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German Pages 312 [320] Year 1972
VERÖFFENTLICHUNGEN
DER
H I S T O R I S C H E N KOMMISSION ZU B E R L I N
BAND 40
PUBLIKATIONEN GESCHICHTE
DER
ZUR INDUSTRIALISIERUNG
BAND
4
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1972
HARTMUT
KAELBLE
BERLINER UNTERNEHMER W Ä H R E N D DER FRÜHEN INDUSTRIALISIERUNG Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluß
Mit einem Vorwort von OTTO BÜSCH
w DE
Walter de Gruyter · Berlin · New
1972
York
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs 13 der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin erscheint mit Unterstützung des Senators für Wissenschaft und Kunst, Berlin
Lektorat
der
Schriftenreihe:
C H R I S T I A N SCHÄDLICH
Ο I S B N 3 11 003873 0 Copyright 1972 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . GÖschen'sche Verlagshandlung J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & C o m p . Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe, der Herstellung von — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36
·
Mikrofilmen
VORWORT Mit der Veröffentlichung der vorliegenden Habilitationsschrift von Hartmut Kaelble setzt die Historische Kommission zu Berlin die Reihe ihrer Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung fort, die sie mit den Studien von Ilja Mieck (1965)1 und Hans Rosenberg (1967)2 sowie dem von Wolfram Fischer herausgegebenen Sammelband (1968)3 eingeleitet und zuletzt — nach der Aufnahme ihrer Arbeiten zum Schwerpunktprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft über die Geschichte der frühen Industrialisierung in Deutschland — für den Wirtschaftsraum Berlin-Brandenburg mit dem vom Unterzeichneten herausgegebenen Aufsatzband zu diesem Themenkreis (1971)4 sowie seinem eigenen Beitrag zur Industrialisierungsgeschichte vornehmlich dieses Raumes (1971)5 weitergeführt hat. Der Autor der folgenden Studie hat zu der Forschungsgruppe gehört, die 1965 in der Historischen Kommission zu Berlin mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter Betreuung des Unterzeichneten damit begann, ihren Beitrag zur Geschichte der Frühindustrialisierung zu leisten, und hat es in diesem Rahmen übernommen, am
1 Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806—1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus. Mit einer Einführung von Wolfram Fisdier und O t t o Büsch ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 20), Berlin 1965. 2 Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 24), Berlin 1967. 3 Wirtschaftsund sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, hrsg. von Wolfram Fischer ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 1), Berlin 1968. 4 Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtsdiaftsraum Berlin/Brandenburg, hrsg. von O t t o Büsch ( = Einzel Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 6), Berlin 1971. Vgl. auch die im Zusammenhang mit diesen Arbeiten entstandene Schrift: O t t o Büsch, Industrialisierung und Geschichtswissenschaft. Ein Beitrag zur Thematik und Methodologie der historischen Industrialisierungsforsdiung, Berlin 1969. 5 O t t o Büsch, Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800—1850. Eine empirische Untersuchung zur gewerblichen Wirtschaft einer haupt-
VI
Vorwort
Berliner Beispiel dem Verhältnis von Unternehmerschaft und Verwaltung während der Frühphasen der Industrialisierung nachzugehen. Als erstes Resultat seiner Untersuchungen konnte er 1971 seinen Essay über Kommunalverwaltung und Unternehmer in Berlin während der frühen Industrialisierung vorlegen.6 In einem „Ausblick" stellte er sich in dieser Untersuchung die Aufgabe, in seiner schon in Angriff genommenen umfassenderen Studie die vorgetragenen Ergebnisse nach zwei Richtungen zu ergänzen, nämlich einmal durch eine Untersuchung der Berliner Unternehmerschaft als sozialer Gruppe und zum anderen durch eine Analyse ihres Anteils an den Entscheidungen der Staatsverwaltung, die die wirtschaftliche Entwicklung Berlins betrafen. Dabei nahm er sich vor, die Frage zu beantworten, „wie sich der ökonomische Prozeß der Industrialisierung im Falle Berlins unter den besonderen Bedingungen der damaligen, noch stark mit feudalen Elementen durchsetzten Gesellschaft unter anderem in der Herausbildung einer Unternehmergruppe manifestierte" und „wie sich die ökonomischen und sozialen Interessen dieser Unternehmergruppe wiederum im Rahmen der damaligen, tief in die Gesellschaft eingreifenden Staats- und Wirtschaftsordnung Preußens in bestimmte Aktionen und Reaktionen der Verwaltung umsetzten". Schon in dieser seiner Ankündigung war für den Verfasser klar, daß „diese Entwicklung nicht nur durch die allmähliche Profilierung und Umstrukturierung der Unternehmergruppe sowie durch ihren sozialen Aufstieg zur,Geldaristokratie' und zu,Fabrikherren' in der Selbsteinschätzung wie in der Einschätzung der damaligen preußischen Gesellschaft gekennzeichnet" war; nach seiner Meinung schlug sie sich auch „in der Ausformung einer politischen Interessengruppe von Unternehmern und in deren zunehmender Bedeutung als Faktor politischer Entscheidungen in der preußischen Staatsverwaltung" nieder. Seine Überlegungen führten den Autor zu dem Schluß, daß „die Geschichte der Industrialisierung nicht nur die Staatsverwaltung als Faktor des Industrialisierungsprozesses, sondern auch die Industrialisierung mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen als Faktor staatlicher Entscheidungen" einschließe.7 stadtgebundenen Wirtschaftsregion in frühindustrieller Zeit. Mit einer Statistik und einer thematischen Karte zum Jahr 1849 ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 9), Berlin 1971; ders., Gewerbe um 1S49, Karte i. Maßst. 1 :500 000 m. Text ( = Hist. Handatlas v. Brandenburg u. Berlin, Lfg. 30), Berlin 1970. 6 In: Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung . . S . 372—415. 7 Siehe a. a. O., S. 412 u. 415.
VII
Vorwort
Ganz im Sinne seiner damaligen Ankündigung legt Hartmut Kaelble mit seinem Band über die Berliner Unternehmer in der frühindustriellen Zeit von den dreißiger Jahren bis zum Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts jetzt eine soziologisch-politologisch orientierte und empirisch angelegte Untersuchung vor, die sich bewußt nicht an den von der ökonomisch bestimmten Unternehmerforschung favorisierten Auseinandersetzungen über die Rolle des Unternehmers im Prozeß des wirtschaftlichen Wachstums, der innovatorischen Technologie und der sich wandelnden Betriebsstrukturen beteiligt. Vielmehr konzentriert sie sich — ausgehend von einem Begriff des Unternehmers, der, wie der aktiv wirtschaftende Bankier, Kaufmann, Industrielle und frühe Direktor, die „strategischen Entscheidungen" und die Dispositionen über die Produktionsfaktoren innerhalb eines Wirtschaftsbetriebes trifft — auf die Fragen nach der individuellen Herkunft, dem kollektiven Aufstieg und dem politischen Einfluß solcher Berliner Unternehmer in dem betrachteten Zeitraum. Die Studie wird so zu einem Beitrag ebensowohl zur Geschichte der „herrschenden Klasse" in Preußen vor der preußischdeutschen Reichsgründung wie zur Sozialgesehichte einer „altindustrialisierten", hauptstadtgebundenen Wirtschaftsregion von europäischem Gewicht. Die Historische Kommission zu Berlin übergibt daher der Öffentlichkeit auch diesen Band aus ihrer industrialisierungsgeschichtlichen Reihe in der Uberzeugung, daß er mit seinem im Ausschnitt der historischen Landschaft Berlin und am Beispiel einer primären Trägerschicht der frühen Industrialisierung verdeutlichten zentralen Zugang zur Erforschung dieser bis in die Gegenwart hinein aktuellen Problematik für mehrere an der Industrialisierungsforschung beteiligte wissenschaftliche Disziplinen weiterführende Anregungen vermitteln wird.
Berlin-Zehlendo r f , im August 1972
Im Auftrage der Historischen Kommission zu Berlin Prof. Dr. Otto Büs)
Unternehmern59 1851 bis 1873 (in Ύο)
Insgesamt (in·/·)
Betriebserben Betriebsgründer
14 86
28 72
57 43
35 65
Zahl der Fälle
100 58
100 65
100 74
100 197
leitende Position über Anteilkauf erwarben oder einen Betrieb gründen konnten, allein weil sie ein Vermögen erbten. Dieser zweite Begriffsinhalt wird hier nidit berücksichtigt, da zur Frage des Startkapitals der frühindustriellen Berliner Unternehmer zu wenig Informationen vorhanden sind. Aus demselben Grund werden auch andere Arten direkter oder indirekter Mithilfe der Familie bei der unternehmerischen Karriere hier nicht weiterverfolgt (vgl. dazu S. M. Lipset/R. Bendix, Social Mobility ..., S. 139 f.). Audi die anderen beiden Laufbahnarten Bendix' wurden hier etwas anders definiert. Zusammengestellt nach dem unter der TABELLE 1 angegebenen Material. Es sind in dieser Zusammenstellung nur Unternehmer erfaßt, die zwischen 1835 und 1873 in Berlin tätig waren. Das Toleranzintervall wurde mit einer Sicherheit von 95,5 °/o beredinet. 53
I. Die Herkunft der Berliner Unternehmer
56
frühen Industrialisierung die Unternehmer noch überwiegend Betriebseigentümer waren und damit die Verfügung über die Produktionsmittel fast immer vererblich war.Wie bedeutsam dieser Umstand im Berliner Fall war, zeigt die Zusammenstellung in T A B E L L E 9 . Zumindest aus den hier zusammengestellten Fällen läßt sich der Schluß ziehen, daß die Berliner Unternehmer, die nach 1850 starteten, ihre Position schon überwiegend durch Erbe erreichten. In dieser Zeit erklärt also die Vererblichkeit der Unternehmerposition die einseitige soziale Herkunftsverteilung in Berlin weitgehend. Für den gesamten Zeitraum der frühen Industrialisierung kann man diese These allerdings schon deshalb nicht aufstellen, weil die Betriebsgründer damals weit überwogen. Es kommt hinzu, daß sich die Betriebserben nicht gleichmäßig auf die verschiedenen Wirtschafts- und Industriezweige Berlins verteilten. Dazu folgende Zusammenstellung: TABELLE 9 a
Verteilung
von Betriebserben und Betriebsgründern auf einige Industrie- und Wirtschaftszweige Berlins54
(1835—1873)
Textil-
Masch inen-
Metall-
Chemische
industrie
industrie
industrie
Industrie
(in °/o)
(in »/»)
(in °/ο)
(in °/o)
Banken (in °/o)
Betriebserben
60
14
57
53
42
Betriebsgründer
40
86
63
47
58
100
100
100
100
100
53
44
27
17
31
Zahl der Fälle
In der Textilindustrie überwogen also die Betriebserben; in diesem nur langsam wachsenden Industriezweig Berlins kann man daher die Tatsache, daß die Unternehmer vor allem aus Unternehmerfamilien abstammten, weitgehend aus der Vererblichkeit der Unternehmerposition erklären. Vor allem in der schnell wachsenden Maschinenindustrie, aber auch in der Metallindustrie und im Banksektor herrschten dagegen die Betriebsgründer vor; hier müssen andere Gründe für die einseitige 54
Diese Zusammenstellung beruht auf dem unter der TABELLE 1 angegebenen
Material. Hier sind Fälle von Unternehmern zusammengefaßt, die zwischen
1835
und 1873 in Berlin tätig waren. Der angegebene Zeitraum bezieht sidi also nidit auf den Zeitpunkt der Betriebsübernahme oder -gründung.
Unternehmerausbildung
und -laufbahnen
57
soziale Herkunftsverteilung der Berliner Unternehmer maßgebend gewesen sein. Die Bedeutung der Vererblichkeit der Unternehmerposition wird weiter dadurch eingeschränkt, daß es in der Berliner Textilindustrie ähnlich wie in der langsam wachsenden französischen Industrie 55 sehr häufig Familienunternehmen gab, in denen Verwandte arbeitsteilig einen Betrieb leiteten. Dadurch entsteht in der obigen Zusammenstellung ein falsches Bild, da auf einen Textilbetrieb im Fall der Vererbung häufig jeweils mehrere Unternehmer, im Fall der Betriebsgründung jeweils meist nur ein Unternehmer entfiel. Um das zu verdeutlichen, seien die bekannten Beispiele für Familienunternehmen — zuerst in der Textilindustrie — näher beschrieben. Die Friedheimsche Kattunund Wollwarenfabrik und -appretur wurde seit Ende der vierziger Jahre von drei Brüdern gemeinsam geleitet. Der älteste Bruder Moritz hatte Verkauf und Produktionsdisposition unter sich; dem mittleren Bruder Isau unterstand die Weberei in Sachsen, dem jüngeren Bruder Bernhard die Färberei und Appretur in Berlin. Ebenso arbeitsteilig dürften seit den vierziger Jahren die Brüder Liebermann ihr ererbtes Unternehmen geleitet haben, das aus einer Kattunfabrik und einer Nähseidenfabrik in Berlin und einer Seidenwickelanstalt in Nowawes bestand. Die Meyersche Seidenwarenfabrik, die in Berlin, Brandenburg, Bernau und Köpenick produzierte, wurde in den vierziger Jahren von einem ganzen Familienclan, dem ursprünglichen Alleininhaber Jacob Abraham Meyer, seinem Sohn Abraham Meyer, seinen Neffen Wolff Joel Meyer, Meyer Magnus, Abraham Levy Bein und schließlich dem Sohn des letzteren, Hermann Bein, geführt. Später stießen weitere Angehörige dieser Großfamilie dazu. Die Brüder Philipp und Israel Julius Wolff Meyer, beide Schwiegersöhne Jacob Abraham Meyers, gründeten dagegen in Berlin während der vierziger Jahre eine eigene Seidenwarenfabrik, in der der ältere Bruder die Produktionsleitung, der jüngere die Verkaufsleitung übernahm. Die Lehmannsche Plüschund Wollwarenfabrik, die in Berlin 600, in Nowawes 100, inWeigandsthal 80 Personen beschäftigte, wurde in den sechziger Jahren von David Joseph Lehmann und seinen beiden Söhnen gemeinsam geleitet. Vgl. dazu David S. Landes, French Entrepreneur ship and Industrial Growth in the Nineteenth Century, in: Journal of Economic History 9 (1949), S. 52 f.; Bertrand Gille, Recherches sur la formation de la grande entreprise capitaliste (1815—1848), Paris 1959, S. 90. Für arbeitsteilige Betriebsführung durch Familienmitglieder vgl. Paul Leuilliot, L'Alsace au debut du XIXe siecle, Bd. 2: Les transformations economique, Paris 1959, S. 382 ff. 55
58
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Israel Hirschfeld, Bankier und Textilunternehmer, betrieb seine Wollen- und Baumwollenwarenhandlung und -fabrikation seit den vierziger Jahren gemeinsam mit seinem Schwager. In dem Heeseschen Unternehmen, das aus Seidenzucht-, -Spinnerei, -Weberei, -groß- und einzelhandel bestand, teilten sich der Vater Johann Adolph Heese, der sich seit den vierziger Jahren mehr und mehr auf die Seidenzucht beschränkte, die beiden Söhne und der Schwiegersohn die Betriebsleitung. Ähnlich arbeitsteilig dürfte die Wollweberei der vier Brüder Reichenheim, die Seidenhandlung und -fabrik, die Gabain zusammen mit seinen Schwägern besaß, und das Konfektionsgeschäft der vier Brüder Gerson geführt worden sein.56 Weit weniger ausgeprägt war die arbeitsteilige Unternehmensleitung durch Verwandte in der Maschinen- und Metallindustrie. Die beiden einzigen und zudem erst nach der Jahrhundertmitte auftretenden Beispiele aus der Maschinenindustrie gehören allerdings zu den größten Berliner Maschinenfabriken. Die Maschinenfabrik Freund, die in den fünfziger Jahren 300 bis 400 Arbeiter beschäftigte, wurde damals von zwei Brüdern, J. C. und H. Freund, und deren Schwager gemeinsam geleitet. Ebenfalls zwei Brüder, auch hier Betriebserben, teilten sich in den sechziger Jahren in die Leitung des Egellsschen Unternehmens, das damals aus einer Eisengießerei und einer Maschinenfabrik in Berlin, einer Eisenblechfabrik in Tegel und mehreren Hütten in Schlesien bestand und in Berlin 300 bis 400 Arbeiter beschäftigte. Aus der Metallindustrie ist nur ein Beispiel für arbeitsteilige Unternehmensleitung durch Verwandte bekannt. Das 1819 begründete Heckmannsche Unter58 Vgl. zu Friedheim: Moritz Friedheim an Berliner Polizeipräsident, 16.5.1856, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 5; zu Liebermann: Oberpräsident der Prov. Brandenburg an Handelsminister, 19.1.1860, a. a. O., Bd. 6; zu J. A. Meyer: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 28.10.1841, a.a.O., Bd. 2; ders. an Handelsmin., 21. 4. 1859, a. a. O., Bd. 6; zu Ph. Meyer: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 25.10.1843, a.a.O., Bd. 3; zu Lehmann: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg. 4 . 4 . 1 8 5 9 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. L. Nr. 11425; zu Hirschfeld: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 22.5.1841, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 2; zu Heese: H. Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute..., S. 176; Interner Ber. d. Berliner Polizeipräs., 27.2.1855, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Η Nr. 10492; zu Reidienheim: Berlin und seine Entwicklung, 3. Jg. (1869), S. 354; zu Gabain: Mitteilungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen, Jg. 1827, S. 38; zu Gerson: Immediatber. des Handelsmin., 27.6.1871, DZA Merseburg, Rep. 120 A 5 Bd. 12; Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 2 . 6 . 1 8 6 8 und 20.2.1872, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. G Nr. 10125.
Unternehmerausbildung
und
-laufbahnen
59
nehmen, das in den siebziger Jahren aus mehreren metallindustriellen Betrieben in Berlin, Breslau, Moskau, Hamburg und Letichin bestand, wurde damals vom Sohn des Firmengründers, A. F. Heckmann, dessen Bruder und dessen Sohn gemeinsam geleitet. In anderen Industriezweigen Berlins entschieden verwandtschaftliche Beziehungen ebenso selten über den Zugang zur Unternehmerposition. 57 Auch die Berliner Bankiers wählten ihre leitenden Mitarbeiter selten nadi dem Kriterium der verwandtschaftlichen Beziehung aus. Eine Ausnahme war audi hier eines der größten Berliner Bankhäuser, die Mendelssohnsche Bank. Sie wurde allerdings nur in den Gründungsjahren von zwei Brüdern und in den sechziger Jahren von Alexander Mendelssohn, seinem Vetter Paul Mendelssohn-Bartholdy und seinem Sohn Franz Mendelssohn gemeinsam geleitet. Eine andere der großen Berliner Privatbanken, die Bank C. N . Engelhards, wurde in den sechziger Jahren vom Gründer selbst, von seinem Schwager Arndt, seinem Schwiegersohn Schultz und seinem Sohn gemeinsam geführt. Ebenso leitete Aron Hirsch Heymann, einer der mittelgroßen Bankiers Berlins, der in den sechziger Jahren in seinem Bank- und Wechselgeschäft sechs bis acht Millionen Taler jährlich umsetzte, sein Unternehmen gemeinsam mit seinen drei Söhnen.58 Diese starke Ausbildung von Familienbetrieben und damit die häufige Vererbung von Betrieben hat nach der Jahrhundertmitte und in bestimmten Industriezweigen dazu beigetragen, daß die Berliner Unternehmer vor allem Unternehmerfamilien entstammten. Sie kann jedoch nicht der einzige Grund dafür gewesen sein. Ungefähr drei von vier Berliner Unternehmern waren Unternehmersöhne; sehr viel weniger — höchstens ungefähr jeder dritte — waren dagegen Betriebserben. Um zu erklären, warum also zahlreiche Berliner Unternehmer aus Bankiers-, Kaufmanns- und Industriellenfamilien stammten, obwohl sie in der Mehrzahl nicht den väterlichen Betrieb übernahmen, 57
Vgl. zu Freund: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 13.5.1855, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 5; zu Egells: Immediatberidit des Handelsmin., 18.11. 1869, a. a. O., Bd. 11; zu Heckmann: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 11.4.1880, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Η Nr. 10547. 58 Vgl. zu Mendelssohn: H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., S. 90; Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 13. 12.1865, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Μ Nr. 11791; zu Engelhard: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 12. 4.1866, a. a. O., Lit. Ε Nr. 9681; zu Heymann: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 20.11.1868, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 10.
60
I. Die Herkunft der Berliner
Unternehmer
und um gleichzeitig Gründe für die berufliche Herkunftsverteilung der Berliner Unternehmer zu finden, werden nun die verschiedenen Wege verfolgt, auf denen die Berliner Unternehmer in der Regel ihre Position erreichten. Wie schon angekündigt, werden dabei die Laufbahnen der Betriebserben, der Betriebsgründer und der „Bürokraten" getrennt behandelt. Bei den Betriebserben lassen sich drei Arten des unternehmerischen Werdegangs unterscheiden. Ein erster und der traditionellste Weg war die Ausbildung im Betrieb des Vaters oder der Verwandten, der dann später auch geleitet werden sollte. Der Startvorsprung des Unternehmersohns oder -verwandten war in diesem Fall extrem groß und die Gruppe, aus der Unternehmer rekrutiert wurden, extrem klein, da sich nur auf Grund verwandtschaftlicher Beziehungen der Zugang zu technischen und organisatorischen Kenntnissen erschloß. Ähnlich wie im frühindustriellen England bestand diese Mobilitätsschranke vor allem in denjenigen Industrie- und Wirtschaftszweigen, die relativ wenig wachstumsorientiert waren, 59 in denen entweder unternehmerische Möglichkeiten und damit Aufstiegschancen kaum zunahmen oder keine technischen bzw. organisatorischen Innovationen neue Arten der Unternehmerausbildung erforderten. So sind für diese Form der Ausbildung von Unternehmersöhnen in Berlin vor allem Beispiele aus der Textilindustrie seit den zwanziger Jahren bekannt. Der Seidenhändler und -garnfabrikant A. L. Volckart, der um 1850 fünfzig bis hundert Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigte, war in den zwanziger Jahren im väterlichen Betrieb ausgebildet worden. A. L. Bein, als Teilhaber Mitglied der Leitung der Meyerschen Seidenwarenfabrik, die in Berlin und anderen Städten der Mark Brandenburg Ende der fünfziger Jahre 1500 bis 2000 Personen beschäftigte, hatte in den zwanziger Jahren ebenfalls seine gesamte Ausbildung in diesem Unternehmen seines Onkels durchlaufen. Ein weiteres Beispiel aus demselben Zweig der Berliner Textilindustrie ist W. Landwehr, der in den dreißiger Jahren im väterlichen Betrieb ausgebildet wurde, danach allerdings in der Lyoneser Seidenindustrie praktizierte. Aus der Leinenindustrie ist der Fall M. Bendix' bekannt, dessen Betrieb mit über 300 000 Talern Jahresumsatz Anfang der sechziger Jahre zu den größten dieses Industriezweiges in Berlin gehörte und der ebenfalls in den dreißiger Jahren nur im Betrieb seines Onkels ausgebildet wurde, den er später übernahm. Ebenfalls in den dreißiger Jahren wurde der Berliner Leder59
Sidney Pollard, The Genesis of Modern Management, London 1965, S. 122 f.
Unternehmerausbildung
und
61
-laufbahnen
industrielle C. G. Dienstbach nach dem Besuch des Realgymnasiums im väterlichen Geschäft ausgebildet. Ein sehr später Fall ist der H . O. Dellschaus, der seine Ausbildung ausschließlich in der väterlichen und später von ihm geleiteten Eisengroßhandlung um die Jahrhundertmitte absolvierte. 60 Der zweite Ausbildungsweg von Betriebserben bestand im praktischen Training in anderen, häufig technisch oder organisatorisch entwickelteren Unternehmen. Wie sich bei den Laufbahnen von Unternehmensgründern zeigen wird, war dieser Ausbildungsweg allerdings nicht auf Unternehmersöhne und -verwandte beschränkt und stellte daher eine sozial weiter ausgreifende Form der Rekrutierung von Unternehmern dar. Ähnlich wie in England ist dieser Ausbildungsweg nicht nur bei Unternehmensgründern, sondern auch bei designierten Betriebserben meist in expandierenden Industrie- und Wirtschaftszweigen anzutreffen. Auch wenn bereits bestehende Geschäftsbeziehungen den Unternehmersöhnen und -verwandten den Zugang zu qualifiziertem praktischem Training erleichtert haben mögen, so bestand ihr Startvorsprung bei diesem Ausbildungsweg weitgehend nur noch in der Verfügung über Produktionsmittel. Fälle für diesen Ausbildungsweg sind unter den Betriebserben vor allem aus der Textilveredlung, der Metall- und der chemischen Industrie bekannt. Der Besitzer einer der größten Berliner Färbereien, J . Η . A. Bergmann, war zuerst kaufmännischer Lehrling bei seinem Bruder, einem Leipziger Seidenhändler; er praktizierte danach um 1825 in der oberitalienischen Seidenindustrie, bevor er Compagnon seines Bruder wurde; in den dreißiger Jahren gründete er allerdings ein eigenes Unternehmen in Berlin. H . G. Jürst, Sohn eines Berliner Metallindustriellen, praktizierte nach dem Besuch der Friedrich-Werderschen Gewerbeschule in Berlin und nach einer kaufmännischen Lehre zwei Jahre lang in Frankreich, Großbritannien, Polen und Rußland, bevor er 1841 die Filiale seines Vaters in Warschau kaufte, in Berlin und Essen Neusilberdampf-
60
Vgl. zu Volckart: Oberbürgermeister Berlins an Oberpräsident d. Prov. Bran-
denburg, 24. 3 . 1 8 5 2 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A I V 5 Bd. 4 ; zu Bein: Bürgermeister Brandenburgs an Regierung Potsdam, 3 . 1 2 . 1 8 5 7 , D Z A Merseburg a.a.O., zu Landwehr: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 2 8 . 3 . 1 8 5 9 , a.a.O.,
Bd. 6 ;
Bd. 6 ; zu
Bendix: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 23. 6 . 1 8 6 3 , a.a.O.,
Bd. 8 ; zu Dienstbadi: ders. an dens., 2 1 . 1 2 . 1 8 5 9 , StA Potsdam, Pr. Br.
Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. D N r . 9 5 4 7 ; zu Dellschau: O. Dellsdiau, Festschrift 100jährigen
Bestehen
der
Fa.
G.E.
Dellschau...,
Berliner Seidenindustrie vgl. L. Baar, Die Berliner
S. 13; zur Stagnation Industrie ...,
S. 50 ff.
zum
in der
62
/. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
und Walzwerke gründete und 1847 das Unternehmen seines Vaters übernahm. Ähnlich verlief die Ausbildung G. Riedels, Sohn eines Berliner Apothekers und chemischen Industriellen. Bevor er die Leitung des väterlichen Betriebs übernahm, konditionierte er sich in Breslauer und Darmstädter Apotheken bei Geschäftspartnern seines Vaters und praktizierte in den vierziger Jahren in Großbritannien, Rußland, Skandinavien und Frankreich, um Produktionstechniken und Absatzgebiete kennenzulernen.61 Der dritte Ausbildungsweg, der sich bei designierten Betriebserben in Berlin beobachten läßt, war die Hoch- und Fachschulausbildung. Auch dieser Ausbildungsweg war den Unternehmenserben nicht erkennbar leichter zugänglich als späteren Unternehmensgründern. Dabei bestanden in der Ausbildung des Berliner chemischen Industriellen G. Riedel dieser und der vorher erwähnte Ausbildungsweg noch nebeneinander; neben dem praktischen Training studierte er Ende der dreißiger Jahre zwei Jahre Pharmazie in Bonn. Bei L. Α. H. Kunheim dagegen, dem Sohn des Kaufmanns und Berliner chemischen Industriellen S. H . Kunheim, schloß sich in derselben Zeit das diemische Studium an der Berliner Universität direkt an die Gymnasialausbildung an. Sein Sohn und Nadifolger in der Betriebsleitung, H. Kunheim, studierte in den sechziger Jahren ebenfalls sofort nach dem Besuch des Gymnasiums Chemie in Berlin, Heidelberg und Göttingen. Fälle der akademischen Ausbildung von Unternehmenserben sind — neben der chemischen Industrie — in Berlin aus der Apparate- und Metallindustrie und dem Metallhandel bekannt. H . Windler, Anfang der fünfziger Jahre Erbe eines kleineren Apparatebaubetriebs, war in den vierziger Jahren als Ingenieur ausgebildet worden; J. Pintsch, Sohn und Betriebserbe des Berliner Lampen- und Gasapparatefabrikanten C. F. J. Pintsch, studierte nach der Gymnasialausbildung Chemie und Ingenieurwissenschaften; A. F. Heckmann, Erbe des damals größten Berliner Metallunternehmens, wurde nach dem Besuch der Friedrich-Werderschen Gewerbeschule und nach der Lehre als Kupferschmied, dem Beruf des Firmengründers, in den vierziger Jahren ebenso als Ingenieur ausgebildet wie L. F. J. Ravene, Sohn und Firmennachfolger eines der größten Berliner Kohlen- und Eisenhändler. Der Sohn des Weinhändlers e l Vgl. zu Bergmann: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 24.10.1857, DZA Merseburg, Rep. 120 A VI 5 Bd. 5; zu Jürst: Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Handelsmin., 23.10. 1860, a. a. O., Bd. 7; zu Riedel: W. Vershofen, Die Anfänge der chemisch-pharmazeutischen Industrie..., Bd. 2, S. 51; 150 Jahre Riedel-de Haen ..., S. 37 ff.
Unternehmerausbildung
und
-laufbahnen
63
und Bankiers F. W. Krause besuchte die Universität, bevor er eine kaufmännische Lehre absolvierte und danach Teilhaber im Bankgeschäft seines Vaters wurde. 62 Eine Reihe von anderen Fällen zeigt, daß dieser Ausbildungsweg nicht allein von Betriebserben beschritten wurde. Fournier hatte Jura studiert und war Kammergerichtsassessor gewesen, bevor er Direktor der Berlin-Anhaltischen und der niederschlesisch-märkischen Eisenbahngesellschaften wurde. Hermann Jacobson, promovierter Jurist und Sohn des Bankiers und mecklenburgischen Geheimen Finanzrats Israel Jacobson, war Gründer einer Bank, die während der vierziger Jahre zu einer der bedeutendsten in Berlin gehörte. A. Salomonsohn, Sohn eines Rabbiners, hatte Jura studiert und war seit 1869 einer der Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft; A. Delbrück, der kurz danach Vorsitzender des Aufsichtsrats der Deutschen Bank wurde, war ebenfalls Jurist und hatte 1854 in Berlin eine schnell erfolgreiche Privatbank gegründet. Der Kaufmannssohn Hermann Friedländer hatte Chemie studiert, bevor er in den vierziger Jahren in Berlin eine Wollwarenfabrik und -färberei gründete. Der Gründer der AEG, Emil Rathenau, besuchte nach dem Gymnasium und der Lehrzeit in einer Maschinenfabrik das Polytechnikum in Hannover und die technische Hochschule in Zürich: 1865 versuchte er sich erstmals mit einer Firmengründung, einer Rüstungsfabrik, die allerdings sehr bald in eine Aktiengesellschaft überging. Die Berliner Maschinenfabrikanten Hoppe, Fesca, Schwartzkopif und Borsig schließlich waren — wie schon erwähnt — Absolventen des Berliner Gewerbeinstituts. 63 62
Vgl. zu Riedel: a. a. O., S. 37; zu Kunheim: 100 Jahre Kunheim..., S. 17 f.; zu Windler: P. Hirschfeld, Berlins Großindustrie..., Bd. 1, S. 166; zu Pintsdi: Paul Lindenberg, Julius Pintsch, Berlin 1914, passim; zu Heckmann: Berliner Polizeipräs. an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 2 8 . 9 . 1 8 6 5 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Η Nr. 10547; Κ. F. Klöden, Programm zur Prüfung der Zöglinge der Gewerbeschule, Berlin 1830, S. 91; zu Ravene: Berliner Polizeipräs. an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 1 2 . 8 . 1 8 6 2 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. R Nr. 12583. Bei den Berliner Bankiersöhnen Henoch und Krause konnte die Studienrichtung nicht ermittelt werden; es kann daher nicht entschieden werden, wie weit das Studium auf die spätere Unternehmertätigkeit zugeschnitten war (zu Henodi: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 12. 4. 1865, a. a. O., Lit. Η Nr. 10499; zu Krause: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 2 4 . 1 2 . 1 8 5 9 , a. a. O., Lit. Κ Nr. 11077). 63 Vgl. zu Fournier: Albert Kodihann (Hrsg.), Heinrich Eduard Kochhann. Tagebücher, Bd. 3: Mitteilungen aus den Jahren 1839—1848, Berlin 1905, S. 37; zu Jacobson: J. Jacobson, Die Judenbürgerbücher..., S. 127, 195 f.; zu Salomonsohn und Delbrück: E . W . Schmidt, Männer der Oeutsdten Bank..., S. 38, 82; zu Fried-
64
I. Die Herkunft der Berliner
Unternehmer
Es ist nicht abschätzbar, welche der drei geschilderten Laufbahnen von den Betriebserben am häufigsten eingeschlagen wurde, da zu wenig Fälle greifbar sind, in denen sich die Ausbildung und der Werdegang detailliert verfolgen lassen. Man wird nur vermuten können, daß die dritte Laufbahn, die über Hoch- und Fachschulen führte, während der frühen Industrialisierung auch unter Unternehmenserben relativ selten war. Mit größerer Sicherheit läßt sich dagegen ein anderer und wichtigerer Schluß aus der Beschreibung der Laufbahnen von Betriebserben ziehen. Die Betriebserben besaßen im allgemeinen einen großen Startvorteil, da sie über Produktionsmittel verfügten. Dieser Vorteil wurde jedoch durch die Ausbildung wieder eingeschränkt. Wählten sie in einem von Innovationen geprägten und wachstumsorientierten Wirtschafts- oder Industriezweig die erste Art des Werdegangs, also die Ausbildung im väterlichen Betrieb, so waren sie mit großer Wahrscheinlichkeit im Nachteil gegenüber Unternehmensgründern, die in einem technisch und organisatorisch fortgeschritteneren Unternehmen ausgebildet worden waren. Betriebserben dagegen, die diese nachteilige Lage vermeiden wollten, waren gezwungen, sich einem praktischen Training in einem anderen als dem väterlichen Betrieb zu unterziehen oder eine Hoch- bzw. Fachschule zu besuchen, also Laufbahnen zu wählen, die späteren Unternehmensgründern genauso offenstanden. Bei den Betriebsgründern lassen sich neben der Hoch- und Fachschulausbildung — teilweise auch damit verbunden — zwei Arten des unternehmerischen Werdegangs unterscheiden. In der ersten Art Laufbahn fehlte das praktische Training. Die Betriebsgründung erfolgte zu einem Zeitpunkt, in dem die individuelle Verfügung über Kapital, über markt- und arbeitsorganisatorische Kenntnisse noch gering war. Kennzeichnend für diesen unternehmerischen Werdegang war daher ein langsames betriebliches Wachstum. Die zweite Form des unternehmerischen Werdegangs war durch ein oft langjähriges praktisches Training geprägt. Häufig wuchsen die Betriebe der Unternehmer, die diese Karriere eingeschlagen hatten, schnell, da sie gegenüber dem Unternehmer der ersten Form des Werdegangs einige wichtige Startvorteile besaßen. Eine ganze Reihe von Fällen für die erste Form des unternehmerischen Werdegangs finden sich in der Apparate- und Metallindustrie Berlins. Der ehemalige Goldschmied Ε. Α. A. Wagner, der seinen Beländer: a. a. O., S. 462; zu Rathenau: P. Hirschfeld, Berlins Großindustrie S. 114 f.
. . B d . 1,
Unternehmerausbildung
und
-laufbahnen
65
trieb Anfang der fünfziger Jahre gegründet haben dürfte, beschäftigte bei einem Jahresumsatz von 100 000 Talern 1867 siebzig bis achtzig Personen. Der ehemalige Gelbgießermeister W. C. Bordiert, der sich schon in den vierziger Jahren etabliert haben dürfte, beschäftigte 1869 bei einem Jahresumsatz von 350 000 Talern ebenfalls etwa achtzig Arbeiter und Angestellte. Der einstige Klempnermeister C. F. J. Pintsch, der 1843 in kleinem Umfang mit der Produktion von Beleuchtungsgegenständen begann, beschäftigte knapp zwei Jahrzehnte danach ebenfalls erst sechzig Arbeiter. 1869 war die Beschäftigtenzahl seines Betriebes bei einem Jahresumsatz von 75 000 Talern immer noch nicht über 120 Personen angestiegen. Ähnlidi langsam wuchs der Betrieb des ehemaligen Kupferschmieds C. J. Heckmann, der anfangs nur landwirtschaftliche Maschinen produzierte, zwei Jahrzehnte nach der Betriebsgründung seine Produktion durch ein Kupfer- und Messingwalzwerk in den Bereich der Halbfabrikate ausweitete und Ende der sechziger Jahre, nachdem er seinen Betrieb ein halbes Jahrhundert lang geleitet hatte, rund 300 Personen beschäftigte. Der ehemalige Bronceur C. Wulfert beschäftigte in seiner Militäreffektenfabrik 1870, drei Jahrzehnte nach der mutmaßlichen Betriebsgründung, rund achtzig Personen. Vor allem aus den sechziger Jahren sind eine ganze Reihe von Betriebsgründungen meist handwerklicher Startform bekannt, denen es erst allmählich gelang zu expandieren. 64 Typisch scheint diese erste Form unternehmerischen Werdegangs auch für die diemische Industrie gewesen zu sein. Der Apotheker Riedel kaufte 1814 in Berlin eine Apotheke, aus der sich seit Ende der zwanziger Jahre allmählich eine diemische Fabrik entwickelte; noch in den sechziger Jahren besaß sie nur dreißig Beschäftigte und erreichte erst in den siebziger und achtziger Jahren größeren Umfang. Die chemische Fabrik, die 1826 von dem Kaufmann S. H . Kunheim gegründet worden war, hatte erst in den sechziger Jahren unter dessen Sohn eine 64 Vgl. zu Wagner: Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Handelsmin., 16.12. 1867, D Z A Merseburg, Rep. 120 A VI 5 Bd. 9; zu Bordiert: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 4 . 4 . 1869, a.a. O., Bd. 11; zu Pintsch: P. Lindenberg, Julius Pintsch..., S. 16; Immediateingabe Berliner Bürger, 18.11.1868, D Z A Merseburg Rep. 120 A VI 5 Bd. 10; zu Heckmann: H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute..., S. 186; L. Baar, Die Berliner Industrie..., S. 236; zu Wulfert: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 2 2 . 2 . 1 8 7 0 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 11; zu den übrigen Fällen vgl. P. Hirschfeld, Berlins Groß-Industrie. .., passim. In den als mutmaßlich gekennzeichneten Fällen wurde der Zeitpunkt der Betriebsgründung aus dem Geburtsdatum und dem in Anm. 2 angegebenen durchschnittlichen Gründungsalter erschlossen.
5 Kaelble, Berliner Unternehmer
66
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Beschäftigtenzahl von etwa 160 Personen auf zuweisen. E. Schering, der 1851 seinen Betrieb ebenfalls im Rahmen einer Apotheke begründete, beschäftigte zwei Jahrzehnte danach bei einem Jahresumsatz von 400 000 Talern hundert Personen. Bei L. Holborn, der seit den dreißiger Jahren neben seinem Chemikalienhandel vor allem Schmieröl für Eisenbahnen produzierte, arbeiteten rund drei Jahrzehnte später bei einem Jahresumsatz von 400 000 Talern sogar nur 22 Angestellte und Arbeiter. 65 Die zweite Art unternehmerischen Werdegangs von Betriebsgründern, die erst über ein langjähriges praktisches und fachspezifisches Training in einem Unternehmen zur eigenen Unternehmensgründung führte, wurde ähnlich wie in England meist in bereits ansässigen und zudem schnell wachsenden Wirtschaftszweigen eingeschlagen — sofern es sich um Karrieren innerhalb des Berliner Wirtschaftsgebiets handelte. 66 Aus der Zeit vor dem eigentlichen Ansatz der Industrialisierung sind für diese Art der Unternehmerkarriere vor allem Fälle aus der Textilindustrie bekannt, die damals im Berliner Wirtschaftsgebiet noch zu den Wachstumsindustrien gehörte und erst seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Produktion aus Berlin auslagerte. Johann Adolph Heese, ein gelernter Seidenwirker, war fünfzehn Jahre lang, und zwar fast ausschließlich in der Berliner Firma Gabain, Werkführer gewesen, bevor er 1822 eine eigene Seidenwarenfabrik gründete. Als er drei Jahrzehnte später selbst das Gabainsche Unternehmen übernahm, beschäftigte er in seiner Fabrik rund 200 Arbeiter. Carl Friedrich Burgsdorf, der bei einem Kattunhändler und -fabrikanten zuerst eine kaufmännische Lehre absolvierte und dann mit sechzehn Jahren, einem für schnell wachsende Industriezweige der frühindustriellen Zeit kennzeichnenden Alter, 67 Werkführer wurde, gründete erst 1800, im Alter von dreißig Jahren, eine eigene Kattundruckerei. Auch der erwähnte George Gabain, ein gelernter Seidenhändler aus Magdeburg, hatte sieben Jahre in einer Berliner Seidenwarenfabrik gearbeitet, als er 1789 eine Seidenwarenfabrik gründete. Ebenso hatte Ludwig König, der 1815 in Berlin eine Wollfärberei und Kattundruckerei gründete, «5 Vgl. zu Riedel: 150 Jahre Riedel-de Haen..S. 14, 30, 48; W. Vershofen, Die Anfänge der chemisch-pharmazeutischen Industrie..., Bd. 1, S. 82 f.; zu Kunheim: 100 Jahre Kunheim..S. 7; zu Schering: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 16. 3.1870, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 12; zu Holborn: Immediateingabe Berliner Bürger, 24. 5.1862, a. a. O., Bd. 7. ββ
«7
Vgl. S. Pollard, The Genesis of Modern Management..., Ebda.
S. 124.
Unternehmerausbildung
und -laufbahnen
67
zuvor in deutschen, französischen und holländischen Färbereien gearbeitet. 68 Nach 1830 war diese Art des Werdegangs kennzeichnend für die Unternehmer der Maschinenindustrie, einer Schlüsselindustrie des Berliner Wirtschaftsgebiets während des Ansatzes der Industrialisierung in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. August Borsig arbeitete dreizehn Jahre, davon die meiste Zeit als Faktor, in der Egellsschen Maschinenfabrik, bevor er 1837 selbst eine Maschinenfabrik mit fünfzig Arbeitern begründete. Ein knappes Jahrzehnt später beschäftigte er schon über tausend Arbeiter. C. Hoppe hatte zehn Jahre in derselben Firma gearbeitet, als er 1844 eine Maschinenfabrik gründete, die 1848 schon 300 Arbeiter beschäftigte. Wöhlert, der 1817 nach Berlin zuwanderte und bei Egells und Borsig tätig war, gründete ebenfalls erst viele Jahre später, 1842, seine Maschinenfabrik; schon nach einem Jahrzehnt war die Beschäftigtenzahl auf tausend angewachsen. Schwartzkopff — um ein weiteres, allerdings sehr spätes Beispiel zu erwähnen — arbeitete zwei Jahre bei Borsig, war dann Maschinenmeister der Magdeburg-Wittenberger Eisenbahn und reiste danach zusammen mit August Borsig und seinem damaligen Chef, Victor von Unruh, zu Studien nach England. Auch sein Unternehmen wuchs sehr schnell; schon 1858, sechs Jahre nach der Gründung, beschäftigte er rund 240 Personen. Die kleineren Maschinenfabrikanten scheinen ebenfalls häufig diese Art der Karriere durchlaufen zu haben. G. Sigl, der 1842 eine Maschinenfabrik mit fünfzehn Arbeitern gründete und 1844 sechzig Arbeiter beschäftigte, hatte in Maschienenfabriken Wiens und Zweibrückens zuletzt als „Theilnehmer und Werkführer" gearbeitet. C. Lüttig, der mit 20 bis 25 Arbeitern ein Jahrzehnt nach der Gründung seines Betriebs ebenfalls zu den kleinen Maschinenfabrikanten Berlins gehörte, hatte im In- und Ausland gearbeitet und seine wichtigsten Erfahrungen in Maschinenfabriken Münchens gesammelt.69 88 Vgl. zu Heese: Interner Bericht an Berliner Polizeipräs. 27.2.1855, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Η Nr. 10492; zu Burgsdorf: Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen, Jg. 1822, S. 39 ff.; zu Gabain: a.a.O., Jg. 1827, S. 37; zu Bergmann: Berliner Polizeipräsident an Handelsmin., 24.10.1857, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 5; zu König: König an Finanzmin., 23. 11.1830, DZA Merseburg, Rep. 120 D IV 6 b Nr. 13. •· Vgl. zu Borsig: H. Radiel/P. Wallidi, Berliner Großkaufleute..., S. 182: Berlinische Nachrichten, Nr. 220, vom 21.9.1846, zu Hoppe: Hoppe an Beuth, 17.1.1846, DZA Merseburg, Rep. 120 D XIV 1 Nr. 2 Bd. 4; Hoppe an Finanzminister,
5»
68
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
In den vierziger Jahren entstand in Berlin ein großes Reservoir potentieller Unternehmer, die diesen Werdegang durchlaufen hatten. Der Maschinenbauer Fengeler, der nach seinen Lehr- und Gesellenjahren als Schlosser Werkführer in einer Berliner Maschinenfabrik geworden war, versuchte sich 1840 selbständig zu machen. Winter, der Schmied und Schlosser gelernt hatte, 1828 zur Ausbildung als Maschinenbauer nach Berlin gekommen und zuletzt Werkführer in der Maschinenfabrik Quevas gewesen war, gründete ebenfalls 1840 eine Fabrik für Textilmaschinen. Schneider, ein gelernter Metalldreher, war bei Borsig und beim Bau der Anhaltischen Eisenbahn beschäftigt gewesen, bevor er sich Anfang der vierziger Jahre selbständig machte. Jahn, der die Gewerbeschule in Danzig, danach das Berliner GewerbeInstitut besucht und in der Hartmannschen Maschinenfabrik in Chemnitz praktiziert hatte, versuchte 1848 in Berlin eine Fabrik für Maschinen der Kamm- und Streichgarnspinnerei zu gründen. Pohlmann, der beim Berliner Maschinenfabrikanten Hamann praktiziert und auf Reisen in Europa und Amerika Erfahrungen im Spinnmaschinenbau gewonnen hatte, versuchte seit 1842 selbständig Spinnmaschinen zu produzieren. Kreter, der seit 1842 Werkführer in der Maschinenbauanstalt der Seehandlung in Moabit gewesen war, gründete 1852 eine Maschinenfabrik. 70 Alle diese Maschinenfabrikanten hatten denselben Werdegang wie die meisten Berliner Unternehmer dieser Branche durchlaufen; ihre Betriebe scheinen jedoch — mit Ausnahme des Kreterschen — den Krisen der vierziger Jahre zum Opfer gefallen zu sein.
4 . 4 . 1 8 4 8 , DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 2 ; zu Wöhlert: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 5 . 5 . 1 8 6 4 , DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 8; Wöhlert an Finanzmin., 6 . 1 2 . 1 8 5 3 , DZA Merseburg, Rep. 120 D X I V 1 Nr. 2 Bd. 4 ; zu Schwartzkopff: 75 Jahre Schwartzkopff..., S.5; Übersicht der Produktion mineralischer und metallischer Hütten und Fabriken in Berlin, StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C Tit. 35 Nr. 90 Bd. 1; zu Sigl: Eingaben Sigls an Beuth, 1 . 3 . 1 8 4 2 und 1 1 . 4 . 1 8 4 4 , DZA Merseburg, Pr. Br. Rep. 120 D X I V 1 Nr. 2 Bd. 3; zu Lüttig: Immediateingabe Lüttigs, 1 5 . 1 1 . 1 8 4 9 , DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 4; vgl. zudem Alfred Schröter/Walter Becker, Die deutsche Maschinenindustrie in der industriellen Revolution ( = Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst, Bd. 2), Berlin 1962, S. 69. 70 Vgl. für Fengeler: Fengeler an Beuth, 8 . 4 . 40, DZA Merseburg, Rep. 120 D X I V 1 Nr. 2 Bd. 3; für Winter: Winter an Beuth, 17. 9 . 1 8 4 2 , ebda.; für Schneider: Schneider an Beuth, 10. 4 . 1 8 4 3 , ebda., für Jahn: Jahn an Staatssekr. Pommer-Esche, 20. 7 . 1 8 4 8 , a.a.O., Bd. 4; für Pohlmann: Pohlmann an Beuth, 3 0 . 5 . 1 8 4 2 , a.a.O., Bd. 3; für Kreter: Kreter an Handelsminister, 7. 4 . 1 8 5 6 , a. a. O., Bd. 4.
Unternehmerausbildung
und
-laufbahnen
69
Der Grund für den Mißerfolg dürfte nicht ein Mangel an technischen oder arbeitsorganisatorischen Kenntnissen gewesen sein, da sie ja ein ähnliches praktisches Training wie die meisten anderen, erfolgreichen Maschinenindustriellen absolviert hatten. Ausschließlich Kapitalknappheit war ebenfalls nicht der Grund für ihren Mißerfolg. Zwar sind ihre Fälle gerade deshalb bekannt, weil sie Beuth um Kapitalzuschüsse oder Werkzeugmaschinen baten; andere, später erfolgreiche Maschinenindustrielle wie Hamann, Hartmann, Rüdiger gehörten jedoch während der vierziger Jahre ebenfalls zu den Petenten. 71 Ein Grund für ihren Mißerfolg, der sich aus dem Absatz ergab, war der, daß sich die meisten dieser erfolglosen Maschinenindustriellen auf die Produktion von Textilmaschinen verlegten; der Textilmaschinenbau gehörte zwar bis in die dreißiger Jahre zu den wichtigsten Produktionszweigen der Berliner Maschinenfabriken, verlor jedoch seit damals erheblich an Bedeutung.72 Andere Gründe für den Mißerfolg dieser Unternehmer ergaben sich aus Vorteilen anderer Maschinenindustrieller, die sich gleichzeitig auf der Kapital- und der Absatzseite niederschlugen. Die kleineren Maschinenfabrikanten hatten von der Staatsverwaltung, einem der wichtigsten Abnehmer der Berliner Maschinenindustrie, kaum Aufträge zu erwarten: „Was die Beschäftigung und öffentliche Arbeiten anlangt, so genießen darin die größeren Fabrikbesitzer wie Borsig, Wöhlert u. a. einen unermeßlichen Vorzug vor den kleineren, indem dadurch ihnen nicht nur Beschäftigung für sich und ihre Arbeiter, sondern auch Vorschüsse gegeben werden, welche als Betriebskapital dienen, während bei Privatbestellungen nicht nur keine Vorschüsse, sondern auch in der Regel nicht einmal die bedungenen Preise sofort bei der Ablieferung gezahlt werden. Und doch sind gerade die kleineren Fabrikbesitzer um so bedürftiger." 73 Einen weiteren Grund gab F. Winter für die geringen Expansionsmöglichkeiten seines Betriebs an: Da er „fremd am Ort, ohne verwandtschaftliche Verbindungen" war, blieben seine Kapitalbeschaffungs- und Absatzmöglichkeiten erheblich eingeschränkt.74
71
Vgl. zu Hamann: Hamann an Finanzmin., 10.11.1845, DZA Merseburg, Rep. 120 D X I V 1 Nr. 2 Bd. 4; zu Hartmann: Hartmann an Beuth, 27.12.1839 und 20.12.1844, a.a.O., Bd. 3; zu Rüdiger: Rüdiger an Handelsmin., 4.8.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 3. 72
Vgl. L Baar, Die Berliner Industrie . . . , S. 116 ff.
7S
Rüdiger an Beuth, 4. 8.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 3.
74
Winter an Beuth, 17. 9.1842, DZA Merseburg, Rep. 120 D XIV 1 Nr. 2 Bd. 3.
70
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
In keinem anderen Industriezweig dominierte dieser zweite unternehmerische Werdegang, gekennzeichnet durch ein langjähriges praktisches Training und durch eine relativ rasche betriebliche Expansion, so sehr wie in der Berliner Maschinenindustrie. Immerhin sind auch aus anderen Industriezweigen Fälle für diesen unternehmerischen Werdegang bekannt. Die ehemaligen Klempner E. Wild und W. Wessel, die ihr praktisches Training in Paris absolvierten, gründeten 1855 eine kleine Lampenfabrik. Durdi die Produktion von Petroleumbrennern weitete sich ihr Betrieb so rasch aus, daß sie 1870 bereits 220 Arbeiter beschäftigten. Der Möbelfabrikant C. Arnold, der sich 1844 mit einem Startkapital von 1000 Talern in Berlin etablierte, hatte sein praktisches Training zwischen 1833 und 1841 in Handwerkskompagnien der preußischen Armee absolviert. Schon zwei Jahrzehnte nach der Begründung seines Betriebs beschäftigte er 350 Arbeiter; zumindest in den sechziger Jahren beruhte die Expansion seines Unternehmens auf Militär- und Ausstellungsbauaufträgen. Der Pianofortefabrikant C. Beckstein erhielt sein praktisches Training zuerst als Leiter der Pianofortefabrik Perau in Berlin, danach in London und Paris. Audi sein 1854 gegründeter Betrieb expandierte so rasch, daß er 1868 bereits 260 Personen beschäftigte.75 Unter den Berliner Bankiers sind ebenfalls eine Reihe von Fällen bekannt, die diesen unternehmerischen Werdegang durchliefen. Ein sehr frühes Beispiel ist Joseph Mendelssohn, der spätere Vorsteher der kaufmännischen Korporation und Begründer des Bankhauses Mendelssohn. E r war Buchhalter im Bankhaus Itzig & Co., bevor er 1795 im Alter von 25 Jahren eine eigene Bank gründete. Eine ähnliche, wenn auch nicht so bedeutende Funktion wie das Borsigsche und Egellssche Unternehmen für die Berliner Maschinenindustriellen, scheint die Bank C. W. J. Schultzes für das praktische Training von Berliner Bankiers gehabt zu haben. Eine ganze Reihe von Bankiers ging aus diesem Haus hervor. Die bedeutendsten waren C. N. Engelhard, dessen Bank in den sechziger Jahren „zu der ersten Klasse derartiger Geschäfte gehörte", und Breest, der zusammen mit Gelpcke ebenfalls eines der größten Berliner Bankhäuser besaß. O. Hainauer erhielt sein praktisches Trai-
7 5 Vgl. zu Wild und Wessel: P. Hirschfeld, Berlins Großindustrie ..., Bd. 1, S. 50; Berlin und seine Entwicklung, 5. Jg. (1871), S. 128; zu Arnold: Berliner Polizeipräsident an Handelsmin., 11.12.1866, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 4; zu Bedistein: P. Hirsdifeld, Berlins Großindustrie..., Bd. 1, S. 276; Berliner Polizeipräs. an Handelsmin., 19. 4.1868, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 9.
Unternehmerausbildung
und
-laufbahnen
71
ning in den sechziger Jahren in der Bank G. Bleichröders und stieg später zu einem der erfolgreichsten Berliner Bankiers auf. 76 Abgesehen von der fachspezifischen Ausbildung, scheint diese Art des unternehmerischen Werdegangs den Vorzug gehabt zu haben, daß die ausscheidenden leitenden Angestellten von ihren bisherigen Arbeitgebern häufig Startkapital in Form von Abgangsprovisionen oder Darlehen erhielten; sie konnten zudem aus ihren relativ hohen Einkünften als Werkführer u. ä. beträchtliche Summen ersparen.77 So gründete Gabain seine Seidenwarenfabrik mit dem Darlehen, das er von seinem bisherigen Prinzipal erhielt. Das Eigenkapital A. Borsigs bei der Gründung seiner Maschinenfabrik bestand in der Abgangsprovision, die ihm sein bisheriger Arbeitgeber Egells bezahlte, und in den Ersparnissen, die er aus seinen Werkführertantiemen gesammelt hatte. Audi O. Hainauer hatte sich das Gründungskapital für seine Bank aus den Einkünften als Kommis des Bankhauses Bleichröder erspart. 78 Besonders in Wirtschaftszweigen wie der Maschinenindustrie und den Banken, in denen ein relativ hohes Startkapital notwendig war, führte diese Form des unternehmerischen Werdegangs zu erheblich günstigeren Startchancen als die erste geschilderte Form. Sie eröffnete darüber hinaus nicht nur Kenntnisse in der Arbeitsorganisation relativ großer Betriebseinheiten schon im kleinbetrieblichen Startstadium. Bei Gründung des Betriebs bestanden auch schon Verbindungen zu den Abnehmern, die gerade in der Maschinenindustrie, in der noch während der fünfziger und sechziger Jahre weitgehend auf Bestellung produziert wurde, ganz entscheidende Bedeutung besaßen.79 76 Vgl. zu Mendelssohn: H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute . . S . 90; zu Engelhard und Breest: Preußische Bank an Handelsmin., 2 4 . 1 . 1866, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 9 ; H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., S. 124, Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 1 2 . 4 . 1 8 6 6 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 93 Lit. Ε Nr. 9681; ders. an dens., 1 1 . 1 2 . 1 8 6 7 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. G Nr. 10124; zu Hainauer: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 2 2 . 5 . 1 8 6 9 , a.a.O., Lit. Η Nr. 10513. 7 7 Zu den innerbetrieblichen Einkommensrelationen vgl. J. Kodca, Unternehmensverwaltung ..., S. 82 ff.; zum knappen Angebot an Werkführern während der dreißiger und vierziger Jahre vgl. Beuth, in: Conrad Matsdioß, Preußens Gewerbeförderung und ihre großen Männer, Berlin 1921, S. 87. 78 Vgl. zu Gabain: H. Rachel/P. Wallidi, Berliner Großkaufleute..., S. 37; zu Borsig, a.a.O., S. 182; zu Hainauer: Berliner Polizeipräs, an Handelsminister, 22. 5 . 1 8 6 9 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Η Nr. 10513. 79 L. Baar, Die Berliner Industrie..S. 125; A. Sdiröter/W. Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie . . S . 71.
I. Die Herkunft
72
der Berliner
Unternehmer
Dieser unternehmerische Werdegang, der — in der Industrie meist nach handwerklicher Ausbildung — über ein langjähriges praktisches Training zur Gründung und meist zur schnellen Expansion des Unternehmens führte und damit derjenige unternehmerische Werdegang war, der im frühindustriellen Berlin die besten Aufstiegschancen bot, besaß allerdings auch seine Grenzen. Er war nur in bestimmten Industrieund Wirtschaftszweigen möglich. Er war zudem ein relativ schmaler Aufstiegskanal, da nur das praktische Training in wenigen großen Maschinenbau- und Bankunternehmen alle Vorteile dieser Karriere aufwies und danach mehrere günstige Startbedingungen nötig waren. Eine Reihe gescheiterter Maschinenunternehmer, die diese Laufbahn einzusdilagen versuchten und nicht alle notwendigen Voraussetzungen mitbrachten, wurde geschildert. Wie häufig die Erfolgreichen dieses Werdegangs waren, läßt sich noch besser verfolgen, wenn man sie vor dem Hintergrund der gesamten Gruppe jener Techniker sieht, die in der frühindustriellen Maschinen- und Metallindustrie als Werkmeister, Faktoren, Inspektoren bis hinab zum Zeichner angestellt waren — eine Berufsgruppe, zu der die Erfolgreichen dieses unternehmerischen Werdegangs auch einmal gehört hatten. Zwar lassen sich nicht die Werdegänge aller Angehörigen dieser Berufsgruppen erfassen. Diejenigen jedoch, die vor der Jahrhundertmitte am Berliner Gewerbe-Institut ausgebildet wurden und danach überwiegend in die Berufsgruppe der technischen Angestellten eintraten, sind in einer Auswahl untersucht worden. In der Maschinen- und Metallindustrie stiegen nur wenige dieser Absolventen des Gewerbe-Instituts, weniger als 10 °/o, weiter auf und wurden später einmal selbständige Unternehmer.80 Schließlich bestanden die Grenzen dieser unternehmerischen Laufbahn darin, daß die dafür bekannten Fälle in Berlin fast nur in der Zeit vor der Jahrhundertmitte liegen. Auch das läßt sich besonders klar am Fall der Berliner Maschinen- und Metallindustrie belegen. Gemessen an den Beschäftigtenzahlen, waren die Expansionschancen für Betriebe dieser Industriebrandie spätestens seit der Mitte der fünfziger Jahre stark eingeschränkt. Das zeigt folgende Zusammenstellung:
80
ning,
Vgl. Peter Lundgreen, Techniker Arbeitsplätze,
in Preußen
1820—1850. Rekrutierung,
Trai-
Ms., S. 92. Unter den selbständigen Unternehmern sind bei
Lundgreen allerdings audi diejenigen erfaßt, die direkt nach der Ausbildung im Gewerbe-Institut als Betriebserben Unternehmer wurden. Andererseits fehlen bei Lundgreen unter den selbständigen Unternehmern diejenigen, die er bis 1850 mitten im Werdegang, also nodi als technische Angestellte, erfaßt.
Unternehmerausbildung
und
73
-laufbahnen
TABELLE 1 0
Expansion von Berliner Metall- und Maschinenfabriken81 Betriebsgroßen nach Besdiäftigten Ober 1000 Über 500 Über 250 Über 100 Über 50 Bis zu 50
1856 In höhere Betriebsgrößengruppen beste- aufsteigende Betriebe (in Klammern: hende darunter Neugründungen) Betriebe 1858 1860 1862 1864 1866 1868 1870 2 2 4 4 3 5
1 1
3(3)
1 1 (1) 4(4)
1 1 4(4)
4(4)
2(2) 2(2) 11 (11)
1(1) 2(1) 1 (1)
insges.
1 1 1 5 (3) 8 (7) 24(24)
1858 bis 1870 eingegangene Betriebe
2 2 32
Spätestens von der Mitte der fünfziger Jahre ab setzte sich demnach die Gruppe derjenigen Berliner Maschinen- und Metallfabriken, die jeweils mehr als 2 5 0 Beschäftigte besaßen, meist aus den gleichen Unternehmen zusammen. Außer ihnen gelang es bis 1870 kaum einem Betrieb dieser Branche, die Schwelle der 250 Beschäftigten zu überschreiten; auch innerhalb dieser Spitzengruppe expandierte fast kein Betrieb in erheblichem Ausmaß: Das einzige Unternemen, das während dieser Zeit in diese Spitzengruppe aufsteigen konnte, war das des Metallindustriellen Jürst, nadidem dieser es an zwei Kaufleute verkauft hatte. Das einzige Unternehmen, das sich in dieser Zeitspanne innerhalb der Spitzengruppe wesentlich vergrößerte, war das des Maschinenindustriellen Schwartzkopif; 1866 überschritt es die Schwelle von 500 Beschäftigten und erfuhr 1870, nachdem es in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden war, ein Anwachsen auf über 1000 Beschäftigte. Die Verfestigung in den Größenrelationen der Unternehmen dieses Industriezweigs wird besonders deutlich, wenn man den Vergleich zum betrieblichen
81 Zusammengestellt nadi: Übersiebt der Produktion mineralischer und metallischer Hütten und Fabriken Berlins für das Jahr 1856 f f . bis 1868, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 35 Nr. 90 Bd. 1; für 1870: Berlin und seine Entwicklung, 5. Jg. (1871), S. 127 ff. Bei dieser Zusammenstellung ist zu berücksichtigen, daß in ihr, gemessen an der Beschäftigtenzahl, nur die Expansion, nicht die Sdirumpfung von Betrieben erscheint. Diese einzige, über einen längeren Zeitraum sich erstreckende jährliche Beschäftigtenstatistik zu einem Bereich der Berliner Industrie erfaßt sämtlidie metallurgischen Betriebe, beschränkt sidi jedoch bei diesen nidit auf die in der metallurgischen Produktion Beschäftigten, sondern schließt audi die in anderen Produktionszweigen der jeweiligen Betriebe Beschäftigten mit ein.
74
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Wachstum der zwei Dekaden zuvor zieht. Sämtliche Unternehmen der Spitzengruppe dieses Zweigs entstanden erst in dieser Zeitspanne oder durchliefen zumindest erst damals ihren ersten Expansionsschub. Das Borsigsche Unternehmen, dessen Beschäftigtenzahl nach 1856 zwischen 2000 und 3000 schwankte, entstand erst 1837. Wöhlert, in dessen Maschinenfabrik schon 1853 knapp 1000 Personen Beschäftigung fanden, hatte sich erst 1842 etabliert. Hoppe, der seine Maschinenfabrik 1844 gründete, beschäftigte 1848 vierzig Arbeiter, 1849 150 bis 200 Arbeiter, 1856 schon 450 Arbeiter. Schwartzkopffs Maschinenfabrik, eines der am schnellsten expandierenden Unternehmen, bestand sogar erst seit 1852. Heckmann, der nach der Mitte der fünfziger Jahre etwa 300 Arbeiter beschäftigte, hatte sich zwar schon 1819 etabliert, erweiterte seinen Betrieb jedoch erst 1837 mit dem Bau eines Kupfer- und Messingwerks entscheidend. Auch die Maschinenfabrik Freunds, die schon seit dem Anfang des Jahrhunderts bestand, durchlief Ende der dreißiger Jahre eine wichtige Expansionsphase. N u r eines der Unternehmen, das nach der Mitte der fünfziger Jahre zur Berliner Spitzengruppe in diesem Industriezweig gehörte, die Egellssche Maschinenfabrik, hatte schon vor 1835 in einer relevanten Größe bestanden. 82 Der entscheidende Grund für diese seit der Mitte der fünfziger Jahre verminderten Expansionsmöglichkeiten der mittleren Betriebe in der Berliner Metall- und Maschinenindustrie beruhte auf der verstärkten Mechanisierung der Produktion und damit auf zunehmender Kapitalintensität. Noch in den vierziger Jahren war die Ausrüstung der Berliner Maschinenbau- und Metallbetriebe recht primitiv. Zwar wurden schon Drehbänke, Bohr- und Hobelmaschinen eingesetzt; ein großer Teil der Produktion erfolgte jedoch noch in Handarbeit mit Hammer, Meißel und Feile. Das Kapital, das zur Gründung und auch zur Expansion eines solches Betriebs erforderlich war, war relativ gering. Der Aufschwung der fünfziger Jahre und die zunehmende Verknappung geschulter Arbeitskräfte führte zu einem erhöhten Einsatz von 82
Vgl. ebda.; zu Borsig: H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute . . . , S. 182; zu Wöhlert: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 5. 5.1864, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 8; Eingabe Wahlerts an Finanzmin., 6.12. 1853, DZA Merseburg, Rep. 120 D XIV 1 Nr. 2 Bd. 4; zu Hoppe: G. Arnold, Carl Hoppe..., in: 7'echnikgesch'uhte, Bd. 32 (1965), S. 49; zu Schwartzkopff: 7i Jahre Schwartzkopff..., S. 5; zu Heckmannn: H. Rachel / P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., S. 186; zu Freund: Preuß. Hauptbankdirektorium an Handelsmin., 24. 7.1869, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 11; Berlinische Nachrichten, Nr. 20 vom 24.1.1840; zu Egells: H. Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute.. S. 182.
Unternehmerausbildung
und
-laufbahnen
75
Werkzeugmaschinen, so daß sich die mechanisierte Produktionsweise in den Berliner Maschinen- und Metallindustrien Anfang der sechziger Jahre weitgehend durchgesetzt hatte. Das Kapital für die Gründung und für die Erweiterung eines solchen Betriebs war daher ungleich höher als in den dreißiger und vierziger Jahren und konnte nicht mehr wie damals von einem Werkmeister aufgebracht werden. Damit verschloß sich die Unternehmerlaufbahn, die über ein langjähriges praktisches Training geführt hatte, in Berlin in diesem Industriezweig weitgehend. 83 Diese Kapitalschranke konnte durch die dritte Unternehmerlaufbahn, die des „Bürokraten", umgangen werden; wie schon erwähnt, sollen darunter diejenigen Unternehmer verstanden werden, die zwar über Produktionsmittel verfügten, sie aber nicht besaßen und in deren Laufbahn daher Kapital keine wesentliche Schranke darstellen konnte. Diese Unternehmerlaufbahn ist deshalb von Bedeutung für die soziale Herkunft der Unternehmer, weil sie weder verwandtschaftliche Beziehungen zu Unternehmern wie die Laufbahn des Betriebserben noch Kapital wie meist die Laufbahn des Betriebsgründers voraussetzte. Es drängt sich daher die Vermutung auf, daß die Unternehmer, die diese Laufbahn durchliefen, noch am ehesten aus anderen sozialen Schichten stammen und am häufigsten soziale Aufsteiger sein konnten. Man wird deshalb annehmen müssen, daß nur wenige frühindustrielle Unternehmer Berlins bürokratische Laufbahnen durchliefen, da die soziale Herkunftsverteilung in Berlin einseitig war. Diese Annahme bestätigt sich. Die beiden Karrieren, die während der frühen Industrialisierung in die Position des „Bürokraten" führten, der Aufstieg aus untergeordneten Stellungen innerhalb des Betriebs selbst oder eine Karriere bei der Staatsverwaltung, waren in Berlin selten.84 In den ermittelbaren Fällen lassen sie sich bei 8 % der Berliner Unternehmer nachweisen. Dabei fand sich die bürokratische Laufbahn meist im tertiären Sektor, in Bank-, Versicherungs- und Eisenbahngesellschaften; nur 3 % der Berliner Industriellen waren „Bürokraten". 8 5 Dazu einige Fälle. Das prominenteste Beispiel ist der Tuchfabrikant H . C. Carl, der im UnterVgl. L. Baar, Die Berliner Industrie ..., S. 104 ff. Die dritte Möglichkeit führte über die „normale" Laufbahn des Betriebsgründers oder -erben. So haben Inhaber von Bankhäusern wie Delbrück, Gelpcke, Brüstlein leitende Stellungen in der Deutschen Bank, der Berliner Handelsgesellschaft und im Bankhaus Gebr. Schickler & Co. übernommen. Diese dritte Karriere wird hier außer adit gelassen, da dabei die Kapitalschranke nidit entfiel. 85 Beredinet nach den unter T A B E L L E 1 zusammengestellten Materialien. 83
84
76
I. Die Herkunft der Berliner
Unternehmer
nehmen des Potsdamer Textilindustriellen Busse zum technischen Leiter der Berliner Produktion aufstieg und um die Jahrhundertmitte Eigentümer dieses Betriebs wurde. Er war von 1846 bis 1858 Vorsteher der Berliner kaufmännischen Korporation und entwickelte sich in dieser Zeit zu einem der gesellschaftlich führenden und politisch einflußreichsten Berliner Unternehmer. Der Gummi- und Guttaperchafabrikant A. Reimann stieg vom Buchhalter zum Mitinhaber seines Betriebs auf. H. Busse begann 1849 als Angestellter bei der Berlinischen Lebensversicherungsgesellschaft, nachdem er als gelernter Kaufmann im Ausland und bei der Preußischen Bank gearbeitet hatte; schon sechs Jahre später wurde er vollziehender Direktor dieses Unternehmens. E. Kaselowsky stieg in der Maschinenfabrik Schwartzkopffs zum Oberingenieur auf; sein weiterer Werdegang, der ihn bis in die Leitung dieses Unternehmens führte, dürfte allerdings wesentlich durch die Heirat mit der Tochter Schwartzkopffs gefördert worden sein. A. Salomonsohn, Jurist und ursprünglich Notar, trat 1863 als juristischer Ratgeber in Verbindung mit der Disconto-Gesellschaft und war schon 1869 einer der Geschäftsinhaber dieser Großbank. 86 Im ganzen gesehen, läßt sich die einförmige berufliche Herkunftsverteilung der Berliner Unternehmer aus diesen drei Laufbahnen weitgehend erklären. Wie gezeigt, stammten die Berliner Unternehmer in der überwältigenden Mehrheit aus kaufmännischen und handwerklichen Berufen. Eine gewisse Rolle spielten daneben die Hodischul- und Fachschulabsolventen. Ein Grund für diese Herkunftsverteilung liegt auch hier in der wachsenden Zahl der Betriebserben, die im Hinblick auf ihre spätere Tätigkeit wohl ausschließlich in diesen Berufen ausgebildet wurden. Abgelegene Berufsausbildungen wurden wohl kaum gewählt. Weiterhin erklärt sich die wenig gestreute berufliche Herkunftsverteilung aus den Laufbahnen der Unternehmer, die die Unternehmerposition nicht als Erben erreichten. Der Werdegang, der über ein langjähriges praktisches Training zur Betriebsgründung führte, setzte eine fachbezogene und dabei meist eine handwerkliche, kaufmännische oder Bankausbildung voraus, da sonst eine Werkmeister-, Aufseher-, Disponenten- oder Kommissteile gar nicht zu bekommen war. Das 8 9 Vgl. zu Carl: I. Miede, Preußische Gewerbepolitik..., S. 53; Berlinische Nachrichten, Nr. 32 vom 7 . 2 . 1 8 5 1 und Nr. 26 vom 1 . 1 . 1 8 5 3 ; vgl. zudem ZWEITES und DRITTES KAPITEL; ZU Reimann: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 7 . 3 . 1 8 6 7 , DZA Merseburg Rep. 120 A IV 5 Bd. 8; zu Busse: Hundert Jahre Berlinische LebensVersicherungs-Gesellschaft..., S. 61 ff.; zu Kaselowsky: 75 Jahre Schwartzkopff.. S. 9, 18; zu Salomonsohn: E. W. Schmidt, Männer der Deutschen Bank..., S. 38.
Schranken der
Aufstiegsmobilität
77
gleiche gilt für die „bürokratische" Laufbahn, die entweder über eine Stelle in der Staatsverwaltung oder aus einer untergeordneten Stellung im Betrieb selbst zum Leiter — wenn auch meist nicht Eigentümer — des Unternehmens führte. Diese Laufbahn begann in ähnlichen Stellungen und damit mit ähnlichen Ausbildungsvoraussetzungen. N u r die Laufbahn, die ohne langjähriges praktisches Training direkt zur Betriebsgründung, danach allerdings zu einem langsamen Wachstum des Betriebs führte, stand auch anderen Berufen offen. Die einseitige soziale Herkunft der Berliner Unternehmer wird durch diese frühindustriellen Unternehmerlaufbahnen dagegen nicht verständlicher. Gewiß hat die Vererblichkeit der Verfügung über Produktionsmittel mit dazu beigetragen, daß die Unternehmer vor allem Unternehmerfamilien entstammten. Mindestens jeder zweite dieser Unternehmersöhne übernahm jedoch den väterlichen Betrieb nicht. Für diese Betriebsbegründer unter den Unternehmersöhnen kann man vermuten, daß sie gegenüber Handwerker- oder Beamtensöhnen einen wichtigen Startvorteil besaßen, wenn sie — was die Mehrzahl getan haben dürfte — nach Berlin zuwanderten. Sei es nun, daß sie ein praktisches Training in einem technisch oder organisatorisch fortgeschrittenen Betrieb absolvieren wollten, sei es, daß sie als Betriebsgründer Geschäftsverbindungen benötigten — in jedem Fall konnte ihnen ihr Vater wohl Starthilfen über seine Geschäftspartner geben. Das verfügbare Material ist jedoch nicht detailliert genug, um diese Vermutung zu beweisen. Sicher läßt sich allein daraus die einseitige soziale Herkunft gerade der Berliner Unternehmer nicht erklären.
Schranken der
Aufstiegsmobilität
Um weitere Gründe für die einseitige soziale Herkunft der frühindustriellen Berliner Unternehmer zu finden, sollen hier noch zwei andere Faktoren untersucht werden, die die Herkunftsverteilung beeinflussen konnten: Erstens soll ein kurzer Blick auf diejenigen sozialen Schichten und Gruppen geworfen werden, aus denen besonders viele oder wenige Unternehmer stammten und deren soziale Strukturen und Verhaltensmuster dazu beitragen konnten, den Zugang ihrer Söhne zur Unternehmerposition zu fördern oder zu hemmen. Zweitens soll verfolgt werden, ob sich die Verhaltensmuster der Berliner Unternehmer selbst gegen den Zustrom von Angehörigen anderer Schichten und Gruppen richteten und ob dabei die Angehörigen bestimmter Schichten besonders benachteiligt wurden.
78
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Unternehmer aristokratischer Herkunft waren in Berlin — wie sich zeigte — äußerst selten. Das wird kaum überraschen. Redlichs eigene und die von ihm angeregten Forschungen haben zwar darauf aufmerksam gemacht, daß die unternehmerische Aktivität der europäischen Aristokratie stark unterschätzt wurde; die Höhepunkte dieser Aktivitäten lagen jedoch im 18. und in noch früheren Jahrhunderten. 87 Im 19. Jahrhundert hingegen gibt es in der deutschen Aristokratie Anzeichen für eine starke Tendenz, sich unternehmerischer Tätigkeit zu enthalten. Im Berliner Fall dürfte hinzugekommen sein, daß die wirtschaftlichen Vorteile, die ein aristokratischer Unternehmer besitzen konnte, vor allem die Verfügung über leibeigene Arbeitskräfte, im Gegensatz zu Schlesien in einem städtischen Wirtschaftsgebiet wie Berlin nicht zum Tragen kommen konnten. Schließlidb konnten sich die Branchen, in denen sich aristokratische Unternehmer im Deutschland des 19. Jahrhunderts vor allem finden, Bergbau und Hüttenindustrie, in Berlin auf Grund seiner Standortbedingungen nicht entwickeln. Wie sich weiter zeigte, sind für die soziale Herkunft von frühindustriellen Berliner Unternehmern aus den Unterschichten keine Fälle bekannt. Die Gründe dafür sind noch wenig untersucht. Immerhin liegt auf der Hand, daß diesen Schichten eine ganze Reihe von Startvorteilen wie Kapital, Informationen über Ausbildungsmöglichkeiten und persönliche Beziehungen zur Einstellung in aufstiegsträchtige Positionen fehlten. Dazu gehört auch das Kapital für eine qualifizierte Ausbildung. Gerade in einem der aufstiegsträchtigsten Industriezweige der frühen Industrialisierung, der Maschinenbauindustrie, war die Ausbildung so teuer, daß die Väter am häufigsten der Mittelschicht angehörten. 88 Es kommt hinzu, daß die Zielvorstellungen und Wertmuster dieser Schichten den Aufstieg in die Unternehmerposition eher gehemmt 87 Vgl. Fritz Redlich, Europäische Aristokratie und wirtschaftliche Entwicklung, in: ders., Der Unternehmer , . , S. 289 ff.; A r t h u r H . Cole, Business Enterprise in Its Social Setting, Cambridge/Mass. 1959, S. 140 ff.; R. Braun, Zur Einwirkung sozio-kultureller Umweltbedingungen..., i n : W. Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsund sozialgeschichtliche Probleme . . . , S. 253 ff.; W o l f r a m Fischer, Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770—1870, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und 'Wirtschaftsgeschichte 47 (1960), S. 210 f.; H a n s Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt/Main 1969, S. 23. 88 Vgl. A l f r e d Sdiröter, Die Entstehung der deutschen Maschinenbauindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: ders./W. Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie ..., S. 67 ff.
Schranken der
79
Aufstiegsmobilität
als gefördert haben. Ziel der Fabrikarbeiter zumindest in Berlin war nicht, selbst zum Unternehmer aufzusteigen, sondern als achtbarer Stand neben Unternehmern und Meistern anerkannt zu werden.89 Dabei ist allerdings noch nicht geklärt, wie weit diese Zielvorstellung von Unternehmern, von sozialpolitischen Organisationen wie dem Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, von Kirchen und Schulen indoktriniert wurden. Eine Analyse von preußischen Volksschullesebüchern weist immerhin in diese Richtung.90 Die Leitbilder, die in diesen Lesebüchern aufgestellt wurden, zielten nicht auf wirtschaftliche Leistung und sozialen Aufstieg ab, sondern auf Tugenden wie Gehorsam, Fleiß und Sparsamkeit, Verhaltensmuster also, die den Aufstieg in Unternehmerpositionen sicher nicht förderten. Auf die Tugenden, die die Unternehmer bei den Arbeitern voraussetzten, wird zurückzukommen sein. Ein entscheidender weiterer Grund für die einseitige soziale und berufliche Herkunft der frühindustriellen Berliner Unternehmer lag darin, daß der Anteil von Angehörigen der jüdischen Minorität unter den Berliner Unternehmern aufgrund der überdurchschnittlich starken, frühindustriellen Wanderung der Juden in die Städte außerordentlich hoch war. Unter den ermittelbaren Fällen gehörten ungefähr die Hälfte der Berliner Unternehmer dieser Minorität an, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Berlins 1849 zwischen 2 und 3 % lag91 und bis zum Ende des Jahrhunderts nicht über 4 % wuchs. Die Berufsstruktur dieser Minorität hat die einseitige Herkunft der frühindustriellen Berliner Unternehmer stark mitgeprägt, da sie ebenfalls extrem einseitig war. In Weiterwirkung früherer und aufgrund damals noch bestehender Berufsbeschränkungen besaßen in dieser minoritären Gruppe die Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers im Vergleich zur damaligen Gesellschaft ein völlig disproportionales Übergewicht. Das zeigt der Berliner Fall. Hier verloren zwar die Bankiers, Wechsler, Kaufleute und Fabrikanten im Verlauf der ersten Jahrhunderthälfte etwas von ihrer beherrschenden Stellung; den gewerblichen Sektor verließen jedoch die jüdischen Einwohner damals noch kaum. In den freien Berufen 89
Dies ist eine der Arbeitshypothesen Fred Marquardts, der die Berliner Arbeiter
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht. Diese Studie, für die bisher unveröffentlichte Archivmaterialien verwandt werden, entsteht gegenwärtig. 90
Vgl. Peter Lundgreen, Analyse preußischer Schulbücher als Zugang zum Thema
Schulbildung
und Industrialisierung,
in: International
Review
15 (1970) S. 117 ff. 91
Nadi den am Anfang des Kapitels angegebenen Materialien.
of
Social
History
80
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
scheinen sie nodi eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Im übrigen Preußen besaß diese Minorität eine ähnliche Berufsstruktur. 92 Die einseitige Berufsstruktur dieser unter den Berliner Unternehmern außerordentlich bedeutsamen Minorität konnte also nur zu einer einseitigen sozialen und beruflichen Herkunft der jüdischen Berliner Unternehmer führen. Neben diesen äußeren Faktoren der sozialen Herkunft, also der Selbsteinschätzung anderer sozialer Schichten und den Bedingungen, die zu der einseitigen Berufsstruktur der jüdischen Minorität führten, konnte auch die Se/£sieinschätzung der frühindustriellen Berliner Unternehmer Angehörige der eigenen Schicht mit bestimmter sozialer oder beruflicher Herkunft benachteiligen oder den Zustrom aus anderen sozialen Schichten oder Berufsgruppen behindern. Es lassen sich zwei Kriterien sozialer Rangordnung fassen, die es den Berliner Unternehmern während der frühen Industrialisierung ermöglichten, wirtschaftlich erfolgreichen Aufsteigern innerhalb der eigenen sozialen Gruppe die volle Anerkennung zu verweigern. Eine gewisse Behinderung im Bereich der politischen Aktivität ergab sich für einige Unternehmer aus dem Kriterium der „kaufmännischen Intelligenz", einer Eigenschaft, die die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation für sich in Anspruch nahmen. Sie verstanden darunter die Fähigkeit zu „einer Gesamtanschauung der Handelsverhältnisse und einen Uberblick der Handels- und Steuergesetzgebung... wie man sie gewöhnlich bei einem Kaufmann oder Fabrikanten der Provinz, der größtentheils nur einzelne Handels- und Fabrikationszweige näher kenne, nicht finden werde." 9 3 Dieser Begriff der „kaufmännischen Intelligenz" tauchte nur während der vierziger Jahre auf. Er muß in seiner recht einseitig politischen Ausrichtung vor dem Hintergrund der vormärzlichen Auseinandersetzung gesehen werden, die die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation damals ähnlich wie rheinisdie Handelskammern um die Anerkennung als Interessenvertretung 02 Vgl. Stefi Wenzel, Jüdische Bürger und kommunale Selbstverwaltung in preußischen Städten 1808—1848 ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 21), Berlin 1967, S. 27 f., 52 f.; Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848—1918 ( = Schriftenreihe wissensdiaftlidier Abhandlungen des Leo Baedc Instituts, Bd. 19), Tübingen 1969, S. 29 f.
Protokoll der Verhandlungen über die Errichtung einer Berliner Handelskammer, 15. 9.1842, StA Potsdam, Rep. 1 Nr. 371; Denkschrift des Berliner Weingroßhändlers Güßfeldt, 1. 5.1843, StA Potsdam, ebda. 93
Schranken der
Aufstiegsmobilität
81
der Unternehmer und um die Überwindung ihrer Rolle als bloßer Informationsvermittler führten. Offensichtlich unter diesen Bedingungen haben die Berliner Unternehmer mit „kaufmännischer Intelligenz" eine Legitimation der Staatsverwaltung imitiert. Diese leitete ihren Herrschaftsanspruch unter anderem aus ihrer präzisen Kenntnis aller wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der damaligen Gesellschaft ab. Die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation haben diesen Anspruch auf den Bereich verkleinert, den sie zu vertreten wünschten, auf die Banken, den Großhandel und die Industrie, und sich dort auch als Behörde verstanden. 94 Obwohl sich dieses Kriterium der „kaufmännischen Intelligenz" augenscheinlich vor allem gegen Unternehmer aus der preußischen Provinz richtete, scheinen daraus für die zugewanderten Bankiers und Großkaufleute keine Nachteile entstanden zu sein. Diese hatten — wie schon erwähnt — keine erkennbaren Schwierigkeiten, in das Ältestengremium der Berliner kaufmännischen Korporation einzudringen. Nicht ganz so deutlich richtete sich dieses Kriterium der „kaufmännischen Intelligenz" gegen die nicht kaufmännisch ausgebildeten Unternehmer; einige Anzeichen sprechen allerdings dafür, daß die Unternehmer handwerklicher Herkunft in ihrer politischen Aktivität dadurch behindert wurden und ihnen zumindest der Zugang zum interessenpolitischen Entscheidungsgremium, den Ältesten der kaufmännischen Korporation, erschwert wurde. Audi unter den Berliner Unternehmern, die von der Berliner kaufmännischen Korporation als Berater für den jährlichen Wirtschaftsbericht benannt und die nach der Auffassung der kaufmännischen Korporation in besonderem Maß über „kaufmännische Intelligenz" zu verfügen hatten, befand sich während der vierziger Jahre keiner der damaligen, aus dem Handwerk aufgestiegenen Industriellen. Erst im „Comite der Unterstützungskasse für Kaufleute und Fabrikanten", das die von der Staatsverwaltung in der Krise von 1848 der Berliner Wirtschaft zur Verfügung gestellten Kredite zu verwalten und verteilen hatte, waren zwei der acht Mitglieder, der Maschinenindustrielle A. Borsig und der Seidenindustrielle H . Landwehr, ökonomisch bereits erfolgreiche AufAuf das Verhältnis der Unternehmer zur Staatsverwaltung wird im D R I T T E N näher eingegangen. Vgl. zu den rheinischen Handelskammern: 125 Jahre Industrie- und Handelskammer zu Düsseldorf 1831—1956, Düsseldorf 1956, S. 36 f.; Industrie- und Handelskammer Wuppertal. Testschrift zum 125jährigen Jubiläum am 17. Januar 1856, S. 19 ff.; F. Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer ..., S. 150 ff.; Gerhard Frentzel/Ernst Jäkel, Die deutschen Industrie- und Handelskammern und der Deutsche Industrie- und Handelstag, Frankfurt-Bonn 1967, S. 17. M
KAPITEL
6
Kaelble, Berliner Unternehmer
82
I. Die Herkunft der Berliner
Unternehmer
Steiger.97 Das scheint allerdings eine Ausnahme gewesen zu sein — abgesehen von A. Borsig, fehlten diese Aufsteiger noch in den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur unter den Ältesten der kaufmännischen Korporation; 98 es ist auch kein Fall bekannt, in dem einer von ihnen von der kaufmännischen Korporation in Beiräte der Staatsverwaltung delegiert wurde. Allerdings scheinen diese Unternehmer handwerklicher Herkunft auch häufig interessenpolitisch oder politisch nicht aktiv gewesen zu sein. Keiner von ihnen besaß ein parlamentarisches Mandat. Der ehemalige Kupferschmied Heckmann, einer der erfolgreichsten Berliner Metallindustriellen, suchte „in anspruchsloser Weise jedes Hervortreten zu vermeiden." Audi dem Maschinenfabrikanten C.Hoppe scheint der Impetus der „kaufmännischen Intelligenz" gefehlt zu haben. Nach dem Bericht eines Berliner Polizeileutnants war er dafür bekannt, daß er „mit geradezu ängstlicher Penibilität den Anordnungen der Behörde in jeder Beziehung nachkommt, dem Polizei-Präsidium eine weit bessere Garantie bietet, als dies irgendein Unternehmer der Desinfektion könnte." 99 Neben der „kaufmännischen Intelligenz" gab es ein zweites Kriterium, mit dem vor allem die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation die Angehörigen ihrer Schicht einstuften: das Ausmaß, in dem der einzelne Unternehmer innerhalb seiner Schicht bekannt war. Dieses außerordentlich diffuse Kriterium tauchte häufig in den Gutachten auf, die die Ältesten der kaufmännischen Korporation für Titelverleihungen zu erstellen hatten. Auch dieses Kriterium hat sich für die Unternehmer handwerklicher Herkunft negativ ausgewirkt. Im Fall des Berliner Maschinenfabrikanten J. C. Freund, dessen Unternehmen mit 700 Arbeitern und einem Umsatz von 700 bis 900 000 Talern zu den größten Maschinenfabriken Berlins gehörte, gab der Vorsteher der kaufmännischen Korporation zwar zu, daß Freund ein „tüchtiger Industrieller" sei, meinte jedoch, daß Freund wegen seines nur durchschnittlichen sozialen Prestiges unter den Kaufleuten nicht mehr als den Vgl. Liste der Informanten für den Wirtschaftsbereich, 13. 5. 1843, Stadtarchiv Berlin, Κ 1182; Liste der Gutachter für das Handelsamt, 2 . 1 2 . 1 8 4 4 , Stadtarchiv Berlin, Κ 1167; Comite der Unterstützungskasse für Kaufleute und Fabrikanten, 6. 4.1848, Stadtarchiv Berlin, Κ 1039. 88 Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin. Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum am 2. März 1920, Berlin 1920, S. 658 ff. " Zu parlamentarischen Mandaten vgl. DRITTES KAPITEL; ZU Hedemann: Immediatberidit des Handelsmin., 1 8 . 1 1 . 1 8 6 9 , DZA Merseburg, Rep. 120 A I V 5 Bd. 11; zu Hoppe: zit. nach: G. Arnold, Carl Hoppe..., in: Technikgeschichte, Bd. 32 (1965), S. 62 f. 97
Schränken
der
Aufstiegsmobilität
83
Titel des Commerzienrats verdiene. Gerade die bedeutendsten Masdiinenindustriellen Berlins wie Borsig, Egells, Schwartzkopff und Wöhlert, alle soziale Aufsteiger, unterstützten dagegen den Titelantrag für Freund. Im Fall F. Vollgolds, der in seiner Silberwarenfabrik 1860 200 Arbeiter beschäftigte und damit nach Ansicht des Hauptbankdirektoriums das größte Unternehmen dieses Produktionszweigs in Berlin besaß, lehnte dieses Gremium die Ernennung zum Kommerzienrat ab, da „im H a n d e l s s t a n d e . . . der p. Vollgold nur sehr wenig bekannt" war. Der einstige Kupferschmied C. J . Heckmann, der als Besitzer eines Metallunternehmens einer der reichsten Einwohner Berlins geworden war, war nach einem wohl auf die kaufmännische Korporation zurückgehenden Bericht des preußischen Handelsministers ebenfalls „in weiteren Kreisen nicht in dem Maße bekannt". W. C. Bordiert, dessen Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 350 000 Talern und mit 160 Beschäftigten Ende der sechziger Jahre ebenfalls zu den größeren Berliner Metallbetrieben gehörte, hatte nach Ansicht des Hauptbankdirektoriums ebenfalls kein hohes soziales Prestige unter den Berliner Unternehmern; die kaufmännische Korporation lehnte die Verleihung des Kommerzienratstitels an ihn ab. 100 Direkte wirtschaftliche Nachteile dürfte diese soziale Benachteiligung freilich selten gehabt haben. Zwar glaubte der Seidenhändler und Wollenfabrikant A. L. Volckart, seine Konkurrenz schlage daraus Kapital, daß er lange Zeit nicht zum Geheimen Kommerzienrat ernannt wurde; für sehr einschneidend hielt er diese Geschäftspraktiken jedoch selbst nicht.101 Zum Fall Freund: Conrad, Vorsteher der Korporation der Kaufmannsdiaft Berlins, an den Berliner Polizeipräsident, 10. 7.1869, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. F N r . 9881; (zur Betriebsgröße) Berliner Polizeipräs, an H a n delsmin., 15. 7.1869, ebda.; (zur Unterstützung durdi andere Maschinenindustrielle:) Metallindustrieller Jürst an den Berliner Polizeipräs., 23. 6.1869, ebda.; zum Fall Vollgold: Hauptbankdirektorium an Handelsmin., 1 4 . 6 . 1 8 6 1 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A I V 5 Bd. 7; zum Fall Heckmann: Immediatbericht des Handelsministers, 18.11.1869, D Z A Merseburg, Rep. 120 A I V 5 Bd. 11; zur Betriebsgründung: H . Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute..., Bd. 3, S. 186; zum Fall Bordiert: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 4 . 4 . 1 8 6 9 , Rep. 120 A I V 5 Bd. 11; Hauptbankdirektorium an Oberpäsident d. Prov. Brandenburg, 4. 4.1869, a. a. O., Übersicht über die Produktion mineralischer Hütten und Fabriken Berlins, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C N r . 90. 100
1 0 1 Volckart an Handelsmin., 7. 6.1871, D Z A Merseburg, Rep. 120 A I V 5 Bd. 12. Danach argumentierte die Konkurrenz: „Der p. Volckart ist seit länger als 25 Jahren Commerzienrath, er würde in seiner Stellung bei seinen Connexionen schon längst zum Geheimen Commerzienrath ernannt worden sein, wenn eine Vergrößerung und ein Fortschreiten seines Geschäfts vorläge." Volckart sah darin die „Vorspiegelung,
6*
84
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Nun deutet freilich nichts darauf hin, daß diese Kriterien der sozialen Einstufung, wie sie vor allem die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation anwandten, die berufliche und soziale Herkunft der Berliner Unternehmer beeinflußten. Die Korporationsältesten hemmten damit den wirtschaftlichen Aufstieg nicht. Den aus dem Handwerk stammenden Unternehmern, denen sie während der frühen Industrialisierung vor allem in der entstehenden Maschinenindustrie und der expandierenden Metallindustrie in zunehmender Zahl begegneten, verweigerten die Korporationsältesten nur in zwei wirtschaftlich nicht zentralen Bereichen die volle Anerkennung: bei der Beteiligung an interessenpolitischen Entscheidungen während der vierziger Jahre und bei der Erlangung von Titeln. Wirtschaftlich wirksam und für die berufliche Herkunft der Berliner Unternehmer bedeutungsvoll waren dagegen die Wertmaßstäbe, mit denen die Berliner Unternehmer die Handwerker und Kleinhändler innerhalb der gewerblichen Wirtschaft und der damaligen Gesellschaft einstuften. An sich richtete das Statut der kaufmännischen Korporation, das in der Endphase der liberalen Reformära entstand, gegenüber diesen Berufsgruppen keine Schranken auf: „Allen Personen beiderlei Geschlechts, welche Handelsgeschäfte, von welcher Art sie auch seyn mögen, wirklich betreiben oder betreiben wollen . . . steht die Aufnahme in die Korporation der Kaufmannschaft offen." 1 0 2 Trotzdem schirmte sich die kaufmännische Korporation gegen den Zustrom von Handwerkern und Kleinhändlern ab. Die Ältesten der Korporation kämpften dagegen, „jeden Handwerker, der nebenbey einigen Handel treibt, sey es mit Produkten seiner Heimarbeit, oder mit anderen Gegenständen, mit Semmeln und Pfeiferkuchen, Individuen, die keinen Begriff von kaufmännischen Rechten und Pflichten haben", als Mitglieder aufzunehmen. 103 Selbst die Kleidung, als Merkmal sozialer Rangordnung typisch für eine ständische Gesellschaft, spielte für traditionelle Kaufleute eine Rolle bei der Abgrenzung des eigenen Standes. Sie wandten sich gegen die völlige Öffentlichkeit kaufmännischer Schiedsgerichte, da ihrer Ansicht nach daß meine Firma seit langem im Stillstande und daraus folgenden Rückgange begriffen, nicht mehr so leistungsfähig wie früher" sei. N u r in einzelnen Fällen hatten die Konkurrenten Voldcarts jedoch damit Erfolg (ebda.). 1 0 2 § 4 des Statuts für die Kaufmannschaft zu Berlin vom 2. März 1820, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, J g . 1820, S. 46 ff. 1 0 3 Die Ältesten der Korporation der Kaufmannsdiaft Berlins an den Minister des Innern und des Handels, 12. 5.1830, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α Reg. Potsdam Abt. I H G N r . 3704.
Schranken der
Aufstiegsmobilität
85
„Leute mit Jacken und Schürzen" dort nichts zu suchen hatten. 104 Von diesen Wertmaßstäben ausgehend, trug die kaufmännische Korporation mit dazu bei, daß während der Kapitalknappheit von 1848 neben dem auch in allen anderen preußischen Provinzen bestehenden staatlichen Kreditfonds in Berlin noch ein besonderer Fonds für die „kleinen Leute" eingerichtet wurde. 105 Der Korporationsälteste P. E. Baudoin, einer der größten Textilindustriellen Berlins, lehnte es — diesen Verhaltensmustern folgend — ab, zum Kommerzienrat ernannt zu werden, da er „neben seinem Fabrikgeschäft noch ein Laden- und Detailgeschäft für Seidenwaaren persönlich leitete, welches ihm nach seiner bescheidenen Gesinnung mit dem Charakter eines Königlichen Raths nicht vereinbar erschien".106 Noch in den sechziger Jahren herrschte dieser „Kastengeist, dem jeder besser situierte Kaufmann huldigt, und der den Kleinhändler und hauptsächlich die Materialwaarenhändler als Krämer, den mit Gütern reich gesegneten Großhändler nur als den wahren Kaufmann bezeichnet".107 Das steuerrechtliche Privileg der kaufmännischen Korporation war der entscheidende Grund für die Beibehaltung dieses traditionellen Selbstverständnisses von Berliner Unternehmern. In der Gewerbesteuerklasse Α waren alle Gewerbetreibenden Berlins mit kaufmännischen Rechten zusammengefaßt. Die Steuerbehörde berechnete die Gewerbesteuer nicht mit den einzelnen Mitgliedern der Steuerklasse, sondern mit der „Steuergesellschaft", in die die Gewerbetreibenden der Steuerklasse Α einzutreten hatten. Der Gesamtsteuerbetrag, den diese Steuergesellschaft dann unter ihren Mitgliedern je nach Einkommen zu verteilen hatte, richtete sich nach einem gesetzlich fixierten, arithmetischen Mittelwert und der Zahl der Mitglieder der Steuerklasse. Entstand also ein starker Zustrom von Gewerbetreibenden mit geringem Einkommen in diese Steuerklasse, so erhöhte sich dadurch für die Gewerbetreibenden mit hohem Einkommen die Gewerbesteuer. Entscheidend war nun, daß die Mitgliedschaft in der Steuerklasse A 104
Kaufmann Schauß, Protokoll der Mitgliederversammlung der Korporation der Kaufmannschaft Berlins, 23. 5.1845, in: Berlinische Nachrichten, 26. 5.1845, Nr. 119. los Wilhelm Beer, Über den Grundbesitz in Berlin, in: Berlinische Nachrichten, 4.11.1848, Nr. 259. 10 ® H. C. Carl, Vorsteher der Berliner kaufmännischen Korporation, an Handelsmin., 30. 5.1858, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 6. 107 Eines, was uns auch noth thut! Betrachtungen über das kaufmännische Leben. Ein zeitgemäßes freies Wort für Alle die dem Handelsstand zugehören oder sieb ihm widmen wollen. Von einem Kaufmann, Berlin 1861, S. 7.
86
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
den Eintritt in die kaufmännische Korporation voraussetzte, da man nur als Mitglied dieser Korporation kaufmännische Rechte besaß.108 Versuchte also ein Einzelhändler oder Handwerker aus seiner bisherigen Steuerklasse, in der sein relatives Einkommen und damit auch seine Gewerbesteuer hoch war, in die Steuerklasse Α überzuwechseln, in der sein Einkommen relativ niedriger und damit seine Gewerbesteuer niedriger sein konnte, so hatten Korporationsmitglieder mit überdurchschnittlichem Einkommen ein Interesse daran, ihm den Eintritt in die kaufmännische Korporation zu verwehren. Teilweise begründeten die Korporationsältesten die Nichtzulassung von Handwerkern und Einzelhändlern in die Korporation offen mit der Schilderung dieser Interessenlage: „Soll die Corporation auch solche Individuen aufnehmen, die nicht eigentlich kaufmännische Geschäfte treiben, die ihr nach der Aufnahme 30 Taler Steuer [den Mittelwert der Steuerklasse] kosten, dagegen aber nur 12 Taler zu den Steuern beitragen, so wird der Ubelstand [vergrößert], der ohnehin schon darin liegt, daß der wohlhabende Theil der Kaufleute immer mehr Steuer tragen muß, je mehr Kaufleute verarmen und je mehr kleinere Kaufleute mit unbedeutendem Gewerbebetrieb" aufgenommen zu werden wünschen.109 Auch als den Ältesten diese Zulassungsbeschränkung vom preußischen Innenminister untersagt wurde, 110 verloren sie ihren relativ großen Ermessensspielraum bei der Zulassung von neuen Mitgliedern nicht. Sie hatten auch weiterhin zu prüfen, ob der Antragsteller den „Ruf der vollkommensten Unbescholtenheit" besaß, und flochten dabei nach außen jetzt die geschilderten Wertmaßstäbe mit ein.111 Dahinter standen während der frühen Industrialisierung weiterhin wirtschaftliche Interessen.
los Vgl d a s Gesetz wegen Entriditung der Gewerbesteuer vom 3 0 . 5 . 1 8 2 0 , in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1820, S. 147 ff.; Älteste der Korporation der Kaufmannsdiaft Berlins an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 7 . 1 . 1 8 6 1 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 456. 109 Kaufmännische Korporation an Regierung Potsdam, 28. 2.1830, StA Potsdam, Rep. 2 Α Reg. Ptsd. Abt. I H G Nr. 3704. 110 Innenminister an die Ältesten der Korporation der Kaufmannsdiaft Berlins, 13. 6.1830, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α Reg. Ptsd. Abt. I H G Nr. 3704. 111 Vgl. § 4 des Statuts für die Kaufmannsdiaft zu Berlin vom 2. März 1820, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1820, S. 46 f. Für die Interpretation vgl. Älteste der Korporation der Kaufmannsdiaft Berlins an den Oberpräsidenten der Prov. Brandenburg, 7 . 1 . 1 8 6 1 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 456.
Schranken
der
Aufstiegsmobilität
87
Der wirtschaftliche Nachteil, der Handwerkern und Einzelhändlern aus dieser Zulassungsschranke erwuchs, beschränkte sich nicht auf die Gewerbesteuer. Auch von anderen wirtschaftlichen Privilegien der Korporation wurden sie dadurch ausgeschlossen. Das wichtigste unter ihnen war die Wechselfähigkeit, die bis zur Jahrhundertmitte ausschließlich Korporationsmitglieder besaßen; audi noch danach besaßen nur die Korporationsmitglieder das Recht, ihre Wechsel von der Preußischen Bank diskontieren zu lassen. 112 Diejenigen Unternehmer, die im Startstadium Handwerker oder Einzelhändler waren, wurden dadurch stark benachteiligt, da auch im Berliner Wirtschaftsgebiet vor der Jahrhundertmitte Wechsel ein sehr verbreitetes Zahlungsmittel waren. Zwar wußte „zu gewöhnlichen Zeiten der kleine Fabrikant und der Händler sich zu helfen, indem die Bankiers und Privatdiskonteurs ihnen irgend sichere Mittelwechsel gegen eine sichere Provision abnehmen, welches für sie ein so dringendes Bedürfnis geworden, als Ausstände ihnen in solchen Wechseins gezahlt werden"; 1 1 3 sie hatten jedoch mit höheren Kapitalkosten und kürzeren Zahlungsfristen zu rechnen. In Wirtschaftskrisen wie der von 1848/49 gerieten sie zudem in Zahlungsschwierigkeiten, da ihre Wechsel dann auch von Privatbankiers nicht mehr diskontiert wurden. 114 Die Wertmaßstäbe, mit denen die Berliner Unternehmer Handwerker und Kleinhändler abwerteten, die dahinter steckende Interessenlage und die daraus resultierenden Engpässe bei der Kapitalbeschaffung für andere gewerbliche Berufsgruppen scheinen vor allem den wirtschaftlichen Aufstieg von Kleinhändlern beeinträchtigt zu haben. Unter den ermittelbaren Fällen von Detailhändlern, die in Berlin Unternehmer wurden, gibt es keine Beispiele für den Aufstieg vom Detailzum Großhändler. Bei einem großen Teil der Fälle handelte es sich nicht um reine Detaillisten, sondern um Kleinhändler, die daneben auch produzierten und nur kraft ihrer wirtschaftlichen Bedeutung als Produzenten Unternehmer und Mitglieder der kaufmännischen Korpora112 Ygi z u r Wechselfähigkeit: § 2 des Statuts der Kaufmannschaft zu Berlin vom 2. März 1820 ..., S. 46; Älteste der Korporation der Kaufmannschaft Berlins an den Oberpräsidenten der Prov. Brandenburg, 7 . 1 . 1 8 6 1 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 456. 113 Fa. Breslauer & Meyer u.a. an Handelsmin., 3 . 3 . 1 8 4 8 , DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 1. 114 Ebda.; Born, Gutachten über den vom „Verein selbständiger Handwerker" vorgelegten Entwurf einer Handwerkerbank, in: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1850, S. 49.
88
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
tion wurden. Schon seit der Gründung seines Unternehmens 1822 betrieb Johann Adolph Heese Seidenwarendetailhandel und -fabrikation nebeneinander. In seiner Fabrik beschäftigte Heese 1855 an Aufsehern, Wirkern, Scherern, Spulern und Sortierern rund 200 Personen; in der „Handlung" hingegen, die Detail- und Engroshandel umfaßte, nur 28 Personen. Israel Hirschfeld beschäftigte 1841 in der Woll- und Baumwollwarenproduktion 400 bis 500 Personen und war daneben Teilhaber eines Bankhauses mittlerer Größe; sein Detailgeschäft scheint demgegenüber unbedeutend gewesen zu sein. Das Unternehmen des Seidenindustriellen und Ältesten der Korporation, P. E. Baudoin, beruhte ebensowenig auf seinem Ladengeschäft wie das der Brüder Friedheim, die in ihrer 1850 in Berlin gegründeten Weberei und Appretur 1862 rund 800 Personen beschäftigten. Auch bei dem Militäreffektenfabrikanten Salomon Speyer lag der Schwerpunkt auf der Produktion: Er beschäftigte in seinen Berliner Werkstätten hundert Arbeiter, an Aufsichts-, Verwaltungs- und Ladenpersonal zusammen dagegen nur 23 Personen. Für die Schokoladenfabrikanten Hildebrandt lag der Schwerpunkt des Unternehmens ebensowenig in ihrem Einzelhandelsgeschäft wie für den Teppichfabrikanten A. F. Dinglinger, der daneben an einigen anderen Textil-, Maschinen- und Schiffahrtsunternehmen außerhalb Berlins beteiligt war. 115 Bei der sehr viel selteneren Kombination von Detailhandel und Bankgeschäft spielte ersterer ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle. Der spätere Älteste der kaufmännischen Korporation, Carl Gottfried Franz, hatte schon vor 1830 mit seinem Bank- und Wechselgeschäft so viel Erfolg, daß er seinen Tabakhandel sehr bald aufgab. Auch Philipp Marckwald beschränkte sich nicht auf sein ererbtes Juweliergeschäft, 115 Vgl. zu Heese: Interner Bericht im Berliner Polizeipräsidium, 27.2.1855, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Η Nr. 10492; zu Hirschfeld: Berliner Polizeipräs, an Finanzmin., 22. 5. 1841, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 2; zu Baudoin: Buchhalter Gerloff (in Seidenfabrik Volckart) an Finanzmin., 10. 3. 1852, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 4; zu Friedheim: Bericht an Berliner Polizeipräs., 2.11.1862, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 57 Nr. 9869; zu Speyer: Berliner Polizeipräs, an Hofmarsdiallamt, 9. 7.1861, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Μ Nr. 11697; zu Hildebrandt: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 16.5.1856, a. a. O., Lit. Η Nr. 10608; zu Dinglinger: Berliner Oberbürgermeister an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 30. 4.1856, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 5. In den Zusammenstellungen der beruflichen Herkunftsarten der Berliner Unternehmer tauchen „Detaillisten" nicht auf, da es sich bei diesen und den im Folgenden geschilderten Fällen entweder um andere Ausgangsberufe handelt oder genaue Informationen über die Ausbildung fehlen.
Schranken der
Aufstiegsmobilität
89
obwohl er allein damit Mitte der sechziger Jahre jährlich 600 000 Taler umsetzte, sondern gründete daneben noch eine Bank. 116 Während in diesen Fällen den Einzelhändlern die sofortige oder spätere Verbindung von Detailhandel und Produktion oder Bankgeschäften den Aufstieg zum Unternehmer ermöglichte, gelang in einigen wenigen Fällen die Ausweitung zum Einzelhandelsgeschäft großen Maßstabs. Die dafür bekannten Fälle beschränken sich auf den Textilwarenhandel. Heinrich Jordan weitete seinen Einzelhandel mit Leinenzeug zum ersten Wäscheversandgeschäft Berlins aus. Bei anderen Unternehmern dieses Handelszweigs läßt sich der geschäftliche Erfolg indirekt am angesammelten Vermögen erkennen. Rudolf Hertzog, der 1839 in Berlin ein Textilwarengeschäft gründete, verfügte 1870 über ein Vermögen von 250 000 Talern. Valentin Mannheimer, der sich in Berlin um dieselbe Zeit mit einem Konfektionsgeschäft etabliert hatte, besaß 1870 800 000 Taler. Die Gebrüder Gerson, die 1836 ebenfalls mit einem Konfektionsgeschäft angefangen hatten, waren Ende der sechziger Jahre sogar mehrfache Millionäre. Zwar lag bei den Unternehmern dieses Zweigs der wirtschaftliche Schwerpunkt im Einzelhandel; die Gebrüder Gerson, die ihr Unternehmen erheblich in die Produktion ausdehnten, dürften jedoch darin keine Ausnahme gewesen sein. Während sie im Handelsgeschäft und in der Verwaltung 1868 200 Buchhalter, Kommis, Lehrlinge, Hausdiener, Directricen und Verkäuferinnen beschäftigten, betrug die Zahl ihrer Arbeiterinnen im Hause hundert, außer Haus sogar 150.117 Im Vergleich dazu gab es — wie gezeigt — eine wesentlich größere Zahl von Handwerkern, die in Berlin zu Unternehmern aufstiegen. Gleichgültig, ob sie nun in handwerklichem Maßstab begannen und nur allmählich expandierten, oder ob sie nach langjährigem praktischem Training in einem Industriebetrieb ein relativ rasch expandierendes Unternehmen begründeten — in jedem Fall war für sie der Zugang zur kaufmännischen Korporation und deren wirtschaftlichen Privilegien schwierig. Das zeigt folgende Tabelle:
116
Vgl. zu Franz: Berliner Magistrat an Handelsmin., 10. 3.1857, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 6; zu Marckwald: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 10.12. 1865, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Μ Nr. 11768. 117 Vgl. zu Jordan: M. Osborn u.a., Berlins Aufstieg..., S. 59 f.; zu Hertzog: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 2 3 . 2 . 1 8 7 0 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 11; zu Mannheimer: ebda.; zu Gerson: Berliner Polizeipräs, an Oberpräs. d. Prov. Brandenburg, 2. 6.1868, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 10.
90
I. Die Herkunft der Berliner TABELLE
Unternehmer
Unternehmer
11
handwerklicher Herkunft und ihre Mitgliedschaft in der kaufmännischen Korporation 1840 bis 1870118 1840—1849
1850—1859
1860—1869
6
12
10
Niditmitglieder
20
20
19
Insgesamt
26
32
29
Mitglieder in der kaufmännischen Korporation
Hinzu kam, daß die Unternehmer handwerklicher Herkunft, die in die kaufmännische Korporation eintreten konnten, ihre Mitgliedschaft nicht schon im handwerklichen Startstadium erwarben. Arnheim, der 1833 im Rahmen einer Schlosserwerkstatt mit dem Bau von Panzerschränken begann, wurde erst nach 1860 Korporationsmitglied, Arnold, der sich 1844 in Berlin als Tischlermeister etablierte, trat ebenfalls erst in den sechziger Jahren der Korporation bei, als er in seiner Möbelproduktion über 200 Arbeiter beschäftigte. Auch die Seidenindustriellen Landwehr und Meubrinck, 1830 noch Altmeister des Berliner Seidenwirkergewerbes, stießen erst in den fünfziger Jahren zur kaufmännischen Korporation. Bei dem Maschinenfabrikanten Hartmann lagen Betriebsgründung und Korporationsmitgliedschaft über eine Dekade, bei dem Maschinenfabrikanten Hausschild sogar drei Dekaden auseinander.119 Ähnlich wie bei den Einzelhändlern scheint auch hier nicht schon der Handwerker, sondern erst der wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmer 118 Für die handwerkliche Herkunft vgl. T A B E L L E 3; für die Mitgliedschaft in der kaufmännischen Korporation vgl. Mitgliederverzeichnisse der kaufmännischen Korporation Berlins, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 A I H G Nr. 3705. Im Gegensatz zur T A B E L L E 3 umfaßt diese Zusammenstellung jeweils sämtliche Unternehmer handwerklicher Herkunft, die in einem der drei Zeitabschnitte in Berlin tätig waren. " · Vgl. zu Arnheim: H . Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute . .., S. 186; zu Arnold: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 11.12.1866, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 9; zu Landwehr und Meubrinck: Altmeister des Berliner Seidenwirkergewerks an den Innenmin., 24. 8.1831, DZA Merseburg, Rep. 89 C XXXV Kurmark Nr. 27 Bd. 1; zu Hartmann: Hartmann an Handelsmin., 19.1.1853, DZA Merseburg, Rep. 120 D XIV 1 Nr. 2 Bd. 4; zu Hausschild: Hausschild an Beuth, 12.7.1843, a.a.O., Bd. 3. Für die Mitgliedschaft in der Koporation: Mitgliederverzeichnisse der Korporation der Kaufmannschaft Berlins, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 A I H G Nr. 3705.
Schranken der
Aufstiegsmobilität
91
Mitglied der kaufmännischen Korporation geworden zu sein. Gemessen an der Betriebsgröße, zeigt dies folgende Zusammenstellung für den Fall der Metall- und Maschinenfabrikanten Berlins: TABELLE 1 2
Kaufmännische
Korporationsmitglieder
unter den Metall-
Maschinenfabrikanten
Berlins
1856 bis Betriebsgröße nach Beschäftigten
Insgesamt
1870120
Mitgliedschaft in der kaufmänn. Korporation 1860
1856 ja
über 250 über 100 über 50 50 und weniger
und
nein
1865 nein
ja
1870 nein
3 5
1 1 1 7
6 2 3 1
2 12
8 1 4 2
10
13
10
12
15
15
—
9
1
ja
4 3 4 2
2
5 3 1 —
ja
•
nein 1 —
2 2 5
In diesem statistisch am besten belegten Fall waren also die Industriellen in um so größerer Zahl Korporationsmitglieder, je umfangreicher ihr Betrieb war. Generell gesehen, nahm außerdem die Mitgliedschaft in der Korporation erheblich zu. Da die wirtschaftlichen Privilegien der kaufmännischen Korporation seit der Jahrhundertmitte immer mehr an Bedeutung verloren, läßt sich diese Entwicklung nicht aus einem äußeren Druck, sondern aus einer internen Abschwächung der Zulassungsbeschränkungen erklären. Die Wertmaßstäbe, mit denen die Berliner Unternehmer die Angehörigen der eigenen sozialen Gruppe einordneten und Handwerker und Kleinhändler aus der eigenen sozialen Gruppe ausschlossen, haben also besonders im letzten Fall zu Schranken des wirtschaftlichen Aufstiegs geführt. In ähnlicher Weise können audi die wirtschaftlichen Zielvorstellungen der frühindustriellen Unternehmer gewirkt haben. Dabei muß etwas weiter ausgegriffen werden. Schon während der vierziger Jahre erschien dem Berliner Bankier und Ältesten der kaufmännischen Korporation, Wilhelm Beer, die eigene Epoche von primär wirtschaftlichen Zielvorstellungen geprägt 120 Zusammengestellt nach: ebda.; Übersicht über die Produktion mineralischer und metallischer Hütten und Fabriken Berlins für das Jahr 1856, 1860, 1865, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 35 Nr. 90 Bd. 1; für 1870: Berlin und seine Entwicklung, 5. Jg. (1871), S. 127 ff.
92
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
zu sein: „Unsere Zeit ist dem natürlichen Lauf der Dinge nach, eine wesentlich unternehmende und schaffende. Die Segnungen eines dreißigjährigen Friedens, welche einen staunenswerten Reichthum, also großen Überfluß an Kapitalien, die gern in Gewinn versprechenden Unternehmungen placirt werden, erzeugt haben, die Wunder, welche die Naturwissenschaften... im Verein mit der Mechanik bewirkt, haben Staaten und Völker den Eroberungs-Kriegen entfremdet, und das Streben so wie die Thatkraft der staatlichen Gesellschaft den Künsten des Friedens zugewendet. Dazu gesellt sich der gleichfalls zum Naturtriebe gewordene Hang zum Speculiren und Erwerben, und so befinden wir uns denn naturgemäß in einer Zeit, wo der schaffende Unternehmungsgeist tagtäglich Neues und Neues erzeugen will." 1 2 2 Im Zentrum dieser wirtschaftlichen Zielvorstellungen stand für Beer als Bankier die „Speculation", die ausschließlich auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Kapitalanlage. Er beurteilte Kapitalanlagen dann negativ, wenn sie den Zweck hatten, „auf Dinge zu speculiren, die bei nicht größeren Chancen zum Gewinn den Nachtheil haben, daß die Zinsen verloren gehen, der Spekulations-Gegenstand durch die Zeit sich deterioriert und dessen Aufbewahrung außerdem noch mit Kosten verknüpft ist". 1 2 3 Die „Speculation" wurde nach Beer auch dann zu „Schwindel und Speculationswuth", wenn das Eigenkapital zu gering war. So verurteilte Beer beispielsweise die Berliner Baufinanzierung in den vierziger Jahren, bei der die Boden- und Baukosten damit beschafft wurden, daß auf soeben gekaufte Grundstücke oder noch gar nicht erstellte Häuser Hypotheken aufgenommen wurden. 124 „Ausschweifende Spekulation" entstand im Urteil auch anderer Ältester der kaufmännischen Korporation schließlich noch dadurch, daß der Kapitalmarkt übermäßig beansprucht oder die Regeln des Kredit- und Wechselrechts verletzt wurden. 125 Mit der Wirtschaftskrise von 1857 verschwand allerdings der Begriff der „Spekulation" aus dem Sprachgebrauch zumindest der Korporationsältesten. 126 122 W i l h e l m Beer, Bemerkungen
über Zettel-Banken
und Papiergeld,
B e r l i n 1845,
S.5. 123
W i l h e l m Beer, Die Gefabren
der Differential-Zölle
und der Revision
des
Zoll-
Tarifs, Berlin 1848, S. 34 f. 124
W . Beer, Bermerkungen
125
Bericht über den Handel
über Zettel-Banken und die Industrie
...,
S. 18.
von Berlin im Jahre
1856,
erstattet
von den Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, Berlin o. J., S. 1; Bericht über den Handel und die Industrie 12,1
von Berlin im Jahre 1857 ...,
Vgl. Bericht über den Handel
f o l g . . . . , passim.
und die Industrie
S. 1. von Berlin
im Jahre
1858
u.
Schranken der
Aufstiegsmobilität
93
Während die „Speculation" hauptsächlich auf die Kapitalrendite gemünzt war, zielte der Begriff „Unternehmungsgeist" vor allem auf die Gründung und Expansion von Verkehrs- und Industrieunterunternehmen. Er scheint allerdings im allgemeinen recht diffus gewesen zu sein. Weder von der Risikobereitschaft noch von seinem Verhältnis zu wirtschaftlichen Konjunkturen her wurde er präzisiert. Beeinträchtigt wurde die „Unternehmungslust" dem damaligen Verständnis nach — von Kapital-, Lohn- und Rohstoffkosten abgesehen — vor allem durch soziale Unruhen und außenpolitische Konflikte. 127 Während die vornehmlich von Bankiers und Kaufleuten entwickelten wirtschaftlichen Zielvorstellungen sich an der Gewinnmaximierung orientierten, richteten sich derartige Zielsetzungen bei den Industriellen dieser Zeit weit mehr auf technische Ausbildung und Fähigkeiten. Eduard Leonhardt beispielsweise empfahl sich Beuth mit den technischen Fortschritten seiner Maschinenbauanstalt. Der Metall- und Maschinenfabrikant Martin Hirtz rühmte sich, seit langem „Verbesserungen einzuführen, wie sie die Fortschritte der Technik und das Bedürfnis der Consumenten zu fördern berechtigten". Ähnlich wie der Teppichfabrikant J. C. Pflügge sah der Maschinenbauer S. Engel sein Ziel darin, „sich zu vervollkommnen und sein Geschäft zu erweitern". 128 Der Korporationsälteste und Tuchfabrikant Carl sah ebenfalls von diesem Aspekt aus vor allem den Sinn der verarbeitenden Industrie: „Sie macht den Arbeiter wie den Fabrikanten geschickt, erhebt ihn zu höherer Fertigkeit und Gewandtheit." 129 Auch der Textilindustrielle Reichenheim kritisierte aus dieser Sicht die zeitliche Festlegung der Lehrlings- und Gesellenzeit im Handwerk: „Es kann auf den Fortbildungstrieb des jungen Menschen nur einschläfernd und entmuthigend wirken, wenn er von vorn herein weiß, daß nicht seine 127 W. Beer, Bemerkungen über die Zettel-Banken..., S. 1; C. C. Westphal, Der Wollausgangszoll im Interesse der Wollproduktion, Fabrikanten und Wollhändler, Berlin 1848, S. 13; Bericht über den Handel und die Industrie Berlins im Jahre 18}6 . . . , S. 1; Midiaelis, in: Verhandlungen des 2. deutschen Handelstags zu München vom 14.—18. Oct. 1862, Berlin 1862, S. 28; Liebermann, in: Verhandlungen des 4. deutschen Handelstags zu Berlin vom 20.—31. Oct. 1868, Berlin 1868, S. 70. 128
Vgl. zu Leonhardt: Leonhardt an Beuth, 28. 7.1843, DZA Merseburg, Rep. 120 D XIV 1 Nr. 2 Bd. 3; zu Hirtz: Hirtz an Finanzmin., 25.11.1847, a.a.O., Bd. 4; zu Pflügge: Immediateingabe Pflügges, 21.5.1854, DZA Merseburg, Rep. 120 D VI 2 Nr. 9 Bd. 2; zu Engel: Engel an Beuth, 12.10. 1847, DZA Merseburg, Rep. 120 D XIV 1 Nr. 2 Bd. 4. 12 ® H. C. Carl, Deutschland': Zolleinigung. Schutz- und Differentialzölle, Frankfurt am Main 1848, S. 10.
94
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Thätigkeit und sein Fleiß, sondern nur der langsame Verlauf der festgesetzten Zeit ihn eine Stufe weiter bringt." 130 Kennzeichnend für beide Arten wirtschaftlicher Zielvorstellungen war, daß sie vom gesamtwirtschaftlichen oder staatlichen Interesse her legitimiert wurden. „Jeder Handel, jeder Austausch setzt" nadi Ansicht des Tuchfabrikanten Carl „voraus, daß die productive Kraft des Inlands möglichst angespannt werde, um der Tauschwerthe recht viele hervorzubringen. Und zumal in einem Lande, das sich einer so entwickelten Cultur erfreut, wie Deutschland, und wo jede Vernachlässigung einer durch Natur, Lage und Umstände gebotenen Gelegenheit ein Misverständniß zwischen der zunehmenden Bevölkerung und ihren Existenzmitteln erzeugen kann, in einem solchen Lande darf keine Anlage, keine Gunst der Natur und Verhältnisse unbenutzt gelassen werden." 131 Auch Beer legitimierte seine Vorschläge für eine Reform des Bankwesens damit, „daß es zum Heil und Nutzen des Staates sei, dem vernünftigen Unternehmungsgeist durch eine größere Leichtigkeit sich Kapitalien zu verschaffen, zu Hülfe zu kommen". 132 Ein zweites und hier wichtiges Merkmal dieser wirtschaftlichen Zielvorstellungen bestand darin, daß sie nicht allen Gruppen der gewerblichen Wirtschaft in gleicher Weise zugeschrieben wurden. In den wirtschaftlichen Zielvorstellungen Beers hoben sich die Kapitalbesitzer aus der übrigen Gesellschaft heraus. Nur diese waren in der Lage, die wirtschaftlichen Zielvorstellungen Beers zu erfüllen und „Speculation" zu betreiben. „Schwindel und Speculationswuth" war dagegen nach Ansicht Beers „nichts Anderes als Speculation der Unbemittelten". 133 Von den wirtschaftlichen Zielvorstellungen, wie sie die Berliner Industriellen vertraten, waren dagegen innerhalb der gewerblichen Wirtschaft nur die industriellen Arbeiter ausgeschlossen. Für sie, die „fleißigen Hände" im Gegensatz zu den „unternehmenden Geistern", 134 galt nach den Vorstellungen des Tuchfabrikanten H . C. Carl als wirtschaftliche 130 Leonor Reichenheim, Entwurf eines Gewerbegesetzes für Preußen mit Motiven, Berlin 1860, S. 39. 131 H. C. Carl, Deutschlands Zolleinigung ..., S. 14 f. Weder unter den hier zitierten Broschüren noch unter den zahlreichen Eingaben von Berliner Industriellen wegen Unterstützung durch staatliche Maschinenlieferungen oder Kredite fanden sich religiöse Legitimationen (DZA Merseburg, Rep. 120 D IV—XIX, passim). 132 Beer, Bemerkungen über Zettel-Banken ..., S. 19. iss Beer, Bemerkungen über Zettel-Banken..., S. 18; ders., Die Gefahren der Differentialzölle..., S. 34; vgl. das Schichtungsbild der Führungsschicht der Berliner Unternehmer im Z W E I T E N K A P I T E L . 134 H. C. Carl, Zolleinigung . . ., S. 31.
Schranken der
Aufstiegsmobilität
95
Zielvorstellung vor allem „Sittlichkeit und Sparsamkeit". „Es möge die Aufgabe der Behörden und der Fabrikanten sein, die Arbeiter zum Sparen anzuregen, besonders sind es die jugendlichen, welche geschickt und kräftig, am meisten verdienen, aber am wenigsten geneigt sind zu sparen . . . Gelingt es ihm dann, ein Eigenthum zu erwerben, so hängt er um so mehr am Vaterlande, wenn er weiß, daß er einen Theil daran hat, während der Besitzlose vielmehr gleichgültig gegen dasselbe ist". 135 Einerseits haben also die Unternehmer in ihren wirtschaftlichen Zielvorstellungen die industrielle Arbeiterschaft ausgeklammert und ihnen andere, die Aufstiegsmobilität hemmende Zielvorstellungen zu indoktrinieren versucht. Andererseits schlossen die wirtschaftlichen Zielvorstellungen der Unternehmer die Handwerker und Einzelhändler nur teilweise — im Begriff der „Speculation" — aus; ein Industrieller wie Reichenheim setzte sich für eine Erweiterung der Aufstiegschancen von Handwerkern ein: „Sehen wir nicht tagtäglich, daß große Kapitalien in der Industrie verloren gehen, und bemerken wir nicht auf der anderen Seite, daß, wo wenig oder gar kein Kapital war, durch Intelligenz, durch Thätigkeit, durch Umsicht Bedeutung und Kapital geschafft wurde? Zu dieser Größe, zu diesem Kapital und zu diesem Emporschwingen will ich ebenfalls den Handwerkerstand geführt sehen".136 Konkrete Pläne zur Beseitigung einer der wichtigsten Mobilitätsschranken für Handwerker, die fehlende Verfügung über Kapital, wurden von Berliner Unternehmern freilich nur selten entwickelt. So schlug der Berliner Kaufmann Born ein Kreditinstitut speziell für Handwerker vor. Dieselben Ziele verfolgte die 1850 gegründete „Deutsche Betriebskapital- und Aussteuer-Anstalt für den Handels- und Handwerkerstand". Ähnlich wie andere derartige private Projekte wurde auch dieses von der Staatsverwaltung schon 1851 wieder zwangsweise aufgelöst. Sie verfolgten zudem nur kurzfristige konjunkturpolitische Zwecke und nicht einen Ausgleich bei der Verfügung über Kapital. 137 Die einseitige soziale Herkunft der frühindustriellen Berliner Unternehmer hatte also sehr unterschiedliche Gründe. Vorindustrielle Leit135 H . C. Carl, Sten. Ber., Zweite (preuß.) Kammer, 1853/54, Bd. 1, S. 488; vgl. dazu ergänzend die sozialpolitisdien Vorstellungen der „mittelständischen" Unternehmer Berlins im Z W E I T E N K A P I T E L . 136 Reichenheim, Sten. Ber., Zweite (preuß.) Kammer, 1861, Bd. 2, S. 1105. 137 Born, Gutachten..., in: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1850, S. 52 ff.; Mitteilungen des Berliner Lokalvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Nr. 34 vom 26.1.1850, S. 1; Berlinische Nachrichten, N r . 38 vom 15. 2.1853.
96
I. Die Herkunft der Berliner Unternehmer
bilder der preußischen Aristokratie trugen dazu bei, daß keine Fälle bekannt sind, in denen Väter von Berliner Unternehmern dieser sozialen Schicht angehörten. Es kommt allerdings hinzu, daß der Standort Berlins nur Industrie- und Wirtschaftszweige begünstigte, in denen es auch in anderen deutschen Wirtschaftsgebieten kaum Unternehmer aus der Aristokratie gab. Folgewirkungen und Überreste eines vorindustriellen minoritären Status waren der Grund für die einseitig auf Bankiers, Kaufleute und Fabrikanten beschränkte soziale Herkunft der jüdischen Unternehmer Berlins; da ungefähr jeder zweite Berliner Unternehmer der jüdischen Einwohnerschaft Preußens entstammte, haben diese Bedingungen die soziale Herkunft aller Berliner Unternehmer stark mitgeprägt. Zielvorstellungen der Arbeiterschaft, die auf eine Veränderung der sozialen Position ihrer gesamten sozialen Gruppe und nicht auf den Aufstieg einzelner ausgerichtet waren, dürften dazu beigetragen haben, daß kaum einer der Väter von Berliner Unternehmern Arbeiter war. O b daneben in der Arbeiterschaft aufstiegshemmende Zielvorstellungen unter dem Einfluß von Kirchen, Schulen und von Unternehmern entstanden, ist noch zu wenig untersucht. Immerhin ließen es die wirtschaftlichen Zielvorstellungen der frühindustriellen Berliner Unternehmer nicht zu, daß ein Arbeiter sich mit ihnen identifizieren konnte; die Unternehmer entwickelten zudem Ziel Vorstellungen für die Arbeiter, die sich von den eigenen grundsätzlich unterschieden. Die einseitige berufliebe Herkunft der frühindustriellen Berliner Unternehmer läßt sich durch ihre Laufbahnen weitgehend erklären. Allerdings wäre — ausgehend von der Verteilung der gewerblichen Berufe Berlins — im Vergleich zu den aus dem Großhandel stammenden Berliner Unternehmern eine größere Zahl von Unternehmern zu erwarten gewesen, die aus dem Handwerk und dem Kleinhandel stammten. Hier wirkten die Kriterien aufstiegshemmend, mit denen die Berliner Unternehmer den eigenen Beruf bewerteten und den der Handwerker und Detaillisten abwerteten. Ursache für die Beibehaltung dieses Selbstverständnisses waren steuerliche Interessen, da die Gewerbesteuer für die reicheren Unternehmer gestiegen wäre, wenn sie dieses rigorose Selbstverständnis aufgegeben hätten und damit auch Handwerker und Detaillisten in die kaufmännische Korporation und damit in die Steuergruppe der Unternehmer zugelassen hätten. Vor allem vor der Jahrhundertmitte entstanden dadurch für Handwerker und Detaillisten Engpässe bei der Kapitalbeschaffung, die den wirtschaftlichen Aufstieg für Angehörige dieser Berufsgruppen erschwerten.
Vergleich mit frühindustriellen
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer Gebiete
97
Unternehmern anderer Gebiete
Bisher wurde bewußt und strikt nur die Herkunft der frühindustriellen Unternehmer Berlins untersucht. Die soziale Herkunft der Berliner Unternehmer war einseitig, die berufliche Herkunft einförmig — das war das Ergebnis, gemessen ausschließlich an der damaligen Berliner Sozialstruktur. Es wurden zudem Gründe für die Herkunftsverteilung der Unternehmer angeführt — allerdings Gründe, die ausschließlich in Berlin bestanden und daher vermutlich die Unternehmerherkunft nur graduell beeinflußt haben. Diese Beschränkung auf Berlin befriedigt nicht. Um deutlich werden zu lassen, in welchem Ausmaß einseitig und wie gering gestreut die soziale und berufliche Herkunft der Berliner Unternehmer war, aber auch um faßbar zu machen, bis zu welchem Grad die genannten Berliner Mobilitätsschranken wichtig waren, ist der interregionale und internationale Vergleich mit anderen frühindustriellen Unternehmern nötig. Auch dabei wird der wichtigste Aspekt der soziale Aufstieg während der frühen Industrialisierung sein. Sozialer Aufstieg ist eines der Kriterien, an denen der Fortschritt der Industrialisierung gemessen werden kann. Man wird im allgemeinen annehmen, daß die heutige industrielle Gesellschaft höhere Aufstiegsraten aufweist als die ständische und auch als die frühindustrielle Gesellschaft. Man wird zudem davon ausgehen, daß die amerikanische und englische Gesellschaft schon während der frühen Industrialisierung mobiler war und größere Aufstiegschancen bot als die Gesellschaftsstruktur auf dem europäischen Kontinent, da ihre Klassenund Schichtengrenzen durchlässiger waren und das Aufstiegsbedürfnis stärker entwickelt war. Ausgehend von den konkreten Aufstiegs- und Abstiegsraten haben nun Seymor M. Lipset und Reinhard Bendix dagegen teils direkt, teils indirekt Bedenken erhoben. Sie haben erstens die These aufgestellt, daß sich die soziale Herkunft der heutigen amerikanischen Unternehmer von der ihrer frühindustriellen Vorläufer nicht wesentlich unterscheidet und sich die Zahl der Aufsteiger in dieser Position seit der Frühindustrialisierung nicht grundlegend verändert hat. Sie haben zweitens behauptet und aufgezeigt, daß sich zumindest heute trotz unterschiedlicher politischer Traditionen und trotz unterschiedlichem historischem Aufstiegsbedürfnis in den westlichen Industrieländern, das heißt in den USA, in West- und Mitteleuropa, die Aufstiegsraten in vielerlei Hinsicht ähneln, darunter auch in einem hier wesentlichen Punkt: in der sozialen Herkunft der Unternehmer. 138 188
7
S. M. Lipset/R. Bendix, Social
Kaelble, Berliner Unternehmer
Mobility..passim.
I. Die Herkunft
98
der Berliner
Unternehmer
Faßt man beide Thesen zusammen, kann man zu der Vermutung gelangen, daß die Herkunft der Unternehmer eine außerordentlich stabile und schwer veränderbare soziale Variable ist, die von Industrialisierung, Gesellschaftsstruktur und politischen Traditionen kaum beeinflußt wird. Diese Vermutung soll hier zwar nicht insgesamt geprüft werden, da sie über das Problem, das hier im Zentrum steht, die Herkunft der frühindustriellen Unternehmer, weit hinausführt. Immerhin regen die Thesen von Lipset und Bendix zu der Frage an, ob sich wenigstens während der frühen Industrialisierung die Herkunft der kontinentaleuropäischen von der der amerikanischen und englischen Unternehmer unterschied und ob damals der Aufstieg in diese Position in den USA und England wesentlich offener war. Unter den Wirtschaftshistorikern gibt es zwar verschiedene Auffassungen über Unterschiede in den Aufstiegschancen frühindustrieller französischer und englischer Unternehmer in die Aristokratie; 139 ob es jedoch einschneidende Unterschiede beim Aufstieg zur Position des Unternehmers gab, scheint noch wenig untersucht und diskutiert zu sein. Am eingehendsten hat zu dieser Frage David S. Landes Stellung genommen. Er hebt den Kontrast zwischen dem frühindustriellen englischen und kontinentaleuropäischen Unternehmer sehr scharf heraus. Der Gegensatz besteht für ihn auch in den unterschiedlichen Aufstiegschancen: "one does not find on the Continent the opportunities that offer themselves in Britain to the small man with more skill and ambition than money." 140 Anderen, wie Peter Stearns, erscheint dieser Unterschied offensichtlich weniger einschneidend.141 Wenn nun der Berliner Fall der Unternehmerherkunft mit anderen erforschten Fällen Deutschlands, Frankreichs, Englands und der USA verglichen wird, steht dieses Problem im Mittelpunkt. Wie schon zuvor wird zuerst die am Beruf des Vaters gemessene soziale, danach die berufliche Herkunft der frühindustriellen Unternehmer untersucht. Soweit vorhanden, werden statistische Beschreibungen verwandt; meist liegen allerdings nur verbale Beschreibungen vor, die benutzt werden, auch wenn sie nur sehr grobe Schlüsse zulassen. 139 Vgl. F. Crouzet, England and France in the Eighteenth Century: A Comparative Analysis of the Two Economic Growths, in: R. M. Hartwell (ed.), Causes of the Industrial Revolution in England, London 1967, S. 158 f.
David S. Landes, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, Cambridge 1969, S. 129 f. 140
141
P. Stearns, European Society .. ., S. 156 f.
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer
Gebiete
99
D i e statistischen U n t e r s u c h u n g e n z u r sozialen H e r k u n f t
frühindu-
strieller U n t e r n e h m e r sind i m folgenden z u s a m m e n g e s t e l l t : TABELLE 13 Die soziale Herkunft Großbritannien,
frühindustrieller
Frankreich,
Region und Wirtschaftszweig
Zeitraum
USA I
Unternehmer
Deutschland
in
(Beruf der
USA,
Väter)142
Beruf der Väter (in °/o) Unternehmer
Landwirte
Handfreie Berufe, werker, Beamte Kleinhändler
1790—1819* 1820—1849*
29,3 35,5
34,9 23,2
25,7 26,5
USA II
1801—1830* 1831—1860*
52 66
22 13
19 14
USA III
1870er Jahre
51
25
16
—
8
9
—
15
16
—
11
—
}
USA, Textilindustrie
1870er Jahre
57
19
USA, Stahlindustrie
1870er Jahre
48
27
6,3 12,2 4 3
Arbeiter
3,8 2,6 2 1
USA, Bankiers
1870er Jahre
76
11
USA, Eisenbahndirektoren
1870er Jahre
54
28
17
England, Stahlindustrie
1865
60
13
14
7
4
England, Strumpfindustrie
1844
59
10
4
19
8
Frankreich, Grenoble, Kaufleute
1847
50
—
Frankreich, Paris, Kaufleute
1815—48
34,0
12,7
19,4***
Deutschland, Maschinenbauind.
ca. 1800—50
31
10
17
Deutschland, Thüringen**·**
ca. 1840— 1880
a) 71,4 b) (30,9)
—
Deutschland, Berlin
1835—70
78
50
7,2 2
12
—
—
—
—
7,3 41 (57,1) 8
—
—
4,8 —
* Zeitraum der Geburt. ** In Kategorie „Unternehmer" mit eingesdilossen. * * * Einschließlich 12,5 °/o Grundeigentümer. #**» Beruht auf zwei unterschiedlichen Berechnungen desselben Autors mit demselben Material: a) gibt die erreichte Position der Unternehmerväter, b) ihren Ausgangsberuf an. In Klammern gesetzt in b-Zeile: Spalte 1 nur Kaufleute, Spalte 4 nur Handwerker. 142 USA I : C. Wright Mills, The American Business Elite: A Collective Portrait, 7*
100
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Wie alle derartigen Zusammenstellungen muß auch diese mit Vorsicht ausgewertet werden, da die Klassifikationen nur mit einiger Mühe aufeinander abgestimmt werden konnten und da die letzten amerikanischen und eines der englischen Beispiele für einen Vergleich von frühindustriellen Unternehmern schon recht spät liegen. Immerhin ergeben sich aus dieser Aufstellung zwei Resultate, die für die soziale Herkunft der Unternehmer zumindest in diesen Fällen gelten. Erstens war die mit Abstand größte Herkunftsgruppe in allen Fällen die Schicht der Unternehmer selbst. In einer Bandbreite zwischen knapp der Hälfte und drei Vierteln gehörten die Unternehmerväter dieser Herkunftsgruppe der Kaufleute, Bankiers und Fabrikanten an, wobei die Berliner Unternehmer einen nicht grundsätzlich verschiedenen, aber extrem stark ausgeprägten Fall darstellen. Die einzige Ausnahme, das erste, von Mills berechnete amerikanische Beispiel, fällt nicht ins Gewicht, weil Mills selbst davon ausgeht, daß durch seine Ergebnisse die Herkunftsgruppe der Unternehmer unterbewertet und die der Arbeiter und der landwirtschaftlichen Berufe zu stark hervorgehoben wird.143 Zweitens stammten die Unternehmer dieser Fälle sehr selten von Arbeitern oder anderen Berufsgruppen der Unterschicht ab. Innerhalb der hier gewählten Klassifikation ist die Herkunftsgruppe der Arbeiter fast immer die schwächste. Uneinheitlich dagegen verteilten sich in dieser Aufstellung die Unternehmerväter auf die anderen Berufsgruppen, auf die freien Berufe, auf Beamte, auf Landwirte, auf Handwerker und Kleinhänd-
in: Journal of Economic History 5 (1945), Supplem., S. 32; USA I I : S. M. Lipset/ R. Bendix, Social Mobility..., S. 122; USA III, USA, Textilindustrie, und USA, Stahlindustrie: Frances W. Gregory/Irene D. Neu, The American Industrial Elite in the 1870's, in: William Miller (ed.), Men in Business, Cambridge 1952, S. 202; USA, Bankiers: Ruth Crandall, American Bankers in the 1870's: A Note on Social Origins, in: Explorations in Entrepreneurial History 4 (1952/53), S. 153; USA, Eisenbahndirektoren: Barbara Crandall, American Railroads Presidents in the 1870's. Their Background and Careers, in: a.a.O., 2 (1949/50), S. 284; England: Charlotte Erickson, British Industrialists. Steel and Hosiery 1850—1950, Cambridge 1959, S. 12, 93; Frankreich, Grenoble: Jesus Ibarrola, Structure sociale et fortune mobiliere et immobiliere a Grenoble en 1847, Paris La Haye 1965, S. 47; Frankreich, Paris: Adeline Daumard, La bourgeoisie Parisienne de 1815 a 1848, Paris 1963, S. 273; Deutschland, Maschinenbau: Α. Schröter, Die Entstehung der deutschen Maschinenbauindustrie..., in: ders./W. Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie..., S. 65; Deutschland, Thüringen: Wolfgang Huschke, Forschungen über die Herkunft der thüringischen Unternehmerschicht des 19. Jahrhunderts (= Tradition, Beiheft 2), Baden-Baden 1962, S. 54; Deutschland, Berlin: vgl. T A B E L L E 2. "» C. W. Mills, The American Business Elite ...,S.
31 f.
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer Gebiete
101
ler. Hier springt vor allem ins Auge, daß in den USA die Landwirte einen redit großen Anteil der Unternehmerväter stellten, während er in England und Frankreich beträchtlich darunter lag und schließlich in Berlin und Thüringen völlig bedeutungslos war. Andere Unterschiede liegen unterhalb einer Spanne von 10 °/o. Das betrifft vor allem die Herkunftsgruppen der freien Berufe und der Handwerker. Innerhalb dieser Marge lassen sich keine gesicherten Aussagen mehr machen. Schon diese drei noch vorläufigen Ergebnisse zeigen, daß die soziale Herkunft der frühindustriellen Unternehmer in England und USA einerseits, in Frankreich und Deutschland als Beispiele für Kontinentaleuropa andererseits sich entweder ähnelte oder Unterschiede aufwies, die nicht entlang dieser geographischen Trennungslinie verliefen. Das gilt auch speziell für das Problem des sozialen Aufstiegs. Wenn man davon ausgeht, daß die Landwirte in dieser Zusammenstellung im allgemeinen einen niedrigeren sozialen Status besaßen als ihre Unternehmersöhne144 und wenn man diejenigen frühindustriellen Unternehmer, deren Väter Landwirte, Kleinhändler, Handwerker oder Arbeiter waren, als soziale Aufsteiger betrachtet, so waren die Kontraste zwischen England und dem europäischen Kontinent nicht mehr allzu scharf. Ohne Zweifel war die Chance, daß Söhne von Angehörigen dieser Berufsgruppen Unternehmer wurden, in den USA und in England etwa doppelt so groß wie in unseren kontinentaleuropäischen Beispielen. In allen Fällen blieben jedoch Aufsteiger aus diesen Milieus in der Minderheit. Auch in den USA und in England gelang nur höchstens jedem vierten Unternehmer ein solcher Aufstieg. Hier lag also nur ein gradueller Unterschied vor. Ein struktureller Gegensatz bestand darin, daß sich einerseits dieser soziale Aufstieg sowohl aus dem agrarischen als auch aus dem gewerblichen Milieu, andererseits so gut wie ausschließlich aus dem gewerblichen Milieu vollzog. Gerade dieser strukturelle Unterschied deckt sich nicht mit der Trennungslinie zwischen Kontinentaleuropa und den angelsächsischen Gebieten. Das relativ stärkste Gewicht besaß das agrarische Milieu in den USA; am 144
Im Pariser Beispiel waren die Mehrzahl der ländlichen Unternehmerväter (das heißt 9 °/o aller Unternehmerväter) Tagelöhner, kleine Bauern und besitzlose ländliche Handwerker (A. Daumard, La bourgeoisie Parisienne..., S. 273). Für die USA gilt dies allerdings nur eingeschränkt. Im Fall USA II waren 11 %> (1801—30) bzw. 3 °/o (1831—1860) der Unternehmerväter „gentry farmers'", das heißt, sehr vermögende Landwirte (S. M. Lipset/R. Bendix, Social Mobility . . . , S. 123). Im britischen Fall ist nur angegeben, daß in der Kategorie „Landwirte" die aristokratischen Großgrundbesitzer ebenfalls enthalten sind (Ch. Eridcson, British Industrialists..S. 11).
102
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
bedeutungslosesten war es im Berliner und im Grenobler Fall; die englischen Beispiele und der Pariser Fall stellen Zwischenformen dar. Von diesen generellen Resultaten mag die soziale Herkunft frühindustrieller Unternehmer in vereinzelten Industrie- und Wirtschaftszweigen erheblich abgewichen sein. Die deutsche Maschinenbauindustrie ist ein Beispiel dafür. Die Väter der Unternehmer dieser Branche waren nicht in erster Linie Unternehmer; es gab relativ viele soziale Aufsteiger. Allerdings kann man annehmen, daß diese Beispiele Ausnahmen darstellen und daß sie die soziale Herkunftsverteilung der frühindustriellen Unternehmer nicht wesentlich beeinflußt haben. Zeigen läßt sich das am Berliner Fall, einem Wirtschaftsgebiet mit einer wichtigen Maschinenbauindustrie. Die atypische soziale Herkunft der Maschinenbauunternehmer hat die der übrigen Unternehmer hier nicht umgeprägt. Fast immer zu den gleichen Ergebnissen führen die Untersuchungen, die die soziale Herkunft der frühindustriellen Unternehmer Deutschlands, Frankreichs und Englands verbal beschreiben oder die Unternehmerväter nicht nach Berufsgruppen, sondern nach ihren geschätzten sozialen Positionen erfassen. 145 In beiden Fällen sind allerdings Vergleiche sehr viel schwieriger, da sich die Ergebnisse entweder quantitativ schwer gewichten lassen oder weil kaum nachprüfbar ist, auf welchem Weg die soziale Position der Unternehmerväter festgestellt wurde. Für die soziale Herkunft der deutschen Unternehmer gibt es zwei Untersuchungen, die das gesamte deutsche Gebiet erfassen. Visser hat neuerdings in einem relativ kleinen Sample von siebzig frühindustriellen deutschen Unternehmern zwischen ungefähr 1820 und 1868 die soziale Position der Unternehmerväter untersucht. E r hat dabei weitgehend nur die Führungsschicht unter den deutschen Unternehmern erfaßt. Sein Sample ist also sicher nicht repräsentativ für die gesamte soziale Gruppe der Unternehmer in Deutschland. Aus seiner Aufstellung ist zu entnehmen, daß 92 % aller Unternehmerväter aus der „middle class", das heißt den sozialen Schichten unterhalb der Aristokratie und oberhalb des Proletariats und der Bauern stammten. Wesentliche Unterschiede zum Berliner Fall bestehen hier nicht. Das gleiche gilt, wenn man die Anzahl der sozialen Aufsteiger dieses Samples feststellen möchte. Faßt man alle diejenigen Unternehmer zusammen, die
145
Wie die obige Zusammenstellung zeigt, wurde die soziale Herkunft der früh-
industriellen Unternehmer der USA statistisch gründlich untersucht. Es lohnt sich daher nicht, weitere verbale Beschreibungen anzuführen.
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer Gebiete
103
nach Vissers Klassifikation Arbeiter-, Bauernfamilien und der „lower middle class" entstammten, so kommt man auf einen Anteil von 23 % . Da das Sample Vissers nur einen oberen Ausschnitt aus den deutschen Unternehmern auswählt und seine soziale Einordnung der Unternehmerväter nicht nachprüfbar ist, muß offen gelassen werden, ob hier eine höhere Aufstiegsrate als im Berliner Fall vorliegt. Entscheidend ist, daß die Zahl der sozialen Aufsteiger innerhalb dieser führenden Gruppe der deutschen Unternehmer den genannten englischen und amerikanischen Fällen recht nahe kommt; audi das Vissersche Sample stützt daher nicht die These, daß zwischen der sozialen Herkunft der kontinentaleuropäischen und der angelsächsischen Unternehmer ein starker Gegensatz bestand. 146 In diese Richtung weist audi die ältere Untersuchung Sachtiers, die die soziale Herkunft deutscher Unternehmer in den Zeitabschnitten 1800 bis 1840, 1840 bis 1890 und 1890 bis 1933 untersucht. Aufgrund des Materials, das Sachtier verwendet, wird man ebenfalls vermuten können, daß er nur die führende Gruppe der Unternehmer erfaßte. Seine Ergebnisse sind schwer auswertbar, da seine Klassifikationen recht unklar bleiben und teils Berufsgruppen, teils Statusgruppen darstellen. Im Zeitraum von 1840 bis 1890, in dem frühindustrielle Unternehmer miterfaßt sind, gehörten der Unterschicht seiner Klassifikation, das heißt den „Arbeitern" und dem „Kleinbürgertum", 21 % der Unternehmerväter an; 65 °/o entstammten „mittelständischen" Familien, das heißt Handwerkern, Kaufleuten und „mittleren Beamten"; 14 °/o kamen aus der „höheren Gesellschaft", das heißt der Aristokratie, der Geistlichkeit und dem „höheren Beamtentum". 147 Zwischen unserer Aufstellung und diesen Klassifikationen Sachtiers lassen sich zwar keinerlei gesicherte Vergleiche anstellen; immerhin wird man aus seinen Ergebnissen schließen können, daß die Aufstiegsraten kaum unter denen des Vissersdien Samples und sicher nicht unter denen des Berliner Falls liegen.
"« Beredinet nadi: Derk Visser, The German Captain of Enterprise: Vehlen's Imperial Germany Revisited, in: Explorations in Entrepreneurial History, 2nd ser., 6 (1968/69), S. 314 f. 147 Heinz Saditler, Wandlungen des industriellen Unternehmers in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Ein Versuch zur Typologie des Unternehmers, Reditsu. staatswiss. Diss., Berlin 1937, S. 7, 24. Seine Resultate sind audi deshalb sdiwer verwendbar, weil nidit völlig klar wird, ob er nur die soziale Herkunft untersucht oder soziale und berufliche Herkunft misdit. 148 R. Engelsing, Bremisches Unternehmertum..., in: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 2 (1958), S. 48 ff., 83 f.
104
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
In ähnliche Richtung weisen auch mehr oder weniger deutlich die verbalen Beschreibungen der sozialen Herkunft deutscher Unternehmer. Für den Bremer Fall gewinnt man aus der Untersuchung Engeisings den Eindruck, daß die Kaufleute unter den Unternehmervätern vorherrschten. Dies wird zwar bei den wenigen frühindustriellen Unternehmerkarrieren, für die detailliertes Material zur Verfügung steht, nicht so deutlich. Die Unternehmer, die nach Bremen zugewandert waren — und wie in Berlin war das auch dort die Mehrzahl der frühindustriellen Unternehmer —, waren jedoch meist Söhne von Kaufleuten. Söhne von Beamten, Akademikern und Pfarrern waren seltener. 148 Zunkel schildert in seiner Untersuchung der rheinisch-westfälischen Unternehmer eingehend die alten eingesessenen oder nur innerhalb des Rheinlands und Westfalens wandernden Kaufmanns-, Fabrikanten- und Handwerkergeschlechter, aus denen viele der frühindustriellen Unternehmer Rheinlands und Westfalens stammten. 149 Allerdings hieße es seine Ergebnisse überinterpretieren, wollte man aus ihnen Schlüsse über die Unternehmer, deren Väter anderen sozialen Schichten angehörten, oder über die präzise Anzahl von sozialen Aufsteigern unter den Unternehmern ziehen. Aus den Untersuchungen Beaus läßt sich immerhin entnehmen, daß zwischen 1831 und 1870 nur 12 °/o der rheinisch-westfälischen Unternehmer von Angehörigen unselbständiger Berufsgruppen abstammten. 150 Eindeutiger beschreibt Beutin die soziale Herkunft der märkischen Unternehmer. Die überwiegende Mehrzahl der frühindustriellen Fabrikanten dieses Gebiets stammte von Kaufleuten, Besitzern von Hammer- und Mühlenwerken, Verlegern, aber auch von Sdimiede-, Draht- und Metallmeistern ab. Andere soziale Herkunftsgruppen erwähnt Beutin nicht; „Emporkömmlinge" waren selten.151 Die Solinger Unternehmer stammten nach Philipps fast nur aus Handwerker- und Kaufmannsfamilien; Landwirte und Pfarrer waren unter den Unternehmervätern sehr selten; Aufsteiger aus Unterschichten werden nicht erwähnt. 151 " Kellenbenz greift in seinem Aufsatz über die südwestdeutschen Unternehmer die soziale 148
F. Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer..., S. 14 ff. Berechnet n a d i : H o r s t Beau, Das Leistungswissen des frühindustriellen Unternehmertums in Rheinland und Westfalen ( = Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 3), Köln 1959, S. 71. 151 Ludwig Beutin, Die märkische Unternehmerschaft in der frühindustriellen Zeit, in: Westfälische Forschungen 10 (1957), S. 66. isla Wilhelm Philipps, Der Unternehmer in der Solinger Stahlwarenindustrie im 19. Jahrhundert, Wirtsch. u. sozialwiss. Diss., K ö l n 1956, S. 3 ff. 150
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer Gebiete
105
Herkunft nur kurz auf. Unter den Fällen, die er sdiildert, finden sich neben Unternehmer- auch Pfarrers- und Handwerkersöhne. Auf eine These zur sozialen Herkunft der südwestdeutschen Unternehmer verzichtet Kellenbenz jedoch noch.152 Zorn geht in seiner Untersuchung der frühindustriellen Unternehmer Bayerisch-Schwabens auf die hier angeschnittenen Fragen genauer ein, und seine Resultate zeigen wieder deutlicher die Ähnlichkeit mit dem Berliner Fall. Die Väter der ostschwäbischen Unternehmer gehörten überwiegend dem Besitzbürgertum an; man wird vermuten können, daß darunter die Kaufleute, Bankiers und Verleger vorherrschten. Eine Reihe von Unternehmervätern waren ähnlich wie in Berlin Lehrer, Pfarrer oder Beamte. Nicht nur aus den Unterschichten, sondern auch aus dem besitzlosen Handwerk und aus der niedrigen Beamtenschaft stammten dagegen nur wenige frühindustrielle Unternehmer dieses Gebiets; soziale Aufsteiger waren „dünn gesät". Audi für die Herkunft aus agrarischem Milieu nennt Zorn keine Fälle. 153 Für die soziale Herkunft der französischen Unternehmer sagen die in unserer Aufstellung aufgeführten Beispiele wenig aus.154 Daher ist es nötig, auch hier verbale Beschreibungen hinzuzuziehen. Die Resultate unterscheiden sich von denen aus Untersuchungen über deutsche Unternehmer nicht wesentlich. Dabei soll freilich noch einmal darauf hingewiesen werden, daß Vergleiche solcher verbalen Beschreibungen nur zu sehr groben Resultaten führen können. Die bekannteste Studie über die Herkunft von französischen Unternehmern stammt von Lambert Dansette. Er untersucht die Textilunternehmer Lilies und Armenti^res. Audi hier zeigt sich, daß während der frühen Industrialisierung die größte Gruppe der Unternehmerväter selbst Unternehmer, teils Kaufleute, teils Textilindustrielle, teils Industrielle aus anderen Branchen waren. Aus anderen Teilen des Bürgertums, audi den freien Berufen und der Beamtenschaft, entstammten da152
Hermann Kellenbenz, Unternehmertum in Südwestdeutschland, in: Tradition 10 (1965), S. 186 f. iss Wolfgang Zorn, Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648 —1870, Augsburg 1961, S. 210 ff. 154
Grenoble war 1847 noch so gut wie nicht industrialisiert. Frau Daumard nimmt ihre Herkunftsanalyse des Pariser Bürgertums getrennt nach einzelnen bürgerlichen Schichten vor. Die Unternehmer gehören nicht nur einer dieser Schichten an, und da nur bei einer dieser Schichten statistische Herkunftsuntersuchungen möglich waren, ist auch nur ein Teil der Pariser Unternehmer in unserer Aufstellung erfaßt. Die vermögendste Sdiidit fehlt (vgl. A. Daumard, La bourgeoisie Parisienne . . S . 305 f.).
106
I. Die Herkunft der Berliner
Unternehmer
gegen nur wenige dieser Textilindustriellen. Ähnlich wie in den USA und England kamen relativ viele Unternehmer aus ländlichem Milieu; ihre Väter gehörten allerdings meist vermögenden ländlichen Schichten an und waren oft reichere Pächter und Großbauern. Soziale Aufsteiger scheinen daher — gemessen am Beruf und der sozialen Stellung des Vaters — auch unter diesen Textilindustriellen relativ selten gewesen zu sein. Lambert Dansette nennt nur wenige Fälle, in denen die Unternehmerfamilien von einfachen Bauern, von Kleinhändlern oder von Angestellten der Textilindustrie abstammten. 155 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Fohlen in seiner Studie über die gesamte französische Textilindustrie. Er schildert eingehend die Herkunft der Textilunternehmer des Elsaß und des Nordens ähnlich wie Lambert Dansette in der Form der Geschichte von Familien. Vor allem im Elsaß, in abgeschwächter Form aber audi im Norden wurde die Textilindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von alteingesessenen Unternehmerfamilien, dem „Textilpatriziat" beherrscht. In der Regel waren also schon die Unternehmerväter in derselben Branche und derselben Position tätig. Erst um die Jahrhundertmitte geriet diese Unternehmerschicht außerhalb des Elsaß zumindest zahlenmäßig in die Minderheit. Die Herkunft der neuen Unternehmerfamilien war unterschiedlich. Teilweise stammten sie aus der kleinen ländlichen Textilproduktion, -Veredelung oder -distribution; teilweise kamen sie aus dem Handel in den Zentren der französischen Textilproduktion; teilweise — wenn der Zusammenhang zur Textilindustrie nicht so eng war — verfolgt Fohlen ihre soziale Herkunft nicht. E r läßt zwar offen, wie gewichtig diese verschiedenen Herkunftsarten der französischen Textilunternehmer waren, scheint jedoch ebenfalls davon auszugehen, daß die Mehrzahl von ihnen von Kaufleuten und Industriellen, wenn auch oft kleinen Formats, abstammte. 156 Die soziale Herkunft der Unternehmer in der französischen Textilindustrie dürfte allerdings ein Extremfall sein, da hier während der frühen Industrialisierung weiterhin der Familienbetrieb vorherrschte; Konzentration und Kapitalgesellschaften spielten im Gegensatz zu anderen 155 Jean Lambert Dansette, Quelques families du patronat textile de Lille-Armentieres (1789—1914). Origines et evolution d'une bourgeoisie, Lille 1954, S. 308 ff. 156 Claude Fohlen, L'industrie textile au temps du second Empire, Paris 1956, S. 67 ff.; vgl. zur aristokratischen Minderheit unter den Textilindustriellen der Normandie: Guy Richard, Du moulin banal au tissage mecanique. La Noblesse dans l'industrie textile en Haute-Normandie dans la premiere moitie du XIXe siecle, in: Revue d'histoire economtque et sociale 46 (1968).
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer
Gebiete
107
Branchen der französischen Industrie kaum eine Rolle.157 Das Vorherrschen des Familienbetriebs führte ohne Zweifel dazu, daß besonders viele Unternehmerväter selbst Unternehmer waren; Kapitalgesellschaften können zu einer anderen sozialen Herkunftsverteilung führen. Bedauerlicherweise scheinen jedoch Untersuchungen zur sozialen Herkunft der Unternehmer anderer Branchen der französischen Industrie, auch der Metall- und Maschinenindustrie zu fehlen, die für den Vergleich mit den Berliner Unternehmern besonders wichtig gewesen wären. 1570 Nicht viel günstiger ist die Situation für die frühindustriellen britischen Unternehmer. Frau Ericksons Untersuchung, die in unserer Aufstellung aufgeführt ist, bietet zwar für zwei Industriezweige präzise Resultate wie sie sonst für frühindustrielle europäische Unternehmer selten vorhanden sind. Für den Vergleich mit den Berliner Unternehmern würde man sich jedoch auch Untersuchungen über die Metallund Textilindustriellen wünschen. Die soziale Herkunft der damaligen britischen Unternehmer dieser oder weiterer Industrie- und Wirtschaftszweige ist jedoch — gemessen am Beruf der Unternehmerväter — bisher nicht untersucht worden; die zahlreichen Studien zu einzelnen britischen Regionen oder Wirtschaftszweigen der frühen Industrialisierung behandeln diese spezielle Frage nicht oder schildern nur vereinzelte Fälle, die keine Vergleiche zulassen.158 In Hinsicht auf den Beruf der Väter führt der Vergleich der sozialen Herkunft von frühindustriellen amerikanischen, englischen, französischen und deutschen Unternehmern zu mehreren Resultaten, die allerdings teilweise noch den Charakter von Arbeitshypothesen haben, da in einigen Bereichen genaue Untersuchungen noch fehlen. Ähnlichkeiten bestehen in zwei Punkten. Erstens stammte fast immer die Mehrheit der frühindustriellen Unternehmer wiederum von Unternehmern ab. Der Anteil dieser Gruppe von Unternehmervätern schwankt zwischen knapp der Hälfte und knapp drei Vierteln. In jedem der bisher sta157
Vgl. B. Gille, Recherches sur la formation
de la grande entreprise
capitaliste
...,
S. 90 ff. 1570 Gilles Thesen zur Herkunft der französischen Eisenindustriellen um 1810 bleiben hier unberücksichtigt; er trennt zwar nicht klar zwischen beruflicher und sozialer Herkunft, scheint sich jedoch stärker mit der Unternehmerlaufbahn zu beschäftigen (vgl. Bertrand Gille, La siderurgie francaise au XIXe siecle, Geneve 1968, S. 16 ff.). "β Vgl. dazu Harold Perkin, The Origins of Modern English Society 1780—1880, London-Toronto 1969, S . 4 2 4 f . ; Alan Birch, The Economic History of the British Iron and Steel Industry 1784—1879, London 1967, S. 281.
108
I. Die Herkunft der Berliner Unternehmer
tistisch untersuchten Fälle sind sie die größte Herkunftsgruppe. Zwei deutsche Beispiele, das Berliner und das thüringische, stellen dabei die Extremfälle dar. Die präziseren unter den verbalen Untersuchungen weisen in dieselbe Richtung. Zweitens ist die sehr wichtige Form des sozialen Aufstiegs eines Unternehmers aus einer Fabrikarbeiterfamilie oder einem anderen Unterschichtenmilieu außerordentlich selten. In fast allen Fällen stellen die Unternehmerväter dieser Schichten die kleinste Herkunftsgruppe dar. Höchstens jeder zwölfte Unternehmer stammte aus dieser sozialen Gruppe. Faßt man sozialen Aufstieg weiter und versteht man unter sozialen Aufsteigern alle diejenigen Unternehmer, deren Väter Bauern, Handwerker oder Angehörige der Unterschichten waren, so lassen sich ebenfalls nur graduelle Unterschiede feststellen. Einen größeren Anteil als ein Viertel aller Unternehmerväter hat diese Herkunftsgruppe während der frühen Industrialisierung nicht erreicht. Ausnahmen im bisher erforschten Feld stellten die englischen Strumpfindustriellen, die deutschen Maschinenbauunternehmer und während der siebziger Jahre die Textil- und die Stahlindustriellen der USA dar. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, daß hier mindestens jeder dritte Unternehmer ein sozialer Aufsteiger war. Wie die Analysen der sozialen Herkunft aller Unternehmer in den USA und in Berlin zeigen, haben diese Ausnahmen das Herkunftsbild der frühindustriellen Unternehmer insgesamt nicht umgeprägt. Deshalb läßt sich auch höchstens für einzelne Branchen die These aufrechterhalten, daß die Aufstiegsmöglichkeiten in den angelsächsischen Ländern größer waren — in der Textilindustrie Englands und der USA, in der Stahlindustrie nur der USA. Neben diesem möglichen angelsächsisch-kontinentaleuropäischen Gegensatz gab es zwei Unterschiede, die nicht entlang dieser geographischen Trennungslinie verliefen. Erstens deuten die Ergebnisse der vier bisher am gründlichsten untersuchten deutschen Fälle — die bremischen, die thüringischen, die ostschwäbischen und die Berliner frühindustriellen Unternehmer — alle darauf hin, daß die deutschen Unternehmer in stärkerem Ausmaß als die englischen, nordamerikanischen und selbst französischen Unternehmer selbst wiederum von Unternehmern abstammten — ein Indiz für eine relativ große Immobilität der deutschen Gesellschaft während der frühen Industrialisierung. Zweitens — und dieser Unterschied dürfte grundsätzlicherer Natur sein — weisen nicht nur die statistischen, sondern auch die verbalen Beschreibungen darauf hin, daß die deutschen Unternehmer extrem selten aus dem agrarischen Milieu stammten — ein weiteres Indiz für die geringe Mobilität der frühindustriellen Gesellschaft in Deutschland.
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer
109
Gebiete
Sehr viel größere Schwierigkeiten bereitet der Vergleich der beruflichen H e r k u n f t von frühindustriellen Unternehmern. Dies liegt vor allem daran, daß die berufliche H e r k u n f t unter sehr verschiedenartigen Fragestellungen untersucht wird. Teils wird der soziale Aufstieg und zu diesem Zweck oft die erste berufliche Position erforscht; teils geht es um die H e r k u n f t des Kapitals; teils werden die Ausbildung und die Karriere der frühindustriellen Unternehmer analysiert; teils steht die berufliche Mobilität im Mittelpunkt. Daher werden jeweils unterschiedliche Klassifikationen verwandt, so daß ein internationaler Vergleich zumindest der statistischen Untersuchungen nicht möglich ist. Es gibt jedoch einige statistische Untersuchungen f ü r deutsche Regionen, in denen mit ähnlichen Klassifikationen wie in dieser Studie gearbeitet wird. Ihre Resultate sind im folgenden zusammengestellt: TABELLE 14
Berufliche Herkunft von frühindustriellen deutschen Unternehmern159 Region bzw. Wirtschaftszweig
Zeitraum
Maschinenbau 0 (insgesamt)
Berufliche Herkunft (in °/o) Kaufmann
Hand- Hoch-/ Beamte, Landwerker Fachfreie wirte schul- Berufe absolvent
Arbeiter, Unterschichten
ca. 1800—50
15
69
7
—
—
Hessen-KasselTextilgewerbe
1806—31
31
65
4
—
—
RheinlandWestfalen
1790—1870 15
69
11
5
—
4
1
—
Thüringen Berlin α b
ca. 1840—80
30
39
1835—70
50
32
(43) b
12
Hier nidit eingeordnet: Adlige: 8,3 °/o. Ergibt sich aus einer gesonderten Aufstellung.
1M Maschinenbau: A. Schröter, Die Entstehung der deutschen Maschinenbauindustrie ..., in: ders./W. Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie..., S. 64 f.; Hessen-Kassel: Ottfried Dascher, Das Textilgewerbe in Hessen-Kassel vom 16. bis 19. Jahrhundert. ( = Veröffentlidiungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 28), Marburg 1968, S. 85; Rheinland-Westfalen: H. Beau, Das Leistungswissen..., S. 70, 68; Thüringen: berechnet nadi: W. Husdike, Forschungen über die Herkunft der thüringischen Unternehmerschicht..., S. 9 ff.; Berlin: Vgl.
TABELLE 5 .
110
I. Die Herkunft der Berliner
Unternehmer
Aus dieser Zusammenstellung lassen sich zwei Ergebnisse entnehmen. Erstens war die Streuung der beruflichen Herkunft der frühindustriellen Unternehmer gering. Sie entstammten in ihrer überwiegenden Mehrheit zwei Berufsgruppen, den Handwerkern und den Kaufleuten, und damit aus einem relativ kleinen Ausschnitt der damaligen Gesellschaft. Angehörige anderer bürgerlicher Berufsgruppen, der freien Berufe, der Geistlidikeit, der Beamten, wurden fast ebenso selten Unternehmer wie Landwirte, seien es nun kleine Bauern oder Großgrundbesitzer. Für Unternehmer, die aus der Fabrikarbeiterschaft oder anderen Berufsgruppen der Unterschicht stammten, sind nirgends Fälle belegt. Zweitens beschränkte sich damit die Aufstiegsmobilität auf Handwerker und kleinere Kaufleute, die Unternehmer wurden. Fabrikarbeitern, Landarbeitern und der umfangreichen Gruppe der Dienstboten war der Aufstieg zum Unternehmer weitgehend verschlossen. In diese Richtung weisen audi die verbalen Beschreibungen der beruflichen Herkunft frühindustrieller Unternehmer. Die bremischen Unternehmer stammten nach Engelsing während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in erster Linie aus der Kaufmannschaft. Aus der Handwerkerschaft kamen wenige, da sich Großindustrie in diesem Gebiet erst später entwickelte. Fälle, in denen bremische Unternehmer ursprünglich den Untersdiichten angehörten, gab es in Bremen nur vereinzelt. 160 Die Großhändler und Industriellen Lüneburgs, deren Karrieren Luntowski schildert, waren ebenfalls fast ausschließlich Kaufleute. 161 In den Fällen, die Kocks erfassen konnte, waren die niederbergischen Unternehmer ursprünglich teils Kaufleute, teils Handwerker, sofern es sich um Textilindustrielle handelte, ausschließlich Handwerker, wenn es um spätere Eisenindustrielle ging. 162 Die Solinger Stahlwarenindustriellen stammten ebenfalls fast nur aus dem Handel und dem Handwerk. 1 6 2 0 Die frühindustriellen Unternehmer des rheinisch-westfälischen Industriegebiets stammten nach Zunkels Schilderung ebenfalls vorwiegend aus dem Handwerk und aus der Kaufmannschaft; er stimmt darin mit den Resultaten Beaus überein, die in unsere Aufstellung aufgenommen wurden. Neben dieser größten kauf1 6 0 R . Engelsing, Bremisches Unternehmertum Bremen 2 (1958), S. 50 ff., 112.
...,
in: Jahrbuch
der Wittheit zu
1 6 1 Gustav Luntowski, Lüneburgs Unternehmer im 19. Jahrhundert. Zur neueren Wirtschafts- und Sozialgeschichte einer Mittelstadt, in: Tradition 11 (1966), S. 203 ff.
102 Werner Kocks, Verhaltensweise und geistige Einstellung niederbergischer Unternehmer der frühindustriellen Zeit, Wirtsdi. u. sozialwiss. Diss., Köln 1956, S. 24 ff. i62a yff Philipps, Der Unternehmer in der Solinger Stahlwarenindustrie ..., S. 3 ff.
Vergleich
mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer
111
Gebiete
männischen und handwerklichen Herkunftsgruppe waren viele rheinisch-westfälische Unternehmer ursprünglich freie Juristen, Staats-, Kommunal- und Justizbeamte. In diesem Punkt scheint allerdings der rheinisch-westfälische Unternehmer im Vergleich zu Berlin und anderen Regionen ein Sonderfall zu sein. Seit 1850 wurde in diesem Gebiet ein Potential von technisch geschulten Bergbaubeamten frei, da die preußische Bergbauverwaltung vom Direktions- zum bloßen Inspektionsprinzip übergegangen war und da zudem viele liberale Beamte während der Reaktionszeit politischen Pressionen weichen mußten oder ausweichen wollten. Viele dieser Beamten wurden Unternehmer. Zunkel kann schließlich daneben eine ganze Reihe von Unternehmern nennen, die ursprünglich Ärzte, Lehrer, Pfarrer oder Landwirte bzw. nichtaristokratische Gutsbesitzer waren. Insgesamt gewinnt man aus seinen Beschreibungen den Eindruck, daß relativ viele rheinisch-westfälische Unternehmer ursprünglich nichtkaufmännischen und nichthandwerklichen bürgerlichen Berufsgruppen angehörten und die berufliche Mobilität in diesem Bereich unterhalb der Aristokratie — verglichen mit dem Berliner Fall — relativ groß war. Dagegen gab es auch in Rheinland-Westfalen — gemessen am Ausgangsberuf — wenige soziale Aufsteiger. Unternehmer, die als Dienstboten, Knechte, Heimoder Fabrikarbeiter starteten, waren selten. N u r aus dem Handwerk stiegen — das ergibt sich ebenso aus den Untersuchungen Beaus — in größerer Zahl Unternehmer auf. 1 6 3 Auch in Bayerisch-Schwaben dominierten nach Zorns Untersuchung die kaufmännischen und handwerklichen Unternehmer. Im Gegensatz zu Rheinland-Westfalen und sogar wohl im Unterschied zu Berlin scheinen allerdings die Kaufleute zumindest unter den Firmengründern das Bild zu beherrschen; nur wenige dieser ostschwäbischen Unternehmer starteten als Handwerker. Die berufliche Mobilität scheint relativ groß gewesen zu sein; die Außenseiter unter den Unternehmern waren eine „geläufige Erscheinung". Welche Berufsgruppen dabei besonders bedeutsam waren, läßt sich aus den Untersuchungen Zorns nicht erkennen. Soziale Aufsteiger scheinen nach Zorn — auch gemessen am Ausgangsberuf — selten gewesen zu sein. Gemäß Fischer bildet in diesem Zusammenhang Baden eine Ausnahme, da die industriellen Unternehmer häufig ursprünglich oder auch während ihrer Unternehmertätigkeit Beamte waren und der Anteil der Ausländer, besonders Schweizer und Elsässer, aufgrund der Randlage 163
Friedrich Zunkel, Beamtenschaft
industrie, nehmer ...,
in: Tradition S. 23 ff.
und Unternehmertum
heim Aufbau
der
9 (1964), S. 2 6 3 ; F. Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische
RuhrUnter-
112
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Badens naturgemäß hoch war. Soziale Aufsteiger waren freilich auch hier selten; selbst Aufsteiger aus dem Handwerk besaßen „eine relativ geringe Bedeutung". 164 Ein Blick sei auf die Industrie des Zürcher Oberlands geworfen. Die Unternehmer dieses Gebiets stammten — wie Braun zeigt — in der überwiegenden Mehrzahl aus dem Baumwollverlagswesen oder standen doch zumindest mittelbar damit in Verbindung. Dabei weist Braun besonders auf die Abkunft von den kleinen Landverlegern hin. 165 Zu teilweise detaillierteren Thesen kommen diejenigen Untersuchungen, die sich mit der Unternehmerherkunft in einzelnen Branchen und nicht in einzelnen Wirtschaftsgebieten beschäftigten. Ausgehend vom Gesichtspunkt des Startkapitals frühindustrieller Unternehmer, hat Wutzmer für eine Reihe von Branchen in Deutschland Herkunftsthesen aufgestellt, die allerdings bisher nur zum Teil durch Spezialuntersuchungen gesichert oder überprüft worden sind. Nach Ansicht Wutzmers stammten die Unternehmer des deutschen Maschinenbaus überwiegend aus dem Handwerk, da vor dem Aufschwung der fünfziger Jahre — bevor also die Produktion von Maschinen durch Maschinen einsetzte — in dieser Branche das Startkapital noch relativ niedrig sein konnte und technisches Wissen für die Leitung eines Betriebs wesentlich war. Diese These wird durch die in der obigen Aufstellung aufgenommenen Resultate Schröters und durch den Berliner Fall bestätigt. 166 In der Textilindustrie hingegen dominierten — so Wutzmer — Kaufleute, da hier ein hohes Startkapital nötig war und vom Unternehmer Kenntnisse über Absatzorganisation gefordert wurden. 167 Diese These Wutzmers wurde zumindest für die frühindustrielle Wollindustrie durch die Untersuchungen Blumbergs teils revidiert, teils verfeinert. Blumberg geht davon aus, daß sich die Unternehmer dieses Industriezweigs in erster Linie aus drei Gruppen rekrutierten: aus den Zunftmeistern des Wollzeug- und Tuchmachergewerbes, aus Woll-, Garn-, 184 W. Zorn, Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens..S. 208 ff.; W. Fischer, Ansätze zur Industrialisierung in Baden . . S . 210 ff. 165 Rudolf Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbadi-Züridi-Stuttgart 1965, S. 67 ff.; Ähnliches deutet an: Siegfried Sieber, Studien zur Industriegeschicbte des Erzgebirges, Köln-Graz 1967, S. 84. 166
167
V g l . TABELLE 7.
H . Wutzmer, Die Herkunft der industriellen Bourgeoisie in Preußen ..., in: H . Mottek u. a., Studien zur Geschickte der industriellen Revolution ..., Berlin 1960, S. 157 ff.
Vergleich
mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer
Gebiete
113
Tuch- und Wollzeughändlern und aus den Manufakturiers und Verlegern der vorindustriellen Wollproduktion. Er sieht dabei gewisse Unterschiede zwischen der Streichgarn- und der Kammgarnindustrie. Während in der ersteren die frühindustriellen Unternehmer meist aus der Gruppe der Manufakturiers und Verleger kamen, waren sie in der letzteren vor allem Wollhändler und Wollwarenhändler gewesen.168 Diese Resultate Blumbergs gehen über die Ergebnisse unserer Aufstellung in doppelter Hinsicht hinaus: Erstens wurden meist nur die Handwerker, die in diesen Zweigen der Textilindustrie produzierten, und nur die Kaufleute, die mit den Produkten oder Rohstoffen dieser Zweige handelten, neben den Verlegern und Manufakturiers später Unternehmer. Damit rekrutierten sich zumindest in der Textilindustrie die frühindustriellen Unternehmer nur aus denjenigen Gruppen von Handwerksmeistern und Kaufleuten, die bereits mit Produktion und Distribution des Industriezweigs, in dem sie später tätig waren, in enger Verbindung standen — eine weitere erhebliche Einschränkung der beruflichen Mobilität. Zweitens zeigen die Resultate Blumbergs auch eine weitere Einschränkung sozialen Aufstiegs. Nur die Handwerksmeister, und unter ihnen nur die wohlhabenden, stiegen zum Textilunternehmer auf. Der größte Teil der handwerklichen Berufsgruppe blieb damit von diesem sozialen Aufstieg ausgeschlossen. Die frühindustriellen französischen Unternehmer stammten — soweit der gegenwärtige Forschungsstand eine Aussage zuläßt — nicht aus grundsätzlich anderen Berufsgruppen. Industrielle Unternehmer konnten — so die These Palmades — vor allem diejenigen werden, die in anderen Wirtschaftssektoren bereits Kapital angesammelt hatten. In der Mehrzahl handelte es sich um Kaufleute; ein kleinerer Teil stammte aus der Landwirtschaft. Ohne eine solche Kapitalbasis war der Aufstieg in die Unternehmerposition kaum möglich; bloße handwerklich technische Fähigkeiten reichten kaum aus. Spezialuntersuchungen, auf die sich diese These Palmades stüzten ließe, gibt es allerdings nur für einen Teil der französischen Wirtschaft. 169 Leon geht in seiner Regionalstudie über die Dauphine dieser Frage nur bei den einheimischen Unternehmern nach; in ihrer Mehrzahl waren diese ursprünglich kleine Handwerker und Fabrikanten, manchmal Angestellte ge1,8
Horst Blumberg, Die deutsche
Textilindustrie
in der industriellen
Revolution
( = Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst, Bd. 3), Berlin 1965, S. 138 f. 199
Guy P. Palmade, Capitalisme
1961, S. 94 ff. 8
Kaelble, Berliner Unternehmer
et capitalistes
frangais
au XIXe
siecle,
Paris
114
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
wesen; Großkaufleute spielten offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle. Leon nennt einige soziale Aufsteiger. 170 In seiner Untersuchung der frühindustriellen französischen Metallhütten beschreibt Vial die berufliche Herkunft der Unternehmer dieses Industriezweiges nur sehr unbestimmt. Die Bedeutung der Großgrundbesitzer sank während des 19. Jahrhunderts unter den Metallhüttenbesitzern erheblich; umgekehrt weiß Vial nur wenige Fälle zu nennen, in denen Arbeiter zu Hüttenbesitzern aufstiegen. Unklar bleibt, aus welchen Berufen die Masse dieser Unternehmer kam. Eine große Zahl scheint Techniker gewesen zu sein und technische Fachschulen besucht zu haben; ein anderer Teil stammte aus anderen Industriezweigen. Welches Gewicht diese oder andere Ausgangsberufe besaßen, läßt sich jedoch nicht erkennen. 171 Präziser ist dagegen Gille, der die berufliche Herkunft der bedeutenderen französischen Eisenindustriellen um 1810 untersucht. Er unterscheidet drei Herkunftsgruppen: erstens Unternehmer, die bereits vor der Großen Revolution Eisenindustrielle waren — ein relativ häufiger Fall vor allem unter den kleineren Eisenindustriellen —; zweitens Unternehmer, die zuvor nur Betriebsleiter, nicht dagegen Betriebseigentümer waren — unter den bedeutenderen Eisenindustriellen recht selten, unter den kleineren Eisenindustriellen vermutlich recht zahlreich —; drittens schließlich Unternehmer, die vor der Revolution nicht im Bereich der Eisenindustrie tätig waren. Auch die Angehörigen dieser Gruppe scheinen häufig, wenn nicht Eisenhändler, so doch zumindest Kaufleute, Bankiers oder Industrielle gewesen zu sein.1710 Genauer ist auch die berufliche Herkunft der Unternehmer in der frühindustriellen französischen Textilindustrie untersucht worden. Wenn man von den Abkömmlingen des Textilpatriziats absieht, waren die französischen Textilindustriellen nach der Schilderung Fohlens ursprünglich teilweise ländliche Textilverleger und -manufakturiers, teilweise Bleicherei- und Färbereibesitzer, teilweise Textilhändler. Sie besaßen also von Anfang an ähnlich wie die deutschen Wollindustriellen enge wirtschaftliche Verbindungen zu ihrem späteren Tätigkeitsbereich. Textilunternehmer, die ursprünglich Arbeiter oder Werkmeister waren, hält Fohlen für selten.172 Das Bild, das Lambert Dansette von der beruf170 Pierre Leon, La naissance de la grande Industrie en Dauphine (fin du siecle — 1869), Bd. 1 u. 2, Paris 1954, Bd. 2, S. 512 ff. 171 Jean Vial, L'industrialisation de la siderurgie franqaise 1814—1864, u. 2, Paris La Haye 1967, Bd. 2, S. 374 f., 396 f. 171α B. Gille, La siderurgie francaise ..., S. 16 ff. 172 C. Fohlen, L'industrie textile . . . , S. 69 ff.
XVlie Bd. 1
Vergleich
mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer
Gebiete
115
liehen Herkunft der Textilunternehmer Lilies und Armentieres zeichnet, weist allerdings auf etwas mehr berufliche und Aufstiegsmobilität hin. Neben Textilverlegern, -manufakturiers und -händlern, die mit der Textilindustrie von Anfang an eng verbunden waren, zählt er eine gleichgewichtige Reihe von Fällen auf, in denen die Textilunternehmer aus anderen Zweigen der Industrie oder des Handels stammten. Aus den freien Berufen stammten zwar nur wenige dieser Unternehmer; den Aufstieg vom Werkmeister hingegen hält Lambert Dansette für eine wichtige und relativ häufige Laufbahn. 173 Relativ weit gestreut erscheint Gille die berufliche Herkunft der französischen Bankiers. Abgesehen von den teilweise alteingesessenen, eng miteinander verflochtenen schweizerischen Bankiersfamilien in Paris, gab es in der Hauptstadt und in der Provinz nur wenige Bankdynastien. Im allgemeinen waren die Bankiers Frankreichs ursprünglich Kaufleute, seltener Industrielle. „Parvenüs" gab es kaum. 174 Diese breite berufliche Streuung und geringe Zahl von Aufsteigern bestätigt sich bei den Bankiers von Nevers, die Thuillier untersucht hat. Vor der Jahrhundertmitte waren die Bankiers ursprünglich meist Fayencefabrikanten; andere waren Kaufleute, einer war Offizier, einer Beamter, einer Großgrundbesitzer. 175 Auch die berufliche Herkunft der frühindustriellen britischen Unternehmer unterschied sich von den genannten deutschen Beispielen nicht grundsätzlich. Eine ältere These, die von Toynbee, Mantoux, Cunningham und Gregg vertreten wird und davon ausgeht, daß die frühindustriellen britischen Unternehmer vor allem von Bauern abstammten, scheint heute an Boden zu verlieren. Ashton hat speziell für die Eisenund Stahlindustrie Einwände dagegen erhoben; Autoren wie Allen und Perkin sind generell der Ansicht, daß sich die frühindustriellen britischen Unternehmer vor allem aus dem gewerblichen Sektor rekrutierten. 176 Das weisen auch eine Reihe von Spezialuntersuchungen nach. J. L. Dansette, Quelques families du patronat textile .. ., S. 308 ff. Bertrand Gille, La Banque et le credit en France de 1815 ä 1848, Paris 1959, S. 272 ff.; vgl. audi David S. Landes, Vieille banque et banque nouvelle: la revolution financiere du XIXe Steele, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 3 (1956), S. 208; Robert Bigo, Les banques frangaises au cours du XIXe siecle, Paris 1947, S. 133 ff. 175 Guy Thuillier, Histoire bancaire regionale: en Nivernais de 1800 a 1880, in: Annales. Economies, societes, civilisations 10 (1955), S. 497 f. 176 Vgl. Thomas Southcliffe Ashton, Iron and Steel in the Industrial Revolution, 3. Aufl., Mandiester 1963, S. 209; W. Cunningham, The Growth of English Industry and Commerce in Modern Times, Bd. 1 u. 2, repr. London 1968, Bd. 2, S. 618 f.; 1,3
174
116
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
In der südwalisischen Industrie waren die Industriellen, die zwischen 1750 und 1800 zuwanderten, fast nur entweder Kaufleute oder Techniker mit allerdings sehr unterschiedlichen Ausbildungswegen.177 Sie besaßen zudem häufig von Anfang an ähnlich enge Verbindungen zu ihrem späteren Tätigkeitsbereich wie die frühindustriellen deutschen Wollproduzenten. Nach Johns Schilderung wurde die südwalisische Eisenindustrie vor allem von Eisenhändlern aus Bristol und London und von Technikern aufgebaut, die bereits zuvor in Mittelengland in diesem Industriezweig tätig gewesen waren. Einige der Kaufleute, die in dieser Zeit Kohlengruben gründeten, waren Kohlenhändler; die Techniker dieses Wirtschaftszweigs allerdings waren nicht schon von Anfang an mit ihm verbunden; sie stammten teils aus der Kupferindustrie, teils waren sie Rechtsanwälte und Grundbesitzer. Die südwalisischen Kupferhütten wurden teilweise von Kupferwarenfabrikanten aus London, Bristol und Birmingham, teilweise von Technikern gegründet, die aus dem Kupferbergbau stammten. Im ganzen spielten also nichttechnische und nichtkaufmännische, bürgerliche Berufsgruppen kaum eine Rolle; auch die walisischen Großgrundbesitzer hatten wenig Interesse an industriellen Unternehmen. 178 Diese Resultate Johns werden durch eine statistische Untersuchung der beruflichen Herkunft südwalisischer Unternehmer zwischen 1723 und 1839 von Hoselitz bestätigt. Hoselitz' Tabelle zeigt, daß schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts kaum einer der südwalisischen Eisenindustriellen mehr als Großgrundbesitzer startete und daß neben den Kaufleuten und „Ironmasters" nur noch einige wenige Rechtsanwälte Unternehmer wurden. Von allen Fällen, die Hoselitz erfaßte, waren 3 % Großgrundbesitzer, 5 % Rechtsanwälte, dagegen 44 °/o Kaufleute und 39 °/o „Ironmasters". Fälle von Aufsteigern aus Berufsgruppen, die zu den Unterschichten gehörten, gibt auch Hoselitz nicht an. 179 Ashton, der in seiner klassischen Studie über die britische Eisen- und Stahlindustrie während der induPauline London London Toronto
Gregg, Α Social and Economic History of Britain 1760—1965, 5. Aufl., 1965, S. 52; G. C. Allen, British Industries and Their Organization, 4. Aufl., 1959, S. 8; Harold Perkin, The Origins of Modern English Society, London1969, S. 425.
177
Vgl. zur unterschiedlichen Ausbildung: Ch. Erickson, British Industrialists..., S. 59 f. 178 Α. H . John, The Industrial Development of South Wales 1750—1850, Cardiff 1950, S. 24 ff. 179 Hoselitz* Ergebnisse sind veröffentlicht in: A. Birdi, The Economic History of the British Iron and Steel Industry . . S . 281 £.
Vergleich mit frühindustriellen Unternehmern anderer Gebiete
117
striellen Revolution auch auf die berufliche Herkunft der Unternehmer eingeht, kommt zu ähnlichen Thesen. Unternehmer bäuerlicher Herkunft gab es nach seiner Darstellung in diesem Industriezweig selten. Die meisten Eisenindustriellen stammten aus zwei Bereichen des Handels, dem Metallhandel und dem Eisen- und Stahlwarenhandel. Ein anderer Teil war — das zeigen zumindest die Beispiele, die Ashton schildert — innerhalb der Metallbranche handwerklich-technisch ausgebildet worden. Auch nach Ashtons Darstellung starteten also die frühindustriellen Unternehmer vor allem in kaufmännischen und handwerklich-technischen Berufsgruppen, die eng mit den Industriezweigen verbunden waren, in denen sie später als Unternehmer tätig wurden. Auch Ashton kennt kaum Fälle von Unternehmern anderer beruflicher Herkunft, und auch er nennt nur einen Fall von sozialem Aufstieg aus den Unterschichten, den eines Eisenindustriellen, der als Messingarbeiter begann.180 Im Prinzip unterscheiden sich die Resultate der Untersuchung Frau Ericksons über die britische Stahlindustrie nicht von denen Johns, Hoselitz' und Ashtons. Frau Erickson geht allerdings nur bis 1865 zurück, untersucht also Industrielle, die mindestens eine Generation später als die bisher genannten Fälle tätig waren. Die größte Herkunftsgruppe der britischen Stahlindustriellen um 1865 waren die Techniker, unter denen allerdings hier alles vom gelernten Arbeiter bis zu dem an der Hochschule ausgebildeten Ingenieur verstanden wird. Wieviele der britischen Stahlindustriellen als Kaufleute starteten oder ausgebildet waren, läßt sich in der Ericksonschen Untersuchung nicht genau feststellen. Sicher ist jedoch, daß nur sehr wenige Unternehmer ursprünglich den freien Berufen angehörten, Landwirte oder — so wird man zumindest vermuten können — Industriearbeiter waren. 181 Während die soziale Herkunft der britischen Textilindustriellen aus dem gewöhnlichen Rahmen fiel, ähnelt ihre berufliche Herkunft weitgehend den bisher geschilderten Fällen. Chapman hat die berufliche Herkunft von Baumwollspinnereibesitzern in den Midlands zwischen 1769 und 1800 untersucht. Seine Zusammenstellung zeigt, daß mehr als die Hälfte dieser Unternehmer aus der Textilproduktion und dem Textilhandel kam, auch wenn sie nicht alle die enge Verbindung zu ihrem späteren Tätigkeitsgebiet, hier der Baumwollspinnerei, besaßen, wie sie Blumberg für die deutschen Wollproduzenten und John für die 180 181
Th. S. Ashton, Iron and Steel in the Industrial Revolution . . S . 209 f. Ch. Erickson, British Industrialists..., S. 50 ff.
118
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
südwalisischen Eisen- und Kupferindustriellen schildern. Der andere Teil der Textilindustriellen in den Midlands stammte meist aus dem Handwerk, dem Handel und der Industrie. In keinem der Chapmanschen Beispiele kam ein frühindustrieller Textilunternehmer aus den freien Berufen oder aus der Fabrikarbeiterschaft. Ursprüngliche Landwirte waren ebenfalls selten; zusammen mit den Unternehmern, die als Müller starteten, waren es nicht mehr als 13 °/o.182 Chambers streift in seiner Studie über die Wirtschaft Nottinghamshires im 18. Jahrhundert die berufliche Herkunft der Unternehmer. Seiner Ansicht nach waren die Strumpfindustriellen von damals — also noch vor dem Entstehen der Fabrik — ursprünglich entweder Strickmeister oder Strumpfhändler gewesen und damit von Anfang an sehr eng mit ihrem späteren Tätigkeitsbereich verbunden. 183 Im Zentrum der britischen Seidenbandweberei, in Coventry, waren die Unternehmer vor der Mechanisierung der Produktion, also vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, ebenfalls ursprünglich bereits Verleger gewesen oder Londoner Kaufleute, die bereits vorher mit Seidenbändern gehandelt hatten. Audi hier war es unwahrscheinlich, daß ein Weber oder auch einer der Zwischenmeister zum Verleger aufstieg, da er das dafür notwendige Kapital nicht ersparen konnte. 184 Die berufliche Herkunft der britischen Strumpfindustriellen vor und während der Entstehung der Fabrik hat wiederum Frau Erickson untersucht. Ihre Resultate sind allerdings hier schwierig einzuordnen, da sie die berufliche Herkunft ausschließlich an der ersten Position innerhalb einer Firma und nicht so sehr an der Ausbildungssparte mißt. Die Ausbildungssparte läßt sich daher in ihren Aufstellungen bei jenen Unternehmern nicht erkennen, die sofort Teilhaber wurden. Unter den übrigen Strumpfindustriellen scheint der größte Teil als Kaufleute, teils selbständig, teils als Angestellte, begonnen zu haben. Handwerklich-technisch ausgebildete Unternehmer waren selten. Auch andere Berufsgruppen entfielen so gut wie ganz. Unternehmer, die aus der Arbeiterschaft kamen, waren selten und meist wenig erfolgreich.185 Campbell geht auf die berufliche Herkunft der schottischen Baumwollindustriellen nur kurz ein; nach seiner Schilde181
Stanley D. Chapman, The Early Factory Masters. The Transition to the Factory System in the Midlands Textile Industry, Newton Abbot 1967, S. 78. 188
J. D. Chambers, Nottinghamshire in the Eighteenth and Labour under the Squirearchy, London 1966, S. 119. 184
John Prest, The Industrial Revolution
185
Ch. Erickson, British Industrialists . . . , S. 129 ff.
in Coventry,
Century.
A Study of Life
Oxford 1960, S. 49 ff.
Vergleich mit frühindustriellen Unternehmern anderer Gebiete
119
rung waren zumindest die Besitzer der großen Baumwollwebereien ursprünglich Textilkaufleute. 186 Stärker gestreut war die berufliche Herkunft der britischen Bankiers. Hier scheint ein gradueller Unterschied zum Berliner Fall zu bestehen. Dodd nennt drei Gruppen, aus denen die frühindustriellen nordwalisischen Bankiers am Ende des 18. Jahrhunderts stammten: die Großgrundbesitzer, die Kaufleute und die Industriellen. 187 In dieselbe Richtung weisen die Fälle frühindustrieller schottischer Bankiers, die Campbell schildert. Sie waren ursprünglich teils Getreidehändler, teils Textilhändler oder -produzenten. 188 Ähnlich sind die Resultate, zu denen Pressnell in seiner Untersuchung der britischen Provinzbanken kommt. Diese frühindustriellen Bankiers stammten aus drei Tätigkeitsbereichen. Sie waren erstens Industrielle, die zum großen Teil lokalen Geldbedarf befriedigen wollten und deshalb Banken gründeten; sie waren zweitens Finanzmakler und drittens Großhändler und Steuereinnehmer.189 Bedauerlicherweise scheint die Herkunft der Londoner Bankiers, die sich allerdings von der der Berliner Bankiers kaum noch stärker unterscheidet, nicht untersucht worden zu sein. Trotz ihrer weiter gestreuten beruflichen Herkunft kamen auch diese britischen Bankiers fast ausschließlich aus gewerblichen Berufen; auch unter ihnen gab es wenige soziale Aufsteiger. Denselben Eindruck gewinnt man aus den Untersuchungen zur beruflichen Herkunft der frühindustriellen Unternehmer in den USA. Im Zentrum der frühindustriellen amerikanischen Baumwollindustrie, in Massachusetts, stammten die größeren Unternehmer vor allem aus der Bostoner Kaufmannschaft; sie scheinen sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem ähnlich in sich verflochtenen Textilpatriziat entwickelt zu haben wie die elsässischen Textilindustriellen. Nach den Fällen zu urteilen, die Frau Ware schildert, scheinen dagegen die kleineren Unternehmer sehr unterschiedliche Berufe wie Kunsttischler, Maschinist oder Fabrikaufseher ausgeübt zu haben und nicht schon vorher so enge Verbindung mit ihrem späteren Tätigkeitsfeld gehabt zu haben wie die deutschen Wollindustriellen; sie starteten 188
R. H. Campbell, Scotland since 1707. The Rise of an Industrial Society, Oxford 1965, S. 99 ff. 187
A. H. Dodd, The Industrial Revolution in North Wales, Cardiff 1951, S. 315 ff. R. H. Campbell, Scotland since 1707 ..., S. 133 f. m L. S. Pressnell, Country Banking in the Industrial Revolution, Oxford 1956, S. 12 ff. 188
120
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
jedoch alle in gewerblichen Berufen. Viele dieser kleineren Unternehmer waren soziale Aufsteiger; nur einige allerdings erreichten Spitzenpositionen in großen Unternehmen, sei es nun als Besitzer oder als bloße Leiter. 190 Weniger stark dominierten dagegen die Kaufleute unter den Industriellen Illinois'. Nur etwa ein Fünftel der Fälle, die Kemmerer aus sehr unterschiedlichen Industriezweigen Illinois' gesammelt hat, stammten aus dem Handel; nur wenige waren ursprünglich selbständige Landwirte, für die Abkunft aus freien Berufen nennt Kemmerer kein Beispiel. In mehr als der Hälfte seiner Fälle starteten die Industriellen in unselbständigen Positionen; um welche Art von Stellungen es sich dabei handelte, gibt allerdings Kemmerer nicht an. Daher muß offen bleiben, ob sehr viele davon soziale Aufsteiger waren. 191 Eine geringe berufliche Streuung und eine enge Verbindung zwischen beruflicher Herkunft und späterem Tätigkeitsbereich zeigt eine Auswahl von Eisenbahndirektoren, die Klein untersucht hat. Die Mehrzahl kam aus dem Bereich der Eisenbahn; andere stammten aus anderen Bereichen der Wirtschaft. Klein zählt nur einen Rechtsanwalt. 192 Eine nicht ungewöhnliche Streuung der beruflichen Herkunft zeigt sich in den untersuchten Fällen amerikanischer Bankiers. Ähnlich wie in Frankreich und Großbritannien war die Herkunft aus dem Bankfach relativ selten; andererseits dominierten die gewerblichen Berufe. Die deutsch-jüdischen Bankiers New Yorks stammten — verglichen mit den jüdischen Bankiers in Berlin und den protestantischen Schweizer Bankiers in Paris — aus abgelegeneren Berufen. Nur ein kleiner Teil von ihnen startete als Bankier. Die Mehrzahl begann im Handel, als Hausierer, Einzel- und Großhändler. Supple sieht allerdings den entscheidenden Grund für ihren Erfolg darin, daß sie durch ihren engen Kontakt zu ihrer europäischen Herkunftsgruppe einen erheblichen Vorsprung in der Kenntnis finanzieller Techniken besaßen. 193 Diese Caroline F. Ware, The Early New England Cotton Manufacture. Α Study in Industrial Beginnings, repr., New York-London 1966, S. 61, 80 f., 128 ff.; Hans Jörg Siegenthaler, Das Gewicht monopolistischer Elemente in der amerikanischen Textilindustrie, 1840—1860, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 124 (1968), S. 159 ff.; vgl. audi: Vera Shlakman, Economic History of a Factory Town. A Study of Chicopee, Northhampton/Mass. 1937. 111 Der Grund: Kemmerer interessiert sich nicht für die berufliche Herkunft, sondern für das Startkapital. Vgl. Donald L. Kemmerer, Financing Illinois Industry, 1830—1890, in: Bulletin of the Business Historical Society 27 (1953), S. 104 ff. m Maury Klein, Southern Railroad Leaders, 1865—1893: Identities and Ideologies, in: Business History Review 42 (1968), S. 293. 193 Barry E. Supple, A Business Elite: German-Jewish Financiers in 'Nineteenth1,0
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer Gebiete
121
einseitige Herkunft aus dem Handel zeigt ein anderes Beispiel, der Fall der Bankiers von Cincinnati zwischen 1812 und 1820, nicht. Nach der Schilderung Stevens' war allerdings auch hier der bei weitem größte Teil ursprünglich Kaufmann gewesen. Daneben startete eine größere Zahl als Industrielle, einige als Angehörige freier Berufe, vor allem als Rechtsanwälte, und schließlich — was dieses amerikanische Beispiel von den europäischen unterscheidet — eine größere Gruppe als Landwirte. 194 Nach den Fällen, die Arrington schildert, scheint die Herkunft der frühindustriellen Bankiers Salt Lake Citys wiederum einförmiger gewesen zu sein; hier herrschten Kaufleute und Fuhrunternehmer vor; Angehörige anderer Berufe scheinen selten gewesen zu sein.195 Aus diesem internationalen Vergleich lassen sich zwei Hauptresultate gewinnen. Erstens war sowohl die soziale als audi die berufliche Herkunft der frühindustriellen Unternehmer nicht breit gestreut, sondern konzentrierte sich auf wenige Schichten und Berufsgruppen. In allen vier Ländern, die hier ins Auge gefaßt werden, stammten die frühindustriellen Unternehmer am häufigsten wiederum von Unternehmern ab. Alle anderen Herkunftsgruppen traten demgegenüber in den Hintergrund. Sie kamen zudem vor allem aus zwei Berufsgruppen, den Kaufleuten und den handwerklich-technischen Berufen. Andere Ausgangsberufe spielten demgegenüber nur eine sekundäre Rolle. Trotz vielfältiger Unterschiede läßt sich diese eine Hauptthese in fast allen bisher erforschten deutschen, französischen, englischen und nordamerikanischen Fällen aufweisen. Zweitens waren die sozialen Aufsteiger unter den frühindustriellen Unternehmern relativ selten. Unternehmer, deren Väter Arbeiter waren oder die selbst als Arbeiter starteten, gab es kaum, und in den statistisdi untersuchten Fällen waren sie meist die kleinste soziale oder berufliche Herkunftsgruppe. Betrachtet man in einem umfassenderen Sinn auch alle diejenigen Unternehmer als Aufsteiger, deren Väter Handwerker oder kleine Bauern waren, war die Aufstiegsrate ebenfalls relativ klein. Abgesehen von Ausnahmefällen, wie beispielsweise der britischen Strumpfindustrie oder der deutschen Maschinenbauindustrie gehörte nicht mehr als ein Viertel der Unternehmerväter diesen Gruppen an. Trotz zahlreicher kleinerer Abwei-
Century New York, in: Business History Review 31 (1957), S. 144 f., 149 ff. 1.4 Harry R. Stevens, Bank Enterprisers in α Western Town, 1815—1822, in: Business History Review 29 (1955), S. 145 ff. 1.5 Leonard J. Arrington, Banking Enterprises in Utah, 1847—1880, in: Business History Review 29 (1955), S. 317 ff.
122
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
chungen und Varianten gleicht sich die soziale und berufliche Herkunft der frühindustriellen Unternehmer in diesen beiden Grundzügen. Zwar ist dieses Resultat nicht ganz gesichert, da in Europa eine ganze Reihe von Regionen und Wirtschaftszweigen noch nicht untersucht ist; schon jetzt läßt sich jedoch erkennen, daß es keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen den angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Unternehmern in den hier verglichenen Ländern gab. Ein gradueller Unterschied ist allerdings nicht zu übersehen. Die Zahl der Unternehmerväter, die selbst wiederum Unternehmer waren, war zumindest in Deutschland wesentlich höher als in Großbritannien und in den USA. Die grundsätzliche Ähnlichkeit der Herkunft der frühindustriellen Unternehmer setzt voraus, daß die beiden Haupterfordernisse für den Aufstieg oder Zugang in eine Unternehmerposition, der Besitz von Kapital und von Fachwissen, in etwa gleich leicht oder gleich schwer erreichbar waren. Dies im einzelnen nachzuprüfen, würde allerdings zu weit führen. Was hier noch kurz angesprochen werden soll, ist der Grund für den graduellen Unterschied zwischen den deutschen und den angelsächsischen Beispielen. Von den drei Unternehmerlaufbahnen, die in Anlehnung an Bendix dieser Studie zugrunde gelegt wurden, sollen hier zwei näher geprüft werden: die des „Bürokraten", der nicht notwendigerweise Kapital besitzen mußte, dessen soziale Herkunft daher breit gestreut und der häufig sozialer Aufsteiger sein konnte; die des Betriebserben, der zwar ebenfalls ohne Kapital starten konnte, jedoch ausschließlich von Unternehmern abstammte. Zur Häufigkeit der „bürokratischen" Laufbahn folgende Zusammenstellung: TABELLE 15 Anteil
bürokratischer Karrieren an frühindustriellen Unternehmerlaufbahnen in USA, Großbritannien und Deutschland197
Region und Branche
Zeitraum
bürokr. Karrieren (°/o)
USA Großbritannien, Stahlindustrie Großbritannien, Strumpfindustrie Großbritannien, Strumpfindustrie Deutschland, Berlin Deutschland, Berlin, nur Industrie
1801-- 6 0 ° 1865 1840 1870 1835-- 7 0 1835-- 7 0
22 11 2 6 8 3
° Geburtsjahre 197
USA: R. Bendix, Herrschaft und Industriearbeit..., S. 303; Großbritannien: Ch. Eridcson, British Industrialists . . . , S. 51, 123; Deutschland: Vgl.
Vergleich mit frühindustriellen
Unternehmern
anderer
Gebiete
123
Ohne Zweifel sind dies zu wenig Fälle, um einen Zusammenhang zwischen „bürokratischer" Laufbahn und sozialer Herkunft der Unternehmer feststellen oder verwerfen zu können. Immerhin läßt diese Aufstellung erkennen, daß Unterschiede in der sozialen Herkunft der frühindustriellen Unternehmer nicht ausschließlich von der unterschiedlichen Häufigkeit dieser Laufbahn herrühren. Sowohl die frühindustriellen Unternehmer der U S A als audi die Strumpf- und die Stahlindustriellen Großbritanniens stammten — verglichen mit den deutschen Fällen — weniger häufig wiederum von Unternehmern ab. Nur in den U S A gab es jedoch viele Fälle von „bürokratischen" Karrieren. In den beiden untersuchten britischen Industriezweigen kam diese Laufbahn nicht erkennbar öfter vor als im deutschen Fall. Dies schließt nicht aus, daß die größere Häufigkeit von „bürokratischen" Karrieren zu einer stärkeren Streuung der sozialen Herkunft und zu häufigerem sozialen Aufstieg geführt haben kann. Für die Frühindustrialisierung ist jedoch die soziale Herkunft der „Bürokraten" unter den Unternehmern kaum bearbeitet. Anders verhält es sich mit den Betriebserben. Dazu die bisher untersuchten Fälle: TABELLE 16
Anteil der Betriebserben an den frühindustriellen Unternehmern in USA, Großbritannien und Deutschland108 Region und Branche
Zeitraum
Betriebserben (°/o)
USA Großbritannien, Stahlindustrie Großbritannien, Strumpfindustrie Großbritannien, Strumpfindustrie Deutschland, Thüringen Deutschland, Berlin Deutsdiland, Berlin, Textilindustrie
1801—-60° 1865 1840 1870 ca. 1 8 4 0 --80 1 8 3 5 --70 1835—-70
22 30 b 51 b 43 b 32 32 60
Geburtsjahre Neben Betriebserben sind audi diejenigen erfaßt, die sich in eine bereits bestehende Firma einkauften α b
1 8 8 U S A : R. Bendix, Herrschaft und Industriearbeit..., S. 303; Großbritannien: Ch. Erickson, British Industrialists..., S. 51, 123; Deutschland, Thüringen: beredinet (ohne die aus Thüringen abgewanderten Fälle, um Vergleidibarkeit mit Berlin zu gewährleisten) nach W. Husdike, Forschungen über die Herkunft der thüringischen Unternehmerschidot..., S. 9 ff.; Deutschland, Berlin: vgl. T A B E L L E 7 und 8.
124
I. Die Herkunft
der Berliner
Unternehmer
Audi hier liegen zwar recht wenig untersuchte Fälle vor. Immerhin läßt sich eine vorläufige These zum Zusammenhang zwischen der Laufbahn des Betriebserben und der sozialen Herkunft der frühindustriellen Unternehmer entwickeln. Ähnlidi wie bei der sozialen Herkunft der Unternehmer bestehen in dieser Aufstellung zwar keine grundsätzlichen Gegensätze, aber doch graduelle Unterschiede zwischen den beiden deutschen und den angelsächsischen Fällen. Schon die beiden Beispiele aus der Textilindustrie — die englischen Strumpfindustriellen und die Berliner Textilindustriellen — zeigen, daß im deutschen Fall während der frühen Industrialisierung Betriebserben wesentlich häufiger vorkamen und damit die Unternehmer seltener aus anderen Schichten als der der Unternehmer stammten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Berliner Fall ausschließlich Betriebserben, im englischen Fall audi alle diejenigen Unternehmer erfaßt sind, die sich in ein bereits bestehendes Unternehmen eingekauft hatten. Auch der Vergleich des Berliner und des thüringischen mit dem nordamerikanisdien Beispiel läßt deutlich erkennen, daß die Zahl der Betriebserben in den deutschen Fällen höher war; hier kommt verschärfend hinzu, daß in dem nordamerikanischen Fall unter die „Erben" auch alle diejenigen Unternehmer aufgenommen wurden, die sich durch ererbtes Vermögen Anteile an einer von ihnen dann geleiteten Firma erwerben konnten. 199 Wenn also in Deutschland die frühindustriellen Unternehmer in größerer Zahl wiederum von Unternehmern abstammten, so ist dies offensichtlich darauf zurückzuführen, daß ähnlich wie in Frankreich der Familienbetrieb eine wichtigere Rolle spielte und sie daher häufiger als die englischen und amerikanischen Unternehmer als Betriebserben starteten. 1990
199
Vgl. R. Bendix, Herrschaft und Industriearbeit..S. 328. D . S . Landes, French Entrepreneurship..., in: Journal of Economic 9 (1959), S. 45 ff. 1990
History
ZWEITES
KAPITEL
Der soziale Status der Berliner Unternehmer Ausgangspunkt dieses Kapitels ist — wie schon einleitend ausgeführt wurde — die These vom widersprüchlichen Aufstieg der frühindustriellen Unternehmer in Deutschland. In der wirtschafts- und sozialhistorisdien Forschung herrscht Einmütigkeit darüber, daß während der frühen Industrialisierung der Zugewinn der deutschen Unternehmer an sozialem Prestige nicht ihrem wirtschaftlichen Aufstieg entsprach, daß ihr sozialer Status in Widerspruch zu ihrem ökonomischen Erfolg stand. Diese These soll hier für den Berliner Fall überprüft werden. Es ist allerdings nicht zu erwarten, daß dieser Fall den „üblichen" Rahmen sprengen wird. Was daher dieses Kapitel leisten kann, ist die Präzisierung jener These. D a z u werden drei Probleme angeschnitten: Erstens wird verfolgt, wie kohärent die soziale Gruppe der Unternehmer während ihres Aufstiegs war und wie sich die schon länger arrivierten Großkaufleute und Bankiers Berlins mit der sich erst vergrößernden Gruppe der Industriellen verbanden. Zweitens wird untersucht, von welchem Zeitpunkt ab frühindustrielle Unternehmer in die damalige Oberschicht eindrangen und ob man — wie es Hamerow tut — schon vor der Revolution von 1848 von einer „new aristocracy of wealth" sprechen kann, von Unternehmern also, die bereits damals der gesellschaftlichen Oberschicht zugehörten und von denen deshalb revolutionäre Veränderungen der damaligen Gesellschaft kaum zu erwarten waren; oder ob die arrivierten Unternehmer — so sieht es Born — sich erst nach der Reichsgründung aus der sozialen Gruppe der Unternehmer lösten und an die „Elite" der damaligen Gesellschaft anpaßten; oder schließlich, ob man die eigentliche Zäsur — um Böhme und Beutin zu folgen — eher in die Jahrhundertmitte legen sollte. Drittens wird nachgeprüft, ab wann der Konflikt mit der Arbeiterschaft so prägend wurde, daß er Konflikte zwischen den Unternehmern selbst und zwischen ihnen und der damaligen Aristokratie zu überdecken begann und ob für die Berliner Unternehmer die Revolution von 1848 — wie Mehring und Stadelmann es zeigen — tatsächlich weniger bürgerliche Emanzipation, sondern vor allem ein Arbeiterauf-
126
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
stand war, von dem an der Konflikt mit der Arbeiterschaft ihr Gesellschaftsbild vor allem prägte. 1 Die Abschnitte dieses Kapitels unterscheiden sich nicht nach der Problemstellung, sondern nach der Methode, mit der analysiert wird. Im ersten Abschnitt steht die begriffsgeschichtliche Analyse im Vordergrund; erst danach werden spezifisch sozialhistorische Methoden verwandt. Die zentrale Frage dieses ersten Abschnittes ist, welche Begriffe sich zur Bezeichnung der sozialen Gruppe der Unternehmer während der frühen Industrialisierung — also in der Zeit ihres Entstehens oder zumindest ihrer völligen Umstrukturierung — entwickelten. Daneben wird die funktionale Differenzierung der Unternehmer an Begriffen wie „Handel" und „Industrie" verfolgt und ihrem konkreten wirtschaftlichen Hintergrund, der sich entwickelnden Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Händlern und der Spezialisierung der Unternehmerausbildung, gegenübergestellt. Schließlich wird gefragt werden, welche Begriffe aus Konflikten der Berliner Unternehmer mit den Handwerksmeistern und den industriellen Arbeitern entstanden — auch dann, wenn diese Begriffe, wie etwa „Fabrikant" oder „Arbeitgeber", die Unternehmer nur zum Teil erfaßten. Den Begriffen, die die Berliner Unternehmer benutzten, wird vor allem der Sprachgebrauch der Staatsverwaltung gegenübergestellt und sein Einfluß auf den Sprachgebrauch der Unternehmer abgeschätzt. Die Entwicklung von
Unternehmerbezeichnungen
Es ist kennzeichnend für die sich erst entwickelnde industrielle Gesellschaft, daß es für die Berliner Unternehmer keinen Begriff gab, der ihnen eine gemeinsame Funktion innerhalb der damaligen Wirtschaft zuschrieb. Keine der möglichen wirtschaftlichen Kategorien erschien ihnen so entscheidend, daß sie sich sowohl insgesamt als auch ausschließlich mit ihr identifizierten. Die Verfügung über Kapital, die 1
Vgl. Theodore S. Hamerow, Restoration,
Politics in Germany und wirtschaftliche Vierteljahrschrift Prolegomena Das
1815—1871, Strukturwandel
Deutschlands
am Ende
für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
zu einer
Bürgertum
Revolution,
Sozial-
Reaction.
Economics
Princeton 1958, S. 17; K a r l Erich Born, Der
und
im
19. Jahrhundert,
Schriften .. ., S. 296 ff.; Franz Mehring, Historische
des 19. Jahrhunderts,
in:
50 (1963), S. 3 7 5 ; H . Böhme,
Wirtschaftsgeschichte...,
als Gesellschaftsstand
and soziale
Aufsätze
S. 5 2 ; Ludwig Beutin, in: ders., zur
Gesammelte
preußisch-deutschen
Geschichte, Berlin 1946, S. 182; für die Anfänge dieser Entwicklung: R . Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution
von 1848 . . ., S. 192.
Die Entwicklung von Unternehmerbezeichnungen
127
Berliner Sozialkritikern wie Bettziech, Dronke, Mündt als das wichtigste Merkmal dieser neu entstehenden Schicht erschien,2 veranlaßte die Berliner Unternehmer nicht, sich als „Kapitalisten" zu bezeichnen; als sich dieser Begriff unter den Unternehmern in den fünfziger Jahren einbürgerte, verstanden sie darunter Kapitalbesitzer, die sich nicht aktiv in den Wirtschaftsprozeß einschalteten.3 Auch eine andere sozioökonomische Kategorie, die Herrschaftsfunktion des Unternehmers in seinem Betrieb, erschien den Berliner Unternehmern nicht so hervorstechend, daß sie sich etwa als „Arbeitgeberstand" im Sinne des späten neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet hätten; als der Begriff des „Arbeitgebers" seit der Revolution von 1848 auch unter den Berliner Unternehmern Verwendung fand, deckte er sich weit weniger mit dem Unternehmer im modernen Sinn als einige Jahrzehnte danach.4 Am erstaunlichsten für die Zeit vor 1870 dürfte sein, daß die Unternehmer in Berlin auch jene sozio-ökonomische Kategorie nicht ausschließlich auf sich bezogen, die nach verbreitetem heutigem Verständnis den Unternehmer als solchen ausmacht und ihn als Fremdkörper innerhalb des Wertsystems einer traditionellen Gesellschaftsstruktur hätte erscheinen lassen müssen: die Anwendung von technischen und organisatorischen Neuerungen. Auch dort, wo sich wirtschaftliche Zielvorstellungen der Berliner Unternehmer in Begriffen wie „Speculation" oder „Unternehmergeist" fassen lassen, handelte es sich um Begriffe, die nicht dem Sprachgebrauch aller Unternehmer in Berlin gemeinsam waren und die zudem unterschiedliche wirtschaftliche Zielvorstellungen erfaßten. 5 Sehr selten benutzten die Berliner Unternehmer Kategorien des Wirtsdiaftsrechts zur Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Gruppen. Obwohl sie Steuer- und handelsrechtlich einem gemeinsamen terminus technicus, dem des „Kaufmanns", zugeordnet waren und ihre Betriebe gleichen gewerberechtlichen Rechtsnormen unterworfen waren, bezeichneten sich 1 Im Gegensatz zu Marx verwendeten die Berliner Sozialkritiker den weniger auf die rein ökonomischen Bedingungen hinweisenden Begriff der „Geldaristokratie" (vgl. Ernst Dronke, Berlin, 2 Bde., Berlin 1846, Bd. 2, S. 11 ff.; Heinrich Bettziech, Berlin und Potsdam, München o. J., S. 63 f.; Theodor Mündt, Der dritte Stand in Deutschland und Preußen in seiner politischen und ständischen Vertretung, Berlin 1847, S. 29). ' Berliner Korporation der Kaufmannschaft an den Handelsminister, 12.4.1858 (DZA Merseburg, Rep. 120 A XI 1 Nr. 7 Bd. 7 Bl. 69) und 16. 5.1859 (DZA Merseburg, Rep. 120 A X Nr. 14 Bd. 1 Bl. 144). 4
Hierauf wird im folgenden zurückzukommen sein.
5
V g l . ERSTES K A P I T E L .
128
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
die Berliner Unternehmer nidit in diesem Sinn als „Kaufleute". Einerseits war die Diskrepanz zwischen dem Handelsrecht, das noch aus der Zeit vor dem Ansatz der Industrialisierung stammte, und den wirtschaftlichen Verhaltensregeln, den „kaufmännischen Usancen", zu groß, als daß die Berliner Unternehmer zur sozialen Abgrenzung rechtliche Kategorien verwandt hätten. Andererseits verengte sich der Begriff des „Kaufmanns" aus Gründen, die im folgenden zu zeigen sein werden, mehr und mehr auf den Großhandel. Schließlich haben sich die Berliner Unternehmer auch nie mit Begriffen identifiziert, die auf ihre Stellung als soziopolitische Elite abzielten. Zeitgenössische Begriffe wie „Geldaristokratie", „Gewerbsadel", „Monopolisten" oder adäquate Ausdrücke ohne negativen Beiklang wurden von den Berliner Unternehmern als Bezeichnung der eigenen sozialen Gruppe nie benutzt.® Nur die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation, der halbstaatlichen, Industrielle, Großkaufleute und Bankiers zusammenschließenden Organisation der Berliner Unternehmer, entwickelten Begriffe, die die Unternehmer als soziale Gruppe umschrieben: Sie verwandten dafür bis in die vierziger Jahre hinein den Begriff „Handelsstand", von dieser Zeit ab die Begriffspaare „Handel- und Gewerbestand", „Handel- und Fabrikantenstand" und seit den fünfziger Jahren meist „Handel und Industrie". Die preußische Staatsverwaltung sprach ähnlich wie die Ältesten der kaufmännischen Korporation von „Handels- und Fabrikantenstand" oder „Handels- und Gewerbestand", wenn sie die Unternehmer meinte. Im Gegensatz zu den Korporationsältesten neigte sie allerdings weit weniger dazu, damit zumindest implizit Unterschiede zwischen den Industriellen und den Handwerkern, zwischen den Großkaufleuten und den Detaillisten herauszustellen. Begriffe dieser Art hätten zumindest bis zur Revolution von 1848 dem liberalen Konzept der Staatsverwaltung widersprochen. Bis zu dieser Zeit betrachtete die Staatsverwaltung die gewerbliche Wirtschaft als einen leistungsorientierten Sektor, in dem die „Gewerbefreiheit", also auch die Möglichkeit uneingeschränkter Aufstiegsmobilität, nicht durch die Herausbildung sozialer • Vgl. zum Begriff „Geldaristokratie" neben dem oben zitierten Material: Biirgerwehr-Zeitung vom 3 0 . 8 . 1 8 4 8 ; Volks-Stimme vom 2 3 . 5 . 1 8 4 6 ; zum Begriff „Gewerbs-Adel": H . Bettziedi, Berlin..., S. 63 £.; zum Begriff „Monopolisten": John Prince-Smith, Gesammelte Schriften, Bd. 1—3, Wiesbaden 1877 ff., Bd. 2, S. 327. Einen Sonderfall stellt die Verwendung des Begriffs „Geldaristokratie" bei denjenigen Berliner Unternehmern dar, die sich nicht damit identifizierten. Darauf wird im folgenden zurückzukommen sein.
Die Entwicklung von Unternehmerbezeichnungen
129
Gruppengrenzen eingeschränkt wurde. Kennzeichnend ist, daß unter „Gewerbestand" im preußischen Staatsrat noch in den vierziger Jahren sämtliche Berufsgruppen innerhalb der gewerblichen Wirtschaft, sei es nun der Bankier, sei es der Industrielle, sei es der Tagelöhner, verstanden wurde. Allerdings hat die Staatsverwaltung den Widerspruch zwischen ihrem liberalen Konzept und den konkreten Mobilitätsschranken gesehen: „Die besitzlosen Arbeiter des Gewerbestandes, einschließlich der vielen dürftigen selbständigen Gewerbetreibenden, seien ihrer Selbstsucht überlassen, und diese lasse in ihnen nicht das Bewußtsein der Befreiung von den früheren [ständischen] Schranken aufkommen. Da sie ihre Arbeit wirklich oder vermeintlich wohlfeil verkaufen müßten und an den Genüssen der Reicheren selten oder nie theilnehmen könnten, so errege die Selbstsucht in ihnen vielmehr nur das Gefühl der Isolierung, der Ausschließung von dem, was sie als Zweck des sozialen Lebens betrachten, der Ausstoßung aus der Gesellschaft und des von der letzteren wider sie geübten Unrechts. Sie betrachteten sich nicht als emanzipiert von den früheren Beschränkungen, sondern als durch die Usurpation des Besitzes auf den engsten Kreis der Nothdurft eingeschränkt."7 Trotzdem hat die Staatsverwaltung als Maßstab für die unterschiedlichen sozialen Positionen innerhalb der gewerblichen Wirtschaft weiterhin das Leistungsprinzip angewandt und die „Besten und Edelsten" den „Untüchtigen, Dürftigen, mit einem Wort dem Proletarismus" gegenübergestellt.8 Korporationsälteste und preußische Staatsverwaltung entwickelten also schon während der frühen Industrialisierung Bezeichnungen für Unternehmer; begriffsgeschichtlich sind damit die Unternehmer als soziale Gruppe schon in dieser Zeit faßbar. Gleichzeitig spiegelten jedoch die Unternehmerbezeichnungen eine Tendenz zur Differenzierung in verschiedenen Unternehmerfunktionen wider. 9 Während der Auseinandersetzung um die Abgrenzung der Korporationsmitglieder von anderen Gruppen der gewerblichen Wirtschaft anfang der dreißiger Jahre ging es noch ausschließlich darum, was der „Handelsstand" sei.10 Zwischen Handel, Industrie und Bankgewerbe wurde begrifflich 7
Protokoll des preußischen Staatsrats, 17.1.1844, DZA Merseburg, Rep. 120 BB I 1 Nr. 4 Bd. 1. 8 Protokoll des preußischen Staatsrats, 20.1.1844, ebda. • Von Statusdifierenzierung unter den Unternehmern wird hier abgesehen. Sie wird im folgenden Abschnitt behandelt werden. 10 Vgl.: Berliner kaufmännische Korporation an die Regierung zu Potsdam, 28. 2.1830, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α Reg. Ptsd. Abt. I HG Nr. 3704. 9
Kaelble, Berliner Unternehmer
130
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
noch nicht unterschieden. Bis in die vierziger Jahre hinein war es üblich, vom „Handelsstand" oder von den „Kaufleuten" zu sprechen, wenn man Großkaufleute, Industrielle oder Bankiers meinte. Noch 1844 benutzte der Vorsteher der Berliner kaufmännischen Korporation, der Bankier Mendelssohn, diesen Begriff sogar bei Verhandlungen über eine so zentrale Frage wie die der organisatorischen Reform der Korporation; dies ist um so erstaunlicher, als er dabei eine stärkere Differenzierung der Korporationsorganisation vorschlug, um die während des Ansatzes der Industrialisierung in Berlin neu entstandenen oder expandierenden Industriezweige mit zu berücksichtigen.11 Seine eigene Tätigkeit als Bankier ordnete er ebenfalls der für ihn umfassenderen Tätigkeit des Kaufmanns unter: „Bankgeschäfte sind solche, bei denen Geld Waare ist. Man nimmt Geld und giebt Geld. Wird das Geschäft von einem Kaufmann oder Mehreren unter ihrer persönlichen Verantwortung betrieben, so nennt man die Person Banquier und das Unternehmen ein Bankgeschäft." 12 Auch in den hitzigen Debatten um das Mandat und den Entscheidungsspielraum der Ältesten Mitte der vierziger Jahre wurde von den Berliner Unternehmern der Begriff „Kaufmann" noch in diesem Sinn verwandt. Um auszudrücken, daß die Korporationsältesten bereit waren, mit den anderen Berliner Unternehmern gleichsam als einfache Korporationsmitglieder zu diskutieren, boten sie an, daß sie „ nötigenfalls rein als Kaufleute, mit den Anwesenden berathen" wollten. 13 Schon damals bestand das Ältestengremium zu mehr als einem Drittel aus Industriellen. 14 Mit demselben Sprachgebrauch antworteten die oppositionellen Korporationsmitglieder. Sie weigerten sich, die Entscheidungen der Ältesten ungeprüft zu billigen, da ihrer Ansicht nach „der Kaufmann . . . sich nicht dem blinden Glauben hingeben [dürfe], sondern immer eine solide Grundlage im Auge behalten" müsse.15 Den Vorrang des diffusen Begriffs des „Kaufmanns" vor dem
11
Vgl. das Memorandum Mendelssohns, Sept. 1844, Stadtarchiv Berlin, Κ 510. Joseph Mendelssohn, Über Zettelbanken, mit besonderer Hinsicht auf eine Preussische Landesbank, Berlin 1846, S. 1. 13 Mendelssohn, Vorsteher der Korporation der Kaufmannschaft Berlins, auf einer Mitgliederversammlung der Korporation, in: Berlinische Nachrichten, Nr. 119 vom 26.5.1845. 14 Zu den zwanzig Ältesten gehörten 1845 der Tabakfabrikant Brunzlow, der Seiden Warenfabrikant Baudouin, der Steinpappenfabrikant Gropius, der Grossist und Seifenfabrikant Junge, die Tuchfabrikanten Carl und Praetorius und der Zuckerindustrielle Kupfer. (Vgl. Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin..., S. 658 f.). 12
Die Entwicklung
131
von Unternehmerbezeichnungen
spezifischeren Begriff des „Fabrikanten" unter den Berliner Industriellen zeigt folgende Zusammenstellung: TABELLE 17
„Kaufmann"
als Selbstbezeichnung 1830 bis
Standes-/ Berufsbezeichnung „Kaufmann" „Kaufmann" „Fabrikant"
unter Berliner
Industriellen
187018
ökonomisches Betätigungsfeld
1830
35
40
45
50
55
60
65
70
Handel
11
10
9
5
3
8
6
9
8
Industrie
14
17
24
22
19
11
15
10
3
Industrie
8
8
13
9
14
11
12
18
20
Anteil der „Fabrikanten" unter den Industriellen 36 °/o 32 °/o 35 °/o 29 °/o 42 °/o 50 °/o 44 °/o 64 »/» 87 «/o
Schon seit den vierziger Jahren läßt sich allerdings beobachten, daß dieser diffuse Begriff des Kaufmanns, mit dem verschiedene unternehmerische Betätigungsarten bezeichnet wurden, nur noch dann Verwendung fand, wenn in Konflikten mit der Staatsverwaltung wirtschaftliche Verhaltensregeln gegen Normen des staatlichen Wirtschaftsrechts abgehoben werden sollten. Schon in den Debatten um das Handelsgericht Mitte der vierziger Jahre tauchte dieser Sprachgebrauch auf. Als es darum ging, ob diese Gerichte auch mit Juristen besetzt werden sollten, entstand dagegen unter den Berliner Korporationsmitgliedern Opposition: „So kommt es in unseren Streitigkeiten . . . auf einen gewissen, nicht juristischen, sondern kaufmännischen, allgemein mensch-
15 Sdiauß, ab 1846 Ältester der Korporation, auf einer Mitgliederversammlung der Korporation, in: Berlinische Nadiriditen, Nr. 119 vom 26. 5. 1845. 16 Testfeld sind die Industriellen unter den Berliner Stadtverordneten, da in diesem Gremium die Selbstbezeichnung einer relativ großen und kontinuierlichen Gruppe von Unternehmern erfaßbar ist. Unter der Rubrik „Fabrikant" sind auch diejenigen Stadtverordneten erfaßt, die sich als „Kaufmann und Fabrikant" bezeichnen. Zusammengestellt nach: Adreßkalender für die Königlichen Haupt- und Residenzstädte Berlin und Potsdam für das Jahr 1830 f f . ; Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Berlin auf das Jahr 1830 f f .
9*
132
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
liehen Takt, auf die im Innern eines jeden lebenden und wirkenden ewigen Lehren des Naturrechts an." 17 Ende der vierziger Jahre bestand für Vertreter der Berliner kaufmännischen Korporation die Aufgabe dieses Handelsgerichts darin, „weniger auf die Bestimmungen des Landrechts zu achten, als auf kaufmännische Usancen." 18 1851 wiesen die der kaufmännischen Korporation nahestehenden Berlinischen Nachrichten denselben diffusen Sprachgebraudi auf, als sie auf die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichen Verhaltensregeln der Unternehmer und staatlichem Wirtschaftsrecht zu sprechen kamen: „Nirgends als gerade in Handelssachen, tritt der Zwiespalt zwischen dem Leben und der Fachjustiz so schreiend hervor, und was auf der Börse allgemein als Norm gilt, wonach sich Millionen reguliren, das wird häufig von den Gerichtshöfen nicht als bindend erklärt." 19 Es ist daher nicht verwunderlich, daß audi die Berliner kaufmännische Korporation den diffusen Begriff des „Kaufmanns" in dieser Konfliktsituation weiter anwandte; so forderte sie 1853 von der Staatsverwaltung, „sowohl bei dem Entwurf specieller Verordnungen, als bei der Abfassung eines HandelsGesetzbuches, Kaufleute, denen ein sachverständiges Urtheil zuzutrauen ist, hauptsächlich zu dem Zweck zuzuziehen, um über die Natur des kaufmännischen Verkehrs und der kaufmännischen Geschäfte Auskunft zu geben. Nichts erschwert mehr das Finden richtiger Rechtsgrundsätze, als eine mangelhafte oder unvollständige Bekanntschaft mit den wirklichen Zuständen des Lebens."20 Noch in den sechziger Jahren verwandte der Berliner Bankier Hansemann den Begriff „Kaufmann" als Vertreter der Berliner kaufmännischen Korporation im deutschen Handelstag in diesem Sinn: „Mit der Ansicht, daß wir Kaufleute kein Urtheil über das Handelsgesetzbuch auszusprechen hätten, weils es von ausgezeichneten Juristen verfaßt sei, bin ich nicht einverstanden. Wie hoch diese auch stehen mögen, so können wir doch von unserem Standpunkt aus unser Bißchen Verstand daran üben und sagen, 17
Gruppe von Korporationsmitgliedern auf der Mitgliederversammlung der Korporation der Kaufmannsdiaft Berlins vom 6 . 6 . 1 8 4 5 , in: Berlinische Nachrichten, Nr. 131 vom 9. 6.1845. 18 Protokoll über die Beratung eines Gesetzes zur Errichtung von Handelsgerichten, 1 5 . 1 . 1 8 4 9 , D Z A Merseburg, Rep. 120 BB VII 1 80 Bd. 1; ebenso die Gutachten der Berliner kaufmännischen Korporation an den Handelsminister, 11. 1.1858 (DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 1 Nr. 7 Bd. 7) und 2 7 . 1 1 . 1 8 5 8 (DZA Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 85 Adh. C Bd. 2). 19
Berlinische Nachrichten vom 30. 7.1851. Bericht über Handel und Industrie von Berlin im Jahre 1852 und 1853, erstattet von den Aeltesten der Kaufmannschaft, Berlin 1853, S. 16. 20
Die Entwidelung von
Unternehmerbezeichnungen
133
was wir für zweckmäßig halten. Ich erkenne die Autorität der Juristen in der Frage an, was nach bestehenden Gesetzen Rechtens ist, nicht aber darüber, was Recht werden soll; hierüber kann der gesunde Verstand Derjenigen, die am nächsten bei der Sache beteiligt sind, sehr wohl ein Urtheil abgeben." 21 Dasselbe Selbstverständnis zeigte wenig später auch der Berliner Bankier und Großhändler P. E. Conrad, als er sich in seinem Votum gegen die Einführung der Goldwährung „auf einen praktischen S t a n d p u n k t . . . den des Kaufmanns" stellte und das Auditorium des Handelstags nur mit „Sie als Kaufleute" ansprach, obwohl dort als einer der prominentesten Vertreter gerade der Berliner Unternehmer der Textilindustrielle Liebermann anwesend war. 22 Von diesem Sonderfall abgesehen, setzten sich schon seit Anfang der vierziger Jahre im Sprachgebrauch der Berliner Unternehmer funktional differenzierende Begriffe als Bezeichnung für die eigene soziale Gruppe durch. Schon bei der Debatte über die Umwandlung der kaufmännischen Korporation in eine Handelskammer hatte sich unter einigen Korporationsältesten der Begriff „Handels- und Industriestand" eingebürgert. Auch wenn sich dieser Begriff damals unter den Ältesten noch nicht voll durchsetzte und daneben die Bezeichnungen „Handelsund Gewerbestand" oder „Handelsstand" weiterhin benutzt wurden, zeigt der neue Begriff doch, daß die stärkere Verbreitung der industriellen Unternehmerrolle stärker ins Bewußtsein zumindest einiger Unternehmer drang. Wenn hier von „Industrie" gesprochen wurde, so waren damit industrielle Produktionszweige im modernen Sinn gemeint.23 Im gleichen Sinn sprach der Berliner Bankier und Älteste der Korporation, Wilhelm Beer, 1845 von der „kaufmännischen und industriellen Welt." 24 Noch deutlicher wurde diese funktionale Differenzierung 1848 bei den Zolldebatten innerhalb des Ältestengremiums der Korporation. In dieser mit veröffentlichten Streitschriften ausgetragenen Kontroverse schälte sich zum ersten Mal unter den Berliner Unternehmern eine „industrielle Parthei" heraus, die durch den Schutzzöllner und 21
Hansemann, in: Verhandlungen des ersten deutschen Handelstags zu Heidelberg vom 13. bis 18. Mai 1861, Berlin 1861, S. 69. 22 Zu Conrad: Verhandlungen des 4. deutschen Handelstags zu Berlin vom 20. bis 23. Okt. 1868, Berlin 1868, S. 38. Liebermann wurde im selben Jahr Stellv. Vorsitzender des „bleibenden Ausschusses" des deutschen Handelstags (a. a. O., S. 5). 23 Vgl. für alle diese Begriffe die Protokolle der Verhandlungen über Errichtung einer Handelskammer Berlin, 1. 5.1834 und 18. 5.1843, StA Potsdam, Rep. 1 Nr. 371. Da in diesen Protokollen Namen nidit genannt werden, läßt sidi allerdings nicht feststellen, ob die differenzierenden Begriffe von Industriellen eingeführt wurden. 24 W. Beer, Bemerkungen über Zettelbanken . . . , S. 21.
II. Der soziale Status der Berliner
134
Unternehmer
Textilindustriellen Carl repräsentiert wurde, die freihändlerische Kaufleute, vertreten durch den Bankier W. Beer, zum Gegner hatte und sich damals im Ältestengremium mit knapper Mehrheit durchsetzte.25 In dieser Kontroverse bezog sich Beer mit seinem Begriff der „industriellen Parthei" vor allem auf die Interessengruppe der Industriellen: „Wo irgend nur ein hoher Schutzzoll im Interesse der Fabrikanten liegt, wird er dessen Nothwendigkeit erweisen, und es wird eine wohlgeschaarte Phalanx mit zahllosen Reklamationen und Petitionen auftreten." 2 6 Carl hingegen unterschied zwischen „Handel" und „Industrie", zwischen „Austausch" und „Produktion" nach ökonomischen Kriterien. 27 Audi wenn sich im Sprachgebrauch der Korporationsältesten der Begriff der „Industrie" in diesem Sinn nicht durchsetzte und sie in ihren Wirtschaftsberichten Handel und Industrie auch weiterhin gemeinsam unter „Industriezweigen" abhandelten, so bedeutet dies nicht, daß sie damit die funktionale Differenzierung zwischen Großkaufleuten und Industriellen wieder aufgaben. Mit der Unterscheidung zwischen „Handel und Produktion", „Vertrieb und Fabrikation", „Handel und Fabrikation" verfügten sie über Begriffe, die weiterhin in diese Richtung zielten. Sie haben zudem in ihren Wirtschaftsberichten über Verkehrswesen und das Bankgewerbe getrennt berichtet und damit auch Spediteuren, Reedern und Bankiers spezifische wirtschaftliche Funktionen zugeschrieben.28 Auch im Sprachgebrauch der Staatsverwaltung wandelten sich die Begriffe für Unternehmer in Richtung auf eine stärkere funktionale 25
Vgl. zum Begriff „Industrie" in diesem Sinn des Wirtschaftssektors Brosdiüren
und Artikel von Berliner Unternehmern: H . C. Carl, Deutschland'* J . C. H . Kupfer, Referat
über die Frage
wegen
Zolleinigung
der Differential-Zölle,
Aeltesten der Berliner Kaufmannschaft erstattet, Berlin 1 8 4 7 ; W . Beer, Die der Differential-Zölle...;
C. C. Westphal, Der
Wollproduktion,
Fabrikanten
und
oder Freihandel,
in: Berlinische
Wollausgangszoll
Wollhändler,
Nachrichten,
Entscheidung
im
Ältestengremium:
Gefahren
im Interesse
Berlin 1848; Denant,
der
Schutzzölle
N r . 246 vom 2 0 . 1 0 . 1 8 4 8 . Zum Begriff
„industrielle Parthei" vgl. W . Beer, Die Gefahren zur
...;
den Herren
der Differential-Zölle...,
Berlinische
Nachrichten,
S. 1 7 ;
N r . 254
vom
31. 10. 1849. 26
W. Beer, Die Gefahren
27
H . C. Carl, Deutschland's
der Differential-Zölle Zolleinigung.
...,S.
37 f.
. ., S. 14. Carl verwandte den Begriff
„Industrie" ausschließlich im modernen Sinn des Wirtschaftssektors. E r unterschied zwischen „Ackerbau, Industrie und Handel" (α. α. Ο., S. 5) und zählte unter „Industriezweigen"
beispielhaft
die Eisenindustrie,
Leinenindustrie,
Kammgarnspinnerei
und -Weberei, Baumwollspinnerei und -Weberei auf {ebda., S. 7 f.). 28
Vgl. dazu beispielhaft: Bericht über den Handel
und die Industrie
von
Berlin
im Jahre 1866, erstattet von den Ältesten der Kaufmannschaft, Berlin 1866, passim.
Die Entwicklung
von Unternehmerbezeichnungen
135
Differenzierung. Diese Entwicklung schlägt sich am deutlichsten im Bereich der staatlich oktroyierten Organisationen der Unternehmer nieder. Während die Berliner Unternehmer seit den zwanziger Jahren in der kaufmännischen Korporation, in der „Steuergesellschaft", die die Gewerbesteuersätze aushandelte, und noch in den vierziger Jahren im Projekt des Handelsgerichts zusammengefaßt waren oder werden sollten, trennte die Staatsverwaltung in den gesetzlichen Vorschriften für die preußischen Gewerberäte 1849 die Industriellen von den Kaufleuten und richtete neben der Handwerkerabteilung für die Angehörigen des „Fabrikantenstands" und des „Handelsstands" jeweils gesonderte Abteilungen ein. Die Staatsverwaltung schuf damals zudem mit der Institution des Gewerbegerichts, die allerdings in Berlin auf kein Interesse stieß, ein besonderes Schlichtungsgremium für industrielle Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Dabei verstand sie unter Industriellen diejenigen Unternehmer, „welche Rohstoffe oder Halbfabrikate zu Waaren für den Handel verarbeiten lassen." 29 In dieser funktionalen Differenzierung der Unternehmer durch die Staatsverwaltung kann allerdings schon deshalb kein Grund für die parallele Entwicklung im Selbstverständnis der Berliner Unternehmer gesehen werden, weil letztere zeitlich schon früher einsetzte. Es kommt hinzu, daß die Berliner Unternehmer die funktionale Differenzierung gerade im Berliner Gewerberat unterliefen. In dessen Abteilung für Kaufleute waren Industrielle und Kaufleute ebenso vermischt wie in der Abteilung für Fabrikanten. 30 Schließlich hat die Staatsverwaltung bei der Rolle, die sie den Unternehmern im politischen Entscheidungsprozeß zuschrieb, diese funktionale Differenzierung nicht beibehalten. Weder bei Sachverständigengutachten noch bei Sachverständigenkonferenzen spaltete sie die Unternehmer in getrennte Gruppen von Bankiers, Industriellen und Großkaufleuten auf. 3 1 Das Handelsministerium trennte zwar in seinen Wirtschaftsberichten in den fünfziger und sechziger Jahren zwischen Handel und „Fabrikation". 3 2 Die Berliner kaufmännische Korpo29 § 3 der Verordnung betreffend die Errichtung von Gewerberäten vom 9 . 2 . 1 8 4 9 und § 2 der Verordnung über die Errichtung von Gewerbegerichten vom 9.2.1849, Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 40 vom 11. 2.1849. 30 Liste der 1850 gewählten Mitglieder des Gewerberats, Berlinische Nachrichten, Nr. 105 vom 8. 5.1850. Diese Vermischung ergibt sich schon aus den dort angegebenen Berufsbezeichnungen. 51
V g l . DRITTES KAPITEL.
Vgl. den Verwaltungsbericht des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten für die Jahre 1849, 1850 und 1851, StA Potsdam, Rep. 1 Nr. 377; vgl. auch die folgenden Berichte, a. a. O., Nr. 377 und 378. 82
136
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
ration folgte ihm jedoch in ihren eigenen Wirtschaftsberichten darin nicht. Die funktionale Differenzierung, die im Sprachgebrauch der Unternehmer erkennbar ist, besaß andere Gründe. Erstens ging sie auf zunehmende Unterschiede in der Ausbildung der Unternehmer zurück. Solange die Unternehmer üblicherweise als Kaufleute ausgebildet waren, besaß die Bezeichnung „Kaufmannschaft" für die soziale Gruppe der Unternehmer einen Sinn; gerade während der frühen Industrialisierung entstanden — wie gezeigt wurde — besonders für Industrielle neue, mehr technisch ausgerichtete Ausbildungsarten. Zweitens entwickelte sich von der Jahrhundermitte ab in Berlin eine zunehmende Arbeitsteilung zwischen Produktion und Handel. Anfang der fünfziger Jahre berichtete die Berliner kaufmännische Korporation, daß „der Kaufmann mehr und mehr in ein richtiges Verhältniß zum Fabrikanten zu treten beginnt und so seinen eigentlichen Beruf erfüllt, welcher ihn zum Vermittler der Productionskraft des eigenen Landes mit den übrigen Ländern macht, während es dem Fabrikanten durch die umsichtige Thätigkeit des Kaufmanns möglich wird, nur seinem eigentlichen Berufe zu leben und nicht zu gleicher Zeit Kaufmann zu sein. Wir können es freilich für Berlin noch nicht aussprechen, daß sich dieses bedeutende Verhältniß schon in allen Theilen so naturgemäß gestaltet hätte, wie dies in den Handels- und Fabrikstätten von England und Frankreich der Fall ist; wir sagen nur, daß die industrielle K r a f t unserer Hauptstadt die richtige Bildung dieses gegenseitigen Verhältnisses anzubahnen begonnen hat." 3 3 Zumindest in den Großbetrieben scheint sich in den sechziger Jahren im allgemeinen diese Arbeitsteilung zwischen industriellen Produzenten und Zwischenhändlern durchgesetzt zu haben: „Wenn zu jener Zeit [gemeint ist das Jahr 1831] die großen Fabrikanten die Reisenden unterhielten, so werden die Reisenden heute unterhalten durch den Zwischenhändler." 34 Ein weiterer Grund für die zunehmende Differenzierung im Sprachgebrauch der Unternehmer war der soziale Aufstieg der Industriellen als Gruppe, gemessen am Status der übrigen Unternehmer, und ihre
33
Bericht über den Handel
und die Industrie
. . . 1852 und 18}3 ...,
S. 1.
Reichenheim, Textilindustrieller, Sten. Ber. preuß. Haus d. Abgeordneten, 1861, Bd. 2, S. 726. In den Beriditen der Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation wird diese Frage nidit mehr angeschnitten. Zur funktionalen Trennung zwischen Produzenten und Kapitalbesitzern vgl. den Berliner Bankier Joseph Mendelssohn: „Das Capital entsteht allein durch Production und durdi Veredlung des Produ34
Die Entwicklung
von
Unternehmerbezeichnungen
137
stärkere Beteiligung am politischen Entsdieidungsprozeß, beides Faktoren, auf die noch zurückzukommen sein wird. Die bisher aufgeführten Begriffe, mit denen sich die Unternehmer selbst bezeichneten, sagen allerdings noch wenig über ihre Stellung in der damaligen Gesellschaft aus. Im einen Fall, der Stellung der Unternehmer zur Aristokratie, scheint die begriffsgeschichtliche Methode zu versagen. „Bürgertum" oder korrespondierende Begriffe entwickelten die Berliner Unternehmer nicht. Dagegen wird ihre Stellung zum Handwerk und zur Arbeiterschaft in der Entwicklung der Begriffe „Arbeitgeber" und „Fabrikanten" deutlich. Bei beiden Begriffen läßt sich verfolgen, wie die soziale Gruppe der Unternehmer während der Industrialisierung allmählich Konturen gewann. Die Entwicklung der Begriffe „Fabrik" und „Fabrikant" spiegelt vor allem eine allmähliche Absonderung der Unternehmer vom Handwerk wider. Das läßt sich deutlich am Begriff „Fabrik" erkennen. Von der Jahrhundertmitte ab — also mit erheblicher Verspätung gegenüber dem Ansatz der Industrialisierung — zeigt die Diskussion über diesen Begriff unter den Berliner Unternehmern, daß sie zwischen Fabrikbetrieb und Handwerksbetrieb deutlich zu trennen versuchten — auch wenn keineswegs Einigkeit über den Begriff herrschte und die hierfür erschlossenen Aussagen nur mit Vorbehalt den Schluß zulassen, daß sich im Sprachgebrauch der Unternehmer die Fabrik von der Werkstatt des Handwerkers vor allem durch die Verwendung von Maschinen unterschied.35 Diese Tendenz zur Absonderung läßt sich auch am Begriff „Fabrikant" fassen. Während 1835 noch ungefähr jeder vierte der handwerklich ausgebildeten Unternehmer seinen ehemaligen handwerklichen Beruf angab und sich als „Schlossermeister" oder „Seidenfärber" oder „Mechanikus" bezeichnete, war das schon 1850 nicht cirten . . . Die Production und die Veredlung des Producirten bedürfen selbst des Capitals, mit welchem und auf welches sie wirken. Diejenigen, denen das Talent Capital herbeizuführen beiwohnt, besitzen in der Regel das Anlage-Capital nicht, oder doch nicht in gehörigem Maasse". (J. Mendelssohn, Heber Zettelbanken..., S. 8.) 55
Vgl. H. C. Carl, Deutschlands Zolleinigung..., S. 16, Eingabe des Berliner Spritfabrikanten Kahlbaum an das Handelsministerium, 1 4 . 6 . 1 8 5 1 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α Abt. I H G Nr. 1979; Eingabe des Berliner Posamentierfabrikanten Cassirer an das Handelsministerium, 1 4 . 6 . 1 8 5 7 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 57 Nr. 2566; Plenarbeschluß des Berliner Gewerberats, 2 3 . 3 . 1 8 5 7 , Stadtarchiv Berlin Rep. 07. (Der Vorsitzende des Gewerberats und sein Stellvertreter waren Unternehmer, vgl. StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α Reg. Ptsd. Abt. I H G Nr. 240.)
138
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
mehr üblich. So gut wie alle diese Industriellen verstanden sich nun als „Fabrikanten" oder „Fabrikbesitzer". 36 Wenn also die Preußische National-Encyclopädie 1843 im gleichen Sinne zwischen Unternehmern einerseits und Handwerkern andererseits unterschied, „welche eine zunftmäßige oder andere Profession für eigene Rechnung einzeln betreiben" und nur „als Handwerker oder Professionisten zu betrachten" sind, so ähnelt ihr Sprachgebraudi schon dem der Unternehmer. Wenn die National-Encyclopädie kritisierte, daß die Handwerker trotzdem „im gemeinen Leben Fabrikanten heißen", so galt dies schon nicht mehr für die Berliner Unternehmer. 37 Aus einer anderen Situation entstanden zwischen Unternehmern und Handwerkern Konflikte um den Begriff des „Arbeitgebers". Hier ging es primär um die Selbständigkeit derjenigen Handwerksmeister, die in der Form der manufakturellen Produktion von den Industriellen abhängig waren. Anlaß war die Novelle der Gewerbeordnung von 1849, in der die Staatsverwaltung den Handwerksinnungen das Prüfungsmonopol für den Nachweis fachlicher Eignung zur Leitung von Gewerbebetrieben verliehen hatte. An sich waren die Industriellen als „Fabrikinhaber" von dieser Prüfungspflicht bei Handwerksinnungen ausgenommen; es entstanden jedoch Konflikte darüber, ob die Betriebe der Zwischenmeister, die in verschiedenartiger Weise von Industriellen abhängig, aber noch nicht in eine räumlich geschlossene Fabrik eingeordnet waren, als „selbständige Gewerbetreibende" zu gelten hatten und ob damit diese Zwischenmeister die Innungsprüfungen ablegen mußten. Die Unternehmer versuchten dabei, das Prüfungsmonopol der Handwerksinnungen zu verhindern. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen stand unter anderem der Begriff des „Arbeitgebers", unter den die Handwerksmeister auch die Zwischenmeister subsumierten. Kennzeichnend für die Begriffswelt der Unternehmer war dagegen, daß sie den Begriff des „Arbeitgebers" so weit wie möglich einengten. So trennte der Berliner Unternehmer im Bereich der Textilindustrie, einem Schwerpunkt der Auseinandersetzung, strikt „zwischen den hiesigen Engros-Fabrikanten oder Kaufleuten und den Seidenwirkermeistern. Er betrachtet Letztere als bloße Arbeitnehmer, Erstere als Arbeitgeber, die gewissermaßen eine große Fabrik theils in ihrem 36 Testfeld sind die Mitgliederlisten des Vereins zur Förderung des Gewerbfleißes in Preußen. Vgl. Verhandlungen des Vereins zur Förderung des Gewerbfleißes in Preußen, Jg. 1835, S. 3 ff.; Jg. 1850, S. 3 ff. 37 Art. „Fabriken und Manufakturen", in: Preußische National-Encyclopädie, 3 Bde., Berlin 1843, Bd. 1, S. 455.
Die Entwicklung
von Unternehmerbezeichnungen
139
Fabriklokal, theils in den Häusern der verschiedenen Arbeiter überwachen, so daß die Letzteren in gewerblicher Beziehung ganz unselbständig seien, gleich den Gesellen, wobei der Umstand, daß dem Arbeitnehmer der Stuhl eigenthümlich gehöre, nur zur Erleichterung des Arbeitgebers diene."38 Ähnlich verwendeten die Unternehmer die Begriffe „Arbeitgeber" und „Arbeiter" audi für die Betriebe anderer Branchen.39 Im Gegensatz zum Organisationsstatut des Gewerberats, das die Handwerksmeister ohne Unterschied zu den Arbeitgebern rechnete,40 richteten sich die Unternehmer bei der Verwendung dieses Begriffs nach der jeweiligen Betriebsstruktur und zählten diejenigen Handwerksmeister, die auch in der Form der dezentralisierten Manufaktur als Zwischenmeister der Kontrolle der Industriellen unterworfen waren, nicht zu den Arbeitgebern. Das Eigentum an Produktionsmitteln erschien dabei den Unternehmern nicht entscheidend. Allerdings führte dieser Konflikt zwischen Unternehmern und Handwerksmeistern um den Status der in dezentralisierten Manufakturen beschäftigten Handwerksmeistern nicht zu Begriffen, die die Unternehmer gegenüber der Gruppe der Handwerksmeister insgesamt abgrenzten.41 „Besitzer von Fabriken und Werkstätten" waren für die Unternehmer in gleicher Weise Arbeitgeber.42 38
Bericht des Berliner Magistrats über Gutachten des Berliner Gewerberats an die kgl. Regierung Potsdam, 9. 7.1853, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 57 Nr. 2698. 3e Vgl. die Eingabe des Berliner Korbwarenfabrikanten Winkler an das Finanzministerium, 3. 4.1848 (DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 1), der die bei ihm beschäftigten Meister und Gesellen in gleicher Weise als „Arbeiter" bezeichnete. 40
§ 5 der Verordnung betr. Einrichtung von Gewerberäthen..., für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1849, S. 94.
Gesetz-Sammlung
41 Zum Teil scheinen sich die Unternehmer allerdings auch an die Begriffe des Statuts des Gewerberats angepaßt zu haben (vgl. Bericht des Berliner Gewerberats an den Berliner Magistrat, 10.1.1854, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α Reg. Ptsd. Abt. I H G Nr. 240). Dagegen verwandte die der kaufmännischen Korporation Berlins nahestehende Spenersche Zeitung ebenfalls die unternehmerspezifischen Begriffe: „Selbständig heißt derjenige Handwerker oder Mechaniker, der für eigene Rechnung arbeitet, die nicht selbständig, sondern im Lohne anderer Meister arbeiten, sind mit den Gehülfen gezählt. Nicht mitgerechnet sind hier Handwerker oder Mechaniker, die für Rechnung und Gefahren Anderer entweder in dazu bestimmten Lokalen (Fabrikräumen) oder auch in eigener Wohnung arbeiten, diese zählen unter die Fabrikarbeiter." (Berlinische Nachrichten, N r . 178 vom 27. 11. 1853.) 42 Gutachten des Seidenwarenfabrikanten Meyer, in: Mitteilungen vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1849, 4. Lfg., S. 4.
des
Centrai-
140
77. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Die Handwerksinnungen übernahmen den Begriff des „Arbeitgebers" dagegen nicht, entwickelten jedoch entsprechende Begriffe. In den dreißiger Jahren, als das Seidenwirkergewerk gemeinsam mit Seidenindustriellen auf höhere Einfuhrzölle für Seidenwaren hinarbeitete, sprachen die Altmeister des Seidenwirkergewerks noch von „unseren Fabrikherrn." 43 Dieser Begriff zielte zwar auf die soziale Überordnung der Industriellen über die Handwerksmeister ab, bezog sich jedoch noch nicht auf soziale Konflikte. Mit dem Bestreben der Handwerksmeister seit 1848, ihre selbständige wirtschaftliche Existenz aufrechtzuerhalten und mit dem damit verbundenen Konflikt zwischen Unternehmern und Handwerksmeistern wandelten sich audi die Begriffe. Während nodi 1848 die neutrale und soziale Unterordnung nicht mehr einschließenden Begriffe „Kaufleute" oder „Fabrikanten" zur Bezeichnung der Unternehmer verwandt wurden, 44 kamen im Sprachgebrauch der Berliner Handwerksmeister seit den fünfziger Jahren Begriffe wie „Wucherer" oder „Spekulanten" auf, die auf eine negative Einschätzung des unternehmerischen Berufsethos' durch die Handwerksmeister und auf eine konfliktgeladene Abhängigkeit oder Furcht vor Abhängigkeit von den Unternehmern hindeuten.45 Die Handwerksmeister folgten „mit großer Besorgnis dem Treiben der Spekulanten, welche v o r . . . 1849 frei und ungehindert in jegliches Handwerk eingreifen durften und durch Capital und Concurrenz aus schnöder Gewinnsucht den geschicktesten Handwerker zum unselbständigen Arbeiter herabzudrücken" versuchten.46 Der Begriff „Arbeitgeber", wie ihn die Unternehmer gebrauchten, und die Begriffe „Wucherer" 4 5 Eingabe der Altmeister des Berliner Seidenwirkergewerks an den Innenminister, 24.8.1831 und 21.9.1831, DZA Merseburg, Rep. 89 C X X X V Kurmark Nr. 27 Bd. 1. 4 4 Vgl. Eingabe der Meister des Berliner Tudimachergewerks an den Finanzminister, 4. 4. 1848, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 60 Bd. 1; Prot. d. Verhandlungen der Berliner Gold- und Silberarbeiter, 22. 4.1848, a. a. O., Bd. 4; Eingabe des Comites des Berliner DamensAneidergewerks an Handelsminister, 2.9.1848, a.a.O., Bd. 5; Eingabe der Meister des Feilenhauergewerks an Handelsminister, 2.7.1848, a.a.O., Bd. 4; Eingabe des Comitis der Altmeister der Berliner Gewerke an Handelsminister, Aug. 1848, a. a. O., Bd. 4. 45 Insertum des Comites der Altmeister und Vertrauensmänner der Berliner Gewerke und Innungen, 14.2.1849, in: Berlinische Nachrichten, Nr. 43 vom 20.7.1849; Eingabe der Altmeister und Repräsentanten der Berliner Innungen an die kgl. Reg. Potsdam, 23. 7.1851, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α Reg. Ptsd. Abt. I HG Nr. 99; vgl. Eingabe der ständ. Commission des preuß. Landes-Handwerkertages an das preuß. Abgeordnetenhaus, Jan. 1861, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 62, Bd. 5. " Eingabe der Altmeister . . 2 3 . 7.1851, ebda.
Die Entwicklung
von Unternehmerbezeichnungen
141
und „Spekulant", wie sie die Handwerksmeister benutzten, zielten also auf dasselbe soziale Phänomen und unterschieden sich nur in ihrem Bezug auf verschiedene Interessenlagen. In diesen Begriffen wird nicht nur eine allmählich entstehende soziale Trennlinie zwischen Industriellen und Handwerkern erkennbar; audi die Stellung der Unternehmer zu den Fabrikarbeitern läßt sich an ihnen verfolgen. Der Begriff „Fabrikant" schloß vor dem Ansatz der Industrialisierung im allgemeinen Sprachgebrauch nicht nur den selbständigen Handwerker, sondern audi den Fabrikarbeiter mit ein. 47 Das änderte sich jedoch schon während des Ansatzes der Industrialisierung. Zwar konnte mit „Fabrikant" auch ein Werkführer bezeichnet werden; es war jedoch 1848 unter den Berliner Unternehmern immerhin schon strittig, ob die Disponenten zu den Unternehmern oder aber, wie die übrigen Angestellten, zur Arbeiterschaft gerechnet werden sollten. 48 Der Begriff „Fabrikant" wies zudem schon damals nicht nur auf den Unterschied zum Handwerk hin, sondern wurde auch schon eindeutig als Gegenbegriff zu „Fabrikarbeiter" verwandt. So traten die Kattundruckereibesitzer Berlins — wie bereits erwähnt — in den langjährigen Verhandlungen mit den Kattundruckern nicht als „Druckereibesitzer", sondern als „Fabrikanten" auf. Ebenso verzichteten die Berliner Seidenindustriellen in der Schlichtungskommission des Seidenwirkergewerks auf die spezielle Berufsbezeichnung.49 47 L. Beutin, Die märkische Unternehmerschaft..., in: Westfälische Forschungen 10 (1957), S. 64; Focko Eulen, Vom Gewerbefleiß zur Industrie ( = Schriften zur Wirtschafte- und Sozialgeschidite, Bd. 11), Berlin 1967, S. 151. 48 Vgl. Stellenanzeige in Berlinische Nachrichten, Nr. 136 vom 1 5 . 6 . 1 8 4 7 ; noch 1855 wurde Pithfeld, Disponent der Meyerschen Seidenfabrik in Brandenburg, als „Seidenwarenfabrikant" bezeichnet (Immediateingabe der Alwine Silber, Schwester des Disponenten Alifeld, 1 4 . 1 . 1 8 5 3 , DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 4). Die Debatte zur Einordnung der Disponenten: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1848, S. 294 f. 49 Schiedsgericht der Berliner Seidenweber-Innung an Innenminister, 24. 10. 1848, DZA Merseburg, Rep. 120 BB VI 1 Nr. 87; weitere Beispiele: C. F. Schildknecht (Textilindustrieller), Vorschläge zur Hebung der deutschen Industrie und Abhülfe der Geldnoth des Staates, Berlin 1848, S. 3; I. C . H . Kupfer (Zuckerindustrieller), Sendschreiben an einen Gutsbesitzer über das System der Handels-Balance in der National-Oeconomie, mit besonderer Beziehung auf die Frage: welche Industrie, die der Colonial-Zuckeroder der Rüben-Zucker-Fabriken aus den Gesichtspunkten des Gemeinwohls, des Staats- und des Privat-Interesses den Vorzug verdient, Berlin 1811, S. 51 ff.; Fabrikordnung der Kattunfabrik von C. F. Oppen, 1 . 1 . 1 8 4 3 , abgedruckt in: L. Baar, Die Berliner Industrie..., S. 220 (hier ausnahmsweise „Fabrikherr·).
142
II. Der soziale Status
der Berliner
Unternehmer
Eindeutiger als der Begriff „Fabrikant", der die Industriellen auch gegenüber den Handwerksmeistern und zudem audi gegenüber den Kaufleuten und Bankiers unter den Unternehmern abgrenzte, ist für die Stellung zu den Arbeitern der Begriff „Arbeitgeber". Er tauchte im Sprachgebrauch der Berliner Unternehmer zum ersten Mal während der Revolution von 1848 auf, die gerade in Berlin zu einer Konfrontation des Bürgertums mit der Arbeiterschaft führte. „Arbeitgeber" wurde primär als Kontrastbegriff zum Begriff „Arbeiter" verwandt und trat in diesem Zusammenhang teilweise an die Stelle von Bezeichnungen wie „Fabrikbesitzer" oder „Gewerbetreibender". Im Unterschied zu diesen Begriffen zielte „Arbeitgeber" eindimensional auf den Gegensatz zu den Arbeitern und hob nicht mehr gleichzeitig den Unterschied zu anderen Unternehmern und zu den Handwerksmeistern hervor. 50 Diese Entwicklung beschränkte sich allerdings auf den Sprachgebrauch von Berliner Industriellen. Andere Berliner Unternehmer, wie der Berliner Bankier Beer, benutzten in derselben Konfliktsituation Begriffe wie „Besitzende" oder „Kapital", die nicht auf den industriellen Arbeitskonflikt spezialisiert waren. 51 Ähnlich verlief im Sprachgebrauch der Berliner Unternehmer die Entwicklung der Bezeichnungen für die Seite der Arbeitnehmer. In den vierziger Jahren wurden für die Arbeitnehmer häufig noch spezielle Berufsbezeichnungen handwerklicher Art verwandt. Der Älteste der Berliner kaufmännischen Korporation, Kupfer, unterschied in seiner Zuckerfabrik noch zwischen „Buchhaltern, Reisenden, Siedemeistern, Fabrik-Arbeitern usw". 52 In den Fabrikordnungen der Berliner Tuchfabrikanten wurde nur von den „Druckern" und deren Meistern ge-
50 Als Kontrastbegriff zur Gruppe der Fabrikarbeiter verwandt bei: Textilindustrieller Leonor Reichenheim an den Handelsminister, 2. 5 . 1 8 4 8 , D Z A Merseburg, Rep. 120 Β 1 N r . 59; Eingabe v o n Berliner Woll Warenfabrikanten unter Führung der Fa. Breslauer & Meyer an das Handelsministerium, 3 . 3 . 1848, D Z A Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 1; Gutachten des Textilfabrikanten Adolph Meyer, in: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1849,
4. Lfg., S. 1; Gutachten des Färbereibesitzes Nobiling, in: a. a. O., S. 8; A . Sussmann, Einige Vorschläge zur Abhälfe der Noth unter den arbeitenden Klassen, in: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1849, 2. Lfg., 5. 249. 51 Wilhelm Beer, Ueber Besteuerungs-Grundsätze, in: Berlinische Nachrichten v o m 9. 8 . 1 8 4 8 ; ders., Die politische Seite der Einkommensteuer und ihre praktische Wirkung, in: Berlinische Nachrichten v o m 19. 9. 1849. 52
J. C. H . Kupfer, Sendschreiben
an einen Gutsbesitzer
...,
S. 53.
Die Entwicklung
von Unternehmerbezeichnungen
143
sprachen, wenn die Arbeitnehmerseite gemeint war. 5 3 Auch hier änderten sich die Bezeichnungen 1848. Die generelle, nur den sozialen Konflikt zwischen Unternehmer und Fabrikarbeiter berücksichtigende Bezeichnung des „Arbeiters" ersetzte nun die bisherigen Begriffe. So verwandten die Maschinenfabrikanten Borsig und Rüdiger und der Kattunfabrikant Goldschmidt nun diese Bezeichnung für ihre Arbeitnehmer. 54 Andere Berliner Unternehmer betonten die Grenzen, die sich in dieser Situation der Zuspitzung des Konflikts zwischen Unternehmern und Fabrikarbeitern herausbildeten, noch stärker und sprachen von der „Klasse der Arbeiter." 55 Auch hier sei noch kurz auf den Sprachgebrauch der preußischen Staatsverwaltung eingegangen. Sie verwandte zwar im allgemeinen den Begriff des „Arbeitgebers" und die damit korrespondierenden Begriffe ähnlich wie die Berliner Unternehmer und Handwerksmeister; während der Jahre 1848 und 1849 gab sie jedoch diesen Begriffen einen anderen Inhalt: Noch in den letzten Jahren vor der Revolution von 1848 schloß sie im Begriff des „Arbeitsherrn" wie die Berliner Unternehmer nur die selbständigen Handwerker mit ein. 57 Als Fabrikarbeiter wurden damals auch diejenigen Handwerker betrachtet, die „ohne Dienstabhängigkeits-Verhältniß, oder ohne Verwendung von Zuthaten, die ihnen von Fabrikanten gegebenen Rohstoffe oder Halbfabri53 Vgl. die Fabrikordnungen der Kattunfabriken C. F. Oppen und Zöllner & Toussaint, abgedruckt in: L. Baar, Die Berliner Industrie . . ., S. 2 1 7 ff. 84 Borsig, in: Deutsche Arbeiter-Zeitung, Nr. 2 vom 1 2 . 4 . 1 8 4 8 , DZA Merseburg, Rep. 120 A VII 1 Nr. 3 Bd. 3; Beridit Th. Goldschmidts an die Schlichtungskommission im Kattundruckerkonflikt, 2 6 . 1 0 . 1848, DZA Merseburg, Rep. 120 D VII 2 Nr. 2 Bd. 4; auch der Korbwarenfabrikant Winkler bezeichnete seine „Meister und Gesellen" nun als „Arbeiter" (vgl. dessen Eingabe an das Finanzministerium, 3. 4 . 1 8 4 8 , DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 1). 55 A. Sussmann, Einige Vorschläge zur Abhülfe der Noth . . ., in: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1849, 2. Lfg. S. 248; C. F. Schildknedit, Vorschläge zur Hebung der deutschen Industrie..., S. 3; Leonor Reichenheim an das Handelsministerium, 2 . 5 . 1848, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 59 Bd. 1. 57 Vgl. §§ 137—139 der Allgemeinen Gewerbeordnung vom 17. 1 . 1 8 4 5 , GesetzSammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1845, S. 67. Vgl. auch § 1 der Verordnung, die Gewerbegerichte in der Rheinprovinz betreffend, 7. 8. 1846, a.a.O., Jg. 1846, S. 403; Wenn im folgenden von Begriffen der „Staatsverwaltung" die Rede ist, so wird dabei auf den Sprachgebrauch der Ministerialbürokratie und der für Berlin zuständigen regionalen und lokalen Behörden Bezug genommen. Wenn nicht Sonderentwicklungen bestanden, wird auch der Berliner Magistrat mit eingesdilossen.
144
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
kate zu Waaren für das Handelsgeschäft derselben gegen Bezahlung verarbeiteten."58 Erst 1848, als der Begriff des „Arbeitgebers" selbst in der Staatsverwaltung aufkam, wurde er auch auf die nichtselbständigen Handwerksmeister ausgedehnt und für die Schlichtungsausschüsse der ersten Revolutionsmonate festgelegt, daß die Mitglieder dieser Ausschüsse „als Fabrikanten, Meister pp. der Klasse der Arbeitgeber, oder als Gesellen, Gehülfen, Fabrikarbeiter pp. der Klasse der Arbeiter angehören."59 Auch im Organisationsstatut der Gewerberäte wurden sämtliche Handwerksmeister ausdrücklich zu den Arbeitgebern gerechnet, 60 so daß unter den „Arbeitgebern" der Handwerksabteilung des Gewerberats teils handwerkliche Arbeitgeber, teils — der Absicht der Staatsverwaltung entsprechend — Industriearbeiter, nämlich unselbständige Handwerksmeister, saßen. Schon damals wurde jedoch der Begriff des „Arbeitgebers" in der Staatsverwaltung widersprüchlich verwandt. Schon im Organisationsstatut für die Gewerbegerichte, das am selben Tag und vom selben Minister wie das Statut für die Gewerberäte erlassen wurde, wurde der Begriff „Arbeitgeber" wieder im selben Sinn wie vor der Revolution benutzt und dabei von den Handwerkern nur die selbständigen und nicht alle Handwerksmeister einbezogen. 61 Dieser eingeschränkte und mit dem der Berliner Unter58 § 1 der Verordnung, die Gewerbegerichte in der Rheinprovinz betreffend, 7.8.1846, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1846, S. 403. Diese Definition wurde auch auf die Berliner Verhältnisse angewandt (Handelsminister an Reg. zu Potsdam, 2.1.1856, DZA Merseburg, Rep. 120 BB VII 3, Nr. 7). 59 Circularverfügung des Handelsministers, 11. 5.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 59 Bd. 1 Bl. 20. 60 § 5 der Verordnung betr. die Errichtung von Gewerberäthen vom 9.12.1849, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1849, S. 94. 61 Vgl. § 4 Abs. 1 der Verordnung über die Errichtung von Gewerbegeriditen, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1849, S. 111; noch 1853 verwandte dagegen die Berliner Kommunalverwaltung den Begriff „selbständiger Gewerbetreibender" nodi so wie die Staatsverwaltung in der Revolutionszeit den Begriff „Arbeitgeber". Nach Ansidit der Berliner Kommunalverwaltung lag das entscheidende Kriterium des selbständigen handwerklichen Gewerbebetriebs „in der Verarbeitung des Rohmaterials nach den Regeln und Erfahrungen des Handwerks, gleichviel ob ohne oder mit vorgängiger Bestellung. Diese wesentliche Selbständigkeit kann man auch den hiesigen Seidenwirkern nicht absprechen, umsoweniger, als sie unstreitig auf eigenen Maschinen in eigenen Lokalen, nidit etwa in einer Fabrik arbeiten." (Magistrat Berlins an Regierung zu Potsdam, 9.7.1853, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 57 Nr. 2698). Zu den Gründen für diese Sonderstellung der Berliner Kommunalpolitik vgl. meinen Aufsatz Kommunalverwaltung und Unternehmer in Berlin während der frühen Industrialisierung, in: Otto Büsch (Hrsg.),
Die Entwicklung
von
Unternehmerbezeichnungen
145
nehmer übereinstimmende Gebrauch des Begriffs „Arbeitgeber" wurde von da an beibehalten, und als industrielle Arbeitnehmer wurden auch diejenigen betrachtet, „welche ohne Dienstabhängigkeitsverhältnisse, mithin als selbständige Gewerbetreibende [im umfassenderen Sinn], außerhalb der Betriebsstätten der Fabrikanten mit eigenem oder fremdem Werkzeug und mit oder ohne Verwendung von Zutaten die ihnen von jenen gegebenen Rohstoffe oder Halbfabrikate zu Waaren für deren Handelsgeschäfte gegen Bezahlung verarbeiteten." 62 Der Grund für diese kurzfristige Sonderentwicklung im Sprachgebrauch der Staatsverwaltung lag im politischen Bereich. Um ihren Herrschaftsanspruch gegenüber den politischen Entwicklungen der Revolutionszeit zu erhalten, schlug die Staatsverwaltung bei der Oktroyierung von Organisationen im Bereich der gewerblichen Wirtschaft die prinzipielle Taktik ein, „die Masse [zu] theilen, Veranlassung [zu] geben, daß die widerstrebenden Interessen als solche hervortraten und erkannt wurden, und Gelegenheit bieten, daß die Vertreter dieser verschiedenen besonderen Interessen einander gegenüber traten, gleichzeitig aber [für sich, die Staatsverwaltung] die Vermittlung und, wenn nöthig, die Entscheidung selbst sichern." 63 Zu diesem Zweck richtete die Staatsverwaltung die Gewerberäte ein — die Plattform für den Konflikt zwischen Unternehmern und Handwerksmeistern. Sie hatten vor allem den Zweck, „den zahlreichen Vereinen, welche sich als berechtigte Vertreter des Handwerks betrachteten" und die gegen die Wirtschaftspolitik der Staatsverwaltung opponierten, „schnell und sicher ein Ende zu bereiten." 64 Sie strebte an, daß durch die Zusammensetzung der Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung im Wirtschaftsraum BerlinjBrandenburg ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 6: Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung), Berlin 1971. • 2 Handelsminister an die Reg. Potsdam, 2. 1. 1856, D Z A Merseburg, Rep. 120 BB VII 3 N r . 7. Vgl. audi die Entscheidung des Appellationsgerichts von 1850 zum Fall des Berliner Seidenfabrikanten A. Meyer, nach der „Jeder, der auch an und für sich die Erlaubnis zum selbständigen Gewerbebetrieb hat, wenn er für eine Fabrik mit den von dem Fabrikanten gelieferten Stoffen arbeitet, als Geselle oder Gehülfe, und nicht als selbständiger Meister, d. h. als solcher, der für eigene Rechnung und unter eigener Verantwortlichkeit ein Gewerbe betreibt, zu betrachten ist." {Berlinische Nachridjten, N r . 78 vom 5. 4. 1850.) , s Verwaltungsbericht des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten für die Jahre 1850, 1851 und 1852, StA Potsdam, Rep. 1 Nr. 377. 84 Handelsmin. an Außenmin., 3. 9.1853, D Z A Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 62 Bd. 3.
10
Kaelble, Berliner Unternehmer
146
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Gewerberäte „aus Abgeordneten des Handels-, Fabrikanten- und Handwerksstandes . . . einseitige Anträge und Beschwerden abgeschnitten" würden. 65 Eine solche begriffsgeschichtlidie Untersuchung birgt vor allem zwei Unsicherheiten in sich. Sie fußt einmal auf sozialhistorischem Material, das in zeitlicher Verspätung zu den konkreten sozialhistorischen Prozessen entstand oder zumindest entstanden sein kann; diese zeitliche Verspätung läßt sich mit begriffsgeschichtlichen Methoden nicht näher bestimmen. Außerdem sind Begriffe oft verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten unterworfen; ohne Verbund mit anderen sozialhistorischen Methoden bleiben daher begriffsgeschichtliche Analysen unsicher und angreifbar. Immerhin bietet diese Analyse zwei Ergebnisse, auch wenn diese vorerst als Arbeitshypothesen verstanden werden müssen. Erstens zeigt sie, daß während des Ansatzes der Industrialisierung in den vierziger Jahren der alte ständische Begriff des „Handelsstandes" als Bezeichnung f ü r Bankiers, Großkaufleute und Industrielle durch den Begriff des „Handels- und Industriestandes" und ähnliche Bezeichnungen abgelöst wurde. Dieser neue Begriff spiegelt die gewichtigere soziale und politische Position der Industriellen innerhalb der sozialen Gruppe der Unternehmer — auch ihre nun häufig nichtkaufmännischen Ausbildungsformen — ebenso wider wie die nun begrifflich auftretenden Differenzierungen zwischen Kaufleuten und Industriellen. Zweitens ergab sich, daß sich seit der Jahrhundertmitte, also nach dem Ansatz der Industrialisierung und zu einem Zeitpunkt, in dem die Fabrikarbeiter in Berlin auf rund 24 000 angewachsen waren, im Sprachgebrauch der Unternehmer Bezeichnungen sowohl für die eigene soziale Gruppe als auch für die Arbeiter entwickelten, die am Konflikt zwischen Unternehmer und Arbeiter orientiert waren und wenn auch nicht auf eine Klassengesellschaft, so doch auf ein Klassenbewußtsein schließen ließen.
Die
„Geldaristokratie"
Für die Untersuchung des sozialen Status der frühindustriellen Unternehmer müssen notwendigerweise neben der begriffsgeschichtlichen Analyse spezifisch sozialhistorische Methoden ergänzend verwandt werden. Angeregt vor allem durch die französische Sozialhistorie, wird zu diesem Zweck hier sozialer Status an vier Kriterien «5 Ebda.
Die
147
„Geldaristokratie"
gemessen: dem Schichtungsbild und der sozialen Selbsteinordnung der Unternehmer, der Einkommens- und Vermögensverteilung, der wirtschaftlichen Machtverteilung unter ihnen und schließlich ihrem Lebensstil im weiteren Sinn, worunter vor allem gesellschaftlicher Umgang mit Angehörigen anderer sozialer Schichten, Wohn- und Konsumverhalten, Berufswahl der Söhne, Verheiratung der Töchter verstanden wird. 66 Wendet man diese Kriterien an, heben sich besonders in der Zeit vor der Jahrhundertmitte zwei Gruppierungen von unterschiedlichem Status unter den Berliner Unternehmern ab: auf der einen Seite die sozial längst aufgestiegenen, führenden Bankiers und Großkaufleute, die „Geldaristokratie", und auf der anderen Seite vor allem sich selbst in die Mittelschicht einordnende Industrielle. Der Begriff der „Geldaristokratie", der sich schon während der vierziger Jahre unter den Berliner sozialkritischen Schriftstellern einbürgerte, läßt Zweifel daran aufkommen, ob die Jahre 1848/49 so gravierend für den wie auch immer gearteten „Aufstieg" der Berliner Unternehmer waren. Zwar blieb der Begriff der „Geldaristokratie" recht diffus, und es ist schwer zu entscheiden, an welche Unternehmer dabei neben den großen Bankiers gedacht war. Einerseits wurde darunter nur die „reiche Bourgeoisie", andererseits auch „der sogenannte Gewerbs-Adel, jene industrielle Aristokratie, die äußerlich noch irgend einem Gewerbszweig angehört", verstanden. 67 Ganz eindeutig wurde 66
Als anregende Beispiele französischer regionaler sozialhistorisdier Untersuchungen seien genannt: Georges Lefebvre, Etudes orleanaises, 2 Bde., Paris 1962 f.; Adeline Daumard, La bourgeoisie Parisienne..Georges Dupeux, Aspects de l'histoire sociale et politique du Loir-et-Cher 1848—1914, Paris La Haye 1962; Pierre Ayjoberry, Probleme der Sozialschichtung in Köln im Zeitalter der Frühindustrialisierung, in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme ..., S. 512—528; Franjois Bedarida, Londres au milieu du XIXe siecle: une analyse de structure sofiale, in: Annales 23 (1968), S. 268—295; vgl. zudem für das erste dieser vier Kriterien: Stanislaw Ossowski, Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein (= Soziologische Texte, Bd. 11), Neuwied 1962. In diesem Kapitel können zwei Probleme nicht verfolgt werden, die an sich zu einer Statusanalyse gehören: Erstens wird nur die Selbsteinschätzung der Unternehmer und nicht auch die Fremdeinschätzung durch Aristokratie und Bürokratie untersucht; Material, das speziell auf die Stellung der Berliner Unternehmer eingeht, war nicht zu erschließen. Bei dieser Frage wird man sich wohl auf eine Analyse der Fremdeinschätzung aller deutscher Unternehmer beschränken müssen, die für den hier angestrebten Zweck wiederum zu grob wäre. Zweitens wird im folgenden nur die wirtschaftliche Machtverteilung unter den Unternehmern untersucht; auf die Verteilung der politischen Macht kann erst im DRITTEN KAPITEL e i n g e g a n g e n w e r d e n .
" E. Dronke, Berlin ..., 10»
Bd. 1, S. 84; H . Bettziedi, Berlin ...,
S. 63 f.
148
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
jedoch die „Geldaristokratie" als eine Elite gefaßt, die „schon stark genug ist, offen um die Herrschaft in der Politik mit dem Adel zu kämpfen" 68 und die den Berliner Sozialkritikern schon vor 1848 so prägend erschien, daß sie von „der heutigen Epoche der Geldaristokratie oder aber der industriell-aristokratischen Epoche des Geldes" sprachen.69 Diese Herausbildung einer neuen Elite wurde jedoch während der vierziger Jahre nicht nur von Berliner Sozialkritikern beobachtet; auch J. G. Hoffmann, einer der einflußreichsten Beamten der Reformära, befürchtete damals, daß unter den gewerblichen Unternehmern „der Anspruch auf besondere Begünstigungen zur Erweiterung jener Madit und Herrschaft" immer mehr zunähme. 70 Schließlich haben auch wirtschaftlich weniger bedeutende Berliner Unternehmer auf diese neue Elite hingewiesen und sie bekämpft. Nach der Ansicht beispielsweise des Berliner Kaufmanns D. A. Benda über die „Geldaristokraten" konnte „es nicht mehr verwundern, wenn nächstens von hinter Geldsäcken gewaltig Tapfern die Anmuthung erfolgt: ihnen die Verteidigung der Festungen, die Einziehung und Verwaltung der Steuern, die Überwachung des Heers und endlich den Staat selbst zu überlassen." 71 Wenn man diesen Stimmen aus der Intelligenz, der Beamtenschaft und der Wirtschaft glauben will, so gehörte schon in den vierziger Jahren ein nicht näher bestimmter Teil der Unternehmer zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Führungsschicht. Haben die „Handels-Nobilitäten [das heißt die Reichen]", die „größeren Bankiers", wie ein anderer Berliner Unternehmer diese neue Elite präziser umschreibt,72 nun ihrem sozialen Bewußtsein nach den sozialen Aufstieg während der vierziger Jahre tatsächlich schon vollzogen? Einzelne Beispiele, die überliefert sind, weisen in diese Richtung. Im Bewußtsein des Ältesten der Berliner Kaufmannschaft, des früheren Bankiers und damaligen Zuckerindustriellen Kupfer, zerfiel die Gesellschaft der vierziger Jahre in eine „geringere Klasse" mit wenig Einkommen und zwei darüber stehende Klassen, die 68
E. Dronke, Berlin ..., Bd. 1, S. 84.
· · Th. Mündt, Der dritte Stand in Deutschland ..., S. 29. 70
J. G. Hoffmann, Die Befugnis zum Gewerbebetrieb den preussischen Staat, Berlin 1841, S. 380. 71 72
D. A. Benda, Die Zettelbank,
mit besonderer Rücksicht auf
in: Berlinische Nachrichten, Nr. 18 vom 22.1.1846.
L. I. Levinstein, Ein Beitrag zu den finanziellen Fragen der Gegenwart, Berlin 1847, S. 5 f.; Levinstein war Mitglied der kaufmännischen Korporation Berlins.
Die
149
„Geldaristokratie"
„Ackerbau treibende Klasse" und den „Handelsstand". 73 Er selbst rechnete sich dabei der oberen Schicht zu. Von einem „mittelständischen" Bewußtsein, das Schmieder den Berliner Unternehmern noch nach der Jahrhundertmitte zuschreibt, kann bei Kupfer schon Anfang der vierziger Jahre nicht mehr gesprochen werden; er glaubte sich ebenso wie andere große Berliner Bankiers und Älteste der kaufmännischen Korporation von dem „mittleren, nur von der Hände Arbeit lebenden und bei dem von Zeit zu Zeit auftretenden Mangel an Arbeit der drückenden Armuth und Noth verfallenden Theil der Bevölkerung" zu unterscheiden.74 Ebenso trennte Ende der vierziger Jahre der Bankier Wilhelm Beer, ebenfalls Ältester der Berliner kaufmännischen Korporation, zwischen der „dienenden Klasse" oder der „nicht besitzenden Klasse" einerseits, den der Oberschicht zugehörigen sozialen Gruppen andererseits, zu denen er den „Grundbesitz aller Art, Handel, Industrie und Gewerbe, so wie die Intelligenz" rechnete.75 Zur obersten Berliner Gesellschaftsschicht rechnete er „den reichen Adel, die höheren Beamten, die fremden Gesandten und die wohlhabenden Privatleute". Ähnlich wie Kupfer einige Jahre vorher besaß also auch Beer kein mittelständisches Bewußtsein; für ihn zerfiel die Gesellschaft ebenfalls in zwei Teile, zu deren oberen Teil er sich rechnete. Dieses dichotomisch angelegte Schichtungsbild prägte sich bei Beer während der Jahre 1848 und 1849 in zunehmendem Maße aus. Bis zum August 1848 hob sich in seinem Schichtungsbild innerhalb der Unterschicht, der „nicht besitzenden Klasse", immerhin noch eine „unterste Klasse", die der Tagelöhner ab, auch wenn es für ihn keine Mittelschicht wie für Kupfer mehr gab. 76 Diese Differenzierung innerhalb der Unterschicht gab er im November auf, nachdem sich die Arbeiter in Berlin zuneh-
73
J . C. H . Kupfer, Sendschreiben
71
Immediateingabe des Comites der projektierten Hypothekenanstalt,
an einen Gutsbesitzer
...,
S. 58. 8.5.1845,
D Z A Merseburg, Rep. 95 N r . 75. Neben Kupfer signierten die Korporationsältesten und Bankiers Breest und Gelpcke diese Eingabe. Audi noch zwei Jahre später ordnete Kupfer in seinem Schichtungsbild die „Fabrik-Industrie"
über dem
Thum" und dem „Mittel-Stand" ein (J. C . H . Kupfer, Referat der Differential-Zölle..., Bevölkerung, denburg
„Proletarier-
über die Frage
S. 2 9 ) ; vgl. zudem Eberhard Schmieder, Wirtschaft
in: Hans Herzfeld/Gerd Heinridi (Hrsg.), Berlin und die Provinz
im 19. und 20. Jahrhundert
wegen und Bran-
( = Veröffentlichungen der Historischen Kom-
mission zu Berlin, Bd. 2 5 : Gesdiidite von Brandenburg und Berlin, Bd. 3), Berlin 1968, S. 316 f. 75
Wilhelm Beer, Das
allgemeine
wendet, in: Berlinische Nachrichten "
7
Ebda.
Wahlrecht
auf
die
Gemeindevorstände
vom 23. 8 . 1 8 4 8 , 2. Beilage.
ange-
150
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
mend organisiert hatten und der Berliner Arbeiterkongreß stattgefunden hatte. 77 Später traten auch die Differenzierungen in der Oberschicht des Beerschen Schichtungsbildes zurück: Die „Besitzenden" und die von ihnen abhängigen „arbeitenden Klassen" standen sich nun in voll entwickelter Dichotomie gegenüber.78 Diese dichotomische Anlage blieb auch in den Jahren danach in den Schichtungsbildern der Korporationsältesten Kupfer und Carl erhalten. Die Abhängigkeit der Unterschicht von der Oberschicht, Grundmerkmal der Dichotomie, wurde allerdings nicht mehr so deutlich. Kupfer unterschied zwischen „Besitzenden" und „Besitzlosen". Carl variierte kurz hintereinander in einer Parlamentsrede zwischen „unbemittelten Klassen", „arbeitenden Klassen" und „nicht besitzenden Klassen". 79 Carl hob zudem die verschiedenen Gruppen innerhalb der Oberschicht wieder deutlich heraus: „Überhaupt sollten die Kräfte des Landes: die Landwirtschaft, die Industrie, der Handel und das Kapital sich zu einer gemeinsamen Macht vereinigen." 80 Diese Beispiele zeigen, daß ein noch nicht näher umschriebener Teil der Berliner Unternehmer kein mittelständisches Bewußtsein besaß, sondern sich — soweit überhaupt ein Bestandteil seines Schichtungsbilds — in seiner Selbsteinschätzung aus dem Mittelstand der damaligen Gesellschaft heraushob und der Oberschicht des eigenen Schichtungsbilds zurechnete. Grundsätzlich war dieses Schichtungsbild dichotomisch angelegt; nur auf dem Höhepunkt des Konflikts mit der Arbeiterschaft wirkte sich diese Dichotomie allerdings voll aus. Entscheidend an diesen Beispielen ist, daß diese Berliner Unternehmer die Oberschicht ihres Schichtungsbilds nicht wiederum nach sozialen Rängen, sondern nach ökonomischen Funktionen, „Ackerbau, Industrie und Handel" gliederten.81 Soweit sich dies aus einem Schichtungsbild erkennen läßt, dürfte also in ihrem gesellschaftlichen Bewußtsein die Nebeneinanderordnung nach ökonomischen Funktionen ihre Stellung in der Oberschicht der damaligen Gesellschaft stärker geprägt haben als die Unterordnung nach feudalen und höfischen Rängen. 77
W. Beer, Ueber den Grundbesitz . . , in: Berlinische Nachrichten vom 3.11. 1848. Wilhelm Beer, Die politische Seite der Einkommensteuer und ihre praktische Wirkung, in: Berlinische Nachrichten vom 19. 9.1849. 7 ® Kupfer, Sten. Ber. über Verhandlungen der Ersten (preuß.) Kammer, 1849, Bd. 1, S. 222; Carl, a.a.O., Bd. 4, S. 2916; zum dichotomisdien Schema vgl. St. Ossowski, Klassenstruktur ..., S. 33. 80 Sten. Ber. (preuß.) Abgeordnetenhaus, 1856/57, S. 619. 81 H. C. Carl, Deutschland's Zolleinigung ..., S. 5. 78
Die
„Geldaristokratie"
151
Diese Beispiele zeigen darüber hinaus, daß sich diese Unternehmer in ihr eigenes Schichtungsbild während der vierziger Jahre nicht wesentlich anders einordneten als in den fünfziger Jahren; von einem „Aufstieg" kann also bei ihnen — ausgehend von der sozialen Selbsteinschätzung — in dieser Zeit nicht gesprochen werden. Auch die Grundkategorie ihres Schichtungsbilds veränderte sich nicht entscheidend. Dominierend blieben für sie die Besitzunterschiede gegenüber den „besitzlosen Klassen". Ihre Herrschaftschancen gegenüber den „dienenden Klassen", den „arbeitenden Klassen", waren bei ihnen demgegenüber zweitrangig. Diese grundsätzlichen Klassenunterschiede scheinen für sie Naturgegebenheiten gewesen zu sein. So war Kupfer „ein Feind des meines Erachtens mit Recht verrufenen Wortes Egalite . . . Ich glaube, die Nationen, die danach streben, handeln thöricht, weil sie etwas Unmögliches erreichen wollen. Die geistige Verschiedenheit der Menschen m u ß Verschiedenheit des Vermögens, der äußeren Lage und der bürgerlichen Stellung herbeiführen. Wenn Keiner um einen Kopf größer sein soll als der Andere, so führt das zuletzt zur Theorie des Kopfabschlagens." 82 Es gab Versuche, diese Besitzunterschiede abzumildern; sie gingen jedoch nicht so weit, diese gesellschaftliche Dichotomie auflösen zu wollen. Zwar sah es Kupfer gerade als einen Vorzug der Gewerbefreiheit an, daß sie „zur gleichmäßigeren Verteilung der Reichtümer beiträgt"; als Fall ungleichmäßiger Vermögensverteilung hatte er dabei allerdings die monopolistischen und oligopolistischen Privilegien der merkantilistischen Epoche im Auge. „Für das Ganze ist es nützlich, daß ich nicht so viel gewinne, als wenn die Zahl meiner Gewerbegenossen beschränkt wäre, es ist nützlich, daß sich der Gewinn unter Mehrere verteilt." Gerade für die untere Klasse seines sozialen Schichtungsbildes sah er dagegen den Vorteil der Gewerbefreiheit nicht in Vermögenszuwachs oder verbesserten Aufstiegsmöglichkeiten, sondern nur darin, zu verhindern, „daß Lebensmittel und Kleidungsstücke für das Volk theurer gemacht werden." 83 Ähnlich kritisierte der Korporationsälteste Beer die Gewinnmaximierung der besitzenden Klasse nur dann, wenn dadurch der Lebensstandard der besitzlosen Klasse gesenkt wurde: „Teufeleien aber nenne ich wohl mit Recht ein Beginnen, wodurch reiche Leute, um noch reicher zu werden, ihren armen Mitbürgern die nothwendigsten Lebens-Bedürfnisse, Brod 82 83
Sten. Ber. Erste (preuß.) Kammer, 1849/50, Bd. 3, S. 1522.
Kupfer, Sten. Ber. über die Verhandlungen 1849/50, Bd. 4, S. 2280.
der Ersten
(preuß.)
Kammer,
152
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
und Fleisch, so vertheuern, daß sie es sich gar nicht oder nur in geringem Maaße verschaffen können." 84 Die Chancen des Aufstiegs aus den besitzlosen Klassen waren aus dem Blickwinkel dieser Unternehmer gering. Möglichkeiten zur „Spekulation", zur Gewinnmaximierung, besaßen nur die oberen Klassen ihres Schichtungsbildes. Negativ beurteilte Gewinnmaximierung, „Schwindel", war nach Ansicht Beers „nichts Anderes als Speculation der Unbemittelten." 85 Die Unabänderlichkeit, die die Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern den sozialen Rangunterschieden beimaß, führte zu sozialpolitischen Aktivitäten, die ausschließlich extreme Verschlechterungen im Lebensstandard der Unterschichten zu mildern versuchten. Naturkatastrophen und wirtschaftlichen Krisenhöhepunkten begegneten sie mit kurzfristigen und punktuellen karitativen Maßnahmen. Sei es nun die Brandkatastrophe in Hamburg 1842, die Überschwemmung in West- und Ostpreußen 1844, die Lebensmittelverteuerung in Berlin 1847, die Kapital Verknappung im Berliner handwerklichen und kaufmännischen Mittelstand 1848 oder die Mißernte in Westpreußen 1860 — in den karitativen Organisationen, die aus diesen Anlässen in Berlin gegründet wurden, engagierten sich unter den Berliner Unternehmern vor allem führende Bankiers und Älteste der kaufmännischen Korporation. 86 Dagegen fehlte gerade diese Schicht der Berliner Unternehmer in Organisationen, die auf langfristige Veränderungen des Kreditsystems, der industriellen Betriebsorganisation oder des Wertsystems 84
W. Beer, Die Gefahren der Differential-Zölle ..., S. 48. Es fragt sich allerdings, ob auch nicht diese Kritik verbal blieb, da Beer selbst sich gegen die Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer wandte (Wilhelm Beer, Ueber Besteuerungs-Grundsätze, in: Berlinische Nachrichten vom 10. 8.1848). 85 86
W. Beer, Bemerkungen
über Zettelbanken
...,
S. 18.
Neben Angehörigen anderer sozialer Gruppen saßen im „Comite des Unterstützungs-Vereins für die Abgebrannten zu Hamburg" (1842) und im „Vorstand des Central-Vereins zur Unterstützung der durch Überschwemmung verunglückten Gegenden in West- und Ostpreußen" (1844) von Unternehmern die Korporationsältesten Baudouin, Holfelder, Gaertner, J. Mendelssohn, dessen Sohn, A. Mendelssohn, die Bankiers Brüstlein (Bankhaus Schickler) und Magnus (Berlinische Nachrichten, Nr. 118 vom 25. 5 . 1 8 4 2 ; a. a. O., Nr. 220 vom 19.9. 1844). Auf die Unruhen während der sog. Kartoffelrevolution in Berlin 1847 reagierten die Korporationsältesten damit, daß sie für 13 000 Taler Reis kauften und billig weitergaben (α. α. Ο., Nr. 110 vom 1 4 . 5 . 1 8 4 7 ) . Dem „Frauen-Verein zur Abhülfe der N o t h unter den kleinen Fabrikanten und Handwerkern" 1848 gehörten die Frauen der Korporationsältesten und Bankiers Beer und Mendelssohn, des Bankiers Magnus und des Maschinenindustriellen Borsig an {a.a.O., Nr. 84 vom 2 6 . 4 . 1 8 4 8 ) ; die Berliner Unternehmer, die seit 1853 die „Wasch- und Badeanstalt", eine Fürsorgeanstalt in Form einer
Die
»Geldaristokratie"
153
der Industriearbeiter hinarbeiteten und von anderen sozialen Schichtungs- und Entwicklungsbildern ausgingen.87 Der Grund für diese traditionelle sozialpolitische Haltung dürfte weniger in der Übernahme staatlicher Verhaltensregeln zu suchen sein. Zwar unterstützte die Staatsverwaltung — wie sich bei den Kriterien für die Titelverleihung zeigt — die Reduzierung der Sozialpolitik auf karitative Maßnahmen, andere Berliner Unternehmer jedoch, die sich ihrem sozialen Selbstverständnis nach zumindest während der vierziger Jahre dem Mittelstand zurechneten und dem Einfluß staatlicher Verhaltensregeln in gleichem Ausmaß ausgesetzt waren, wählten andere sozialpolitische Wege, die in einer Kritik gipfeln konnten, nach der „das Almosengeben... das öffentliche Geben einen großen moralischen Nachtheil für die Menschheit hat." 88 Entscheidend für die unterschiedliche sozialpolitische Haltung dürfte der unterschiedliche Druck gewesen sein, den die Arbeiterschaft auf die Berliner Unternehmer auszuüben vermochte. Die rein karitativen Maßnahmen konnten in der Arbeiterschaft auf Ablehnung treffen. Als beispielsweise die Berliner Kattunfabrikanten 1848 vorschlugen, arbeitslose Kattundrucker mit einer finanziellen Beihilfe der Unternehmer zu unterstützen, lehnten die Kattundrucker „entschieden ab, da es den Druckern nicht auf ein Almosen, welches ohnehin nicht reichen werde, sondern auf dauernde und lohnende Beschäftigung ankomme." 89 Gerade die führenden Bankiers Berlins standen weder solchem Interessendruck der Industriearbeiter so direkt gegenüber, noch verfügten sie über die Beobachtungsnähe zu den Mittel- und Unterschichten wie die sich mittelständisch verstehenden Unternehmer. 90 Aktiengesellschaft, anregten, waren „unsere ersten Bankiers", die Korporationsältesten Carl, Mendelssohn, dessen Schwiegersohn Warschauer, die Bankiers Oppenfeld, Magnus, Brüstlein und der Eisengroßhändler Raveni (a. a. Ο., Nr. 91 vom 20. 4. 1853); im „Οοπώέ zur Hülfe für 3000 nahrungslose Familien des nördlichen Teils des Schlochauer Kreises der Provinz Westpreußen" arbeiteten neben Angehörigen anderer sozialer Gruppen von den Unternehmern die Geheimen Kommerzienräte Brüstlein, Ermeler und Prätorius, die Kommerzienräte F. W. Krause und Reichenheim, der inzwischen nobilitierte Bankier Magnus und der Konsul und Bankier Wagener mit («. a. O., Nr. 62 vom 13. 3. 1860). 87 Vgl. den folgenden Abschnitt. 88 Berliner Kaufmann Julius Landmann an den Handelsmin., 9.4.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 C VIII 1 Nr. 25 Bd. 2. 8 · Sitzungsprot. der Kommission zur Schlichtung zwischen Kattunfabrikanten und Kattundruckern, 7.11.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 D VIII 2 Nr. 21. 80 Bezeichnenderweise hat sich der Korporationsvorsteher Carl, der Textilindustrieller war, von den traditionellen Formen der Sozialpolitik zumindest verbal
154
11. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Nicht nur an Hand des Schichtungsbilds und der sozialen Selbsteinordnung der Unternehmer läßt sich feststellen, daß schon während der vierziger Jahre unter den Berliner Unternehmern eine sozial bereits aufgestiegene Schicht existierte. In dieselbe Richtung weist die wirtschaftliche Machtverteilung; audi und besonders in den wirtschaftlichen und wirtschaftsbezogenen Organisationen Berlins hob sich diese Schicht schon vor der Jahrhundertmitte ab. Der Angelpunkt für die ökonomische und soziale Vorrangstellung dieser Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern war schon in den vierziger Jahren das Ältestengremium der kaufmännischen Korporation. Die Machtstellung dieses Gremiums war durch eine geringe Fluktuation der Ältesten und durch faktische Koopation neuer Mitglieder abgeschirmt.91 Für ihr Verhältnis zu den einfachen Mitgliedern der Korporation galt zudem die Regel, „daß die Aeltesten, in ihren Anträgen, bei der Behörde nur ihre, nicht der Versammlung, Meinungen bevorworten würde und eine Abstimmung [in der Versammlung der einfachen Korporationsmitglieder] daher keinen weiteren Einfluß üben könne."92 Aus und von diesem Gremium wurden die Kommissarien der Berliner Börse gewählt; dadurch erhielt die Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern schon während der vierziger Jahre erheblichen Einfluß auf den Aktienmarkt. „Der Kern der Berliner Handelswelt — die sämtlichen ersten Bankhäuser und alten renommierten Geschäftsfirmen — " wurden daher als „die eigentlichen Repräsentanten der Börse von Berlin" betrachtet.93 Neben dem Einfluß auf die Börse sicherte die enge personelle Verflechtung zwischen Ältestengremium und den Direktorien und Verwaltungsräten der Eisenbahngesellschaften die ökonomische Vorrangstellung dieser unternehmerischen Elite weiter ab. Schon während der dreißiger Jahre war sie zum Träger der für die frühe Industrialisierung Berlins entscheidenden Innovation, des Eisenbahnbaus geworden. Auf eine Anregung Friedrich Lists hin hat schon 1835 eine Gruppe von Berliner Bankiers auf den Aufbau eines von Berlin ausgehenden Eisendistanziert: „Überhaupt wollen wir den Arbeiter nicht zum Almosenempfänger erniedrigen, wir wollen ihn auf seine eigene Kraft hinweisen". (Sten. Ber. [Preuß.J M
Kammer,
V g l . DRITTES KAPITEL.
Joseph Mendelssohn, Vorsteher der Nachrichten, Nr. 96 vom 26.4. 1845. Er kaufmännischen Koporation (vgl. Die Berlin ...,S. 621). M Ludwig Lesser, Zur Geschichte der Handels, Berlin 1844, S. 29. M
Erste
1849/50, Bd. 4, S. 2235). kaufmännischen Korporation, Berlinische stützte sidi dabei auf die Statuten der Korporation der Kaufmannschaft von Berliner
Börse
und des
Eisenbahnaktien-
Die
„Geldaristokratie"
155
b a h n n e t z e s g e d r ä n g t . U n t e r ihnen b e f a n d e n sich
Korporationsälteste
wie die B a n k i e r s J . Mendelssohn, C . W . J . Schultze, F . G . v o n H a l l e , die schon 1 8 2 0 als Ä l t e s t e die k a u f m ä n n i s c h e K o r p o r a t i o n
mitbegründet
h a t t e n u n d d a h e r schon d a m a l s z u r gewerblichen Führungsschicht B e r lins gerechnet w e r d e n k o n n t e n . E b e n s o gehörten alte Berliner
Bank-
u n d H a n d e l s h ä u s e r w i e Schickler, F e t s c h o w , O p p e n h e i m , Keibel, B e n d e m a n n zu diesen I n i t i a t o r e n des Berliner E i s e n b a h n b a u s . 9 4 Zahlreiche Korporationsälteste
und
führende
Berliner
Bankiers
besaßen
dann
w ä h r e n d d e r v i e r z i g e r J a h r e Ä m t e r in den Aufsichts- u n d E x e k u t i v gremien, die die Eisenbahnlinien v o n Berlin nach Sachsen,
Schlesien,
a n die Ostsee- u n d N o r d s e e k ü s t e p r o j e k t i e r t e n , b a u t e n u n d v e r w a l t e ten.
Diese
personellen
Verflechtungen
zeigt
folgende
Zusammen-
stellung: TABELLE 18 Berliner
Unternehmer
und die Besetzung
Organisationen Wirtschaftliche Organisationen
Insgesamt
wirtschaftlichen
Jahre95
In Kontrollgremien wirtschaftlicher Organisationen saßen: Berliner Unternehmer
Eisenbahngesellschaften Versicherungsgesellsdiaften Bankgesellschaften
der Ämter in
der vierziger
darunter: Korporationsälteste
führende Bankiers außerhalb des Ältestengremiums
82 4 18
28 2 7
22 — 7
104
37
29
'* Immediateingabe, 12.6.1835, DZA Merseburg, Rep. 77 Tit. 258 a Nr. 2 Bd. 1; zu den Gründungsältesten: Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin..., S. 658; Wahl der Börsenkommissarien: vgl. Stadtarchiv Berlin, Κ 563. *5 Diese Zusammenstellung beruht auf Mitgliederlisten von Aufsichts- und Verwaltungsgremien der Berlin-Hamburgischen Eisenbahn (Berlinische Nachrichten vom 15. 2.1841 und 3.10.1843), der Berlin-Potsdamer Eisenbahn (α. α. Ο., vom 4 . 1 . 1 8 3 8 , 30.3.1841, 29.4.1843 und 1.4.1845), der Berlin-Frankfurter Eisenbahn (a.a.O., vom 15.7.1840 und 17.4.1844), der Berlin-Stettiner Eisenbahn (a.a.O., vom 19. 3.1840 und 5. 6. 1846), der Berlin-Anhaltisdien Eisenbahn (a. a. O., vom 7.10. 1840, 6. 8.1842, 5 . 1 . 1 8 4 4 und 6.11.1846), der Berlinischen Lebensversicherungsgesellschaft (a.a.O., vom 2 1 . 4 . 1 8 4 3 , 13.5.1846 und 1.6.1848), der Preußischen Rentenversicherungsanstalt (Adreßkalender ... auf das Jahr 1841..., S. 410) und
156
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Schon während der vierziger Jahre kontrollierten also die Berliner Korporationsältesten rund ein Drittel der den Unternehmern zur Verfügung stehenden Ämter wirtschaftlicher Organisationen; zusammen mit den führenden Bankiers außerhalb des Ältestengremiums verfügten sie sogar über zwei Drittel dieser Ämter. Es ist daher nicht erstaunlich, daß diese Führungsschicht der Berliner Unternehmer — im Gegensatz zu den anderen, sozial weit gestreuten Eisenbahnaktionären — die Börsenkrisen der vierziger Jahre ohne finanzielle Verluste überstanden. 96 Ebenso wenig, wie sich während der vierziger Jahre eine abrupte Ablösung der gewerblichen Führungsschicht Berlins erkennen läßt, vollzog sich ein derartiger Wandel während der fünfziger und sechziger Jahre. Das Einflußinstrument, das sich diese Führungsschicht in der kaufmännischen Korporation geschaffen hatte, blieb fast unverändert erhalten. Die Fluktuation im Ältestengremium nahm kaum zu. Versuche der Korporationsmitglieder, die Exklusivität des Ältestengremiums aufzubrechen, hatten fast keine Erfolge. 97 Damit blieb die Kontrolle über die Börse erhalten. Auch die personellen Verflechtungen zwischen dem Ältestengremium und den Direktorien und Verwaltungsräten von Eisenbahngesellschaften blieben bestehen. Hinzu kam eine wachsende Zahl von personellen Querverbindungen zu Versicherungsgesellschaften, zu Kreditunternehmen und -projekten und zu den Aufsichtsräten großer industrieller Aktiengesellschaften. Dies zeigt TABELLE 1 9 . Unter den Kontrollposten, die in diesen wirtschaftlichen Organisationen von Berliner Unternehmern eingenommen wurden, hatten die Ältesten der kaufmännischen Korporation auch während der fünfziger und sechziger Jahre einen Anteil von rund einem Drittel inne. Zusammen mit anderen führenden Bankiers, die der begrenzten Zahl von Sitzen wegen nicht alle dem Ältestengremium angehören konnten, besaßen die Ältesten rund zwei Drittel dieser Kontrollposten. 98 Nicht
des Berliner Kassen-Vereins (H. Rachel/P. Wallidi, Berliner Großkaufleute..., S. 298). War einer der Berliner Unternehmer Mitglied mehrerer dieser Gremien, so ist er in dieser Zusammenstellung auch mehrere Male aufgenommen worden; nur der Wechsel zwischen Gremien derselben Gesellschaft wurde nicht berücksichtigt. M L. Lesser, Zur Geschichte der Berliner Börse ..., S. 16, 29. 87
98
V g l . DRITTES KAPITEL.
Hierzu wurden folgende gerechnet: die nobilitierten Bankiers Oppenfeld und Magnus, die Vertreter des Bankhauses Schickler, Brüstlein und Zwicker, die Vertreter des Bankhauses Anhalt & Wagner, Wagner und Brook, außerdem die Bankiers Al. Meyer, Krause, Güterbock und Engelhard. Nach den Angaben auf S. 157, Anm. 99.
Die
„Geldaristokratie"
157
TABELLE 1 9
Berliner Unternehmer und die Besetzung der Ämter in wirtschaftlichen Organisationen der fünfziger und sechziger Jahre99 Wirtschaftliche Organisationen
In Kontrollgremien wirtschaftlicher Organisationen saßen: Berliner Unternehmer
Eisenbahngesellschaften Versicherungsgesellschaften Bankunternehmen und -projekte Industrielle Aktiengesellschaften Insgesamt
darunter: Korporationsälteste
führende Bankiers außerhalb des Ältestengremiums
30 13 73 5
9 8 28 3
8 1 24
121
48
33
—
nur also durch ein bestimmtes Schichtungsbild und eine
spezifische
sozialpolitische A k t i v i t ä t , sondern auch durch eine weitgehend in ihrer H a n d konzentrierte Kontrolle über die Berliner Börse und über die Berliner Eisenbahn-, Versicherungs-, K r e d i t - und industriellen Aktiengesellschaften hob sich diese Führungsschidit v o n den übrigen Berliner U n t e r n e h m e r n ab. Die dritte Kategorie, mit der der soziale Status der frühindustriellen U n t e r n e h m e r beschrieben werden sollte, ist neben dem sozialen Schicii-
99 Zusammengestellt für die Eisenbahngesellschaften (Ausschuß der Berlin-Hamburger Eisenbahngesellschaft, Verwaltungsrat und Direktion der Berlin-Anhaltischen Eisenbahngesellschaft) nach: Adreßkalender... auf das Jahr 1850 ff.; für die Versicherungen (Direktorien der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt und der Berlinischen Lebensversicherungs-Gesellsdiaft, Verwaltungsrat der Deutschen Feuerversidierungs-Anstalt) nach: ebda.; für die Bankunternehmen und -projekte: Die Bank des Berliner Kassen-Vereins 1850—1900, Berlin-Leipzig 1900, S. 63 ff.; Die Diskonto-Gesellschaft 1851 bis 1901. Denkschrift zum 50jährigen Jubiläum, Berlin 1901, S. 263 ff.; Prot. d. Beratg. d. provisorischen Komites d. preuß. Kreditinstituts, 12.2.1856, DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 2 Nr. 6; Immediateingabe d. provisor. Komites d. preuß. Hypothekengesellsdiaft, 24. 3.1863, DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 1 Nr. 11 Bd. 2; Die Berliner Handels-Gesellschaft in einem Jahrhundert deutscher Wirtschaft 1856—1956, Berlin o. J., S. 277 ff.; für die industriellen Aktiengesellschaften nach: ßer/iw'ic&e Nachrichten, Nr. 82 vom 5. 4.1860, (Actiengesellsdiaft für Eisenbahnbedarf); StA Potsdam, Rep. 2 Α Reg. Ptsd. Abt. I Nr. 3725 (Berliner Kammgarn-Spinnerei-Actien-Gesellsdiaft).
II. Der soziale Status der Berliner
158
Unternehmer
tungsbild und der sozialen Selbsteinschätzung, neben der wirtschaftlichen Machtverteilung die Vermögensverteilung. Allerdings stehen dazu nur Daten aus den sechziger Jahren zur Verfügung. Immerhin weisen sie in die gleiche Richtung wie Schichtungsbild und wirtschaftliche Machtverteilung: TABELLE 2 0
Vermögensverteilung bei frühindustriellen Unternehmern Berlins 1860 bis 1873™ Vermögensgruppen
Industrielle
Kaufleute
Bankiers
Unternehmer
(in Tausend Taler)
(in °/o)
(in o/o)
(in o/o)
insgesamt (in °/o)
bis 99
22
18
—
17
100—249
29
38
15
28
250—499
20
25
54
28
500—999
14
6
8
11
1000 und m e h r
14
13
23
16
100
100
100
100
35
16
13
64
Zahl der Fälle
Diese Zusammenstellung zeigt, daß in den unteren Vermögensgruppen sich vor allem Industrielle und Kaufleute finden. Unter der Grenze von einer Viertel Million Taler blieb das Vermögen ungefähr jedes zweiten Industriellen und jedes zweiten Kaufmanns, dagegen nur ungefähr jedes sechsten Bankiers dieser Auswahl. Der Anteil der Millionäre war unter den Bankiers fast doppelt so hoch wie unter den Kaufleuten und Industriellen. Dieses relativ starke Gewicht der Bankiers in den obersten Vermögensgruppen der Unternehmer scheint kennzeichnend für das frühindustrielle Berlin insgesamt gewesen zu sein. „Die glänzendsten Vermögensumstände", stellte schon 1830 Helling fest, „zeigen hier ganz vorzugsweise die Bankiers." 1 0 1 Nur einige Kaufleute und Industrielle besaßen damals ähnliche Vermögen. Allerdings entloa
Zusammengestellt
nach den unter
TABELLE 1 angegebenen
Materialien.
Im
Gegensatz zu den übrigen Tabellen fußt diese Zusammenstellung fast ausschließlich auf Akten, die im Zusammenhang mit Titelverleihungen angelegt wurden.
Darin
wird vor allem über die vermögendsten Unternehmer berichtet. Deshalb läßt diese Zusammenstellung zwar einen Vergleich zwischen Unternehmern verschiedener W i r t schaftssektoren, nicht aber einen Vergleich mit anderen sozialen Gruppen zu. 101
J . G. A . Ludwig Helling, A r t . Vermögensumstände
Geschicbtlich-statistisch-topographisches
Taschenbuch
der
von Berlin,
Einwohner,
in: ders.,
Berlin 1830, S. 4 2 5 .
Die
„Geldaristokratie"
159
wickelte sich in Berlin kein „Patriziat", keine Gruppe von ineinanderverfloditenen Familien, aus denen diese oberste Vermögensgruppe während der gesamten Frühindustrialisierung bestand. Die Fluktation in dieser — gemessen am Vermögen — obersten Schicht der Berliner Unternehmer war relativ groß. Unter den genauer bekannten Millionären der sechziger Jahre war nur der Bankier Alexander Mendelssohn Inhaber eines Bankhauses, das schon 1830 zu den traditionell führenden Unternehmen dieses Wirtschaftszweiges gehörte. Carl Gustav Brüstlein, in den sechziger Jahren ein anderer Millionär unter den Bankiers, hatte 1830 gerade erst die Leitung des Bankhauses Schickler übernommen. Friedrich Wilhelm Krause, in den sechziger Jahren Bankier, Weingroßhändler, Besitzer einer Geschirrfabrik, einer Maschinenfabrik und eines Bergwerks, dürfte sich 1830 noch im Startstadium als Weingrossist befunden haben. Erst danach weitete er seinen Betrieb in den Banksektor und in die Produktion aus. Carl Justus Heckmanns Betrieb, in dem anfangs Apparate für Destillation und Zuckerfabriken gebaut wurden, wird damals das handwerkliche Startstadium nodi nicht verlassen haben. Die eigentliche Expansion begann erst im darauffolgenden Jahrzehnt. Er besaß in den sechziger Jahren einige Metallhütten, Metallwarenfabriken, Zuckerfabriken und Güter; am Ende seiner Unternehmerlaufbahn zog er sich ins Bankgeschäft zurück. Die Maschinenfabrik August Borsigs war 1830 noch gar nicht entstanden; dessen Vater, der Firmengründer, war damals noch Werkmeister in der Maschinenfabrik Egells'. Karl Joseph Alois Gilka, in den sechziger Jahren ebenfalls einer der Millionäre unter den Berliner Unternehmern, befand sich 1830 noch in der kaufmännischen Ausbildung und gründete erst um 1840 seine Sprit- und Liqueurfabrik. Die Brüder Gerson müssen sich damals ebenfalls noch in der Ausbildung befunden haben; sie gründeten ihr Konfektionsgeschäft erst 1836.102 Die überwiegende Zahl der Millionäre unter den Unternehmern der sechziger Jahre befand sich also 1836 noch am Anfang ihrer Unternehmerlaufbahn; nur wenige stammten von Angehörigen der Füh102 Vgl. zu Mendelssohn: H . Rachel/P. Wallidi, Berliner Großkaufleute . . . , S. 98 ff.; zu Brüstlein: Berliner Polizeipräs, an Handelsminister, 1 1 . 1 2 . 1 8 5 3 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 4; zu Krause: Preußisches Bankdirektorium an Handelsminister, 1 . 1 2 . 1 8 6 6 , Rep. 120 A IV 5 Bd. 9; zu Heckmann: Handelsminister immediat, 18.11.1869, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 11; P. Hirschfeld, Berlins Großindustrie ... Bd. 1, S. 19; zu Gilka: Conrad, Vorsteher der Berliner kaufmännischen Korporation, an Handelsmin., 21. 7.1867, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 9; Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 7 . 9 . 1 8 6 0 , a. a. O., Bd. 7.
II. Der soziale Status der Berliner Unternehmer
160
rungsschicht der Berliner Unternehmer ab. Diese Fälle lassen zudem — ebenso wie die obige Zusammenstellung — vermuten, daß die Industriellen während der sechziger Jahre ein erheblich stärkeres Gewicht unter den Millionären besaßen als 1830. Anders als die Vermögen lassen die Jahreseinkommen darauf schließen, welche wirtschaftliche Stellung die frühindustriellen Unternehmer innerhalb der Berliner Gesellschaft besaßen. Allerdings stehen auch hierfür nur Daten aus den sechziger Jahren zur Verfügung, die in der folgenden Tabelle zusammengestellt sind. TABELLE 2 0 a
Verteilung von Berliner Unternehmern innerhalb der Einkommensgruppen Berlins 1860 bis 18701020
oberen
Versteuertes Jahreseinkommen (in Tausend Talern)
Mitglieder der Berliner Einkommensgruppen (1865)
Berliner U n t e r n e h m e r in den Einkommensgruppen
bis 4 5— 9 10—49 50 und m e h r
10 1 8 0 857 394 22
4 11 25 12
Insgesamt
11 453
52
Diese Zusammenstellung zeigt, daß die Führungsschicht der Berliner Unternehmer schon in den sechziger Jahren eine sehr hohe Position in der Berliner Einkommenskala besaß. Nur der kleinere Teil der reichsten Unternehmer ist in dieser Zusammenstellung erfaßt; man kann daher vermuten, daß die Spitze der Berliner Einkommenspyramide weitgehend von Unternehmern eingenommen wurde und in den oberen Einkommensrängen die Unternehmer sehr zahlreich waren. Neben Vermögen und Einkommen hob sich diese Führungsschicht der Berliner Unternehmer teilweise auch durch ihren Lebensstil im weiteren Sinn von den übrigen Berliner Unternehmern ab. Dazu geιο2α D ; e s e Tabelle stützt sidi ausschließlich auf die bereits häufig zitierten Titelakten des preußischen Handelsministeriums. Daher können diese Daten nidit als repräsentativ für sämtliche Berliner Unternehmer betraditet werden; sie geben nur ein Bild von der Einkommenslage der Führungsschicht. Auch diese Berliner Unternehmer tauchen allerdings nur zum kleineren Teil in dieser Tabelle auf. Auch die Mehrzahl der oben erwähnten Millionäre fehlt.
Die
„Geldaristokratie"
161
hörte der Kontakt mit den Angehörigen anderer Gruppen der damaligen Oberschicht. Schon vor 1850 führte die geschilderte karitative Tätigkeit dieser Unternehmer — stärker als in Rheinland-Westfalen 103 — zu einer engeren Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer damaliger Führungsschichten. Schon während der vierziger Jahre traf diese Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern im „Comite des Unterstützungs-Vereins für die Abgebrannten zu Hamburg" mit Staatsministern, hohen Hof-, Kirchen- und Justizbeamten zusammen. Im „Vorstand des Central-Vereins zur Unterstützung der durch die Überschwemmung verunglückten Gegenden in West- und Ostpreußen" verkehrten sie ebenfalls mit hohen Staatsbeamten und Ministern. Kontakt zu derselben sozialen Schicht fanden ihre Ehefrauen im „FrauenVerein zur Abhülfe der Noth unter den kleinen Fabrikanten und Handwerkern". Zusammen mit hohen Beamten und Militärs gründeten sie schließlich 1860 ein Comite, das Hilfsmaßnahmen gegen eine Mißernte in Westpreußen organisierte. 104 Auch im Bereich der genannten wirtschaftlichen Organisationen arbeiteten diese Berliner Unternehmer ähnlich wie in den geschilderten karitativen Organisationen schon in den vierziger Jahren mit hohen Staatsbeamten und Militärs zusammen. In der Berlin-Hamburgischen und Berlin-Frankfurter Eisenbahngesellschaft verkehrten diese Unternehmer während der vierziger Jahre vor allem mit Generalstabsoffizieren und Hofadjutanten: in der Berlin-Anhaltischen Eisenbahngesellschaft, und in der Preußischen Rentenversicherungsanstalt trafen sie in dieser Zeit neben dem Leihamts- und Hauptbankdirektor vor allem auf Geheimräte. 105 Auch hier war es also — wenn auch nicht so deutlich wie bei den karitativen Organisationen — vor allem die Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern, die mit den höheren Staatsbeamten und Militärs in wirtschaftlichen Organisationen zusammenarbeitete und Eisenbahnund Versicherungsgesellschaften gemeinsam mit diesen verwaltete. 103 F. Zunkel, Beamtenschaft S. 274.
und Unternehmertum...,
in: Tradition
9 (1964),
Wie Anm. 86. 105 Vgl. d a z u Adreßkalender. .. auf das Jahr 1840 f f . In den Aufsichtsgremien der Berlin-Hamburgisdien und Berlin-Frankfurter Eisenbahngesellschaften saßen neben anderen Offizieren die Generalstabsmajore Oelridis und Moltke und Major Buddenbrock, Adjutant des Prinzen Adalbert v. Preußen (ebda.). In den Aufsichtsgremien der Berlin-Anhaltischen und Berlin-Potsdamer Eisenbahngesellschaften und der Preußischen Rentenversicherungsanstalt arbeiteten neben Räten aller Art Geheime Oberfinanz-, Oberregierungs- und Archivräte mit (ebda.). 104
11 Kaelble, Berliner Unternehmer
162
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Während diese wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Unternehmern, hohen Staatsbeamten und Offizieren in Rheinland-Westfalen erst in den fünfziger Jahren einsetzte, bestand sie in Berlin schon vor der Jahrhundertmitte. 106 Auch in einem anderen Bereich ihres Lebensstils, in den sozialen Konnexen, die diese Führungsschicht der Berliner Unternehmer über die Berufswahl ihrer Söhne und über die Verheiratung ihrer Töchter mit anderen sozialen Gruppen verband, hob sie sich ebenfalls sowohl vor als auch nach der Jahrhundertmitte von den übrigen Berliner Unternehmern ab. Dabei ist allerdings nur selten überliefert, welchen Beruf diejenigen Berliner Unternehmersöhne ergriffen, für die keine spätere Unternehmertätigkeit vorgesehen war. Immerhin ist nur von dem nobilitierten Berliner Bankiers F. M. Magnus und von den Großkaufleuten F. C. Krause und Α. H . Bendemann bekannt, daß sie ihre Söhne Gutsbesitzer werden ließen. Auch Beamtenkarrieren scheinen auf Söhne dieser Schicht beschränkt zu sein: Der Sohn des Bankiers und Generallandschaftsdirektors Borchard wurde Kammergerichtsreferendar; der Sohn des Bankiers Α. H . Heymann studierte Jura und dürfte ebenfalls Staatsbeamter geworden sein. Schließlich sind audi musische Berufe nur aus dem Umkreis dieser Schicht überliefert: Ein Sohn Α. H . Bendemanns wurde Maler; der Komponist Meyerbeer und der Dichter Michael Beer waren Brüder des Bankiers und Korporationsältesten Wilhelm Beer; der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy und der Maler Hensel waren Bruder und Schwager des Bankiers und Korporationsältesten Paul Mendelssohn-Bartholdy. 107 Mit größerer Sicherheit zeichneten sich dagegen die Umrisse dieser Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern bei den sozialen Verbindungen ab, die mit der Verheiratung der Töchter geknüpft wurden. Schwiegersöhne aus der Offiziersschicht hatten nur die Angehörigen
ιοβ Vgl ρ. Zunkel, Beamtenschaft S. 274.
und Unternehmertum
...,
in: Tradition
9 (1964),
107 Vgl. für Magnus (geb. 1796): H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute . . ., S. 120 f.; für Krause (geb. 1797): Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 5 . 5 . 1 8 6 4 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 8; für Bendemann (geb. 1769): Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Finanzmin., 3 0 . 1 1 . 1 8 4 4 , a.a.O., Bd. 3; für Bordiard (geb. 1785): Berliner Polizeipräs, an Finanzmin., 1 5 . 3 . 1 8 4 1 , a.a.O., Bd. 2; für Heymann (geb. 1803): Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 20. 11. 1868, a. a. O., Bd. 10; zu Beer: J. Jacobson (Hrsg.), Die Judenbürgerbücher .. ., S. 224; zu Mendelssohn-Bartholdy: H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute ..., S. 110.
Die
„Geldaristokratie"
163
der Führungsschicht der Berliner Unternehmer, wie der Korporationsälteste und Bankier W. C. H . Conrad, der Großkaufmann F. C. Krause, der Korporationsälteste und Tabakfabrikant G. Prätorius. Auch Schwiegersöhne aus der höheren Beamtenschaft im weiteren Sinn — oft allerdings noch am Anfang einer Verwaltungskarriere — hatten fast nur Unternehmer dieser Schicht. Die Schwiegersöhne des Korporationsältesten und Bankiers Beer und des Tabakfabrikanten Ermeler waren Konsuln in Amsterdam und Bordeaux. Der Schwiegersohn des Korporationsältesten und Seidenfabrikanten Baudouin war Kammergerichtsassessor, der des Ältesten C. Gropius Stadtgerichtsrat, der des Tabakfabrikanten Ermeler Leibarzt des Prinzen von Preußen, der des Ältesten W. C. H . Conrad Landrat, der des Großhändlers F. C. Krause Geh. Finanzrat, der des Ältesten und Bankiers F. G. von Halle Regierungsassessor. Schwiegersöhne aus der Pfarrer-, Arzt- und Lehrerschicht waren hingegen nicht auf diesen Teil der Berliner Unternehmer beschränkt. 108 Nur mit geringer zeitlicher Verzögerung folgen der Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und karitativen Organisationen der gesellschaftliche Verkehr in Salons, Cafes und Clubs. Die Wandlungen in der sozialen Zusammensetzung der Berliner Cafebesucher während der vierziger Jahre zeigen das: Für die erste Hälfte der vierziger Jahre wird das Cafe Kranzler als das sozial ranghöchste Berliner Cafe geschildert. Hier verkehrten die „Diplomaten, die Lions des T a g e s . . . Hier ist die creme de la plus noble societe, hier wird über die Vorgänge der Gesellschaft, über Pferde, Hunde und Tänzerinnen in malerischen Attitüden auf der Vorstufe der Thür debattirt und gewettet." In der sozialen Rangordnung folgt das Cafe Stehely, in dem hohe Beamte, Offiziere, Professoren und Privatdozenten, Journalisten und Korrespondenten, Literaten, Schauspieler und Künstler jeweils an besonderen Tischen und zu besonderen Tageszeiten verkehrten. Beamte und adlige Rentiers besuchten vor allem das Cafe Giovanoly. Das Cafe Josty galt damals noch als „militärisches Cafe". Im Cafe Courtin verkehrten Makler 108
Vgl. zu Conrad: Interner Bericht im Berliner Polizeipräs., 2 0 . 6 . 1 8 9 6 ,
StA
Potsdam Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 9 4 N r . 9 4 2 3 ; zu Krause: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 5. 5. 1864, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 8 ; zu Prätorius: Berlinische
Nachrichten,
N r . 105 vom 6. 5 . 1 8 4 4 ; zu Beer: a. a. O.,
N r . 176 vom 1. 8. 1849; zu Ermeler: Berliner Oberbürgermeister an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 2 7 . 1 . 1858, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 6 ; zu Baudouin: Berlinische
Nachrichten,
Nr. 99 vom 3 0 . 4 . 1845; zu Gropius: a.a. O., Nr. 243
vom 1 6 . 1 0 . 1844; zu Halle: H . Rachel/P. Wallich, Berliner 11*
Großkaufleute
...,
S. 55.
164
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
und Vertretern der Börse.109 „Man sieht diese dicken Herren mit den kahlen Schädeln und vollen würdigen Gesichtern hier um die kleinen Tische gedrängt, die auswärtigen Börsenblätter lesen und Notizen in ihre Schreibtäfelchen machen."110 Nur die Cafes Kranzler und Courtin erhielten sich die soziale Zusammensetzung ihrer Besucher über die Mitte der vierziger Jahre hinaus. Das Cafe Stehely dagegen wurde 1847 zum Treffpunkt der Landtagsdeputierten. Ins Cafe Giovanoly drangen auch bürgerliche Rentiers ein. Und im Cafe Josty trafen sich nun fast genau dieselben sozialen Schichten, die schon seit anfang der vierziger Jahre in Eisenbahn- und Versicherungsgesellschaften zusammenarbeiteten: Beamte aller Art, Offiziere, Ärzte, Rentiers, Bankiers und Kaufleute. 111 Deutlicher als bei den Cafes zeichnet sich bei den Berliner Salons die besondere gesellschaftliche Stellung der Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern bereits während der vierziger Jahre ab. Einer der bekanntesten regelmäßigen Gesellschaftsabende war der des Präsidenten Rust, in dem neben Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern, hohen Beamten audi reiche Kaufleute verkehrten. Denselben Rang und dieselbe soziale Zusammensetzung besaßen die Salons der reichen Berliner Bankiers, unter denen der des Korporationsältesten und Bankiers Wilhelm Beer der angesehenste war. 112 Vom Stil und vom sozialen Einzugsbereich her besaßen diese Salons nicht den Ehrgeiz, soziale Verhaltensnormen einer höher eingeschätzten sozialen Schicht nachzuahmen oder mit ihr aus diesem Grund in gesellschaftlichen Kontakt zu treten. Der Salon Beers vor allem „zeichnete sich vor anderen gesellschaftlichen Vereinigungspunkten dadurch aus, daß den gastfreien Wirth nicht eitle Prunksucht, sondern ein feines Gefühl bei den Einladungen leitete. Er hatte nicht nöthig, seinem Namen durch die Gäste, die er bei sich sah, einen Nimbus zu geben, der Name Beer glänzte ohnehin als leuchtender Stern am Himmel der Wissenschaft und Kunst." 113 Die Gattin 109 Ludwig Löwenberg, Der Fremde in Berlin und Potsdam, S. 13 f. 110 E. Dronke, Berlin ..., Bd. 1, S. 69 f. 111
5. Aufl., Berlin 1845,
A. Cosmar, Neuester und vollständigster Wegweiser . . ., 11. Aufl., S. 36 f.; zum Cafe Stehely: Berlinische Nachrichten, Nr. 88 vom 16. 4.1847. 112 Adolf Streckfuß, Berlin im neunzehnten Jahrhundert, 4 Bde., Berlin 1867 ff., Bd. 2, S. 568 f. 1,3 A. a. O., S. 569. Vgl. dazu audi Eidiler, der die Gesellschaftsabende der Berliner Unternehmer im allgemeinen kritisierte, da sie versuchten, sich durch Stil und sozialen Status der Eingeladenen sozial aufzuwerten: „Ich selbst habe die schönsten Abende in
Die
165
„Geldaristokratie"
des belgischen Gesandten in Berlin schrieb 1841 über diesen Salon: „Frau Beer bewohnt eine entzückende Besitzung, die ihr Eigentum im Tiergarten ist. Komfort, das Angenehme und Nützliche, alles findet sich hier vereinigt. Frau Beer steht bereits in sehr vorgerücktem Alter, sie liebt die große Welt, den Luxus und vor allem die Musik. Sämtliche Mitglieder des diplomatischen Korps waren bei dem Diner (gestern) anwesend." 114 Von dem Berliner Bankier und ehemaligen Korporationsvorsteher Benecke und dem Bankier F. M. Magnus sind gesellschaftliche Kontakte derselben sozialen Rangordnung überliefert. 115 In den Landhäusern der Berliner Bankiers Brose und Fetschow in Schönhausen trafen sich in den zwanziger Jahren Generale und hohe Staatsbeamte. 116 Die Soireen des Korporationsvorstehers H . C. Carl wurden Anfang der fünfziger Jahre vor allem von Ministern, Kammermitgliedern, hohen Staatsbeamten und Militärs besucht.117 Politische Kontakte dürften bei diesen Soireen Carls, damals Mitglied der ersten preußischen Kammer und später Vorsitzender der nach ihm benannten Fraktion im Abgeordnetenhaus, im Vordergrund gestanden haben. In ihrem Lebensstil im engeren Sinn, in ihren Wohn- und sonstigen Aufwandsnormen, hob sich dagegen diese zahlenmäßig kleine Führungsschicht der Berliner Unternehmer nur während der vierziger Jahre ebenso deutlich heraus. Der Spenerschen Zeitung erschien es damals für die großen preußischen Städte und insbesondere für Berlin kennzeichnend, daß „der Hang zum Luxus und zur Genußsucht außerhalb des Hauses in allen Ständen [bestand], nur vielleicht mit Ausnahme der höchsten, die nach Rang und Vermögen dem Luxus ihre Opfer zu bringen, gewissermaßen berechtigter erscheinen."118 Zu dieHäusem von Bankiers erlebt, kenne manche Bankiers, denen man eine tiefe gründliche Bildung, ein nobles Wesen nicht absprechen kann." (Eichler, Berlin und die Berliner, N . F., Bd. 3: Der Banquier, Berlin 1842, S. 23). 1,4 Zit. nach: Adolf von Wilke, Berliner Hof und Gesellschaft ums Jahr 1840. Aus den Erinnerungen einer Diplomatenfrau, in: Erforschtes und Erlebtes aus dem alten Berlin. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin 1917, S. 463. 115
A.a.O., S. 456, 463. Unter diesen Unternehmern war nur Benecke (1829) bereits nobilitiert worden (ebda.). 118
Elise von Bernstorff, Aus ihren Aufzeichnungen. 1789 bis 1835, 2 Bde., Berlin 1896, Bd. 1, S. 45. 117 Berlinische Nachrichten Delbrück, Lebenserinnerungen 118
Berlinische Nachrichten
Ein Bild
aus der Zeit
von
vom 7 . 2 . 1 8 5 1 und 1 . 2 . 1 8 5 3 ; vgl. auch Rudolf von 1817—1867, 2 Bde., Leipzig 1905, Bd. 2, S. 49. vom 2 0 . 1 1 . 1 8 4 4 .
166
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
sen Ausnahmen rechnete die Spenersche Zeitung audi „einen sehr wohlhabenden, ja reichen Bürger- und Gewerbestand, der ohne Unbequemlichkeit für seine Vermögens- und Betriebseinnahmen, die Annehmlichkeiten des Lebens in und außer Hause genießen kann, und, dessen ungeachtet, in Ehe und Familie die früheren süßen Bande der Eintracht und des glücklichen Verlaufs der Tage zu bewahren weiß." 119 Auch dem konservativen Sozialkritiker Ludwig Eichler schien „der Banquier alten Schlages . . . nicht dazu geeignet, zu imponieren und mit anderen Ständen in der Repräsentation zu rivalisiren"; er war „mehr stolz auf den Werth und die Geltung seines Hauses, er thut allerdings das Nöthige, sich namentlich in seiner Wohnung mit Glanz und Bequemlichkeit des Reichthums zu umgeben, aber die eleganten Teppiche, die schönen Tapeten, die brillanten Moeubles folgen ihm nicht mit auf die Straße, man sieht es seiner Erscheinung nicht an, daß er gewohnt ist, vornehm zu leben". 120 Auch wenn der Lebensstil der Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern nicht die asketischen Züge wie häufig bei rheinischwestfälischen Unternehmern trug, so war er anfangs doch ebenso wie dort nicht von den Aufwandsnormen anderer, höherer sozialer Schichten geprägt. Während die Neigung, mit Hilfe eines aufwendigen, andere soziale Schichten imitierenden Lebensstils sich selbst sozial aufzuwerten, auch unter anderen Berliner Unternehmern schon vor der Jahrhundertmitte verbreitet gewesen zu sein scheint, fehlte sie bis zum Beginn der vierziger Jahre bei der Führungsschicht der Berliner Unternehmer. Noch Anfang der vierziger Jahre setzte sich allerdings in der jüngeren Generation auch dieser Schicht der Berliner Unternehmer die Tendenz zur Übernahme aristokratischer Verhaltensweisen durch: „Die jüngeren und jüngsten unserer Banquiers oder Banquierssöhne mögen wohl ein unbestimmtes Gefühl von dieser Unzulänglichkeit ihres Standes gehabt haben, und sind deshalb, um sich eine interessante Nüance zu geben, in die Narrheit der Anglomanie und des Dandythums hineingerathen. Wenn sie dadurch sich auch nichts weniger als Würde verleihen, so kann man doch nicht läugnen, daß sie wenigstens zu unserm Ergötzen wesentlich beitragen; denn Nichts ist lächerlicher und Berlinischer zugleich, als das Bestreben, sich in die Narrheiten hinein zu poussieren, welche das Vorrecht eines andern sonst auch bevor-
«· 120
Ebda. L. Eichler, Berlin ..., N . F., Bd. 3: Der Banquier . . . , S. 16, 13.
Die
„Geldaristokratie"
167
zugten Standes sind. Ein Kauffmann, der den .noblen Passionen' der hohen und höchsten Aristokratie sich ergiebt, wird von den Aristokraten und respektiven Fähndrichs doch nur über die Achsel angesehen, und von den Vernünftigsten seines Gleichen im Stillen ausgelacht."121 Wie weit ging nun diese während der vierziger Jahre einsetzende Anpassung der Berliner Unternehmer an aristokratische Lebensformen? Als äußersten Fall kann man annehmen, daß sie die Aufwandsnormen und den Lebensstil der Aristokratie vollkommen imitierten und dabei ihre Unternehmertätigkeit aufgaben. Diesen Extremfall der Anpassung findet man allerdings bei der Führungsschicht der Berliner Unternehmer ebenso selten wie unter den übrigen Unternehmern Berlins. Dies sei an einigen Rentiers und ehemaligen Unternehmern Berlins illustriert; gerade in diesem Lebensabschnitt konnte die Anpassung am stärksten sein, zumal die damaligen Unternehmer sich relativ früh, im Durchschnitt mit ungefähr fünfzig Jahren, aus dem Geschäft zurückzogen. Einer der größten Möbelfabrikanten Berlins, C. Arnold, verkaufte 1865 im Alter von fünfzig Jahren sein Unternehmen für 300 000 Taler an eine Aktiengesellschaft; er war danach Vorstandsmitglied des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen. F. A. Pflug, der eine der größten mitteleuropäischen Waggonbauanstalten besaß, verkaufte sie 1856 und zog sich für die restlichen dreißig Jahre seines Lebens auf ein Rittergut zurück. Der Tuchfabrikant H . C. Carl, einer der prominentesten Berliner Unternehmer, verkaufte die inzwischen in seinen Besitz übergegangene Tuchfabrik Busse 1853; er wurde danach Vorsteher der kaufmännischen Korporation und Landtagsabgeordneter. F. C. Krause, der einen umfangreichen Stein- und Holzgroßhandel besessen hatte, lebte ungefähr von seinem fünfzigsten Lebensjahr ab von den Zinsen seines Vermögens; auch er war danach als Mitglied des Centraiausschusses der königlichen Bank, als Verwaltungsratsmitglied der Berlin-Anhaltischen Eisenbahngesellschaft und anderer wirtschaftlicher Unternehmungen aktiv. Halske, Kompagnon des Elektroindustriellen Siemens, steuerte ebenfalls „auf den ruhigen Rentier" hin und schied 1868 mit 54 Jahren als Teilhaber aus; er arbeitete danach in der Berliner Stadtverordnetenversammlung und in verschiedenen kommunalen Verwaltungsgremien sehr aktiv mit und wurde in den Ausschuß des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen gewählt. Die Brüder Friedheim, die in ihren Textilunternehmen in
121
A. a. O., S. 16 f.
168
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Berlin und Sachsen mehrere hundert Personen beschäftigten, verkauften kurz nach ihrem fünfzigsten Lebensjahr und zogen sich ins Privatleben zurück. Jürst, einer der größten Berliner Metallindustriellen, verkaufte im gleichen Alter seine Neusilberfabrik; auch er trat danach als Stadtverordneter in zahlreiche Kommunalämter ein und arbeitete daneben im Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, in der Invalidenkasse für die Berliner Maschinenbauarbeiter und in der gemeinnützigen Baugesellschaft mit. 122 Schon diese wenigen Fälle weisen also darauf hin, daß die Rentiers und ehemaligen Unternehmer Berlins sich nur selten völlig adligen Lebensformen anpaßten; die meisten wohnten weiter in Berlin und wurden, wenn sie nicht völlig privatisierten, in der kommunalen Selbstverwaltung oder in wirtschafts- und sozialpolitischen Verbänden aktiv. Auch die nobilitierten Unternehmer Berlins — es handelte sich fast nur um Bankiers — paßten sich nicht völlig aristokratischen Verhaltensweisen an und blieben in ihrer Mehrzahl weiterhin als Unternehmer tätig. Schon Wilh. Chr. Benecke, der einzige vor der Jahrhundertmitte geadelte Berliner Unternehmer, scheint zwar seinen Lebensstil erheblich verändert und teilweise auf seinem Gut gelebt zu haben, das als eine der schönsten Besitzungen Preußens galt; er arbeitete jedoch auch nach seiner Nobilitierung 1829 in verschiedenen Unternehmen mit. Ähnliches gilt für die meisten der zehn zwischen 1850 und 1873 nobilitierten Unternehmer Berlins. Die Bankiers Magnus, G. M. und C. D. Oppenfeld, G. Bleichröder, A. Hansemann und die Brüder Arthur und Fernand Schickler blieben weiterhin in leitenden
122 Vgl. z u Arnold: Berliner Polizeipräs. an Handelsmin., 11.12.1866, D Z Α Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 9; zu Pflug: von Weise, Mittheilungen über den EisenbahnWagenbau in Deutschland und auswärts, in: 7.eitsd)rift des Vereins für deutsche Statistik, l . J g . (1847), S. 920 f.; H . Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute..., S. 321; Der Arbeiterfreund, 5. Jg. (1867), S. 321; zu Carl: Berlinische Nachrichten, Nr. 140 vom 1 9 . 6 . 1 8 5 3 (Verkaufsmeldung); Das Ältestenkollegium 1820 bis 1920, in: Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin ..., S. 658 ff.; zur Abgeordnetentätigkeit vgl. DRITTES KAPITEL; ZU Krause: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 8.5. 1854, D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 4; ders. an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 5 . 5 . 1 8 6 4 , a.a.O., Bd. 8; zu Halske: J. Kocka, Unternehmensverwaltung .. ., S. 77, 131; Adreßkalender... auf das Jahr 1860 . . . u. folg.; Der Arbeiterfreund, 7. Jg. (1869), S. 135; zu Friedheim: Gerson an Handelsmin., Dez. 1867; D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 9; zu Jürst: Kgl. Regierung zu Potsdam an d. Oberpräsidenten d. Prov. Brandenburg, 1 7 . 7 . 1 8 6 5 , D Z A Merseburg, Rep. 120 BB I 1 Nr. 12 Bd. 1 (Verkauf); Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 2 9 . 4 . 1 8 7 2 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. J Nr. 10884 (spätere Tätigkeit).
Die
„Geldaristokratie°
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Positionen ihrer Banken tätig. Das gilt audi für den Weinhändler und Bankier F. W. Krause. Nur der ehemalige Textilindustrielle Carl war in der geschilderten Art und Weise Rentier. Auch hier hatte jedoch die Nobilitierung keinen Einfluß auf die Unternehmertätigkeit; Carl war längst Rentier, als er geadelt wurde. 123 Wenn die Nobilitierung dieser Angehörigen der Führungsschicht der Berliner Unternehmer auch nicht zur Aufgabe ihrer Unternehmertätigkeit führte, so ließe sich doch zumindest vorstellen, daß sich ihre Bankgeschäfte änderten und die Aristokratie zum Hauptkundenkreis wurde. Auch dafür gibt es jedoch nur selten Hinweise. Bei F. W. Krause war die Entwicklung eher umgekehrt. Da er als Weinhändler gestartet war und seine Bank aus dem Weinhandel entstand, waren seine Bankbeziehungen zum agrarischen Sektor von Anfang an besonders eng. Wohl deshalb ging „der Landadel Brandenburgs und Pommerns . . . bei ihm ein und aus, sei es, um einen guten Tropfen Weins auszuprobieren, sei es, um sich über Gelddispositionen zu unterhalten". 124 Für den Aufstieg seiner Bank war es kennzeichnend, daß er die Bankbeziehungen zum agrarischen Sektor durch „einige recht bedeutende Industrieinteressen" ergänzte. 123 Beim Schicklerschen Bankhaus gewannen seit den fünfziger Jahren die Industriebeteiligungen zunehmend Bedeutung und drängten die Geschäfte mit Staatsanleihen etwas in den Hintergrund. 126 Auch bei den übrigen Häusern nobilitierter Bankiers ging die Entwicklung eher in diese Richtung. Selbst der Berliner Bankier, von dem die engsten Geschäftsbeziehungen zum Offizierskorps und zu den Großgrundbesitzern bekannt sind, Meyer Cohn, gleichzeitig ostpreußischer Generallandschafts-Agent, hat sich in den siebziger Jahren an zahlreichen Industriebetrieben beteiligt.127 Einen geringeren Grad der Anpassung kann man darin sehen, daß Unternehmer zwar Großgrundbesitzer wurden, jedoch weiterhin als
123 A. Maximilian Ferd. Gritzmer, Chronologische Matrikel der brandenburgpreußischen Standeserhöhungen und Gnadenakte, Berlin 1874; zu Benecke: H . Rachel/ P. Wallich, Berliner Großkaufleute..., S. 92; zu Magnus: Carl Fürstenberg, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers 1870 bis 1914, Berlin 1932, S. 35; zu Oppenfeld: Berlin und seine Entwicklung 6 (1872), S. 258; zu Schickler: Friedrich Lenz u. a., Die Geschichte des Bankhauses Gebrüder Schickler, Berlin 1912, S. 309 ff. 124
C. Fürstenberg, Die Lebensgesdtichte ..., S. 36. Ebda. 126 F. Lenz u. a., Die Geschichte des Bankhauses Schickler ..., S. 340 ff. 127 Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 16.12. 1868 und 16. 3.1878, StA Potsdam Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Nr. 9369. 125
170
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Unternehmer tätig blieben. Diese Verhaltensweise gab es bei der Führungsschicht der Berliner Unternehmer häufiger. Zumindest haben — soweit bekannt — nur Angehörige dieser Führungsschicht Güter unter Aspekten erworben, die nicht im Zusammenhang mit ihrer ökonomischen Tätigkeit standen. So besaß der 1829 nobilitierte ehemalige Korporationsvorsteher und Bankier W. C. Benecke ein schlesisches Rittergut; der 1853 nobilitierte Bankier Magnus war im Besitz von drei Gütern ebenfalls in Schlesien; dem Bankier und Korporationsältesten C. W. J. Schultze gehörten zwei Güter, dem Bankier und Korporationsältesten H . Jacobson ein Rittergut in Mecklenburg; der 1872 nobilitierte Bankier A. Hansemann war Grundbesitzer in Schlesien, Posen und auf Rügen. Unternehmer, die nicht zu dieser Führungsschicht gehörten und ebenfalls Großgrundbesitzer wurden, scheinen hingegen andere Motive gehabt zu haben. So waren die beiden Rittergüter, die der Industrielle K. J. A. Gilka besaß, über ihre Dampfbrennereien wirtschaftlich eng mit der Sprit- und Liqueurproduktion Gilkas in Berlin verbunden. Auch das Rittergut, das J. J. W. Rohrbeck besaß und zu dem eine Glashütte gehörte, war eng mit seiner Berliner Produktion von physikalischen, chemischen und pharmazeutischen Apparaten verbunden. C. J. Heckmann, der neben seiner Apparate- und Metallfabrik auch Zuckerfabriken besaß, dürfte von seinen Gütern Zuckerrüben für letztere bezogen haben. 128 In einer Residenzstadt wie Berlin konnte die Nachahmung aristokratischer Verhaltensweisen allerdings weniger am Land- als am Hofadel orientiert sein. Dieses Vorbild ahmte der Berliner Möbelfabrikant Pfaff nach, der von jungen Bankleuten Berlins bewundert wurde, wenn er auf seinen Spaziergängen seine prächtige Kutsche langsam neben sich herfahren ließ.129 Nur zum Teil allerdings wird dieses Motiv wohl audi der Grund für das Entstehen zahlreicher eleganter Villen in und
128
Vgl. zu Benecke (Korporationsvorsteher 1820—27): A. von Wilke, Berliner Hof und Gesellschaft..., S. 456; zu Magnus (geb. 1796): H . Radiel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute..., S. 120 f.; zu Schultze (geb. 1773): a.a.O., S. 123; zu Jacobson (geb. 1801): J. Jacobson (Hrsg.), Die Judenbürgerbücher..., S. 195 f.; zu Hansemann (geb. 1826): M. J. Wolff, Die Disconto-Gesellschaft..., S. 16; zu Gilka: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 7 . 9 . 1 8 6 0 , D Z Α Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 7; zu Rohrbeck: Immediatberidit des Handelsmin., 1 3 . 4 . 1 8 6 9 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 10; zu Hedemann: H . Rachel/P. Wallidi, Berliner Großkaufleute ..., S. 186. iss Q Fürstenberg, Die Lebensgeschichte ..., S. 39.
Die
„Geldaristokratie"
171
bei Berlin gewesen sein. Der Bankier Fürstenberg schildert die bekanntesten dieser Wohnhäuser aus dem Ende der sechziger Jahre. Sie gehörten teils Angehörigen der Aristokratie wie dem Herzog von Ratibor oder dem Fürsten von Pleß, teils hohen Beamten wie dem Handelsminister von der Heydt; in der Masse waren die Eigentümer allerdings Berliner Unternehmer. Unter ihnen tritt die geschilderte Führungsschicht nicht in besonderem Maße hervor. In dem damals elegantesten Wohnviertel, das an der südlichen Peripherie des Tiergartens lag, siedelten sich die Bankiers Adolph von Hansemann, Oppenheim und Warschauer an; im selben Viertel bauten aber auch die Textilindustriellen Reichenheim und Heese, der Farbenfabrikant Heyl, der Konfektionsgroßhändler Gerson und der Juwelier und Bankier Marckwald. In Charlottenburg hatte nicht nur der Korporationsälteste und Bankier Warschauer, sondern auch der Tonwarenindustrielle March eine bekannte Besitzung. Die bekannteste Unternehmervilla in der Innenstadt war die des ehemaligen Elektroindustriellen Halske. Die Bankiers und Korporationsältesten W. C. H . Conrad und F. G. Halle besaßen ebenso elegante Villen wie die weniger bedeutenden Bankiers Ebeling und Hainauer, der vermögendste Unternehmer Berlins während der sechziger Jahre, der Metallindustrielle Heckmann oder der größte Maschinenbauindustrielle Berlins, Borsig, ebenso wie der Eisenhändler Ravene oder der Lederfabrikant und Holzhändler C. G. Dienstbach. 130 Teilweise wurden diese Villen nur als Sommerwohnungen benutzt. Schließlich war es auch nicht allein die Führungsschicht der Berliner Unternehmer, die während der sechziger Jahre aufwendige Haushalte führte und elegante Wohnungen in der Innenstadt besaß. Ein solcher Lebensstil wird dem mittelgroßen Bankier H . Wolff, dem Textilhändler I. Simon, den Textilindustriellen M. Friedheim, A. L. Bein, Ph. Liebermann, D. J . Lehmann, den Chemieindustriellen L. Holborn und G. Riedel und dem ölfabrikanten und Getreidehändler W. Herz ebenso zugeschrieben wie dem Eisen- und Kohlengroßhändler und Bankier
iso c Fürstenberg, Die Lebensgeschichte..., S. 24, 30, 65 ff.; vgl. daneben zu Halle: H. Rachel/P. Wallich, Berliner Großkaufleute .. ., S. 55; zu Ebeling: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 28.12.1859, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Ε Nr. 9680; zu Heyl: Hedwig Heyl, Aus meinem Leben, Berlin 1925, S. 12, 18; zu Hedemann: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 28.9.1865, a.a.O., Lit. Η Nr. 10547; zu Dienstbadi: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 27. 11.1867, a. a. O., Lit. D Nr. 9547.
II. Der soziale Status der Berliner
172
Unternehmer
C . Wollheim und dem Bankier J . F . L . Gelpcke, beides K o r p o r a t i o n s älteste. 1 3 1 W ä h r e n d sich die unternehmerische Führungsschicht durch
andere
Statusmerkmale auch nach der J a h r h u n d e r t m i t t e noch deutlich abhob, verwischte sich beim Lebensstil im engeren Sinn der Unterschied zu den übrigen Berliner Unternehmern.
Die Unternehmer
der
Mittelschicht
Die Masse der Berliner frühindustriellen U n t e r n e h m e r gehörte der Mittelschicht der damaligen Gesellschaft an. D a s zeigt schon der Begriff „Mittelstand"
in dieser Zeit, der, ergänzend zum Begriff
der
„Geldaristokratie", ebenfalls schon während der vierziger J a h r e v e r w a n d t w u r d e und teilweise nur U n t e r n e h m e r umfaßte. So stufte der Berliner Sozialkritiker D r o n k e zwischen der „mächtigen Bourgeoisie", v o r allem den führenden Bankiers, und dem „ P r o l e t a r i a t " einen Teil der U n t e r n e h m e r als „mittlere Bourgeoisie, das K r ä m e r - und F a b r i k ä n t e n t h u m " ein. A u d i in der Presse dieser Zeit w u r d e ein auf die gewerbliche
Wirtschaft
bezogener
Begriff
des
„Mittelstandes"
verwandt:
„Noch immer ist es freilich der Mittelstand, der in Folge seiner Stel-
131 Zu Wolff („elegante Wohnung", Jahresmiete 1500 Taler, 1 Wirtschafterin, 3 Domestiken): Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 4. 5.1870, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 12; zu Simon: C. Fürstenberg, Die Lebensgeschichte..., S. 23; zu Friedheim („sehr elegant eingerichtete Wohnung, reicher Hausstand"): Berliner Polizeipräs, an Oberpräs. d. Prov. Brandenburg, 10.12.1874, StA Potsdam Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 57 Nr. 9869; zu Bein (jährl. Wohnungsmiete 350 Taler): Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 21.4. 1859, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 6; zu Liebermann (Wohnungsmiete incl. Mietanteil an Geschäftslokal 2060 Taler jährl.): Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 4.12.1859, a. a. O., Bd. 6; zu Lehmann (Wohnungsmiete jährlich 750 Taler): Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 4. 12.1859, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 6; zu Holborn (11 Domestiken): Immediateingabe von Mitbürgern, 24. 5.1862, a. a. O., Bd. 7; zu Riedel (mehrere Arbeitsleute und Gärtner, Kutscher und Feuermann): HO Jahre Riedel-de Haen..., S. 41; zu Herz („Hausstand sehr elegant", 6 Domestiken): Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 11; zu C. Wollheim („elegante Wohnung"): Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 29.11. 1869, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W Nr. 14095; zu Conrad („Sein Hausstand ist elegant"): a.a.O., Lit. C Nr.9423; zu Gelpcke (1000 Taler Wohnungsmiete jährlich): Polizeipräs, an Handelsmin. 20.11.1863, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 8; zu Halle (Sommerwohnung Albreditshof): H. Rachel/ P. Wallich, Berliner Großkaufleute ...,S. 55.
Die Unternehmer
der
Mittelschicht
173
lung zu den arbeitenden Klassen vorzugsweise zur Abhülfe des Nothstandes derselben in Anspruch genommen wird, indem die Geld-Aristokratie nur selten in Berührung mit den Armen kommt." 132 Ein ähnliches soziales Schichtungsbild gab es in Berlin unter vielen Industriellen, unter mittleren Kaufleuten und Bankiers. Während die geschilderte Führungsschicht der Berliner Unternehmer von einem dichotomisch angelegten Schichtungsbild ausging, in dem der Besitz der beherrschende Maßstab sozialer Rangordnung war, differenzierten andere Berliner Unternehmer während der vierziger Jahre innerhalb der gewerblichen Wirtschaft weit mehr und stellten dabei die wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Funktionen weit stärker heraus. Innerhalb dieses Rahmens variieren allerdings ihre Schichtungsbilder. Unternehmer wie der Fabrikant C. F. Schildknecht, der Kaufmann D. A. Benda und der Bankier L. I. Levinstein betrachteten als die oberste Schicht innerhalb der gewerblichen Wirtschaft die „Geldaristokratie" oder „Handels-Nobilitäten" und hatten damit die geschilderte Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern im Auge.133 Andere Berliner Unternehmer betrachteten dagegen vom Prestige gegenüber der Staatsverwaltung oder vom Kriterium der „Macht des Kapitals" aus die Berliner großen Industriebetriebe als die oberste oder doch eine der oberen Schichten innerhalb der gewerblichen Wirtschaft. 134 132 E. Dronke, Berlin..., Bd. 1, S. 47 f.; Berlinische Nachrichten, 7 . 6 . 1847. In den Augen anderer Berliner Sozialkritiker wie Bettziech dings damals ein solcher Gewerblicher Mittelstand nicht mehr (vgl. Berlin . . ., S. 64). 133 Vgl. D. A. Benda, Die Zettelbank, in: Berlinische Nachrichten, 22.11. 1846; C. F. Schildknecht, Vorschläge zur Hebung der deutschen S. 8; L. I. Levinstein, Ein Beitrag zu den finanziellen Fragen ..., S. 5.
Nr. 129 vom bestand allerH. Bettziech, Nr. 18 vom Industrie ...,
134 Tuchfabrikant Ludwig König an Finanzmin., 23. 11.1830, D Z A Merseburg, Rep. 120 D IV 6 b Nr. 13; seinem Kreditgesuch legte König Gutachten von Unternehmern bei. „Diese Gutachten rühren von sachverständigen Männern her, die bei der Größe ihrer Fabriken als c o m p e t e n t e . . . gelten können." Eingabe des Kaufmanns Lebenheim und des Stadtrats Risch an Staatsmin., 1 9 . 4 . 1 8 4 9 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A X I 2 Nr. 4; diese Eingabe wurde von einer Reihe Berliner Industriellen, meist bedeutenderen Textilindustriellen, unterzeichnet; Berliner Politechnische Gesellschaft an Handelsmin., 1 1 . 5 . 1 8 4 8 , D Z A Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 59 Bd. 1; der Maschinenfabrikant C. Rüdiger protestierte dagegen, daß die größeren Maschinenbauanstalten bei Staatsaufträgen bevorzugt wurden: „Was die Beschäftigung mit öffentlichen Arbeiten anlangt, so genießen darin die größeren Fabrikbesitzer wie Borsig, Wöhlert u. a. einen unermeßlichen Vorzug vor den kleineren . . ( C . Rüdiger an Handelsmin., 4 . 8 . 1 8 4 8 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 3); in derselben Richtung verlief die Kritik Baron von Hackewitz', des Besitzers des
174
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Dieser Oberschicht der Unternehmer war im Schichtungsbild dieser Unternehmer — ebenfalls im Bereich der gewerblichen Wirtschaft — eine Mittelschicht nachgeordnet. Auch der Bereich, der mit dieser mittleren Schicht erfaßt wurde, variierte erheblich. Teils wurde dabei neben Handel und Gewerbe auch der städtische Grundbesitz einbezogen und dabei diejenigen wirtschaftlichen Gruppen berücksichtigt, denen durch den Eisenbahnbau Kapital entzogen wurde; 135 teils wurde dieser mittleren Schicht eine ökonomische Funktion „als Vermittler des Geldes der Reichen mit den Arbeitskräften der dritten Klasse", der Arbeiter, zugeschrieben;136 teils wurde mit dieser Mittelschicht, „den Fabrikanten und Kaufleuten des Mittelstandes", eine bestimmte Betriebsgröße erfaßt, die zwischen fünfzig und mehreren hundert Beschäftigten lag. 137 Dieser Mittelschicht innerhalb der gewerblichen Wirtschaft wurden schließlich weitere Schichten nachgeordnet, ohne daß diese Unternehmer — im Gegensatz zur Führungsschicht der Berliner Unternehmer — für diese unteren Schichten einen der „Geldaristokratie" und dem „Mittelstand" entsprechenden Begriff entwickelten. Zu diesen Schichten wurBerliner Galvanoplastischen Instituts; die Staatsaufträge sollten sidi seiner Ansicht nach „keineswegs, wie bisher geschehen sein soll, allein auf die großen Fabriken wie ζ. B. hier am Orte Borsig, Egells, Goldschmidt, Danneberg firmierten, beschränken." (Hackewitz an Handelsmin., 1.4.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII Nr. 3 Bd. 1). Daß sich mit diesem Begriff des „Mittelstands" — implizit oder explizit — nicht nur Unternehmer innerhalb der kaufmännischen Korporation, sondern auch Angehörige der gewerblichen Wirtschaft identifizierten, denen es nicht einmal gelang, in die Position des Korporationsmitglieds aufzusteigen, zeigt das Beispiel des Berliner Kleinhändlers G. Lettner; seine Ersparnisse reichten nicht aus, um Großhändler zu werden: „Nicht die Arbeiter allein sind die erbarmungswürdigen Menschen; denn für diese sorgt jetzt Jedermann; auch nicht die Corporation der Kaufmannschaft ist so zu beklagen, denn derselben gebricht es wenigstens nicht am nöthigsten und neuerdings hat solche wieder aus Staatsfond Unterstützung erhalten; dagegen ist es die Mittelklasse oder die sogenannten nidit corporierten Kaufleute, welche schwer unter dem Druck der Zeit seufzt" (Lettner an Finanzmin., 10.4.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 2). 135
L. I. Levinstein, Ein Beitrag zu den finanziellen Fragen . . . , S. 5; D. A. Benda, Die Zettelbank . . in: Berlinische Nachrichten, passim. 136 L. I. Levinstein, Ein Beitrag zu den finanziellen Fragen . . . , S. 5. 137 Der Tuchfabrikant König, der sidi der „Mittelklasse der Fabrikanten" zurechnete, beschäftigte 50 Personen (König an Finanzmin., 23. 11. 1830, DZA Merseburg Rep. 120 D IV 6 b Nr. 13). Herrmann Kauffmann, der die hier zit. Eingabe von „Fabrikanten und Kaufleuten des Mittelstandes" mitunterzeichnete (Eingabe von Berliner Wollwarenfabrikanten an Handelsmin., 3.3.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 1), beschäftigte damals 300 Arbeiter (Kauffmann an Handelsmin., 18. 4. 1848, a. a. O., Bd. 2).
Die Unternehmer
der
175
Mittelschicht
den die kleinen Fabrikanten, die Einzelhändler, die Handwerker, die Angestellten und die verschiedenen Kategorien von Fabrikarbeitern bis hinunter zum Tagelöhner gerechnet.138 Diese Berliner Unternehmer unterschieden sich nicht nur in ihrem Schichtungsbild von der geschilderten Führungsschicht; sie stuften sich selbst audi gesellschaftlich anders ein. Während sich — wie sich an wenigen überlieferten Beispielen zeigen ließ — die Führungsschicht der Berliner Unternehmer der Oberschicht ihres dichotomisch angelegten Schichtungsbilds zuordnete, rechneten sich die Unternehmer, die ein stärker aufgegliedertes Schichtungsbild besaßen, der Mittelschicht zu. Teils bezeichneten sie sich als Angehörige der „Mittel-Klasse der Fabrikanten" oder als „Fabrikanten und Kaufleute des Mittelstandes", 139 teils stuften sie sich ohne direkte soziale Rangbezeichnung unter der geschilderten Führungsschicht der Berliner Unternehmer ein. 140 Neben vereinzelten Kaufleuten und Bankiers waren die Unternehmer, von denen solche Schichtungsbilder und Selbsteinsdiätzungen überliefert sind, vor allem Textilindustrielle. Aus anderen Industriezweigen sind nur wenige Träger solcher Bewußtseinsformen und -entwicklungen bekannt. Nur Einzelfälle aus der Möbelindustrie, der Gummiwarenindustrie und der chemischen Industrie lassen sidi fassen. Zudem gab es diese mittelständische Selbsteinschätzung unter Unternehmern in Berlin besonders vor der Jahrhundertmitte; in der Zeit danach scheint die soziale Unterordnung unter die geschilderte Führungsschicht der Berliner Unternehmer im Bewußtsein der „mittelständischen" Unternehmer nicht mehr so stark vorgeherrscht zu haben. Zumindest lassen sich derartige Schichtungsbilder nicht mehr fassen. Dies hängt damit 138 Berliner Wollwarenfabrikanten an Handelsmin., 3 . 3 . 1848, D Z A Merseburg, Rep. 120 A V I I I 1 N r . 3 Bd. 1 („kleine Fabrikanten und Zwischenhändler"); Berliner Polytechnische Gesellschaft an Handelsmin., 1 1 . 5 . 1 8 4 8 . . . („kleine Gewerbetreibende", „kleine Fabrikanten"); D. A. Benda, Robert Peel's Finanz-System oder über die Vorzüge der Einkommensteuer im Gegensatz zu Staatsanleihen und Zinsreductionen, Berlin 1842, S. 87 („Mittel- und ärmere Klassen"); Lebenheim/Risdi an Staatsmin., 19.4.1849, D Z A Merseburg, Rep. 120 A X I 2 N r . 4 („mittlerer und kleinerer Handwerker, K a u f m a n n und Fabrikant", „Arbeiterstand", Tagelöhner). Zur Frage der Angestellten vgl. die Stellungnahme von Berliner Unternehmern in: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, J g . 1848, S. 294 f., 300 f. 138 Ludwig König an Finanzmin., 23. 11.1830, D Z A Merseburg, Rep. 120 A I V 6 b N r . 13; Berliner Wollwarenfabrikanten an Handelsmin., 3 . 3 . 1848, D Z A Merseburg, Rep. 120 A V I I I 1 N r . 3 Bd. 1. 140
C. F. Schildknecht, Vorschläge zur Hebung
der deutschen Industrie
. . S . 8.
176
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
zusammen, daß in ihrem Gesellschaftsbild tendenziell zwei Dichotomien — im Sinne gesamtgesellschaftlich durchschlagender Abhängigkeitsverhältnisse — angelegt waren, die sich allerdings entgegengesetzt entwickelten. Die eine Dichotomie setzte bei der finanziellen Abhängigkeit dieser „mittelständischen" Unternehmer, vor allem der Fabrikanten, von reichen Bankiers und Kaufleuten an. Den meisten Berliner Unternehmer scheint allerdings dieses Abhängigkeitsverhältnis nur als eine individuelle oder höchstens für einen Industriezweig spezifische Situation bewußt geworden zu sein; nur selten solidarisierten sich daher diese „mittelständischen" Unternehmer mit anderen Gruppen der gewerblichen Wirtschaft gegen die reichen Bankiers und Kaufleute. Schichtungsbilder, in denen dieses Abhängigkeitsverhältnis zu einer die gesamte Gesellschaft beherrschenden Dichotomie ausgeweitet wurden, sind sehr selten. Ein Beispiel dafür ist der Berliner Kaufmann D. A. Benda, nach dessen Ansicht sich jede Gesellschaft in zwei Klassen teilte. „Nur die Erste besitzt Eigenthum und darf Eigenthum besitzen, die Andere ist theils bloße Sache und als solche Eigenthum der Ersten, theils kann sie Eigenthum nur zufolge der zustimmenden Gnade der Ersten sich erwerben." 141 Von diesem Schichtungsbild aus unterteilte er die damalige Berliner gewerbliche Wirtschaft in „Reiche und Geschäftsmänner" einerseits, die „Klassen des Mittel- und ärmeren Standes" andererseits.142 Während diese eine Dichotomie nach den vierziger Jahren bei den Berliner Unternehmern der Mittelschicht zumindest nicht mehr faßbar ist, trat ab 1848 eine andere Dichotomie in den Vordergrund ihres Bewußtseins, in der sie nicht die Abhängigen waren: das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das bahnte sich schon in den vierziger Jahren an. Für beide Positionen in diesem Abhängigkeitsverhältnis entwickelten sich — wie gezeigt — während der vierziger Jahre in der Sprache dieser Berliner Unternehmer sozial immer stärker generalisierende und gleichzeitig immer schärfer auf diesen Konflikt zugeschnittene Begriffe. Wie wichtig diesen Berliner Unternehmern der Konflikt mit der Arbeiterschaft dann ab 1848 erschien, läßt sich am besten an ihren sozialpolitischen Aktivitäten erkennen, in denen sie sidi grundsätzlich von der Führungsschicht der Berliner Unternehmer unterschieden. Während diese Führungsschicht über kurzfristige und punktuelle karitative Eingriffe nicht mehr als extreme Verschlechterungen 141
D. A. Benda, Robert Peel's Finanz-System A. a. O., S. 87.
. . S . 103.
Die Unternehmer der Mittelschicht
177
in den Lebensbedingungen der Unterschichten abzumildern und ansonsten nicht das damals bestehende System der Einkommensverteilung und sozialen Aufstiegschancen zu verändern suchte, zielten die sozialpolitischen Aktivitäten der „mittelständischen" Unternehmer seit den vierziger Jahren auf Veränderungen der damaligen Sozialstrukturen. Sie fehlten daher weitgehend in den karitativen Organisationen, in denen sich die unternehmerische Führungsschicht sozialpolitisch betätigte. Während sich umgekehrt die unternehmerische Führungsschicht aus der städtischen Verwaltung weitgehend heraushielt, arbeiteten die „mittelständischen" Unternehmer dort in größerem Umfang mit — allerdings mit kennzeichnenden Schwerpunkten: Im Bereich der Kommunalverwaltung, in dem karitative Methoden im Vordergrund standen, insbesondere also in der Armendirektion, engagierten sidi die kommunalpolitisch aktiven Unternehmer relativ selten. In den Aufsichtsgremien der kommunalen Sparkasse und der Gewerbeschule dagegen waren sie überproportional stark vertreten — in Bereichen also, in denen es mit kommunalen Eingriffen in das Sparverhalten und der Ausbildung besonders der Mittel- und Unterschichten um strukturelle Veränderungen ging. Noch deutlicher war dieser Unterschied in der sozialpolitischen Aktivität von Berliner Unternehmern bei deren Mitarbeit im Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen erkennbar, der damals die konkrete Alternative zu den karitativen Organisationen der Führungsschicht der Berliner Unternehmer darstellte. In der Form, in der sich das Programm dieses sozialpolitischen Verbandes nach 1848 konkretisierte, ging es ihm eben nicht um sozial diffus gestreute und kurzfristige karitative Maßnahmen, wie in jenen karitativen Organisationen, sondern um speziell auf eine soziale Schicht, den gewerblichen Arbeiter, zugeschnittene Strukturreformen, mit denen insbesondere die wirtschaftlich relevanten sozialen Normen der Arbeiterschaft in Richtung auf „Arbeit, Fleiß und Sparsamkeit" hin verändert und der Arbeitsmarkt stabilisiert und durchlässiger gemacht werden sollte.143 Nur im Stadium der ersten und erfolglosen Iniative zur Gründung dieses Verbandes und seiner Berliner Lokalorganisation 1844 waren Angehörige der Führungsschicht der Berliner Unternehmer wie die Bankiers und Korporationsältesten Wilhelm Beer und Joseph Mendelssohn und der Großkaufmann und Korporationsälteste Keibel
143 Vgl Summarischer Bericht über die Wirksamkeit des Centraivereins, in: Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1849, 3. Lfg., S. 407 ff. 12 Kaelble, Berliner Unternehmer
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II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
in den entscheidenden Verbandsgremien anzutreffen. 144 1848, als diese Initiative wieder aufgegriffen und realisiert wurde, waren die Angehörigen der unternehmerischen Führungsschicht sehr bald teils nur noch passive Mitglieder, teils traten sie dieser Organisation gar nicht mehr bei.145 Die Unternehmer, die weiterhin und sogar zahlenmäßig in immer stärkerem Maße in den Entscheidungsgremien dieses Verbandes mitarbeiteten, gehörten zu der hier auf Grund ihres Schichtungsbilds während der vierziger Jahre als „mittelständisch" bezeichneten Gruppe. Zum größten Teil handelte es sich dabei um Textilindustrielle wie die Kattunindustriellen Stephan und Wallach, die Seidenindustriellen Meyer und Gropius, den Wollwarenfabrikanten Sussmann und den Tuchfabrikanten Sehlmacher; nur sehr viel vereinzelter gesellten sich ihnen Unternehmer aus anderen Industriezweigen wie der Lederindustrielle Kampffmeyer oder der Chemie-Industrielle Kunheim zu. 146 Diese die „mittelständischen" Unternehmer kennzeichnende sozialpolitische Verhaltensweise hatte verschiedene Gründe. Ein ganz entscheidender Unterschied zu den meisten Angehörigen der Führungsschicht der Berliner Unternehmer, insbesondere zu den großen Bankiers, bestand darin, daß jene auf Grund ihrer ökonomischen Rollen kaum einmal direkt in Kontakt und Konflikt mit der sich zum ersten Mal sozial bewußt werdenden und politisch formierenden industriellen Arbeiterschaft gerieten. Den führenden Berliner Bankiers erschien daher der sich Ende der vierziger Jahre zuspitzende Konflikt mit der Arbeiterschaft nicht als ein neuartiger sozialer Prozeß, der sich aus der einsetzenden Industrialisierung ergab, sondern nur — wie gezeigt — als eine zeitweilige Anspannung in einem naturgegebenen System von Besitzunterschieden. Für diese Unternehmer fehlte daher auch der
144
Mitglieder des ersten Gründungsvorstands des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, in: Berlinische Nachrichten, Nr. 268 vom 1 4 . 1 1 . 1 8 4 4 ; Unterzeichner des Gründungsaufrufs des betreifenden Lokalvereins in: a.a.O., Nr. 276 vom 23.11. 1844. 145 1848 waren immerhin noch der Vorsitzende der kaufmännischen Korporation, Carl, und der Bankier Oppenfeld Mitglieder des Vorstands des Centraivereins {Mitteilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 1. Jg. [1848], S. 25); schon im folgenden Jahr hatten sie sich zurückgezogen, ohne daß andere Angehörige der unternehmerischen Führungsschicht sie ersetzten (a. a. O., 2. Jg. [1849/50], H . 7/8, S. 22 ff.; a.a. O., Jg. 1852, H . 10, S. 112ff.; vgl. auch die folgenden Jahrgänge, insbesondere das Mitgliederverzeichnis in: Der Arbeiter freund, 5. Jg. [1867], S. 318 ff.). 14
«
Ebda.
Die Unternehmer der Mittelschicht
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soziale Anstoß, ihre bisherige, rein karitative sozialpolitische Aktivität grundlegend zu ändern. In ganz anderer Intensität traf dagegen von den vierziger Jahren an der von der Arbeiterschaft ausgehende Druck einen großen Teil der Unternehmer der Mittelschicht. In ihren Augen beherrschte dieser Konflikt beispielsweise die Märzereignisse des Jahres 1848, während derer sie „auf mehrfache Weise durch die an Fabrikbesitzer und Arbeitgeber gestellten Forderungen der in Masse auftretenden Arbeiter und Gesellschaften in Unruhe versetzt worden [waren]. Die solchermaßen bedrängten Arbeitgeber sahen sich meistens in einen ratlosen und hilflosen Zustand v e r s e t z t . . . Wir erkennen übrigens vollkommen an, daß in vielen Fällen dergleichen Forderungen gerechtfertigt sein möchten." 147 Ähnlich dominierend erschien dieser Konflikt mit der Arbeiterschaft aus dem Blickwinkel des Kattundruckereibesitzers Theodor Goldschmidt. Nach jahrelangen Schlichtungsverhandlungen zwischen Unternehmern und den durch die Mechanisierung der Berliner Kattundruckereien arbeitslos gewordenen Handdruckern und in der Situation drohender und später auch einsetzender Arbeitsniederlegungen schrieb er: „Ja! Wir erkennen es an, daß die Revolutionen des Jahres 1848 wesentlich sociale sind, daß Opfer gebracht werden müssen."148 Diese — von der sozialen Gruppe der Unternehmer aus gesehen — vorgeschobene Position der „mittelständischen" Unternehmer im Konflikt mit den Arbeitern führte teilweise zu einer zunehmenden Neigung zu repressiven Maßnahmen bis hin zur Mitarbeit in der bei Arbeiterunruhen eingesetzten Bürgerwehr, 149 teilweise zu Reformen, mit denen versucht werden sollte, die sozialen Verhaltensweisen der Arbeiter zu beeinflussen. 147
Berliner Bürgergesellsdiaft an Handelsmin., 11.4.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 60 Bd. 1. 148 Theodor Goldschmidt an die Kommission zur Schlichtung zwischen Kattunfabrikanten und Kattundruckern, 26.10.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 D VIII 2 Nr. 21; zu Arbeitsniederlegungen: Berlinische Nachrichten vom 4. 3. 1849. 148 In der Eingabe von Berliner Wollwarenfabrikanten (an Handelsmin., 3. 3.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 A VIII 1 Nr. 3 Bd. 1), die auch von anderen bedeutenden Berliner Textilindustriellen wie Liebermann, Reichenheim, Sussmann, Baudouin mitunterzeichnet wurde, bezeichneten sich die Signataren als „mittelständisdie" Unternehmer, „die alle der Bürgerwehr angehören". In Entscheidungsposition in der Bürgerwehr waren — soweit bekannt — fast nur Textilindustrielle tätig. Der Seidenwarenfabrikant Rimpler war Kommandant und beim Einsatz der Bürgerwehr gegen die Arbeiter im Oktober 1848 mitbeteiligt (Berlinische Nachrichten, Nr. 243 vom 17.10.1848). Die Textilindustriellen Eschwe und Glaue gehörten während derselben Zeit zum Stab des Commandeurs der Bürgerwehr (a. a. Ο., Nr. 250 vom 26.10.1848). 12*
180
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Die sozialpolitischen Aktivitäten dieser Unternehmer der Mittelschicht waren jedoch nicht nur durch die Konfliktsituation geprägt, in die sie während der vierziger Jahre in zunehmendem Maß gerieten. Daneben machte sich ihre Interessenlage als Unternehmer sehr stark geltend. Auch hier bestand also ein wesentlicher Unterschied zur Führungsschicht der Berliner Unternehmer. Diese frühe Profilierung von Arbeitgeberinteressen mag beispielhaft an Denkschriften und Debatten über drei Problembereiche gezeigt werden: der Festlegung eines Minimallohns für Fabrikarbeiter, der Einrichtung von Kranken-, Altersund Sterbekassen für Arbeiter und der Aufhebung des Koalitionsverbots für Arbeiter. Die Festlegung eines Minimallohns, einer nicht unterschreitbaren Lohngrenze für industrielle Arbeiter, forderte 1849 der Berliner Wollwarenfabrikant Sussmann in einer Denkschrift im Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen. Nach seinen Vorstellungen sollte dieser Minimallohn für ganz Deutschland gelten, aus dem Durchschnitt der damals bezahlten Löhne berechnet und dem unterschiedlichen Preisniveau auf dem Land und in den Städten entsprechend gestaffelt werden. Obwohl Sussmann diese Vorschläge als eine „Abhülfe der Noth unter den arbeitenden Klassen" deklarierte, hatten für ihn dabei Arbeiter- oder gesamtgesellschaftliche Interessen nur untergeordnete Bedeutung; aus zwei ganz speziellen Arbeitgeberinteressen heraus schien ihm der Minimallohn vor allem empfehlenswert. Zum ersten fürchtete er, daß durch ein weiteres Absinken der Arbeitslöhne die Kaufkraft der Arbeiter als Abnehmer industrieller Produkte weiterhin geschwächt würde; festgelegte Minimallöhne bedeuteten daher für ihn soviel wie eine Stabilisierung des Absatzmarktes. Zum zweiten erhoffte er sich eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität, da bei gleichbleibender Lohnsumme und wahrscheinlich sinkenden Produktionsmengen auf Grund der festgelegten Löhne die Arbeiterzahlen wahrscheinlich absinken und dadurch eine schärfere Selektion stattfinden, „mancher schlechte Arbeiter sein Brod verlieren" würde. Um einen sozialen Druck der arbeitslos gewordenen Arbeiter zu unterbinden, sollten diese nach Sussmanns Plänen zur Kultivierung bisher unbebauter ländlicher Gebiete eingesetzt und umgesiedelt werden. 150 Ähnlich deutlich schlugen spezifische Arbeitgeberinteressen auch bei Plänen für Arbeiterkranken-, Alters- und Sterbekassen durch. Suss150 A. Sussmann, Einige Vorschläge zur Abhülfe der Noth ..., in: Mitteilungen Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1849, S. 247 ff.
des
Die Unternehmer
der
Mittelsdlicht
181
mann erhoffte sich von derartigen Arbeiterkassen eine Verminderung des Drucks auf die Arbeitgeber. 151 Der Textilindustrielle Leonor Reichenheim schlug 1848 ebenfalls ein derartiges Projekt vor. E r ging dabei „nicht von dem Prinzip aus, daß der Staat die Verpflichtung haben soll, für die Arbeiter-Klassen zu sorgen, wenn Jahre des industriellen Stillstandes hereinbrechen oder wenn Arbeiter invalide zur Arbeit werden; — ich habe es aber stets als eine moralische Verpflichtung des Arbeitgebers betrachtet, daß er, da er die Kräfte der Arbeiter benutzt, sie aussaugt, und durch den Schweiß der Arbeiter sein Gedeihen gefördert wissen will, dafür Sorge zu tragen hat". Reichenheim regte an, vom Wert der Produktion sämtlicher deutscher Fabrikanten jährlich ein halbes Prozent an eine zentrale, staatlich verwaltete Kranken-, Alters- und Sterbekasse für Industriearbeiter abzuführen. Unter anderem sah Reichenheim für sich als Arbeitgeber in dieser sozialpolitischen Einrichtung, die er in seinem eigenen Betrieb bereits teilweise eingeführt hatte, zwei Vorzüge. Einerseits wäre für ihn „keine Zerstörung der Fabriken oder einzelner Maschinen" mehr zu befürchten gewesen; andererseits erhoffte sich Reichenheim eine höhere Qualität der Industrieprodukte. Der Arbeiter „arbeitet nicht mehr für Lohn und seine ganze Thatkraft verwendet er auf das Fabrikat." Um diesen Vorteil weiter abzusichern, schlug Reichenheim eine Qualitätskontrolle durch Arbeiter vor. Dazu „wählen die Arbeiter je nach ihrer Anzahl Vertreter aus ihrer Mitte, die sidi sowohl von dem Werthe, als auch von der Stück- und Gewiditszahl der Fabrikate zu überzeugen und solches zu attestiren haben. Am Schlüsse eines jeden Monats muß der Fabrikant verpflichtet sein, von dem ermittelten Werthe der Fabrikationssumme das halbe Prozent an die Haupt-Kasse abzuführen." Im Interesse des Arbeitgebers hing damit das dieser Arbeiterkasse zur Verfügung stehende Kapital von der Produktivität der einzelnen Manufaktur- und Industriearbeiter ab. 1 5 2 Ebenso waren arbeitgeberspezifische Interessen maßgebend für die Stellung der Berliner Unternehmer zur Aufhebung des Koalitionsverbots für Arbeitnehmer Mitte der sechziger Jahre, sei es nun, daß sie sich ablehnend verhielten wie die Ältesten der Berliner kaufmännischen 151 A.a. O., S. 251; vgl. zu dieser, die preußische Sozialpolitik der fünfziger Jahre beherrschenden Motivation: Heinridi Volkmann, Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 1848—1869 ( = Schriften zur Wirtschafte- und Sozialgeschidite, Bd. 13), Berlin 1968. 152 Reichenheim an Finanzmin., 2. 5.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 59 Bd. 1.
182
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
Korporation, sei es daß sie zustimmten wie Reichenheim, damals Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Die Berliner kaufmännische Korporation war nur bereit, der Aufhebung des Koalitionsverbots zuzustimmen, wenn weitere Regeln des Wirtschaftsrechts fielen. „Lösen wir auf dem einen Punkte die Fesseln, dann scheint es uns geboten, das Prinzip der Gewerbefreiheit auf dem wirtschaftlichen Gebiete vollkommen durchzuführen, so daß keiner mehr behindert werden kann, von seinen natürlichen Kräften und Fähigkeiten, von den erlangten Fertigkeiten und Kenntnissen, sowie von seinem Kapitale jeden freien Gebrauch zu machen." Aus dem spezifischen Arbeitgeberinteresse heraus war sie daher nur bereit, zuzustimmen, „wenn der Arbeitgeber... über jede Arbeitskraft verfügen kann, die sich ihm darbietet und die er für geeignet hält, es sei Meister, Gesell oder Lehrling, er habe in diesem oder jenem Handwerk gelernt, er sei geprüft oder nicht, wenn er Arbeitskräfte heranziehen kann, woher es ihm gelingt." 153 Ebenfalls aus spezifischen Arbeitgeberinteressen stimmte dagegen Reichenheim zu, denn nach seiner Ansicht war an dieser Gesetzesrevision „in viel höherem Grade, als das Interesse der Arbeitnehmer . . . das der Arbeitgeber betheiligt. Die vollständige Freiheit beider Theile wird viel leichter zu der dringend nothwendigen Verständigung und Einigung beider führen. Die Interessen beider verschmelzen sich zu Einem, die Arbeit wird gefördert, und der Fortschritt, der Beiden zu Statten kommt, ist gesichert."154 Ein drittes Merkmal der sozialpolitischen Aktivität gerade der „mittelständischen" Unternehmer war schließlich, daß sie auf den Konflikt mit den Arbeitern kooperativ und in öffentlichen oder halböffentlichen Beratungen reagierten, Lösungsversuche also nicht primär auf den eigenen Betrieb beschränkten. Dafür dürfte zum Teil eine traditionelle Bereitschaft zur Kooperation unter den Arbeitgebern und mit Arbeitnehmervertretungen der Grund gewesen sein — eine Bereitschaft, die über die noch bestehenden handwerklichen Innungen eingeübt worden sein dürfte. So wurden die Lohnverhandlungen in der Seidenindustrie auch in den vierziger Jahren noch innerhalb der alten Innungsorganisationen zwischen den Gruppen der Fabrikanten, Meister und Gesellen geführt. Auch aus der Kattunindustrie sind solche kollektiven Lohn153 Älteste der Berliner kaufmännischen Korporation an Handelsmin., 1 0 . 4 . 1 8 6 5 , D Z A Merseburg, Rep. 120 BB I 1 Nr. 12 Adh. Bd. 1; zu Motivationen außerhalb dieser spezifischen Interessenlage vgl. H. Volkmann, Die Arbeiterfrage . . S . 142 ff. 154
Reichenheim, Sten. Ber. Zweite
(preuß.)
Kammer,
1865, Bd. 1, S. 159 f.
Die Unternehmer
der
Mittelschicht
183
absprachen überliefert. 155 Andererseits — und daraus erklärt sich audi die formelle Beibehaltung der alten Innungen — schlossen die damaligen Produktionsformen in weiten Bereichen der Textilindustrie noch eine betriebliche Sozialpolitik aus. Zum großen Teil hatten sich noch keine zentralisierten Manufakturen entwickelt; teilweise waren sogar noch die Handwerksmeister und noch nicht die Verlagsunternehmer Besitzer der Webstühle. 156 Die Berliner Unternehmer der Mittelschicht unterschieden sich also während der vierziger Jahre durch ihr soziales Schichtungsbild und ihre soziale Selbsteinstufung spätestens seit den Arbeiterunruhen von 1848 in ihrer Stellung zur Industriearbeiterschaft deutlich von den Unternehmern der damaligen Oberschicht. Die Vermögens- und vor allem die wirtschaftliche Machtverteilung unter den Unternehmern Berlins war zudem — wie oben gezeigt wurde — sehr unterschiedlich. Schließlich lassen sich spezifische Verhaltensmerkmale der Unternehmer der Mittelschicht auch in der Heiratspolitik feststellen, obwohl sich hier scharfe Grenzen zur Führungsschicht der Berliner Unternehmer nicht ziehen lassen. Im Gegensatz zur Mehrheit dieser Führungsschicht scheint sich die Masse der „mittelständischen" Unternehmer über ihre eigene Heirat nicht nur keine sozialen Verbindungen zur Oberschicht der damaligen Gesellschaft erschlossen, sondern sich darüber hinaus weit mehr als die Führungsschicht der Unternehmer sozial abgeschlossen zu haben. Das zeigt sich für die Zeit vor der Jahrhundertmitte deutlich Schiedsgericht der Seidenweber-Innung Berlins an Handelsmin., 24.10.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 BB VII 1 Nr. 87; Berlinische Nachrichten vom 4. 3.1849 (Vertrag zwischen Kattundruckereibesitzern und Kattundruckern Berlins). Zu den Berliner Maschinenfabrikanten vgl. a. a. O., vom 14. 4.1848. Für die Kohäsion unter diesen Unternehmern dürften allerdings andere Gründe maßgebend gewesen sein, darunter vor allem das gleichartige und teilweise in derselben Maschinenfabrik absolvierte praktische Training. Kennzeichnend für diese außerökonomischen Bindungen zwischen den Berliner Maschinenfabrikanten war, daß der Maschinenfabrikant Schwartzkopff in seiner während der sechziger Jahre erbauten Fabrik eine Gedenktafel für Borsig anbringen ließ (M. Osborn u. a., Berlins Aufstieg . . . , S. 45), daß bei der Beerdigung des Maschinenfabrikanten Hummel eine Reihe von Maschinenindustriellen mit Arbeitern ihrer Fabriken (und nur Unternehmer dieser Branche) teilnahmen (Berlinische Nachrichten vom 12.10.1850) und daß eine Reihe von Berliner Maschinenfabrikanten gleichsam eine Lobby für die Verleihung des Kommerzienratstitels an den Berliner Maschinenindustriellen J. C. Freund bildete (Berliner Metallindustrieller Jürst an Berliner Polizeipräs., 23. 6.1869, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. F Nr. 9881). 158 Berliner Magistrat an Kgl. Regierung zu Potsdam, 9.7.1853, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 57 Nr. 2698. 155
184
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
an den Beispielen, die für die offensichtlich gewichtigste Gruppe unter den „mittelständischen" Unternehmern, die Textilindustriellen, überliefert sind. Fast keiner der Textilindustriellen, von denen der Beruf des Schwiegervaters überliefert ist, verheiratete sich außerhalb der sozialen Gruppe der Unternehmer. Der Wollenwarenfabrikant Weigert heiratete eine Bankierstochter; der Plüschfabrikant L. Lehmann, der Seidenwarenfabrikant A. L. Bein und der Wollwarenfabrikant Leonor Reichenheim wählten sich Kaufmannstöchter. I. Hirschfeld, Ph. Meyer, A. Lehmann, Ferdinand Reichenheim und A. Selchow blieben bei der Heirat sogar innerhalb ihrer Industriebranche. N u r vom Seidenindustriellen J. E. Heese ist bekannt, daß er nicht die Tochter eines Unternehmers, sondern eines Pfarrers heiratete. 157 Auch die Unternehmer der anderen Industriezweige — soweit solche Fälle überliefert sind — hielten sich bei der Heirat meist an die Grenzen der eigenen sozialen Gruppen: immerhin sind von diesen Unternehmern auch einige gegenteilige Fälle bekannt. So heiratete der Apparatefabrikant Pintsch eine Organistentochter, der diemische Industrielle Louis Kunheim und sein Sohn Hugo Kunheim Pfarrerstöchter, der Maschinenfabrikant Hoppe eine Gastwirtstochter. Soweit bekannt, erschloß sich jedoch keiner der industriellen Unternehmer — und das ist der entscheidende Unterschied gegenüber der Führungsschicht der Unternehmer — über die Heirat den Zugang zu den anderen Führungsschichten der damaligen Gesellschaft.158 Schon bei den Führungsschichten der Berliner Unternehmer zeigte sich, daß sich die Unternehmer bei der Verheiratung ihrer Töchter mehr soziale Verbindungen über die Grenzen der eigenen sozialen Gruppe 157
Vgl. zu Weigert: J. Jacobson (Hrsg.), Die Judenbürgerbüdier..., S. 442; zu L. und A. Lehmann: Intern. Ber. im Polizeipräs., 20.9.1867, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Nr. 11425; zu A. L. Bein: J. Jacobson Die Judenbürgerbüdier..., S. 246; zu L. und F. Reidienheim: a.a.O., S. 354, 479; zu Hirschfeld: a.a.O., S.214; zu Meyer: Berliner Polizeipräs, an Handelsmin., 14.7.1856, DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 5; zu Seldiow: J. Jacobson, Die Judenbürgerbücher..., S. 412; zu Heese: Berliner Polizeipräs, an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 16.11.1869, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Η Nr. 10492. Zwar sind die genauen Heiratsdaten nicht bekannt, aus den Geburtsdaten, die mit Ausnahme der Brüder Lehmann nidit nach 1820 liegen, läßt sich jedoch schließen, daß diese Beispiele aus der Zeit vor der Jahrhundertmitte stammen. iss Vgl. z u Pintsch: P. Lindenberg, Julius Pintsch..., S. 11; zu Kunheim: 100 Jahre Kunheim ..., S. 17; Intern. Bericht im Berliner Polizeipräs., 10. 7.1872, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Nr. 11105; zu Hoppe: G. Arnold, Carl Hoppe ..., in: Tedmikgeschichte, Bd. 32 (1965), S. 46.
Die Unternehmer der Mittelschicht
185
hinaus erschlossen als bei der eigenen Heirat. Eine Zusammenstellung der genau datierbaren Fälle hierfür bietet folgende Tabelle, in der allerdings nicht nach dem sozialen Status der jeweiligen Unternehmer differenziert wurde: TABELLE 2 1
Berufe der Schwiegersöhne von Berliner Unternehmern vierziger und fünfziger Jahre159 Berufe der Schwiegersöhne
Insgesamt Zahl der Fälle
der
Zeitraum der Verlobung vierziger Jahre (in °/o)
Kaufleute, Fabrikanten, Bankiers Handwerksmeister Angestellte Buchdrucker, -handler Akadem. Berufe (Ärzte, Lehrer, Pfarrer, Apotheker, Doktoren, Professoren) Beamte Militärs
während
61 4
fünfziger Jahre (in °/o)
2
62 4 5 7
16 10 6
18 2 2
100 49
100 45
—
Berücksichtigt man hierbei die bereits geschilderte Heiratspolitik der Führungssdiicht der Berliner Unternehmer mit, so lassen sich für die Unternehmer der Mittelschicht zwei spezifische Verhaltensweisen vermuten: Erstens scheinen sie sidi nicht nur bei der eigenen Heirat, sondern auch bei der Verheiratung ihrer Töchter mehr als die Führungsschicht der Berliner Unternehmer an die Grenzen der eigenen Gruppe gehalten zu haben. Ähnlich wie bei ihren sozialpolitischen Aktivitäten schlug also bei den „mittelständischen" Unternehmern auch hier die Zugehörigkeit zur eigenen sozialen Gruppe viel stärker durch als bei der Führungssdiicht der Unternehmer, in deren karitativen sozialpolitischen Aktivitäten keine spezifisch unternehmerischen Züge erkennbar waren und die sich — wie sich auch am gesellschaftlichen Verkehr erkennen ließ — leichter in die Oberschicht der damaligen Gesellschaft einpaßten als die mittelständischen Unternehmer in die entsprechende Zusammengestellt nach Verlobungsanzeigen in den Berlinischen Nachrichten. Die Verlobungsanzeigen mußten statt der Heiratsanzeigen verwandt werden, da bei letzteren die Berufsangaben meist fehlen. 159
II. Der soziale Status der Berliner
186
Unternehmer
soziale Schicht. Zweitens läßt diese Zusammenstellung erkennen, daß — ohne eine wesentliche Änderung um die Jahrhundertmitte — die sozialen Kontakte der „mittelständisdien" Unternehmer relativ stark zur Gruppe der akademischen Berufe, zu Ärzten, Pfarrern, Lehrern, hin ausgerichtet waren, während offensichtlich Beamte und Militärs noch nicht, Handwerksmeister nicht mehr heiratstauglich waren. 160 Das erste dieser beiden Verhaltensmerkmale, die starke Abschließung der eigenen sozialen Gruppe, zeigte sich auch im gesellschaftlichenUmgang, den die „mittelständischen" Unternehmer pflegten. Unter den Clubs, die bis zur Jahrhundertmitte von ihnen besucht wurden, scheinen zwei, der „Verein der Freunde" und der „Verein der Freimüthigen" weitgehend nur von Unternehmern frequentiert worden zu sein. Schon in diesen beiden Clubs dürfte ein erheblicher Teil der Berliner Unternehmer verkehrt haben; beide Clubs zusammen hatten mehrere hundert Mitglieder. 161 Die „Börsengesellschaft", ebenfalls eine „Ressource", in die Gäste nur von Clubmitgliedern eingeführt werden konnten, war zwar sozial offener,162 umfaßte jedoch in der Mehrheit ebenfalls Unternehmer. Vor allem während der vierziger Jahre scheint diese Tendenz der sozialen Abschließung unter den „mittelständischen" Berliner Unternehmern stark gewesen zu sein. Eines der wesentlichsten Ziele des „Handelsvereins Teutonia", der 1849 als Alternative zur kaufmännischen Korporation gegründet wurde, ging in diese Richtung: „Schon viele Jahre hatte der Handelsstand Berlins gefühlt, daß es ihm an einem Vereinigungspunkte fehle, der ihn zu gegenseitigem Austausch seiner Gedanken und Wünsche über kaufmännische Interessen verbände und zugleich in gesellschaftlicher Hinsicht zu näherer Bekanntschaft der einzelnen Mitglieder desselben führe." Die Ältesten der kaufmännischen Korporation, meist der Führungsschicht der Berliner
1 6 0 Es wäre wichtig, die sozialen Konnexe, die sich über die Heirat der Töchter ergaben, mit denjenigen zu vergleichen, die aus der Berufswahl der Söhne entstanden. Dafür sind jedoch zu wenig Fälle von Unternehmersöhnen überliefert, die später nicht audi Unternehmer wurden. 161
Zum 1845 gegr. Verein der Freimüthigen (Mitgliederzahl: 2 2 2 ) :
Nachrichten,
Berlinische
N r . 22 vom 27. 1 . 1 8 5 0 ; zum 1792 gegr. Verein der Freunde (Mitglieder-
zahl: 4 2 7 ) : Immediatbericht d. Innenmin., 27. 9 . 1 8 7 2 , D Z A Merseburg, Rep. 89 Η X X I Berlin N r . 15. 1 6 2 Nach Mila war die „Börsengesellschaft" Treffpunkt des Handelsstandes, aber auch aller andern Stände" (Wilhelm Mila, Art. Ressourcen, in: ders., Berlin oder die Geschichte des Ursprungs, der allmählichen Entwicklung und des jetzigen Zustandes dieser Hauptstadt, Berlin 1929).
Die Unternehmer
der
Mittelschicht
187
Unternehmer angehörend, wurden angegriffen, weil sie es abgelehnt hatten, „einen solchen Mittelpunkt selbst abzugeben oder zu bilden". 163 Neben dieser Tendenz zur sozialen Exklusivität wiesen die Unternehmer gerade in diesen Ressourcen ein Verhaltensmerkmal auf, mit dem sie der Führungsschicht der Unternehmer glichen: den Kontakt mit Künstlern. Im „Verein der Freimüthigen" beispielsweise, der — dezidiert apolitisch — sich selbst unter die Bildungs- und Kunstgesellschaften einordnete, trafen die Unternehmer aus anderen sozialen Gruppen vor allem die prominentesten Berliner Schauspieler und Musiker an. Ganz ähnliche Zwecke wie diese Ressource verfolgten die Berliner Liebhabertheater, deren Anzahl noch um die Jahrhundertmitte erheblich zunahm; neben jungen Schauspielern und Beamten gehörten gerade auch Kaufleute zu deren typischen Mitgliedern. Dieser soziale Kontakt ergab sich aus bildungsbürgerlichen Werthaltungen, die bis in die vierziger Jahre für das Berliner Bürgertum eines der wichtigsten öffentlichkeitsbildenden Elemente war; für einen Unternehmer dieser Zeit wie Johann Daniel Riedel war Theater neben gelegentlichen Besuchen im Cafehaus „Josty" und in Restaurants und neben der Mitarbeit in Vereinen oder eventuell in der Kommunalverwaltung der wichtigste öffentliche Auftritt. 1 6 4 Noch in den sechziger Jahren scheint für die Berliner Unternehmer aus der Mittelschicht der Kontakt zu Künstlern große Bedeutung gehabt zu haben: „Der Umgang meiner Eltern war höchst anregend. Neben Kaufleuten, Berufsgenossen meines Vaters, setzte er sich besonders aus Künstlern zusammen, da mein Vater ein eifriger K u n s t f r e u n d . . . war. Übrigens spielte der .Verein Berliner Künstler' in der guten bürgerlichen Gesellschaft damals überhaupt eine wichtige Rolle: seine Winterfeste waren die vornehmsten öffentlichen Vergnügungen nach den noch in voller Blüte stehenden und von dem alten Kaiser regelmäßig besuchten ,Subskriptionsbällen' im Opernhause. Zwischen den Malern und den vermögenden Kaufleuten i«s Tätigkeitsbericht des Handelsvereins Teutonia, 30. 4.1849, DZ Α Merseburg, Rep. 120 C IX 4 Nr. 12; vgl. audi zur Abgeschlossenheit von Hofgesellschaft, Beamten und Unternehmern während der vierziger Jahre: Rudolph von Delbrück, Lebenserinnerunzen 1817—1867, 2 Bde., Leipzig 1905, Bd. 1, S. 194. 184 Zum Verein der Freimüthigen: Berlinische Nachrichten vom 27. 1.1850; zu den Liebhabertheatern: A. Cosmar, Neuester und vollständiger Wegweiser..., 11. Aufl., S. 82, und 14. Aufl., S. 88; zu Riedel: 150 Jahre Riedel-de Haen ..., S. 34; zur Mitarbeit in der Kommunalver waltung: H. Kaelble, Kommunalverwaltung..., in: O. Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung ..., S. 371—415.
188
II. Der soziale Status der Berliner
Unternehmer
bestand eine durchgehende Bekanntschaft, wie denn auch die Bekannten meines Vaters fast ausschließlich .Bilder kauften', meist mit selbständigem Geschmack . . . Sonst waren die Gelehrten in diesen Kreisen seltener; doch hatte der Philosoph Lazarus in seiner Wohnung am Königsplatz einen Salon, in dem mein Vater manches hochberühmte Mitglied der Universität traf. Im ganzen, glaube ich, war der Verkehr zwischen den Lehr- und Nährständen damals lebhafter als heute; dafür hielten sich die Beamten mehr zurück, obwohl sie politisch vielfach mit den Kaufleuten und Professoren auf demselben Boden standen." 165 Diese soziale Abgeschlossenheit der Berliner Unternehmer der Mittelschicht — und dazu gehörte die Masse der Unternehmer — erklärt, warum der Begriff „Bürgertum" im Sprachgebrauch der Unternehmer der preußischen Residenzstadt selten war: Die sozialen Verbindungen zwischen Unternehmern, bürgerlicher Beamtenschaft, akademischem Bürgertum und der Intelligenz waren nicht eng genug, um ein gemeinsames Schichtbewußtsein wie in Frankreich oder auch im westlichen Teil Preußens entstehen zu lassen. Einen gewissen Ersatz stellte allerdings die Entwicklung der bürgerlichen Öffentlichkeit während der vierziger Jahre dar. Sie begann in dieser Zeit ihre bislang ausschließlich kulturelle Bezogenheit zu verlieren und sich zu politisieren. Das zeigen deutlich die negativen Reaktionen auf diesen Wandel. „Berlin ist anders geworden . . . Berlin ist nicht mehr im Stande, über den Pas einer Tänzerin in Enthousiasmus zu gerathen, und einer Sängerin feierliche Serenaden zu bringen. Berlin fängt sich an zu schämen, die Zeitungen mit Sonetten auf eine Schauspielerin zu füllen und die Vossische nur wegen den Concert- und Operreferaten Ludwig Rellstab's zu lesen."1ββ Ein ausschließlich kulturell bestimmter Club wie der „Verein der Freimüthigen" mußte um seinen Bestand fürchten: „In einer Zeit, wo die Leidenschaft politischer Parteien selbst in das Heiligtum des Familienlebens einzudrängen w u ß t e . . . hat der Verein es verstanden, auf der Grundlage eines weisen Statuts sich in bewunderns185
Richard A. Meyer, Aus einem alten Berliner Bürger-Hause, in: Erforschtes und Erlebtes ..., S. 169 f.; zum sozialen Status innerhalb der Unternehmer vgl. die Stellung zu anderen Berliner Unternehmern S. 168. Meyer bezieht sidi auf den Zeitraum zwischen 1860 und 1875 (a. a. O., S. 167). Mit allen obigen Einschränkungen schreibt er zu den Beziehungen dieser Unternehmer zum Hof und zu den Militärs: „Die Universität, der Verein Berliner Künstler und die Börse waren drei Mittelpunkte, zu deren einem man nur in Beziehung zu stehen brauchte, um ,ganz Berlin' (mit Ausschluß der Hofkreise, aber nicht völlig mit Aussdiluß des Militärs) zu kennen" (a. a. O., S. 173). " · Feodor Wehl, Berliner Ste Kupfer, Sten. Ber. Erste preuß. Kammer, 1849/50, Bd. 2, S. 917. Kupfer, a. a. O., Bd. 4, S. 2279; ebenso: Kupfer, a. a. O., Bd. 2, S. 747. 78 Carl, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus, 1855/56, Bd. 2, S. 1084.
77
Unternehmer
und
Parlamentsmandat
225
halb dieses Hauses als Arbeitgeber gemacht habe". 79 Schon dabei waren freilich die sozialen Gruppen, auf die sich diese Unternehmer jeweils bezogen, recht verschieden. Wenn Carl und Kupfer alle diejenigen Unternehmer einschlössen, die auch in der Berliner kaufmännischen Korporation organisiert waren, während Reichenheim nur die industriellen Unternehmer vertrat, so spiegeln sich darin schon geschilderte Entwicklungen der sozialen Gruppe der Berliner Unternehmer, vor allem die Differenzierung nach der Unternehmerfunktion, wider. Andere Interessen, die die Berliner Unternehmer im preußischen Parlament vertraten, zeigen darüber hinaus, daß sie sich nicht strikt als Träger der Interessen ihrer gesamten sozialen Gruppe verstanden. So setzte sich der Zuckerindustrielle Kupfer 1849 für die Interessen der Rübenzuckerindustrie und gegen die Interessen der Leinwandexporteure ein; der Textilindustrielle Reichenheim nahm 1862 für „das Interesse der Weberei und Spinnerei unseres Landes" gegen die industriellen Abnehmer dieser Industriezweige Partei. 80 Wenn also die Berliner Unternehmer im preußischen Parlament in Interessenkonflikt mit anderen Unternehmern gerieten, so übten sie ihr Mandat nicht mehr als Interessenauftrag der gesamten sozialen Gruppe der Unternehmer aus, sondern setzten sich auch im Parlament für die Interessen ihres speziellen Industriezweiges ein. Reichenheim hat freilich versucht, sich dabei gleichsam vor der gesamten Gruppe der industriellen Unternehmer zu rechtfertigen, indem er nachweisen wollte, daß seinem speziellen Industriezweig über seine Forderungen „Vortheile zugeführt werden, die dereinst einmal von allen Industriellen anerkannt werden dürften". 81 Zumindest ergab sich also bei der parlamentarischen Tätigkeit der Berliner Unternehmer manchmal ein Widerspruch zwischen ihrem Mandatsverständnis, das auf die gesamte soziale Gruppe der Unternehmer bezogen wurde, und der Praxis der Mandatsausübung, die manchmal auch nur die speziellen eigenen Interessen berücksichtigte. Ein weiterer Widerspruch bestand darin, daß die Berliner Unternehmer — und zwar dieselben — eine zweite, ganz andere Auffassung ™ Zollpolitik: Reichenheim, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus, 1862 (2. Sess.), Bd. 1, S. 214 und S. 397; Sozialpolitik: Reichenheim, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus, 1865, Bd. 1, S. 159. Weiteres Beispiel dafür, daß Reidienheim im preußischen Abgeordnetenhaus „als Industrieller" spradi: Reidienheim, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus, 1862 (2. Sess.), Bd. 2, S. 769. 80 Kupfer, Sten. Ber. Erste preuß. Kammer, 1849/50, Bd. 1, S. 203; Reichenheim, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus, 1862 (2. Sess.), Bd. 2, S. 793. 81 Reidienheim, ebda. 15 Kaelble, Berliner Unternehmer
226
III. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscbeidungsprozeß
von ihrem parlamentarischen Mandat vortrugen. So war Kupfer „in das Parlament meiner Nation nicht eingetreten, um Ruhm und Beifall zu erlangen, oder die sogenannte Popularität, sondern um meine Schuldigkeit gegen mein Vaterland zu thun". 82 Carl stand in der Debatte über die Zuckerzölle „auf einem vollkommen objektiven Standpunkte; ich habe kein Interesse dabei". 83 Noch dezidierter äußerte sich Reichenheim: „Ich muß und werde stets einen Unterschied machen zwischen meiner Stellung als Kaufmann außerhalb des Hauses, wo mir ein solches Gesetz möglicherweise Nutzen schaffen kann und zwischen meiner Stellung als Abgeordneter. Als Kaufmann mag ich aus Bequemlichkeitsgründen annehmen, als Abgeordneter thue ich meine Pflicht und verwerfe das Gesetz." 84 In der Debatte über die Aufhebung des Koalitionsverbots für die Arbeiter kritisierte Reichenheim die Regierung, weil sie beabsichtigte, vor der Entscheidung „auch die Organe des Handelsstandes zu fragen. Ich habe den tiefsten Respekt vor den Organen des Handelsstandes, aber das sind dabei Betheiligte. Ob man die Interessenten fragen sollte bei einer so hochwichtigen Frage, scheint mir sehr bedenklich zu sein."85 Bei Kupfer und Carl, beides Älteste der kaufmännischen Korporation Berlins, hebt sich dieser Widerspruch zugunsten des Interessenmandats auf. Die Rede, in der Kupfer seine politische Tätigkeit als „Schuldigkeit gegen mein Vaterland" verstanden wissen wollte, hatte konkret den Zweck, die gegen das Institut der Bürgerwehr gerichteten Interessen der Unternehmer darzustellen. 86 Carls „objektiver Standpunkt" bedeutete nur, daß er, der Textilindustrielle, kein Interessenvertreter der Zuckerindustrie war. Auch bei Reichenheim handelte es sich in dem einen Fall nur um den Versuch, seiner politischen Tätigkeit dort eine über die soziale Gruppe der Unternehmer hinausreichende Legitimationsbasis zu verschaffen, wo die unternehmerischen Interessen nicht verletzt wurden. Zwar gab er vor, als Abgeordneter gegen ein seine Unternehmerinteressen begünstigendes Gesetz zu votieren; er stimmte aber auch dagegen, weil „für die Betheiligten, denen das Gesetz zur Bequemlichkeit dienen soll [also auch den Unternehmern], Verluste entstehen, die weit über das Maß des Nutzens hinausgehen". 87 82 83 84 85 8e 87
Kupfer, Sten. Ber. Erste preuß. Kammer, 1849/50, Carl, Sten. Ber. Erste preuß. Kammer, 1852/53, S. Reichenheim, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus, Reichenheim, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus, Kupfer, Sten. Ber. Erste preuß. Kammer, 1849/50, Reichenheim, Sten. Ber. preuß. Abgeordnetenhaus,
Bd. 2, S. 129. 1232. 1862 (2. Sess.), Bd. 1, S. 397. 1865, Bd. 1, S. 160. Bd. 2, S. 429. 1862 (2. Sess.), Bd. 1, S. 397.
Unternehmer
und
Parlamentsmandat
227
Auch im anderen Fall, in dem sich Reichenheim gegen die Beteiligung von unternehmerischen Interessenten an einer sozialpolitischen Entscheidung wandte, klafften vorgegebenes Mandatsverständnis und Mandatspraxis auseinander. Hier benutzte Reichenheim seine generelle Kritik an den unternehmerischen Interessenten als politische Waffe in seinem Konflikt mit der Berliner kaufmännischen Korporation. 8 8 Die historische Alternative zu diesem Verständnis des parlamentarischen Mandats stellen die Vorstellungen dar, mit denen die Berliner Unternehmer an städtische Ehrenämter herangingen. Orientiert noch an einem ständischen Selbstverständnis, wurde die Tätigkeit in der kommunalen Selbstverwaltung dem kaufmännischen Pflichtenkatalog zugerechnet. Der Kaufmann sollte demnach „seinen Mitbürgern, wenn er gewählt wird, als Kommunal-Beamter Dienste leisten, er soll an unzähligen Vereinen und Gesellschaften Theil nehmen und mitwirken, er soll mehrere Monate im J a h r als Geschworener fungiren". 8 9 Welche Bedeutung solche Ehrenämter für die Unternehmer besaßen, zeigte das Beispiel des Berliner Kaufmanns Denant, der entgegen seinen Erwartungen von der Staatsverwaltung nicht in die brandenburgische Ständeversammlung delegiert wurde, darin eine Schädigung seines „kaufmännischen R u f s " sah und als Kompensation dafür den Kommerzienratstitel beantragte. 90 Die parlamentarischen Mandate von Unternehmern hingegen hatten — wie es nicht nur die Unternehmer im Parlament, sondern audi die der kaufmännischen Korporation nahestehende Spenersche Zeitung schon 1849 formulierte — die Funktion, den „Mangel an wirklich praktisch erfahrenen Geschäftsmännern aus dem Gewerbstande" im Parlament abzugleichen und ihre „Interessen zur Sprache" zu bringen. 91 Die Berliner Unternehmer bezogen ihr parlamentarisches Mandat also vor allem auf die Interessen der sozialen Gruppe der Unternehmer. Die Zusammenarbeit mit anderen bürgerlichen Gruppen, vor allem mit der hohen Beamtenschaft, zeichnete sich zwar als Tendenz auf der Ver88 Die unterschiedliche Stellungnahme Reidienheims und der Berliner kaufmännischen Korporation zur Aufhebung des Koalititionsverbots für Arbeiter — darum handelte es sich hier — und der Bezug auf die Interessenlage des Arbeitgebers, die bei Reichenheim dabei durchschlug, wurden bereits geschildert (vgl. ZWEITES KAPITEL). 8® Korporationsältester Kupfer, Sten. Ber. Erste preuß. S. 429.
Kammer,
1849/50, Bd. 2,
Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Finanzmin., 1 . 5 . 1 8 4 6 , DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 2. 90
91
15»
Berlinische
Nachrichten,
Nr. 28 vom 2. 2.1849.
228
III.
Die Berliner
Unternehmer
im politischen
Entscheidungsprozeß
bandsebene ab, schlug sich jedoch im Mandatsverständnis der Berliner Unternehmer kaum nieder. Hätten die Unternehmer ihr politisches Mandat auf das Gesamtinteresse bezogen, so hätte man darin den ideologischen Rahmen für eine solche Zusammenarbeit auf parlamentarischer Ebene sehen können. Selbst in den Fällen, wo die Unternehmer ihr politisches Mandat scheinbar auf das Gesamtinteresse bezogen, gab es keine Anzeichen dafür, daß sie dabei auf eine solche Zusammenarbeit abzielten. Andererseits waren die Berliner Unternehmer von ihrem Mandatsverständnis her auch nicht ausschließlich Vertreter ihrer sozialen Gruppe, obwohl sich auf der Verbandsebene eine solche Tendenz — wie gezeigt — abzeichnete. Bei wirtschaftlichen Konflikten innerhalb der Unternehmerschaft nahmen sie entweder Partei für den eigenen Wirtschaftszweig oder verhielten sich — wenn nicht selbst betroffen — neutral. Nur wenn ein weitgehender Konsens innerhalb der sozialen Gruppe der Unternehmer vorgegeben war, wurden sie zu deren Mandataren. 92 Sowohl auf der Verbandsebene als auch beim Mandatsverständnis der Berliner Unternehmer zeigte sich also, daß bei der politischen Aktivität der Berliner Unternehmer vor allem die eigenen wirtschaftlichen Interessen im Vordergrund standen. Es erhebt sich daher die Frage, ob sich diese Tendenz auch in der Parteizugehörigkeit der Berliner Unternehmer niederschlug, ob sie als Parlamentarier und als Wähler jeweils nur einer Partei zuneigten oder ob sie ohne erkennbaren Schwerpunkt Mitglieder verschiedener Parteien waren. Die Parteizugehörigkeit der Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern zeigt die Zusammenstellung von TABELLE 28. Der Fall, daß die Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern zur gleichen Zeit verschiedenen Parteien angehörten, trat danach zumindest im preußischen Abgeordnetenhaus niemals ein. Während der fünfziger Jahre gehörte der Korporationsvorsteher und ehemalige Textilindustrielle Carl, damals einziger Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern, zuerst der altliberalen Fraktion Auerswald-
®2 Der freilich beiläufigen Bemerkung Hess', die Unternehmer im preußisdien Abgeordnetenhaus seien „keine engstirnigen Interessenvertreter" gewesen, kann daher nicht zugestimmt werden (Adalbert Hess, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte. Zur Politik und sozialen Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses der Konfliktszeit (1862—1866) [ = Politische Forschungen, Bd. 6], KölnOpladen 1964, S. 64).
Unternehmer und
Parlamentsmandat
229
TABELLE 2 8
Parteizugehörigkeit
der Parlamentarier
unter den Berliner
Unternehmern93
Name
1849— 1853— 1856— 1859— 1862— 1865— 1867— 1870— 1852 1856 1859 1862 1864 1867 1870 1873
Carl, Ältester Kupfer, Ältester Schauß, Ältester Magnus Seeger Reichenhelm Siemens, Ältester Böck Heyl Hardt, Ältester Hagen
R. R. R. ? R.
Kons.
Kons.
V.
F F F F
F/Nl N1 F F F —/Ν 1 F
Schwerin, danach der von ihm geführten Fraktion Carl an. 94 Während der ersten Sessionen in der „neuen Ära" gab es wiederum nur einen Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern, den Textilindustriellen Leonor Reichenheim; er war damals Mitglied der linksliberalen Fraktion von Vincke, gehörte dann mit dem Elektroindustriellen Siemens zu den Mitbegründern der ersten „Central-Wahl-Comites der deutschen Fortschrittspartei",95 der sich auch alle übrigen Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern anschlossen. Auch der Bruch mit der Fortschrittspartei nach dem Verfassungskonflikt von 1866 vollzogen alle Berliner Unternehmer-Parlamentarier gemeinsam.
· ' Abkürzungen: R. = rechts, Kons. = konservativ, V. = Fraktion von Vincke, F = Fortschrittspartei, N1 = Nationalliberale Partei, Ältester = Ältester der Berliner kaufmännischen Korporation. Zusammengestellt nach: Franz Lauter, Preußens Volksvertretung in der zweiten Kammer und im Haus der Abgeordneten vom Februar 1849 bis Mai 1877, Berlin 1878; Listen der Wahlmänner für die 1. und 2. Kammer von 1849, StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W Nr. 178. Die erste Spalte der Tabelle bezieht sich auf die erste Kammer, der seit der Session 1852/53 keine Unternehmer Berlins mehr angehörten; die folgenden Spalten beziehen sich auf die zweite Kammer, in der erst nach 1852 Berliner Unternehmer Mitglieder waren. M Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschicbte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart 1863, S. 181, 178; F. Lauter, Preußens Volksvertretung . . S . 28. 95 Programm des Central-Wahl-Comites der deutschen Fortschrittspartei, 14.3. 1862, StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W Nr. 178.
230
III. Die Berliner Unternehmer
im politischen
Entscbeidungsprozeß
Siemens und der Farbenindustrielle Heyl gaben ihr parlamentarisches Mandat auf; Reichenheim und der Kaufmann Hardt traten der Nationalliberalen Fraktion bei.96 Ganz so eindeutig war unter der Masse der Berliner Unternehmer die Haltung gegenüber den politischen Parteien nicht. Zieht man dafür als einen einigermaßen angenäherten und einzig verfügbaren Index die Parteizugehörigkeit der Unternehmer unter den Berliner Wahlmännern für die Zweite Kammer heran, so stimmten bei den Wahlen im Juli 1849 51 % für den linken Flügel, 44 % für den rechten Flügel; 3 °/o blieben unentschieden.97 Ähnlich wie unter den Parlamentariern läßt sich jedoch auch für den Großteil der Berliner Unternehmer bis 1862 ein klarer Durchbruch der Fortschrittspartei erkennen. Für die Fortschrittspartei stimmten damals 89 % der Unternehmer unter den Berliner Wahlmännern, für die Liberalen dagegen nur 7 % , für die Konservativen sogar nur 5 °/o.98 Mandatsverständnis und Parteizugehörigkeit der Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern weisen darauf hin, daß die Unternehmer Berlins als politische Gruppe weitgehend homogen waren. Es bleibt allerdings noch die entscheidende Frage offen, ob es ausschließlich die kaufmännische Korporation war, die die Brücke zwischen Verbands- und Parlamentsebene schlug oder ob sich — ähnlich wie auf der Verbandsebene — historische Alternativen entwickelten. Die am leichtesten faßbaren Verbindungen, die personellen Verflechtungen zwischen dem Ältestengremium der Korporation und den Unternehmern in den brandenburgischen Ständeversammlungen und preußischen Parlamenten, zeigt die Aufstellung von TABELLE 2 9 . Zwischen dem Ältestengremium der kaufmännischen Korporation und den ständischen Vertretungen bzw. den preußischen Parlamenten bestand also bis 1859 ein enger Konnex. Von den drei Ständevertretern, die Berlin 1847 in die Vereinigten Landtage Preußens entsenden konnte, war einer, der Kaufmann Schauß, Korporationsältester. Auch in den drei ersten Sessionen der Ersten preußischen Kammer besaßen die Korporationsältesten noch ein starkes Gewicht; erst mit dem Beginn der „neuen Ära" schwand diese Einflußmöglichkeit der kauf96
F. Lauter, Preußens
Volksvertretung
...,
passim.
97
Berechnet nadi der Liste der Wahlmänner für die 2. Kammer v o m Juli 1849, StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W N r . 178. 98
Berechnet nach: J. L. Fernbach, Die 1863.
bisherigen
Wahlmänner
Berlin's,
Berlin
Unternehmer
und Parlamentsmandat
231
TABELLE 2 9 Verflechtungen
zwischen
dem Ältestengremium
Ständeversammlungen
bzw.
1835 bis Zeitraum
1834,1837 1841 1843 1847 1848 1849—1852 1853—1856 1856—1859 1859—1862 1862—1864 1865—1867 1867—1870 1870—1873
und den
den preußischen
brandenburgischen Parlamenten
1873"
Von den Ständevertretern oder Parlamentariern unter den Berliner U n t e r n e h m e r n waren: Korporationsälteste
Sonstige U n t e r nehmer Berlins
Insgesamt
—
—
—
1 1
— —
1
—
1 3
—
3 1 1 1 2 1 —
1
—
1 1 3 3 2 2
1 1 1 1 6 1 2 2 5 4 2 3
männischen Korporation; seit damals waren die Berliner Unternehmer im preußischen Abgeordnetenhaus meist nicht mehr Korporationsälteste. Dieselbe Entwicklung vollzog sich auch bei der Besetzung von parlamentarischen Kommissionsämtern durch Berliner Unternehmer: 99 Zusammengestellt nadi: für den 5. bis 7. Provinziallandtag der Provinz Brandenburg 1834, 1837 und 1841: J. D. Rumpf (Hrsg.), Die Gesetze wegen Anordnung der Provinzial-Stände in der Preußischen Monarchie, 12. F., Berlin 1836, S. 203, und 13. F., Berlin 1839, S. 86; Berlinische Nachrichten vom 6 . 5 . 1 8 4 1 ; für Vereinigte Landtage Preußens 1847: Karl Biedermann, Geschichte des ersten preußischen Reichstages, Berlin 1847, S. 493; f ü r den konstituierenden preußisdien Landtag von 1848: Preußischer Staatsanzeiger vom 10.5.1848; für Erste Preußisdie Kammer 1849 bis 1852 (danach sind dort keine Berliner Unternehmer mehr Mitglieder): Sammlung sämtl. Drucksachen d. Ersten Kammer, 2. Leg. Per., 1. Sess., Bd. 1, Berlin 1850, Drucks. N r . 10; für Zweite Preußisdie Kammer (erst ab 1853 sind dort Berliner Unternehmer Mitglieder): Sammlung sämtl. Drucksachen d. Zweiten Kammer, 3. Leg. Per., 2. Sess. (1853/54), Bd. 1, Berlin 1854, Drucks. N r . 2 (ebenso folgende Sitzungen). Bei der Ersten und Zweiten preußisdien Kammer sind in der obigen Tabelle jeweils drei Sitzungen zusammengefaßt.
232
III· Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
TABELLE 30 Korporationsälteste Zeitraum
in parlamentarischen
Von den Berliner Unternehmern nahmen parlamentarische Kommissionssitze ein: Korporationsälteste (Zahl der Sitze)
1849—1852 1853—1856 1856—1859 1859—1862 1862—1864 1865—1867 1867—1870 1870—1873
Kommissionen100
8 5 2 1 6 2
Sonstige (Zahl der Sitze) 6 —
1 5 6 6
Insgesamt
14 5 3 6 12 8
—
—
—
—
—
—
Während also für einen Berliner Unternehmer bis zum Ende der fünfziger Jahre die Karriere innerhalb der kaufmännischen Korporation meist ein Bestandteil der politischen Karriere war, trennten sich diese beiden Karrieren danach mehr und mehr. Direkte personelle Verflechtungen zwischen der damaligen Berliner Unternehmerorganisation, der kaufmännischen Korporation und den Parlamentariern unter den Berliner Unternehmern bestanden je länger desto weniger. Im parlamentarischen Bereich verloren damit die Ältesten der kaufmännischen Korporation erheblich an Einfluß. 101 Dieser Einflußschwund der kaufmännischen Korporation im Parlament fiel in den Beginn der Stockungsphase der Berliner Wirtschaft Ende der fünfziger Jahre102 und hängt 100 Zusammengestellt nach den Drucksachen der Ersten preußischen Kammer und der Zweiten preußischen Kammer bzw. des Abgeordnetenhauses. ιοί v g l . 2 U J e n Kontakten, die zwischen der Leitung der Korporation und anderen Parlamentariern 1847/48 bestanden: Hans-Peter Helbadi, Berliner Unternehmer in Vormärz und Revolution 1847—1848, in: O. Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung..., S. 416 ff. Audi die bereits erwähnten Soirien des Korporationsvorstehers Carl dienten diesem Zweck (vgl. ZWEITES
KAPITEL). 102
Vgl. A. Spiethoff, Die wirtschaftlichen Wechsellagen..., Bd. 1, S. 119 f.; vgl. für diese Stockungsphase und den Ausfall des kurzfristigen Wiederaufsdiwungs 1861 bis 1865 in der Berliner Wirtschaft: Bericht über den Handel und die Industrie Berlins im Jahre 1858, erstattet von den Ältesten der Kaufmannsdiaft, Berlin 1858, passim (ebenso die folgenden Jahrgänge dieses Wirtschaftsberichts). Ebenso mit einer wirtschaftlichen Degressionsphase fällt der darauffolgende einschneidende Interessen-
Unternehmer
und
233
Parlamentsmandat
mit dem bis dahin schärfsten Konflikt zwischen den Korporationsältesten und den einfachen Korporationsmitgliedern zusammen. An diesem Konflikt war der damals einzige Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern, Leonor Reichenheim, als Wortführer der Opposition beteiligt. 103 Entsprechend der Schärfe dieses Konflikts, benutzten die Ältesten der kaufmännischen Korporation nicht mehr das früher übliche Mittel der Konfliktregelung, die Wortführer der Opposition in das Ältestengremium wählen zu lassen. Die personelle Verflechtung zwischen Ältestengremium und Parlamentariern löste sich daher auf. Zur gleichen Zeit vollzog sich eine politische Umorientierung der Berliner Unternehmer. Während 1849 nur 51 % der Unternehmer unter den Berliner Wahlmännern liberal gestimmt hatten, schlugen sich nun 89 % auf die Seite der Fortschrittspartei. 104 Diesen politischen Umschwung wird man im Rahmen des generellen Trends der preußischen Wähler zum Liberalismus, unter anderem bedingt durch die Lockerung der politischen Überwachung in der „Neuen Ä r a " , sehen müssen; die politische Aktivierung und die politische Drift zum Liberalismus waren allerdings unter den Unternehmern der preußischen Hauptstadt besonders intensiv. 1849 waren nur 15 % der linken Wahlmänner Berlins Unternehmer gewesen; bis 1862 stieg ihr Anteil auf 30 % — soweit die
konflikt zwischen Korporationsältesten und einfachen Korporationsmitgliedern während der siebziger Jahre zusammen. Vgl. dazu StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 456. 105
Die Korporation
104
Beredinet nach: Liste der Wahlmänner Berlins für die Wahlen zur Zweiten
der Kaufmannschaft
von Berlin ...,
S. 135 f.
preußischen Kammer 1849, StA Potsdam, P r . Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W N r . 178; J. L. Fernbadi, Die bisherigen
Wahlmänner
Berlin's . . . Die Diskrepanz 1849
zwischen der mehrheitlich liberalen Haltung der Wahlmänner unter den Berliner Unternehmern
und
der
meist
konservativen
Haltung
der
Parlamentarier
unter
den Berliner Unternehmern bis 1859 (vgl. TABELLE 28) ergab sich für die Erste preußische Kammer
(Spalte 1 der TABELLE 28) aus dem hohen Zensus für
erste Kammer. Die erdrückende Mehrheit der Berliner Unternehmer,
die
die Wahl-
männer für die Erste Kammer wurden, war daher konservativ (vgl. Liste der Berliner Wahlmänner für die Erste preußische Kammer 1849, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W N r . 178). In der Zweiten preußischen Kammer erklärt sich diese Diskrepanz daraus, daß der Abgeordnete Carl nicht von Berliner Wahlmännern gewählt wurde; er kandidierte im Wahlkreis Potsdam. Allerdings ließen sich die Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern auch später, als ihre politische Haltung mit der der Wahlmänner unter den Berliner Unternehmern identisch war, fast nie in Berliner Wahlkreisen wählen (vgl. F. Lauter, Preußens passim).
Volksvertretung
...,
234
III. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
veränderte parteipolitische Landschaft solche Vergleiche erlaubt. 1 0 5 D e r T r e n d zur Fortschrittspartei w a r also — verglichen mit dem parteipolitischen Durchschnittsverhalten der Berliner W ä h l e r — um das D o p pelte stärker. Die politische A k t i v i t ä t der Berliner U n t e r n e h m e r wuchs zudem: 1 8 4 9 stellten die Berliner U n t e r n e h m e r nur 18 % aller W a h l männer Berlins; bis 1 8 5 9 stieg ihr Anteil auf 2 7 % , bis 1 8 6 2 weiter a u f 2 9 % . 1 0 6 Uberdurchschnittlich n a h m audi die Mitgliedschaft v o n Berliner U n t e r n e h m e r n im preußischen Abgeordnetenhaus zu. W i e sich aus den obigen Tabellen ersehen läßt, wuchs die Z a h l der Berliner U n t e r n e h m e r im P a r l a m e n t a n ; noch deutlicher ist ihre A k t i v i t ä t in den Parlamentsausschüssen im Gegensatz zu den wirtschaftlichen A u f schwungsphasen v o r h e r und danach erkennbar. Auch dieser Aspekt der politischen Aktivierung der U n t e r n e h m e r k a m — zumindest bis zum Verfassungskonflikt — ausschließlich der Fortschrittspartei zugute. TABELLE 3 1
Parteirichtung Parteirichtung rechts, konservativ links, liberal, nationalliberal Fortschritt Unbekannt Insgesamt
der Ältesten der Berliner Korporation Kaufmannschaft107
der
1855
1860
1865
1870
6
8 1 2 8
6 4 3 6
5 5 6 5
5 5 7 3
19
19
19
21
20
1850 13 — —
Für 1849: Liste der Wahlmänner Berlins . . . , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W Nr. 178; für 1862: J. L. Fernbadi, Die bisherigen Wahlmänner Berlin's ..., passim. 1011 Ebda. Dieser Zuwachs politischer Aktivität vollzog sich nur auf der parlamentarischen Ebene. Ausgehend von einem ganz anderen Mandatsverständnis und einem weit höheren Aktivitätsniveau, veränderte sich die Beteiligung der Berliner Unternehmer an der kommunalen Selbstverwaltung im Vergleich dazu kaum. Zwischen 1850 und 1870 hatten die Unternehmer im Durchschnitt 35,4 °/o der Stadtverordnetenmandate inne; die höchste Abweichung von diesem arithmetischen Mittelwert betrug 9 , 5 % (1855). (Berechnet nach den Stadtverordnetenlisten in: Adreßkalender.. . auf das Jahr 1850 (1855, 1860, 1865, 1870), Berlin 1850 ff. 105
Zusammengestellt nach: Listen der Wahlmänner für die 1. und 2. Kammer 1849, StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W Nr. 178; Volkszeitung vom 2.7.1861; Wahlprogramm der Fortschrittspartei, 14.3.1862, StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W Nr. 178; J . L. Fernbach, Die bisherigen Wahlmänner Berlin's...; zudem die Personalakten in: DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 und StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. Α—Ζ. X07
Unternehmer und
235
Parlamentsmandat
Entscheidend für den parlamentarischen Einflußschwund der kaufmännischen Korporation war es nun, daß sich dieser Trend zur Fortschrittspartei im Ältestengremium nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und niemals in dem Umfang wie bei der Mehrzahl der Berliner Unternehmer durchsetzte. Das zeigt die Zusammenstellung der parteipolitischen Richtung der Ältesten der kaufmännischen Korporation in TABELLE 3 1 .
Hinzu kam, daß sich der Trend zur Fortschrittspartei in der Führungsgruppe des Ältestengremiums, die aus dem Korporationsvorsteher und seinen Stellvertretern bestand, fast überhaupt nicht feststellen läßt. Das zeigt folgende Zusammenstellung:
TABELLE 3 2
Parteirichtung des Korporationsvorstehers
und seiner
Stellvertreter108
Funktion
1850
1855
1860
1865
1870
Vorsteher
konservativ
konservativ
konservativ
konservativ
konservativ
1. Stellv. Vorst.
konservativ
konservativ
konservativ
konservativ
konservativ
2. Stellv. Vorst.
konservativ
konservativ
liberal
nationalliberal
Fortschritt
Während also bis zur Stockungsphase Ende der fünfziger Jahre die Berliner Unternehmerorganisation und die Berliner Unternehmerparlamentarier eng miteinander verbunden waren, löste sich diese Verflechtung während der Stockungsphase auf. Innerverbandlich war die Entscheidungsstruktur der kaufmännischen Korporation nicht elastisch genug, um sich dem Trend zur Fortschrittspartei und der politischen Aktivierung der Berliner Unternehmer anzupassen. Zugunsten der Erhaltung ihrer Herrschaftsposition in der Korporation hat also die traditionelle Führungsschicht unter den Berliner Unternehmern ihren Einfluß auf die Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern weitgehend verloren. Wenn auch erst später als auf der Verbandsebene, zerfiel also auch hier die Homogenität der politischen Gruppe der Berliner Unter108
Ebda.
236
III. Die Berliner Unternehmer im politischen Entscheidungsprozeß
nehmer infolge der undurchlässigen Entscheidungsstruktur der kaufmännischen Korporation. Wie schwer dieser Einflußschwund der kaufmännischen Korporation wog, läßt sich allerdings erst beurteilen, wenn man den Einfluß kennt, den die Korporationsältesten bei Entscheidungen der Staatsverwaltung besaßen. Unternehmer und
Staatsverwaltung
Die Herrschaftsansprüche der klassischen Staatsbürokratie „Wir sind sicher, daß bei den Verfahren [für wirtschaftspolitische Entscheidungsprozesse] in einem monarchischen Staate, die gegenseitigen Interessen und das Wohl des Ganzen sorgfältiger und jedenfalls gerechter erwogen werden als unter einer anderen Regierungsform." 109 Diese Stellungnahme des Berliner Zuckerindustriellen und Korporationsältesten Kupfer zum politischen Entscheidungssystem im klassischen Zeitalter des preußischen bürokratischen Absolutismus weist darauf hin, daß zwar auch in diesem politischen System Interessenbewußtsein und möglicherweise auch Interesseneinfluß konstatiert werden können, daß aber damit wenig über die politische Rolle solcher Interessengruppen ausgesagt wird. Betrachtet man nur Interessenbewußtsein und Interessenteneinfluß in der damaligen Zeit, herausgelöst aus dem Rahmen des Herrschaftssystems, so wird es zwar möglich sein, Vorläufer moderner politischer Entscheidungsträger und Entscheidungsformen zu erkennen. Nach ihrer historischen Schubkraft zur Herausbildung moderner Entscheidungssysteme wird jedoch damit nicht einmal gefragt; es bleibt ungeklärt, wie weit sie in das damalige Herrschaftssystem voll integriert waren oder wie weit sie, wenn nicht integriert, auf das damalige Herrschaftssystem auflösend einwirkten. Wenn daher hier die Stellung der Berliner Unternehmer im damaligen politischen Entscheidungsprozeß untersucht wird, so genügt es nicht, ihre interessenpolitischen Bewußtseinslagen und Fälle ihres politischen Einflusses zu schildern; beides kann in seiner historischen Relevanz erst abgewogen werden, wenn ihre prinzipielle Stellung zum preußischen bürokratischen Herrschaftssystem und ihr verändernder oder stützender Einfluß auf das damalige Entscheidungssystem geklärt wurde. Die bisherigen Untersuchungen zum bürokratischen Absolutismus in Preußen haben sich berechtigterweise vor allem mit der bürokratischen 109
J. C. H. Kupfer, Sendschreiben an einen Gutsbesitzer . . . , S. 50 f.
Unternehmer und
237
Staatsverwaltung
Struktur und mit der Rolle der Staatsverwaltung als normativer Gestalterin der damaligen Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung beschäftigt. Die Regeln, die für die Beteiligung von Nichtbeamten an politischen Entscheidungen galten, blieben daher bislang noch weitgehend unerforscht. Gleichsam aus den Abfallprodukten der bisherigen Forschung lassen sich dafür vorläufig drei Prinzipien zusammenstellen, von denen das erste sich auf die Selektions- und Aufstiegskriterien der Staatsbeamten, das zweite auf die innerbürokratischen Entscheidungsformen und das dritte auf die Zielvorstellung der damaligen Staatsverwaltung bezieht. Aus diesen drei Merkmalen bürokratischer Struktur lassen sich drei Herrschaftsansprüche der Staatsverwaltung erklären, die die Beteiligung von Unternehmern an politischen Entscheidungen wesentlich bestimmt zu haben scheinen. Die preußischen Reformer haben ihre „Revolution von oben", die Etablierung der Staatsbürokratie als politischer Elite, neben der Einschränkung der monarchischen Gewalt, darin gesehen, daß bei der Auswahl der politischen Entscheidungsträger nicht mehr das ständische Kriterium der Geburt entschied, sondern daß der Aufstieg in diese politische Elite jedem offen stand, daß dieser Aufstieg von Leistungskriterien bestimmt wurde und von der „Bildung", der für die jeweilige konkrete Tätigkeit nötigen Fachkenntnis, abhängig war. Obwohl dieses Auswahlkriterium faktisch erheblich eingeschränkt wurde, legitimierte sich diese politische Elite Preußens vor 1848 vor anderen gesellschaftlichen Gruppen weiterhin damit und begründete ihren Anspruch auf Autonomie im politischen Entscheidungsprozeß gerade auch mit diesem Kriterium. 110 Eine Beteiligung der Unternehmer an politischen Entscheidungen erschien deshalb unnötig, da die Beamten selbst über genügend Fachkenntnisse verfügten, um deren Interessen berücksichtigen zu können. Im Gegensatz zu den rheinisch-westfälischen Unternehmern haben die Berliner Industriellen während des Vormärz diese Legitimation der Herrschaft der preußischen Staatsbürokratie akzeptiert und die Fachkenntnis der preußischen Beamten sehr hoch eingeschätzt.111 So gab der Berliner Färbereibesitzer Ludwig König einen der Beamten der Technischen Deputation für Handel und Gewerbe, Kommissionsrat Weber, als Sachverständigen an, als er beim preußischen Finanzministe110 Vgl. Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. Experience 1660—ISIS, Cambridge/Mass. 1958, S. 210 ff. 111 Vgl. F. Zunkel, Beamtenschaft (1964), S. 266 f.
und Unternehmertum...,
The Prussian
in: Tradition,
9. Jg.
238
III• Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
rium eine finanzielle Unterstützung für seinen Betrieb beantragte. 112 Der Berliner Maschinenfabrikant C. Hausschild, der Anfang der vierziger Jahre in einer Eingabe an Beuth die Lieferung einer Drehbank beantragte, nannte als Sachverständigen mit Kommissionsrat Wedding ebenfalls einen Beamten dieser Verwaltungsabteilung. 113 In der Berliner Polytechnischen Gesellschaft, die 1839 als Ergänzung zu Beuths Verein zur Beförderung des Gewerbfleißes von dem Berliner Bankier Mendelssohn und dem Berliner Maschinenindustriellen Freund gestiftet wurde und dem Austausch von technologischen Kenntnissen unter den streng ausgewählten Mitgliedern diente, wurde neben einem hohen Militär ebenfalls ein Beamter der Technischen Deputation, Kommissionsrat Brix, in eine der leitenden Positionen gewählt. 114 Für den Berliner Zuckerindustriellen Kupfer waren noch Anfang der vierziger Jahre entscheidende Merkmale der qualifizierten Beamten „praktischer Scharfblick, genaue Kenntniß der Industrie-Zweige, deren Wohl und Wehe von ihrer amtlichen Thätigkeit abhängt. Kenntniß bis in die Details, bis zur Technik herab". Seiner Ansicht nach entsprachen die preußischen Beamten dieser Idealvorstellung, „ja sie sind in der Pfanne des Zuckersieders und in der Geschichte dieser Geschäftsbranche besser zu Hause und erfahrener, als mancher Zuckersieder s e l b s t . . . Ihre Bemerkungen, die Fragen, die sie an mich richteten, bewiesen mir, daß sie der Sache, um die es sich handelte auf den Grund gingen, daß sie wohl wußten, wie man den Partheien unter den Gewerbetreibenden auf den Zahn fühlen muß (man verzeihe mir diesen Ausdruck) wenn es sich um die Erforschung der Wahrheit handelt, daß sie die Calculationen, die auswärtigen Preisverhältnisse genau kannten, daß die sogenannten Fabrik-Geheimnisse für sie eben keine Geheimnisse mehr waren, daß das Ganze der Rübenzucker-Industrie ihnen eben so bekannt war, wie das der Colonialzucker-Fabrikation." 115 Audi bei der Debatte um kaufmännische Schiedsgerichte 1845 war es neben dem Korporationssyndikus und Juristen Marchand ein Industrieller, der Textilfabrikant Baudoin, der als Appellationsinstanz die ordentlichen Gerichte einzusetzen suchte und damit den Staatsbeamten — hier den Richtern — genügend Sachverstand zutraute, um kaufmännische Aus112 Vgl. z u König: König an Finanzmin., 23.11.1830, DZA Merseburg, Rep. 120 D IV 6 b Nr. 13. 113 Eingabe Haussdiilds an Beuth, 12. 7.1843, DZA Merseburg Rep. 120 D XIV 1 Nr. 2 Bd. 3. 114 Berliner Gewerbe-, Industrie- und Handelsblatt, Bd. 2, Nr. 22 vom 16.3.1842. 115 J. C. H. Kupfer, Sendschreiben an einen Gutsbesitzer..., S. 50 f.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
239
einandersetzungen zu schlichten.11® Noch Anfang der fünfziger Jahre ging die Berliner kaufmännische Korporation davon aus, daß die Staatsverwaltung häufig präzisere Kenntnis von Berliner Wirtschaftsdaten besaß als sie selbst, ihre Faktenzuträgerin. Bei der Zusammenstellung der Berichte von Berliner Unternehmern zum jährlichen Wirtschaftsbericht an das Handelsministerium hielt es die kaufmännische Korporation nicht für möglich, „auch die Richtigkeit und Genauigkeit jeder einzelnen Angabe selbst prüfen zu können, daß wir also die Verantwortlichkeit in manchen Fällen lediglich den Betheiligten selbst überlassen müssen. Bei vielen Erhebungen ist auch die Regierung allein im Stande, die Thatsachen genau zu ermitteln." 117 Schon während der vierziger Jahre änderte sich die positive Einschätzung der Staatsbeamten unter den Berliner Industriellen allerdings. Während der Zolldebatte Ende der vierziger Jahre zog der Zuckerindustrielle Kupfer die Denkschriften kaufmännischer Kammern ihrer „großen Sachkenntnis" wegen der Denkschrift des Handelsamts vor und forderte zumindest die schutzzöllnerischen Staatsbeamten auf, die „sollten sich doch einmal genauer unterrichten wollen, sie sollten die Bücher der Gewerbetreibenden einsehen". 118 Die Börsenverordnungen der vierziger Jahre kritisierend, schätzte Kupfer die Fachkenntnis der Staatsverwaltung auch im Bereich des Aktienhandels gering ein: „Es ist ein Irrthum, wenn eine Regierung glaubt, sie sehe in Dingen dieser Art weiter und klarer als ihre Unterthanen und müsse sich eben deshalb zu ihrem Vormunde aufwerfen." 1 1 9 Einzelne Maschinenbauunternehmer, die vom Handelsministerium mit Maschinen oder Kapital unterstützt zu werden suchten, lieferten dafür ihre Produktions- und Betriebsdaten in den fünfziger Jahren nicht mehr — wie in den vierziger Jahren üblich — direkt an die Staatsverwaltung, sondern nannten sachverständige andere Unternehmer als Gutachter. 120 Am deutlichsten wird die negative Beurteilung des Fachverstands von Staatsbeamten 118 Baudouin, Prot. d. Mitgliederversammlung der Berliner kaufmännischen Korporation, 6. 6.1845, in: Berlinische Nachrichten, Nr. 131 vom 9. 6. 1845.
117
Bericht über den Handel
und die Industrie...
im Jahre 1852 und 1853
...,
S.9. 118
J . C. H . Kupfer, Referat
über die Frage wegen
der Differential-Zölle
...,
S. 40. »· A. a. O., S. 37. 120 Joachim Kreter an Handelsmin., 7. 4.1856, DZA Merseburg, Rep. 120 X I V 1 Nr. 2 Bd. 4; Herrn. Eberding an Handelsmin., 17.2.1853, ebda.; C. J . Haack an Handelsmin., 3. 2.1862, ebda.
240
III. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
bei Leonor Reichenheim: „Praktische Erfahrung über das gewerbliche L e b e n . . . hat er sich selbst am grünen Tisch wohl nur sehr wenig zur Anschauung bringen können." 121 Bei den Berliner Kaufleuten und Bankiers spielte dagegen im allgemeinen schon sehr viel früher der Sachverstand der Beamten keine Rolle für ihre positive oder negative Einschätzung der Staatsverwaltung. Schon 1845 lehnte es der Berliner Bankier Mendelssohn daher ab, die von ihm empfohlenen Landesbanken von Staatsbeamten verwalten zu lassen. „Männer, die für den Staatsdienst erzogen sind und darin gelebt haben, kennen die Gewebe der Industrie nicht so genau und sind nidit so eingelebt darin, wie es durchaus nöthig i s t . . . Selbst wenn der Staat erfahrene und bewährte Kaufleute wählen wollte, um die Bank für seine Rechnung zu leiten, so würde der Zweck nicht erreicht werden. Diese Männer müßten nothwendig aufhören selbst Gewerbtreibende zu seyn, und nach wenigen Jahren sind sie dem Gewerbe fremd geworden. Es wechselt dasselbe gar rasch, und ganz besonders in der Zeit, in welcher wir leben, die man wohl die gewerbetreibende nennen kann." 122 Unter den Berliner Unternehmern waren es 1845 Kaufleute, die für das kaufmännische Schiedsgericht eine aus staatlichen Richtern oder auch nur Juristen besetzte Appellationsinstanz ablehnten. Es kam ihrer Ansicht nach bei der Schlichtung von Konflikten zwischen Unternehmern „auf praktische Einsicht, auf einen gewissen, nicht juristischen, sondern kaufmännischen, allgemeinen menschlichen Takt" an. 123 Wenn auch in der Begründung zunehmend rationaler, blieb dieses negative Urteil über den Sachverstand von Staatsbeamten bei den Berliner Kaufleuten und Bankiers während der fünfziger und sechziger Jahre erhalten. So forderten in den fünfziger Jahren die Ältesten der kaufmännischen Korporation, bei Gesetzentwürfen „Kaufleute, denen ein sachverständiges Urtheil zuzutrauen ist, hauptsächlich zu dem Zweck zuzuziehen, um über die Natur des kaufmännischen Verkehrs und der kaufmännischen Geschäfte Auskunft zu geben. Nichts erschwert mehr das Finden richtiger Rechtsgrundsätze, als eine mangelhafte oder unvollständige Bekanntschaft mit den wirklichen Zuständen des Lebens. Diese Bekanntschaft ist bei dem zu einer ungeahnten Ausdehnung und Vielseitigkeit gelangten, fortwährend sich verändernden Zustande der Gewerb121 Leonor Reidienheim, Das preußische Handels-Ministerium und die GewerbeFreiheit, Berlin 1860, S. 18. 122 J. Mendelssohn, Ueber Zettelbanken . . S . 10. 123 Schauß, Prot. Mitgliederversammlung der Berliner kaufmännischen Korporation, 6. 6.1845, in: Berlinische Nachrichten, N r . 131 vom 9. 6.1845.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
241
und Handelsverhältnisse nur bei denjenigen vorauszusetzen, welche in denselben sich täglich bewegen." 124 Ebenso erkannte der Bankier David Hansemann die Sachautorität der Staatsbeamten nur in der Frage an, „was nach bestehenden Gesetzen Rechtens ist, nicht aber darüber, was Recht werden soll, hierüber kann der gesunde Verstand Derjenigen, die am nächsten bei der Sache betheiligt sind, sehr wohl ein Urtheil abgeben." 125 Auch diejenigen Kaufleute und Bankiers, die — wie der Berliner Bankier Beer — eine „noch nie dagewesene Vortrefflichkeit" der preußischen Staatsverwaltung konstatierten, schlossen dabei den Sachverstand der Staatsbeamten nicht mit ein.126 Vom Aspekt der Einschätzung des Fachverstandes der Staatsbeamten aus gesehen, unterschied sich also das Verhältnis von Berliner und rheinisch-westfälischen Unternehmern zur preußischen Staatsverwaltung. Während der zeitliche Schwerpunkt des Konflikts zwischen Unternehmern und Staatsverwaltung in Rheinland-Westfalen in den dreißiger und vierziger Jahren lag und sich seit den fünfziger Jahren weitgehend zurückentwickelte,127 läßt sich bei den Berliner Unternehmern teilweise eine genau umgekehrte Entwicklung verfolgen. Zumindest die Berliner Industriellen scheinen bis in die vierziger Jahre hinein den Fachverstand der Staatsbeamten sehr hoch bewertet zu haben und sie schwenkten dann vom Ende der vierziger Jahre ab auf die Linie der Berliner Kaufleute und Bankiers ein, die die Staatsbeamten als Fachverständige zuvor und danach niemals akzeptierten. Anders formuliert lag der Unterschied zwischen rheinisch-westfälischen und Berliner Unternehmern während der vierziger Jahre darin, daß die Berliner Industriellen den Fachverstand der Staatsbeamten bis in diese Zeit hinein sehr hoch bewerteten, die Berliner Kaufleute und Bankiers sich diesem rationalen Herrschaftsmittel der Staatsbürokratie nicht unterwarfen, während die rheinisch-westfälischen Unternehmer die Herrschaftsansprüche der Staatsverwaltung im Ganzen angriffen. Nur die rheinisch-westfälischen Unternehmer paßten sich nach der 124 Bericht über den Handel und die Industrie ... für das Jahr 1852 und 1853 S. 16 f.
...,
125 Hansemann, in: Verhandlungen des 2. deutschen Handelstags zu München..., S. 69. Vgl. zudem ZWEITES KAPITEL, ERSTER ABSCHNITT. ΐ2β Wilhelm Beer, Die Drei-Königs-Verfassung in ihrer Gefahr für Preußen, Berlin 1849, S. 8. Ebenso: ders., Das Vereinigte Deutschland mit Erhaltung der Selbständigkeit deutscher Stämme, Berlin 1848, S. 4. 127
F. Zunkel, Beamtenschaft (1964), S. 266 ff. 16
Kaelble, Berliner Unternehmer
und
Unternehmertum...,
in: Tradition,
9. Jg.
242
III.
Die Berliner Unternehmer
im politischen
Entscheidungsprozeß
Jahrhundertmitte den — freilich reduzierten — Herrsdiaftsansprüchen der Staatsverwaltung stärker als bisher an. Die vorher schon angepaßteren Berliner Unternehmer änderten — soweit sie der Führungsschicht angehörten — ihre Haltung auch nach der Jahrhundertmitte nicht oder verringerten ihre Bewertung des Fachverstands der Staatsbeamten, den diese allerdings auch nicht mehr in dem Maße wie vor der Jahrhundertmitte beanspruchten. Diese gegensätzliche Entwicklung beruhte einerseits auf Veränderungen der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Rheinland-Westfalen um die Jahrhundertmitte, andererseits auf unterschiedlichen sozialen Positionen und unterschiedlichen Möglichkeiten der politischen Mitentscheidung der rheinisch-westfälischen Unternehmer und der Führungsschicht der Berliner Unternehmer während der vierziger Jahre. 128 Das Verhältnis zwischen rheinisch-westfälischen Unternehmern und preußischer Staatsverwaltung entspannte sich vor allem durch den Übergang vom Direktions- zum bloßen Inspektionsprinzip in der Bergbauverwaltung und durch das Einströmen von Beamten in Unternehmerpositionen. Die preußische Staatsverwaltung hatte dagegen gegenüber den Berliner Industriellen das Inspektionsprinzip nie in dirigistischer Richtung überschritten; die Vermittlung technologischer Informationen und die Bereitstellung entwickelter technischer Geräte durch die Staatsbeamten um Beuth schwächte selbst diese staatliche Aufsichtsfunktion während der vierziger Jahre im Bewußtsein der Berliner Industriellen ab. Konfliktmildernd wirkte bei den Berliner Unternehmern zudem, daß zumindest die Führungsschicht während der vierziger Jahre einen engeren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontakt zu den höheren Staatsbeamten und Offizieren besaß als die rheinisch-westfälischen Unternehmer und daher ihre eigene soziale Position weit höher bewertete.129 Neben der Fachkenntnis der Staatsbeamten ergab sich aus den innerbürokratischen Entscheidungsformen der preußischen Staatsverwaltung eine zweite Legitimation für ihren Anspruch, im politischen Entscheidungsprozeß autonom zu entscheiden und die Unternehmer nicht daran zu beteiligen. Kernstück dieser innerbürokratischen Entscheidungsform war das Kollegialitätsprinzip, nach dem zumindest auf der Ministerialebene und in den „Regierungen", den Behörden der Regierungsbezirke, entschieden wurde. Grundlage einer politischen Entscheidung waren 1 2 8 Zur politischen Mitentscheidung v o r allem der führenden Berliner Bankiers vgl. den folgenden Abschnitt. 128
V g l . ZWEITES KAPITEL.
Unternehmer
und
Staatsverwaltung
243
dabei nidit nur die Diskussionen zwischen den jeweils beteiligten Ministerien, sondern auch die Gutachten der untergeordneten Behörden, der Oberpräsidenten und Regierungen, die im engeren Sinn die betroffenen Interessen gegenüber der Ministerialbürokratie zu repräsentieren, über sie zu informieren und gutachtliche Vorentscheidungen zu liefern hatten. Dieser komplexe und auf rationaler Diskussion beruhende Entscheidungsapparat sollte garantieren, daß möglichst weitgehend das Pro und Contra aller beteiligten Interessen geklärt und berücksichtigt wurde. Daher ersetzte diese innerbürokratische Entscheidungsform ihrem Anspruch nach nicht nur parlamentarische Institutionen, sondern auch Interessenorganisationen.130 Sie reduzierte die Beteiligung etwa der Unternehmer am politischen Entscheidungsprozeß auf die Rolle des bloßen Informationsträgers, da die Staatsverwaltung es war, die ihr Interesse ausformulierte und gegenüber anderen Interessen abwog. Auch diese Legitimation des bürokratischen Absolutismus scheinen Berliner Unternehmer noch am Anfang der vierziger Jahre akzeptiert zu haben. Vor der Wahl zwischen der entwickelten Interessenpolitik des französischen Kammersystems und der interessenpolitischen Entmündigung im bürokratischen Absolutismus, nahm der Berliner Industrielle Kupfer Partei für das preußische Entscheidungssystem. Der Mangel des französischen Kammersystems lag für ihn darin, daß nicht alle Interessenten gleichmäßig berücksichtigt wurden: „Es kann sein, daß in einer solchen Kammer zu viele Grundbesitzer sitzen, die Rübenzucker-Producenten sind, oder Colonialzucker-Fabrikanten, oder doch solche Deputirte, auf welche ein Einfluß von der einen oder anderen Parthei ausgeübt wird." 131 Die Chance aller Interessenten, gleichmäßig berücksichtigt zu werden, schien ihm dagegen bei den Entscheidungen der preußischen Staatsverwaltung gegeben: „Bin ich nicht berechtigt zu glauben, daß das Gutachten, das Urtheil von Staatsbeamten, die seit langen Jahren mit dem Gegenstande vertraut sind, die Erfahrungen darin gesammelt haben, denen mit einem Wort die Wahrheit in der Sache bekannt ist, unpartheiischer und gerechter ausfallen wird, als das einer Kammer?" 132 Seine Vorstellung vom wirtschaftspolitischen Ent130 Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 18IS—1848, in: Werner Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848 ( = Industrielle Welt, Bd. 1), Stuttgart 1962, S. 91 f. 131 J. C. H . Kupfer, Sendschreiben an einen Gutsbesitzer . . . , S. 75. 132 Ebda. Für die damalige politische Unselbständigkeit der Unternehmer und die völlige Hinnahme des politischen Herrschaftsanspruchs der Staatsbürokratie ist es kennzeichnend, wie sich Kupfer seine eigenen Entscheidungen in einer Kammer vor-
16*
244
III. Die Berliner Unternehmer
im politischen
Entscheidungsprozeß
scheidungsprozeß vollzog daher das bürokratische preußische Entscheidungssystem voll nach. Er schrieb dem Unternehmer dabei eine politische Rolle zu, in der er nicht in wirtschaftspolitische Entscheidungen eingriff, sie nicht überschaute, sich nicht notwendigerweise als Interessent organisierte, ja sogar die Ausformulierung des eigenen Interesses der Staatsverwaltung überließ und nur als Informationszuträger diente: „Der Gang [wirtschaftspolitischer Entscheidungen] wird etwa folgender sein. Nachdem Männer von allen Partheien unter den Fabrikanten selbst gehört worden sind, werden verschiedene Ministerien die Frage begutachten." 133 Die Möglichkeit des Protestes gegen Fehlentscheidungen schloß er aus: „Ich werde gehorsam mein Urtheil empfangen. Jedenfalls wird es eben so gerecht, ja gerechter sein, als wenn eine Kammer entschiede."134 Noch 1845 verzichtete der Berliner Bankier Beer ebenfalls auf jede Einflußmöglichkeit von Interessenten und setzte ebenfalls den „Staat", die Staatsverwaltung, mit der „Nation", der Summe wirtschaftlicher Interessen, in eins: „Es scheint uns, daß beide einen Begriff repräsentiren . . . und unbestreitbar weit identischer [sind] als Nation und Inhaber von Bankaktien; mindestens wird man uns zugeben, daß der Begriff ,Staat' sich auflösen läßt in »Regierende und Regierte' und daß in einem wesentlich absoluten Staate die Regierung die Rechte des Volkes nach allen Seiten hin vertreten muß". 135 Mit dieser Unterwerfung unter den bürokratischen Absolutismus verbanden Beer und Kupfer einen dezidierten wirtschaftlichen Liberalismus, der sich im Widerstand gegen jede „Entziehung der Handels-Freiheit", gegen den „wahrhaft jämmerlichen Einfluß alles Reglementiren des Handels" äußerte. 136 Es ist daher kennzeichnend, daß Beer den Interessendruck anderer Interessenten auf die Staatsverwaltung mit einer Kombination wirtschaftsliberaler und staatsbürokratischer Argumente bis hin stellt: „Wie leicht übereilt man sich bei einer Abstimmung, wenn man durch das Talent eines Redners hingerissen worden ist. Ja, soll ich annehmen dürfen, daß die Mitglieder einer Kammer, säßen in derselben die erleuditesten Männer des ganzen Landes, tief genug in diese keineswegs leichte und unbedeutende Frage werden eingedrungen sein können, daß sich Jeder frei von Irrthum erhalten wird, der in dieser Sache, in welcher die Berichte der Partheien so verschiedenartig sind, wahrlidi nicht leicht zu vermeiden ist?" (Ebda.) 133
A. a. O., S. 50. A. a. O., S. 75. 135 W. Beer, Bemerkungen über Zettel-Banken .. ., S. 23 f. 138 W. Beer, Die Gefahren der Differential-Zölle ..., S. 32; ebenso: Kupfer, Sten. Ber. Erste (preuß.) Kammer, 1849/50, S. 2279 f. 131
Unternehmer
und
Staatsverwaltung
245
zur pauschalen politischen Denunzierung des Interessengegners als „Demokrat" bekämpfte: „Jeder Fabrikant, dem seine Geschäfte nicht nach Erwartung gehen, sieht zunächst auf den Staat, und möchte von diesem Alles verlangen, zuvörderst einen höheren Zoll auf fremde Erzeugnisse, so weit er es irgend für natürlich h ä l t . . . Das Geschrei nach Absperrung gegen das Ausland, nach hohen Schutzzöllen ist von daher am stärksten, wo die meisten demokratischen Elemente vorhanden sind, die Industrie bemeistert sich dort unfehlbar der Presse, und es fehlt nie an hochtönenden Worten, um dem Verlangen nach illiberalen Maßregeln das Gewand des Patriotismus umzuhängen."137 Im Gegensatz zu den rheinisch-westfälischen Unternehmern, bei denen sich — unter der Bedingung anderer staatlicher Eingriffsformen — während des Vormärz wirtschaftspolitischer Liberalismus konsequent zum antibürokratischen, politischen Liberalismus erweiterte,138 vertraten die angeführten Angehörigen der Führungsschicht der Berliner Unternehmer damals einen bereits „saturierten" wirtschaftlichen Liberalismus. Zumindest im Berliner Fall und hierbei zumindest bei der Führungsschicht der Unternehmer bestätigt sich also die These nicht, daß die deutschen Unternehmer erst nach dem Revolutionsansatz von 1848 ihren sozialen Aufstieg, der sich in Berlin schon vorher vollzogen hatte, und ihre wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit, die sie in Berlin schon vorher besaßen, mit der politischen Entmündigung oder Anpassung bezahlten.139 In der Führungsschicht der Berliner Unternehmer scheint vielmehr während der vierziger Jahre jenes politische Verhalten des frühkapitalistischen Unternehmers anzutreffen gewesen sein, das — nach Schumpeter — dazu tendierte, den traditionellen politischen Eliten, in Preußen also der Staatsbürokratie, die politischen Entscheidungen zu überlassen.140 137
W. Beer, Die Gefahren der Differential-Zölle . . . , S. 44 und 46. Ebenso Beer: „Wo irgend nur ein hoher Schutzzoll im Interesse des Fabrikanten liegt, wird er dessen N o t w e n d i g k e i t erweisen, und es wird eine so wohlgeordnete Phalanx mit zahllosen Reklamationen und Petitionen auftreten, die Presse zu ihren Gunsten so in Bewegung setzen, daß die Regierung nidit mehr nadi ihrer Überzeugung handeln kann und eins nadi dem andern nachgeben muß" (α. α. Ο., S. 38). 138
F. Zunkel, Beamtenschaft und Unternehmer..., in: Tradition, 9. Jg. (1964), S. 265 f. is« f ü r die Stellung der im ZWEITEN KAPITEL als „mittelständisch" bezeichneten Sdiidit der Berliner Unternehmer fehlen Materialien über ihre Stellung zum bürokratischen Entscheidungssystem. 140
J. Schumpeter, Kapitalismus
...,
S. 223 ff.
246
III. Die Berliner Unternehmer im politisdien
Entscheidungsprozeß
Grundsätzlich änderte daran der Umstand wenig, daß die Berliner Unternehmer schon während der vierziger Jahre die politische Rolle eines bloßen Informationszuträgers der Staatsverwaltung nicht mehr akzeptierten. Ende der vierziger Jahre zweifelte Kupfer selbst daran, daß die Staatsverwaltung in jedem Fall einen gerechten Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen herstellen könne. Er hielt die Einführung von Differentialzöllen unter anderem auch deshalb für unmöglich, weil „an der glücklichen Durchführung dieser Maßregeln, an der Vereinigung so vieler verschiedener Interessen . . . auch das Talent und die Energie des gewandtesten, des muthigsten Staatsmannes scheitern" würde. 141 Der Wandel in seiner Haltung zum bürokratischen Entscheidungssystem scheint sich allerdings schon früher vollzogen zu haben. Ansatz dafür waren die Börsenverordnungen der vierziger Jahre, „die deprimierenden Gesetze von 1840 und 1844". 142 Mit diesen Börsenverordnungen war einerseits das wirtschaftliche Interesse Kupfers verletzt, und er motivierte daher seine Opposition gegen die Maßnahme der Staatsverwaltung mit wirtschaftsliberalen Argumenten: „Auch wenn die Unterthanen verlieren und sich geirrt haben, werden sie doch lieber Freiheit der Bewegung in Geldsachen haben wollen, als Verbotsgesetze, Strafen und Vormundschaft." 143 Andererseits vermutete er, daß die Staatsverwaltung damals nicht alle beteiligten Interessen gleichmäßig, sondern die Kreditinteressen der Großgrundbesitzer einseitig berücksichtigt habe und weitete damit seinen bislang rein wirtschaftlichen Liberalismus zum punktuell antibürokratischen Protest aus. Seiner Ansicht nach waren die Börsenverordnungen „aus einem wohlwollenden Irrthum hervorgegangen, aber der Irrthum schadet immer, welche Motive auch demselben zu Grunde liegen. Wieviel FamilienWohlstand ist dadurch zerrüttet worden, und wahrlich nicht der Wohlstand von Börsen-Männern allein. Man hat vielleicht geglaubt, solche Gesetze seien nöthig gewesen für das aristokratische Element im Staate." 144 Ähnliche Zweifel daran, daß die Staatsverwaltung konkret nicht mehr sämtliche betroffenen Interessen berücksichtigte und a b z u gleichen versuchte, äußerte David Hansemann an Hand des deutschfranzösischen Handelsvertrags: „Der jetzt eingeschlagene Weg wird nicht zum Ziele führen, davon habe ich mich lebendig überzeugt. Die 141
J. C. H . Kupfer, Referat
S. 25. 141
A. a. O., S. 35. »« A. a. O., S. 37. »" A. a. O., S. 35.
über die Frage wegen
der
Differential-Zölle...,
Unternehmer und
247
Staatsverwaltung
Interessen sind zu groß, als daß man ohne Weiteres den Vertrag abschließen und n a c h h e r zusehen könnte, wie man mit den anderen Interessenten fertig würde." 145 Zumindest in der Öffentlichkeit haben sich die Berliner Unternehmer nicht mehr so rückhaltlos wie einst in den frühen vierziger Jahren — faßbar an den Fällen Beer und Kupfer — der autonomen Entscheidung der Staatsverwaltung unterworfen. Grundsätzliche Gegnerschaft gegen die Staatsverwaltung entstand daraus freilich nicht. Erst in den sechziger Jahren und paradoxerweise bei einem Vertreter des Fortschritts wie Leonor Reichenheim verband sich wieder wirtschaftlicher Liberalismus mit dem Anspruch, den politischen Entscheidungsträgern weitgehende Autonomie gegenüber den Interessenten zu verschaffen. Einerseits vertrat er gegenüber der Staatsbürokratie einen dezidierten wirtschaftlichen Liberalismus: „Die Macht der jetzigen Verkehrs-Verhältnisse ist stärker, als die künstlichen Gebäude der Gewerbe-Verordnungen, durch welche es keiner Regierung gelingen wird, Wohlstand unter den Gewerbetreibenden zu schaffen. Unmöglich können sie den Gewerbestand in seiner mannigfaltigen Vielgestalt so durchschauen, um ersprießlich durch Reglements auf den Betrieb einwirken zu können." 146 Andererseits sprach er sich in der parlamentarischen Debatte über die Gewerbeform gegen eine Beteiligung der Handwerker an wirtschaftspolitischen Entscheidungen aus: „Es hat ferner der Herr Vorredner darauf hingewiesen, daß man die Handwerker fragen müßte. Ja, meine Herren, ich bin auch der Meinung, daß die Handwerker ebenfalls gefragt werden sollen; allein, meine Herren, die definitive Entscheidung dieser Angelegenheit möchte ich nicht in die Hand eines Betheiligten legen."147 Bei den Debatten über die Vorbereitungen des deutsch-französischen Handelsvertrags wandte sich Reichenheim sogar gegen die vorherige Anhörung von industriellen Interessenten: „Es ist von der Expertise gesprochen, welche nothwendig sei, um den Industriellen Gelegenheit zu geben, ihre Wünsche zur Kenntnis der Staats-Regierung zu bringen. Meine Herren, ich hatte die Ehre, im Jahre 1850 einer solchen Enqete beizuwohnen, und ich muß gestehen, daß seitdem nie wieder der Wunsch in mir rege gewesen ist, jemals wieder zu einer ähnlichen berufen zu werden." 148 Audi bei 145
Hansemann, in: Verhandlungen
des 2. deutschen Handelstags
S. 51. 148 147 148
L. Reidienheim, Das peußische Handels-Ministerium Sten. Ber. Abgeordnetenhaus, 1861, Bd. 2, S. 1105. A. a. O., 1862 (2. Sess.), Bd. 2, S. 793.
..., S. 14.
zu
München..
248
III. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
der Aufhebung des Koalitionsverbots für Arbeiter hielt Reichenheim eine Befragung der Arbeitgeber nicht für sinnvoll: „Ich habe den tiefsten Respekt vor den Organen des Handelsstandes, aber das sind dabei Betheiligte. Ob man Interessenten fragen soll bei einer so hochwichtigen Frage, scheint mir bedenklich zu sein."149 Es stand scheinbar im Widerspruch dazu, daß Reichenheim nicht den saturierten wirtschaftlichen Liberalismus Beers und Kupfers aus den frühen vierziger Jahren vertrat, sondern daß er darüber hinaus auf eine größere Durchlässigkeit der politischen Entscheidungen der Staatsverwaltung drängte. Er warf der Staatsverwaltung nicht nur vor, „die erwachsenen Unterthanen in der Weise zu bevormunden, daß man sie mit Gewalt zu demjenigen anhält, was nach väterlicher Uberzeugung der Herren am grünen Tisch zu ihrem wohlverstandenen Heile dient". 150 Er drängte audi auf eine größere Öffentlichkeit der Entscheidungen der Staatsverwaltung. Er kritisierte die Staatsverwaltung, da sie sich in der Diskussion über die Revision der Gewerbeordnung Ende der fünfziger Jahre autonomes Entscheidungsrecht vorbehielt: „Alle Organe der öffentlichen Meinung nahmen an diesen Erörterungen Antheil; nur das Ministerium für Handel und Gewerbe hüllte sich ihnen gegenüber in Schweigen."151 Seine Kritik stützte sich auf die Erfahrungen bei der Gewerbereform von 1849, die seiner Ansicht nach „ihre Entstehung keinem Andrängen der öffentlichen Meinung, keinem Votum der Volksvertretung, ja nidit einmal, wie man äußerlich vernimmt, dem gemeinsamen Beschluß des Ministeriums [verdankt]. Es will verlauten (und wenn es wahr ist, so charakterisirt es den Vorgang vortrefflieh), sie sei das Erzeugniß eines einzigen Kopfes, und dem Gesammt-Ministerium erst vorgelegt worden, als die Allerhöchste Sanction dazu eingeholt war. Dann trat die heimliche Geburt unter Anwendung des forcirten Mittels einer Octroyirung an das Licht der Welt." 152 In widersprüchlicher Weise versuchte also Reichenheim einerseits, den Einfluß von Interessenten auf die Entscheidungen der Staatsverwaltung möglichst abzubauen, andererseits unter Berufung auf gesetzmäßig sich entwickelnde materielle Interessen die Staatsverwaltung zu einer größeren Öffentlichkeit und Durchlässigkeit ihrer Entscheidungen zu zwingen. Dieser Widerspruch erklärt sich aus der Rolle, die 14 · A. a. O., 1865, Bd. 1, S. 160, Als Präzedenzfall zieht er dabei noch einmal den deutsch-französisdien Handelsvertrag heran. 150 L. Reichenheim, Das preußische Handels-Ministerium ..., S. 21. 151 A. a. O., S. 17. A. a. O., S. 10.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
249
sich Reichenheim als Abgeordneter im politischen Entscheidungsprozeß zuschrieb. Das autonome Entscheidungsrecht, das die Staatsverwaltung aufgrund ihrer alle Interessen gleichmäßig berücksichtigenden Entscheidungsform für sich beanspruchte und in dem den Interessenten nur noch die Rolle des Informationszuträgers zukam, verlangte Reichenheim auch für das Parlament. Mit dieser Begründung lehnte er die Beteiligung der Interessenten in Form von Enqueten etwa beim deutschfranzösischen Handelsvertrag ab: „Sollten Zollverträge von den Beschlüssen solcher Enqueten abhängig gemacht werden, so dürfte, da es sich dabei um Durchführung von Sonder-Interessen handelt, der Handelsvertrag im Jahre 1862 zum Abschluß noch nicht reif sein. Eine Einigung zwischen Konsumenten und Produzenten ist unmöglich herbeizuführen. In Mitten dieser beiden Theile steht aber die StaatsRegierung und die Landesvertretung, und ich sollte glauben, daß diese bei Feststellung und Beurtheilung der Zollsätze vollständig beiden Theilen gerecht geworden ist." 153 Das Selbstverständnis der Staatsbürokratie imitierend, verstand er sich zwar selbst als Repräsentant unternehmerischer Interessen, beansprucht jedoch in der Frage, wie unternehmerische Interessen zu vertreten seien, gegenüber den Interessenten autonomes Entscheidungsrecht. Immer wieder wies er darauf hin, daß man auf Forderungen von Interessenten, „welche von einem einseitigen Standpunkt ausgehen, und von Industriellen, die ihr persönliches Interesse damit wahrnehmen wollen, nicht zuviel Gewicht legen" dürfe. 154 Wenn Reichenheim eine größere Durchlässigkeit der Entscheidungen der Staatsverwaltung forderte, so scheint er dies vor allem aus dem Blickwinkel des Parlamentariers getan zu haben. Aus dem Blickwinkel des Interessenten unter den Unternehmern hingegen unterschieden sich seine Vorstellungen vom politischen Entscheidungsprozeß nicht wesentlich von dem der Staatsverwaltung in der Zeit des klassischen bürokratischen Absolutismus. Die damalige politische Elite war nur um Parlamentsabgeordnete erweitert worden. Neben der Fachkenntnis der Staatsbeamten und der gerechten Abwägung aller Interessen durch die Staatsverwaltung leitete die Staatsbürokratie schließlich aus den am Gemeinwohl orientierten Zielvorstellungen der Staatsbeamten eine dritte Legitimation für ihre Autonomie im politischen Entscheidungsprozeß ab. Daraus ergab sich, daß etwa die Berliner kaufmännische Korporation die Staatsverwaltung „nur mit m 1M
Reichenheim, Sten. Ber. Abgeordnetenhaus, 1862 (2. Sess.), Bd. 2, S. 793. A. a. O., S. 769; ebenso: a. a. O., 1865, Bd. 3, S. 1649.
250
III. Die Berliner Unternehmer im politischen Entscbeidun%sproze$
der Lage und dem Gange des Handels, der Fabriken und Gewerke und mit den Wünschen der Gewerbetreibenden bekannt" machen konnte und nicht über die „leitenden Grundsätze", also nicht darüber mitzuentscheiden hatten, ob bestimmte Maßnahmen im Gesamtinteresse des Staates lagen oder nicht.155 Bei den Entscheidungen des preußischen Handelsamtes, 1844 als entscheidungspolitisches Zugeständnis an die preußischen Unternehmer begründet, wurde neben den geschilderten audi dieser Herrschaftsanspruch der preußischen Staatsbürokratie deutlich. Das preußische Handelsamt sollte für die Unternehmer nicht nur ein Ersatz für „eine die Interessen derselben vertretende Centrai-Behörde" sein156 und damit den Anspruch der Staatsverwaltung aufrechterhalten, als Interessenvertreter auch der Unternehmer zu fungieren; es sollte auch nicht nur bei einer Reihe von wirtschaftspolitischen Entscheidungen „immer auf den Handels- und Gewerbestand selbst zurückgehen, um dessen Erfahrungen und Ansichten zu vernehmen, seine Wünsche kennenzulernen und seine Bedürfnisse einer gründlichen und unbefangenen Prüfung zu unterwerfen" 157 und damit die Entscheidungsautonomie der Staatsverwaltung aufrechterhalten — hier doppelt abgesichert, da das Handelsamt selbst wiederum nur eine beratende Behörde war. Das Handelsamt sollte auch — und das ist hier entscheidend — als Gutachter nur solche Unternehmer auswählen, die „unabänderliche Rücksichten der Staatsverwaltung gehörig zu würdigen verstehen, weil nur mit solchen Männern eine in jedem Fall möglichst zu erstrebende Verständigung darüber, was aus dem höheren Gesichtspunkte der Nationalwohlfahrt rathsam oder nothwendig erscheint und welche besonderen Interessen demnach in den Hintergrund treten müssen, erzielt werden können". 158 Mit diesem Selektionskriterium war der Anspruch der Staatsverwaltung garantiert, autonom darüber zu entscheiden, welche wirtschaftlichen Interessen mit dem Staatsinteresse zusammenfielen. Das Handelsamt hatte diejenigen Unternehmer darüber zu belehren, die am belehrbarsten waren. Schon zu Anfang der vierziger Jahre akzeptierten die Berliner Unternehmer auch diesen Herrschaftsanspruch der preußischen Staatsbürokratie nicht mehr. In den Diskussionen um den Schutzzoll für 155
Finanzmin. an Älteste der Berliner kaufmännischen Korporation, 31.1.1846, Stadtarchiv Berlin, Κ 1182. I5 ' Präsident des Handelsamts an Älteste der Berliner kaufmännischen Korporation, 2. 9. 1844, Stadtarchiv Berlin, Κ 1167. 157 Ebda. 158 Ebda.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
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Rübenzucker formulierten die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation nicht die Interessen des Rohrzuckerhandels, sondern debattierten über eine Eingabe an den Finanzminister von gesamtwirtschaftlichen, ja sogar von fiskalischen Gesichtspunkten aus. Sie untersuchten die Rübenzuckerindustrie danach, „a. welchen Einfluß . . . dieselbe auf die Mehrzahl des Volkes, die ärmere Klasse, b. auf die übrigen Zweige der Gesamtindustrie des Volkes, c. auf die Einnahme des Staats-Haushaltes [hat]; d. wie läßt sich die Begünstigung derselben in staatsökonomischer Hinsicht rechtfertigen". 159 Grundsätzlich verfolgte die Berliner kaufmännische Korporation in ihren Gutachten und ihren jährlichen Wirtschaftsberichten gegenüber der Staatsverwaltung das Ziel, „daß die wahre Würdigung des Handels — seine viel in sich begreifende Bedeutung, seine weltbewegende Kraft, immer mehr erkannt und ihm die volle wohlverdiente Gunst zu Theil werde". 160 Die kaufmännische Korporation verstand sich damit nicht nur als Interessenverband der Berliner Unternehmer, sondern betrachtete es schon damals als ihre Aufgabe, die eigenen Interessen gegenüber dem „Gemeinwohl" abzuwägen und den „engen Zusammenhang der Wohlfahrt des Handels und dem Gedeihen der höchsten Interessen der Menschheit" aufzuzeigen. 161 Schon damals war entscheidend, daß die Berliner Korporation damit nicht nur formal den Herrschaftsanspruch der Staatsverwaltung entgegentrat und über das Gesamtinteresse mitzuentscheiden suchte, sondern daß sie ihre eigenen Interessen, in der Debatte über die Schutzzölle auf Rübenzucker die Interessen der Rohrzuckerproduktion, aus dem Gesamtinteresse heraus zu begründen und zu ideologisieren suchte.162 Bekämpft von einzelnen Unternehmern wie dem Berliner Bankier Beer,163 haben vor allem Berliner Industrielle die Bedeutung ihres Wirtschaftssektors ideologisiert. Auf diese Weise 159
Protokoll der Sitzung der Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation, 8. 3.1843, Stadtarchiv Berlin, Κ 1182. 1M Beschluß der Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation, 29. 3.1844, Stadtarchiv Berlin, Κ 1182. 161 Beschluß der Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation, 26.11.1844, Stadtarchiv Berlin, Κ 510; Beschluß ders., 29. 3.1844, Stadtarchiv Berlin, Κ 1182; zur selben Tendenz: Älteste der Berliner kaufmännischen Korporation an Handelsmin., 31.10.1856 und 16. 5.1859 (DZA Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 85 Adh. C Bd. 1 und Rep. 120 A X Nr. 14 Bd. 1). im Vgl. d a s Votum der Ältesten der kaufmännischen Korporation für die Rohrzuckerindustrie, in: Protokoll der Sitzung der Korporationsältesten, 8.3.1843, Stadtarchiv Berlin, Κ 1182. W. Beer, Die Gefahren der Differential-Zölle . . . , S. 38, 46.
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III- Die Berliner Unternehmer im politischen Entscheidunf>sprozeß
hat Kupfer die Interessen der Industrie während der Auseinandersetzung um Schutzzölle begründet: „Aufmerksamkeit des Staats verdient aber die Fabrikation vorzugsweise, weil sie mehr zur Wohlfahrt des Ganzen beiträgt, als der bloße Handel, insofern durch sie mehr Menschen beschäftigt werden, als durch diesen."164 Ebenso hat der Berliner Textilindustrielle Carl die Berechtigung von Industriezöllen aus dem Gesamtinteresse abgeleitet: „Die schaffende Kraft des Nationalreichthums ist immer eine blühende, manichfaltige, vielgetheilte und vielgestaltige Industrie; sie hat ihren Bestand und ihre Nahrung zuvörderst in der Gegenseitigkeit ihrer Zweige; sie wirkt fördernd auf die Bodencultur und die Verwerthung ihrer Produkte; sie schafft dem Handel die reichsten, leichtesten und werthvollsten Austauschmittel. Darum muß uns die Rücksicht auf die Industrie immer in erster Linie stehen." 165 Die Herrschaftsansprüche der klassischen preußischen Staatsbürokratie haben also im Selbstverständnis der Berliner Unternehmer seit den vierziger Jahren an Wirkung stark verloren. Erstens wurde die Fachkenntnis der Staatsbeamten teils immer, teils seit den vierziger Jahren gering eingeschätzt; die Unternehmer verlangten als wirtschaftliche Sachverständige bei politischen Entscheidungen beteiligt zu werden. Zweitens wurde der Anspruch der Staatsbürokratie, die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmer zu formulieren und wahrzunehmen, von diesen nicht mehr akzeptiert. Das äußerte sich vor allem darin, daß sie aus der Rolle des bloßen Informationszuträgers für die Staatsverwaltung ausbrachen, vereinzelt aber auch darin, daß sie an der Fähigkeit der Staatsverwaltung zweifelten, in ihren Entscheidungen alle Interessen gleichmäßig zu berüdksiditigen. Drittens schließlich unterwarfen sich die Berliner Unternehmer seit den vierziger Jahren nicht mehr dem Anspruch der Staatsverwaltung, autonom über das Gesamtinteresse entscheiden zu können. Seit den vierziger Jahren läßt sich feststellen, daß sie ihre eigenen Interessen nicht partiell, sondern aus dem „Gesamtinteresse" heraus formulierten und ideologisierten. Die Rolle der Berliner Unternehmer bei Entscheidungen der Staatsverwaltung Es wurde versucht, das Selbstverständnis der Berliner Unternehmer von ihrer politischen Rolle — gemessen an den Herrschaftsansprüchen der klassischen preußischen Staatsbürokratie — nachzuzeichnen. Aus 1,4 1βί
J. C. H. Kupfer, Referat über die Frage wegen der Differential-Zölle ..., S. 32. H. C. Carl, Deutsthland's Zolleinigung . . S . 15.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
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hermeneutisdien Gründen wurden dabei die Herrschaftsansprüche der Staatsbürokratie stark abstrahiert und ihre historische Weiterentwicklung nicht mit einbezogen. Dies wird nun nachgeholt werden. Dabei soll verfolgt werden, ob sich — über das politische Selbstverständnis der Berliner Unternehmer hinaus — auch die Regeln des politischen Entscheidungsprozesses in Preußen änderten und die Berliner Unternehmer Einfluß hinzugewannen, der ihrem veränderten politischen Selbstverständnis entsprach. Zu diesem Zweck wird die konkrete politische Rolle der Unternehmer im politischen Entscheidungsprozeß untersucht. Auch dabei soll wieder von den drei geschilderten Herrschaftsansprüchen der klassischen preußischen Staatsverwaltung ausgegangen werden, nun allerdings in ihrer konkreten Weiterentwicklung. Wenn die Berliner Kaufleute und Bankiers schon während der vierziger Jahre den Fachverstand von Staatsbeamten gering einschätzten, verstießen sie zwar gegen die Herrschaftsansprüche der klassischen preußischen Staatsbürokratie, nicht aber gegen ihre tatsächliche Rolle im Entscheidungssystem der preußischen Staatsverwaltung. Verglichen mit der Stellung der Unternehmer anderer preußischer Regionen, nahmen sie dabei sogar teilweise eine Schlüsselstellung ein. Die Revision des preußischen Wechselrechts wurde in den zwanziger Jahren von der Berliner kaufmännischen Korporation angeregt. 1826 wurde daher nur sie vom preußischen Justizminister zu einem Gutachten aufgefordert. In der Kommission, die seit 1832 im Auftrag des preußischen Ministers des Innern für Handel und Gewerbe auf der Grundlage der Gutachten auch anderer kaufmännischer Korporationen einen ersten Entwurf für ein neues preußisches Wechselgesetz ausarbeitete, waren die Deputierten der Berliner kaufmännischen Korporation ebenfalls die einzigen Vertreter der preußischen Unternehmer. Allerdings war ihr Erfolg gering. Obwohl die Forderungen nach einer endgültigen Entscheidung der Staatsverwaltung die jährlichen Wirtschaftsberichte der Berliner kaufmännischen Korporation audi noch während der vierziger Jahre wie ein roter Faden durchziehen und obwohl es vermutlich die Vertreter der Korporation waren, die die brandenburgischen Provinzialstände und die Berliner Presse zu weiteren Mahnungen veranlaßten, gelang es auch in diesem Jahrzehnt nicht, die Staatsverwaltung zu einer endgültigen Entscheidung über ein neues preußisches Wechselgesetz zu bewegen.166 In dem Entscheidungsprozeß, der — um vorzugreifen — 16e Immediateingabe der brandenburgisdien Provinzialstände, 13.5.1841, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 371; Berlinische Nachrichten, Nr. 68 vom 21.3.1846;
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ΠΙ. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
1855 zur preußischen Konkursordnung führte, nahm die Berliner kaufmännische Korporation ebenfalls eine Sonderstellung ein. Audi hier war es die Berliner Korporation, die die stärksten Anstrengungen zu einer Novellierung des bisherigen Konkursrechts unternahm. Nachdem es ihr nicht gelungen war, dafür die kaufmännischen Korporationen der östlichen Provinzen zu mobilisieren, war es wiederum nur sie, die nach einer mündlichen Unterredung mit dem preußischen Finanzminister 1848 zu einem Gutachten aufgefordert wurde. 167 Bei einer Reihe von anderen Entscheidungsprozessen vor der Jahrhundertmitte war die Berliner kaufmännische Korporation in gleicher Weise wie andere kaufmännische Korporationen und Kammern beteiligt. Im Entscheidungsprozeß über Inhaberschuldverschreibungen, der Anfang der dreißiger Jahre ergebnislos endete, stützte sich der Regierungsentwurf audi auf Gutachten kaufmännischer Korporationen. 168 Im Entsdieidungsprozeß, der 1847 zum Gesetz über preußische Handelsgerichte außerhalb des Rheinlands führte, beriet die Staatsverwaltung ihre ersten Entwürfe 1841 mit Delegierten preußischer Handelskammern und kaufmännischer Korporationen, darunter auch dem Vorsteher der Berliner Korporation, dem Bankier Joseph Mendelssohn.169 Ebenso forderte die Staatsverwaltung 1829 von der Berliner kaufmännischen Korporation Gutachten über den Handel mit Staatspapieren, über „Handels-Billets und kaufmännische Anweisungen", über das preußische Aktien- und Firmenrecht an. 170 Über Entwürfe zu den letzteren beiden wirtschaftspolitischen Bereichen verhandelte die Staatsverwaltung Anfang der vierziger Jahre ebenso mit Delegierten der Berliner
Mitgliederinformationen der Berliner kaufmännischen Korporation, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 Α HG Nr. 3705 und Stadtarchiv Berlin, Κ 563, Κ 728. 167 Präsident des preußischen Handelsamts an Finanzmin., 23. 12.1847, DZA Merseburg, Rep. 120 A l l Nr. 90, Bd. 3; Berliner kaufmännische Korporation an Finanzmin., 10. 8.1848, ebda. 168 Immediatbericht des Ministers des Innern und der Polizei, 23. 5.1830, DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 1 Nr. 7 Bd. 1. "» Justizmin. an Finanzmin., 2. 7.1841, DZA Merseburg, Rep. 120 BB VII 1 Nr. 80 Bd. 1. Neben Berlin gutachteten die Breslauer, Stettiner, Magdeburger, Hallenser, Münsteraner und Duisburger Kaufmannschaften: Vgl. Zusammenstellung der Gutachten, 8.4. 1841, ebda. Die Berliner kaufmännische Korporation hat allerdings später die Einrichtung eines Berliner Handelsgerichts abgelehnt, da jüdische Unternehmer nicht wahlberechtigt waren (Berlinische "Nathrichten, Nr. 212 vom 11. 9.1847). 170 Besdiluß der Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation, 24.2.1841, Stadtarchiv Berlin, Κ 511.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
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kaufmännischen Korporation, wie sie sie 1834 zur „Commission zur Entwerfung eines Handelsrechts" zugezogen hatte. 171 Über Pläne, die Berliner kaufmännische Korporation in eine Handelskammer umzuwandeln, diskutierte die Staatsverwaltung ebenfalls mit Vertretern des Ältestengremiums der Berliner kaufmännischen Korporation. 172 Zu den zahlreichen Bank-, Versicherungs-, Verkehrsprojekten und einzelnen handels- und kreditpolitischen Verwaltungsakten forderte die Staatsverwaltung zudem Gutachten der kaufmännischen Korporation an. 173 Diese Fälle lassen vermuten, daß die preußische Staatsverwaltung entgegen ihren klassischen Herrschaftsansprüchen schon seit den zwanziger Jahren im konkreten politischen Entscheidungsprozeß nicht mehr darauf bestand, für alle wirtschaftlichen Bereiche bei ihren Beamten Fachkenntnisse vorauszusetzen. Wenn daher die Berliner Unternehmer teils seit den vierziger Jahren, teils schon früher die Fachkenntnisse der Staatsbeamten für den unternehmerischen Arbeitsbereich gering einschätzten, so gerieten sie dabei nicht in einen Konflikt mit der Staatsverwaltung, sondern drangen in einen Entscheidungsbereich ein, den die Staatsverwaltung schon geräumt hatte. Allerdings lassen die geschilderten Fälle auch vermuten, daß die preußische Staatsverwaltung bis zur Mitte der vierziger Jahre nur in bestimmten Bereichen der Wirtschaftspolitik bereit war, Berliner Unternehmer als Sachverständige zu akzeptieren und mit ihnen Gesetzentwürfe durchzuarbeiten. Nur in handelsund kreditrechtliche Entscheidungsprozesse wurden Berliner Unternehmer, und damit nur Bankiers und Kaufleute, einbezogen. Bei den Regelungen, die die preußische Staatsverwaltung speziell im industriellen Bereich traf, entschied sie dagegen autonom. Weder bei dem Entscheidungsprozeß, der seit 1821 verfolgbar schließlich zur Gewerbeordnung von 1845 führte, noch bei den Vorberatungen der Verordnung zum Schutz jugendlicher Arbeiter in Fabriken von 1839 wurden Gutachten von Industriellen angefordert. 174 „Kann in Handelsangelegenheiten auf ostensible Weise ein Rath erfordert werden, so stehen der 171 Ebda.; Beschluß der Altesten der Berliner kaufmännischen Korporation, 26.1.1843, ebda. 171 Berliner kaufmännisdie Korporation an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 14.4.1842, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 371. 173 Wie Anm. 166. 174 Vgl. zur Gewerbeordnung von 1845: DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 1 Bd. 1 ff. und Rep. 120 BB I 1 Nr. 1 Bd. 1 f.; G. K. Anton, Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung. Neu hrsg. von Horst Bülter, Berlin 1953, S. 46 ff.
256
III. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
Staatsverwaltung in den östlichen Provinzen die kaufmännischen Korporationen zu G e b o t e . . . Kommt es aber der Staatsverwaltung in anderen und namentlich in gewerblichen Angelegenheiten auf einen Rath an, so gibt es die Bewandtniß des Gegenstands am besten an die Hand, von wem die gründlichste und unbefangendste Auskunft zu erwarten ist." 175 Die im allgemeinen höhere soziale Position der Berliner Bankiers und Großkaufleute schlug sich also noch in den vierziger Jahren auch in dem politischen Entscheidungsprozeß nieder. 176 Die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation erhielten also das Mitspracherecht in handels- und finanzpolitischen Entscheidungsprozessen, ohne deswegen zuvor mit der Staatsverwaltung in Konflikt geraten zu sein. Sie haben sich umgekehrt audi nicht in eine Auseinandersetzung mit der Staatsverwaltung begeben, um ihr Mitspracherecht im gewerbe- und sozialpolitischen Bereich auszuweiten, obwohl das Ältestengremium schon damals zu einem erheblichen Teil aus Industriellen bestand. Die Eingaben der Korporation hielten sich an die Grenzen der Kredit- und Handelspolitik. 177 Wenn daher 1844 in der Spenerschen Zeitung gefordert wurde, daß für die Ältesten der Korporation die Möglichkeit bestehen müsse, „den Staatsbehörden ihre Wahrnehmungen über das ganze große Gebiet des Handels, der Gewerbe und der Schiifahrt, ihre sachverständigen Ansichten über die Mittel zu deren Beförderung, über etwa entgegenstehende Hinderniße und deren beste Beseitigung offen" mitzuteilen 178 und damit in einem weit größeren Bereich der Wirtschaftspolitik als Sachverständige zu fungieren, so dürfte diese Forderung kaum von den Korporationsältesten lanciert worden sein. Die Bankiers und Kaufleute unter den Ältesten waren in ihrem speziellen Arbeitsbereich entscheidungspolitisch saturiert; die Industriellen unter den Ältesten schätzten damals — wie sich am Beispiel Kupfers zeigte — den Sachverstand der Staatsbeamten noch sehr hoch ein. Auf einen entscheidungspolitischen Konflikt mit den angepaßten Berliner Unternehmern läßt es sich daher nicht zurückführen, wenn 1844 das preußische Handelsamt gegründet wurde und „alle die wichtigeren Angelegenheiten des Handels und der Gewerbe, mit Einschluß der Schiffahrt bezüglichen Maaßregeln, alle Einrichtungen im Innern zur Belebung des Verkehrs und der Industrie in Zukunft 175 Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Finanzmin., 31. 5.1841, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1, Nr. 371. 17e Vgl. zur sozialen Schichtung ZWEITES K A P I T E L . 177 Wie Anm. 166. 178 Leitartikel, Berlinische Nachrichten, Nr. 63 vom 14. 3.1844.
Unternehmer
und
Staatsverwaltung
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nur unter Mitwirkung des Handels-Amts beschlossen, ohne dasselbe keine Gesetze, welche in die Handels- und Gewerbeverhältnisse eingreifen, erlassen, keine Veränderung des Zolltarifs vorgenommen, keine Handels- und Schiffahrts-Verträge mit auswärtigen Staaten geschlossen werden, und das Handels-Amt wird bei allen solchen Veranlassungen immer auf den Handels- und Gewerbestand selbst zurückgehen, um dessen Erfahrungen und Ansichten zu vernehmen, seine Wünsche kennenzulernen". 179 Für die Mitbeteiligung der Unternehmer an den Entscheidungen der Staatsverwaltung war dies ein entscheidender Einschnitt, der nicht nur verbal blieb. Wie zu erwarten, blieb den Unternehmern auch nach der Mitte der vierziger Jahre der bisherige kredit- und handelspolitische Mitentscheidungsbereich erhalten. So beriet die Staatsverwaltung auch weiterhin mit der Berliner kaufmännischen Korporation über ihre Gesetzentwürfe zum preußischen Konkursrecht, holte 1854 von sämtlichen Handelskammern und kaufmännischen Korporationen Gutachten ein und diskutierte im selben Jahr in einer Konferenz von Delegierten dieser Unternehmerorganisationen ihre Pläne, bevor sie 1855 die preußische Konkursordnung erließ.180 Zur Revidierung dieser Konkursordnung waren es wiederum Berliner Unternehmer, die den Anstoß gaben. Schon 1857 drängte die Korporation in Eingaben an die Staatsverwaltung auf eine Novelle. Nachdem sie keinen Erfolg gehabt hatte, stieß 1858 das preußische Hauptbankdirektorium nach, in dem als Unternehmervertreter ausschließlich Berliner Bankiers und in der Mehrheit Korporationsälteste saßen. 1860 schlossen sich ihnen der Abgeordnete und Berliner Textilindustrielle Reichenheim mit einem parlamentarischen Antrag und der Deutsche Handelstag an. Als die Staatsverwaltung auf diesen und den Druck der Stettiner kaufmännischen Korporation hin 1866 ihren Entwurf ausgearbeitet hatte, legte sie ihn wiederum sämtlichen preußischen Handelskammern und kaufmännischen Korporationen zur Begutachtung vor, bevor sie ihn beiden Kammern vorlegte und er schließlich 1869 Gesetz wurde. 181 Die Ent17> Präsident des Handelsamts an Berliner kaufmännisdie Korporation, 2. 9.1844, Stadtarchiv Berlin, Κ 1182. 180 Vorbemerkungen zum Entwurf einer Konkurs- und Prioritäts-Ordnung, August 1854, D Z A Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 90 Bd. 5. 181 Eingaben der Berliner kaufmännischen Korporation an den Handelsmin., 10.12.1857, und an den Justizmin., 1 6 . 6 . 1 8 5 7 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A l l Nr. 90 Bd. 7; Jahresbericht des preußischen Haupt-Bank-Direktoriums für 1858, ebda.·, Antrag Reichenheim und Genossen 1860, ebda.; Berliner kaufmännische
17 Kaelble, Berliner Unternehmer
258
III.
Die Berliner
Unternehmer
im politischen
Entscheidungsprozeß
Scheidungsprozesse, die während der fünfziger und sechziger Jahre zu Abänderungen der staatlichen Zinssatzvorschriften führten, fielen ebenfalls noch in denjenigen Bereich der Wirtschaftspolitik, in dem schon vor der Mitte der vierziger Jahre die Entscheidungen der Staatsverwaltung mit Unternehmern beraten wurden. 1856, veranlaßt durch die Petition eines Magdeburger Kaufmanns an das Abgeordnetenhaus und unterstützt durch eine Eingabe der Magdeburger kaufmännischen Korporation, arbeitete der preußische Handelsminister einen Entwurf aus, den er 1856 sämtlichen Handelskammern und kaufmännischen Korporationen zur Begutachtung vorlegte. Nachdem auch das Landes-Ökonomie-Kollegium befragt worden war, wurde 1857 die Verordnung zur Suspension der Beschränkung des vertragsmäßigen Zinssatzes erlassen.182 Auch der Entscheidungsprozeß, der 1858 zur völligen Aufhebung des preußischen Wuchergesetzes führte, wurde von Unternehmern, in diesem Fall der Königsberger kaufmännischen Korporation, angeregt. Auch hier ließ der Handelsminister sämtliche Handelskammern und kaufmännische Korporationen gutachten, bevor er seinen Entwurf den Kammern vorlegte. 183 Der Entscheidungsprozeß um die Aufhebung der Zinsbeschränkung auch bei Hypothekendarlehen wurde ebenfalls von Unternehmern, von der Magdeburger kaufmännischen Korporation, angeregt und von der Königsberger kaufmännischen Korporation unterstützt. In diesem Entscheidungsprozeß wurden allerdings nur die landwirtschaftlichen Kreditorganisationen, nicht dagegen die Unternehmerorganisationen befragt, bevor der Entwurf den Kammern vorgelegt wurde. 184 Nach ähnlichen Regeln waren die Unternehmer an dem ergebnislos ausgehenden zweiten Entscheidungsprozeß über Handelsgerichte beteiligt. Nachdem das Handelsgeriditsgesetz von 1847 wirkungslos geblieben war, da die preußischen Unternehmer Korporation an Handelsmin., 2 0 . 5 . I860, mit Beschlüssen des Deutschen Handelstages, ebda.·, Handelsmin. an sämtliche Handelskammern und kaufm. Korporationen, 1. 12.1866, ebda. 1 8 2 Magdeburger Kaufmann Lehmstaedt an Justizkommission des Abgeordnetenhauses, 6. 2. 1856, D Z A Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 85 Bd. 1; Eingabe der Magdeburger kaufmännischen Korporation an Handelsmin., 2 . 1 0 . 1 8 5 6 , ebda.·, Ministerpräs. an Justizmin., 8 . 1 1 . 1856, ebda.·, Handelsmin. an sämtl. Handelskammern und kaufm. Korporationen, 27. 7 . 1 8 5 6 , ebda. 1 8 3 Vgl. aus D Z A Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 85 Bd. 2 insbesondere: Königsberger kaufm. Korporation an Handelsmin., 1 . 1 2 . 1 8 5 7 ; Handelsmin. an sämtl. Handelskammern und kaufm. Korporationen, 8 . 1 . 1 8 5 8 . 1 8 4 Vgl. aus D Z A Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 85 Bd. 3 insbesondere: Handelsmin. an Landwirtschaftsmin., 25. 5. 1866; Innenmin. an Handelsmin., 30. 5. 1866.
Unternehmer
und
Staatsverwaltung
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von dieser Institution kaum Gebrauch machten, arbeitete der Handelsminister — angeregt durch die Revisionsforderungen vor allem ostpreußischer Handelskammern — einen Entwurf aus, den er wie in anderen Entscheidungsprozessen 1849 einer Konferenz von Delegierten sämtlicher preußischer Handelskammern und kaufmännischer Korporationen vorlegte. 185 In der gleichen Weise beriet die Staatsverwaltung 1851 ihren Entwurf zu einem preußischen Handelsgesetzbuch zusammen mit Sachverständigen dieser Unternehmerorganisation. 186 Die Zahl der Gutachten, die die Staatsverwaltung zu Einzelprojekten dieser wirtschaftlichen Bereiche anforderte, nahm zudem erheblich zu. 1865 arbeitete die Berliner kaufmännische Korporation 105, 1870 186 derartige Gutachten aus.187 Nicht nur die Mitarbeit der Unternehmer auf dem Gebiet der kredit- und handelspolitischen staatlichen Entscheidungen intensivierte sich. Entscheidender war, daß die preußischen Unternehmer — verglichen mit der Zeit vor der Mitte der vierziger Jahre — in einem erheblich weiteren Bereich der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik mitberieten. Vor allem wurden nun auch Industrielle an staatlichen Entscheidungen und Regelungen in ihrem eigenen Tätigkeitsbereich beteiligt. So unterschied sich die Entstehung der Novelle, die 1853 den Schutz jugendlicher Arbeiter in Fabriken neu regelte, erheblich vom Zustandekommen ihres Vorläufers, des Regulativs von 1839. Während damals Unternehmer nicht beteiligt waren, galten nun auch für diesen Bereich der vor allem die Industriellen betreffenden Sozialpolitik die üblichen Regeln des Entscheidungsprozesses. Auch hier wurde der Regierungsentwurf 1852 sämtlichen Handelskammern, kaufmännischen Korporationen und darüber hinaus Organisationen ausschließlich der sozialen Gruppe der Unternehmer zur Begutachtung vorgelegt, bevor er in die Kammern eingebracht wurde. 188 In der 185
Vgl. D Z A Merseburg, Rep. 120 BB VII 1 Nr. 80, Bd. 1—4. Das besondere Gewicht, das die Berliner kaufmännische Korporation im damaligen politischen Entscheidungsprozeß besaß, zeigt sich auch hierbei. Während die übrigen Unternehmensorganisationen nur einen Delegierten entsenden konnten, wurden der Berliner kaufmännischen Korporation zwei Delegierte zugestanden. Sie selbst forderte drei (Berliner kaufmännische Korporation an Handelsmin., 4. 1. 1849, ebda.). 18e Delegierter der Berliner kaufmännischen Korporation war der Korporationsälteste Kupfer (Berlinische Nachrichten, Nr. 197 vom 24. 8.1851). 187 v g i . Jig Mitgliederinformationen der Berliner kaufmännischen Korporation, Stadtarchiv Berlin, Κ 511, 563. 188
17*
Vgl. D Z A Merseburg, Rep. 120 BB VII 3 Nr. 1 Bd. 3.
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III. Die Berliner Unternehmer
im politischen
Entscbeidun%sproze$
gleichen Weise unterschied sich die Entstehung der Gewerbeordnung von 1845 von der Entstehung ihrer Novelle 1849. Auch in diesem Bereich, der unter den Unternehmern ebenfalls vor allem Industrielle betraf, wurden diese erst nach der Mitte der vierziger Jahre zu Beratungen herangezogen. Zu der Konferenz, in der 1849 die Gewerbegesetznovelle beraten wurde, lud der Handelsminister neben neun Regierungsvertretern und 24 Vertretern des Handwerks zwanzig Delegierte von Handelskammern und kaufmännischen Korporationen, darunter den Berliner Korporationsältesten und Seidenfabrikanten Baudouin, ein.189 Ähnlich lief schließlich der Entscheidungsprozeß ab, der 1866 zur Aufhebung des Koalitionsverbots für Arbeitnehmer führte. Auch hier wurde zur Beratung des Entwurfs der Staatsverwaltung eine Konferenz von Vertretern der Interessenten, der landwirtschaftlichen, handwerklichen und industriellen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einberufen, bevor er an die Kammern weitergeleitet wurde. 190 Ganz entscheidend wurde das Mitberatungsrecht der Berliner kaufmännischen Korporation schließlich dadurch ausgedehnt, daß sie seit 1847 neben dem Berliner Magistrat, dem Berliner Polizeipräsidenten und später auch dem Direktorium der Preußischen Bank regelmäßig zur Begutachtung von Titel- und Ordensgesuchen für Berliner Unternehmer herangezogen wurde. 191 Schon vor der Mitte der vierziger Jahre hatte also die preußische Staatsbürokratie in der Entscheidungspraxis den Anspruch aufgegeben, Fachkenntnisse in allen Bereichen der Wirtschaft zu besitzen. Schon damals beriet die Staatsverwaltung auf dem Gebiet der Handels- und Kreditpolitik ihre Entscheidungen zusammen mit den Berliner Bankiers und Kaufleuten. Von der Mitte der vierziger Jahre ab wurde diese Regel für den Entscheidungsprozeß auch auf diejenigen Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgedehnt, in denen die Staatsverwaltung Regelungen für das Tätigkeitsfeld von Industriellen traf. Von sich aus haben allerdings die Berliner Unternehmer nicht auf diese quantitative Ausdehnung des Mitberatungsrechts gedrängt. Die Staatsverwaltung entschied auch nach der Mitte der vierziger Jahre autonom 189 Vgl. DZA Merseburg, Rep. 77 Tit. 307 Nr. 19 Bd. 1. Zum Entscheidungsprozeß der Gewerbeordnungsnovelle von 1862 wurden Unternehmer von der Staatsverwaltung nicht herangezogen (vgl. Rep. 120 Β I 1 Nr. 62 Bd. 2). 190 Vgl. DZA Merseburg, Rep. 120 BB I 1 Nr. 12 Bd. 1. 191 Carl, Vorsteher der Berliner kaufmännischen Korporation, an Finanzmin., 26.2.1847, DZA Merseburg, Rep. 120 A VI 5 Bd. 3; vgl. zudem die Titel- und Ordensakten für Berliner Unternehmer in diesem und den folgenden Bänden.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
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darüber, ob ihre Entscheidungen mit Unternehmern durchberaten werden sollten oder nicht. Eine qualitative Ausdehnung des Mitberatungsrechts wird man nur darin sehen können, daß seit der Mitte der vierziger Jahre in zunehmendem Maß neben oder an die Stelle mündlicher Besprechungen mit der Staatsverwaltung schriftliche Gutachten der Handelskammern und kaufmännischen Korporationen traten. Sie erlaubten eine genauere Durchberatung der eigenen Interessenlage innerhalb der jeweiligen Unternehmerorganisation. Sollte die Staatsverwaltung mit dieser Form der Mitberatung versucht haben, die Unternehmerinteressen auf das jeweilige lokale Gebiet zu beschränken und die auf Konferenzen gegebene Möglichkeit der Klärung der lokalen Interessenunterschiede zwischen den Unternehmern abzubauen, so hatte sie damit sicher wenig Erfolg. Schon bevor sich die Unternehmer eine Clearingstelle im Deutschen Handelstag schufen, gab es in verschiedenen Entscheidungsprozessen zumindest regionale Absprachen zwischen Handelskammern und kaufmännischen Korporationen. Aus dieser den Ansprüchen der klassischen preußischen Staatsbürokratie widersprechenden Rolle der Unternehmer bei Entscheidungen der Staatsverwaltung ergab sich eine gewisse Rivalität zwischen Unternehmerorganisationen und unteren Behördeninstanzen, die ja ursprünglich die Funktion hatten, die Interessen auch der Unternehmer lokal und regional zu repräsentieren. Formal blieb die Rolle dieser Behörden, für Berlin die Regierung Potsdam oder der Berliner Polizeipräsident, im Entscheidungsprozeß die gleiche. In allen hier in Betracht gezogenen Fällen wurden auch ihre Gutachten eingeholt. Schon der Umstand, daß sie im Entscheidungsprozeß etwa denselben formellen Rang wie die Handelskammern und kaufmännischen Korporationen besaßen, schränkte allerdings ihre Bedeutung erheblich ein. Hinzu kam, daß von der Ministerialbürokratie der Wert ihrer Gutachten im Vergleich zu denjenigen der unternehmerischen Sachverständigen immer geringer eingeschätzt wurde. Im Entsdieidungsprozeß über Handelsgerichte zweifelte der preußische Finanzminister 1841 die Sachkenntnis der kaufmännischen Korporationen noch an: Es kam ihm in diesem Fall „wesentlich auf die Verhältnisse des Handels- und Gewerbebetriebs an denjenigen Orten a n . . . für welche die Errichtung von Handelsgerichten etwa in Aussicht genommen werden dürfte". Nachdem er die Gutachten der Handelskammern und kaufmännischen Korporationen erhalten hatte, drängte der Finanzminister auf Gutachten der Bezirksbehörden, da „die nähere Kenntniß dieser, wirklich verschiedenen Verhältnisse aber zunächst bei den Regierungen [das heißt den
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im politischen
Entscbeidungsprozeβ
Bezirksbehörden] vorausgesetzt werden muß". 192 Nach der Jahrhundertmitte wird besonders in dem Entscheidungsprozeß, der 1862 zur preußischen Gewerbeordnung führte, deutlich, daß für die Ministerialbürokratie der Wert dieser Gutachten gesunken war. „Weder den Regierungen noch den städtischen Behörden traue ich in der Frage, um welche es sich hier handelt, eine hinreichend unbefangene Beurtheilung der wirklich vorhandenen Bedürfnisse zu." 193 Die Bezirksbehörden wurden damit nicht mehr für fähig gehalten, die lokalen Interessen zu repräsentieren. Ähnlich entwickelte sich auch die Selbsteinschätzung dieser Behörden. Ein Gutachten, das die Potsdamer Bezirksbehörde 1830 zum Problem der Inhaberschuldverschreibungen abfaßte, spiegelte noch das klassische Selbstverständnis der Staatsbürokratie wider. Ihr Gutachten fußte auf nationalökonomischen Klassikern und auf einigen einschlägigen englischen und preußischen Fällen. Mit der Berliner kaufmännischen Korporation beriet sich die Bezirksbehörde nicht, „da hier nur von allgemeinen Grundsätzen die Rede ist, und es sich wohl voraussehen läßt, daß das gedachte Gutachten [der kaufmännischem Korporation] auf die mindest mögliche Einmischung des Staats gehen wird". 194 Die Potsdamer Bezirksbehörde beanspruchte damit noch voll und ganz das Recht, auch die Interessen der Unternehmer zu vertreten. Schon in den fünfziger Jahren war im Bereich der Wirtschaftspolitik, beim Problem der staatlichen Zinssatzregelung, eine ganz andere Selbsteinschätzung dieser Behörden erkennbar. Nicht nur der Oberpräsident der Provinz Brandenburg wandte sich gegen die bisherige Form der Sachinformation der Staatsverwaltung; nicht nur er hielt es nun „für sehr schwierig..., auf theoretischem Wege zu einer festen Entscheidung zu gelangen".195 Auch die Regierung Potsdam zweifelte den sachlichen Informationswert ihres Gutachtens an. Sie setzte voraus, „daß eine competente Beurtheilung der Frage [der staatlichen Zinssatzregelung], eine genaue und allseitige Kenntniß der Verhältniße des Geldmarktes, des großen und kleinen Geld-Verkehrs, des m Finanzmin. an Staatsministerium, 24. 6.1841, DZA Merseburg, Rep. 120 BB VII Nr. 80 Bd. 1. ,M Votum Hoenes, Rat im Handelsmin., 6.4.1860, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 62, Bd. 5. 1>4 Regierung Potsdam an Min. d. Innern u. d. Polizei, 7.1. 1830, DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 1 Nr. 7 Bd. 1. Ebenso ihr Gutachten zum Entwurf der preußischen Gewerbeordnung: Gutachten d. Regierung Potsdam, 22.3.1837, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 1 Bd. 4. 1,5 Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Handelsmin., 30.11.1857, DZA Merseburg, Rep. 120 A 1 Nr. 85 Adh. Β Bd. 2.
Unternehmer
und
Staatsverwaltung
263
Hypotheken-Verkehrs und der Bedürfnisse des Handwerker- und kleinen Gewerbestandes voraussetzt, welche wir nicht besitzen, und zu deren Erwerbung uns das Material um so mehr fehlt, als die Berichte, welche wir von einzelnen unserer Unter-Behörden eingefordert haben, sich selbst ausschließlich auf den theoretischen Standpunkt stellen, und thatsächliche Data, auf welche sich ein theilweises Urtheil gründen ließe, wenig oder gar nicht enthalten". 196 Die gleiche Haltung nahm der Berliner Polizeipräsident ein: „Da nun die hiesige Handelskammer, als die einzige technische Behörde hierselbst, welche ein auf die Praxis gegründetes Urtheil in der Sache haben kann, und an welche sich das Polizei-Präsidium wegen Abgabe eines Gutachtens wenden könnte, durch Euer Excellenz bereits zur Vorlage eines solchen veranlaßt worden, so möchte der Ansicht des Polizei-Präsidii wohl nur der Werth einer aus der Anschauung der allgemeinen Sachlage geschöpften subjectiven Meinung beizulegen sein."197 Auch der Anspruch der Berliner kaufmännischen Korporation, die Interessen der Berliner Unternehmer zu repräsentieren, führte daher zumindest seit den fünfziger Jahren nicht mehr zu einem Konflikt mit der Staatsbürokratie; diese bestand nicht mehr auf dem Anspruch der klassischen preußischen Staatsbürokratie, die Interessen auch der Unternehmer auszuformulieren und politisch zu vertreten und die kaufmännischen Korporationen auf die Rolle bloßer Informationszuträger zu beschränken. Dieser Verzicht bezog sich allerdings nur auf die Mittel- und Unterbehörden. In der letztinstanzlichen Stufe der politischen Entscheidungen blieben die Entscheidungsträger, die Minister, weiterhin Interessenvertreter der ihnen zugewiesenen Sektoren. Die Wandlungen, denen ihre politische Rolle unterworfen war, bezogen sich auch auf den dritten Anspruch der klassischen Staatsbürokratie, der ausschließlich der Staatsverwaltung die Vertretung des Gesamtinteresses zuschrieb und von daher die Autonomie auch der wirtschaftsund sozialpolitischen Entscheidungen der Staatsverwaltung begründete. Auch diesen Anspruch akzeptierten — wie gesdiildert — die Berliner Unternehmer seit den vierziger Jahren nicht mehr, und auch hier stellt sidi die Frage, ob sie dadurch mit den inzwischen weiterentwickelten Regeln des Entsdieidungsprozesses kollidierten oder sich ihnen anpaßten. 1M
Regierung
Potsdam
an Oberpräsident
d. Prov.
Brandenburg,
ebda. 1,7
Berliner Polizeipräsident an Handelsmin., 3. 3.1857, a. a. O., Bd. 1.
12.1.1857,
264
III- Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
Bei den Entscheidungen auf der letztinstanzlichen Ministerebene lassen sich, was die Durchschlagskraft des „Gemeininteresses" anbelangt, erhebliche Wandlungen feststellen. Im Entscheidungsprozeß, der zur Revision der Gewerbegesetzgebung der Reformära führte, vertrat der Minister des Innern für Handel und gewerbliche Angelegenheiten 1831 noch den Anspruch der klassischen Staatsbürokratie. Beschränkungen der Gewerbefreiheit „werden enger oder weiter gesteckt werden, je nach dem man dem unmittelbaren Urtheile der Gemeine, in welcher das Gewerbe betrieben werden soll, und der Stimme der schon vorhandenen Gewerbetreibenden derselben Art Einfluß gestatten will, oder allein auf das allgemeine Wohl des ganzen Staatsverbandes Rücksicht zu nehmen sich verpflichtet erachtet. Meiner Ansicht nach ist bloß das letztere zulässig".198 Aus entscheidungspolitischen Gründen lehnte er daher die Wiedereinführung von Handwerkszünften ab. „Denn immer werden sie dazu dienen, einen Stützpunkt abzugeben, der im Widerspruch mit dem allgemeinen Bedürfnisse steht." 199 Während sich in dieser klassischen Form der preußischen Staatsbürokratie der Minister noch als Vertreter des Gesamtinteresses verstand, während er damals seine Argumentation gegenüber anderen Ministern vor allem mit dieser Legitimation versah und ihr die Interessen einzelner sozialer Gruppen unterordnete, lassen die Voten der Minister in den Entscheidungsprozessen seit 1848 eine andere Einschätzung der eigenen Funktion erkennen. Der Schwerpunkt der Argumentation lag nun auf der Herausstellung partikularer Interessen, die in den Verwaltungsbereidi des jeweiligen Ministers fielen, und bei dem Versuch, wenn nicht im eigenen Ministerium, so doch zwischen den Ministerien einen Ausgleich divergierender Interessen herbeizuführen. Als der Finanzminister 1849 über staatliche Regelungen für Privatbanken zu entscheiden hatte, führte er in seinem Votum an den Handelsminister neben verwaltungsund rechtstechnischen Gründen die gegeneinander abgewogenen Interessen des Handels, der Banken und der kleinen Gewerbetreibenden auf. 200 Ebenso stand im Immediatbericht des Handels- und des Finanzministers zur gleichen Frage 1848 nicht wie im erwähnten Fall von 1831 „das Wohl des ganzen Staatsverbandes", sondern das wirtschaft-
1,8 Minister des Innern für Handel und gewerbliche Angelegenheiten an das Staatsmin., 25. 5.1831, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 1 Bd. 1. 189 Ebda. 100 Finanzminister an Handelsminister, 28.11.1849, DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 1 Nr. 1 Bd. 1.
Unternehmer und
Staatsverwaltung
265
liehe Interesse einzelner sozialer Gruppen im Vordergrund. 201 In seinem Votum zum Problem der staatlichen Zinssatzregelung beschränkte sich der Handelsminister ebenfalls darauf, die Interessen der Unternehmer zu vertreten und sie gegen die Interessen der Großgrundbesitzer abzuwägen.202 Dieselben Prioritäten setzte der Handelsminister, als er den Justizminister drängte, den Entscheidungsprozeß in Hinsicht auf die gesamte Konkursordnung und nicht nur einen ihrer Teile voranzutreiben: „Auf den Erlaß einer neuen Conkurs-Ordnung sind seit langer Zeit die Hoffnungen des Handels- und Gewerbestandes überhaupt gerichtet. Es würde daher einen ungünstigen Eindruck zu machen nicht verfehlen, wenn eine relativ unwichtige Materie des Handelsrechts, vor dieser offenbar wichtigsten vorzugsweise Fürsorge der Legislativen theilhaftig werden sollte". 203 Mit der gleichen Begründung trieb der Handelsminister den Entscheidungsprozeß über die Aufhebung der staatlichen Zinssatzregelung voran. Die Eingaben mehrerer Handelskammern konnte die Staatsverwaltung seiner Ansicht nach „nicht mit Stillschweigen übergehen und ebensowenig kann ich es für rathsam halten, dieselbe [Frage der Zinssatzbeschränkung] dem Handelsstande gegenüber, als der Erwägung unterliegend zu bezeichnen. Denn die Maßregel, um die es sich handelt, i s t . . . von den verschiedensten Standpunkten aus eingehend erörtert und ist, wenn sie von Erfolg sein soll, unzweifelhaft dringlich; unter solchen Umständen aber würde es als einen Mangel an Sicherheit von Seiten der Regierung verrathen, wenn die Maßregel als Gegenstand weiterer Erwägung bezeichnet würde." 204 Auch als der Justizminister 1848 vorschlug, das Handelsgerichtsgesetz umzuarbeiten, argumentierte der Handelsminister aus der Interessenlage der Unternehmer heraus. Ob dieses Gesetz „zu solchen Bedenken Anlaß gebe, und keine wahre Lebensfähigkeit habe, darüber dürfte doch zunächst der Handelsstand zu entscheiden haben". 205 Im Hinblick
201 Immediatberidit des Handels- und Finanzmin., 11.9.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 A XII 1 Nr. 1 Bd. 1. 20S Handelsminister an Justizminister, 24.10.1856, DZA Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 85 Bd. 1; ebenso zum selben Problem: Handelsmin. an Staatsmin., 19. 5.1859, DZA Merseburg, Rep. 120 A X Nr. 14 Bd. 1. t0 » Handelsmin. an Justizmin., 14.11.1852, DZA Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 90 Bd. 4. 104 Handelsmin. an Finanzmin., 29. 5.1859, DZA Merseburg, Rep. 120 A X Nr. 14 Bd. 1. 105 Handelsmin. an Justizmin., 5.7.1848, DZA Merseburg, Rep. 120 BB VII 1 Nr. 80 Bd. 1.
266
III. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeß
auf ihre eigene Verwaltungsebene sahen also die preußischen Minister ihre Funktion nicht mehr darin, ein wie auch immer begründetes Gesamtinteresse gegenüber den partikularen gesellschaftlichen Interessen wahrzunehmen; sie beschränkten sich — wie sich seit 1848 an einigen Entscheidungsprozessen feststellen läßt — darauf, als letzte Entscheidungsinstanz zwischen den divergierenden Interessen zu vermitteln; der Handelsminister übernahm dabei häufig die Rolle eines Vertreters industrieller Interessen. Diese neue politische Rolle als Interessenmittlerin hat die Staatsverwaltung gegenüber den Interessenten — soweit sich dies am Fall der Berliner Unternehmer feststellen läßt — mit vier Herrschaftsmitteln stabilisiert und sanktioniert. Erstens schuf sie die Institution des Sachverständigen, der sich nicht ausschließlich an der jeweiligen Interessenlage, sondern auch am Gemeininteresse zu orientieren hatte, über das die Staatsverwaltung nach außen autonom zu befinden beanspruchte. Zweitens nahm sie zwar nicht mehr in Anspruch, über die materielle Interessenvertretung, jedoch weiterhin über die Regeln des Interessenteneinflusses autonom zu entscheiden. Drittens setzte sie Regeln, die den Entscheidungsprozeß für die Interessenten weitgehend undurchlässig erhielten, sei es, daß sie den Entscheidungsprozeß völlig ins Dunkel verlegte, sei es, daß sie die Entscheidungen einiger weniger Interessenten dem Einblick der Masse der Interessenten entzog. Schließlich versuchte die Staatsverwaltung viertens mit polizeistaatlichen Mitteln unter den Berliner Unternehmern eine Rangordnung aufzurichten, die diese nach der ihr genehmen politischen Haltung einstufte. Die Rolle des Sachverständigen, die den preußischen Unternehmern von der Staatsverwaltung im politischen Entscheidungsprozeß zugesprochen wurde, ging schon während der vierziger Jahre über die Rolle des bloßen Interessenten hinaus. Als Sachverständige galten der Staatsverwaltung diejenigen Unternehmer, die „durch ihre Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft Gelegenheit haben, die Wünsche und Interessen des Handels- und Gewerbestandes näher kennenzulernen und die daher auch im Stande sind, die höhere Beurtheilung durch ihre Ansichten zu unterstützen." 206 Noch Anfang der vierziger Jahre hielt die preußische Staatsverwaltung die Unternehmer nicht für fähig, diese Rolle auszufüllen. Schon allein die sekundäre Anforderung dieser ,oi Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Finanzmin., 29. 11.1843, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 371.
Unternehmer
und
Staatsverwaltung
267
Rolle, der Überblick über sämtliche Handels- und Industriezweige eines bestimmten Wirtschaftsgebiets, überstieg nach Ansicht der preußischen Staatsverwaltung die Fähigkeit der Unternehmer. Bei den Vorberatungen für das Handelsgerichtsgesetz traute der preußische Finanzminister selbst in dieser Hinsicht den preußischen Richtern mehr Sachkenntnis zu. „Es ist nicht abzusehen, wie der Kaufmann, als soldier, ein sachverständiger Richter für Geschäfte sein solle, die aus dem Betriebe eines besonderen Fabrikationsgerichts entstehen, von welchen er zufällig Kenntniß haben mag, die aber auch, eben so zufällig, in höherem Grade dem rechtsverständigen Richter beiwohnen können. Es könnte dies Bedenken selbst in Rücksicht auf die einzelnen Zweige des Handels Anwendung finden, wobei jemand immerhin ein in seinem besonderen Geschäftszweig gewandter Kaufmann sein kann, ohne von e i n e m . . . einer anderen Branche angehörenden Geschäfte genaue Kenntniß zu haben." 207 Aber auch der primären Anforderung der Rolle des Sachverständigen, der Berücksichtigung des „Gemeinwohls", wurden die Unternehmer unter dem Blickwinkel der Staatsverwaltung nicht gerecht. Noch Anfang der vierziger Jahre griff der preußische Finanzminister das politische Verhalten der preußischen Unternehmer an, da „der Stand der Kaufleute und Industriellen, da wo ihm Gelegenheit gegeben wird, auf die Beschlüsse der Regierung einzuwirken, nicht selten geneigt ist, ohne Rücksicht auf das allgemeine Beste sein einseitiges Interesse zu verfolgen, und die Staatsverwaltung bei der Ausführung von Maaßregeln, welche die Beförderung des Gemeinwohls bezwecken, schwer zu beseitigende Hindernisse in den Weg zu legen".208 Erst während dieser Jahre scheint sich diese Einschätzung der Staatsverwaltung gewandelt zu haben. So glaubte der Präsident des preußischen Handelsamtes, unter den preußischen Unternehmern Träger der Rolle des Sachverständigen finden zu können. Er schrieb daher der Berliner kaufmännischen Korporation vor, ihm als Sachverständige nur solche Unternehmer zu benennen, die „auch die den ihrigen gegenüberstehende Interessen anderer Industriezweige, anderer Handelsplätze, endlich unabänderliche Rücksichten der Staatsverwaltung gehörig zu würdigen verstehen". 209 Schon damals zeigte sich, daß die Rolle 807
Finanzmin. an Staatsmin., 24.6.1841, DZA Merseburg, Rep. 120 BB VII Nr. 80 Bd. 1. 208 Finanzmin. an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 24.9.1843, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 371. !M Präsident des preußischen Handelsamts an Berliner kaufmännische Korporation, 2. 8. 1844, Stadtarchiv Berlin, Κ 1167.
268
111. Die Berliner Unternehmer im politischen
Entscheidungsprozeβ
des Sachverständigen von der Staatsverwaltung darauf zugeschnitten war, ihre eigene Funktion als Vermittlerin zwischen den verschiedenen Interessen zu stabilisieren. Der Präsident des Handelsamtes glaubte, daß nur mit den so umschriebenen Sachverständigen unter den preußischen Unternehmern eine „allseitige Verständigung darüber, was aus dem höhern Gesichtspunkte der Nationalwohlfahrt rathsam oder nothwendig erscheint und welche besonderen Interessen danach in den Hintergrund treten müssen, erzielt werden könne". 210 In diese Rolle des Sachverständigen haben sich die Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation voll eingefügt. Schon Anfang der vierziger Jahre haben sie ihre Rolle gegenüber den Korporationsmitgliedern mit der Formulierung umschrieben, „daß es dem Vorstande einer Corporation nicht geziemt, mit Beschwerden bei den Behörden hervorzutreten, deren Sinn eigentlich nur darauf gerichtet ist, abzuwenden, was zu leisten schwierig sein kann, ohne höher stehende Rücksichten oder andere Interessen gebührend zu beachten". 211 Immer wieder betonten sie, daß sie als Korporationsälteste „Rücksicht auf das Gemeinwohl" zu nehmen hatten, um das „so nothwendige Vertrauen der Staatsbehörden zu erwerben und zu erhalten". 212 Dieses Anpassungsbedürfnis der Berliner Unternehmer dürfte audi zu der eigentümlichen Auffassung der Berliner kaufmännischen Korporation von „kaufmännischer Intelligenz" geführt haben; sie verstand darunter „eine Gesamtanschauung der Handelsverhältnisse und einen Überblick der Handels- und Steuergesetzgebung".213 Wenn daher die Berliner kaufmännische Korporation und die Berliner Unternehmer — wie geschildert — ihre Interventionen bei der preußischen Staatsverwaltung nicht nur aufgrund ihrer eigenen Interessenlage, sondern mit dem gesamtwirtschaftlichen oder staatlichen Interesse Preußens begründeten, so ergab sich diese Ideologisierung der jeweiligen Interessen aus der Rolle, die ihnen von der Staatsbürokratie seit den vierziger Jahren im politischen Entscheidungsprozeß zuerteilt worden war. Diese Ideologisierung der eigenen Interessenlage wurde zur Anpassung an eine von der Staatsverwaltung vorbestimmte Rolle vor allem 810
Ebda. Mitgliederinformationen der Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation für das Jahr 1841, Stadtarchiv Berlin, Κ 511, Ebenso: Mitgliederinformationen . . . für das Jahr 1842, ebda. 212 Mitgliederinformationen . . . für das Jahr 1847, ebda. 21S Protokoll der Verhandlungen über die Errichtung einer Berliner Handelskammer, 15. 9.1842, StA Potsdam, Rep. 1 Nr. 371. 211
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Staatsverwaltung
269
dadurch, daß die Verwaltung gegenüber den Berliner Unternehmern audi weiterhin als Interessen vermittler und als Wahrer des „Gemeinwohls" auftrat. Vor allem bei den Antworten der Staatsverwaltung auf Eingaben der Berliner kaufmännischen Korporation läßt sich das regelmäßig verfolgen. So lehnte beispielsweise der preußische Handelsminister eine Eingabe der Korporation zum Konkursrecht ab, da seiner Ansicht nach „aus allgemeinen Gründen" kein Bedürfnis bestand und zudem die von der Korporation vorgeschlagene Regelung „in die Verhältnisse Dritter" eingriff.214 Der Sachverständige hob sich also nach den Regeln des politischen Entscheidungsprozesses zwar vom bloßen Interessenten dadurch ab, daß der andere Interessenlagen und das „Gemeinwohl" berücksichtigte; gerade in diesen Bereichen wurde er jedoch nicht zum Entscheidungsträger; gerade hier beanspruchte die Staatsverwaltung weiterhin, autonom zu entscheiden. Neben der Sachverständigenrolle, in die sich die Unternehmer im politischen Entscheidungsprozeß einzufügen hatten, schuf sidi die Staatsverwaltung seit der Jahrhundertmitte ein weiteres Mittel, um ihre Funktion als Interessenvermittlerin gegenüber den Interessenten zu stabilisieren: Sie beanspruchte weiterhin, über die formelle Interessenorganisation und Repräsentation autonom zu entscheiden und bezog Interessenkonflikte auf eine Weise in den Entscheidungsprozeß ein, daß ihre eigene Position gestärkt wurde. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die preußischen Gewerberäte von 1849. Diese von der Staatsverwaltung eingerichteten Interessenorganisationen richteten sich primär gegen die seit 1848 autonom entstandenen Handwerkervereine. Ziel der Staatsverwaltung war es, diesen Vereinen, „welche sich als berechtigte Vertreter des Handwerkerstandes betrachteten, und deren Tendenz ohne Beachtung der Interessen der Gesamtheit des Staats meist auf eine völlige Umgestaltung des Gewerbewesens... gerichtet war, schnell und sicher ein Ende zu machen".215 Die Verwirklichung der wirtschaftspolitischen Ziele dieser Verbände vereitelte die Staatsverwaltung durch eine oktroyierte Interessenorganisation, die Gewerberäte, in denen sich die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen des Handwerks, der Industrie und des Handels gegenseitig neutralisierten. Damit wurden „einseitige Anträge und Beschwerden abgeschnitten und 214 Handelsminister an Berliner kaufmännische Korporation, 14. 12. 1857, DZA Merseburg, Rep. 120 A l l Nr. 90 Bd. 7; weiteres Beispiel: Handelsmin. an Berliner kaufmännische Korporation, 14. 6.1859, DZA Merseburg, Rep. 120 A X Nr. 14 Bd. 1. 215 Handelsmin. an Außenmin., 3. 9. 1853, DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 62 Bd. 3.
270
III.
Die Berliner
Unternehmer
im politischen
Entscheidungsprozeß
wird Gelegenheit zu einer gegenseitigen Belehrung und Läuterung der sich oft schroff gegenüberstehenden Ansichten jener Stände geboten". 216 Auch gegenüber den Unternehmern wandte die Staatsverwaltung dieses Mittel an. Sie hat zwar — wie geschildert — nicht zugelassen, daß neben der kaufmännischen Korporation 1849 eine zweite Berliner Unternehmerorganisation, der „Handelsverein Teutonia", am politischen Entscheidungsprozeß beteiligt wurde. Abgesehen davon, daß sie zwisdien der kaufmännischen Korporation und den Unterbehörden ein gewisses Rivalitätsverhältnis erhielt, hat sie jedoch in kredit- und handelspolitischen Fragen und bei Ordens- und Titelverleihungen das Hauptbankdirektorium mit herangezogen. Dieses Gremium, das dabei „nicht weniger im Interesse der Preußischen Bank als des ganzen Handelsstandes" zu sprechen beanspruchte,217 konnte von unternehmerischen Interessenten nur mittelbar über den „Centraiausschuß" beeinflußt werden. Seine Gutachten, an denen daher auch Staatsbeamte beteiligt waren, ließen sich gegen die Gutachten der Handelskammern und kaufmännischen Korporationen ausspielen. Trotz jahrzehntelanger Auseinandersetzungen mit der kaufmännischen Korporation erhielt die Staatsverwaltung darüber hinaus in sozial- und gewerbepolitischen Entscheidungen und bei Titel- und Ordensverleihungen des Rivalitätsverhältnis zwisdien dem Berliner Magistrat, in dem die Unternehmer immer weniger vertreten waren, und der Berliner kaufmännischen Korporation aufrecht. Schließlich stützte sich die Staatsverwaltung bei speziell Berliner kreditpolitischen Entscheidungen nicht ausschließlich auf die Informationen der kaufmännischen Korporationen, sondern zog daneben auch beim Berliner Stadtgericht Erkundigungen ein, mit denen sie ebenfalls Eingaben der Korporation ablehnen konnte. 218 Auch 216 Ebda.·, vgl. auch: Verwaltungsbericht des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten für die Jahre 1850, 1851 und 1852, S. 69, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 1 Nr. 371. 217 Haupt-Bank-Direktorium an Handelsmin., 1 5 . 4 . 1 8 6 1 , DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 1 Nr. 1 Bd. 4; zu Ordens- und Titelverleihungen vgl. DZA Merseburg, Rep. 120 A VI 5 Bd. 6 ff.; zu kreditpolitischen Entscheidungsprozessen: DZA Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 90 Bd. 7 (1858; Konkursordnung); DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 1 Nr. 1 Bd. 2 f. (1857, 1860; Vorschriften für Privatbanken); DZA Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 85 Bd 3 (1866, Revision des Wucherrechts); DZA Merseburg, Rep. 120 A X I 2 Nr. 6 (1856, Konzession Hypothekenbanken); DZA Merseburg, Rep. 120 A X Nr. 14 Bd. 1 f. (1859, 1870; Einrichtung von staatlichen Darlehenskassen). 218 Zum Berliner Magistrat: DZA Merseburg, Rep. 120 A IV 5 Bd. 6 ff. (Ordensund Titelverleihungen); DZA Merseburg, Rep. 120 Β I 1 Nr. 62 Adh. 4 (1860;
Unternehmer
und
Staatsverwaltung
271
hier hat sich die Berliner kaufmännische Korporation der Praxis des politischen Entscheidungsprozesses angepaßt, in dem die Staatsverwaltung die Regeln autonom bestimmte und je nach ihren Interessen neben der kaufmännischen Korporation noch andere Repräsentanten der Unternehmer oder andere Informanten zur wirtschaftlichen Lage der Berliner Unternehmer einsetzen konnte. Neben der Rolle des Sachverständigen und der autonomen Festsetzung der Entscheidungsregeln stützte sich die Herrschaft der Staatsverwaltung schließlich auf die Undurchlässigkeit des politischen Entscheidungsprozesses. Wie sie zusammen mit der Führungsschicht der Berliner Unternehmer die Undurchlässigkeit interessenpolitischer Entscheidungen gegenüber der Masse der Berliner Unternehmer innerhalb der kaufmännischen Korporation aufrechterhielt, wurde bereits geschildert. Auch die Korporationsältesten überblickten jedoch den Ablauf einer Entscheidung nur in einem Ausschnitt. Von dem öffentlichen Entscheidungsausschnitt, der sich im preußischen Parlament abspielte, abgesehen, waren die Korporationsältesten meist nur über die Rolle anderer Interessenorganisationen informiert. In die Stellungnahmen anderer Entscheidungsträger, unterer Verwaltungsbehörden und Gerichte, Einzelgutachter, vor allem aber in die Debatten auf der Ministerialebene, hatten auch die Korporationsältesten keinen Einblick und konnten sich daher mit ihren Gutachten auf den jeweiligen Stand der Vorentscheidung nicht einstellen. In den dreißiger Jahren haben die Ältesten auf diese Undurchlässigkeit politischer Entscheidungen — wenn audi ohne Protest — immerhin hingewiesen: „Wenn in mehreren Fällen, in denen unsere Mühwaltung für das gemeinsame Interesse zwar zur Kenntnis der Herren Corporations-Mitglieder gelangt ist, die Gründe aber, weshalb die gemachten Anträge [bei der Staatsverwaltung] ohne Erfolg geblieben, von uns nicht mitgetheilt worden, so bitten wir die Bemerkung zu berücksichtigen, da jene Gründe häufig von den betreffenden Behörden uns nicht kundgegeben" wurden. 219 Zumindest der preußische Justizminister verfolgte noch in den sechGewerbeordnung); D Z A Merseburg, Rep. 120 BB I 1 Nr. 12 Bd. 1 (1865, Aufhebung des Koalitionsverbots für Arbeitnehmer); D Z A Merseburg, Rep. 120 BB V I I 3 Nr. 1 Adh. 1 Bd. 1 (1851, 1852; Regelungen über Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken); zum Berliner Stadtgericht vgl.: D Z A Merseburg, Rep. 120 A l l Nr. 85 Bd. 1 (1858; Revision des Wucherrechts); D Z A Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 90 Bd. 7 (1851, Revision des Konkursrechts). 218 Geschäftsbericht der Ältesten der Berliner kaufmännischen Korporation, 5 . 1 . 1839, Stadtarchiv Berlin, Κ 511.
272
III. Die Berliner Unternehmer
im politischen
Entscheidttngsprozeß
ziger Jahren die Praxis, „die auf Änderung der bestehenden Reditsgesetze gerichteten Vorschläge von Privatpersonen und Korporationen einer näheren Prüfung zu unterziehen, ohne jedoch die Proponenten, soweit nicht besondere Umstände eine Ausnahme bedingen, mit Bescheid zu versehen". 220 Daß auch diese Abschirmung des Entscheidungsverlaufs gegenüber den interessenpolitisch privilegierten Korporationsältesten ein Herrschaftsmittel der Staatsverwaltung darstellte, zeigt beispielhaft der preußische Handelsminister bei den interministeriellen Beratungen über eine Revision des Handelsgerichtsgesetzes: Er glaubte, „daß diese Verzögerung der Sache bei dem Handelsstande einen ungünstigen Eindruck machen muß, und daß dieser noch verstärkt werden würde, wenn das eigentliche M o t i v . . . zu einer Kentniß gelangen sollte, daß man nämlich nachträglich, und nachdem das Gesetz vom 3. April v. J. mit einem erheblichen Aufwand von Zeit und Kräften berathen wurde, zu bezweifeln Veranlassung genommen habe, ob dasselbe den Bedingungen des Handels entsprechend ausführbar sei oder nicht." 221 Ein viertes Herrschaftsmittel, das die Herrschaftsansprüche der klassischen preußischen Staatsbürokratie ersetzte, war schließlich die politische Disziplinierung mit polizeistaatlichen Mitteln. Direkt scheinen die Unternehmer diesem Herrschaftsmittel nur dann ausgesetzt gewesen zu sein, wenn sie sich in Selbstverwaltungsämter wie das Amt des Stadtrats oder des Gewerberatsmitglieds wählen ließen.222 Der 220
Justizmin. an Handelsmin., 2 7 . 1 . 1 8 6 5 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A I 1 Nr. 90
Bd. 7. 221 Handelsmin Nr. 80 Bd. 1.
an Justizmin., 5. 7.1848, D Z A Merseburg, Rep. 120 BB VII 1
222 Vgl. z u r Wiederwahl und polizeilichen Bestätigung der Stadträte und Unternehmer Magnus und Zacharias: Berliner Polizeipräsident an Regierung zu Potsdam, 27. 8.1865, StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Lit. W Nr. 14048. Der Berliner Polizeipräsident, der die gewählten Berliner Stadträte zu bestätigen hatte, urteilte über den Textilindustriellen Leonor Reidienheim: „Sein bisheriger stark prononcirter Fortschrittsstandpunkt könnte einen Hinderungsgrund für seine Bestätigung abgeben, doch hat er sich in neuerer Zeit nach rechts geneigt." (Berliner Polizeipräs, an Reg. zu Potsdam, 3 1 . 1 . 1 8 6 7 , StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. W Nr. 14058); als Auswahlkriterium für Gewerberatsmitglieder setzte der Handelsminister fest, „daß nur wohlgesinnte und des Vertrauens würdige Männer in den Gewerberat eintreten und daß von diesem Personen, welche durch ihr bisheriges Verhalten in moralischer, politischer oder sonstiger Hinsicht das Vertrauen der Gewerbetreibenden und der Behörde verwirkt haben, entfernt gehalten werden" (Handelsmin. an Regierung zu Potsdam, 17. 8.1853, D Z A Merseburg, Rep. 77 Tit. 307 Nr. 19 Bd. 1).
Unternehmer und
Staatsverwaltung
273
Zugang zum Ältestengremium der kaufmännischen Korporation scheint zwar der polizeilichen Kontrolle entzogen gewesen zu sein; ein indirektes Mittel zur politischen Disziplinierung bot jedoch die Titel- und Ordensverleihung. Für den Wert, den Berliner Unternehmer dem Kommerzienratstitel beimaßen, sind vor allem ökonomische Gründe überliefert. So hielt der Wollhändler und -fabrikant C. W. Lietzmann diesen Titel für sich „wegen meiner auswärtigen Handelsverbindungen für sehr wünschenswert". 223 Die Textilindustriellen Liebermann und Lehmann zogen diesen Titel einer Verdienstmedaille vor, da „in der kaufmännischen Welt durch den Raths-Charakter das Renomme der Firma, besonders im Auslande mehr gehoben wird als durch die Medaille". 2 2 4 Dem ökonomisch begründeten Titelbedürfnis scheinen bis zu den vierziger Jahren oft ökonomisch begründete Kriterien bei der Titelvergabe entsprochen zu haben. Noch in den dreißiger Jahren legte der Innenminister als Vergabeprinzip fest, daß dieser Titel als Auszeichnung solchen Gewerbetreibenden vorzubehalten sei, welche „durch ihre Industrie zur Erweiterung und Vervollkommnung der Fabrikation beitragen, neue Handelswege zugänglich machen, oder sonst in einem ausgedehnten Maaße auf Belebung oder Veredlung der allgemeinen Gewerbsamkeit hinwirken". 225 Auch wenn daneben in einem Fall der Umstand miterwogen wurde, ob sich der betreifende Unternehmer „um den S t a a t . . . verdient gemacht" hatte, 226 sdieint dieses Kriterium damals noch wenig Bedeutung gehabt zu haben. Außerökonomische Kriterien kamen zwar hinzu; entscheidend war jedoch, daß bis zur Jahrhundertmitte die politische Haltung nicht zu den Informationen gehörte, aufgrund derer über die Titelvergabe entschieden wurde. 227 Erst seit den fünfziger Jahren wurde in den Titelanträgen darüber berichtet. Wie durchschlagend dieses Kriterium war, 2 2 9 C. W. Lietzmann an Finanzmin., 2 9 . 1 1 . 1 8 4 2 , D Z A Merseburg, Rep. 120 A I V 5 Bd. 2. 2 2 1 Nach: Oberpräsident d. Prov. Brandenburg an Handelsmin., 4. 2.1859, a. a. O., Bd. 6; ebenso ökonomisch sdiätzte der Textilindustrielle A. L. Volckart den Wert des Kommerzienratstitels ein (Volckart an Handelsmin., 7. 6. 1871, a. a. O., Bd. 12). 2 2 5 Immediatbericht d. Innenmin., 1 2 . 1 . 1 8 3 2 , a.a.O., Bd. 1; ebenso: Immediatberidit Innenmin., 1 8 . 4 . 1 8 3 3 , ebda.; Innenmin. an J . A. Blume, 1. 3. 1832, ebda. 2 2 8 Immediatbericht d. Innenmin., 10. 2. 1833, ebda. 227 Vgl. die Titelakten, a. a. O., bis Bd. 3. Der erste Berliner Fall, bei dem über die politische Haltung des Titelkandidaten berichtet wurde, war der des Textilindustriellen A. L. Volckart, der „als streng conservativ und Vaterlandsfreund" galt (Berliner Oberbürgermeister an Oberpräsident d. Prov. Brandenburg, 2 4 . 3 . 1 8 5 2 , a. a. O., Bd. 4).
18 Kaelble, Berliner Unternehmer
274
111. Die Berliner
Unternehmer
im politischen
Entscheidungsprozeß
ist freilich direkt nicht festzustellen. Nur in einem Fall, bei dem Textilindustriellen und Wahlmann der Fortschrittspartei B. Friedheim, läßt sich der Entsdieidungsvorgang selbst fassen; ihm wurde seiner politischen Haltung wegen der Kommerzienratstitel nicht verliehen. 228 Indirekt zeichnet sich eine politische Tendenz recht eindeutig ab. Für die Frage, wieviel der Berliner Kommerzienräte bei der Titelvergabe konservativ, wieviel liberal waren, ergibt sich folgende Zusammenstellung:
TABELLE 3 3
Politische Parteirichtung zum. Zeitpunkt
der Berliner der
Kommerzienräte
Titelvergabe
1851 bis 1870**0 Politische Partei-
1851—1855
1856—1860
1861—1865
1866—1870
Insgesamt
5
9 3
27
4 7
3
zugehörigkeit Konservativ Liberal Nicht bekannt
6
7 —
—
3
8
7 21
Die Bevorzugung konservativer Unternehmer bei der Vergabe des Kommerzienratstitels zeigt sich dabei eindeutig, vor allem dann, wenn man berücksichtigt, daß sich selbst im Ältestengremium der kaufmännischen Korporation — von der Masse der Berliner Unternehmer ganz zu schweigen — eine genau entgegengesetzte politische Tendenz abzeichnete. 230 Es kommt hinzu, daß in der ersten Hälfte der sechziger Jahre selbst unter den liberalen Unternehmern fast nur Anhänger der altliberalen Richtung den Kommerzienratstitel erhielten. Der erste Anhänger der Fortschrittspartei, der in Berlin Kommerzienrat wurde, war 1868 der stellvertretende Korporationsvorsteher B. Liebermann. 231 2 2 8 Berliner Polizeipräs, an Gerloff, Buchhalter Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 57 N r . 9869.
Friedheims,
27.12.1867,
StA
Aufgeführt sind hier nur diejenigen Berliner Kommerzienräte, die in den Titelakten D Z A Merseburg, Rep. 120 A V I 5 Bd. 1 ff. aufgeführt sind. Unter „konservativ" wurden in obiger Tabelle audi diejenigen Unternehmer eingereiht, deren Haltung als „regierungstreu", „patriotisch", „makellos" oder „streng conservativ" bezeichnet wurde. 229
230
V g l . TABELLE 3 2 .
Vgl. die erwähnten Titelakten. Zum stellvertretenden Korporationsvorsteher war Liebermann 1867 gewählt worden (Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin . . S . 659). 231
Ergebnis
275
Während es offensichtlich eines interessenpolitischen und ökonomischen Erfolgs von einem Ausmaß wie bei Liebermann bedurfte, um den Makel politischer Opposition zu überdecken, konnten — sofern konservativ — schon recht mediokre Unternehmer den Kommerzienratstitel erhalten. Eine direkte polizeistaatliche Kontrolle über diejenigen Unternehmer, die an politischen Entscheidungen beteiligt waren, fand also über das Mittel der Titelverleihung nicht statt: Der Zugang zum Ältestengremium hing nicht von den bei der Titelverleihung relevanten politischen Kriterien ab. Indirekt hat jedoch die Staatsverwaltung über die Titelverleihung eine deutliche, ihr genehme Rangordnung unter den führenden Berliner Unternehmern aufgerichtet. Es mag damit zusammenhängen, daß die eigentliche Leitung der Berliner Korporation, der Vorsteher und seine Stellvertreter, auch in den sechziger Jahren überwiegend konservativ blieben, obwohl sich selbst im Ältestengremium andere Mehrheitsverhältnisse entwickelt hatten. 232 Durchschlagend hat jedoch diese staatlich induzierte Rangordnung im Ältestengremium der kaufmännischen Korporation nicht gewirkt: Schon in den fünfziger Jahren wurden in die Beiräte der Staatsverwaltung, die das Ältestengremium mitzubesetzen hatte, nicht ausschließlich konservative Älteste gewählt. Zumindest für finanzpolitische und für Titelentscheidungen besaß die Staatsverwaltung jedoch ein die kaufmännische Korporation ergänzendes Gremium, den Centraiausschuß der preußischen Bank. Hier scheint die Staatsverwaltung ähnlich selektiert zu haben wie bei den Titelverleihungen. Die Korporationsältesten und Bankiers, die in diesem Gremium saßen, waren konservativ. 2 3 3 Ergebnis Dieses letzte Kapitel zeigt am Berliner Fall, daß die frühe Industrialisierung den politischen Entscheidungsprozeß auch in Preußen veränderte; die These, daß sich die Unternehmer nach der Revolution von 1848 aus der Politik zurückgezogen hätten, gilt in dieser zugespitzten Form zumindest nicht für Berlin. Das zeigt sich auf der Verbandsebene, auf der Parlamentsebene und auf der Ebene des staatlichen Entscheidungsprozesses. Bereits während der vierziger Jahre wandelte sich 132
V g l . TABELLE 3 1 .
Zumindest gilt das für die über die genannten Titelakten ersdiließbaren Fälle der Bankiers P. E. Conrad, F. Mendelssohn, P. Mendelssohn-Bartholdy, J. H. W. Wagener, F. K. Krause, Alexis Meyer, M. Plaut und C. N. Engelhard. 233
18*
276
III. Die Berliner Unternehmer im politischen Entscheidungsprozeß
die Berliner kaufmännische Korporation zu einer Interessenorganisation. Während der vierziger und Ende der fünfziger Jahre waren es gerade interessenpolitische Themen, die zu Konflikten innerhalb der Korporation führten. Als die Korporation Anfang der sechziger Jahre ihre wirtschaftlichen Privilegien verlor und das interessenpolitische Verbandsziel ein noch größeres Gewicht erhielt als zuvor, schrumpfte die Zahl der Mitglieder nur um rund ein Viertel. Wenn die Korporation also Interessenpolitik zum wichtigsten Verbandsziel erhob, so fand sie damit in der Masse der Berliner Unternehmer grundsätzlich, von Anfang an und dauerhaft ein starkes Echo. Schon dies spricht gegen einen allgemeinen Rückzug der Unternehmer aus der Politik. Es kommt hinzu, daß die Berliner Unternehmer nicht nur in der Berliner Kommunalverwaltung und in den Ständeversammlungen kontinuierlich vertreten waren, sondern auch nach der Jahrhundertmitte immer zumindest einen der preußischen Parlamentarier stellten. Die Zahl der Unternehmer, die Wahlmänner waren, stieg. Darüber hinaus gibt es Episoden, in denen die Träger von Parlamentsmandaten unter den Berliner Unternehmern besonders zahlreich waren: 1849, im Zuge des konservativen Rückschlags der Revolution und Anfang der sechziger Jahre, der neuen Ära. Drittens schließlich läßt sich die Wirkung der frühen Industrialisierung sehr deutlich an der Entwicklung des politischen Entscheidungsprozesses erkennen. Vertreter des alten Bank- und Handelskapitals besaßen schon seit den zwanziger Jahren die Möglichkeit, bei der Entstehung von finanz- und handelspolitischen Gesetzen mitzuberaten; Industrielle berieten bei den sie betreffenden Gesetzen seit der Mitte der vierziger Jahre mit. Seit der Jahrhundermitte war dieses Mitberatungsrecht von Unternehmern bei der Entstehung von wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzen die Regel und lief in recht festen und meist gleichartigen Formen ab. Bei staatlichen Entscheidungen gewannen die Interessenorganisationen der Unternehmer zudem nicht nur ein größeres Gewicht als die Lokal- und Regionalbehörden; die einzelnen Ministerien verstanden sich überdies in zunehmendem Maß als Mandatare der von ihnen repräsentierten wirtschaftlichen Sektoren. Auch im staatlichen Entscheidungsprozeß läßt sich also eine kontinuierlich sich verstärkende Wirkung der Industrialisierung erkennen. Allerdings wiesen die Auswirkungen der Industrialisierung im Berliner Fall eine besondere Ausprägung auf. Die Berliner Unternehmer blieben während der frühen Industrialisierung nicht nur gesellschaftlich weitgehend isoliert, stammten nicht nur in auch für Deutschland ungewöhnlichem Ausmaß wiederum von Unternehmern ab und waren
Ergebnis
277
— sofern Unternehmer der Mittelschicht — auch nicht nur in ihrem gesellschaftlichen Verkehr weitgehend unter sich; sie handelten daneben auch politisch nicht im bürgerlichen Gesamtrahmen. Sie organisierten ihre Interessen schon sehr früh primär auf der Grundlage ihrer sozialen Gruppe. Alternativen einer Interessenorganisation im bürgerlichen Gesamtrahmen waren zwar angelegt, blieben jedoch bedeutungslos. Auch die Parlamentarier unter den Berliner Unternehmern bezogen ihr politisches Mandat weitgehend auf die eigene soziale Gruppe. Und schließlich wurde ihre zunehmende Bedeutung im staatlichen Entscheidungsprozeß damit bezahlt, daß sie sich ebenfalls isoliert und nicht in Zusammenarbeit mit anderen bürgerlichen Gruppen entwickelte. Die Interessenorganisation der Berliner Unternehmer war zudem von vornherein eng mit der Staatsverwaltung verfilzt und der Adressat ihrer Interessenpolitik deshalb vor allem die Staatsverwaltung. Zwar haben die Berliner Unternehmer die Herrschaftsansprüche des klassischen bürokratischen Absolutismus nicht mehr voll akzeptiert. Das Prestige der Beamten als Wirtschaftssachverständige sank; der Anspruch der Lokal- und Regionalbehörden, die Interessen auch der Unternehmer zu repräsentieren, fand kein positives Echo mehr; der Zusammenhang zwischen eigener Interessenlage und dem Gesamtinteresse wurde nicht mehr von der Staatsverwaltung, sondern von den Interessenvertretern der Unternehmer selbst hergestellt. Trotzdem entwickelte sich daraus keine Kontrolle des Staates durch die Unternehmer Das lag einerseits daran, daß die Unternehmer interessenpolitischen Erfolg innerhalb der Staatsverwaltung suchten und dann gezwungen waren, sich an den staatlichen Entscheidungsprozeß anzupassen; andererseits entwickelte die Staatsverwaltung erfolgreich Techniken, die eine volle Kontrolle des Staates durch die Unternehmer unterband. Am wichtigsten war dabei, daß die Staatsverwaltung den Unternehmern keinen vollen Einblick in den Ablauf von Entscheidungsprozessen gewährte und damit weiterhin die Entscheidung über die Regeln des Entscheidungsprozesses fest in der Hand behielt. Der fühlbar wachsende, aber nicht regulierbare politische Einfluß scheint die frühindustriellen Berliner Unternehmer bewogen zu haben, auf eine volle Kontrolle des Staates zu verzichten und sich damit zufrieden zu geben, als Interessenten fester Bestandteil des staatlichen Entscheidungsprozesses geworden zu sein. Auch wenn diese Untersuchung die Rolle der Unternehmer bei administrativen Entscheidungen aussparen mußte, wird man in diesem begrenzten Einflußzugewinn der Unternehmer bei der Ge-
278
HI• Die Berliner Unternehmer im politischen Entscheidungsprozeß
setzgebung zwar keinen Ersatz für einen bürgerlichen Staat, aber doch eine Erklärung für den Verzicht darauf sehen können. Die Doppelgesichtigkeit der politischen Auswirkungen der frühen Industrialisierung wird besonders deutlich, wenn man verfolgt, wie weit sich ein Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Demokratisierung erkennen läßt. Hier sind zwei negative Resultate festzustellen. Erstens wurden durch die enge Verflechtung von unternehmerischer Interessenorganisation und Staatsverwaltung die Tendenzen zu einer parlamentarischen Verfassung erheblich abgeschwächt. Die Verfilzung von Staatsverwaltung und Interessenverbänden ist zwar ein genereller Trend; sie war jedoch in Preußen besonders früh und in einer Epoche schon voll ausgeprägt, als sich eine parlamentarische Verfassung erst entwickelte. Zweitens leitete die Ausformung der Interessenverbände für die Masse der frühindustriellen Unternehmer keine Demokratisierung der politischen Entscheidungsstruktur ein. Die Verbandsentscheidungen waren undurchsichtig und kamen ohne ihre Mitwirkung zustande. Das lag nicht nur daran, daß die Verbandsleitung möglichst viele Entscheidungen möglichst autonom zu fällen versuchte. Wichtig war für sie die Rückendeckung der Staatsverwaltung, die ein Interesse daran hatte, den gesamten Entscheidungsprozeß möglichst undurchschaubar zu halten. Diese oligarchische Verbandsstruktur hat zwar nicht zu einer Entpolitisierung der Berliner Unternehmer geführt; ihre Teilnahme an den Wahlen steigerte sich; die Konflikte mit der Verbandsleitung nahmen nicht ab; ihre politische Richtung entwickelte sich konträr zu den Parteirichtungen unter den Ältesten und den Präferenzen der Staatsverwaltung. Diese Entwicklung ging jedoch an den Knotenpunkten wirtschaftspolitischer Entscheidung vorbei. Es läßt sich nicht ausschließen, daß die Berliner Unternehmer sehr viel stärker auf bürgerliche Emanzipation drängten als ihre Verbandsvertreter; ihre Interessenvertretung und der staatliche Entscheidungsprozeß waren jedoch so konstruiert, daß solche Ziele nur geringe Chancen besaßen.
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