z.Hd. Oberregierungsrat Dr. Lazarus, vom 13.6.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 45. J. K. Vietor an Reichsentschädigungsamt vom 16.12.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 77–78. J. K. Vietor an Auswärtiges Amt (Brückner) vom 8.4.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 84–85. Senator Dr. Nebeltau (Bremische Gesandtschaft) an Reichsminister der Finanzen vom 29.4.1926 (Abschrift vom 3.5.1926), BAB, R 1001-3664, Bl. 88. Die deutsche Regierung hatte Ende 1924 der Vereinigung Kameruner Pflanzungen Pflanzungen ein Reichsdarlehen zur Verfügung gestellt, um bei der Londoner Auktion im Dezember 1924, auf der die ehemaligen deutschen Plantagen im englischen Mandatsgebiet versteigert wurden, im Hintergrund mitbieten zu können. Tatsächlich gelang es der dreiköpfigen deutschen Delegation, die aus Wilhelm Kemner, H. F. Picht und Kurt Woermann bestand, mittels eines englischen Strohmanns den Zuschlag für fast den gesamten zur Versteigerung gebrachten ehemaligen deutschen Plantagenbesitz zu bekommen. Insgesamt wurden 120.000 ha Plantagenland ersteigert, davon 28.000 ha in Kultur, die vormals 15 deutschen Gesellschaften am Kamerunberg gehört hatten. Kemner schätzte den Wert dieser Flächen auf 150 Millionen Mark, Kemner, Wilhelm: Kamerun. Dargestellt in kolonialpolitischer, historischer, verkehrstechnischer, rassenkundlicher und rohstoffwirtschaftlicher Hinsicht, Berlin2 1941, S. 162–164. Bei der Auktion konnte die deutsche Delegation damit rund 96 % ihres vorherigen Besitzes zu einem Preis von 4,5 Millionen RM wieder zurückerwerben, Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 47, vgl. auch Graichen/

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bereits erschöpft waren,349 gelang es Vietor am 16.7.1926 einen weiteren Darlehensvertrag mit dem Auswärtigen Amt über 200.000,- Mark abzuschließen.350 Das Geld wurde erneut mit der Auflage vergeben, damit das Geschäft in Togo auszubauen, wobei zunächst wohl weiterhin an das englische Mandatsgebiet gedacht war. Zu diesem Zweck reisten Vietors Partner Freese sowie sein Sohn Claus am 13.9.1926 nach Afrika aus351 und eröffneten im Oktober 1926 mit den Mitteln aus dem Darlehen die geplante Niederlassung in Accra, was im Jahr zuvor noch an fehlenden Mitteln gescheitert war.352 Obwohl Accra nicht im Mandatsgebiet lag, war die Erschließung des Mandatsgebietes von hier aus leichter als von Keta, da hier die Strassen nach Norden in schlechtem Zustand waren.353 Das Accrageschäft wurde nicht der Bremer Firma Vietor angegliedert, sondern als eigenständige Firma von Vietors Sohn, Nicolaus (Claus) Vietor, konstituiert.354 Von Accra aus entstanden bis 1929 weitere Filialen der neuen Firma, allerdings nicht im Mandatsgebiet.355 Daneben konnte nun auch in Lome ein Stützpunkt geschaffen werden, der zunächst jedoch nur von Vietors altem togoischen Freund und Mitarbeiter Robert Sanvee betreut werden konnte. Immerhin erlaubte der französische Gouverneur aber bereits jetzt vorübergehende Geschäftsbesuche auch der europäischen Mitar-

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Gründer, 2005 (wie Anm. 7), S. 389f.; Bohner, 1935 (wie Anm. 285), S. 256; Kemner, Wilhelm: Deutscher Wiederaufbau in Kamerun, in: Haenicke, Alex (Hrsg.): Das Buch der deutschen Kolonien, Leipzig 1937, S. 326–335, 328f. Auswärtiges Amt (Brückner) an den Reichsminister der Finanzen vom 22.5.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 94. Darlehensvertrag zwischen J. K. Vietor oHG und Auswärtigem Amt vom 16.7.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 116. Die erste Rückzahlungsrate sollte am 2.1.1930 geleistet werden, der halbjährliche Raten zu je 25.000,- RM zu folgen hatten. Die letzte Rate sollte am 2.7.1933 fällig werden. Das Darlehen wurde erneut mit 5 % Verzinsung vergeben. Wie schon beim ersten Darlehen 1925 mußte als Sicherheit das Grundstück Hedwig Vietors in Bremen-Rosenthal, Markusallee 39, das bereits vor dem Krieg einen Wert von etwa 200.000,- Mark hatte, als Sicherheit in den Vertrag aufgenommen werden. J. K. Vietor an Oberregierungsrat Brückner (AA) vom 12.8.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 133. J. K. Vietor an Reichswirtschaftsministerium vom 13.1.1926, StAB, 7,73-17, S. 3. Vietor hatte die Filialgründung in Accra wegen fehlender eigener Mittel 1925 mit Fremdmitteln „anderer Leute“ versuchen wollen, was jedoch scheiterte, J. K. Vietor an Wilhelm Seekamp (Keta) vom 30.11.1925, ebd. Im Vorfeld der Kreditgewährung durch das Auswärtige Amt, hatte Vietor erneut private Sondierungen aufgenommen, um das Geld zur Gründung in Accra auf diese Weise zu erhalten. Sein Geschäftspartner E. Heyne hatte daraufhin von den Herren Berenberg, Gossler & Co. die Zusage erhalten, Vietor 200.000,- Mark zur Verfügung zu stellen, ein Angebot, auf das Vietor nach dem gewährten Kredit nicht mehr zurückkam, J. K. Vietor an E. Heyne (Hamburg) vom 26.7.1926, StAB, 7,73-18. Die Mitteilung über die Geschäftseröffnung in Accra erfolgte bereits im Oktober 1926, J. K. Vietor an Oberregierungsrat Brückner (AA) vom 26.10.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 142. J. K. Vietor an Brückner (AA) vom 8.4.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 84. Meyer (Deutsche Bank) an Geheimrat Gunzert (AA) vom 15.2.1929, Anlage: Exposé über geplante Gründung einer „Westafrikanischen Handelsgesellschaft“, BAB, R 1001-3664, Bl. 217. Zwischen Oktober und Dezember 1926 erreichte das Accrageschäft bereits eine Gesamtausfuhr von £ 13.457, J. K. Vietor an AA vom 10.2.1927, BAB, R 1001-3664, Bl. 176. Vietor gibt hier versehentlich bereits den September als Starttermin des Geschäftes an. [Claus Vietor] (Accra) an J. K. Vietor vom 27.4.1929, StAB, 7,2001-1019. Filialen wurden gegründet in Kumassi, Nsawam, Koforidua, Mangoase, Suhum, Asamangkre und Bilbs.

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beiter Vietors, was offensichtlich mit dem guten Ruf der Firma Vietor in Togo zusammenhing.356 Nach wie vor verfügte die alte Vietorfirma über „ein wertvolles moralisches Plus bei allen Eingeborenen und [hatte] keinerlei Reibungsflächen mit der Regierung.“357 Am 9.1.1927 folgte die offizielle französische Genehmigung zur Eröffnung von Niederlassungen im französischen Mandatsgebiet, der Vietor jedoch nicht traute, da sich Frankreich, anders als England, nicht von der Anwendung des § 18 der Anlage II zu Teil VIII des Versailler Vertrages (Wiedergutmachungen) distanziert hatte.358 Danach stand es einer alliierten oder assoziierten Macht zu, im Falle einer absichtlichen Nichterfüllung der Reparationsverpflichtungen Deutschlands, Einfuhrverbote auszusprechen sowie wirtschaftliche, finanzielle oder andere Zwangs- und Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen.359 Vietor befürchtete daher, in einem Krisenfall als deutsches Unternehmen von der französischen Mandatsverwaltung in Haftung genommen zu werden, etwa durch Beschlagnahmung von Gütern oder Kapital in Togo. Andererseits befürchtete er, die Bestimmungen des § 18 würden auch im privatwirtschaftlichen Sektor Anwendung finden, sodass Zahlungsrückstände seiner Firma möglicherweise zu Sanktionen der Mandatsverwaltung führen könnten. Diese Sorgen wurden auch vom VWK geteilt.360 Vietor beantragte daher von der deutschen Regierung die Übernahme einer entsprechenden Risikogarantie, die ihm unter Hinweis auf den rein zwischenstaatlichen Charakter des § 18 sowie dessen Entschärfung durch das Dawesabkommen von 1924 verweigert wurde.361 Problematisch war auch die Frage der Vorkriegsschulden der Firma 356 J. K. Vietor an Oberregierungsrat Brückner (AA) vom 14.10.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 137. Vietors Mitarbeiter Wilhelm Seekamp hatte als erster Mitarbeiter Vietors eine Besuchserlaubnis für Lome erhalten und war zusammen mit Robert Sanvee vom Gouverneur empfangen wurde. Als der Gouverneur hörte, dass Seekamp zur Firma Vietor gehörte „nahm seine Höflichkeit noch ganz erheblich zu und er meinte, von der Firma hätte er ja schon so viel Gutes aus den Vorkriegszeiten gehört.“ Seekamp erhielt daraufhin ein Generalpermit zur Bereisung des ganzen französischen Mandatsgebietes, auch für Euting, der am 25.9.1926 in Keta eintreffen sollte und noch keine Einreiseerlaubnis für Lome hatte, versprach der Gouverneur eine nachträgliche Einreiseerlaubnis, wenn er in Lome einträfe, Wilhelm Seekamp (Keta) an J. K. Vietor vom 22.9.1926, StAB, 7,73-19. 357 Euting (Keta) an J. K. Vietor vom 13.6.1927, StAB, 7,73-39. 358 Vietor an Auswärtiges Amt vom 10.1.1927, BAB, R 1001-3664, Bl. 164. 359 § 18 der Anlage II zum Abschnitt VIII des Versailler Vertrages lautet: „Die Maßnahmen, zu denen die alliierten und assoziierten Regierungen, falls Deutschland vorsätzlich seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, berechtigt sind und die Deutschland sich verpflichtet, nicht als feindliche Handlungen zu betrachten, können in wirtschaftlichen und finanziellen Sperr- und Vergeltungsmaßregeln, überhaupt in solchen Maßnahmen bestehen, welche die genannten Regierungen als durch die Umstände für geboten erachten“, RGBl. (1919), S. 1017. 360 Der VWK sah die gleichen Gefahren wie Vietor und appellierte an die Reichsregierung, auf Frankreich einzuwirken, verbindlich auf die Anwendung des § 18 zu verzichten, Bericht des VWK für das Jahr 1926, AHKH, V 54, Bl. 27, S. 3. 361 J. K. Vietor an Brückner (AA) vom 24.1.1927, BAB, R 1001-3664, Bl. 166; Brückner (AA) an J. K. Vietor vom 15.2.1927, ebd., Bl. 171. Brückner wies auf die Entschärfung des § 18 durch die Bestimmungen der Anlage IV des Londoner Schlußprotokolls über den Dawesplan vom 16.8.1924 hin. Danach konnte Frankreich bei Vertragsverstößen Deutschlands nicht mehr alleine und einseitig Maßnahmen ergreifen, sondern nur aufgrund eines Mehrheitsbeschlusses der Reparationskommission. Gegen diesen war die Anrufung eines Schiedsgerichtes möglich,

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Vietor. Bislang hatte eine Abfindung der Schuldner im französischen Mandatsgebiet noch nicht stattgefunden, was eine Anknüpfung an alte Geschäftsverbindungen erschweren mußte. Bereits 1922 hatte Vietor Osofo Aku gebeten, seinen Schuldnern in Togo und Dahomey mitzuteilen, wohin sie sich wenden könnten, um ihre Forderungen gegenüber Vietor geltend zu machen.362 Aber erst 1928, nach jahrelangen Bemühungen Vietors, der Handelskammer Bremen sowie der Geschäftsstelle für deutsche Güter, Rechte und Interessen in Frankreich wurden erstmals Vorkriegsgläubiger Vietors in Dahomey und Togo aus der Liquidationsmasse entschädigt. Der weitere Auszahlungsprozess zog sich bis in die 1930er Jahre hin und wurde nur unvollständig abgeschlossen.363 Wegen der unsicheren Lage möglicher Ansprüche von Altgläubigern zögerte Vietor zunächst, Euting freie Hand zur Gründung einer Filiale in Lome und weiterer Orte im französischen Gebiet zu geben. Der Verzicht auf zukünftige Liquidationen bislang noch nicht in Wert gesetzter ehemaliger deutscher Unternehmen im französischen Mandatsgebiet aufgrund des vorläufigen deutsch-französischen Handelsvertrag vom 5.8.1926 und die damit zusammenhängende mögliche Rückverlagerung der Gläubigeransprüche an die nicht lidem ein stimmberechtigter Amerikaner angehören mußte, was schnelle und einseitige Sanktionen Frankreichs hinfort deutlich erschwerte, vgl. Anlage 4 der Londoner Schlußprotokolls vom 16.8.1924 (Abkommen zwischen den alliierten Regierungen), Art. 1 und 2, RGBl. (1924), S. 349–355. 362 Vietor verwies dabei auf die Regelungen des Versailler Vertrages, wonach die gegenseitige Eintreibung von Schulden im Falle deutscher Firmen nicht auf direktem Wege geschehen könne, sondern nur über staatliche Stellen. Seine Schulden gegenüber Gläubigern in Togo und Dahomey hatte er bereits von seiner eigenen Entschädigungssumme abziehen lassen und schriftlich an französische Stellen appelliert, die ausstehenden Summen an seine Gläubiger auszuzahlen, J. K. Vietor an Pastor Aku (Lome) vom 16.3.1922, StAB, 7,73-8. § 296 des Versailler Vertrages schrieb die wechselseitige Abwicklung von Ansprüchen deutscher, alliierter und assoziierter Staatsangehöriger über Prüfungs- und Ausgleichsämter vor und entzog damit die Regelung gegenseitiger Ansprüche dem privatwirtschaftlichen Sektor, vgl. RGBl. (1919), S. 1105–1125. 1924 klagte Vietor erneut über fehlenden Ausgleichszahlungen an alte Gläubiger durch die französische Verwaltung und verwies auf eine entsprechende Umsetzung der englischen Verwaltung in der Goldküste und im englischen Mandatsgebiet, J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 8.7.1924, StaB, 7,73-10, S. 3. 363 In der Handelskammer Bremen liegt ein ansehnlicher Briefwechsel zu Vietors Bemühungen um Entschädigung seiner früheren Gläubiger in Dahomey und im französischen Teil von Togo vor, AHKB, J. K. Vietor, 900001, K 29. Wegen der zähen Abwicklung der Auszahlungen durch die französischen Behörden seit 1928, engagierte Vietor 1929 einen Rechtsanwalt, der die Einforderung noch ausstehender Forderungen seiner Gläubiger bei den französischen Stellen vorantreiben sollte, Heinzmann (Geschäftsstelle für deutsche Güter, Rechte und Interessen in Frankreich) an Deutsche Botschaft in Paris vom 25.2.1929, ebd. Insofern trifft Vietors Klage gegenüber dem AA von 1929, die französische Kolonialverwaltung hätte die Gläubiger der früheren deutschen Firmen in Dahomey und im französischen Mandatsgebiet von Togo, anders als England, noch immer nicht entschädigt, nur teilweise zu, J. K. Vietor an AA vom 21.6.1929, BAB, R 1001-3664, Bl. 225. Richtig ist aber, dass sich die Abwicklung weiter außerordentlich zäh gestaltete. Vietors Freund und Mitarbeiter Robert Sanvee erhielt seine Entschädigung über 79.017,15 Franc erst 1931. Dabei stimmte die Auszahlungssumme nicht mit dem angekündigten Betrag über 120.000,- Franc überein, was zu weiteren Auseinandersetzungen führte, Contag (Berliner Vertretung der Handelskammer Bremen) an HK Bremen vom 22.4.1931, AHKB, J. K. Vietor, 900001, K 29.

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quidierten deutschen Unternehmen betraf ihn allerdings nicht direkt,364 da sein Unternehmen auch im französischen Teil bereits 1923 endgültig liquidiert worden war.365 Die zwischenzeitlich aufgetretene Unsicherheit durch das deutsch-französische Handelsabkommen verzögerte die Umsetzung der im Sommer 1926 beschlossenen Entscheidung zur Eröffnung einer neuen Niederlassung in Lome, für die Euting bei seiner Ausreise im September 1926 bereits Instruktionen erhalten hatte.366 Erst im Juli 1927 gab Vietor grünes Licht zur offiziellen Geschäftseröffnung, nachdem Euting wegen der Unwägbarkeiten vorgeschlagen hatte, die Bremer Faktorei zunächst ohne Anbindung an das Mutterhaus als freier Händler in Alleinverantwortung zu eröffnen.367 Zu dem Zeitpunkt stand Vietors Absicht, selbst ins französische 364 Das vorläufige deutsch-französische Handelsabkommen vom 5.8.1926, das mit seinen späteren Zusatzbestimmungen erst am 17.8.1927 endgültig unterzeichnet wurde, spricht nicht von einem Ende der Liquidationen deutscher Unternehmen. Der Gesetzestext ist abgedruckt in RGBl. (1926), Teil II, S. 435–441. Durch das Zusatzabkommen zum Handelsvertrag vom 22.12.1926 wurde jedoch auf weitere Liquidation verzichtet, dafür erhielt die Mandatsverwaltung ein Vorkaufsrecht für noch nicht enteigneten deutschen Besitz. Das betraf in erster Linie Plantagenland, was insbesondere für die DTG von Bedeutung war. Aufgrund des Zusatzabkommens kamen die deutschen Alteigentümer somit noch zumindest zu einem Verkaufserlös aus ihren früheren Besitzungen. Insgesamt fielen etwa 11.000 ha noch nicht enteigneten Plantagenlandes für etwa 5 Millionen Franc an die Mandatsverwaltung, vgl. Ahadji, Valentin Amétépé: Les plantations coloniales allemandes au Togo et leur évolution de 1884 à 1939, Lille 1996, S. 384f. Die DTG teilte am 21.1.1929 dem Reichsentschädigungsamt mit, dass sie von der französischen Regierung eine Abfindung in Höhe von 3.560.000 Franc erhalten hatte und weitere 1.440.000 Franc in Aussicht gestellt seien, Nussbaum, 1962 (wie Anm. 286), S. 126f. Die hohe Entschädigung allein für die DTG ist auf die Bewertung des Reichsentschädigungsamtes zurückzuführen, die der Berechnung zu Grunde lag und die eine großzügige Wertsteigerung einkalkulierte, ebd., S. 124–126. Vietor hatte von einem Bekannten gehört, dass für den Fall des Verzichtes auf Liquidationen oder gar der Rückgabe bereits enteigneten Besitzes, frühere Schuldforderungen wieder direkt gegenüber dem entsprechenden Unternehmen geltend gemacht werden müßten und nicht mehr gegenüber den Ausgleichsämtern. „Sollte dies aber der Fall sein, so können wir dort nicht eher ein Geschäft anfangen, als bis die Sache von der französischen Regierung endgültig geregelt ist“, J. K. Vietor an Euting (Keta) vom 31.1.1927, StAB, 7,73-39. 365 Die Firma J. K. Vietor war am 12.3.1923 endgültig liquidiert worden, die Bremer Faktorei am 3.11.1923, obwohl letztere bereits 1916 von den Engländern geschlossen worden war. Der Liquidationserlös für die Firma J. K. Vietor wird mit 96.000,- Franc angegeben, für die Bremer Faktorei mit 223.916,66 Franc. Am 9.10.1923 waren auch die Faktoreien der DTG mit einem Erlös von 409.884 Franc liquidiert worden, Ahadji, 1996: Les plantations, S. 365. In Dahomey waren Vietors Geschäftsimmobilien bereits am 18.8.1921 in öffentlicher Auktion versteigert worden, J. K. Vietor an HK Bremen vom 28.11.1923, AHKB, J. K. Vietor, 900001, K 29. 366 J. K. Vietor an Otto Lohmann vom 25.5.1927, StAB, 7,73-20. Euting, der am 3.9.1926 nach Afrika abreiste, hatte bereits vor der Abfahrt von der Deutschen Afrikalinie (Woermann Linie AG) die Agentur für Lome übertragen bekommen. Eine Einreiseerlaubnis nach Lome hatte er jedoch noch nicht, weshalb Vietor um entsprechend beschleunigte Bearbeitung beim Auswärtigen Amt bat, J. K. Vietor an Gustav Pahl (Berlin) vom 21.8.1926, StAB, 7,73-19. 367 Euting (Keta) an J. K. Vietor vom 13.6.1927, StAB, 7,73-39; J. K. Vietor an Euting vom 6.7.1927, ebd. In seiner Antwort vom 6.7.1927 teilte Vietor Euting mit, Waren im Wert von £ 1.500,- für Lome geordert zu haben, die im Falle eines Fehlschlags in Keta oder Ho abgesetzt werden sollten. Um eine rechtliche Gleichsetzung der neu einzutragenden Firma in Lome mit der alten Bremer Faktorei der Vorkriegszeit zu vermeiden und damit etwaigen alten Gläubige-

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Mandatsgebiet zu reisen, um sich ein Bild über die unklare Situation zu machen, allerdings bereits fest. Zusammen mit seiner Frau reiste er zwischen August und Dezember 1927 ein letztes Mal nach Afrika und besuchte neben Accra und anderen Orten in der Goldküste auch Ho, Lome und Anecho. Ins französische Mandatsgebiet begleitete ihn seine Frau allerdings nicht. Ein geplanter Abstecher nach Dahomey konnte wegen der gesperrten Grenzen aufgrund einer Gelbfieberepidemie nicht vorgenommen werden.368 In Lome fand er seine früheren Faktoreigebäude von Engländern und Franzosen genutzt, seine neue Filiale dagegen bestand in angemieteten Räumen, die außerhalb des Zentrums lagen.369 Fiel schon die wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung im englischen Mandatsgebiet gegenüber der Goldküstenkolonie deutlich ab, fand er im französischen Teil einen völligen Stillstand der Entwicklung vor. In Anecho war die wirtschaftliche Dynamik besonders stark zurückgefallen und sein altes Faktoreigebäude bis auf den ersten Stock „vollständig verfallen“.370 Als er hier ankam, erwarteten ihn schon seine früheren Mitarbeiter am Ortseingang, um ihn herzlich willkommen zu heißen. Als er jedoch auf den Marktplatz trat und von den alten Marktfrauen erkannt wurde, setzte großer Jubel ein: „Ein geradezu ohrenbetäubendes Geschrei ging los, als ich dort ankam. Sie ließen ihre Waren auf dem Markte stehen, stürzten auf mich zu, und ich hatte alle Mühe mich vor ihren Umarmungen und Küssen zu schützen.“371 Die stürmische Begrüßung, die Vietor in Anecho zuteil wurde, bestätigte offenkundig die Feststellung des Bürgermeisters von Lome, der Vietor kurz vor seiner Abreise nach Anecho versichert hatte, er sei heute immer noch der bekannteste Mann in Togo, was sich offensichtlich in erster Linie auf Deutsche bezog.372 Vietors Reise ins fran-

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ransprüchen zu entgehen, firmierte die Niederlassung in Lome unter dem Namen „Bremer Faktorei SA“ , „denn so erscheinen wir [gemeint sind Vietor und Freese, Anm. B.O.] nur als Direktoren und die Gesellschaft ist etwas ganz anders, für die uns niemand verantwortlich machen kann“, J. K. Vietor (Accra) an C. Freese (Bremen) vom 3.9.1927, StAB, 7,73-39. Die Firmenzusatz S.A. (Société anonyme) weist auf eine Aktiengesellschaft hin. Vietor, J. K.: Erinnerungen (wie Anm. 41), VPAH, 2. Erinnerungen, S. 234–236. In Accra kaufte Vietor ein Haus für £ 700. Er kehrte kurz vor Weihnachten 1927 nach Deutschland zurück, J. K. Vietor an Carl Fischer vom 4.1.1928, StAB, 7,73-21; vgl. auch Vietor, J. K.: „Vortrag“ [1928], VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 1, S. 20–37. Der nicht näher überschriebene „Vortrag“ bietet einen Bericht über Vietors letzte Afrikareise 1927 und stammt nicht, wie später handschriftlich hinzugefügt, aus dem Jahr 1927. An anderer Stelle findet sich der gleiche Vortrag nochmals mit der Datierung 14.3.1928, VPAH. Vietor, „Vortrag“ [1928], (wie Anm. 368), S. 33. Über die bescheidenen Anfänge in Lome klagt Vietor, während Engländer und Franzosen seine alten Gebäude an bester Lage nutzten konnten, müsse er „kümmerlich nebenan, an viel schlechterer Lage, Eingeborenenhäuser mieten“, J. K. Vietor an Carl Fischer vom 4.1.1928, 7,73-21. J. K. Vietor an Carl Fischer vom 4.1.1928, 7,73-21. Vietor, „Vortrag“ [1928], (wie Anm. 368), S. 35. Auch Kurt Woermann wurde mit Ehren empfangen als er 1921 erstmals nach dem Krieg wieder liberianischen Boden an alter Wirkungsstätte betrat. Ein Häuptling holte ihn mit 10 weiteren Häuptlingen als Ruderern vor Cape Palmas trotz schwerer Brandung vom Schiff ab. Er war der einzige Passagier, der ins Boot der Häuptlinge einsteigen durfte, obwohl auch andere Passagiere darum baten. Von einem Jubel der Bevölkerung, wie in Vietors Fall, wird jedoch nicht berichtet, Bavendamm, 1987 (wie Anm. 285), S. 119. Vietor, Vortrag [1928], (wie Anm. 368), S. 34.

Neuaufbau des Kolonialhandels und Untergang der Firma

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zösische Gebiet führte in der Folge zur Gründung weiterer Nebenfaktoreien in Palime,373 Anecho, Agboloe und Atakpame.374 Die Mittel zur weiteren Expansion hatte Vietor am 17.6.1927 in Form eines Exportkredites der Reichskreditgesellschaft über 150.000,- Mark erhalten, der in Kooperation mit dem Reichswirtschaftsministerium vergeben wurde. Dass Vietor in den bevorzugten Kreis der Empfänger kam, hatte er ohne Zweifel ein weiteres Mal seinen vielfältigen Kontakten und Beziehungen zu verdanken. Da für Kolonialhandelsfirmen eine Empfehlung des Auswärtigen Amtes notwendig war, bescheinigte der zuständige Sachbearbeiter Eltester, Vietor wäre seinem Haus „gut bekannt“ und vertrauenswürdig. „Es ist eine alte renommierte Firma, absolut zuverlässig und solide; sie steht in enger Verbindung mit den Bremer evangelischen Missionsgesellschaften, ihre Einstellung den Eingeborenen gegenüber ist stark negrophil.“375 Neben den guten Kontakten zum Auswärtigen Amt dürfte in diesem Fall auch Vietors langjährige Vorstandstätigkeit beim Bremer Exportverein eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben.376 In seiner Eigenschaft als langjähriger Vorsitzender des Bremer Vereins hatte Vietor auch im Reichsverband Deutscher Exporteure einen gewichtigen Einfluss.377 Im Gegensatz zu den vorher erhaltenen Wiederaufbaudarlehen, die 1928 in Folge des Kriegsschädenschlussgesetzes vom März 1928 in eine volle Entschädigung umgewandelt wurden und damit nicht mehr zurückzuzahlen waren,378 blieb der Exportkredit ausgeklammert von Vietors Entschädigungsansprüchen, vielmehr musste er die noch offenen Entschädigungsansprüche sämtlicher früherer Vietorfirmen als Sicherheit verpfänden, um den Exportkredit überhaupt erhalten zu können.379 Die Umwandlung der früheren Darlehen in volle Entschädigungen erhöhte den Eigenkapitalanteil der Firma Vietor schlagartig. Alle Entschädigungszahlungen zusam373 Meyer (Deutsche Bank) an Geheimrat Gunzert (AA) vom 15.2.1929, Anlage: Exposé über geplante Gründung einer „Westafrikanischen Handelsgesellschaft“, BAB, R 1001-3664, Bl. 217. 374 J. K. Vietor an Brückner (AA) vom 2.6.1931, BAB, R 1001-3665, Bl. 11. 375 Eltester (AA) an Reichskreditgesellschaft vom 15.3.1927, BAB, R 1001-3664, Bl. 179. 376 Gegenüber dem Reichswirtschaftsministerium hatte Vietor bereits im Jahr zuvor im Zusammenhang mit einer Kreditanfrage darauf hingewiesen, dass er viele Jahre lang Vorsitzender des Vereins Bremer Exporteure gewesen sei und nach wie vor zu dessen Vorstand gehöre, J. K. Vietor an Reichswirtschaftsministerium vom 13.1.1926, StAB, 7,73-17, S. 1. 377 J. K. Vietor an Claus Vietor (Sevilla) vom 8.4.1922, StAB, 7,73-8, S. 5. Nachdem Vietor wegen Arbeitsüberlastung vom 1.Vorsitz zurückgetreten war, hatte ihn der Bremer Verein zumindest zum 2. Vorsitzenden gewählt, weil sie sich einen Mann wünschten, „der uns in Berlin in genügender Weise vertritt.“ 378 „Das Reichskabinett hat sich damit einverstanden erklärt, daß für die vom Auswärtigen Amt gewährten und durch das Kriegsschädenschlußgesetz abzudeckenden Wiederaufbaudarlehen die vom Tage der Zahlung bis zum 31.März 1928 aufgelaufenen Zinsen niedergeschlagen werden“, Eltester (AA) an J. K. Vietor vom 20.6.1928, BAB, R 1001-3664, Bl. 212. Dass bereits 1927 der Verband deutscher Exporteure an der Vergabe der Exportkredite beteiligt war, macht ein Schreiben des Verbandes an Vietor von 1928 klar, indem darüber informiert wird, dass der Verband in Verhandlungen mit dem Wirtschaftsministerium stünde, die 1927 vergebenen Exportkredite auszudehnen. Dafür kämen nur ausgewählte Firmen in Betracht, Wagner an J. K. Vietor vom 2.8.1928, StAB, 7,73-22. 379 J. K. Vietor an Oskar Huber vom 23.4.1927, StAB, 7,73-20.

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7 Politische Verhärtung und wirtschaftlicher Ruin

mengerechnet hatte er 494.000,- Mark erhalten, was etwa 15 % seiner anerkannten Schadenssumme entsprach.380 Nach der bisherigen Ausweitung der Geschäftsfelder, konnte die Firma Vietor damit als weitgehend gesundes und erneut etabliertes Überseegeschäft angesehen werden. Hatte der Eigenkapitalanteil bei einem insgesamt eingesetzten Kapital von knapp 400.000,- RM 1924 noch lediglich ein Drittel betragen381 und 1926 bei einem Gesamtkapital von knapp 600.000,- RM etwa 36 %,382 lag er nun bei einem Kapitaleinsatz von etwa 1 Million Mark mit rund 500.000,- RM bei etwa 50 %.383 Damit stellte das Jahr 1928 gleichzeitig Höhepunkt als auch Scheitelpunkt der unternehmerischen Entwicklung nach dem Krieg dar. Bis auf Kamerun und Dahomey war Vietor in alle früheren Arbeitsgebiete Westafrikas zurückgekehrt, wenn auch nicht auf der gleichen soliden Eigentumsbasis wie vor dem Krieg.384 Die Expansion des Geschäftes machte sich auch an den Angestelltenzahlen deutlich. Hatte er 1924 im gesamten Afrikageschäft, einheimische Arbeitskräfte mitgerechnet, 22 Angestellte, so waren es 1927 bereits 33.385 In sieben Niederlassungen wurde Anfang 1929 auch mit weißen Angestellten gearbeitet.386

380 Meyer (Deutsche Bank) an Geheimrat Gunzert (AA) vom 15.2.1929, Anlage: Exposé über geplante Gründung einer „Westafrikanischen Handelsgesellschaft“, BAB, R 1001-3664, Bl. 219. Gegenüber seinem Freund Preiswerk summiert Vietor seine Entschädigung dagegen nur auf knapp 12 % des anerkannten Schadenswertes, J. K. Vietor an Wilhelm Preiswerk (Basel) vom 28.10.1929, StAB, 7,73-24. Vietor ging aber auch von einem tatsächlichen Schaden von über 4 Millionen Mark aus und beurteilte die amtliche Festsetzung des Friedenswertes auf rund 3.3 Millionen als „schäbig“, J. K. Vietor an H. Kosemann (Wiesbaden) vom 6.11.1928, StAB, 7,73-22, S. 3. 381 Reichsentschädigungsamt an AA vom 19.5.1925, BAB, R 1001-3664, Bl. 18. 382 1926 hatte Vietor ein Gesamtkapital von 589.186,47 RM eingesetzt, von denen 370.000,- RM Fremdmittel darstellten, die Wiederaufbaukredite eingerechnet, und 215.186.47 RM Eigenkapital, Fragebogen des Vereins für Wiederaufbau im Ausland vom 19.10.1926, BAB, R 10013664, Bl. 143f. 383 Nach der Umwandlung der Darlehen von 1925 und 1926 in Entschädigungen hatte Vietor insgesamt einen Betrag in Höhe von 494.000,- RM als Entschädigung erhalten. Ende 1929 arbeitete er mit Fremdkrediten von umgerechnet 455.000,- RM und verfügte über etwa 550.000,RM Eigenkapital. Seine vier Hauptkreditgeber waren: Bremer Bank: £ 3.750,-; Commerz- & Privatbank: £ 5.000,-; I. F. Schröder Bank: £ 5.000,-; Hermes Kredit -Versicherungs AG: £ 9.000,- (der Exportkredit von 1927, Anm. B.O.), Vietor an Eltester (AA) vom 29.11.1929, BAB, R 1001-3664, Bl. 239. 384 1928 erhielt Vietor die Nachricht, dass die Liquidation seiner früheren Besitzungen in Kamerun einen Erlös von 125.274.02 Franc erbracht hatte. Davon entfielen auf Immobilen 73.451,Franc, auf mobile Wertgegenstände 938,- Franc und auf Produkte und Waren 49.908,71 Franc, Ministère des Affaires Etrangères an Office des Biens & Intérets Privés vom 18.6.1928 (Durschlag), AHKB, J. K. Vietor, 900001, K 29. Ein Datum der Liquidation wird nicht angegeben, Vietor erhielt keinen Anteil an den Liquidationssummen. 385 J. K. Vietor an AA vom 2.3.1927, BAB, R 1001-3664, Bl. 178. 386 J. K. Vietor an Frau Lempp (Korntal) vom 29.1.1929, StAB, 7,73-23, vgl. Personalliste der nach Togo ausgesandten Angestellten 1922–1931, StAB, 7,2001-1122.

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Neuaufbau des Kolonialhandels und Untergang der Firma

Tabelle 12: Unternehmensentwicklung 1920 bis 1928 in RM387 Jahr

Ausfuhren388

Einfuhren

Gesamtumsatz (Ein- und Ausfuhren)

1920

93.194,-

35.366,-

128.560,-

1921

619.380,-

111.040,-

730.420,-

1922

543.216,-

390.064,-

933.280,-

1923

734.302,-

626.398,-

1.360.700,-

Gewinn Brutto

Gewinn389 Netto

1924

874.788,-

716.252,-

1.591.040.-

13.137.99,-

1925

1.296.438,-

1.072.362,-

2.368.800,-

28.347.09,-

1926

1.549.264,-

1.123.536,-

2.672.800,-

158.834,80

50.348.52,-

1927

2.957.240,-390

1.779.040,-

4.736.280,-

186.739,56

85.562.92,-

1928

k. A.

k. A.

6.131.160,-

ca. 60.000,-

31.042.11,-

387 Die Verteilung auf die einzelnen Arbeitsfelder ist aus den verschiedenen Aufstellungen nicht ersichtlich. Offensichtlich fließen die Geschäftsergebnisse der Firmen Maier & Jürgensmeier (Liberia) sowie Nicolaus Vietor (Accra) in die der Tabelle zugrundeliegenden Aufstellungen ungeschmälert ein. Dass das Ketageschäft immer wichtiger für das Gesamtunternehmen wurde, ergibt sich aus den Steigerungszahlen für die Jahre 1925 und 1926. Hatten die Ausfuhren nach Keta 1924 noch bei £ 12.382,- (247.640,-RM) und damit rund 28 % der Gesamtausfuhren gelegen, wuchsen sie 1925 auf £ 19.163,- (383.260,- RM) an, was 29,5 % der Gesamtausfuhren entsprach und 1926 auf £ 27.755,- (555.100,- Mark) und damit knapp 36 %, J. K. Vietor an AA vom 2.3.1927, BAB, 1001-3664, Bl. 178. 388 Die Ausfuhrzahlen bis 1926 entstammen einer Aufstellung Vietors für das AA vom 2.3.1927. Die Gesamtumsatzzahlen entstammen einer Aufstellung für das AA vom 17.4.1929. Die Einfuhrzahlen bis 1926 errechnen sich aus der Differenz der beiden Aufstellungen, Eltester (AA) an J. K. Vietor vom 28.11.1929, BAB, R 1001-3664, Bl. 236; J. K. Vietor an Eltester (AA) vom 29.11.1929, ebd., Bl. 238. Die Ausfuhrzahlen stimmen nicht exakt mit den Angaben von 1926 überein. Nach der Aufstellung vom 25.6.1925 betrugen die Ausfuhren: 1920: 93.195 Mark; 1921: 619.380 Mark; 1922: 543.216 Mark; 1923: 734.302 Mark; 1924: 801.946 RM; 1925: 1.187.216 RM, J. K. Vietor an AA vom 25.6.1926, ebd., Bl. 106. Während die Aufstellung in £ von 1928 in Bezug auf die Zahlen des Gesamtumsatzes in RM umgerechnet übereinstimmen mit der Aufstellung vom 17.4.1929, weichen sie in der Verteilung zwischen Ein- und Ausfuhranteil in den Jahren 1920, 1924, 1925 und 1926 um bis zu 120.000,- RM (1925) voneinander ab, J. K. Vietor an Direktor Brauckmüller (J. F. Schröder Bank Bremen) vom 12.1.1928, StAB, 7,73-21. 389 Gewinnangaben laut Geschäftsbilanzen 1924–1928. Vietor unterscheidet zwischen Brutto- und Nettogewinn. Vom Bruttogewinn, der nur für die Jahre 1926 und 1927 angegeben wird, wurden jeweils nicht näher definierte „Unkosten“ sowie Abschreibungen abgezogen. 1926 beliefen sich die „Unkosten“ auf 38.795,67 RM, die Abschreibungen auf 69.690,61 RM. Für 1927 werden „Unkosten“ in Höhe von 63.267,64 RM und Abschreibungen in Höhe von 37.909,- RM veranschlagt, J. K. Vietor an Eltester (AA) vom 29.11.1929, BAB, R 1001-3664, Bl. 240f. 1928 betrug der Bruttogewinn das Doppelte des Nettogewinns, Meyer (Deutsche Bank) an Geheimrat Gunzert (AA) vom 15.2.1929, Anlage: Exposé über geplante Gründung einer „Westafrikanischen Handelsgesellschaft“, BAB, R 1001-3664, Bl. 217.

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1928 erreichte das Geschäftsvolumen wieder rund zwei Drittel des Gesamtumsatzes von 1913, wobei der Ausfuhranteil deutlich an Gewicht gewonnen hatte.391 Da die Rahmenbedingungen wie Eigenkapitalanteil und Immobilieneigentum nach wie vor schlechter waren als vor dem Krieg, blieben die Geschäftsgewinne sowie die Eigenkapitalrendite jedoch bescheiden. Im Geschäftsjahr 1928/29 musste Vietor allein für die Gebäudemieten in Accra, Keta, Lome und Ho zusammen 43.460,Mark bezahlen,392 ein Betrag der höher war als der Nettogewinn des Jahres 1928, der lediglich 0,5 % des Umsatzes erreichte und einer Eigenkapitalrendite von weniger als 6 % entsprach. Vor dem Krieg hatte Vietor mit Eigenkapitalrenditen von 15–20 % kalkuliert. Die Firma hatte sich damit zwar vom Umsatz her stark entwickelt, arbeitete jedoch wenig rentabel, was bei einer krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung schnell an die Substanz gehen musste. Um höhere Gewinnraten zu erzielen, schloss sich der leitende Mitarbeiter Vietors in Lome, Euting, 1927/28 vorübergehend mit anderen in Togo engagierten Firmen, wie bereits kurz vor dem Krieg praktiziert, zu einem Warenpool zusammen, der die Verkaufspreise für die eingeführten Waren aus Europa einheitlich festlegte.393 1929 folgte ein FirmenAbkommen über das Verbot von Krediten an afrikanische Zwischenhändler und Marktfrauen, die bislang ganz im Sinne des früheren Truk-Systems Warenkredite erhalten hatten, diese aber häufig nur mit großen Verlusten eingetrieben werden konnten. Diese bereits aus der Vorkriegszeit bekannten Probleme der Warenkredite an einheimische Händler gefährdeten angesichts der sich eintrübenden Wirtschaftslage zusätzlich die Liquidität der Firmen. Das am 1.7.1929 in Kraft tretende Abkommen, an dem sich sechs Firmen beteiligten, wurde aber offensichtlich von einigen Firmen unterlaufen und blieb somit wenig effektiv.394 390 J. K. Vietor an Josef Sonntag (Berlin) vom 12.1.1928, StAB, 7,73-21. Die an Sonntag übersandte Ausfuhrstatistik stimmt mit den Angaben vom 2.3.1927 überein und führt sie bis Ende 1927 fort. 391 Der Gesamtumsatz 1913 belief sich auf 9.794.949,32 Mark, der Ausfuhranteil lag dabei mit 4.634.353,49 Mark bei 47,3 %. Hatte sich das Verhältnis von Ein- und Ausfuhranteil bis 1925 noch etwa die Waage gehalten, lag der Ausfuhranteil 1927 bereits bei rund 62,5 %, Fragebogen des Vereins für Wiederaufbau im Ausland vom 19.10.1926, BAB, R 1001-3664, Bl. 143f. 392 Die Mietkosten verteilten sich: Accra: £ 1106. 19. 11; Keta: £ 471.-; Lome: £ 317. 3.; Ho: £ 279. 7., StAB, 7,2001-1019. In den Beträgen für Keta, Lome und Ho dürften auch die Kosten für die verschiedenen Nebenfaktoreien enthalten sein. Das Geschäftsjahr in Afrika lief vom 1.April bis zum 31.März des Folgejahres. 393 J. K. Vietor an Euting vom 24.3.1928, StAB, 7,73-39. Vietor begrüßte den Abschluß eines „Togo-Pool“, der ein gutes Preisniveau für Salz, Wellblech, Zucker und Tabak garantierte. Aufgrund dieser Maßnahme rechnete er auch für die Folgejahre mit höheren Gewinnraten. Am 17.4.1931 kam ein neuer Togopool zustande, der zunächst für ein Jahr gelten sollte und an dem die Firmen Compagnie Générale des Comptoirs Africains Sté.Gle et Industrielle de la Côte d’Afrique, Sté. Gle de l’Ouest Africain, Compagnie Française de l’Afrique Occidentale, Comptoirs Coloniaux, G.B.Ollivant & Co., J.Holt & Co., United Africa Co. Ltd., DTG und die Bremer Faktorei Ltd. beteiligt waren, Société Commerciale et Industrielle de la la Côte d’Afrique (Marseille) an B. F. / Afrikahaus (Bremen) vom 28.4.1931, StAB, 7,2001-4. 394 An dem Abkommen beteiligten sich die Firmen F. & A. Swanzy, Millers, African and Eastern Trade Corporation, John Walkden & Co. Ltd, G. B. Ollivant & Co. Ltd., Bremer Faktorei Ltd., Euting an J. K. Vietor vom 24.6.1929, Anhang „Circular Order“, StAB, 7,73-39. Als Euting Vietor bereits kurz nach in Kraft treten des Abkommens mitteilte, dass sich nicht alle Firmen

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Weltwirtschaftskrise und Vergleichsverfahren Hatte bereits das Jahr 1928 nur einen geringen Gewinn abgeworfen, verlor die Geschäftsdynamik 1929 weiter deutlich an Kraft.395 Schuld daran war in erster Linie der Kaufkraftverlust der afrikanischen Kunden infolge des Absinkens der Weltmarktpreise für viele Agrarprodukte wie Kaffee, Baumwolle, Mais, Kautschuk oder Kakao.396 In der Goldküste hatte der Ausfuhrpreis für Kakao zwischen 1928 und 1929 um knapp 20 % nachgegeben und war von £ 50/Tonne auf £ 41/Tonne gefallen. Das konnte auch eine Produktionssteigerung von etwa 5 % nicht ausgleichen, womit der Ausfuhrwert und damit die Kaufkraft insgesamt um immer noch mehr als 8,5 % gesunken war.397 Die Eintrübung der Konjunktur schlug sich bei der ausschließlich in der Goldküste tätigen Firma Nicolaus Vietor bereits in der ersten an das Abkommen hielten, regte Vietor verärgert die Lösung des Abkommens an: „Es hat wirklich keinen Zweck, mit den Leuten solche Abkommen zu treffen, wenn wir dadurch so in das Hintertreffen kommen“, J. K. Vietor an Euting vom 8.8.1929, ebd. 395 Der im Auszug des Kapitalkontenbuchs für 1929 angegebene Geschäftsgewinn von 109.614,39 RM widerspricht allen Geschäftsbeschreibungen in der Korrespondenz der Jahre 1929/30, Kapitalkontenauszug 1929 [1.1.1930], VPAH, Konv. 5. Der Gewinn wurde gemäß den Geschäftsgrundlagen von 1920 etwa im Verhältnis 60:40 aufgeteilt. Vietor erhielt 65.200,41 RM, Freese 44.413,98 RM. Vietors Kapitalanteil im gemeinsamen Geschäft wird für 1.1.1930 mit 439.700,21 RM angegeben, Freeses Anteil mit 122.412,46 RM. Damit war die angestrebte Kapitalverteilung des Gesellschaftervertrages von 1920, der eine Eigenkapitalbeteiligung im Verhältnis von 70:30 vorsah, nach fast 10 Jahren nach wie vor nicht erreicht. Im Hauptbuch wird der Gewinnantseil Vietors für 1929 nur mit 34.998,69 RM angegeben, zu dem jedoch noch ein (Gewinn-?) Übertrag von 14.875,- RM für die Beteiligung am Liberiageschäft hinzukam, Hauptbuch, StAB, 7,2001-1149, Bl. 72. Während die Gewinnzahlen voneinander abweichen, ist der ausgewiesene Zinsgewinn (Zinssatz 5 %) mit 17.466,34 RM in Auszug und Hauptbuch identisch. Am 10.12.1929 berichtete Vietor an die Handelskammer Bremen, dass der Geschäftsverlauf 1929 durch den Preisverfall für Kaffee, Kakao und Öl sehr schwierig gewesen war. „Die erhofften Gewinne auf die Rimessen bleiben infolgedessen eigentlich ganz aus.“ Durch den Kaufkraftverlust der afrikanischen Handelspartner konnten viele Waren nicht verkauft werden, was zu hohen Lagerbeständen und und starken Preisnachlässen geführt hatte, J. K. Vietor an Handelskammer Bremen vom 10.12.1929, StAB, 7,73-24. 396 Die Weltmarktpreise für Kaffee, Kautschuk, Weizen und Baumwolle fielen von 1929 auf 1930 um 50 % und mehr, für Kakao um etwa 40 %, bis 1932 um fast 70 %, vgl. Hautmann, Hans: Streiflichter von der Weltwirtschaftskrise 1929–1933, in: Mitteilungen der Alfred Klargesellschaft 3 (2009), S. 1–8, 6. 397 Der Außenhandel der Goldküste, in: Der Tropenpflanzer 9 (1930), S. 378–380, 379. Vietor gibt an, Anfang 1928 in Hamburg für einen Zentner Kakao 80,- RM erhalten zu haben, ein überdurchschnittlich hoher Preis, Anfang 1929 jedoch nur noch 43,- RM, Vietor, J. K.: Der Beruf und das Leben des Kaufmanns, Rede vor Abiturienten am 22.1.1929, VPAH, Konv. 4, Teil 2 und NL Hueck, S. 8. An anderer Stelle verlegt er den Verkaufspreis von 43,- RM/Zentner in Hamburg auf Herbst 1928 und den Preis von 80,- RM/50 Zentner auf Ende 1926/Anfang 1927, J. K. Vietor an Ludwig Blendermann vom 5.11.1928, StAB, 7,73-24. Der Preisverfall für Kakao in Hamburg korrespondiert mit dem deutlichen Absinken der Kakaoeinfuhr Deutschlands aus der Goldküste zwischen 1928 und 1929, die um mehr als 10 % sank. Die Ausfuhrminderung nach Deutschland und andere europäische Länder konnte die Goldküste 1929 noch durch eine starke Exportausweitung in die USA kompensieren. Hier stieg die Ausfuhr von 52.737 t (1928) auf 84.946 t (1929, während sie für Deutschland, England, Frankreich und Holland jeweils um mehr als 10 % sank, Tropenpflanzer 9 (1930), S. 379.

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Jahreshälfte deutlich nieder. Zwischen 1.4.1929 und 31.7.1929 konnte die Firma zwar einen Bruttogewinn von £ 1518,- erwirtschaften, dem jedoch Geschäftskosten in Höhe von £ 1072,- sowie Zinskosten in Höhe von £ 300,- gegenüberstanden, sodass der Nettogewinn auf £ 146,- schrumpfte, was bei einem Umsatz von £ 13.300,- einer Umsatzrendite von nur 1,08 % entsprach und in Vietors Augen „natürlich viel zu wenig“ war. Er forderte seinen Sohn daher auf, die Verkaufspreise für die aus Europa eingeführten Hauptwaren Garn, Stoff, Handtücher, Tabak, Zucker, Zement und Wellbleche zu erhöhen.398 Abgesehen von der Schwierigkeit Preise zu erhöhen, während gleichzeitig die Kaufkraft der Kunden schwand, bot auch das Warenausfuhrgeschäft der Firma Nicolaus Vietor keinen Anlass zu größerer Hoffnung. In diesem Bereich hatte er bereits im abgelaufenen Geschäftsjahr 1928/29 einen Verlust von £ 99. 10.7 hinnehmen müssen.399 Hoffnungen knüpften sich dagegen an die Zusammenarbeit mit Daimler-Benz, deren Nutzfahrzeug-Vertretung Nicolaus Vietor nach langen Verhandlungen im Frühjahr 1929 erhalten hatte. Am 17.4.1929 gingen erstmals Fahrzeuge aus Gaggenau nach Accra ab und schufen die Grundlage für ein weiteres Standbein der Firma.400 War schon das Geschäftsjahr 1929 wegen der Kaufkrafteinbuße der afrikanischen Geschäftspartner schwierig gewesen, so brach es im Laufe des Jahres 1930 weiter ein und führte teilweise zu Verkaufsrückgängen bis zu 50 %, was weiter wachsende Lagerbestände und damit weiter wachsende Kosten verursachte.401 Aber auch das Einfuhrgeschäft nach Deutschland litt zusehends unter der heraufziehenden Wirtschaftskrise, da auch die Inlandsnachfrage seit 1929 spürbar nachließ. „Die Verarmung Deutschlands ist ja enorm und infolgedessen hat der Konsum in allen Sachen mächtig aufgehört.“402 Angesichts einer sich derart zuspitzenden wirtschaftlichen Gesamtlage wäre eine radikale Einschränkung des Geschäftes, die Abstoßung unrentabler Unternehmensteile, betriebsbedingte Kündigungen sowie die Einstellung des Handels mit wenig gewinnträchtigen Waren und Produkten aus kaufmännischer Sicht naheliegend gewesen. Energische Anstrengungen in diese Richtung hatte Vietor ja auch 398 Stellungnahme zu den Verkaufsstatistiken April/Juni (1929) aus Bremen (Afrika-Haus) o. D., StAB, 7,2001-1019. Vietor bezog auch den Juli 1929 in seine Stellungnahme mit ein. Diese Waren waren auch repräsentativ für die Faktoreien in Keta, Ho und Lome. Gegenüber dem Bremer Exportverein gab Vietor seine Verkaufsartikel in Afrika für 1929 wie folgt an: Blaudrucks, Purple Prints, Pink Prints, Fancy Prints, Block Prints, Plush, Kunstseide, Biscuits, Zukker, Mehl, Grey Baft, Reis, Garne, Zwirn, Laternen, Laternengläser, Towels, Corned Beef, [J. K. Vietor] an den Verein Bremer Exporteure vom 29.8.1930, StAB, 7,2001-123. 399 Die vier Hauptausfuhrgüter der Firma Nicolaus Vietor bestanden in Kakao (Verlust: von £ 108. 11. 1), Palmkernen (Verlust von £ 55. 5. 4), Rinderhäuten (Gewinn: £ 14. 9. 2) und Kolanüssen (Gewinn: £ 49. 16. 8), Gewinn- und Verlustrechnung der Firma Nicolaus Vietor, Accra 1928/29, StAB, 7,2001-1122. Während die Gewinne beim Ausfuhrgeschäft einbrachen, sank der Wert der Einfuhren von 1928 auf 1929 um 23 %, Vergleichsstatistik Goldküste 1928 und 1929, ebd. Die Verluste beim Kakaogeschäft führte J. K. Vietor auf den starken Preisverfall des Kakaos zurück, der dazu führte, dass in der Zeit zwischen dem Kauf der Ware in Afrika und dem Verkauf in Deutschland der Weltmarktpreis jeweils so stark gesunken war, dass regelmäßig Verluste gemacht wurden, J. K. Vietor an Ludwig Blendermann vom 5.11.1928, StAB, 7,73-24. 400 J. K. Vietor an Julius Nestele vom 26.3.1929, StAB, 7,73-23. 401 [J. K. Vietor] an Verein Bremer Exporteure vom 29.8.1930, StAB, 7,2001-123. 402 J. K. Vietor an Euting (Lome) vom 11.10.1929, StAB, 7,73-39.

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eingeleitet, wie seine Analyse des Accrageschäftes 1929 zeigt, bei der er für jeden Artikel exakt die Gewinnspannen nachrechnete und entsprechende Empfehlungen an seinen Sohn herausrausgab.403 Trotzdem entschied er sich Ende 1929, als die Verschärfung der Weltwirtschaftskrise nach dem schwarzen Freitag an der Wall Street am 24.10.1929 bereits unübersehbar war und die USA ihre Kredite aus Europa bereits zurückzog, gegen seine grundsätzlichen Geschäftsprinzipien zum umgekehrten Weg der Geschäftsausweitung.404 Als kleinster von drei Partnern beteiligte er sich am 30.11.1929 an der Gründung der neuen Handelsgesellschaft „Vietors Ashanti Company Ltd.“.405 Eine besondere Rolle für Vietors Entscheidung spielte die Beteiligung der Tabakbau Pflanzungsgesellschaft Kamerun AG (TBG) am neuen Unternehmen, deren Aufsichtsratsvorsitzender er seit 1923 war.406 Nach dem Krieg hatte die TBG wenig erfolgreiche Versuche unternommen in Angola, Spanisch-Muni und der Ukraine als Tabakanbauunternehmen neu Fuß zu fassen.407 Am 13.11.1925 entschloss sie sich zur Fusion mit der Bremer Tabakbaugesellschaft Bakossi und der Hamburg-Kamerun Tabakgesellschaft, um gemeinsam ein Plantagenprojekt in Malende, im englischen Teil von Kamerun, zu verwirklichen.408 Der Boden erwies sich jedoch für den Tabakbau als zu mangelhaft. Auch eine Umstel403 Stellungnahme zu den Verkaufsstatistiken April/Juni (1929) aus Bremen (Afrika-Haus) o.D., StAB, 7,2001-1019. 404 Im Begleitschreiben zu seinem Testament warnte Vietor 1926 vor möglichen Fehlern im Geschäftsaufbau. Dazu zählte er die dauerhafte Geschäftsbeteiligung von Partnern, die nicht zur Familie gehörten sowie zu große Abhängigkeiten von einzelnen Geldgebern. Er konnte nur „auf das energischste (sic) anraten, niemals von einer einzelnen Bank mehr Kredit in Anspruch [zu] nehmen, als sie in 3–6 Monaten zurück/zubezahlen (sic) wären.“ Plötzliche und sprunghafte Geschäftsausweitungen lehnte er ebenso strikt ab wie die Umwandlung der Firma in eine Aktiengesellschaft. „Lieber das Geschäft, auch bei den besten Aussichten allmählich aufbauen, als sich, verlockt durch gute Chancen, sich über seine Kraft zu engagieren“, Begleitschreiben zum Testament [1926], VPAH, Konv. 5, Mappe 5, S. 6–10. 405 Bericht von J. K. Vietor vom 1.10.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 2. 406 1923 bestand der Aufsichtsrat der TBG aus: Senator Biermann (Bremen), 1. Vors.; J. K. Vietor (Bremen), 2. Vors.; Wilhelm Kemner (Berlin), Generaldirektor; Oberstlt. a. D. Landfried (Heidelberg); Reg. assessor a. D. Wilhelm Scipio (Mannheim); Franz Thorbecke (Lindau). Die Vorstandsvorsitzenden waren Fritz Krause (Bremen) und Georg Hahn (Bremen). In der Gesellschafterversammlung vom 3.7.1923 sollte beschlossen werden, dass die Gesellschaft in Zukunft Geschäfte aller Art betreiben könne, einschließlich Handelsgeschäfte. Der vom Ausgleichsamt anerkannte Schaden für die verlorengegangen Tabakpflanzungen in Kamerun wurde auf 3.668.786 Goldmark festgesetzt, J. K. Vietor an Stuhrmann vom 25.9.1923, Anlagen zur Information über die TBG (Geschäftsbericht 1922, Einladung zur Aufsichtsratssitzung o. D., Einladung zur Gesellschafterversammlung am 3.7.1923), StAB, 7,73-10. Nach dem Tod Senator Biermanns am 16.5.1923 wurde Vietor 1. Vorsitzender des Aufsichtsrates. 407 F. W. Bitter (Verein für Wiederaufbau im Auslande e.V.) an Kolonialabteilung im AA vom 2.7.1926, BAB, R 1001-3556, Bl. 37. 408 J. K. Vietor an Claus Vietor (Sevilla) vom 12.11.1925, StAB, 7,73-25; F.W.Bitter (Verein für Wiederaufbau im Auslande e.V.) an Kolonialabteilung im AA vom 2.7.1926, BAB, R 10013556, Bl. 37. Weder die TBG noch die Bakossi-Gesellschaft konnten bei der Versteigerung in London im Dezember 1924 ihre früheren Flächen zurückerwerben, da sie im französischen Teil lagen. Ihr gemeinsamer Pflanzungsversuch in Malende am Kamerunberg erfolgte auf gepachtetem Grund, Burckhard, 1940 (wie Anm. 128), S. 96.

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lung auf Bananen- oder Apfelsinenbau erschien nicht sinnvoll.409 Angesichts der wenig aussichtsreichen Pflanzungsaussichten schlug der Hauptaktionär der TBG, Dr. Kurt Weigelt, Direktor der Deutschen Bank und führender Kolonialrevisionist der deutschen Wirtschaft, Vietor im Februar 1929 vor, das Kapital der Gesellschaft in ein neu zu gründendes Handelsunternehmen in Kumasi/Goldküste einfließen zu lassen.410 In der Folge bereitete er die Gründung der Vietors Ashanty Companie maßgeblich mit vor.411 Laut Gesellschaftsvertrag war die TBG mit einem Anteil von £ 10.000,- größter Anteilseigner, gefolgt vom Nyassa-Konsortium412 mit £ 7.500,- und der Firma J. K. Vietor ohG mit £ 5.000,-. Sitz der Gesellschaft war Kumasi. Den Vorstand bildeten Kurt Weigelt, Deutsche Bank (1. Vors.), Johannes Romeis i.Fa. Leopold Engelhard & Biermann, (Bremen) und J. K. Vietor. Die Leitung des operativen Geschäftes in der Goldküste erhielt Vietors Sohn, Claus Vietor, der Ein- und Verkauf wurde für die ersten fünf Geschäftsjahre an die Firma J. K. Vietor in Bremen übertragen, die damit auch den deutschen Geschäftssitz innehatte. Vietor erhielt das ausschließliche Einstellungsrecht für europäische Angestellte und konnte mit den ihm übertragenen Geschäftsführungskompetenzen die neue Gesellschaft faktisch wie eine eigene führen.413 Offensichtlich sah Vietor in den weitgehenden Geschäftsführungs-kompetenzen die Chance, sein eigenes bedrohtes Unter409 F/K (Afrikahaus) an die Herren Mitglieder des Aufsichtsrates der Tabakbaugesellschaft Kamerun AG und der Bremer Tabak-Baugesellschaft Bakossi AG, Herrn Hindorf (Berlin) vom 27.11.1928, StAB, 7,73-22. 410 Zu Kurt Weigelt vgl. Gall, Lothar: Die Deutsche Bank. 1870–1995. 125 Jahre Deutsche Wirtschafts- und Finanzgeschichte, München 1995, passim; Weigelt gehörte zum Hauptausschuß der DKG und den führenden Kolonialrevisionisten der deutschen Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg, Müller, Fieber 1968 (wie Anm. 10), S. 390, 399. 411 Nach den ersten Sondierungen zwischen Weigelt und Vietor wurde Weigelt am 26.6.1929 als Gast zur Aufsichtsratssitzung der TBG geladen, auf der er den Vorschlag der Gründung einer Handelsgesellschaft vorstellte. Damit befand er sich in Opposition zu Wilhelm Kemner, der die TBG in eine Zusammenarbeit mit der WAPV führen und am Plantagengeschäft festhalten wollte, Protokoll der Aufsichtsratssitzung der TBG vom 26.6.1929, StAB, 7,73-24. Nach Beschluss des Aufsichtsrates, Weigelts Vorschlag zur Beteiligung an der Vietors Ashanty Company zu folgen, kandidierte Weigelt im Dezember 1929 gegen Kemner um den stellvertretenden Vorstandsposten der TBG, TBG an J. K. Vietor vom 18.12.1929, ebd. 412 Das Nyassa-Konsortium, an dem das Deutsche Reich zu 50 % beteiligt war, war am 18.4.1914 unter Beteiligung des Auswärtigen- und des Kolonialamtes sowie mehrerer Großbanken im Zusammenhang mit den deutsch-englischen Plänen zur Aufteilung des portugiesischen Kolonialbesitztes gegründet worden, Tschapek, Rolf Peter: Bausteine eines zukünftigen deutschen Mittelafrika. Deutscher Imperialismus und die portugiesischen Kolonien (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; 77), Stuttgart, Düsseldorf 2000, S. 426. Es hatte 1914 die Aufgabe, Mehrheitsaktionär an der Nyassa Compagnie zu werden, die als Chartergesellschaft über Hoheitsrechte in Mosambik verfügte und dessen Gebiet etwa 50 % der Fläche der deutschen Interessenssphäre ausmachte, ebd., S. 209. Nach dem Krieg investierte das Nyassa-Konsortium in verschiedene Pflanzungsprojekte und schloß sich am 12.12.1932 mit der Ostafrikanischen Eisenbahngesellschaft und der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft zu einem neuen Pflanzungsunternehmen zusammen, das über 49.300 ha Land verfügte, davon 24.000 ha in Eigentum, in: Freiburger Zeitung 325 (1932), 2. Abendausgabe. 413 Vertrag zwischen den Gesellschaften Nyassa-Konsortium, Tabakbau Pflanzungsgesellschaft Kamerun AG, JKV oHG [vom 30.11.1929], BAB, R 1001-3664, Bl. 242–244.

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nehmen durch das frische Geld der neuen Gesellschaft krisenfester zu machen. Schon wenige Wochen nach Aufnahme der Geschäfte stellte der Verwaltungsrat der Vietors Ashanty Company am 14.2.1930 fest, dass Vietor einen großen Teil der Finanzen der neuen Gesellschaft in seinem eigenen Unternehmen einsetzte. Unter der Bedingung, dass er für die Verwendung dieser Mittel einen Zinssatz, der jeweils 1 % unterhalb des Reichsbank-Diskontsatzes liegen sollte, an die Ashanty Company abführte, wurde ihm das nachträglich gestattet. In welchem Umfang Vietor das Geld der Gesellschaft für sein eigenes Unternehmen einsetzte, bewies sein Minussaldo bei der Gesellschaft, der am 19.4.1930 £ 11.967,- betrug, mehr als das Doppelte seiner eigenen Einlage.414 Die Geschäftsentwicklung der Ashanty Company 1930 zeigte, dass Vietor die Kosten im Warengeschäft nicht wieder einspielen konnte, da der Umsatz insgesamt zu gering blieb. Daran konnte auch der Ende 1930 gewährte neue Exportkredit über 150.000,- RM nichts ändern, dessen Vergabe durch den Exportkredit-Ausschuss des Wirtschafts- und des Finanzministeriums in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, dem Verband Deutscher Exporteure und der Reichskreditanstalt erfolgte.415 Finanziell verschaffte der neue Kredit keinen neuen Spielraum gegenüber den anderen Partner der Vietors Ashanty Company, da mit der Gewährung des neuen Darlehens die Kündigung des ersten Exportkredites von 1927 über 200.000,- Mark einherging.416 Unterm Strich hatte Vietor durch die Ablösung des einen Kredites durch den anderen rund 50.000,- RM liquide Mittel verloren. Am 9.12.1930 musste er dem Verwaltungsrat der Vietors Ashanty Company mitteilen, „dass die Eingeborenen einen Boykott für den Kakaokauf und für die Verkäufe europäischer Waren eingeführt hätten.“417 Gerade der Boykott europäischer Waren hatte sich „einfach katastrophal auf die Umsatzziffern“ ausgewirkt und einen geschäftlichen Stillstand in den „besten Verkaufsmonate[n]“ hervorgerufen. Als Folge des Geschäftseinbruchs mussten in Bremen zum 1.1.1931 vier Mitarbeiter entlassen werden, in Accra zwei. Zwar lief der Streik der Kakaofarmer in Togo und der Goldküste, der Mitte Oktober 1930 begonnen hatte, für die Firma Vietor im Gegensatz zu den Firmen, die dem Kakaopool angeschlossen waren, zum Jahresende 1930 aus. Die Chancen, die sich ab Januar 1931 damit im Kakaogeschäft gegenüber der Konkurrenz boten, führten jedoch zu keiner wesentlichen Geschäftsbelebung.418 Vielmehr stürzte die Gesamtausfuhr Togos weiter dramatisch ab, was zu einer Fortsetzung der ökonomischen Talfahrt der Vietors Ashanty Comapanie führte, die sich in einem Verlust von £ 1.350,- allein im ersten 414 Bericht von J. K. Vietor vom 1.10.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 2. 415 Niederschrift der Sitzung des Exportkredit-Ausschusses vom 1.12.1930, BAB, R 1001-3665, Bl. 8f. Beantragt hatte Vietor 400.000,- RM. Die Firma Woermann, die 750.000,- RM beantragt hatte, bekam 350.000,- RM, die Dekage Handels–Aktien–Gesellschaft (Hamburg) 100.000 RM. 416 Vietor hatte dem Sachbearbeiter im AA, Brückner, bereits zum Zeitpunkt der Gewährung des neuen Darlehens mitgeteilt, dass der frühere Hermeskredit gekündigt worden sei und er dringend einen weiteren staatlichen Kredit benötige, was er im Juni 1931 nochmals mit Nachdruck in Erinnerung rief, J. K. Vietor an Brückner (AA) vom 2.6.1931, BAB, R 1001-3665, Bl. 10f. Brückner konnte ihm jedoch nicht helfen, Brückner an J. K. Vietor vom 9.6.1931, ebd., Bl. 12. 417 Bericht von J. K. Vietor vom 1.10.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 3. 418 Hans Heinken (Bremen) an R. Finkenstaedt (River Cross) vom 28.1.1931, VPAH.

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Quartal 1931 ausdrückte.419 Immerhin konnte Vietor seinen Negativsaldo bei der Firma bis zum 18.5.1931 auf £ 5.309,- drücken, dem noch nicht verkaufte Waren im Wert von £ 5.438,- gegenüberstanden.420 Angesichts der vollen Läger blieb ihm nichts anderes übrig, als die hohen Lagerbestände mit teilweise großen Verlusten zu verkaufen.421 Nachdem Dr. Weigelt angesichts der desolaten Geschäftslage und trotz der von Vietor angebotenen Gehaltssenkung von 20 % eine weitere Kostenminderung verlangte, schlug Vietor am 16.6.1931 eine Fusion der Vietors Ashanty Companie mit seinem Unternehmen vor. Bereits einen Tag später sandte er Weigelt einen Vertragsentwurf für eine entsprechende Fusion zu, den Weigelt zunächst jedoch dilatorisch behandelte. Mitten in die Fusionspläne hinein platzte am 22.7.1931 die Nachricht, dass die Bremer Schröder Bank, die Vietor bislang „jederzeit so viel Geld zur Verfügung gestellt hätte, als wir von ihr erbeten hätten“, im Sog der JuliBankenkrise in Deutschland in heftige Turbulenzen geraten war und die Geschäfte einstellen musste.422 Angesichts der großen Abhängigkeit Vietors von der Schröderbank, kam für Weigelt, eine „überstürzte“ Fusion nun nicht mehr in Frage. Zwar wurde die Schröderbank durch das Land Bremen übernommen und als Norddeutsche Creditbank AG weitergeführt, die neue Bankführung war jedoch nicht mehr bereit, Vietor den bislang eingeräumten nicht gesicherten unechten Rembourskredit über 600.000,- RM zum Warenankauf in Afrika zur Verfügung zu stellen, vielmehr war mit einer baldigen Rückforderung zu rechnen. Auch in Hamburg konnte Vietor keinen neuen Kredit mehr bekommen.423 Als Anfang September 1931 auch die Banque française de l’Afrique wegen Zahlungsunfähigkeit ihren Betrieb einstellen musste, löste das eine Panikaktion bei den afrikanischen Kunden Vietors aus, die bei ihm eine Summe von zusammengerechnet rund £ 10.000,- angelegt hatten.424 Sie forderten jetzt in einem Ansturm auf die Schalter ihr Geld zurück, woraufhin die Bremer Faktorei innerhalb weniger Tage etwa £ 5.000,- auszahlen musste und daraufhin nicht mehr liquide war, Waren für die neue Saison einzukaufen.425 Damit war die Firma Vietor völlig unbeweglich geworden und konnte ohne frisches Geld 419 Der Wert der Gesamtausfuhren Togos sank von 79,5 Mio. Frs. (1930) auf 48.6 Mio. Frs. (1931), um 1932 nochmals auf 28,5 Mio. Frs. abzusinken. Dem stand ein ähnlich verheerender Einbruch bei den Einfuhren gegenüber, Bericht über das Vereinsjahr des VWK 1932, AHKH, V 54, Bl. 65a. 420 Bericht von J. K. Vietor vom 1.10.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 3. 421 Heymann an die Herren Gläubiger der Firma J. K. Vietor vom 29.9.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 3; J. K. Vietor an Präses der Handelskammer Bremen vom 8.10.1931, StAB, 7,73-55. 422 Bericht von J. K. Vietor vom 1.10.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 3f. 423 Dr. Faber über die Lage der Fa. I. K. Vietor vom 29.8.1931, VPAH, Konv. 5. 424 J. K. Vietor an Präses der Handelskammer Bremen vom 8.10.1931, StAB, 7,73-55. Neben Afrikanern hatte auch die Ewhe Presbyterian Church, die Nachfolgerin der NMG in englischen Teil von Togo, Fond-Einlagen für Lehrer-Pensionen und Betriebsfonds in Höhe von £ 4.000.in der Bremer Faktorei angelegt. Die Banque française de l’Afrique wurde nach dem Zusammenbruch 1931 mit Unterstützung des französischen Staates von der Banque de l’AfriqueOccidentale übernommen, vgl. Alibert, Jacques: De la vie coloniale au défi international, Paris 1983, S. 48–53, 88–97. 425 Heymann an die Herren Gläubiger der Firma J. K. Vietor vom 29.9.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 4; Bericht von J. K. Vietor vom 1.10.1931, VPAH, ebd., S. 5.

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weder der Vietors Ashanty Companie Sicherheiten für die über 220.000,- RM bieten, die sie ihr schuldete, noch den über 100 weiteren Einzelgläubigern, deren Gesamtforderung sich auf rund 1 Million RM belief.426 Ende 1930 hatte die Höhe der Gesamtschulden erst etwa 400.000,- RM betragen.427 Vietors Forderung nach einer in dieser Lage mit „grösster Beschleunigung“ voranzutreibenden Fusion traf bei Weigelt auf kein Verständnis. Das Verhältnis zwischen ihm und Weigelt kühlte sich daher in der Folge zunehmend ab, bis hin zur völligen Gesprächsverweigerung Weigelts.428 „Ich kann es nicht recht finden, dass Herr Dr. Weigelt dieses absolut nicht vorherzusehende Unglück so aufgebracht hat. Ich habe ihm alle Nachrichten, so unangenehm sie auch waren, postwendend mitgeteilt und immer wieder um eine Aussprache gebeten. Wären diese Unglücksfälle nicht dazu gekommen, wäre unser Geschäft so flott weiter gelaufen wie bisher.“429

Da mit einem Entgegenkommen Weigelts oder der Deutschen Bank nicht zu rechnen war, wandte sich Vietor zunächst mit einem erneuten Darlehensgesuch an die Kolonialabteilung.430 Parallel dazu startete er eine private Initiative bei Geschäftsfreunden. Sein Ziel war es, auf diese Weise etwa zehn Unterstützer zu gewinnen, die ihm jeweils 20.000,- RM liehen oder mit dem Geld in die Firma einstiegen, um somit für Banken wieder kreditwürdig zu werden. Eine Zusage über 50.000,- RM hatte er bereits erhalten.431 Das reichte aber nicht, um eine Wende herbeizuführen, ein Konkurs oder zumindest ein Vergleich war nicht mehr abzuwenden. Das Verfahren war bereits Ende September 1931 der Bremer Rechtsanwaltskanzlei Wilhelm Heymann übertragen worden. Während die Verhandlungen und Sondierungen mit den meisten Gläubigern durchaus hoffnungsvoll schienen, verhinderte die Op426 Die Liste der Gläubiger zählt insgesamt 118 Unternehmen, Lieferanten und Banken auf, die zusammen eine Gesamtforderung von 1.002.991,68 RM gegen Vietor hatten. Davon entfielen auf die Vietors Ashanty Company 217.987,75 RM und auf die Schröder Bank 208.594,60 RM, Gläubigerliste, VPAH, Konv. 5, Mappe 10. 427 J. K. Vietor an Claus Vietor (Accra) vom 22.12.1930, VPAH. Vietor muß sich in dem Brief gegen Kritik seines Sohnes zu Wehr setzen, der ihm vorwarf, nicht genügend für die Kreditbeschaffung zu tun: „Jetzt weißt du, wie ich in der unangenehmsten Weise mich geschunden habe um lappige paar (sic) 100000 RM zu pumpen und überall abgelaufen bin. Du weißt, was ich für Unannehmlichkeiten mit den Banken gehabt habe, die in der rücksichtslosesten Weise mit mir umgegangen sind, nur als sie sahen, daß wir momentan festsaßen [...] 400000 RM Schulden sind für unser Geschäft in normalen Zeiten ein Pappenspiel, nur Heute, und besonders bei unserer Weltkrise drücken sie so.“ Aufgrund der Unstimmigkeiten und der bedrohlichen Lage wollte Vietor im neuen Jahr für wenigstens ein paar Tage nach Afrika kommen, um alle Mitarbeiter richtig einzuweisen. 428 Wegen der Gesprächsverweigerung Weigelts bat Vietor den Präses des Norddeutschen Lloyd schließlich um Vermittlung, was jedoch keine Annäherung brachte, J. K. Vietor an Heinecken vom 28.11.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10. 429 Bericht von J. K. Vietor vom 1.10.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10, S. 7. 430 J. K. Vietor an Präses der Handelskammer Bremen vom 8.10.1931, StAB, 7,73-55. Vietor bat gleichzeitig die Bremer Handelskammer um Unterstützung seines Gesuches bei der Kolonialabteilung. 431 J. K. Vietor an Direktor Dreesen (Husum) vom 31.10.1931, StAB, 7,73-55. Vietor spricht Dreesen im Brief mit Walter an, was darauf hinweist, dass er sich mit der Initiative an persönliche Freunde wandte.

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position des Hauptgläubigers, der Vietors Ashanty Companie, vertreten durch Dr. Weigelt, eine glimpfliche Lösung, die eine Weiterarbeit Vietors möglich gemacht hätte. Für Weigelt gab es nur eine Lösung ohne J. K. Vietor, mit dem er keinesfalls mehr zusammenarbeiten wollte. Anfang November 1931 schlug Weigelt als Ausgleich für seine Forderungen die Übernahme der beiden Firmen Nicolaus Vietor in Accra und der Bremer Faktorei Ltd. in Togo und der Goldküste vor. In Bremen sollte ein Im- und Exportbüro der Ashanti Company eröffnet werden, das die bisherige Kommissionsarbeit der Firma J. K. Vietor übernehmen sollte. Damit wäre Vietor von einer zukünftigen geschäftlichen Beteiligung vollständig ausgeschlossen worden. Während Vietor der Übergabe der beiden Vietorfirmen an die Ashanty Company zustimmte, bestand er jedoch darauf, den kommissarischen Ein- und Verkauf für die Ashanty Company in Bremen sowie die Leitung des gesamten Unternehmens zu behalten. Wegen der großen Erfahrung wäre die Belassung der Verantwortung bei ihm und Freese auch von Vorteil für die Ashanty Companie. Um seine und Freeses Weiterbeschäftigung zu erleichtern, bot er äußerste Sparsamkeit in der Geschäftsführung und eine moderate Entlohnung an.432 Dieses Gegenangebot lehnte die Ashanty Companie postwendend ab und plädierte nunmehr für einen Konkurs der Firma Vietor, was selbst Dr. Heymann dazu bewog, nochmals auf die nicht von Vietor zu verantwortenden Schicksalsschläge hinzuweisen. „Mir scheint, daß man doch den Bremer Herren nicht so sehr viele Schuld an dem Zusammenbruch beimessen kann, vielmehr in grossem Umfange die Verluste bei J. K. Vietor auf die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse zurückführen muss. Man sieht dies ja bei allen diesjährigen Abschlüssen der Kolonialgesellschaften. Das Unternehmen des Herrn Kemner sowohl wie die Togo-Gesellschaft und andere haben ja erschütternde Verluste auszuweisen [..] Aus diesen Gründen halte ich immer noch die Gründung einer kleinen J. K. Vietor G.mb.H., der das Management der Ashanti Co. Ltd. wie bislang zu übertragen wäre, für richtig.“433

Obwohl alle anderen Gläubiger einer entsprechenden Lösung zustimmten, blockierte Weigelt diesen Ansatz auch weiterhin und bestand auf dem Ausscheiden Vietors und der Ablösung seiner Firma. Er erklärte sich aber einverstanden, Freese als Geschäftsführer der neu zu gründenden Im- und Exportfirma der Ashanty Companie in Bremen zu übernehmen.434 Da Vietor keine weiteren Druckmittel in der Hand hatte und darüber hinaus am 3.12.1931 einen Schlaganfall erlitt,435 konnte ein Konkurs zwar abgewendet werden, der am 12.1.1932 abgeschlossene Vergleich folgte jedoch im Wesentlichen den bereits Anfang November von der Ashanty 432 Bremer Vorschlag vom 13.11.1931 (von J. K. Vietor), VPAH, S. 1–4. 433 Heymann an Direktor Dr. Weigelt (Berlin) vom 17.11.1931, VPAH, S. 2. 434 Protokoll der Besprechung in der Deutschen Bank in Berlin am Montag, den 28.12.1931, VPAH, Konv. 5, Mappe 10. An der Besprechung, an der Freese ebenfalls teilnahm, wurde dieser zu einem der Direktoren der Ashanty Companie berufen, die Belegschaft der alten Firma J. K. Vietor für die neu zu gründende Niederlassung der Ashanty Companie in Bremen übernommen, Euting dagegen, der verantwortliche Leiter der Firma Vietor in Keta, Lome und Ho wurde entlassen. 435 Freese an E. O. Hueck vom 4.12.1931, StAB, 7,73-55. Vietor hatte demnach am Morgen des 3.12.1931 einen leichten Schlaganfall erlitten, der zu Sprachausfällen und Bewegungseinschränkungen der rechten Hand führte. Er konnte daher an den folgenden Gläubigerversammlungen nicht persönlich teilnehmen.

Neuaufbau des Kolonialhandels und Untergang der Firma

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Companie skizzierten Bedingungen.436 Der Ashanty Companie, die auch Nicolaus Vietor in Accra übernommen hatte, war jedoch kein langes Überleben beschieden. Angesichts der weiterhin desaströsen wirtschaftlichen Lage, entschied sich die Geschäftsführung im Herbst 1932 zu einer abrupten Liquidierung.437 Mit dem Vergleich war nicht nur das Ende der seit 125 Jahren in Bremen ansässigen Firma Vietor besiegelt, sondern er führte auch zu einem fast vollständigen Verlust allen Vermögens J. K. Vietors. Zwar hatte er bereits frühzeitig die Immobilien am Osterdeich (Bremen) und in Hude sowie das Grundstück in der Vahr (Bremen) seiner Frau überschrieben, den juristischen Vorteil für den Fall eines Konkurses oder Vergleichs jedoch dadurch wieder aufgehoben, dass er dieses Eigentum für seine Firma hoch belastet hatte. Das Haus am Osterdeich, das einem Buchwert von 85.000,- RM entsprach, aber im Falle eines Verkaufs nicht mehr als 35.000,- bis 40.000,- RM eingebracht hätte, war mit 55.000,- RM belastet, das Huder Grashaus, das im Verkaufsfall nicht mehr als 15.000,- RM versprach, mit 40.000,- RM. Die Rechtslage des Grundstücks an der Vahr war unklar. Es war im Zusammenhang mit dem Wiederaufbaudarlehen des Reichsentschädigungsamtes über 74.000,- RM 1925 belastet worden. Ob diese Hypothek im Zusammenhang mit der Umwandlung der Exportkredite des Auswärtigen Amtes in Entschädigungen verfallen war, blieb zunächst ungeklärt. De facto konnte Vietor aber nur noch als Eigentümer eines Teils des Mobiliars in den Häusern am Osterdeich und in Hude gelten.438 Da Vietor durch den Vergleich nicht nur sein Vermögen verloren hatte, sondern auch sein Betätigungsfeld, erlebte er sein Dasein nunmehr nur noch als reines „Vegetieren“, es kam ihm sinn- und inhaltslos vor.439 Nur zweieinhalb Jahre nach dem Vergleich und seinem Schlaganfall verstarb er am 17.5.1934.

436 Heymann an die Herren Gläubiger der Firma J. K. Vietor vom 5.4.1932, VPAH, Konv. 5, Mappe 10. 437 Hans Heinken (Bremen) an W. Peters (Accra) vom 23.11.1932, VPAH. 438 Wilhelm Carstens an Dr. Otto Hueck vom 4.6.1932, VPAH. 439 Claus Vietor (Accra) an J. K. Vietor vom 12.2.1932, VPAH, Geschäftsbriefe 1931–1934, Mappe 1.

SCHLUSSBETRACHTUNG Aus dem bürgerlichen Lager ragt Vietor vor dem Ersten Weltkrieg als führender Vertreter einer progressiven, reformistischen Kolonialpolitik hervor, die seit der Jahrhundertwende von Bodenreformern, protestantischen Missionsgesellschaften und überwiegend in ökonomischen Kategorien denkenden Kaufleuten entwickelt wurde. Weder hier noch in anderen Politikfeldern entwickelte er dabei eigenständige Gedanken, die er innovativ in den öffentlichen Diskurs einbrachte, Bedeutung erlangte er vielmehr in seiner Funktion als öffentlichkeitswirksame Stimme seiner ideelen und politischen Netzwerke. In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende fand er besonders im Kolonialrat eine Bühne, um seine kolonialpolitischen Reformimpulse an entscheidender Stelle zu vertreten. Zwar blieben die praktischen Konsequenzen seiner Bemühungen im Kolonialrat angesichts der sich zunehmend versteifenden Pattsituation zwischen Reformern und Anhängern einer kapitalistischen, sozialdarwinistisch orientierten Kolonialpolitik unbedeutend, stellten faktisch aber das Grundgerüst dar, auf dem Bernhard Dernburg ab Herbst 1906 seine kolonialpolitischen Reformen aufbaute. Besonders deutlich wird das an Dernburgs Credo von der afrikanischen Bevölkerung als wichtigstem Aktivum der Schutzgebiete, ein Standpunkt, den Vietor seit Jahren vertreten hatte. Auch Dernburgs Übernahme prohibitiver Überzeugungen in Bezug auf die Branntweinfrage trägt den Stempel vietorschen Einflusses, auch wenn es nach 1906 angesichts der Blockadehaltung Frankreichs zu keiner Heraufsetzung international vereinbarter Zollsätze vor dem Krieg mehr kam. Wenngleich Vietor größere Erfolge im Kolonialrat weitgehend versagt blieben, sind die Maßnahmen der Kolonialverwaltung gegenüber den Kameruner Konzessionsgesellschaften GSK und GNWK ohne die entsprechenden, anhaltenden Bemühungen von ihm und seinen Gesinnungsgenossen kaum denkbar. In ähnlichem Maße gilt das für den Kampf gegen den umfangreichen Landbesitz der DTG in Togo, der dadurch erleichtert wurde, dass sowohl Graf Zech als auch Rudolf Asmis für eine restriktive Gangart gewonnen werden konnten. Einen weiteren Erfolg von Vietors kolonialpolitischer Arbeit im und außerhalb des Kolonialrats stellen die nach 1905 größer werdenden Reservate für die afrikanische Bevölkerung in den Plantagengebieten Kameruns dar. Der auch von Vietor mitgetragenen Opposition gegen die Eisenbahnvorlage in Kamerun (Nordbahn) war dagegen nur ein vorübergehender Erfolg beschieden, nicht zuletzt wegen des Rückzuges der Basler Mission aus der Koalition gegen die Vorlage. Wie stark Vietors Handeln von einem christlichen Weltbild intendiert war, zeigen besonders die Auseinandersetzungen der kolonialpolitischen Debatte 1913/14, als sich Vietors Allianz mit marktorientierten Kaufleuten und Basler Mission vor dem Hintergrund der amtlichen Arbeiteranwerbung in Kamerun auflöste. Während die Gruppe der Kaufleute angesichts der geschickten Diskussionsführung der Pflanzerlobby und dem Druck Wilhelm Solfs sowie Karl Ebermaiers ihren Widerstand

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Schlussbetrachtung

gegen amtliche Anwerbungen aufgab, blieb die Basler Mission in einer defensiven Haltung, um ihre Ziele in der Sprachenfrage nicht zu gefährden. An der daraufhin eintretenden Isolierung Vietors wird deutlich, dass er einerseits lauter als die Missionen selbst deren humanitäre Gravamina vertrat und die Begründung seiner kolonial-politischen Ziele weit über rein ökonomische Gesichtspunkte hinausging. Muss für die Zeit vor der Jahrhundertwende insbesondere Franz Michael Zahn, Missionsinspektor der NMG, als treibende Kraft einer auf den Schutz der indigenen Bevölkerung zielenden Koalition kolonialpolitisch engagierter Kreise, vornehmlich der protestantischen Missionen, gelten, übernahm Vietor nach der Jahrhundertwende diese führende Rolle. Bereits in der ersten Debatte um Missstände bei der Arbeiteranwerbung für die neu entstandenen Plantagen in Kamerun um die Jahrhundertwende, zeigt sich Vietor als treibende Kraft der maßgeblich von der Basler Mission getragenen Beschwerden. Wiederholt forderte er zuverlässiges und aktuelles Informationsmaterial aus Basel an, aber auch von verschiedenen Handelsfirmen und verwertete sie in öffentlichen Vorträgen und ab 1901 auch im Kolonialrat. Die Resolution der Anfang Februar 1902 tagendenden Sächsischen Provinzial-Missionskonferenz in Halle zum Schutz der indigenen Völker ging bereits maßgeblich auf Vietors Initiative zurück. In der Folgezeit übernahm er immer mehr die Position des Sprechers in Bezug auf Anliegen der protestantischen Mission, was im Falle der Basler Missionsgesellschaft zu einem fortschreitenden Rückzug aus öffentlichen Debatten führte und schließlich zu einer nur noch begrenzten Weitergabe von Informationen und Berichten an Vietor. Berücksichtigt man das Engagement in der Antialkoholbewegung, der Bodenreform-bewegung, der CSP und dem DEVB wird klar, dass in Vietor in erster Linie ein politisch denkender Mann begegnet und erst in zweiter Linie ein rein gewinnorientierter Geschäftsmann. Seine von ihm vertretenen Ansichten stellten häufig Minderheitenpositionen dar oder standen im Gegensatz zur politischen Correctness seines Standes. Sie forderten wiederholt den Verzicht auf gesellschaftliche oder materielle Vorteile, etwa die Beteiligung am gewinnträchtigen Branntweingeschäft oder die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat des Norddeutschen Lloyd, der ihm neben einer ansehnlichen Tantieme wichtige Kontakte zu führenden Vertretern der Wirtschaft sowie höchsten Würdenträgern des Reiches bis hin zum Kaiser einbrachte. Vietors ideologisch-weltanschaulichen Grundantrieb illustrieren auch seine häufigen Interventionen in humanitären Fragen „on the spot“, die ihm mitunter härteste Kritik der Konkurrenz sowie des kolonialen Beamtenapparates einbrachten. Sein freier und unkomplizierter Umgang mit der afrikanischen Bevölkerung blieb für seinen Stand singulär und dürfte selbst im Vergleich mit den britischen Besitzungen Afrikas eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit darstellen. In der Priorisierung politischer und überweltlicher Perspektiven steht er in ungebrochener Kontinuität zur kämpferischen Tradition seines reformiert–pietistischen Elternhauses. Bereits sein Vater und dessen Brüder Carl, Gottfried und Friedrich Martin hatten sich in der Revolutionszeit 1848/49 zur Minderheit der „äußersten Rechten“ gehalten, die in ihrem Kampf gegen Liberalismus und Emanzipation der Juden bis vor den Frankfurter Bundestag zogen. Zehn Jahre später führte sein Vater als führender Vertreter positiver Kreise der Evangelischen Kirche einen aus-

Schlussbetrachtung

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gesprochen unpopulären Kampf gegen Begleiterscheinungen des patriotischen 2. Deutschen Schützenfestes in Bremen. Als Gründer des Bremer Kirchenblattes und Anhänger Wilhelm Hengstenbergs stand für Vietors Vater ohnehin der Kampf um das wahre Bekenntnis zeitlebens im Vordergrund seines Denkens ebenso wie das Festhalten an der Heidenmission, gleichgültig wie hoch der Blutzoll der Missionare auch war. Eine vergleichbare Orientierung an einem höheren Ziel mit der Folge eines ausgeprägten Sendungsbewusstseins mit missionarischer, volksmissionarischer und politischer Dimension kann im Leben und Wirken J. K. Vietors nicht übersehen werden. In der deutschen Innenpolitik bewegte ihn in erster Linie die soziale Frage, deren Lösung er in der Verbesserung der Lebensverhältnisse des Arbeiterstandes sah, insbesondere der Wohnraumproblematik in den Großstädten. In angemessenen Löhnen und einem fairen Umgang der Arbeitgeber mit ihren Angestellten sah er die Voraussetzung dafür, den Arbeiterstand dem Einfluss der Sozialdemokratie zu entwinden, deren praktische Anliegen er zwar häufig prinzipiell teilte, deren Systemkritik in seinen Augen jedoch die Hauptgefahr für den Bestand eines christlich verankerten und monarchisch geordneten Staatswesens darstellte. Die reformistisch-progressive Ausrichtung Vietors in Bezug auf die Kolonialpolitik wird freilich kontrastiert durch ein zumindest zwiespältiges Verhalten in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Hatte schon seine Beteiligung an der Südwestafrikanischen Schäfereigesellschaft 1903 die mangelhafte Geschlossenheit seines Leitbildes vom selbständigen afrikanischen Bauernstand deutlich gemacht, stand auch sein Aufsichtsratsmandat bei der Deutschen Tabakbaugesellschaft Kamerun in auffälligem Kontrast zu seinen Forderungen in Bezug auf Arbeitergewinnung- und behandlung in Kamerun. Eine ähnliche Spannung besteht in der Tatsache seines Aktienanteils an der Pomonamine in Südwestafrika, da der privatwirtschaftliche Betrieb der Mine im Gegensatz zu seinen bodenreformerischen Überzeugungen stand, aufgrund derer er sonst das alleinige Eigentumsrecht an Bodenschätzen für den Staat forderte und Gewinne aus deren Ausbeutung für die Allgemeinheit reklamierte. Seine Beteiligung an Kartellabsprachen im Westafrikageschäft, die in auffälligem Gegensatz zu seiner Kritik an der zunehmenden „Trustierung“ der deutschen Wirtschaft standen, war dagegen offensichtlich in erster Linie dem Druck der Konkurrenz geschuldet und stellte für ihn lediglich eine vorübergehende Notwendigkeit dar. Kann Vietor für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg trotz der genannten Einschränkungen durchaus als Vertreter eines progressiven und sozialpolitisch engagierten, wenn auch zutiefst konservativen, Bürgertums gelten, verdunkelt sich dieses Profil nach Ausbruch des Krieges zunehmend. Sowohl in der persönlichen, als auch in der politischen Entwicklung spiegeln sich in Vietors Leben die emotionalen Verzerrungen und Verhärtungen der Kriegs- und Nachkriegszeit in voller Wucht wider. Getreu dem Leitwort Bülows zu Beginn der expansiven Weltmachtpolitik Deutschlands, man wolle niemand in den Schatten stellen, fordere aber auch seinen Platz an der Sonne,1 konnte er keine aggressive Grundhaltung der deutschen Regierung in der Vorkriegszeit erkennen und interpretierte den Ausbruch des Krieges, 1

SBR, 9. Leg. per., 5. Sess., 4. Sitzung am 6.12.1897, S. 60.

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Schlussbetrachtung

ähnlich wie der überwältigende Teil des Bürgertums, als Folge von Handelsneid und Revanchismus, insbesondere Englands und Frankreichs. In dieser Auffassung wurde er durch die Ablehnung des deutschen Friedensangebotes vom 12.12.1916 weiter bestärkt und verhärtete sich mit Abschluss des Friedensvertrages 1919 endgültig. In den Westmächten Frankreich und England konnte er in der Folge bis an sein Lebensende nichts anderes mehr sehen als „Feinde“, mit denen vertrauensvolle politische Beziehungen nicht möglich waren. Zur Tragik seines Lebens gehört, dass sich das daraus entspringende tiefe Misstrauen auch auf völlig unpolitische Vertreter dieser Nationen übertrug, ihn reflexartig auf einen rein konfrontativ angelegten Diskurs festlegte und schließlich zu seinem Austritt aus dem Vorstand der NMG führte. Gleichzeitig rutschte er politisch immer mehr in das Fahrwasser der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung, freilich ohne deren grundlegend antichristliche Tendenz zu erkennen. Am Ende seines Lebens hatten ihn der Hass gegen die „Feinde“ des Weltkrieges blind gemacht für die eigentlichen Gefahren der Gegenwart und die für christliche Lebensführung konstitutive Liebe und Vergebungsbereitschaft zunehmend in den Schatten gestellt. Die fortschreitende Entfernung vom bibeltreuen Lager aufgrund seines Rücktritts vom Vorsitz des DEVB sowie dem Austritt aus dem Vorstand der NMG dürften diese Entwicklung noch beschleunigt haben. Auch im geschäftlichen Bereich verließ Vietor durch die Verhältnisse der Nachkriegszeit gezwungen einen ausgewogenen Kurs. Mußte er bereits 1923 einräumen, seit Kriegsausbruch, „unternehmerisch gesehen „eigentlich immer an die Grenzen des Erlaubten gegangen“ zu sein,2 stürzte er sich zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, trotz stark rückläufigen Handelsvolumens in Form der Beteiligung an der Vietors Ashanty Company in eine folgenschwere Ausweitung des Umsatzes, die schließlich das Ende seiner Firma herbeiführte. Man kann daher davon sprechen, dass Vietors Leben durch Krieg und Nachkriegsordnung sowohl kaufmännisch als auch weltanschaulich gesehen, fortschreitende Spuren einer Entwurzelung aufweist, die in einer bemerkenswerten zeitlichen Parallele zu einem geistlichen, kaufmännischen und körperlichen Zusammenbruch führte, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Für die Bevölkerung Togos blieb der Name Vietor dagegen bis weit in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges ein Synonym für Anstand, humane Kolonialpolitik und christlichen Glauben. Offensichtlich wollte Emanuel Sanvee, Sohn des togoischen Vietorfreundes Robert Demetrius Sanvee, 1953 auch das deutlich machen, als er durch den Direktor der NMG, Erich Ramsauer, nach Deutschland ausrichten ließ: „J. K. Vietor lebt noch!“3 Von einer allgemeinen Bekanntheit 2 3

J. K. Vietor an Claus Vietor (Grand Bassa) vom 2.6.1923, StAB, 7,73-10, S. 1. E. Ramsauer an Hedwig Vietor vom 12.11.1952, VPAH. Das Haus Emanuel Sanvees in Anecho, in dem Ramsauer zu Besuch gewesen war, trug den Namen „Villa Vietor“. Nicht nur im Gedächtnis der Familie Sanvee war J. K. Vietor in den 1950er Jahren in Togo weiterhin lebendig. Am 16.1.1953 berichteten sowohl der Weser Kurier als auch die Bremer Nachrichten über einen Ende 1952 eingegangenen Briefs des früheren togoischen Vietor-Mitarbeiters Michael H. Amavi an Familie Vietor. Amavi hatte den Brief „aufs Geratewohl“ nach Bremen geschickt, ohne eine Adresse der Familie zu haben. Darin berichtete er davon, dass Vietor noch fast 40

Schlussbetrachtung

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Vietors in Togo kann heute dagegen keine Rede mehr sein. Zwar heißt die togoische Ortschaft Sigbehoe im Volksmund nach wie vor „Vito Condji“ (Dorf von Vietor),4 von einer lebendigen Erinnerungskultur an den Träger des Namens kann jedoch nicht gesprochen werden. Im Februar 2010 verfügten selbst in der Familie Sanvee nur noch zwei Enkeltöchter Robert Sanvees, beide bereits weit über 80 Jahre, über konkretere Erinnerungen an Vietor, die aus Erzählungen in ihrer Kindheit stammten und Vietor in erster Linie als Freund und Beschützer der Einheimischen, als bedeutenden Kaufmann und einflussreichen und gläubigen Mann der Mission porträtieren.5 Mit dem Tod der Enkelgeneration und dem Abriss der „Villa Vietor“ im Zusammenhang mit dem Ausbau der Grenzanlagen zum heutigen Benin dürften jedoch auch diese letzten Reste der familiären und streckenweise volkstümlichen Erinnerung an Vietor verlorengehen.6 Sie bezeugen jedoch bis heute den nicht zu unterschätzenden Anteil Vietors daran, dass die deutsche Kolonialpolitik in Togo vergleichsweise friedlich und ruhig verlief und von Unruhen wie in Südwest- und Ostafrika verschont blieb. Dabei spielten seine persönlichen Kontakte zu den jeweiligen Gouverneuren eine wichtige Rolle. Abgesehen von August Köhler (1895– 1902), der sich im Zusammenhang mit Vietors Bemühungen für höhere Branntweinzölle gegen ihn stellte, verfügte Vietor seit Ernst Falkental (1885–1887) in der Regel über offene und belastbare Beziehungen zu den Gouverneuren Togos, was ihm nicht zu unterschätzende Einwirkungsmöglichkeiten direkt vor Ort bot. Durch sein weitverzweigtes Filialnetz und die enge Kooperation mit der NMG verfügte er darüber hinaus über vielfältige Informationsquellen, die ihm staatliche und privatwirtschaftliche Übergriffe auf die einheimische Bevölkerung oder deren Übervorteilung zeitnah meldeten und seinen Ruf als Anwalt der indigenen Bevölkerung begründeten.

4 5 6

Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Erinnerung seiner früheren Mitarbeiter und deren Familien weiterlebte. Auch Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg-Schwerin, der letzte deutsche Gouverneur von Togo, berichtete 1952 in einem Brief an Vietors Witwe von Nachfragen aus Togo in Bezug auf die Firma Vietor, deren Name früher „eine solch bedeutende Rolle“ gespielt hatte, Mecklenburg an Hedwig Vietor vom 15.10.1952, VPAH. Nach schriftlicher Angabe von Frau Regina Wooley-Lawson vom Februar 2010. Frau WooleyLawson ist eine Enkelin Robert Demetrius Sanvees und wurde am 12.1.1921 in Anecho geboren. Bei den Enkelinnen handelt es sich um Frau Regina-Wooley-Lawson, mit der ich am 20.2.2010 ein Interview in Lomé führte und Frau Mémé Ahlonkoba Sanvee, geboren am 6.10.1928 in Kpalime, mit der ich am 23.2.2010 ein Interview in Lomé führte. In der „Villa“ hing bis zur Ausräumung des Gebäudes 2009 auch ein Bild von Vietor.

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS VERZEICHNIS DER ARCHIVALIEN Bundesarchiv Berlin (BAB) Bestand R 1001: Akten des Reichskolonialamtes 3218:

Land- und Grundstückserwerbungen sowie Schaffung von Kronland in Togo. Allgemeines (1887–1910) 3223: Die Arbeiterfragen in den westafrikanischen deutschen Schutzgebieten 3225: Die Arbeiterfrage in den deutschen Schutzgebieten 3339: Forschungsreisen des Stabsarztes Dr. L. Wolf und Errichtung einer wissenschaftlichen Station im Togogebiet 3414: Akten betreffend Verein westafrikanischer Kaufleute, jetzt: Afrika–Verein HamburgBremen e. V. (Juli 1902 – Mai 1937) 3417: Vereinigung Kameruner Pflanzungen. Verband der Kamerun- und Togopflanzungen. Verein der Togokaufleute (1907–1916) 3418: Verein der Nord- und Mittelkamerun-Kaufleute (1913–1920) 3419: Vereinigung für Arbeiterbeschaffung in Kamerun (1913–1914) 3420: Vereinigung Kameruner Pflanzungen 3555: Deutsche Tabakbaugesellschaft Kamerun m. b. H. 3556: Tabakbau- und Pflanzungsgesellschaft Kamerun AG 3632: Handels- und Erwerbsgesellschaften in Togo (1887–1909) 3640-6: Pflanzungsgesellschaft Kpeme in Togo (1929–1934) 3642: Deutsche Togogesellschaft (März 1902 – Februar 1904) 3643: Deutsche Togogesellschaft (März 1904 – Dezember 1905) 3644: Deutsche Togogesellschaft (Januar 1906 – September 1907) 3645: Deutsche Togogesellschaft (Oktober 1907 – Februar 1909) 3646: Deutsche Togogesellschaft (Februar 1909 – September 1910) 3647: Deutsche Togogesellschaft (August 1910 – Oktober 1912) 3664: Akten betreffend J. K. Vietor in Bremen (1925–1930) 3829: Handel im Togogebiet (Allgemeines) (1885–1891) 3830: Handel im Togogebiet (1891–1896) 3831: Handel im Togogebiet (1896–1900) 3838: Maßnahmen im Interesse des Kameruner Kautschukhandels 3940-6: Krieg in Togo 1914–1918 (1915–1916) 4086: Sklavenhandel in Togo (1889–1906) 4097: Die direkten Steuern im Togogebiet (1892–1913) 4099: Einführung einer Firmensteuer im Togogebiet (1890–1904) 4487: Zollwesen in Togo (1894–1900) 6438: Deutsch-Westafrikanische Bank 1907 6439: Deutsch-Westafrikanische Bank 1908 6728: Verschiedene Vereine und Vereinigungen 6834: Branntweinhandel (1896–1899) 6841: Verhandlungen in Brüssel wegen Branntwein (1900–1906) 6843: Verhandlungen in Brüssel wegen Branntwein (1906)

572 6980: 6982: 6983: 6985: 6987: 6990: 6992: 6993: 6994: 6996: 6997: 7009: 7057: 7061: 7982: 8064: 8065: 8066: 8067: 8221: 8222:

Quellen- und Literaturverzeichnis Kolonialrat (ausführliches Sitzungs-Protokoll 1. Juli 1904) Kolonialrat (ausführliches Sitzungs-Protokoll Juni 1905) Kolonialrat (ausführliches Sitzungs-Protokoll 30. Juni 1905, nachm., 4. Sitzung) Kolonialrat (ausführliches Sitzungs-Protokoll Juni 1906) Kolonialrat 1891–1892 Kolonialrat 1898 Kolonialrat 1901–1902 Kolonialrat 1901–1904 Kolonialrat 1905–1906 Eingaben an Kolonialrat 1898 Briefverkehr nach Auflösung des Kolonialrats 1908 Kolonialkongress 1924 Friedensverhandlungen Einsetzung einer Kommission für Kriegsübergangsfragen Ölpalmen in Togo 1902–1913 Tabakbau in Kamerun Verband Kameruner Tabakpflanzungen Kaffee in Togo (l894–1898) Kakao in Togo (1902–1926) Baumwolle in Togo (1889–1930) Baumwolle in Togo (1889–1930)

NL Mumm (N 2203) 1: 2: 31: 32: 65: 696:

Gesammelte Materialien (1906–1907) Gesammelte Materialien (1904–1908) Korrespondenz und Zusammenarbeit mit Regierungsstellen, Parteien, Vereinen, Verbänden, kirchlichen Würdenträgern und Privatpersonen (1914–1918) Korrespondenz und Zusammenarbeit mit Regierungsstellen, Parteien, Vereinen, Verbänden, kirchlichen Würdenträgern und Privatpersonen (1914–1918) Gesammelte Materialien, Zeitungsausschnitte (1904–1909) Druckschriften und Bücher (1898–1932)

NL Graf Pfeil ( N 2225) 17: 19:

Schriftwechsel, Protokolle, Konzessionsvertrag der Afrikanischen Kompanie (1912–1914) Schriftwechsel 1892–1904, Unterlagen zur Landkommission der DKG 1903–05

Archives Nationales du Togo, Lomé (ANT) Bestand R 150: Fonds Allemand FA 1/88: FA 1/161: FA 1/638: FA 3/307:

Aufzeichnung über die Besprechung mit den Herren Chefs der Togofirmen vom 10.4.1908 Verordnung betr. die Einsetzung eines Verwaltungsrates im Togogebiet Berufungssache Paul gegen d’Almeida 1908 Verzeichnis der zur Einkommenssteuer heranzuziehenden Eingeborenen (sic) nach der Aufnahme im Juli 1908

Verzeichnis der Archivalien

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Staatsarchiv Bremen (StAB) Bestand 7,1025: Norddeutsche Missionsgesellschaft 16/3: 45/2: 45/4: 51/2: 90/7: 96/2: 96/3: 98/1: 99/1:

Briefe aus Quidah (1891–1898) Erwerb von Grundstücken in Togo (1902–1908) Koloniales. Verhandlungen Vietor–Hupfeld. Landfrage in Togo. Landerwerb. Verschiedenes Branntwein-Handel in Afrika II (1888–1899) Geschäfts-Ausschuss-Sitzungen (1923–1926) Briefverkehr mit der Basler Mission (Basel II) (1896–1936) Fortsetzung der Missionsarbeit der NMG in Togo durch die Sociéte des Missions Evangéliques in Paris I (1922–1929) Kaiserliche Regierung in Togo (1885–1913) Koloniales, Pressestimmen, Polemik

Bibliotheksbestand 872 Za: NM 2242: NM 2458: NM 3200a:

Jahresberichte 1889–1920 Flugschriften der Hanseatisch-Oldenburgischen Missionskonferenz Bremer Missionsschriften (Heft 31–39) Monatsblätter der NMG (MB)

Bestand 7,2001: Afrikahaus J. K. Vietor 2: 3: 4: 5: 9: 10: 13: 27: 28: 38: 123: 1019: 1122: 1149:

Gesellschafterverträge mit O. Lohmann, N. Freese, N. Vietor (1912–1928) Briefeingänge von Karl Rieke / Las Palmas Quidah-/Togo-Warenabkommen der deutschen Firmen in Westafrika (1914–1923/1931) Geschäftspapiere Goldküste (1) Zivilprozeß R. Hoffmann & Co. ./. J. K.Vietor betr. Fa. Augener & Mau (1911–1921) Anecho: Bilanzen, Hauptbuchabstimmungen (1911–1912) Schriftwechsel im Zusammenhang mit Geschäftsliquidation Lome, Palime (1914–1916) Gesamtentschädigung Westafrika (1914–1920) Entschädigung und Statistik der Nothafen-Ladungen (1914–1919) Entschädigung Hans Weber Guinée Francaise Verein Bremer Exporteure (1928–1932) Gesamt–Afrika–Geschäft, Bd. 1 (1920–1930) Personalangelegenheiten, Personallisten (1922–1931) Hauptbuch (Cassa Konto)

Bestand 7,2018: Siedlungsgesellschaft „Neuland“ Bestand 7,2019: Deutsch–Spanische Handelsgesellschaft mbH Bestand 7,2016: Togo Baumwollgesellschaft m.b.H.; Togo Palmölwerk G.m.b.H. 9:

Aufsichtsratssitzungen und Geschäftsberichte der TBG (1905–1921)

Bestand 7,2020: Joao de Freitas Martins GmbH Bestand 7,73: J. K. Vietor, Afrikakaufmann (1861–1934)

574

Quellen- und Literaturverzeichnis

Halbprivater Briefverkehr 1: 2:

1925–1926 (u.a. Briefverkehr im Zusammenhang mit der „Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Urbarmachung und Siedlung“) 1927–1928 (überwiegend geschäftlicher Briefverkehr C. Freeses)

Privater Briefverkehr (1920–1931) 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13: 14: 15: 16: 17: 18: 19: 20: 21: 22: 23: 24: 25: 41: 42: 55:

1920 1920 1921 1921–1922 1921–1922 1922 1922 1923–1924 1923–1924 1924 1924 1924 1925 1925 1925–1926 1926 1926 1926–1927 1927 1928 1929 1929–1930 Briefverkehr mit Claus Vietor (1924–1926) Briefverkehr im Zusammenhang mit dem DEVB (1925–1926) Mitgliedschaften in Vereinen Briefverkehr im Zusammenhang mit Firmenkrise und Vergleichsverfahren (1930–1931)

Kopierbücher des privaten Schriftverkehres (1910–1914, 1917–1918) 46: 49: 50: 51: 52: 53:

Januar 1917 – September 1918 Christlich–sozial (Briefverkehr in Parteiangelegenheiten der CSP 1910–1913) Januar 1912 – April 1913 April 1913 – Oktober 1913 Oktober 1913 – Januar 1914 Januar 1914 – April 1914

Bibliotheksbestand Za-1104 a: Jahresbericht des Vorstandes der Abt. Bremen der DKG für das Jahr 1910

Archiv der Basler Mission, Basel (ABM) D-1,76: D-1,85:

Goldküste Generalausschuss und Ghana Distrikte 1902 Goldküste Generalausschuss und Ghana Distrikte 1906

Verzeichnis der Archivalien E-2,13: E-2,14: E-2,19: E-2,20b: E-2,39: E-2,41: Q 3-4,49: Q 3-4,50: Q 3-4,51:

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Kamerun 1900 Kamerun 1901 Kamerun Ausschuss und Protokoll der Brüderkonferenz 1905, Teil 1 Kamerun Ausschuss und Protokoll der Brüderkonferenz 1905, Teil 2 Kamerun 1913, Teil 2 Generalausschuss 1914, Teil 1 Gemischte Briefe 1901–1908, O–Z Gemischte Briefe 1909–1913, A–O und P–Z Gemischte Briefe 1914–1918, A–W

Archiv der Handelskammer Bremen (AHKB) Akte: J. K. Vietor, 900001, K 29 Akte: Ko 1 (Kolonisation, Allg. 1849–1893)

Archiv der Handelskammer Hamburg (AHKH) V 54: Verein Westafrikanischer Kaufleute

Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (StuUB) 33.c.489: Satzungen und Erstes Mitgliederverzeichnis der Abt. Bremen der DKG 1899 Brem.c.619 Nr.41: DKG, Abt. Bremen: Jahresberichte/Mitgliederverzeichnisse 1900–1906 39.c.184: DKG, Abt. Bremen. Mitgliederverzeichnis, Ausgabe Winter 1928

Privatarchiv der Familie Vietor in Hude (VPAH) Die Archivalien im Privatarchiv sind bislang nicht vollständig katalogisiert und signiert. Nachfolgende Angaben folgen dem Findbuch, das Wiebke Hoffmann seit etwa 2007 entwickelt hat. Dokumente ohne eindeutige Zuordnung werden einzeln aufgeführt. Konvolut 1: Korrespondenz von I. K. Vietor – Privat Teil 5: Briefe an Ehefrau Hedwig Vietor Mappe 1: Inspektionsreise nach Afrika (August – November 1894) Mappe 2: Inspektionsreise nach Afrika und Gran Canaria (November 1894 – März 1895) Mappe 3: Div. Briefe (1894–1897) Mappe 4: Inspektionsreise nach Afrika (März – November 1897) Mappe 5: Div. Briefe (1899–1902) Mappe 6: Inspektionsreise nach Afrika (Juni – November 1904) Mappe 7: Div. Briefe (1904–1906) Mappe 9: Div. Briefe (1908–1910) Mappe 10: Inspektionsreise nach Afrika (April – Dezember 1912) Mappe 11: Div. Briefe (Januar 1913 – Februar 1914) Teil 6: Transkriptionen der Originalbriefe J. K. Vietors an Ehefrau Hedwig Vietor

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Konvolut 2: Geschäftliche Korrespondenz Die Einteilung in Mappen ist noch nicht erfolgt. Konvolut 3: Diverse Korrespondenzen unterschiedlicher Provenienz Teil 1: o. T. Teil 2: o. T. Teil 3: o. T. Konvolut 4: Briefe an J. K. Vietor von verschiedenen Absendern und Institutionen Die Einteilung in Mappen ist noch nicht abgeschlossen, aber bereits über den letzten Stand des Findbuches hinausgegangen. Teil 1: o. T. Teil 2: o. T. Teil 3: o. T. Mappe 1: Mappe 2: Mappe 3: Mappe 4: Mappe 5: Mappe 6: Mappe 8: Mappe 7: Mappe 9: Teil 4: o. T.

Reisebericht über Afrikareise 1927 Berufung in die Handelskammer (1901) Brief von A. Damaschke (1905), Bodenreformbewegung, Redemanuskript (1919) Reisebericht an den Kolonialrat (1905) div. Manuskripte Briefwechsel mit Graf Zech (1906), Brief von E. Sanvee (1953) Gutachten für die DKG Landkommission (1904) Schreiben von Missionar Spellenberg über Missstände in Kamerun (1913) Brief der DWHG (1903), Protokoll der VWK Sitzung am 3.1.1914

Konvolut 5: Verträge, Erbschaft, Testament, Vergleichsverfahren Mappe 4: Mappe 5: Mappe 6: Mappe 8: Mappe 10:

Erbschaftsübergabe der Fa. F. M. Vietor Erbschaftsangelegenheiten I. K. Vietor Briefe v. I. K. Vietor an seine Geschwister (1915) Zur Vorgeschichte der Firmen F. M. Vietor in Afrika Vergleichsverfahren (1931–1932)

Ungeordnete Dokumente ohne Signatur (ohne Redemanuskripte, gesondert aufgeführt): Mappe: Mappe: Mappe: Mappe:

Briefe an Hedwig Vietor 1912–1932: Mappe mit Korrespondenz zwischen J. K. Vietor und seiner ältesten Tocher Hedwig. Gesammelte Schriften von J. K. Vietor während dem Ersten Weltkrieg: Mappe mit div. Zeitungsartikeln, Entwürfen, Redemanuskripten, Briefen von J. K. Vietor. NL Hueck: Mappe mit Korrespondenz zwischen J. K. Vietor und seiner ältesten Tochter Hedwig sowie deren Mann Dr. Hueck (1916–1929). Geschäftsbriefe 1931–1934: Mappe mit Briefen div. Provenienz.

Diverse Briefe unterschiedlicher Provenienz (nach Abfassung angegeben): F. M. Vietor an J. K. Vietor vom 27.6.1892 J. K. Vietor (Klein Popo) an Frau Augener vom 5.2.1893 J. K. Vietor, F. Oloff & Co., J. W. West ans AA vom 20.12.1912 Auswärtiges Amt (AA) an Firma J. K. Vietor (Bremen) vom 24.12.1912

Interviews in Togo

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Reichskolonialamt (RKolA) an J. K. Vietor vom 7.12.1918 J. K. Vietor an Hedwig Vietor vom 28.2.1919 [Hans Heinken] an Wilhelm Vietor vom 18.12.1930 [Hans Heinken] an C. Freese vom 19.12.1930 J. K. Vietor an Claus Vietor (Accra) vom 22.12.1930 Hans Heinken (Bremen) an R. Finkenstaedt (River Cross) vom 28.1.1931 Vietor, J. K.: Bremer Vorschlag vom 13.11.1931 Heymann an Direktor Dr. Weigelt (Berlin) vom 17.11.1931 Hans Heinken (Bremen) an W. Peters (Accra) vom 23.11.1932 Wilhelm Carstens an Dr. Otto Hueck vom 4.6.1932 Herzog zu Mecklenburg an Hedwig Vietor vom 15.10.1952 E. Ramsauer an Hedwig Vietor vom 12.11.1952 Erinnerungen: Bericht von J. K. Vietor, unveröffentlichte Erinnerungen, verfasst zwischen 1905 und etwa 1930 Diverses (nach Datierung geordnet): Tantiemenabrechnung des Norddeutschen Lloyd für J. K. Vietor vom 1.4.1907 Gesellschaftervertrag der TBG vom 8.7.1908 Broschüre: Ein Jahr Bremer Stadtwehr, 5. Febr.1919 – 5. Febr.1920, [Bremen 1920]. Gesellschaftervertrag zwischen J. K. Vietor und C. Freese vom 16.7.1920 Bremer Vorschlag vom 13.11.1931 (Lösungsvorschlag Vietors im Vergleichsverfahren 1931) Rede von Irmgard Fricke anlässlich des 100. Geburtstages von J. K. Vietor [1961] Lohmann, Johannes: Erinnerungen, o.O., o.D. (liegen nur fragmentarisch vor) Schiffsliste der Firma F. M. Vietor Söhne Bremen, o.D.

INTERVIEWS IN TOGO Interviewmitschnitt (Tonband) vom 20.2.2010 mit Frau Regina Wooley-Lawson in Lomé Interviewmitschnitt (Tonband) vom 23.2.2010 mit Frau Mémé Ahlonkoba Sanvee in Lomé

VERÖFFENTLICHUNGEN, REDEN UND MANUSKRIPTE VON J. K. VIETOR Eine vollständige Publikationsliste von J. K. Vietor existiert nicht. Die hier aufgeführten Titel folgen dem Erscheinungsdatum respektive der angegebenen Datierung. Manuskripte aus Archivbeständen wurden mit aufgenommen und werden mit ihrer Signatur aufgeführt. Titel aus dem Privatarchiv Hude haben nicht alle eine eindeutige Signatur oder Bezeichnung. Wo keine Signatur vorhanden ist, wird als Fundort lediglich die Bezeichnung VPAH angegeben.

– Die Verhältnisse des Togo-Gebietes, in: Kölnische Zeitung vom 25.5.1890. – Bericht des Herrn Vietor über Togo, in: DKB 1894, S. 130 f. Der Beitrag erschien auch in: – – – –

Reichsbote 44 (1894). Schilderung einer Reise nach Atakpame, in: DKB 1898, S. 204–208. Die Erschließung des Hinterlandes der Togokolonie, in: DKZ 5 (1899), S. 38. Togoleute als Arbeiter für Kamerun, in: DKZ 34 (1900), S. 390f. Zur Arbeiterfrage in unseren Kolonien, in: DKZ 10 (1902), S. 90f.

578 – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

1

Quellen- und Literaturverzeichnis

Zur afrikanischen Arbeiterfrage, in: DKZ 15 (1902), S. 142. Plantagen und Eingeborenenkulturen, in: DKZ 18 (1902), S. 170f. Die Arbeiterfrage in Kamerun, in: DKZ 25 (1902), S. 242–244. Die Arbeiterfrage in den deutschen Kolonien, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902, Berlin 1903, S. 518–526. Der Einfluß der Mission auf die Deutsche Kolonial-Politik (Flugschriften der HanseatischOldenburgischen Missionskonferenz), Bremen 1904. Rede vor der Bremer Bürgerschaft zur Erhöhung der städtischen Grundrente und zur Wohnungsfrage [1904], VPAH, Konv. 4.1 Bericht von der Afrikareise 1904/05 für den Kolonialrat, 1905, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 4. Der deutsche Handel und die Monopole in unseren westafrikanischen Kolonien, in: Jahrbuch der Bodenreform. Vierteljahreshefte 3 (1905), S. 161–184. Südkamerun, in: Weser Zeitung vom 6.8.1905 Freie Arbeit oder Plantagenwirtschaft? Eine Zukunftsfrage für die deutschen Kolonien, in: Deutsche Volksstimme 22 (1905), S. 664–671. Zur Eingeborenenfrage, in: DKZ 52 (1905), S. 538f. Vortragsmanuskript „Mission“, [1905], VPAH. Der Handel der deutschen Kolonien. Sektionssitzung am 6. Oktober, nachmittags, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1905, Berlin 1906, S. 629–637. Koloniale Bodenpolitik, in: Helbeck-Elberfeld, Paul (Hrsg.): Deutschlands Kolonien und seine Kolonialpolitik. Aufsätze erster Kolonialpolitiker, Köln 1906, S. 13–23. Die nächsten Aufgaben unserer Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 42 (1906), S. 57–59. Der Beitrag erschien auch als Sonderdruck, Hagen [1906]. Vortrag „Antialkohol“ [1906], VPAH, Konv. 4. Das Redemanuskript stellt die Vorlage für Vietors Vortrag auf der Jahrestagung des Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke am 4.10.1906 in Karlsruhe dar. Vortrag vor einem christlichen Bremer Jünglingsverein [1906], VPAH. Deutsche Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 15 (1907), S. 3f. Unsere Berechtigung Kolonien zu erwerben, in: Die Arbeit 18 (1907), S. 2–4. 25 Jahre Kolonialpolitik, in: Die Arbeit 30 (1907), S. 5f. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Kolonialpolitik, Teil 1, in: Die Arbeit 39 (1907), S. 9f. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Kolonialpolitik, Teil 2, in: Die Arbeit 42 (1907), S. 6f. o. T., in: Wallis, Curt (Hrsg.): Bericht über den XI. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus. Abgehalten in Stockholm vom 28. Juli – 3. August 1907, unter dem Ehrenpräsidium Seiner Königl. Hoheit des Prinzen Gustav Adolf, Stockholm 1908, S. 139–145. Vortragsmanuskript „Mission“ [1908/09], VPAH. Vortrag vor der Handelskammer Bremen am 2.1.1909, w.o.:, VPAH. International Concert in Protecting Native Races from Alcoholism. A Paper Read at the Twelfth International Congreß on Alcoholism, London [1909]. 25 Jahre Kolonialpolitik, Teil 1, in: Die Arbeit 29 (1909), S. 4f. Kulturvölker und niedere Rassen, Teil 1, in: Die Arbeit 47 (1909), S. 1f. Kulturvölker und niedere Rassen, Teil 2, in: Die Arbeit 48 (1909), S. 1–3. Vortragsmanuskript „Rede: Antialkohol“ [1909], VPAH.

Handschriftlich überschrieben ist die Rede mit dem Titel: „Rede von I.K. Vietor (anscheinend gehalten vor der Bürgerschaft Bremen 1906/07) über die Bodenreform.“

Veröffentlichungen, Reden und Manuskripte von J. K. Vietor

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– Redemanuskript „Evangelium und Erwerbsleben“ [1910], VPAH. Die Rede wurde 1911 unter gleichem Titel veröffentlicht, Barmen [1911].

– Rede vom 19.9.1911: „Christlich-sozialer Parteitag“, VPAH, Konv. 4. – Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Afrikaners, in: Norddeutsche Missionsgesellschaft – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

(Hrsg.): Der Afrikaner, seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, geistige Befähigung, religiöse Veranlagung (Bremer Missions-Schriften; 36), Bremen 1912, S. 1–10. Geschichtliche und kulturelle Entwicklung unserer Schutzgebiete, Bremen 1913. Vortragsmanuskript „Christlich soziale Partei – evtl. 1912/13“, VPAH. Beim Vortrag handelt es sich um eine Variation des Vortrags von 1910: „Evangelium und Erwerbsleben“ aus dem Jahr 1913. Referat zur Verordnung über die Anwerbung von Arbeitern für land- und forstwirtschaftliche Unternehmungen und über Arbeiterfürsorge, Anhang zum Protokoll der Mitgliederversammlung des VWK am 3.1.1914 in Hamburg, VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 9, S. 4–10. Afrika und die Hansestädte, in: Die Arbeit 10 (1914), S. 3. Der deutsche Handel als Träger der deutschen Kultur, in: Vom deutschen Michel (Sechste Liebesgabe deutscher Hochschüler), Berlin/Kassel 1915, S. 134–144. England und die deutsche Kolonialmission, in: Kreuz und Kraft 3 (1915). Friedensarbeit unter dem Schwert, in: Kreuz und Kraft 5 (1915). Kriegslehren, in: Kreuz und Kraft 7 (1915). Die silbernen und goldenen Kugeln, in: Reichsbote vom 3.7.1915. Kriegerheimstätten, in: Kreuz und Kraft 8 (1915). Soziale Kriegsfragen, in: Reichsbote vom 8.8.1915. Ein neues Heimstättenrecht, in: Die Arbeit 29 (1915), S. 3f. Zwei Ideale, in: Kreuz und Kraft 12 (1915), S. 3–5. Immer mehr Organisation, in: Kreuz und Kraft 1 (1916), S. 3f. Wie kann es besser werden? (Das neue Zeitalter. Deutsche Evangelische Volkshefte zum Verständnis der Gegenwart; 6), Godesberg 1916. Zwei Reden, in: Kreuz und Kraft 10 (1916), S. 112–114. Englands Wahnsinn [Juni 1917], VPAH, Konv. 4. Teil 3, Mappe 5. Zwei Vorträge, Teil 1, in: Kreuz und Kraft 3 (1917), S. 22–24. Zwei Vorträge, Teil 2, in: Kreuz und Kraft 4 (1917), S. 29f. Was uns not tut. Gedanken zur Neuorientierung, Teil 1, in: Kreuz und Kraft 5 (1917), S. 36f. Was uns not tut. Gedanken zur Neuorientierung, Teil 2, in: Kreuz und Kraft 6 (1917), S. 45f. Und was haben wir nun zu tun?, in: Kreuz und Kraft 8 (1917), S. 59f. Beten, in: Kreuz und Kraft 9/10 (1918), S. 33f. Der Weg zur Rettung, in: Kreuz und Kraft 5/6 (1919), S. 21–22. Das christliche Gewissen, in: Kreuz und Kraft 7/8 (1919), S. 31f. Einst und jetzt, in: Kreuz und Kraft 9/10/11 (1919), S. 41–43. Vortragsmanuskript für Rede vor Exzellenz [Bell], [1919], VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 5. Vortragsmanuskript „Im neuen Deutschland“ [1919], StAB, 7,73-15 Rückblick und Ausblick, in: Kreuz und Kraft 1/2 (1920), S. 3f. „Rede von J. K. Vietor, gehalten nach 1919“, VPAH [1920]. Rede zur Begrüßung der „Cowboys“ am 9.2.1921, VPAH, Konv. 4, Teil 4. Ansprache anlässlich der Auflösung der Bremer Stadtwehr am 28.2.1921, VPAH, Konv. 4. Ein Wort zum Gruß!, in: [Hauptarbeitsamt des DEVB] (Hrsg.): Illustrierte Rundschau. Bilder aus der Arbeit des Deutschen Evangelischen Volksbundes. Festschrift zum 2. Deutschen Evangel. Volkstag 1923, Barmen [1923], S. 2–4.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

– Volk in Not, in: Das Vaterland vom 17.7.1923. – Um Glauben und Heimat. Eröffnungsrede auf dem 3. Evangelischen Volkstag in Bünde vom 24.–26.5.1924, StAB, 7,73–10.

– Vortrag über das Christentum [1925], VPAH. – Vortrag [14.3.1928], VPAH, Konv. 4, Teil 3, Mappe 1.2 – Der Beruf und das Leben des Kaufmanns, Rede vor Abiturienten am 22.1.1929, VPAH, Konv. 4, Teil 2 und NL Hueck.

– Rede im Haus Seefahrt am 11.2.1930, VPAH. LEXIKA UND NACHSCHLAGEWERKE Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), 56 Bd., hg. von der Historischen Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1875–1912. Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff’schen Telegr.-Bureaus, hg. von ContinentalTelegraphen-Compagnie Wolff’s Telegraphisches Büro – Bd. 6: 1. Februar 1917–31. Juli 1917, Berlin [1919]. – Bd. 7: 1. August 1917 – 31. Mai 1918, Berlin [1919]. Baden-Württembergische Biographien, 4 Bd., hg. von Ottnad, Bernd im Auftrag der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Stuttgart 1994–2007. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), 14 Bd., 19 Erg. Bd., Hamm/Herzberg/ Nordhausen (1975–2012). Bremische Biographie 1912–1962, hg. von der Historischen Gesellschaft zu Bremen und dem Staatsarchiv Bremen, bearb. von Lührs, W., Bremen 1969. Das Große Bremen Lexikon, 2 Bd., 1 Erg. Bd., von Schwarzwälder, Herbert, Bremen 2002–2008. Deutsches Kolonial Lexikon, 3 Bd., hg. von Schnee, Heinrich, Leipzig 1920. Die Bürgerlichen Parteien in Deutschland: Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945 [1830–1945], 2 Bd., hg. von Fricke, Dieter, Leipzig 1968–1970. Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 5 Bd., Tübingen 1909–1913. Dass., 3. Auflage, 6 Bd., Tübingen 1957–1962. Dass., 4. Auflage, 8 Bd., Tübingen 1998–2005. Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hg. von Hirschfeld, Gerhard / Krumeich, Gerd / Renz, Irina, Paderborn 2009. Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, hg. von Freiherr von Röll, 10 Bd., Berlin, Wien 1912–1921. Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde (ELThG), 3 Bd., hg. von Burckhard, Helmut / Swarat, Uwe, Wuppertal, Zürich 1992–1994. Handbuch Afrika. Westafrika und die Inseln im Atlantik, 3 Bd., hg. von Schicho, Walter, Frankfurt 2001. Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 11 Bd., hg. von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz, Hauterive 2002–2012. Lexikon der deutschen Geschichte, 2 Bd., hg. von Taddey, Gerhard / Behnen, Michael, Stuttgart 1998–2002. Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), 4 Bd., hg. von Fricke, Dieter u.a., Leipzig, Köln 1983–1986. Meyers Großes Konversationslexikon, 21 Bd., Leipzig, Wien6 1902–1909. Neue Deutsche Biographie (NDB), 24 Bd., hg. von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1953–2010.

2

Die handschriftliche Datierung des Vortrages auf das Jahr 1927 ist nicht korrekt.

Periodika

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Staats-Handbuch der Freien Hansestadt Bremen 1896, 1902, 1903, 1904, 1905, 1914, 1915, hg. von der Stadt Bremen 1870–1930. Theologische Realenzyklopädie (TRE), 36 Bd., hg, von Müller, Gerhard / Krause, Gerhard u.a., Berlin 1977–2004. Dass.: Studienausgabe, 1993–2006.

PERIODIKA Benutzte Zeitschriften und Zeitungen sind jeweils in den Fußnoten vollständig angegeben. Die aufgeführten Periodika werden hier nur mit den benutzten Jahrgängen angegeben. Aufsätze und Artikel aus Zeitschriften und Zeitungen werden unter dem Verzeichnis der Veröffentlichungen von J. K. Vietor, den Gedruckten Quellen oder dem Literaturverzeichnis aufgeführt. Bodenreform. Deutsche Volksstimme – Frei Land. Organ der Deutschen Bodenreformer, Berlin. 1899, 1904, 1905, 1907, 1911, 1913, 1915, 1918–1920 Deutsche Kolonialzeitung (DKZ). Organ der Deutschen Kolonialgesellschaft, Berlin. 1891, 1892, 1894, 1896, 1898–1900, 1902–1905, 1910, 1913, 1914 Deutsches Kolonialblatt (DKB). Amtsblatt für die Schutzgebiete in Afrika und der Südsee, Berlin. 1890, 1891, 1894, 1895, 1898, 1899, 1901, 1903, 1904, 1907, 1908 Die Arbeit. Wochenschrift für die schaffenden Stände in Stadt und Land, Berlin, Essen, Barmen. 1906–1919 Kolonial-Handels-Adressbuch, hg. vom Kolonialwirtschaftlichen Komitee, Berlin. 1897, 1899–1901, 1905–1911 Koloniale Rundschau. Monatsschrift für die Interessen unserer Schutzgebiete und ihrer Bewohner, seit 1914 zugleich Organ der Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenschutz, Berlin. 1911– 1915, 1918, 1925 Koloniale Zeitschrift. Organ für deutsche überseeische Interessen, Berlin. 1901–1904, 1906, 1908 Koloniales Jahrbuch, hg. von Meinecke, Gustav, Berlin. 1889, 1891, 1897 Kreuz und Kraft. Zeitschrift für öffentliche Mission des Christentums. Organ des Deutschen Evangelischen Volksbundes, Godesberg. 1914–1920, 1926.

GEDRUCKTE QUELLEN UND ZEITGENÖSSISCHE LITERATUR BIS 19343 Albrecht, Otto: Bodenpolitik und Bodenwirtschaft. Ein Gesetz für Bodenvorratswirtschaft?, in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, 3 (H. 1), 1926, S. 58–61. Anton, G.K: Die Arbeiten der Landkommission der deutschen Kolonialgesellschaft, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft, 1905, S. 440–447. Beckmann: Beschaffung der Kohlehydrate im Kriege. Reform der Strohaufschließung, in: Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften. Januar bis Juni 1919, Berlin 1919, S. 275–289. Bethmann Hollweg, Theobald von: Betrachtungen zum Weltkriege. Während des Krieges (Bd. 2), Berlin 1921. Carnap-Quernheimb, E. von: Ernste Betrachtungen über die „Perle unserer Kolonien“ Kamerun, nach langjähriger eigener Erfahrung, in: Beiträge zur Kolonialpolitik und Kolonialwirtschaft 1900, S. 193–203. Damaschke, Adolf: Der Entwurf eines Reichsgesetzes über Heimstättenrecht und Kriegerheimstätten nebst Begründung (Soziale Streitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart; 70), Berlin 1918. 3

Todesjahr Vietors

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Damaschke, Adolf: Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not, Berlin4 1907. Damaschke, Adolf: Die Bodenreform und die Lösung der Wohnungsfrage, in: Zeitfragen des christlichen Volkslebens 238 (1906), S. 5–56. Damaschke, Adolf: Kamerun oder Kiautschou? Eine Entscheidung über die Zukunft der deutschen Kolonialpolitik (Soziale Streitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart; 8), Berlin [1900]. Damaschke, Adolf: Zeitenwende. Aus meinem Leben, Leipzig und Zürich (1925) Deutsche Kolonialgesellschaft (Hg.): Die Kolonien der europäischen Mächte und der Vereinigten Staaten von Amerika. Statistische Darstellung. Mit 4 Karten, Berlin 1915. Dulon, Rudolph: Vom Kampf um Völkerfreiheit. Ein Lesebuch für’s deutsche Volk (Bd. 1), Bremen5 1850. Fabri, Friedrich: Bedarf Deutschland der Colonien? Does Germany need colonies? Eine politischökonomische Betrachtung (Studies in German thought and history, Bd. 2), Lewiston, NY3 1998 (Erstausgabe Gotha 1879). Francois, Curt von: Staat oder Gesellschaft in unseren Kolonien? Referat erstattet für die 11. Hauptversammlung des „Bundes der deutschen Bodenreformer“ (Soziale Streitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart; 10), Berlin [1901]. Furtwängler, Franz Josef: Koloniale Zwangsarbeit, in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde 12 (1929), S. 789–796. Giesebrecht, Franz (Hrsg.): Die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien. Ein Sammelwerk, Berlin 1897. Gründer, Horst: „… da und dort ein junges Deutschland gründen“. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 1999. Handelskammer Bremen: Bericht der Handelskammer in Bremen über das Jahr 1905 erstattet an den Kaufmannskonvent, Bremen 1906. Hartmann, Georg: Die Arbeiterfrage in den Kolonien, in: Der Tropenpflanzer 6 (1912), S. 283–308. Hauptarbeitsamt des DEVB: Öffentliche Mission. Geschichte und Grundsätze, Entwicklung und Arbeit des Deutschen Evangelischen Volksbundes für öffentliche Mission des Christentums e.V. (Flugschrift Nr. 5), Godesberg [1922]. Hauptgeschäftsstelle der CSP: Was wollen die Christlich-Sozialen?, Herford 1913. Huber, Ernst Rudolf/Huber, Wolfgang: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Staat und Kirche von der Beilegung des Kulturkampfs bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (Bd. 3), Berlin 1983. Jahrbuch der Hamburgischen Wissenschaftlichen Anstalten 1913 (31.Jg.), Hamburg 1914. Jahresbericht über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee im Jahre 1902/1903, Berlin 1904. (Beilage zum Deutschen Kolonialblatt 1904 und 1909.) Jünger, Nathanael: Rodenkampp Söhne. Deutscher Kolonialroman aus Bremens Vergangenheit und Zukunft, Wismar in Meckl. 1924. Kaehler, Siegfried A.: Stöckers Versuch, eine christliche Arbeiterpartei in Berlin zu begründen., in: Wentzcke, Paul (Hrsg.): Deutscher Staat und deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Parteiund Ideengeschichte. Friedrich Meinecke zum 60. Geburtstag, München 1922, S. 227–265. Korselt, Theodor: Die Entschädigung kolonialer Kriegsschäden, in: Kolonialkriegerdank e. V. (Hrsg.): Koloniales Hand- und Adressbuch, Berlin 1926, S. 44–60. Kriele, Edmund: Das Kreuz unter den Palmen. Die Rheinische Mission in Neu-Guinea, Barmen 1927. Kucklentz, Karl: Das Zollwesen der deutschen Schutzgebiete, Halle 1913. Kucklentz, Karl: Das Zollwesen der deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee, Berlin 1914. Lewin, Evans: Deutsche Kolonisatoren in Afrika. Die Kolonisierung mit der Peitsche. Mit einem offenen Brief des Bischofs von Zanzibar Frank Weston, Zürich 1918. Martins, Wilhelm: Die zweite deutsche Mäßigkeitsbewegung, oder der deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und die Enthaltsamkeitsvereine, ihre besonderen Aufgaben und ihr gegenseitiges Verhältnis, in: Zeitfragen des christlichen Volkslebens 11 (1886), S. 251–322.

Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur bis 1934

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AA Abb. ABM ADB ADGB AHKB AHKH AMZ ANT Art. BAB BBKL BDB BdL BVB CSP CSVD CSRV CVJM DA DDP DEVB DGB DGES DNHV

Auswärtiges Amt Abbildung Archiv der Basler Mission Allgemeinde Deutsche Biographie Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Archiv der Handelskammer Bremen Archiv der Handelskammer Hamburg Allgemeine Missionszeitschrift Archives Nationales du Togo Artikel Bundesarchiv Berlin Biographisch-Bibliographisches Lexikon Bund deutscher Bodenreformer Bund der Landwirte Bayerische Volkspartei Christlich-Soziale Partei Christlich-sozialer Volksdienst Christlich-soziale Reichsvereinigung Christlicher Verein junger Männer Deutscher Arbeiterkongress Deutsche Demokratische Partei Deutsch-Evangelischer Volksbund Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenschutz Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband

600 DKG DKGfSWA DNVP DSP DTG DTK DVP DWHG EB EKD EOK epd ESK FKSK Frs. GAG GCG GEA GM GSK GNWK GWU HK hl HLS HZ k.A. Kol. Abt. Kol.ha.adressbuch Konv. KR KWK Leg. per. MB MdBü MdR NDB NL NMG NSDAP O. Bl. O. D. O. O. O. T. Resp. RGBl. RKolA RM SBR Sess. Sp. SPD StAB

Abkürzungsverzeichnis Deutsche Kolonialgesellschaft Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika Deutsch-Nationale Volkspartei Deutsch-soziale Partei Deutsche Togo-Gesellschaft Deutsche Tabakbaugesellschaft Kamerun Deutsche Volkspartei Deutsch Westafrikanische Handelsgesellschaft Evangelischer Bund Evangelische Kirche in Deutschland Evangelischer Oberkirchenrat der älteren Provinzen Preußens Evangelischer Pressebund Evangelisch-sozialer Kongreß Freie Kirchlich-Soziale Konferenz Französischer Franc Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Urbarmachung und Siedlung Gesamtverband christlicher Gewerkschaften Gesamtverband Evangelischer Arbeitervereine Goldmark Gesellschaft Südkamerun Gesellschaft Nordwestkamerun Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Handelskammer Hektoliter Historisches Lexikon der Schweiz Historische Zeitschrift keine Angaben Kolonialabteilung Kolonialhandelsadressbuch Konvolut Kolonialratssitzung Kolonialwirtschaftliches Komitee Legislaturperiode Monatsblatt der Norddeutschen Mission Mitglied der Bürgerschaft Mitglied des Reichstags Neue Deutsche Biographie Nationalliberale Partei Norddeutsche Missionsgesellschaft Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ohne Blattangabe ohne Datum ohne Ort ohne Titel respektive Reichsgesetzblatt Reichskolonialamt Reichsmark Stenographische Berichte des Reichstags Session Spalten Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsarchiv Bremen

Abkürzungsverzeichnis StuUB SWAC t TBG TRE v.l.n.r. VPAH VV VWK WAPB WAPV W. o. WRV WV Z ZfG

Staats- und Universitätsbibliothek Bremen South-West-African Company Tonne Deutsche Tabakbau-Gesellschaft Kamerun Theologische Realenzyklopädie von links nach rechts Vietor Privatarchiv Hude Versailler Friedensvertrag Verein Westafrikanischer Kaufleute Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Bibundi Westafrikanische Pflanzungsgellschaft Viktoria wie oben Weimarer Reichsverfassung Wirtschaftliche Vereinigung Zentrum Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

601

PERSONENREGISTER Bei Erwähnungen nur in den Fußnoten folgt nach der Seitenangabe eine Klammer mit der Fußnotennummer. Bei Erwähnungen im Haupttext, werden weitere Erwähnungen in den Fußnoten auf derselben Seiten nicht aufgeführt. Um die Angehörigen der Familie Vietor besser auseinander halten zu können, sind in Klammern jeweils die Lebensdaten angegeben. Achelis, Fritz: 393 (FN 295) Achelis, Johann Christoph: 393 (FN 294, 295) Achelis, Johannes: 45 (FN 105) Adae: 216 Adelmann von Adelmannsfelden, Georg Sigmund Graf: 492 (FN 92) Adenauer, Konrad: 477 (FN 20) Ahlwardt, Hermann: 360 Albers, Johann Abraham: 39 (FN 60) Allegret, Elie: 517, 518 (FN 212), 523 Almeida, Chiko de: 102, 103 (FN 169) Almeida, Francisco de: 96, 97 (FN 126) Almeida, Juan de: 87 (FN 71), 96, 97 (FN 126) Althoff, H. J.: 95 Ajavon, Aite: 102 Ajavon, Alfred M.: 527 (FN 247) Aku, Andreas: 351 (FN 106), 514, 516 (FN 203), 517 (FN 206), 523, 548 Amavi, Michael H.: 568 (FN 3) Andrees: 334 (FN 36), 352 (FN 108) Anton, G. K.: 208, 210, 211, 212 (FN 292), 240, 319 (FN 752) Aquereburu, William: 256 (FN 485) Arenberg, Franz Ludwig Prinz von: 178 Arnim-Muskau, Traugott Hermann Graf von: 157 (FN 55), 178, 227 Arnold, Julius: 372 Ashcroft, Frank: 516, 517, 519, 520 (FN 218) Asmis, Rudolf: 241, 242, 243, 244, 565 Augener, Andreas: 124, 125 Augener, Enrique: 88, 118, 119 (FN 251) Augener, Friedrich Christoff: 88 (FN 74) Augener, Hedwig Henriette: 84 (FN 46), 88 Augener, Meta: 88 (FN 74) Augener, Otto: 87 (FN 71) Awuma, Elia: 351 (FN 106) Axenfeld, Karl: 441 (FN 11) Baden, Friedrich I., Großherzog von: 360 (FN 139)

Baden, Maximilian Prinz von: 467, 478 (FN 24), 481 (FN 38) Baëta, Robert: 514, 516 (FN 203), 521, 523, 524 (FN 230) Bagelmann, Gottfried: 36, 37 (FN 46), 40, 41 Bahr, Max: 407 (FN 349) Balfour, Arthur James: 474 (FN 9) Ballin, Albert: 455 (FN 68) Ballot, Victor: 175 (FN 140) Barker: 441 Barkhausen, Friedrich Wilhelm: 55, 56 Barkmeyer: 484 (FN 52) Bartels: 332 (FN 30) Bauer, Gustav: 477 Baumann, Emil: 183 (FN 177) Bebel, August: 55 (FN 160), 178 (FN 148), 250, 284 Bebli, Sedode: 351 (FN 106) Bechler, Theodor: 321 (FN 759) Becker, Johannes:369 (FN 185) Béhanzin (König von Dahomey): 84, 85, 86, 87 Behm, Margarete: 483, 507 Behrens: 299 Behrens, Franz: 142 (FN 383), 303 (FN 683), 322 (FN 765), 364, 365, 366 (FN 166), 368, 369 (FN 185), 373, 374, 376 (FN 221), 379 (FN 235), 381 (FN 245), 388 (FN 271), 429 (FN 460), 443 (FN 24), 449, 457, 458, 459, 460, 462, 482, 483, 507 Bell, Johannes: 474 (FN 10, 12), 475 (FN 13, 14), 477 (FN 20), 505 (FN 147) Bellstedt, Johann Christoph: 131 (FN 322) Bendemann, Felix: 68 Berner, Max: 207, 214 (FN 300), 223, 224, 283 (604) Bernstorff, Ernst Graf von: 131 (FN 322) Bernstorff, Johann Heinrich Graf von: 486 (FN 65)

604

Personenregister

Bernstorff-Stintenburg, Andreas Graf von: 157 (FN 55) Besa, David: 520 (FN 217) Besser, von: 184 (FN 179) Bethmann Hollweg, Theobald von: 450 (FN 49), 451, 455, 456, 459, 460, 461, 465, 466 (FN 118) Beveridge, B. M.: 520 (FN 217, 218) Bezzel, Hermann von: 321 (FN 759) Biedermann, F. C.: 138 (FN 363) Biermann, Wilhelm Eduard: 328 Biermann: 378, 557 (FN 406) Bigelow, Poultney: 389 (FN 275) Birkmaier, Luis: 351 Bismarck, Otto von: 37 (FN 46), 56 (FN 164), 57 (FN 173), 65, 69 (FN 242), 146 (FN 4), 147, 176 (FN 141), 318, 359, 362 (FN 144), 414 (FN 375) Bitter, F. W.: 536 Bizer, Georg: 183 (FN 177) Blum, Nicolaus: 321 (FN 759) Böckel, Otto: 360 Bodelschwingh, Friedrich von (1831-1910): 50, 157 (FN 55), 173 (FN 126), 400 (FN 322), 426 (444) Bodelschwingh, Friedrich von (1877-1946): 415 (FN 382), 417, 441 (FN 11), 496 Bodelschwingh, Gustav von: 400 (FN 322), 401 (FN 322) Boedecker, C.: 168 (FN 102), 240 (FN 420) Boeters, Oscar: 389 (FN 276) Bohlen und Halbach, Gustav Krupp von: 274 (FN 559), 395 (FN 302) Bohner, Theodor: 187 (FN 195) Bolland, B.: 139, 311 (FN 719) Bollmann, Johannes: 203, 209, 297 Bornhaupt, Christian von: 131 (FN 322), 208, 211, 321 (FN 759), 388 Boshart, August: 250 (FN 456), 251, 252 (FN 464) Brauchitsch, von: 217 Bredow, Hedwig von: 504 (FN 146) Breitscheid, R.: 178 (FN 150) Bremermann, Johann Friedrich: 394 (FN 296) Brent, Charles Henry: 515 (FN 197) Brettschneider, J. M.: 293 (FN 646), 305 Brettschneider, Otto: 336 Brock, Max: 292, 293 (FN 646), 306 (FN 697), 312, 315 Brockdorf-Rantzau, Ulrich Graf von: 499 Brooks: 459 (FN 83) Bruch, vom: 536 (FN 299) Brückner: 547 (FN 361), 559 (FN 416)

Brückner, Edmund: 286 (FN 622), 502 Brüning, Heinrich (1836-1920): 173 (FN 126) Brüning, Heinrich (1885-1970): 468 (FN 129), 489 Bruns: 352 (FN 108) Buchka, Gerhard von: 17, 18, 82, 161,177, 179, 198, 206, 227, 228, 229, 281, 388, 389 Bülow, Bernhard Fürst von: 282, 284, 567 Bultmann, Lüer: 43 (FN 91) Burckhardt, Georg: 364 Bürgi, Ernst: 513, 520 (FN 217) Capelle, Ernst Friedrich: 40 Caprivi, Georg Leo von: 174 Cardew, Frederic: 257 Carnap-Quernheimb, Ernst von: 181 (FN 168), 182 Chamberlain, Houston Steward: 453 Champod, Albert Charles: 301, 302 Christ, Hermann: 158 (FN 57) Chüden (FN 242): 69 (242) Claß, Heinrich: 454 (FN 65) Clausen, F. Bodo: 168 (FN 102), 231 (FN 380) Cleméntel, Etienne: 383 (FN 250) Clifford, Hugh Charles: 443 Conze, Peter Dietrich: 315 Couve, Daniel: 523 Cremer, August Hermann:364 (FN 154) Creppy: 102 Crowther, Samuel Adjai: 258 (FN 492) Cuno, Wilhelm: 493 Dagadu (Häuptling von Kpdanu): 99 (FN 139), 268 (FN 529) Dagadu, „Prinz“: 99 (FN 139) Damaschke, Adolf: 18, 178 (FN 152), 188, 206 (FN 265), 364 (FN 156), 386, 387, 388, 389, 390 (FN 280), 391, 392, 393, 395, 396, 397, (FN 311), 398 (FN 315), 399, 401, 402 (FN 331) 404, 405 (FN 343), 406 (FN 346), 407, 465 (FN 112) Damman, Julius: 364 (FN 154) Danielsen, E.: 295 (FN 654), 296 (FN 655) Däuble, Gottlob: 351 (FN 106), 352, 353 (FN 112) Dauelsberg, Hugo: 505 (FN 147) Davidsohn, Georg: 380 (FN 242) Delbrück, Hans: 363 Delius, Friedrich Wilhelm: 54 (FN 152), 59 Dernburg, Bernhard: 17, 21, 23, 133, 134, 135, 137, 138 (FN 361), 152 (FN 34), 164, 165, 166, 167, 171, 221 (FN 336), 243, 244 (FN 438), 249, 250 (FN 456), 274, 275, 276,

Personenregister 284, 285 (FN 618), 287 (FN 627), 290, 359 (FN 131), 385 (FN 261), 397, 504 (FN 146), 565 Dibelius, Otto: 417, 484 Diederichs, Otto von: 389 Diehl, Heinrich: 237, 264 (FN 517) Diergardt, Freiherr von: 426 Dietrich, Heinrich: 93 FN 102), 123, 124, 125 Dittmann, Wilhelm: 294 (649), 303 (FN 684), 472 (FN 3) Dodds, Alfred-Amédée: 86 Doering, Hans Georg von: 353 (FN 112), 440, 441 Douglas, Sholto: 175, 197, 226, 227, 228, 232 (FN 386) Dove, K.: 208 (FN 273) Dresler, Adolph: 360 Dryander, Ernst von: 321 (FN 759), 356 (FN 120) Dulon, Rudolph: 19, 34, 35, 37, 40 Ebermaier, Karl: 138 (FN 361), 214, 215, 216 (FN 315), 217 (FN 322), 218 (FN 323), 266 (FN 525), 287, 288, 290, 291, 293 (FN 646), 295 (FN 654), 296 (FN 655), 297, 300, 301, 302 (FN 679), 303, 305, 306, 309, 310, 312, 313, 314, 322, 565 Ebert, Friedrich: 375, 468, 469, 478, 480, 490, 496 Eckhoff: 459 (FN 83) Eichholz, Thilo: 240 (FN 420) Eiffe, F. F.: 131 (FN 322) Eikuvi: 96 Einstein, Albert: 477 (FN 20) Eltester: 551 Engel, Heinrich: 56 (FN 164), 361 (FN 143), 426 (FN 444) Erman, Heinrich: 401, 406 (FN 347) Erzberger, Matthias: 127 (FN 301), 152 (FN 34), 165 (FN 89), 166, 220 (FN 330), 224 (FN 350), 225 (FN 353), 245 (FN 442), 273, 274, 284, 303 (FN 684), 310, 311, 312 (FN 720), 321 (FN 759), 450 (FN 48), 454 (FN 65), 455 (FN 68), 459 (FN 87), 472 (FN 3), 474 (FN 10), 480, 481 Esser, Max: 181 (FN 167), 197, 213, 214, 216, 217, 291 (FN 642) Eugenio: 333 (FN 33) Euting, Ernst: 268 (FN 529), 311, 524 (FN 230), 528 (FN 247), 532, 547 (FN 356), 548, 549, 554, 562 (FN 434)

605

Fabarius, Erich: 285, 459 (FN 87), 504 (FN 146) Fabarius, Ernst Albert: 178 (FN 150), 196 (FN 227) Fabri, Friedrich: 57, 58 (FN 177), 60, 339 Falkenthal, Ernst: 86, 277 (FN 572) Fehrenbach, Constantin: 488, 489, Fehrmann: 277 (FN 573) Finkler: 187 Fliedner, Theodor: 529 (FN 253) Flothmeier, Friedrich: 348 Flürscheim, Michael: 391 (FN 285), 400 (FN 322) Foerster, Karl Hermann: 372 Förster, Emil Theodor: 220, 229 (FN 371), 233, 234 Förster, Paul: 360 (FN 137) François, Curt von: 178, 329 (FN 18) Freeman, Thomas B.: 258 (FN 492) Freese, Nikolaus (Claus): 93 (FN 103), 107 (FN 189), 108, 117, 120, 121 (FN 266, 271, 272), 145 (FN 2), 168 (FN 102), 260 (FN 499), 271, 286, 294 (FN 649), 297, 298, 299, 302 (FN 679), 304 (FN 690), 306, 310, 311 (FN 715), 315, 374 (FN 210), 437 (FN 491), 503, 504 (FN 142), 506, 527 (FN 246), 528, 539 (FN 313), 546, 550 (FN 367), 555 (FN 395), 562 Freude, Gotthard: 252 (FN 506), 267 Freyburger, Karl: 226 (FN 358), 233, 389, 241, 263 (FN 513), 520 Fricke: 310 (FN 713), 312, 527 (FN 246) Friderici, Carl Georg Eduard: 180 (FN 164), 182 (FN 171) Friebel, Paul: 130, 273 (FN 553) Friederici, E.: 180 (FN 164), 182 (FN 171) Friedrich III.: 370 (FN 188) Friedrich Wilhelm IV.: 35 Full, August: 85 (FN 54), 301, 302 Funke, Alexander: 524 (FN 232) Funcke, Otto: 370 (FN 189) Furtwängler, Franz Josef: 261 (FN 505) Garega: 181 (FN 167), 182 (FN 171) Gelin: 492 (FN 92) Geibel, Emanuel: 454 (FN 63) George, Henry: 18, 390 George, Lloyd: 458, 460, 465, 473 (FN 9), 479 (FN 29), 488 Gerlach, Ernst Ludwig: 34 (FN 19) Gerlach, Friedrich von: 34 (FN 19) Gerlach, Hellmut von: 361, 392 (FN 290)

606

Personenregister

Gerstenhauer, Max Robert: 207 (FN 272), 208 (273) Gidde Gidde: 98 (FN 139) Giesberts, Johann: 369 (FN 185) Giesebrecht, Franz: 250 (FN 456), 251 (FN 460), 257 (FN 488), 275 (FN 565) Gleim, Otto: 82, 103 (FN 170), 216, 217 Glélé: 84, 85 (FN 51) Gi-Gli: 98 (FN 135) Godefroy, Johann Cesar: 56 (FN 164) Godtknecht: 301, 302 Göhre, Paul: 391 (FN 286) Goldberg: 102 (FN 163), 271 Gossler, Gustav von: 53, 360 (FN 139) Groener, Wilhelm: 491 Grosch, Federico: 446, 529 (FN 251) Gruner, Hans: 98, 231 (FN 380), 236 (FN 399), 237, 241 (FN 422), 246, 269, 502 (FN 135) Grunitzky: 168 (FN 102) Gsell, Sylvio: 479 Gutbrod, J.: 216, 217 Gutekunst: 332, 352 (FN (FN 108) Gutmann, Bruno: 350 Gwinner, Arthur von: 455 (FN 68) Haase, Heinrich Engelbert: 45 (FN 105), 46 Habenicht, Theodor: 131 (FN 322) Hahl, Albert: 503, 504 (FN 146) Hahn, Georg: 557 (FN 406) Hammerstein, Wilhelm Freiherr von: 56 (FN 164), 359, 361 (FN 140, 144), 362 Harnack, Adolf von: 363, 441 (FN 11) Hartmann, Georg: 135 (FN 350), 292 (645), 309 (FN 711), 388 (FN 272), 392 (289) Hartwig, Emil: 375, 483, 507 Hasse, Ernst: 177 Hassert, Kurt: 275 (FN 565) Hässig, Georg: 298, 299 Haussleitner, Gottlob: 515 (FN 197) Hegel, Wilhelm von: 513 (FN 188) Heinken, Hans: 509 Heinecken, Philipp: 394, 394 (FN 298), 395 Heitmüller, Friedrich: 355 (FN 119) Held: 484 (FN 52) Hellwig: 530 (FN (FN 262) Hengstenberg, Ernst Wilhelm: 33, 34 (FN 19), 567 Henke, Gustav: 72, 78 (FN 17) Henke, H.: 72 Hennig, Paul Oskar: 441 (FN 11) Henrici, Ernst: 178 (FN 150) Herfurth, August: 342 (FN 70) Hergt, Oskar: 427 (FN 446)

Hermes, Andreas: 487 Hermine, Prinzessin Reuß ältere Linie: 463 (FN 106) Hertzog, James: 473 (FN 8) Herzog, Karl: 185 (FN 189), 186 Hespers, Franz Karl: 157 (FN 56), 161 (FN 67), 180, 186, 246 (FN 448), 253 (FN 467) Hesse, Hermann: 208 (FN 273) Heuser, Max: 531 Hey, Friedrich: 510, 511 Heydt, Karl von der: 283 Heymann, Wilhelm: 561, 562 Heyne, Ed.: 543 (FN 333), 546 (FN 352) Hildebrand (Käpitän): 389 Hilferding, Rudolf: 495 (FN 102) Hille, E.: 277 (573) Hiller, Max: 198 (FN 236) Hillmann, Hermann: 127, 128, 256 (FN 484), 260 (FN 499), 264 (FN 516), 265 Himmler, Heinrich: 252 (FN 464) Hindenburg, Paul von: 402 (FN 331), 460, 499, 500 Hindorf, Richard: 211 (FN 290) Hinzpeter, Georg von: 362 (FN 147) Hofmann, von: 131 (FN 322) Hoffmann, Reinhard: 125 Hohenlohe-Langenburg, Ernst Fürst zu: 215, 253 (FN 467) 284 Hohenlohe-Langenburg, Hermann Fürst zu: 157 (FN 55) Hohenlohe-Öhringen, Christian Kraft Fürst von: 198 (FN 236) Holleben, Theodor von: 283 (FN 604) Horn, Waldemar: 123, 270 House, Edward M.: 486 (FN 65) Hübbe-Schleiden, Wilhelm: 60 Huber, Max: 505 Huber, Oskar: 107 (FN 189), 117, 118, 119, 143 (FN 389), 442, 527 (FN 247), 536 (FN 302) Hueck, Hedwig: 479 (FN 30), 480 (FN 31), 489 (FN 76), 516 (FN 201), 528 (FN 248) Hueck, Otto: 516 Hugenberg, Alfred: 455 (FN 66), 508, 509 Hupfeld, Friedrich: 27, 141, 175 (FN 139), 208 (FN 273), 210, 212, 226, 227, 228, 229, 231, 233, 234, 235. 237, 238, 239, 240, 242, 243, 244, 271, 273 (FN 553), 282, 285, 288 (FN 630), 292 (FN 644), 344 (FN 74), 474 (FN 12), 502 Huyssen, Johannes: 531 (FN 268, 270)

Personenregister Ireke (Kapitän): 255 (FN 478) Irmer, Georg: 181 (FN 168) Jacobi, Karl Rudolf: 160, 161 (FN 67), 180, 193 (FN 215), 199 (FN 240), 200 (FN 243), 202, 203, 204, 207 Jaeger, Samuel: 430, 431, 506, 507 Jagow, Gottfried von: 487 (FN 65) Jarres, Karl: 497 (FN 112) Joja: 139, 295, 296, 302 (FN 676) Josenhans, Joseph: 44, 338 (FN 53) Jüngst: 373, 431 Jürgensen, N.: 543 (FN 333) Jürgensmeyer, Karl: 527 (FN 247), 532 Kapellhoff: 446 (FN 33) Kapp, Wolfgang: 459 (FN 87), 461 Kayser, Paul: 176, 177 (FN 145) Kemmer: 329 (FN 20) Kemner, Wilhelm: 27, 215 (FN 306), 291 (FN 642), 297 (FN 658), 304, 309, 311, 313 (FN 724), 316, 322, 323, 504 (FN 146), 545 (FN 348), 557 (FN 406), 558 (FN 411), 562 Kersten, Otto: 245 (FN (FN 442) Kircher, Daniel: 426 (FN 446) Kirchhoff, Alfred: 252 (FN 464) Kierdorf, Emil: 140 (FN 373) Kling, Eugen: 78, 79, 82 (FN 37) Klingender, Wilhelm: 366 (FN 167) Klose, Heinrich 99 (FN 142) Knüsli, Johannes: 156 (FN 52) Koch, Wilhelm: 484, 507 Kögel, Rudolf: 360 (FN 139) Köhler, August: 99 (FN 140), 153, 154 (FN 45), 155, 156, 159, 160, 161, 183, 227, 228, 229, 281, 569 Kolde, Theodor von: 370 (FN 189) Kompff, Helene: 32 Krause: 307 (FN 702), 309 Krause, Fritz: 557 (FN 406) Krause, Gottlob Adolf: 151 Krause, Reinhold: 510, 511 Kreutz: 360 (FN 138) Kriele, Edmund: 58, 517 (FN 208), 518 (FN 211) Krückeberg: 329 (FN 20) Krüger, J. K.: 31 Krummacher, Friedrich Adolph Pastor: 32 Kulenkampff, Alfred: 286 (FN 622), 534 Kulenkampff, Gustav: 40 Kulenkampff, Johann Heinrich: 131 (FN 322), 484 (FN 52) Külz, Ludwig: 250 (FN 457), 268

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Külz, Wilhelm: 171 Küster, F.: 518 (FN 210), 519 (FN 212) Küster: 264 (FN 516), 265 Lachner: 92 (FN 98), 329 (FN 20) Ladewig, C.: 291, 292, 311 (FN 719) Lalaing, Graf von: 439 Landfried: 138 (FN 363), 557 (FN 406) Langen, C. J.: 291 Lattmann, Wilhelm: 215 (FN 311), 222, 223, 366 (FN 167), 371 (FN 194), 380, 388 (FN 271), 392 (FN 289) Lautz, Otto: 138 (FN 363) Lavigerie, Charles Martial Allemand: 150 (FN 22) Lawoë, Adolf: 351 (FN 106) Lawson III, G. A.: 65 Ledebour, Georg: 215 (FN 306), 234 (FN 393) Leinert, Robert: 464 (FN 111) Leipoldt: 61 Lenz, E.: 101, 109, 128 (FN 314) Leo, Heinrich: 34 (FN 19) Leopold II.: 150 (FN 22), 317, 318 (FN 749), 319 Lepsius, Johannes: 223 Lettow-Vorbeck, Paul von: 501, 502 (FN 134) Leube, Paul: 128, 541 (FN 323) Leuschner: 207, 214 Leuze, Josua: 52 (FN 138), 67 Lewala, Zacharias: 133 Lewin, Evans: 21, 471, 472 Lindequist, Friedrich von: 133 (FN 332), 135 (FN 350), 225, 284, 285, 287, 290 (FN 638), 503 (FN 138) Linz, Friedrich: 367 (FN 175), 426, 427 (FN 446) Lissauer, Ernst: 450 (FN 49) Löber, Richard: 370 (FN 189) Lohmann, Alfred: 447 (FN 38) Lohmann, Ernst: 333 Lohmann, Johann Georg: 447 (FN 38) Lohmann, Johannes: 63 (FN 203), 86, 87, 88 89 (FN 77), 91 (FN 95), 96 (FN 122), 105 (FN 183), 107, 108, Lohmann, Otto: 108 (FN 196), 113 (FN 213), 114 (FN 215), 117, 126, 329 (FN 20), 333, 437 (FN 491), 442 (FN 17), 446 (FN 34), 536 (FN 302), 538 Lorentz: 425, 428, 433, 434 (FN 480), 435 (FN 484) Lotz: 299 Löwenstein, Alois Fürst zu: 51 (FN 134) Ludendorff, Erwin: 456 (FN 72), 468

608

Personenregister

(FN 129), 481 (FN 39), 490, 494 Lugard, Frederick: 257 Lütgert, Wilhelm: 364 (FN 154) Luther, Friedrich Henry: 534 Luther, Hans: 392 (FN 290) Lutterroth: 288 Lüttringhausen: 457 (FN 79), 426 (FN 446) Lutz, Friedrich Wilhelm: 213, 214, 218 (FN 323), 268 (FN 532), 296 (FN 655), 298, 299, 300, 301, 302 Lutze: 334 (FN 36) Madeiros, Juan: 123, 327 Maerker, Georg: 501 Maitre, Charles: 523, 524, 525, 526 Mallet, Friedrich Ludwig: 32, 33, 36, 37, 38, 40, 41, 42, 43, 45 (FN 105) Mallet, Ludwig Rudolf: 351 Mallow, Anton: 506 (FN 153), 519 (FN 212), 525 Mann, Thomas: 477 (FN 20) Margerie, Pierre de: 439 Martins, Joao de Freitas: 530 Marwede, Friedrich Carl: 502 (FN 134) Marx, Wilhelm: 484, 497 (FN 112) Mau, Rudolf: 124, 125 (FN 289), 334 (FN 36), 352 (FN 108) Maul, Richard: 88 (FN 72), 128 (FN 314), 336 (FN 46) , 446 (FN 33) Mecklenburg, Johann Albrecht Herzog zu: 157, 177 (FN 148), 186, 276, 282, 283, 455, 456 (FN 72) Mecklenburg-Schwerin, Adolf Friedrich Herzog zu: 255, 256, 267, 342 (FN 70), 569 (FN 3) Maier, Eugen: 527 (FN 247), 532 Meier: 446 (FN 33), 531 Meinecke, Gustav: 196 (FN 227), 342 Meinertzhagen, Georg: 32 Meinhof, Carl: 441 (FN 11) Menge, Johann: 46 Menken, Gottfried: 32, 33 Merensky, Alexander: 158 (FN 57), 162 (FN 72), 187, 208 (FN 273), 340 Metzger, Oskar: 244 (FN 438) Meyer: 536 (FN 299) Meyer: 292 Meyer, August: 416 (FN 386), 425, 435 (FN 486) Meyer, Eckehard:7, 463 (FN 107), 510 (FN 172) Meyer, Emil: 336 Meyer, Hans: 275 (FN 565), 278, 283

Michaelis, Georg: 458 (FN 83), 507 Michaelis, Walter: 370 (FN 189), 507 Miquel, Johannes von: 173 (FN 126) Mirbt, Carl: 321 (FN 759), 343 (FN 72), 441 (FN 11), 504 (FN 146) Mlapa, König von Togoville: 66 Mohr: 263 Möller: 536 (FN 299) Möller, Julius: 422 (FN 425) Moltke, Helmuth von: 173 (FN 126) Moncke: 217 Morel, Edmund Dene: 257 (FN 490) Morgen, Curt von: 194 Mott, John: 512 Müller: 329 (FN 20) Müller: 505 (FN 147) Müller, Ernst: 472 (FN 3, 6) Müller, Hermann: 36 (FN 40), 45 (FN 105) Müller, Hermann: 232 (FN 386) Müller, Hermann: 477 (FN 20) Müller, Gustav: 158 (FN 57), 159, 160, 162 (FN 72), 173 (FN 123) 210, 234 (FN 392), 275 (FN 565) Müller, Ludwig: 511 Mumm, Reinhard: 16, 20, 29, 133, 142 (FN 383), 172 (FN 121), 233 (FN 391), 303, 304 (FN 689), 305, 307, 309, 310, 311, 313, 314 (FN 730), 319 (FN 752), 321 (FN 759), 323 (FN 766), 362 (FN 148), 364 (FN 154), 365, 366, 368, 371 (FN 194), 379 (FN 233, 234, 235, 238), 380, 381, 383, 392 (FN 290), 416 (FN 384), 426 (FN 444), 429 (FN 460), 430, 443 (FN 24), 449, 450 (FN 47), 456 (FN 75), 457, 459, 462, 483, 484 (FN 52), 504 (FN 146), 506, 507, 508 Nachtigal, Gustav:66 Nagel, Wilhelm: 40 Nathusius, Martin von: 364 (FN 154) Naumann, Friedrich: 20, 361, 363, 364, 391, 392, 405, 439 (FN 2), 461 (FN 93), 474 (FN 11) Neuhaus, Carl: 409 (FN 361), 410 (FN 363), 427 (FN 446, 447), 457 (FN 79) Newell, Samuel K.: 351 (FN 106) Niemöller, Martin: 511 (FN 180) Niemöller, Wilhelm: 511 (FN 180) Noel, August Christian: 519 (FN 212) Noltenius, Bernhard Philipp: 41 Noltenius, Friedrich: 69, 145 (FN 2) Noltenius, Friedrich: 108 (FN 196) Noltenius, Friedrich Hermann: 484 (FN 52) Noltenius, Katharina: 41

Personenregister Noske, Gustav: 291 (FN 640), 472 (FN 6) Oehler, Theodor: 180, 186, 187, 194, 200 (FN 243), 341 (FN 67) Oertzen, Dietrich von: 359 (FN 134), 361 Oldham, Joseph Houldsworth: 512, 513, 517, 518 (FN 209, 211, 212), 521 Oloff, Friedrich: 70, 72, 94, 95, 96 (FN 121), 103, 156, 168 (FN 102), 189 (FN 200), 196, 197, 229, 233 FN 389), 240 (FN 420), 277 (FN 573), 278 (FN 578), 279, 280, 281, 282, 285, 286, 289 (FN 634), 293 (FN 646), 392 (FN 288), 533 Olpp, Gottlieb: 321 (FN 759) Olympio, Octaviano: 102 (FN 163) Oncken, Johann Gerhard: 42 (FN 88) Oppenheim, Alfred Freiherr von: 186 Oriola, Waldemar Graf von: 235 (FN 394) Passarge, Siegfried: 179 (FN 157), 194, 206, 211 Paul, Carl: 39, 61, 64 (FN 207), 384 Paul, Martin: 78, 79 (FN 19), 90, 95, 96, 97, 103, 106, 108 (FN 196), 156, 168 (FN 102), 281, 289 (FN 634) Pauli, Emil August:32, 40, 41 (FN 71) Paulus: 230 (FN 380) Pelizäus, Gustav Caspar: 529 Peters, Carl: 178 (FN 150), 188, 189 (FN 198), 196 (FN 227), 250, 251, 252 (FN 464), 267, 275 (FN 565) Petersen: 423 (FN 434) Petri, Johann Georg Karl: 45 (FN 105) Petzet, Arnold: 484 (FN 52) Pflug, A.: 194 Philipps, Wilhelm: 381 (FN 245), 429 (FN 460), 457 Picht, H. F.: 545 (FN 348) Plaku: 242 (FN 425) Plakko: 66 Plate, Georg: 394, 395 (FN 302) Poincaré, Raymond: 493 (FN 92) Polk, Frank L.: 487 (FN 65) Posadowsky-Wehner, Arthur Graf von: 480 Poser und Gross-Naedlitz, Hermann von: 194 Potthoff, Heinz: 407 (FN 348) Prange: 300 Preiswerk, Wilhelm: 52 (FN 140), 61, 96, 121 (FN 264), 223, 338 (FN 53), 344, 345 (FN 76), 552 (FN 380) Preußen, Heinrich Prinz von: 274 (FN 559) Puls: 168 (FN 102) Puttkamer, Jesco von: 16, 24, 54, 75 (FN 1, 2),

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77, 78, 82, 87, 99 (FN 144), 101, 160 (N 64), 174, 175, 176 (FN 140), 181, 182 (FN 168, 170,173), 183, 184, 199 (FN 241), 201 (FN 246), 202, 203, 207 (FN 271), 214, 215, 224 (FN 348, 350), 226 (FN 359), 266 (FN 525), 276 Radbruch, Gustav: 485 (FN 59) Ramsauer, Erich: 568 Ramsay, Hans von: 208 (FN 273), 210, 211 (FN 290), 212 Rathenau, Walter: 506 Rathgen, Karl: 391 Randad, Heinrich: 66, 277 (FN 573) Randad, Ludwig: 277 (FN 573) Raschdau, Ludwig: 57 (FN 173) Rauchberg, Heinrich: 404 (FN 338) Rauws, Johannes: 169, 171 Rechenberg: 269 (FN 532) Rechenberg, Albrecht von: 171, 270 (FN 539), 322 (FN 765), 503 (FN 138) Rehbock, Theodor: 211 (FN 290) Reichel: 58 (FN 175, 177) Reimann: 69 Rein, Wilhelm: 389 (FN 275) Reinhard: 315 Reinhardt: 168 (FN 102) Reuter, Fritz: 388 (FN 272) Rhode, Max: 208 (FN 273), 211 (FN 290), 388 (FN 273) Rhodes, Cecil: 318 (FN 749) Richter: 87 Richter, Eugen: 148, 362 (FN 148) Richter, Julius: 42, 441 (FN 11), 514 Richthofen, Oswald Freiherr von: 160, 504 (FN 146) Riechstein: 330 (FN 20) Rieke, Karl:441 (FN 15), 529, 530 (FN 259) Riedel, Otto: 503 Riesch, Georg: 138 (FN 363) Rippel, Otto: 142 (FN 383), 365 (FN 163), 366, 368, 371 (FN 193, 194), 415 (FN 381) Roeren, Hermann: 472 (FN 3) Rogge: 422 Rogge, Johann Friedrich: 417 Rohmer, Theodor: 453, 454 (FN 63) Rohrbach, Paul: 322 Romeis, Johannes: 558 Römer, Christian: 321 (FN 759) Rösing, Johannes: 394 Rothkirch und Panthen, Lucie von: 444 (FN 27) Rottmann, Christian: 47, 48, 50, 51, 52

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Personenregister

(FN 138), 53, 64, 153 (FN 39) Rottmann, Hermann Ludwig: 49, 52 (FN 138) Roume, Ernest: 247, 248 Rump, Johann: 29, 503 (FN 141) Rust, Conrad: 233 (FN 391) Sander, Ludwig: 211 (FN 290) Sanvee, Emanuel: 568 Sanvee, Mémé Ahlonkoba: 569 (FN 5) Sanvee, Robert Demetrius: 30, 256 (FN 484, 485), 259, 260 (FN 499), 330, 546, 547 (FN 356), 548 (FN 363), 568, 569 Scipio, Wilhelm: 557 (FN 406) Schack, Karl Wilhelm: 369 (FN 185) Schanz, Moritz: 208 (FN 273) Scharlach, Julius: 27, 155, 178 (FN 150), 179, 185 (FN 184), 190, 193 (FN 215), 194, 196 (FN 227), 197, 198, 200 (FN 243), 203 (FN 252), 204 (FN 255), 205, 206, 211, 219, 222 (FN 342), 232, 251, 252, 278, 282, 283 (FN 604), 317 Scheibe: 136 Scheidemann, Philipp: 478, 480 Schiele, Martin: 499 Schiffer, Karl Mathias: 369 (FN 185) Schiller, von: 303 (FN 682), 305, 306 (FN 697) Schilling: 334 (FN 36) Schirmer, Carl: 369 (FN 185) Schlagintweit, Max: 318 (FN 749) Schlatter, Adolf: 364 (FN 154) Schlegel, Johann Bernhard: 51 Schleinitz, Georg von: 179 (FN 157), 206 (FN 266), 275 (FN 565) Schlettwein, Curt: 178 (FN 150), 327 (FN 10) Schlingmann: 70 Schlossmacher, Josef: 138 (FN 363) Schlunk, Franz: 367 (FN 171), 484 Schlunk, Martin: 47, 347, 348 (FN 90), 349 (FN 94, 96), 351, 504 (FN 146), 513, 514, 515, 516, 517, 518, 519, 520, 521, 522, 523, 524 (FN 230) Schmidt: 431 (FN 465) Schnee, Heinrich:473 (FN 7), 503 (FN 138), 504 (FN 146) Schoeller, Max: 180, 193 (FN 215), 205, 222 (FN 342), 254 (FN 471) Scholze, Johannes: 183, 184 (FN 179) Schosser, Hermann: 520, 524 Schrameier, Wilhelm Ludwig: 389 Schreiber: 329 (FN 20) Schreiber, August Wilhelm: 54 (FN 150); 158 (FN 60), 172, 173 (FN 123), 187 (FN 195), 194, 228, 319 (FN 752), 321 (FN 759), 338

(FN 54), 343, 344, 345, 346 (FN 81), 347, 351, 352 (FN 112), 384, 441 (FN 11), 504 (FN 146), 515, 525 Schrempf, Friedrich: 183 Schröder, Hermann Johann: 423 (FN 431), 520 Schröder, Johannes: 46, 56, 158 (FN 57), 162 Schulz: 442 (FN 17) Schulte im Hofe, August: 188, 194, 211 Schultheiss: 496 (FN 108) Schultz-Ewerth, Erich: 503 (FN 138) Schwager, Friedrich: 347 (FN 86) Schwarz: 328 (FN 16) Schwarze, Wilhelm: 232(FN 386) Schweinfurth, Georg August: 155 (FN 46), 246 (FN 448) Seeckt, Hans von: 494 Seeberg, Reinhold Matthäus: 364 (FN 154), 417, 429 (FN 460), 430 Seekamp, Wilhelm: 547 (FN 356) Segnitz: 536 (FN 299) Seitz, Theodor: 138 (FN 361), 159, 160, 167 (FN 101), 168, 215 (FN 305), 285, 290 (FN 638), 504 (FN 146) Seyfert, Erwin: 534 Sheldon, Charles Monroe: 325, 326 Simon, Walter: 283 (FN 604), 193 (FN 215) Simons, Walter: 476 (FN 18), 488, 504 (FN 146) Singer, Paul: 250 Skertchly, J. Alfred: 85 (FN 51) Smidt, Johann: 36, 40, 41 Smidt, S.: 37 Solf, Wilhelm: 259 (FN 495), 285, 286 (FN 622), 287, 292, 293, 295 (FN 653), 297, 304, 305, 306, 312, 313, 315, 322, 327, 382 (FN 247), 384, 440, 454, 455, 467, 474 (FN 9), 477 (FN 20), 565 Söllner, Traugott: 77 (FN 12) Spange: 194 Spellenberg, Gottfried: 183 (FN 177), 184 (FN 179), 297 (FN 661), 298 (FN 664), 300 Spieker, Friedrich: 321 (FN 759) Spieker, Johannes Carl Wilhelm: 384 (FN 253) Spieß, Carl: 519 (FN 212) Spieth, Andreas Jakob: 55, 263 (FN 512) Spyri, Johanna: 33 St. Paul Illaire, Walter: 246, 248, 252 (FN 464), 317, 318 (FN 749), 340 (FN 60) Stahl, Friedrich Julius, Seite: 34 (FN 19) Stanley, Henry Morton: 60 Staudinger, Paul: 186, 193 (FN 215), 200 (FN 243), 208 (FN 273), 211, 219, 278, 283 (FN 604), 318 (FN 745)

Personenregister Staufenbiehl: 544 Stegerwald, Adam: 482 (FN 43) Steinhausen: 310 Stinnes, Hugo: 494 Stockmann, Hermann August Wilhelm: 213 Stockmeyer, Otto: 364 (FN 154) Stoecker, Adolf: 18, 20, 56 (FN 164), 148, 149, 150, 307 (FN 700), 319 (FN 752), 355 (FN 119), 356, 357, v358, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 369, 370, 371, 373, 391, 411, 412, 413, 426, 432 (FN 470), 483, 505 Stoevesandt, Gottfried: 497 (FN 110), 519 (FN 212), 520, 522, 525, 526 Stoevesandt, Johannes Hermann: 36, 45 (FN 105), 46 (FN 111) Strohbach, August: 531 (FN 268) Strandes, Justus: 208 (FN 273) Strauch, Franz: 131 (FN 322), 473 Stresemann, Gustav: 480, 493, 494, 495 (FN 102), 498, 499, 502 Ströter, Ernst Ferdinand: 512 (FN 182) Stuebel, Oskar: 17, 177 (FN 147), 179, 184, 186, 187, 190 (FN 202), 193, 200 (FN 243), 202 (FN 252), 203, 207, 213, 214 (FN 300), 215, 217, 218 (FN 323, 325), 219, 220 (FN 333), 221, 222, 225, 226 (FN 358), 229, 230, 231 (FN 380), 232, 235, 242 (FN 424), 245 (FN 442), 246, 254 (FN 474), 255 (FN 476), 263, 265, 266, 277, 278 (FN 574), 281, 282, 290, 319 (FN 750) Stuhrmann, Heinrich: 18, 316 (FN 739), 366, 408 (FN 351), 410 (FN 362, 364), 415, 416, 417, 419 (FN 396), 421, 422, 423, 424, 425, 427 (FN 446), 428 (FN 451, 454), 430, 431, 432, 433, 434, 435, 436, 463, 466, 505 (FN 151) Stumm-Halberg, Karl Ferdinand von: 361, 362 (FN 147) Stutz, Jakob: 298, 299 Supf, Karl: 283 (FN 605), 293 (FN 647) Swierczewski, Stanislaus: 415 (FN 377) Taylor: 349 (FN 94) Telge: 168 (FN 102) Thiele, Hieronymus: 45 (FN 105) Thilo, Hans Ludwig: 131 (FN 322) Thikötter, Julius: 41 Thimm, Emil: 434 (FN 480) Thomschke, Richard Max: 95 Thorbecke, Franz: 138 (FN 363), 557 (FN 406) Thormählen, Johannes: 180 (FN 164), 181, (FN 168), 188, 189, 194, 195, 231 (FN 380), 279 (587)

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Thyssen, August: 455 (FN 68) Tirpitz, Alfred von: 18, 177 (FN 147), 274 (FN 559), 389, 457 (FN 77), 458 (FN 80), 481 (FN 39), 498 (FN 116) Tomschke: 168 (FN 102) Traeder: 423 (FN 431), 425 Treviranus, Georg Gottfried: 32, 33, 36, 41, 42, 44, 45 (FN 105), 46 Trotha, Lothar von: 233 (FN 391) Tumitse, Paulo: 351 (FN 106) Ulrichs, Carl Bartholomäus: 45 (FN 105) Vallette: 422 Van de Loo, Wilhelm: 291, 305 (FN 691) Van der Burgt, Jan: 303, 321, 472 (FN 6) Velsen, von: 370 (FN 189) Viebahn, Friedrich Karl von: 422 Vietor, Adelheid Henriette, geb. Luce (18311865): 41 (FN 76), 59 Vietor, Caroline, geb. Blendermann (18201901): 33 Vietor, Claus (1901-1959): 422 (FN 426), 436, 509, 524, 532, 546, 558 Vietor, Cornelius Rudolf (1814-1897): 19, 31, 33, 34, 35, 38, 39, 40, 41, 42, 44, 45, 46, 51, 54, 55, 56, 59 Vietor, Cornelius Rudolf (1863-1932): 46, 67 (FN 227), 338, 496 Vietor, Friedrich (1806-1870): 32 Vietor, Friedrich Martin (1776-1836): 31, 32 Vietor, Friedrich Martin (1845-1909): 117 (FN 242), 506 Vietor, Friedrich Martin (1821-1906): 19, 31 (FN 1), 32, 33, 35, 36, 41, 44 (FN 98), 45, 48, 49, 50, 53, 56, 57, 60, 63, 70, 71, 78 (FN 17), 80, 106, 115 (FN 238), 156, 149 (FN 17), 190, 340, 353, 354 (FN 116), 566 Vietor, Friedrich Martin (Fritz, 1880-1941): 117 Vietor, Hedwig Henriette, geb. Augener (1875-1955): 22 (FN 18), 25, 84, 88, 409 (FN 358), 434 (FN 481) Vietor, Heinrich Gottfried (1820-1870): 36, 566 Vietor, Helene, geb. Noltenius (1823- 1891): 41, 44, 57, 116 (FN 238), 354 (FN 116) Vietor, Henriette Amalie, geb. Stachow (1836-1910): 41 (FN 76), 59 Vietor, Irmgard (1904-1990): 62 Vietor, Johann Carl (1810-1870): 19, 32, 33, 35, 36, 37, 45, 46, 47, 48, 49, 52 (FN 142), 337 (FN 51), 566

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Personenregister

Vietor, Emil Karl (1861-1933): 60, 61, 71, 447, 486 Vietor, Karl (1899-1917): 63, 452 (FN 59) Vietor, Theodor (1802-1867): 32 Vietor, Wilhelm (1910-2001): 25, 39 (FN 57), 331 (FN 24), 334 (FN 35), 509 (FN 169), 510 Vietor-Petersen, Helene (1877-1966): 423 (FN 434) Vogel, Johannes: 422 (FN 425) Vohsen, Ernst: 175 (FN 135), 186, 193 (FN 214, 215), 194, 202, 204, 206, 219, 276, 278, 283, 312, 317, 318, 319 (FN 752), 321 (FN 759) Volkmann, Johannes Daniel: 484 (FN 52) Wagner, Adolph: 18, 358 (FN 126) Wagner: 372 Waldersee, Alfred Graf von: 359 Waldstein, David Felix: 321 (FN 759), 464 (FN 111) Wallbaum, Wilhelm: 366, 367 (FN 170), 378 (FN 229), 379 (FN 235), 381 (FN 245), 415, 459 (FN 83), 482 (FN 43), 483 Waltemath: 431 Warburg: 120 (FN 259) Warneck, Gustav: 58, 319 (FN 752), 339, 347, 370 (FN 189), 412 (FN 370) Weber: 86 Weber, Alfred: 392 Weber, Hans: 123, 125, 126, 446, 529, 541 (FN 323) Weber, Ludwig: 368 Weber, Max: 326 (FN 6), 461, 464 (FN 111) Wedekind: 425 (FN 441) Weigelt, Kurt: 504 (FN 146), 558, 560, 561, 562 Wellensiek, Hermann: 138 (FN 363) Wengel, Ernst: 422, 423 (FN 428) Westarp, Kuno Graf von: 382 (FN 245), 483, 494, 499 Westermann, Diedrich: 319 (FN 752), 321 (FN 759), 504 (FN 146) Wichers: 120 (FN 259) Wiedeberg, Joseph: 369 (FN 185) Wiegand, Heinrich: 283, 374, 393 (FN 295), 394 (FN 298) Wichern, Johann Hinrich: 19, 33, 38, 355 (FN 120), 411, 414 Wilckens: 46 (FN 111) Wilckens: 231 (FN 380) Wilhelm II.: 20, 360, 362, 453, 463 Wilkie, Arthur West: 517 FN 206), 519 (FN 212), 521

Wilson, Woodrow: 460, 468, 471, 472, 473 (FN 7, 9), 476, 479 (FN 29), 486 Winkelmann, H.: 127 (FN 302) Wirth, Joseph: 485, 487, 488, 489, 490 Wislicensus, Gustav Adolf: 34 (FN 23) Wissmann, Hermann von: 178 (FN 150), 190, 196 (FN 227), 250 (FN 456) Witte, Karl: 359 Woermann, Adolph: 16, 27, 92, 120 (FN 259), 127 (FN 301), 135 (FN 350), 145, 146, 147, 148, 149, 155, 161 (FN 68), 164, 180 (FN 164), 181 (FN 168), 197, 219, 222 (FN 342), 244 (FN 439), 278, 279 (FN 587), 280, 309 (FN 711) Woermann, Carl: 339 (FN 59) Woermann, Eduard: 293, 294 (FN 649), 305, (auch 4.3., FN 714), 312, 321 (FN 759) Woermann, Kurt: 312, 537, 545 (FN 348), 550 (FN 371) Wohltmann, Ferdinand: 188, 226 (FN 357), 240 (FN 420) Wolf: 214 Wolf, Lorenz: 46 Wolf, Ludwig: 78 Wolmath: 544 Wooley-Lawson, Regina: 569 (FN 4) Würz, Friedrich: 52 (FN 140), 218 (FN 323), 223, 224, 517 Wyneken, Robert: 208 (FN 273) Zahn, Franz Michael: 16, 23, 39, 41, 42, 46, 50, 51, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 145, 146, 147, 148, 149, 156 (FN 52), 161 (FN 68), 173 (FN 123), 174, 320 (FN 756), 337, 338, 340, 341, 342, 347, 351 (FN 106), 354 (FN 116, 117), 370, 371 (FN 190), 417 (FN 387), 566 Zahn, Theodor: 370 (FN 189) Zech auf Neuhofen, Julius Graf von: 164, 168, 217 (FN 322), 218, 219, 236, 237, 238 (FN 410), 241, 243, 244 (FN 438), 245 (FN 442), 247 (FN 450), 255 (FN 476), 256, 262, 263 (FN 515), 264 (FN 517), 266, 270, 285, 321 (FN 759), 341 (FN 64), 346, 347, 348, 385 (FN 260), 394 (FN 296), 565 Zeppelin, Ferdinand Graf von: 450 (FN 48) Ziegler: 299 Zimmerer, Eugen von: 92, 145 (FN 1), 174 (FN 130), 175, 202, 245 Zimmering: 352 (FN 109), 441 (FN 15), 444 (FN 27) Zimmermann, Arthur: 440 (FN 4), 486 (FN 63) Zimmermann: 123, 124, Zoellner, Wilhelm: 370 (FN 189), 417

Personenregister Zweig, Stefan: 450 (FN 49)

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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN UND TABELLEN Nummer Abb. 1:

Beschreibung

Niederlassungen von F. M. Vietor Söhne, J. K. Vietor und Vietor & Freese in Togo der östlichen Goldküste und der Grenzregion zu Dahomey vor 1914. Bearbeitete Abbildung aus: Müller, Hartmut, 1973, S. 111. Abb. 2: Niederlassungen von Vietor & Lohmann und Vietor & Freese in Dahomey vor 1914. Bearbeitete Abbildung aus: Müller, Hartmut, 1973, S. 112. Abb. 3: Niederlassungen von Vietor & Huber in Liberia vor 1914. Bearbeitete Abbildung aus: Müller, Hartmut, 1973, S. 95. Abb. 4: Niederlassungen von Vietor & Freese in Kamerun vor 1914. Bearbeitete Abbildung aus: Gründer, Horst, 2004: Geschichte, S. 253. Abb. 5: Niederlassungen von J. K. Vietor in Deutsch-Südwestafrika vor 1914. Bearbeitete Abbildung aus: Gründer, Horst, 2004: Geschichte, S. 251. Tabelle 1: Ausfuhr-Umsätze der in Togo und Dahomey tätigen Vietorfirmen zwischen 1897 und 1911 in Mark (ohne die Firma F. M. Vietor Söhne). Tabelle 2: Geschäftsgewinne im Togo- und Dahomeygeschäft 1900 bis 1913 in Mark. Tabelle 3: Gewinnzahlen der Firma F. M. Vietor Söhne 1907–1912. Tabelle 4: Spirituoseneinfuhr nach Togo und Anteil an Gesamteinfuhr 1892 bis 1912. Tabelle entnommen: Erbar, 1991, S. 318. Tabelle 5: Entwicklung des Mitgliederstandes des DEVB. Tabelle 6: Vorentschädigung der Firma Vietor & Freese 1920/21. StAB 7,2001-27. Tabelle 7: Vorentschädigung der Firma F. M. Vietor Söhne 1921. StAB 7,2001-27. Tabelle 8: Vorentschädigungen für die Firma Vietor & Huber (Liberia) 1920/21. StAB 7,2001-27. Tabelle 9: Vorentschädigung für die Firma Vietor & Lohmann 1921. StAB 7,2001-27. Tabelle 10: Vorentschädigung für die Firma J. K. Vietor (Südwestafrika) 1921. StAB 7,2001-27. Tabelle 11: Geschäftsentwicklung 1922–1924 (in £). StAB 7,73-13. Tabelle 12: Unternehmensentwicklung 1920 bis 1928 in RM. BAB, 1001-3664, Bl. 178.

Seite 110 111 120 122 129 112 114 116 163 419 539 539 540 540 540 543 553

ANHANG Die folgenden Photographien stammen alle aus dem Privatarchiv der Familie Vietor (VPAH) und tragen keine Signatur. Sie sind chronologisch angeordnet.

C. R. Vietor mit seiner dritten Frau Henriette Amalie, geb. Stachow, und seinen Kindern aus drei Ehen. Ganz oben der älteste Sohn Friedrich Martin mit seiner Verlobten (links von ihm). J. K. Vietor steht in der zweiten Reihe zwischen seinem Vater und seiner Stiefmutter.

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Anhang

J. K. Vietor in Klein Popo um 1890

Anhang

J. K. Vietor (vordere Reihe, ganz unten links sitzend) mit Teilnehmern einer Expeditionsgruppe in Togo um 1890

Kettenhäftlinge in Togo vor Aufbruch zu einem Arbeitseinsatz um 1890

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Anhang

Leitende Angestellte Vietors in Klein Popo mit zwei afrikanischen „Boys“ (stehend) um 1894. V.l.n.r. (sitzend): Kleber, [Juan] d’Almeida, Otto Augener (Vietors Schwager). Auffallend ist die hervorgehobene Position des Afrobrasilianers d’Almeida, der wegen seiner Erfahrung und seines Könnens eine herausragende Stellung von Vietor erhielt.

Briefpapier der 1896 auch in Deutschland gegründeten Firma J. K. Vietor sowie der Firma J. K. Vietor & Cie., die ab 1902 den Namen Vietor & Lohmann trug. Dieses Briefpapier war bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Gebrauch.

Anhang

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„6 Europäer von J. K. Vietor“ (Beschriftung am Bildrand). Deutsche Mitarbeiter Vietors in Togo um 1898. V.l.n.r. Obere Reihe: Dietrich, Stolle, Neumeyer. Untere Reihe (sitzend): Fischer, Weiß, Lachner. Davor (sitzend) zwei afrikanische „Boys“.

Afrikanischer Chief mit Hofstaat in Ouidah, Dahomey um 1898

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Anhang

Büroräume der Bremer Faktorei (F. M. Vietor Söhne) in Keta um 1904

Faktoreigelände der Firma J. K. Vietor in Grand Popo, Dahomey um 1904. In der Mitte das Wohngebäude mit umlaufendem Balkon. Durch den Luftdurchzug der Meeresbrise entstand eine natürliche Ventilation, die als erfrischende Abkühlung wirkte.

Anhang

Afrika-Haus, Am Geeren 60, Bremen um 1910. Deutsche Geschäftszentrale der Firmen J. K. Vietor, Vietor & Lohmann, Vietor & Huber, Vietor & Freese sowie der Stammfirma F. M. Vietor Söhne

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Anhang

Inspektionsreise nach Afrika 1904. Gruppenbild mit Mitarbeitern in Togo vom 10.10.1904. V.l.n.r.: Rötscher, Zelloeger (sitzend), Atekissu, J. K. Vietor (sitzend), Kuhlmann, [Otto] Lohmann (sitzend), Sam, Garke

J. K. Vietor 1903

Anhang

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J. K. Vietor mit seiner Familie 1907

J. K. Vietor mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter und seinen 9 Kindern. Sein ältester Sohn Karl (rechts von ihm in Uniform) fiel bald nach Aufnahme der Fotografie an der Alpenfront.

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Anhang

J. K. Vietor und seine Frau Hedwig kurz vor ihrer gemeinsamen Inspektionsreise nach Afrika, Juli 1927. Es war die erste Reise Vietors nach Afrika nach dem Krieg und zugleich seine letzte.

Johann Karl Vietor zählt zu den führenden Vertretern einer alternativen, reformistischen Kolonialpolitik, die sich seit der Jahrhundertwende immer größeres, öffentliches Gehör verschaffen konnte. Aus dem Umfeld der Bremer Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts kommend und eng verzahnt mit neupietistischen und sozial-konservativen Strömungen, gelang es ihm, ein Netzwerk aus protestantischen Missionsgesellschaften und selbständigen Kaufleuten zu knüpfen, das aus jeweils unterschiedlichen Motiven auf eine Förderung der eigenständigen Marktfähigkeit der indigenen kolonialen Bevölkerung drängte. Bernhard Olpen

legt mit seiner Arbeit erstmals eine umfassende biografische Untersuchung zu einem der führenden Kolonialkaufleute der deutschen Kolonialära vor und kann dabei auch die schwierigen Rahmenbedingungen für die deutsche Kolonialwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg aufzeigen, da Vietor als einem der ganz wenigen deutschen Unternehmer ein Neuanfang in den togoischen Mandatsgebieten gelang. Daneben öffnet die Untersuchung auch den Blick für die Zusammenhänge innerhalb des weit verzweigten christlich-nationalen Konservatismus des Kaiserreiches und der Weimarer Republik.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10837-9