Revolutionäres Christentum: Ein Plädoyer 9783839459065

Die Gesellschaft wird durch drei Krisen erschüttert: die Klimakrise, die Demokratiekrise und die Corona-Krise. Es bilden

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German Pages 160 [175] Year 2021

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Revolutionäres Christentum: Ein Plädoyer
 9783839459065

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Jürgen Manemann Revolutionäres Christentum

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Jürgen Manemann

Revolutionäres Christentum Ein Plädoyer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Valentin Müller, Bamberg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5906-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5906-5 EPUB-ISBN 978-3-7328-5906-1 https://doi.org/10.14361/9783839459065 Buchreihen-ISSN: 2364-6616 Buchreihen-eISSN: 2747-3775 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Die Revolution gibt’s nicht im Fernsehen ................................ 9 I. 1. 2. 3. 4. 5.

Unterwegs zu einem revolutionären Christentum .................. 13 JHWH – eine revolutionäre Gottheit ................................. 14 Wider die bürgerliche Religion ...................................... 16 Auferstehung als Lebensform...................................... 25 Weltwerdung der Welt.............................................. 30 Prophetische Kritik ................................................ 36

II. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Christliche Hoffnung heute ....................................... 39 Mut zur Trauer..................................................... 39 Die Kraft zum Utopischen .......................................... 46 Zukunftsangst ...................................................... 51 Das Utopische als Unterbrechung .................................. 53 Die Zeit ist reif .................................................... 57 Wer hat Angst vor der Ansage der Apokalypse? ..................... 59

III. 1. 2. 3. 4.

Mut zur Umkehr ................................................... 63 Die kapitalistische Sachherrschaft ................................. 63 Die Entfremdung des Selbst........................................ 69 Revolution als Beziehungsweise .................................... 71 Die Befreiung des Lebens .......................................... 74

IV. 1. 2. 3. 4.

Verwundbares Leben ............................................. 87 Demokratiepassion ................................................ 87 Kirche jenseits »weißer Religion« .................................. 95 Sorgende Solidarität ............................................... 98 Die Sorge-Revolution ............................................. 105

V. 1. 2.

Status confessionis............................................... 115 Ziviler Ungehorsam ............................................... 115 Polizeigewalt und das Schweigen der Kirche ...................... 124

VI. 1. 2.

Die Stille im Himmel ............................................. 133 Exoduspolitik .................................................... 133 G-ttesmacht ..................................................... 139

Dank .................................................................. 143 Literatur .............................................................. 145

Meinen Lehrern Johann Baptist Metz (1928-2019) & Tiemo Rainer Peters (1938-2017)

Die Revolution gibt’s nicht im Fernsehen1

Du wirst nicht in der Lage sein mit deinem Arsch zu Hause zu bleiben –  den Fernseher einzuschalten um dann abzuschalten –  und es spielt absolut keine Rolle ob du in der ersten Reihe sitzt –  mit dem zweiten besser siehst ob und von wem du dich wann wie entertainen lässt –  denn – die Revolution wird nicht an dir vorüber ziehen.   Die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen –  du kannst sie nicht downloaden –  kein Bit – Byte – Stream – mp3 – mp4 oder DivX –  die Revolution lässt sich nicht komprimieren – sie ist Open Source –  und Elon Musk hat absolut nichts mit ihr zu tun.   Die Revolution kommt nicht als Trojaner auf deinen Rechner.  Sie klingelt nicht an deiner Tür im Namen der GEZ. Du kannst sie nicht im Internet bestellen oder bei Ebay ersteigern –  die Revolution gibt es nicht als Flatrate.   Es gibt für sie keine Flugmeilen oder Payback-Punkte –  du kriegst für sie keine Abo-Prämien oder Optionsscheine. Die Revolution ist kein großes Fressen für die Heuschreckenschwärme –  jede – jede – hat Anteile an der Revolution.   Die Revolution läuft nicht im Cinemaxx –  du kannst sie dir nicht bei Netflix ansehen oder bei Amazon ausleihen.

1

Mit freundlicher Genehmigung von ©Rafael Szulc-Vollmann.

10

Revolutionäres Christentum

Es gibt keine 10 Minüter von ihr bei YouTube–  sie hat keine eigene Facebook-Seite – keinen Insta-Account – oder Snapchat. Die Revolution twittert nicht. Sie wird auch nicht auf die Rückseite von Cornflakes-Packungen gedruckt –  und steht auch nicht auf dem Beipackzettel deiner Anti-Depressiva. Die Revolution ist nicht schmerzfrei.   Die Revolution wird nicht präsentiert von Bitburger oder Red Bull –  von ihr gibt es keine Banner-Werbung im Stadion –  keine Krawattennadeln, Aufkleber oder Feuerzeuge. DU bist nicht blöd und die Revolution IST geil –  die Revolution kostet nicht 12.000 Euro die Minute zur Primetime.   Es gibt kein Patent auf die Revolution – kein Air System –  du wirst durch sie nicht schneller – schöner oder erfolgreicher –  sie schenkt dir kein strahlend weißes Dr. Best Lächeln  und macht dich auch nicht zum Popstar oder Germany’s next Topmodel. Die Revolution holt dich auf den Boden der Tatsachen.    Es gibt keine Ankündigung der Revolution in der Frankfurter Allgemeinen – dem Spiegel oder der Bild –  kein Exklusiv-Interview bei Panorama oder Sandra Maischberger –  die Revolution wird kein Top-Thema beim nächsten G8-Gipfel –  die Revolution bleibt Underground.   Die Revolution wird nicht von Hollywood in Szene gesetzt –  keine ILM Special Effects – keinen Oscar für die beste Hauptrolle. Selbst Oliver Stone ist die Revolution zu brisant – Michael Moore würde gerne, doch die Revolution will ihn nicht –  die Revolution ist keine Propaganda.   Kim Kardashian ist nicht das Gesicht der Revolution. Die Gala, die Bunte und das Goldene Blatt berichten nicht über sie –  Die Revolution ist nicht Sudoku –  die Revolution ist unberechenbar. Sie lässt sich nicht durch die Zahlen der Weltwirtschaft beeinflussen – 

Die Revolution gibt’s nicht im Fernsehen

sie beeinflusst die Zahlen der Weltwirtschaft. Du kriegst keine Zinsen auf die Revolution.   Sie kommt nicht auf einem weißen Schimmel angeritten –  und H&M verkauft keine T-Shirts mit dem Aufdruck – Revolution – ich bin dabei!   die Revolution ist Live…   (Spax)

11

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

Es gärt … Es gärt in unserer Gesellschaft. Risse bilden sich, die an einigen Stellen bereits zu Bruchstellen werden. In ihnen bricht Verdrängtes und Neues, Gefährliches und Rettendes, Reaktionäres und Revolutionäres auf. Furcht breitet sich aus angesichts des Verlustes des Herkömmlichen, aber auch die Faszination für Neues. Unser Zusammenleben wird durch drei Krisen erschüttert: • • •

erstens, die ökologische und klimatische Katastrophe, zweitens, die Krise der Demokratie und drittens, die Corona-Krise.

Aber wo sind die Christ*innen, wo ist »die Kirche«1 ? Während sich neue Klimagerechtigkeitsbewegungen ausbreiten und mit ihnen neue gesellschaftliche Formationen, laufen Christ*innen und die Kirche Gefahr, Neues zu versäumen. In diesen Bewegungen wächst das Bewusstsein für die Dringlichkeit maximaler Praxis: für Revolution. Die Philosophin Eva von Redecker sieht in den neuen Widerstandsformen den Beginn einer »Revolution für das Leben«, die ihren Ausgang nimmt »von einer Mobilisierung für akut be-

1

Wenn ich im Folgenden von »Kirche« spreche, so beziehe ich mich als Katholik auf die katholische Kirche, wobei sicherlich einige Aussagen auch auf die evangelische Kirche übertragbar sind.

14

Revolutionäres Christentum

drohte Leben« und die »für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben«2 kämpft.

1.

JHWH – eine revolutionäre Gottheit

Müssten Christ*innen sich nicht in der Mitte dieser Revolution wie zu Hause fühlen3 ? JHWH ist schließlich eine revolutionäre Gottheit, die ein Leben in stetiger persönlicher und politischer Umkehr verlangt. G-tt4 ist eine Schöpfergottheit, die Menschen ins Leben ruft und sie zum Dienst für die Bewahrung des Lebens beruft. Der Sturz der Mächtigen gehört zu ihrem Markenzeichen. Für Kardinal Walter Kasper kommt diese revolutionäre Sicht besonders im Magnifikat zum Ausdruck.5 Maria, die Mutter Jesu, hat es gesprochen: »Meine Seele lobt die Lebendige, und mein Geist jubelt über Gott, die mich gerettet hat. Sie hat auf die Erniedrigung ihrer Sklavin geschaut. Seht, von nun an werden mich alle Generationen glücklich preisen, denn Großes hat die göttliche Macht an mir getan, und heilig ist ihr Name. 2

E. v. Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt 2020, 9.

3

Diese Frage stellte der evangelische Theologe Raul Shaull bereits Anfang der 1960er-Jahre angesichts der sich ausbreitenden revolutionären Bewegungen: R. Shaull, Revolution in theologischer Perspektive, in: T. Rendtorff/ H. E. Tödt, Theologie der Revolution. Analysen und Materialien, Frankfurt a.M. 1968, 117-139, 122.

4

Im Folgenden wird, wenn der Name gemeint ist, »G-tt« geschrieben: a) um den Namen G-ttes JHWH nicht herabzusetzen, b) um zu betonen, dass G-tt größer ist als alles, was wir* von ihm sagen können, c) um daran zu erinnern, dass G-tt jenseits der Geschlechterdifferenzen steht. Es werden aber auch andere Begrifflichkeiten benutzt. Die Verwendung verschiedener Namen und Begriffe ist als Versuch zu verstehen, das Bilderverbot umzusetzen. In den biblischen Zitaten habe ich mich an die Übersetzung von U. Bail u.a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 3 2007 gehalten.

5

Vgl. W. Kardinal Kasper, Vater unser. Die Revolution Jesu, Ostfildern 2019, 34.

14

Revolutionäres Christentum

drohte Leben« und die »für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben«2 kämpft.

1.

JHWH – eine revolutionäre Gottheit

Müssten Christ*innen sich nicht in der Mitte dieser Revolution wie zu Hause fühlen3 ? JHWH ist schließlich eine revolutionäre Gottheit, die ein Leben in stetiger persönlicher und politischer Umkehr verlangt. G-tt4 ist eine Schöpfergottheit, die Menschen ins Leben ruft und sie zum Dienst für die Bewahrung des Lebens beruft. Der Sturz der Mächtigen gehört zu ihrem Markenzeichen. Für Kardinal Walter Kasper kommt diese revolutionäre Sicht besonders im Magnifikat zum Ausdruck.5 Maria, die Mutter Jesu, hat es gesprochen: »Meine Seele lobt die Lebendige, und mein Geist jubelt über Gott, die mich gerettet hat. Sie hat auf die Erniedrigung ihrer Sklavin geschaut. Seht, von nun an werden mich alle Generationen glücklich preisen, denn Großes hat die göttliche Macht an mir getan, und heilig ist ihr Name. 2

E. v. Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt 2020, 9.

3

Diese Frage stellte der evangelische Theologe Raul Shaull bereits Anfang der 1960er-Jahre angesichts der sich ausbreitenden revolutionären Bewegungen: R. Shaull, Revolution in theologischer Perspektive, in: T. Rendtorff/ H. E. Tödt, Theologie der Revolution. Analysen und Materialien, Frankfurt a.M. 1968, 117-139, 122.

4

Im Folgenden wird, wenn der Name gemeint ist, »G-tt« geschrieben: a) um den Namen G-ttes JHWH nicht herabzusetzen, b) um zu betonen, dass G-tt größer ist als alles, was wir* von ihm sagen können, c) um daran zu erinnern, dass G-tt jenseits der Geschlechterdifferenzen steht. Es werden aber auch andere Begrifflichkeiten benutzt. Die Verwendung verschiedener Namen und Begriffe ist als Versuch zu verstehen, das Bilderverbot umzusetzen. In den biblischen Zitaten habe ich mich an die Übersetzung von U. Bail u.a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 3 2007 gehalten.

5

Vgl. W. Kardinal Kasper, Vater unser. Die Revolution Jesu, Ostfildern 2019, 34.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

Ihr Erbarmen schenkt sie von Generation zu Generation denen, die Ehrfurcht vor ihr haben. Sie hat Gewaltiges bewirkt. Mit ihrem Arm hat sie die auseinandergetrieben, die ihr Herz darauf gerichtet haben, sich über andere zu erheben. Sie hat Mächtige von den Thronen gestürzt und Erniedrigte erhöht, Hungernde hat sie mit Gutem gefüllt und Reiche leer weggeschickt. Sie hat sich Israels, ihres Kindes, angenommen und sich an ihre Barmherzigkeit erinnert, wie sie es unseren Vorfahren zugesagt hatte, Sara und Abraham und ihren Nachkommen für alle Zeit.« (Lk 1, 46-55) Marias Lobpreis hat den Menschen- und Welthass der Faschist*innen auf sich gezogen. Prominentes Beispiel ist der Begründer der Action française, Charles Maurras. Er wollte den Katholizismus vom »Gift des Magnifikats«6 reinigen. Faschist*innen versuchen immer wieder, den römischen Katholizismus als eine Ordnungsmacht für sich zu reklamieren. Sie predigen einen Katholizismus ohne Jesus.7 Ihren Ausdruck findet diese Ordnungsmacht für sie in der Ästhetik des römisch-katholischen Triumphalismus. Ein Kind in einem Stall – mit diesem Gottesbild kommen sie nicht zurecht. Die Weihnachtsbotschaft und das Magnifikat, in denen G-ttes Zusage von der umstürzlerischen Vision vom neuen Jerusalem bereits Realität wird, sind für sie unerträglich. Wer G-tt beim Namen nennt, reklamiert das Neue als bereits gegenwärtig, ohne dabei die Gegenwart als mit dem Neuen identisch zu behaupten. Wer die biblische Gottheit anruft, stellt jede

6

Ch. Maurras, Le Chemin de Paradis, Oeuvres Capitales. Bd. 1, Paris 1954, 29 (zit.n.: E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action française. Italienischer Faschismus. Nationalsozialismus, München 6 1984, 170).

7

Vgl. ebd., 187.

15

16

Revolutionäres Christentum

Gegenwart unter einen eschatologischen Vorbehalt. Denn die mit G-tt verbundene Hoffnung relativiert jedes Ordnungsgefüge.8

2.

Wider die bürgerliche Religion

Aber wie steht es um den Beitrag von Christ*innen in der gegenwärtigen Situation? In einem Interview zur Corona-Pandemie stellte der Soziologe Hartmut Rosa mit Bedauern fest, »dass relativ wenig von Kirchen oder von religiösen Vertretern kommt«. Er sei in der letzten Zeit »häufig in den kirchlichen oder auch theologischen Kreisen eingeladen« gewesen. Und er habe sich »oft gewundert, wo eigentlich diese Mutlosigkeit herkommt, dass da so ein bisschen das Gefühl entsteht: Die Gesellschaft will uns nicht hören.«9 Gerade die katholische Kirche hierzulande igelt sich ein, und das in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Damit sage ich nicht, dass Christ*innen nicht engagiert sind. Einige setzen sich beispielsweise in der Pandemie für wohnungslose Menschen ein. Aber dieses Engagement geht selten mit dem Willen einer gesellschaftlichen Transformation einher. Auch wird das sichere Terrain nicht verlassen. Die gesellschaftspolitischen Bruchstellen werden gemieden. Dort taucht Kirche nicht auf. Die Feststellung des US-Rappers und säkularen Humanisten Jay-Z »No Church in the Wild« lässt sich auch auf unseren Kontext übertragen. Jay-Z hat die Kirche deshalb schon längst abgehakt. Was Rosa als »Mutlosigkeit« bezeichnet, ist Ausdruck von Furcht. Eine doppelte Furcht breitet sich in der Kirche aus: die Furcht vor der Welt um sie herum und die Furcht vor der eigenen Botschaft.

8

Vgl. T. R. Peters, Art. »Eschatologischer Vorbehalt«, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Dritter Band: Dämon bis Fragmentenstreit, Freiburg/Basel/Rom/Wien 1995, 880-881.

9

H. Rosa, Was in unserer Gesellschaft wirklich systemrelevant ist, in: Deutschlandfunk 20.05.2020 (https://www.deutschlandfunk.de/folgen-der -coronakrise-was-in-unserer-gesellschaft-wirklich.886.de.html?dram:articl e_id=477022, abgerufen am 23.01.2021).

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Revolutionäres Christentum

Gegenwart unter einen eschatologischen Vorbehalt. Denn die mit G-tt verbundene Hoffnung relativiert jedes Ordnungsgefüge.8

2.

Wider die bürgerliche Religion

Aber wie steht es um den Beitrag von Christ*innen in der gegenwärtigen Situation? In einem Interview zur Corona-Pandemie stellte der Soziologe Hartmut Rosa mit Bedauern fest, »dass relativ wenig von Kirchen oder von religiösen Vertretern kommt«. Er sei in der letzten Zeit »häufig in den kirchlichen oder auch theologischen Kreisen eingeladen« gewesen. Und er habe sich »oft gewundert, wo eigentlich diese Mutlosigkeit herkommt, dass da so ein bisschen das Gefühl entsteht: Die Gesellschaft will uns nicht hören.«9 Gerade die katholische Kirche hierzulande igelt sich ein, und das in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Damit sage ich nicht, dass Christ*innen nicht engagiert sind. Einige setzen sich beispielsweise in der Pandemie für wohnungslose Menschen ein. Aber dieses Engagement geht selten mit dem Willen einer gesellschaftlichen Transformation einher. Auch wird das sichere Terrain nicht verlassen. Die gesellschaftspolitischen Bruchstellen werden gemieden. Dort taucht Kirche nicht auf. Die Feststellung des US-Rappers und säkularen Humanisten Jay-Z »No Church in the Wild« lässt sich auch auf unseren Kontext übertragen. Jay-Z hat die Kirche deshalb schon längst abgehakt. Was Rosa als »Mutlosigkeit« bezeichnet, ist Ausdruck von Furcht. Eine doppelte Furcht breitet sich in der Kirche aus: die Furcht vor der Welt um sie herum und die Furcht vor der eigenen Botschaft.

8

Vgl. T. R. Peters, Art. »Eschatologischer Vorbehalt«, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Dritter Band: Dämon bis Fragmentenstreit, Freiburg/Basel/Rom/Wien 1995, 880-881.

9

H. Rosa, Was in unserer Gesellschaft wirklich systemrelevant ist, in: Deutschlandfunk 20.05.2020 (https://www.deutschlandfunk.de/folgen-der -coronakrise-was-in-unserer-gesellschaft-wirklich.886.de.html?dram:articl e_id=477022, abgerufen am 23.01.2021).

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

Die Kirche entfremdet sich zunehmend von sich selbst. Ihre Hoffnung ist zu einer »erwartungslosen Hoffnung« mutiert: »Hoffnung ohne Erwartung aber ist im Kern Hoffnung ohne Freude. Hier liegt für mich die Wurzel der oft so freudlosen Freude im bürgerlichen Christentum.«10 So brachte es der katholische Theologe Johann Baptist Metz schon vor längerer Zeit auf den Punkt.11 Letztlich fürchtet sich die Kirche davor, an die Hoffnung zu glauben, für die sie doch steht. Die Furcht vor der Welt und die Furcht vor der eigenen Botschaft bedingen einander wechselseitig. Dabei haben gerade wir Katholik*innen am wenigsten Grund, uns zu fürchten, sind »wir*«12 doch privilegiert. Aber genau dieses Privilegiertsein ist der Grund unserer Furcht. Wir* sind materiell reich und werden sozial immer ärmer. Unsere Empfindlichkeit ist selten durch Sensibilität geprägt, aber häufig durch Sentimentalität. Wir* tun uns leid. Wir*

10

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, München/Mainz 4 1980, 13.

11

Vgl. J. Manemann, Johann Baptist Metz (1977), Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, in: M. Kühnlein (Hg.), Religionsphilosophie und Religionskritik, Berlin 2018, 715-725.

12

Das »Wir*«, von dem ich im Folgenden häufig Gebrauch mache, ist mehr als ein Stilmittel, um Leser*innen zu adressieren. Es soll auch Warnung sein: Die Rede vom »Wir« steht immer in der Gefahr, andere zu vereinnahmen oder auszuschließen. Das »Wir*« soll dazu dienen, Leser*innen für die Rede vom »Wir« kritisch zu sensibilisieren. Es hat somit auch die Funktion, die Unzulänglichkeit und das Ärgernis, die jeder Verallgemeinerung immanent sind, anzuzeigen. Es soll Fragen evozieren: Wer spricht hier, wie, warum, in welcher Situation und mit welcher Absicht von »Wir«? Es führt zudem ein Versprechen mit sich, das es in der katholischen Kirche hierzulande einzulösen gilt: Diversität. Die Kirche besteht heute zu ca. 25% aus Mitgliedern aus Familien mit Einwanderungsgeschichte. Diese sind jedoch immer noch in den Strukturen der Institution unterrepräsentiert. Ihre Vorstellungen vom Katholischsein werden häufig zu wenig berücksichtigt. Das gilt auch für dieses Buch. Überdies steht das »Wir*« für ein inklusives Wir, das nicht auf Katholik*innen beschränkt ist.

17

18

Revolutionäres Christentum

haben mehr Mitleid mit uns als mit der Welt. Anstatt uns ernsthaft um die ökologische und klimatische Katastrophe zu sorgen, versinken wir* in Selbstmitleid über den eigenen Relevanzverlust. Dieser gründet in einer Identitäts- und in einer Kirchenkrise. Die Identitätskrise wurde durch eine Verbürgerlichung des Christentums ausgelöst, während die im engeren Sinne als Kirchenkrise bezeichnete innerkirchliche Erschütterung das Resultat vermachteter klerikaler Strukturen ist. Beide Krisen offenbaren, dass die Kirche an einer Selbstbezüglichkeit leidet, die erst aufgebrochen wird, wenn es gelingt, sich von der Fixierung auf das institutionelle Überleben zu verabschieden.13 Im Fokus der folgenden Überlegungen steht die Identitätskrise, die eine Krise der Institution und der Glaubenden ist, »die sich dem unweigerlich praktischen Sinn dieser Botschaft allzu sehr entziehen«14 . Sie hat ihre Ursache darin, dass wir Christ*innen uns längt selbst privatisiert haben und ein bürgerliches Christentum leben: »Doch Christentum als bürgerliche Religion ist nicht die Religion des Evangeliums; sie ist das Geschöpf des Bürgertums und der bürgerlichen Unnahbarkeit gegenüber Religion. Der Bürger läßt die Religion nicht mehr an sich heran, er bedient sich ihrer, wenn er sie ›braucht‹. So hat er selbst jene Servicekirche geschaffen, die niemanden mehr wirklich tröstet und die wir deshalb auch so sehr bekämpfen. Der Bürger selbst hat auf einer neuen Ebene, auf einer weniger anspruchsvollen, jene Betreuungskirche stabilisiert, die es gerade zu überwinden gälte.«15

13

Vgl. R. Bucher, Kirchenbildung in der Moderne. Studien zu Konstitutionsbedingungen der deutschen katholischen Kirche im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 257.

14

J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 4 1984, XI.

15

Ders., Jenseits bürgerlicher Religion, 112f.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

Die Antwort auf das Christum als bürgerliche Religion ist eine Kirche, die in der Gesellschaft widerständig präsent ist.16 Eine solche Präsenz gibt es nicht, wie Metz eindringlich dargelegt hat, ohne eine »metaphysische Zivilcourage« der Gläubigen, durch welche die »produktive Ungleichzeitigkeit« der Botschaft Jesu in der Gesellschaft zur Geltung gebracht wird. Das Christentum verlangt von seinen Anhänger*innen viel, vielleicht zu viel. Und so hat Metz es als eine »große Übertreibung«17 bezeichnet. Die Zuwendung zu den Leidenden, die Feindesliebe, die Auferstehung – all das ist ja geradezu skandalös.18 Christ*insein in unserer Gesellschaft heißt deshalb, »Bürger mit schlechtem Gewissen« (J. B. Metz) zu sein. Doch anstatt diese Spannungen zu ertragen, hat es den Anschein, dass gerade wir Christ*innen die Maßstäbe stetig verkleinern.19 Metz zufolge steckt hinter dieser Verkleinerung des Christentums ein bestimmtes Subjekt: die Bürger*in. Zukunftsfähig wird das Christentum nur »jenseits bürgerlicher Religion«20 . Aus diesem Grund bringt Metz ein messianisches Christentum gegen eine bürgerliche Religion in Stellung: »Die messianische Zukunft christlichen Glaubens bestätigt und verstärkt nicht einfach unsere vorgefaßte bürgerliche Zukunft, verlängert sie nicht, tut ihr nichts hinzu, überhöht und verklärt sie nicht, sondern – unterbricht sie.«21 Diese Einsicht hat allerdings Konsequenzen für das Selbstverständnis der Kirche. Die Kirche muss sich von der Bürger*innenkirche verabschieden, die eine »bürgerliche Angebots- und Servicekirche« ist. Die Verbürgerlichungstendenz innerhalb der Kirche zeigt sich Metz zufolge etwa darin, dass die Amtskirche in Debatten über den Zölibat zwar

16

Die folgenden Ausführungen stammen größtenteils aus: J. Manemann, Kirche jenseits weißer Religion. Ein Kommentar, in: Jahrbuch Politische Theologie 6/7, Berlin 2013, 327-337.

17

J. B. Metz, Religion, ja – Gott, nein, in: J. B. Metz/T. R. Peters, Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute, Freiburg/Basel/Wien 1991, 13-62, 16.

18

Vgl. ebd.

19

Vgl. ebd.

20

Vgl. ders., Jenseits bürgerlicher Religion.

21

Ebd., 10.

19

20

Revolutionäres Christentum

immer wieder versucht, einen Pflichtzölibat zu reklamieren, dieser aber lediglich der »Bemäntelung einer entradikalisierten Christenheit« diene und den Zölibatären in die Vereinsamung führe.22 Dagegen reklamiert Metz die theologische Relevanz der Ehelosigkeit. In dieser geht es nicht um eine bourgeoise Existenz. Ehelosigkeit ist auf das Reich G-ttes ausgerichtet. Aber die Kirche versucht, sie immer wieder vom Amt des Priesters her zu begründen – mit der fatalen Folge, dass sie nicht mehr »als Ausdruck apokalyptischer Kompromißlosigkeit der Nachfolge« verstanden wird.23 Deshalb verschwindet durch die »kirchliche Institutionalisierung der Ehelosigkeit für alle Priester« gerade der Sinn, den die Ehelosigkeit theologisch haben könnte.24 Hätten nicht die Orden die Aufgabe, hier zu intervenieren?25 Ehelosigkeit als Ausdruck radikaler Nachfolge bedeutet: »Solidarität mit jenen Ehelosen, für die Ehelosigkeit, sprich: Einsamkeit, sprich: ›keinen Menschen haben‹ gerade keine Tugend ist, sondern gesellschaftliches Lebensschicksal; sie drängt zu den in Erwartungslosigkeit und Resignation Eingeschlossenen«26 . Seelisch krank machen nicht die evangelischen Räte, sondern ihre Stilisierung »zum Bild idealer, ›perfekter‹ Christlichkeit«27 . Dabei stehen sie für eine »engagierte Leidenswahrnehmung«28 . Metz geht »von der Vermutung aus, dass die Kirche an Strahlkraft nicht deswegen eingebüßt hat, weil sie zu viel fordert, sondern weil sie eigentlich zu wenig zumutet bzw. ihre Forderungen zu wenig deutlich unter den Prioritäten des Evangeliums selbst vorträgt. Wenn sie evangelisch ›radikaler‹ wäre, brauchte sie vermutlich ge-

22 23

Vgl. ebd., 16-18. Vgl. ders., Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg/Basel/Wien 1977, 66.

24

Vgl. ebd., 67.

25

Vgl. ebd.

26

Ebd., 64.

27

T. R. Peters, Evangelische Räte – Therapeutische Räte, in: J. B. Metz/ders., Gottespassion, 63-103, 83.

28

Ebd., 102.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

setzlich nicht so ›rigoros‹ sein.«29 An der Zeit ist deshalb eine »nachbürgerliche Initiativkirche«30 . Sie nähme ihren Auftrag, »Kirche für andere« (D. Bonhoeffer) zu sein, endlich ernst. Voraussetzung einer solchen Kirche ist allerdings auch, dass die »Betreuten« sich ändern, dass auch sie ihren eigenen Klerikalismus ablegen und mündig werden.31 Aber was heißt hier Mündigkeit? Mündigkeit meint nicht die Anpassung der Religion an die bürgerlichen Plausibilitäten.32 Mündigsein im christlichen Sinne heißt nicht, sich der Religion zu bedienen, über sie zu verfügen. Ein solches Verhältnis stärkt das »Übermaß an politischer Anpassungsgeschichte«33 des Christentums. Nicht zuletzt der Blick auf die Katastrophe Auschwitz zeigt die Gefahren eines anpassungsschlauen Christentums: »ein drastisches Defizit an politischer Widerstandsgeschichte«34 . Mündigsein konkretisiert sich in Verantwortungsübernahme und in Autonomie: der »Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen«35 . Mündig sind diejenigen, die sich nicht anpassen, die die Ansprüche des Christentums auszuhalten versuchen,

29

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 18.

30

Ebd., 115.

31

In einer lernenden Kirche geht es nicht nur darum, Neues zu lernen. Auch das Verlernen des Klerikalismus ist wichtig, und das bezieht sich sowohl auf den Klerikalismus der Priester als auch auf den »Co-Klerikalismus der Lai(inn)en«: M. Schüßler, Drop your tools! Pastoraltheologische Vertiefung kirchlicher Präventionsbemühungen, in: J. Sautermeister/A. Odenthal (Hg.), Ohnmacht. Macht. Missbrauch. Theologische Analysen eines systematischen Problems, Freiburg 2021, 74-100, 87. Immer mehr Katholik*innen, Priester und Lai*innen, beginnen aufzubegehren. Beispielhaft sei nur auf die Proteste auf das Schreiben »Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts« (22.02.2021) hingewiesen.

32

Vgl. J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 112.

33

Ebd., 39.

34

Ebd.

35

Th. W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M. 1971, 88-104, 93.

21

22

Revolutionäres Christentum

sie nicht verkleinern. Mündig sind diejenigen, die einen Glauben besitzen, der auch die Abgründigkeit G-ttes gerade im Blick auf die Katastrophe Auschwitz nicht verschweigt.36 Mündig sind diejenigen, die G-tt vermissen. Wer G-tt vermisst, stellt die Frage »Wo bleibt G-tt?«.37 Diejenigen, die G-tt vermissen, erwarten noch etwas von G-tt, erwarten G-tt.38 Sie suchen G-tt an den Bruchstellen des Lebens. Die Programmatik einer Initiativkirche bleibt nicht bei der Forderung nach Mündigkeit stehen. Sie zielt auf ein Projektsein, dessen Aufgabe die Arbeit an Weltwerdung ist. Kirche hat sich zu bewähren in der Mitarbeit an dem Entwurf, das Leben menschlicher zu machen und zu erhalten. Nach Aristoteles ist das bereits Politik, denn politisches Handeln zielt auf das Gemeinwohl.39 In diesem Sinne ist auch das Handeln G-ttes Politik. G-tt befreit aus Unterdrückung und weist in das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, das die Ungerechten ausspeit. Christ*innen drängt es deshalb dazu, politisch zu werden. Der Blick auf das politische Leben ist somit ein Anzeichen dafür, ob wir es mit G-tt oder bloß mit einem »geglaubten Glauben«40 zu tun haben. G-tt beim Namen nennen ist ein performativer Akt, in dem »Gott einfällt« (E. Lévinas) und die eigenen unmittelbaren Interessen irritiert.41 Das unterscheidet die Rede von G-tt von einem ›Gottesgerede‹. Auf der Basis dieser Einsichten ist das Christentum so zu verschärfen, dass es Christ*innen zukünftig unmöglich wird, sich von den Leiden anderer Menschen und nichtmenschlicher Kreaturen erfolgreich zu distanzie-

36

Vgl. J. Manemann/J. B. Metz (Hg.), Christologie nach Auschwitz. Stellungnahmen im Anschluss an Thesen von Tiemo Rainer Peters, Münster 1998.

37

Vgl. zu dieser Frage: J. Manemann, Rettende Erinnerung an die Zukunft. Essay über die christliche Verschärfung, Mainz 2005, 52-58.

38

Siehe dazu: T. R. Peters, Johann Baptist Metz, Theologie des vermißten Gottes, Mainz 1998.

39

Vgl. J. Manemann, Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik, Düsseldorf 2013, 29.

40 J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 11. 41

Vgl. ders., Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 47/48.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

ren.42 Gerade heute wäre im Blick auf die ökologische Katastrophe zu fragen: Warum sehen wir* unserer Kirche die Leidensgeschichte der nichtmenschlichen Lebewesen so wenig oder überhaupt nicht an?43 Und das, obwohl in der Präambel des Tierschutzgesetzes von 1986 das Tier als »Mitgeschöpf« bezeichnet wird und damit, wie der evangelische Theologe Jürgen Moltmann hervorhebt, »die Welt der Schöpfung eröffnet [ist]. Ich bin ein Geschöpf als Mensch und das Tier ist ein Mitgeschöpf, also gibt es eine Schöpfungsgemeinschaft und Gott ist der Schöpfer.«44 In der Umweltenzyklika »Laudato si’« schreibt Papst Franziskus: »Ich möchte daran erinnern, dass ›Gott uns so eng mit der Welt, die uns umgibt, verbunden [hat], dass die Desertifikation des Bodens so etwas wie eine Krankheit für jeden Einzelnen ist, und wir (…) das Aussterben einer Art beklagen [können], als wäre es eine Verstümmelung‹.«45 Er geht sogar so weit zu sagen, dass das »ewige Leben (…) ein miteinander erlebtes Staunen sein [wird], wo jedes Geschöpf in leuchtender Verklärung seinen Platz einnehmen wird (…)«46 . Viel ist gegenwärtig in der Diskussion über die Kirchenkrise von Freiheit die Rede – zu Recht. Es käme aber darauf an, Freiheit nicht auf den innerkirchlichen Ruf nach mehr Freiheit in der Kirche zu reduzieren, sondern Freiheit radikaler zu denken, sie mit dem gesell-

42

In diesem Sinne hat Johann Baptist Metz das Anliegen der neuen Politischen Theologie immer wieder zusammengefasst.

43

Die Formulierung ist angelehnt an eine Passage von Metz: »Warum habt ihr uns eigentlich in der Theologie nie etwas von diesen Katastrophen erzählt? Warum wirken die Abgründe des Leidens, denen wir gegenüberstehen, nur wie der Nachhall eines Donners, eines abziehenden Gewitters, so als wäre das alles schon überstanden? Warum sieht man unserer Theologie die Leidensgeschichte der Menschen so wenig oder überhaupt nicht an?« (J. B. Metz, in: Welches Christentum hat Zukunft? Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz im Gespräch, Stuttgart 1990, 23.)

44

J. Moltmann, Hoffnung für eine unfertige Welt: Jürgen Moltmann im Gespräch mit Eckart Löhr, Ostfildern 2016 (E-Book), Pos. 475.

45

Papst Franziskus, Laudato si’. Die Umweltenzyklika des Papstes, Freiburg 2015, Nr. 89.

46

Ebd., Nr. 243.

23

24

Revolutionäres Christentum

schaftskritischen Ruf nach Befreiung zu verbinden. Kirche würde sich dann, wie Metz es fordert, »als öffentliche Zeugin und Tradentin einer gefährlichen Freiheitserinnerung«47 verstehen. Sie würde fragen, wer in der Gesellschaft zu den »häufig vergessenen oder verdrängten Freiheiten« ermutigt: »zur Freiheit, am Leiden anderer zu leiden und die Prophetie fremden Leidens zu achten – obwohl die Negativität des Leids immer unzumutbarer, ja geradezu verpönt erscheint? Zur Freiheit, alt zu werden, obwohl die Öffentlichkeit das Alter verleugnet und es geradezu als ›geheime Schande‹ empfindet? (…) Zur Freiheit schließlich, sich die eigene Endlichkeit und Fragwürdigkeit vor Augen zu führen, obwohl die Öffentlichkeit unter der Suggestion eines immer heileren, harmonischeren Lebens steht (…)?«48 Diese Freiheiten streben nach Befreiung, nach der Überwindung der Strukturen, durch die unsere Sensibilitäten für das Leben neutralisiert werden. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass das biblische Hebräisch den Begriff »Freiheit« nicht kennt.49 Stattdessen wird vom »befreienden Tun«50 in Geschichten erzählt. Die Institution Kirche trocknet aus, wenn sie nicht belebt wird von Kirche als Lebensform. Franziskus fordert deshalb dazu auf, Maria als Vorbild zu betrachten und eine Kirche zu sein, »die dient, die aufbricht, die aus ihren Kirchen herausgeht, die aus ihren Sakristeien herausgeht, um das Leben zu begleiten, die Hoffnung zu unterstützen und Zeichen der Einheit (…) zu sein (…), um Brücken zu spannen, Mauern zu durchbrechen und Versöhnung auszusäen«51 . Katholisch sein bedeutet Franziskus zufolge »radikale Präsenz« (M. Quast-Neulinger): die Inkarnation an den Orten, an 47

J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 78.

48

Ebd., 80/81.

49

Vgl. J. Ebach, Stichwort »Freiheit« – Alttestamentliche Erinnerung, in: https: //www.jungekirche.de/2008/208/2008_02_01-04.pdf (abgerufen am 08.03. 2021).

50

Ebd.

51

Papst Franziskus, Enzyklika Fratelli Tutti. Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft, 03.10.2020, Nr. 276.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

denen wir leben.52 Der ehemalige Hildesheimer Caritas-Direktor, Hans-Jürgen Marcus, warnte vor einigen Jahren vor der Gefahr, dass aus der Kirchenkrise eine Evangeliumskrise werden könnte, in der das Hoffnungspotential der Botschaft verdunstet.53 Der synodale Weg besitzt das Potenzial, das zu verhindern. Er bietet die Chance, Selbstmitleid und Sentimentalität abzustreifen und durch Sensibilität zu ersetzen, indem nämlich Missbrauchsopfern in der Kirche aktiv zugehört wird. Ein solches Zuhören ginge mit Veränderungen einher, durch die vermachtete klerikale Strukturen ins Wanken geraten würden. Das wäre ein Anfang. Ob dieser Weg allerdings einen Weg »jenseits bürgerlicher Religion« weisen wird, durch den auch die Identitätskrise überwunden würde, hängt davon ab, ob es gelingt, diesen Weg bewusst »im Aufgang einer nachbürgerlichen, nachkapitalistischen Welt«54 zu beschreiten. Dazu hätte Kirche sich als Lebensform wiederzuentdecken, die den Blick nach außen richtet und jegliche Selbstbezüglichkeit durchbricht. Gerade deshalb wäre heute der Satz »Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen!« institutionstheoretisch zu wenden: »Wer um des Reiches Gottes willen seine Institution verliert, wird sie in einer neuen Weise gewinnen.«55

3.

Auferstehung als Lebensform

Die Forderung nach radikaler Präsenz steht für Kirche als Lebensform. Sie geht mit der Frage einher, wie Christ*innen leben, »was sie tun und wie sie es tun«56 . Dabei steht der Alltag im Vorder52

Vgl. ebd., Nr. 278. Diesen Hinweis verdanke ich der katholischen Theologin Michaela Quast-Neulinger.

53

Vgl. H.-J. Marcus, Quo vadis Caritas? Vortrag zum 25jährigen Jubiläum des Caritasverbandes Würzburg am 11.06.2010 (unver. MS).

54

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 71.

55

O. Fuchs, Biblische Theologie und Öffentlichkeit, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 11: Glaube und Öffentlichkeit, Neukirchen-Vluyn 1996, 225247, 237.

56

R. Jaeggi, Kritik der Lebensformen, Berlin 2014, 69.

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I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

denen wir leben.52 Der ehemalige Hildesheimer Caritas-Direktor, Hans-Jürgen Marcus, warnte vor einigen Jahren vor der Gefahr, dass aus der Kirchenkrise eine Evangeliumskrise werden könnte, in der das Hoffnungspotential der Botschaft verdunstet.53 Der synodale Weg besitzt das Potenzial, das zu verhindern. Er bietet die Chance, Selbstmitleid und Sentimentalität abzustreifen und durch Sensibilität zu ersetzen, indem nämlich Missbrauchsopfern in der Kirche aktiv zugehört wird. Ein solches Zuhören ginge mit Veränderungen einher, durch die vermachtete klerikale Strukturen ins Wanken geraten würden. Das wäre ein Anfang. Ob dieser Weg allerdings einen Weg »jenseits bürgerlicher Religion« weisen wird, durch den auch die Identitätskrise überwunden würde, hängt davon ab, ob es gelingt, diesen Weg bewusst »im Aufgang einer nachbürgerlichen, nachkapitalistischen Welt«54 zu beschreiten. Dazu hätte Kirche sich als Lebensform wiederzuentdecken, die den Blick nach außen richtet und jegliche Selbstbezüglichkeit durchbricht. Gerade deshalb wäre heute der Satz »Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen!« institutionstheoretisch zu wenden: »Wer um des Reiches Gottes willen seine Institution verliert, wird sie in einer neuen Weise gewinnen.«55

3.

Auferstehung als Lebensform

Die Forderung nach radikaler Präsenz steht für Kirche als Lebensform. Sie geht mit der Frage einher, wie Christ*innen leben, »was sie tun und wie sie es tun«56 . Dabei steht der Alltag im Vorder52

Vgl. ebd., Nr. 278. Diesen Hinweis verdanke ich der katholischen Theologin Michaela Quast-Neulinger.

53

Vgl. H.-J. Marcus, Quo vadis Caritas? Vortrag zum 25jährigen Jubiläum des Caritasverbandes Würzburg am 11.06.2010 (unver. MS).

54

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 71.

55

O. Fuchs, Biblische Theologie und Öffentlichkeit, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 11: Glaube und Öffentlichkeit, Neukirchen-Vluyn 1996, 225247, 237.

56

R. Jaeggi, Kritik der Lebensformen, Berlin 2014, 69.

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Revolutionäres Christentum

grund. Im Alltag entstehen die Sensibilitäten, die Wirkungen auf uns ausüben.57 Lebensformen gelten gemeinhin als »Problemlösungsinstanzen«58 . Ihr Gelingen oder Misslingen »bemisst sich (…) an ihrer Fähigkeit zur Lösung dieser sich (mit) ihnen stellenden Probleme«59 . Lebensformen besitzen Geltung, solange sie im Alltag von Bedeutung sind.60 Nun steht gerade der Alltag in hochmodernen Gesellschaften unter einem stetigen Veränderungsdruck. Nur diejenigen Lebensformen können Bestand haben, die lernfähig sind, die immer wieder neue Antworten auf neue Problemlagen bieten. Lernblockaden lassen sie unwirksam werden.61 Kirche als Lebensform hat nur dann eine Zukunft, wenn sie sich als lernende Kirche versteht. Wenn Lebensformen sich dadurch auszeichnen, dass sie helfen, mit Problemen umzugehen oder sie zu lösen, dann stellt sich die Frage, auf welches Problem Kirche als Lebensform antwortet. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Hoffnung auf Auferstehung. Aus Sicht vieler Christ*innen ist die Auferstehung die Lösung des Problems des Todes. Aber welche Bedeutung hat diese Botschaft in einer Gesellschaft, in welcher der Tod gar nicht mehr das zentrale Problem zu sein scheint? Viele Menschen behaupten, dass sie keine Angst vor dem Tod hätten und ihr Leben auch nicht durch den Tod entwertet sähen. Sie fürchten sich nicht vor dem natürlichen Tod, sondern vor dem Tod mitten im Leben, dem zu frühen Tod, und sie fürchten sich vor allem vor dem Sterben. Das einstige Problem des Todes scheint durch das Problem des Sterbens ersetzt worden zu sein. Bietet das Christentum also mit seiner Auferstehungshoffnung eine Lösung für ein Problem, das für viele Menschen gar nicht existiert? Antwortet es auf Fragen, die niemand mehr stellt? Wenn dem so wäre, wäre das Christentum und damit auch die Kirche als Lebensform gescheitert.

57

Vgl. ebd., 200.

58

Ebd.

59

Ebd., 141.

60 Vgl. ebd., 69f. 61

Vgl. ebd., 447.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

Die Auferstehung war ursprünglich keine Antwort auf das Problem des natürlichen Todes. Der Gedanke der Auferstehung wurde geboren aus der Situation der Unterdrückung. Das 2. Makkabäerbuch erzählt davon, wie während des Makkabäeraufstandes (168-164 v.u.Z.) Kinder vor den Augen ihrer Mutter gefoltert und ermordet werden. Die Mutter spricht zu einem ihrer Kinder: »Ich bitte dich, mein Kind: Schau hinauf zum Himmel, sieh die Erde und alles, was auf ihr lebt. Erkenne, dass Gott dies nicht aus schon Bestehendem erschaffen hat und dass auch das Geschlecht der Menschen so entsteht. Fürchte diesen Henker nicht, sondern nimm, deiner Geschwister würdig, den Tod an, damit ich dich in der Zeit des Erbarmens zusammen mit deinen Geschwistern erhalte.« (2 Makk 7, 28-29) Dann wendet sie sich an den Herrscher Antiochus: »Unsere Geschwister sind jetzt, da sie eine kurze Qual erduldeten, unter Gottes Versprechen des ewigen Lebens gestorben, du aber wirst durch den Richterspruch Gottes die gerechte Strafe für deinen Übermut erhalten.« (2 Makk 7, 36) Im Angesichte der Folterung ihrer Kinder hält die Mutter dem Herrscher die Hoffnung entgegen, dass er, dass die Täter*innen, nicht in Ewigkeit über die Opfer triumphieren werden. Auferstehung heißt also zunächst Auferstehung zum postmortalen Gericht. Sie ist somit die Antwort auf eine noch ausstehende Gerechtigkeit.62 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch das wohl zeitgleich verfasste Buch Daniel: »Viele, die im Erdboden schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen für immer gering geschätzt und verabscheut. Die Verständigen werden wie der Leuchtglanz des Himmelsgewölbes leuchten, und die die Vielen zurechtbringen, wie die Sterne, für ewig und immer.« (Dan 12, 2. 3) Die Hoffnung auf Auferstehung wurde also im Zuge der frühjüdischen apokalyptischen Weltdeutung geboren,63 und die Nachfolger*innen Jesu haben ihr Bekenntnis eingezeichnet in die Theo62

Vgl. J. Ebach, Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Einwürfe 2/ 1985, 5-61, 44.

63

Vgl. K. Müller, Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, Stuttgart 1991.

27

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Revolutionäres Christentum

logie der apokalyptischen Bewegungen.64 Die Apokalyptik ist die »Luft, die Jesus und seine Jünger geatmet haben«65 . Sie gehört ins Zentrum des christologischen Bekenntnisses, wie ein kurzer Blick auf die neutestamentliche Formeltradition zeigt: »Die älteste Formel des Urchristentums und damit der älteste Satz des Urchristentums überhaupt hatte den Wortlaut: ›Gott, der Jesus aus den Toten erweckt hat‹ bzw. ›Gott hat Jesus aus den Toten erweckt‹.«66 (1 Thess 1,10 u.a.) Deshalb bedeutet, von der Auferstehung zu reden, immer auch, den apokalyptischen Horizont der Rede von der Auferstehung im Blick zu haben, und der Horizont der Apokalyptik – ich wage hier den Singular zu gebrauchen – ist der der Verdunkelung der Gegenwart. Apokalyptik ist der Versuch, ohne Vertröstung den Bruch wahrzunehmen, der durch katastrophale Ereignisse eingetreten ist und die Rede von der Gegenwart einer heilsbedeutsamen Vergangenheit infrage stellt.67 Die Hoffnung auf Auferstehung richtet sich nicht zuerst auf den eigenen Tod, sondern auf den Tod anderer. Sie verdankt sich einem – um einen Ausdruck des Philosophen Burkhard Liebsch zu verwenden – »lebendigen Sinn für Ungerechtigkeit«. Der Name des biblischen G-ttes ist Garant für diesen Sinn. Das zeigt ein Blick auf die von Exeget*innen so bezeichnete »Gründungsurkunde« des biblischen Monotheismus: Psalm 82. Hier wird deutlich, dass nicht die Verbindung von G-tt und Wahrheit die Geburtsstunde des biblischen Monotheismus markiert, sondern die Verbindung von G-tt und Gerechtigkeit: »Ein Psalm. Von Asaf Gott steht in der Götterversammlung, inmitten der Gottheiten richtet er. Wie lange wollt ihr ungerecht richten

64

Vgl. ders., Die Rede von Jesu Auferstehung. Eine Erinnerung an die von Gott befristete Zeit, in: J. Manemann (Hg.), Jahrbuch Politische Theologie. Bd. 3: Befristete Zeit, Münster 1999, 18-34, 27.

65

C. F. v. Weizsäcker, Bewußtseinswandel, München/Wien 1988, 222.

66

K. Müller, Jesu Auferstehung, 22.

67

Vgl. ebd., 31ff.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

und Verbrecher begünstigen? SELA Schafft Recht dem Geringen und der Waise, der Gebeugten und dem Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren! Lasst den Geringen und die Arme entkommen, entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen! Diese erkannten nichts und verstehen nichts, im Finstern tappen sie umher, so wanken alle Grundfesten der Erde. Ich selbst erkläre: Ihr seid Götter, Kinder des Gottes in der Höhe seid ihr alle! Doch wie ein Mensch werdet ihr sterben, wie eine der Oberen werdet ihr fallen. Stehe auf, Gott, richte die Erde! Ja, du bist es, der alle Völker zum Erbe hat.« (Ps 82) Psalm 82 verkündet JHWH als die alleinige Gottheit. Als Kriterium wahrer Göttlichkeit hat der Exeget Erich Zenger folgende Taten festgehalten: Befreiung aus Rechtlosigkeit, Unterdrückung und Entwürdigung sowie Hinführung zu einem Leben in solidarischer Gerechtigkeit.68 Angesichts dieses Psalms lässt sich folgender Grundsatz aufstellen: G-tt zu erkennen heißt fühlen, was ungerecht ist. Wem »der lebendige Sinn für Ungerechtigkeit« abhandenkommt, dem ist G-tt abhandengekommen. Die Bedeutung der Auferstehung erschließt sich also am Tod anderer. Von hier aus ist auch die Vorstellung eines natürlichen Todes zu befragen. Die christliche Auferstehungshoffnung beinhaltet die Weigerung, den Tod anderer einfach zu akzeptieren. Das gebietet allein schon die Liebe: »Einen Menschen lieben, heißt sagen: du wirst nicht sterben.«69 Empirist*innen erscheint dieser Satz des Philosophen Gabriel Marcel unsinnig. Aber das »Du« ist hier nicht

68

Vgl. E. Zenger, Der Monotheismus Israels. Entstehung – Profil – Relevanz, in: T. Söding (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus, Freiburg/Basel/Wien 2003, 9-52.

69

G. Marcel, Geheimnis des Seins, Wien 1952, 472.

29

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Revolutionäres Christentum

Teil einer Dingnatur, es ist nicht Objekt: »Sofern er Du ist, entzieht er sich (…) der Dingnatur, und nichts, was ich von Dingen sagen kann, gilt mehr von ihm, gilt mehr von Dir.«70 Erst recht können wir* uns nicht mit dem intra-vitalen Tod anfreunden, der Menschen mitten aus dem Leben reißt. Spüren wir* nicht immer wieder aufs Neue die Verpflichtung, die ›Anderen‹71 im Tod nicht preisgeben zu dürfen? Auferstehung als Lebensform bedeutet, • •

• •

4.

jegliche Komplizenschaft mit dem Tod zu verweigern, im alltäglichen Leben gegen die vielen Tode anzukämpfen: den Tod durch Verlassenheit, den Tod durch Unsichtbarkeit, den Tod durch Apathie, den Tod durch Bequemlichkeit und Zufriedenheit, den Tod der Vergessenheit…, immer wieder aufs Neue aufzustehen gegen Entfremdungen, Ungerechtigkeiten…, das Leben vor dem Tod zu feiern.

Weltwerdung der Welt

Was meinen wir Christ*innen eigentlich, wenn wir* »G-tt« sagen? Was meinen wir*, wenn wir* »Mensch«, was, wenn wir* »Welt« sagen? Jay-Z gibt sich nicht mit vorgefertigten Antworten zufrieden. In seinem Song Heaven stellt er radikale Anfragen an religiöse Menschen: Sag’ mal, weißt Du überhaupt, wovon Du redest, wenn Du von Religion sprichst? Woher nimmst Du das Wissen zu sagen, welche Religion die bessere ist? Warst Du schon im Himmel? Hast Du jemals die Himmelspforte gesehen? Weißt Du, wie der Himmel schmeckt? Ich sag’ Dir was: Wir müssen all das, was wir unter Religion verstehen, befragen. 70

Ebd., 473.

71

Im Folgenden wird »Andere« groß geschrieben, wenn der Akzent auf der Anerkennung von Andersheit und Anderheit, der Würde der Einzigartigkeit, liegt.

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Revolutionäres Christentum

Teil einer Dingnatur, es ist nicht Objekt: »Sofern er Du ist, entzieht er sich (…) der Dingnatur, und nichts, was ich von Dingen sagen kann, gilt mehr von ihm, gilt mehr von Dir.«70 Erst recht können wir* uns nicht mit dem intra-vitalen Tod anfreunden, der Menschen mitten aus dem Leben reißt. Spüren wir* nicht immer wieder aufs Neue die Verpflichtung, die ›Anderen‹71 im Tod nicht preisgeben zu dürfen? Auferstehung als Lebensform bedeutet, • •

• •

4.

jegliche Komplizenschaft mit dem Tod zu verweigern, im alltäglichen Leben gegen die vielen Tode anzukämpfen: den Tod durch Verlassenheit, den Tod durch Unsichtbarkeit, den Tod durch Apathie, den Tod durch Bequemlichkeit und Zufriedenheit, den Tod der Vergessenheit…, immer wieder aufs Neue aufzustehen gegen Entfremdungen, Ungerechtigkeiten…, das Leben vor dem Tod zu feiern.

Weltwerdung der Welt

Was meinen wir Christ*innen eigentlich, wenn wir* »G-tt« sagen? Was meinen wir*, wenn wir* »Mensch«, was, wenn wir* »Welt« sagen? Jay-Z gibt sich nicht mit vorgefertigten Antworten zufrieden. In seinem Song Heaven stellt er radikale Anfragen an religiöse Menschen: Sag’ mal, weißt Du überhaupt, wovon Du redest, wenn Du von Religion sprichst? Woher nimmst Du das Wissen zu sagen, welche Religion die bessere ist? Warst Du schon im Himmel? Hast Du jemals die Himmelspforte gesehen? Weißt Du, wie der Himmel schmeckt? Ich sag’ Dir was: Wir müssen all das, was wir unter Religion verstehen, befragen. 70

Ebd., 473.

71

Im Folgenden wird »Andere« groß geschrieben, wenn der Akzent auf der Anerkennung von Andersheit und Anderheit, der Würde der Einzigartigkeit, liegt.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

Jay-Z holt die Religion und G-tt aus dem Himmel zurück und verortet sie im Menschen, aber er gibt ihre Potenziale nicht preis. A.L.L.A.H. bedeutet für ihn »Arm, Leg, Leg, Arm, Head«. Er bezeichnet mit dem Namen G-ttes den Körper des Menschen. Und so kann er von sich sagen, dass er G-tt im Fleisch bekennt. Jay-Z dekonstruiert die Theologie und entdeckt dadurch die Anthropologie. A.L.L.A.H. avanciert zum neuen Wort für SelfEmpowerment – und das ist nötig angesichts der Herausforderungen der Zeit und der Abwesenheit der (institutionalisierten) Religionen in den Kämpfen der Zeit. »Human beings in a mob What’s a mob to a king? What’s a king to a god? What’s a god to a non-believer? Who don’t believe in anything? We make it out alive All right, all right No church in the wild« (No Church in the Wild) Jay-Z will die Menschen emporheben, die am Boden liegen. Er denkt den Menschen vom Körper her, und das heißt für ihn, von den Erschütterungen her. Vom Körper her denken heißt, von den Verwundbarkeiten her denken. Wer vom Körper ausgehend den Menschen wahrnimmt, sieht zunächst, dass wir* »federlose, zweibeinige, sprachbegabte und mit Bewusstsein ausgestattete Kreaturen sind, versehen mit der Fähigkeit, zu begehren und zu wünschen, von Geburt an alt genug zum Sterben, aber dennoch mit Einfallsreichtum und Neugierde begabt, die es uns ermöglichen, Visionen und Hoffnungen für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu entwickeln. All das tun wir in einer Umwelt, die wir nicht selbst gewählt haben. Wir sind kontingente und fragile Organismen, die ihr Leben angesichts der Schrecken der

31

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Revolutionäres Christentum

Natur, des Terrors der Geschichte, der Grausamkeiten des Schicksals und des Glücks leben müssen.«72 Wenn wir* vom Menschen reden, haben wir* es mit einer »komplexen Subjektivität«73 zu tun. Diese Subjektivität ist zutiefst erschütterbar, aber gleichzeitig befähigt sie uns zur Widerstandsfestigkeit. Mit der Wahrnehmung dieser Subjektivität geht der Imperativ einher: »Bleib erschütterbar – doch widersteh!« (P. Rühmkorf) Die Erfahrung komplexer Subjektivität ist fascinosum et tremendum, das Faszinierende und Erschreckende zugleich. Wer sich dieser komplexen inkarnierten Subjektivität aussetzt, braucht, wie der Philosoph Cornel West es fordert, Mut: Mut zu denken, Mut zu lieben, Mut zu hoffen.74 Warum haben andere diesen Mut? Und warum besitzen wir Christ*innen hierzulande diesen Mut nicht? Vielleicht fehlt uns der Mut, weil wir* das Verhältnis von G-tt und Mensch falsch denken? Christ*insein heißt nicht, wie der katholische Theologe Franz Gruber schreibt, in einer bestimmten Weise religiös zu sein, sondern in einer bestimmten Weise weltlich und Mensch zu sein.75 G-tt will die Welt nicht vergöttlichen. Er will, dass die Welt Welt wird und der Mensch Mensch: »Denn was Gott annimmt, vergewaltigt er nicht. (…) Er kann und will es gerade in dem annehmen, wodurch es von ihm verschie-

72

So versteht Cornel West Menschsein: J. Manemann/Y. Arisaka/V. Drell/A. M. Hauk, Prophetischer Pragmatismus. Eine Einführung in das Denken von Cornel West, Paderborn 2 2013; vgl. hier das etwas abgewandelte Zitat aus: C. West, Afterword: Philosophy and the Funk of Life, in: G. Yancy (Hg.), Cornel West: A Critical Reader, Malden 2001, 346-361, 347.

73

Vgl. A. B. Pinn, The End of God-Talk. An African American Humanist Theology, New York 2012, 6f.

74

Siehe: C. West, in: Astra Tylor, Examined Life, filmedition suhrkamp, Berlin 2010.

75

Vgl. F. Gruber, »Tiefe Diesseitigkeit«. Dietrich Bonhoeffers visionäre Bestimmung des Christseins in der modernen Gesellschaft. Eine theologische und religionssoziologische Relecture, in: F. Eichinger/J. Berger/H. Eichmeyer (Hg.), Glauben lernen in einer mündigen Welt, Wien 2006, 93-112, 107.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

den ist, in seiner Nicht-Göttlichkeit, in seiner Menschlichkeit und Weltlichkeit als solcher, und nur weil er dies vermag, hat es ihn überhaupt gefreut, eine Welt zu ›erschaffen‹ und sie schließlich ganz ›anzunehmen‹ in seinem ewigen Wort. Die Annahme durch Gott ist deshalb ursprünglicher eine Freigabe ins Eigene und Eigentliche, ins Selbständige des Nicht-Göttlichen, als das er es annehmen will. Seine Wahrheit ›macht frei‹ (vgl. Joh 8,32), annehmend befreit er das andere ins Eigene des Selbstseins. Er ist – und dies ist gerade die Majestät seiner Freiheit – der wahrhaft Gewährende, Seinlassende. Er ist nicht der Konkurrent, sondern der ›Garant‹ der Welt.«76 1934 bei der Einkleidung von Edith Stein schrieb der Philosoph Peter Wust ins Gästebuch: »Welteinwärts – Weltabwärts«.77 Damit ist die Richtung angezeigt, von der die »Revolution für das Leben« in christlicher Perspektive ihren Ausgang nimmt. Kirche muss sich in diese Welt hineinbegeben und mit ihr weltabwärts gehen, d.h. in die Tiefe des Diesseits hinein. Tiefe, so hat es der Religionsphilosoph Paul Tillich erläutert, ist nicht flach und nicht hoch.78 Es geht nicht, um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, um »die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven«, sondern es geht um »tiefe Diesseitigkeit«. Tiefe Diesseitigkeit steht für die »volle (…) Diesseitigkeit des Lebens«, meint, in »der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten [zu] leben«79 . Nur wer sich in tiefe Diesseitigkeit verstricken lässt, vermag überhaupt, zu glauben und zu hoffen.80 Bonhoeffer zufolge ist der »Auferstehungsglaube (…) nicht die ›Lösung‹ des Todesproblems«81 . Durch ihn werden wir

76

J. B. Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz 5 1968, 23.

77

Diesen Hinweis verdanke ich der Predigt des Dominikaners Karl Meyer anlässlich des Sechswochenamtes zum Gedenken an Tiemo Rainer Peters.

78

Vgl. J. A. T. Robinson, Gott ist anders, Berlin 1965, 53.

79

D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 12 1983, 183.

80 Vgl. ebd. 81

Ebd., 135.

33

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Revolutionäres Christentum

nicht auf ein Jenseits zum Diesseits verwiesen, sondern auf ein Jenseits im Diesseits: »Gott ist mitten im Leben jenseitig.« Und so gilt auch für das Verständnis von Transzendenz: »Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente.«82 Kirche als Lebensform gründet in tiefer Diesseitigkeit. Diese schützt nicht vor Verzweiflung, aber vor Gleichgültigkeit, und wir* sollten die Gleichgültigkeit mehr fürchten als die Verzweiflung, denn, so der Friedensnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel: »Wenn Sie die Wahl haben, zwischen Verzweiflung und Gleichgültigkeit zu wählen, wählen Sie die Verzweiflung, nicht die Gleichgültigkeit! Denn aus Verzweiflung kann eine Botschaft hervorgehen, aber aus Gleichgültigkeit kann per definitionem nichts hervorgehen.«83 Das Christentum steht nicht für ein Projekt der Divinisierung der Welt, auch nicht für eine Hominisierung der Welt, sondern für die Befreiung der Welt. Seine Aufgabe ist es, nicht der Welt eine Interpretation hinzuzufügen, sondern sie im Blick auf die Verheißung des Reiches G-ttes zu verändern.84 So konnte Kardinal Paulo Evaristo Arns, der frühere Erzbischof von São Paulo und Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, sagen, »daß alle Getauften dazu berufen sind, auf Befreiung hinzuarbeiten, jeder an seinem Ort«85 . Der Zustand der Welt, den wir* geschaffen haben,

82 83

Ebd., 192. E. Wiesel, Erinnerung gegen die Gleichgültigkeit, in: O. Schwenke (Hg.), Erinnerung als Gegenwart. Elie Wiesel in Loccum, Freiburg 1987, 138-160, 157. Kurz zuvor sagt Wiesel: »Ich habe immer daran geglaubt, daß das Gegenteil von Liebe nicht Haß ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glauben ist nicht Überheblichkeit (arrogance), sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit.« (ebd., 157).

84

Vgl. J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964, 74.

85

Kardinal P. E. Arns, Kirche und Theologie der Befreiung, in: J. B. Metz (Hg.), Die Theologie der Befreiung: Hoffnung oder Gefahr für die Kirche?, Düsseldorf 2 1988, 136-146, 137.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

sei eine Beleidigung G-ttes. Folglich gilt auch für Arns, dass es einer Kirche bedarf, durch die Christ*innen ins Diesseits verstrickt werden, die »tief verwurzelt ist in all dem, was geschieht«86 . Nach einer Eucharistiefeier »darf keiner (…) nach Haus gehen und nur sagen: heute war der Gesang sehr schön. Das ist nicht genug! Wir müssen nach Hause gehen und sagen: Ich werde etwas tun; zwar weiß ich, daß ich allein nicht viel ausrichten kann, aber meine Gruppe kann schon sehr viel tun.«87 Für den anglikanischen Bischof John A. T. Robinson zeichnet es »das Wesen einer pervertierten Frömmigkeit [aus], daß der Gottesdienst zu einer Sphäre wird, in die wir uns von der Welt zurückziehen, um mit Gott allein zu sein – auch wenn es nur dazu geschieht, daß wir uns Kraft holen wollen, um wieder in die Welt zurückzukehren.«88 Und er fährt fort: »Daß wir Zeiten der Entspannung und der Zurückgezogenheit brauchen, ist selbstverständlich; aber keiner soll sagen, daß solche Zeiten besonders ›heilig‹ seien, auch müssen sie nicht notwendigerweise besonders ›religiös‹ sein in dem Sinne, daß man in ihnen bestimmte geistliche Exerzitien treibt. Es sind vor allem Zeiten, in denen wir Abstand gewinnen, Zeiten der Sammlung, Zeiten, in denen die Liebe Wurzeln schlagen kann. Nicht, daß jene Zurückgezogenheit unnötig wäre, aber das eigentliche Pfingstgeschehen ereignet sich im Engagement.«89 Das gesellschaftspolitische Engagement ist nicht bloß ein »sozialer Außendienst«. Es gehört zum »spirituellen Innendienst«.90 Christ*insein heißt, sich in die Welt verstricken zu lassen, und nicht wie Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld zu waschen. Metz warnt vor der Gefahr, dass wir* uns aus der Zukunft dieser Welt heimlich verabschieden.91 Diese Tendenz würde nämlich die 86

Ebd., 138.

87

Ebd., 145.

88

J. A. T. Robinson, Gott ist anders, 90.

89

Ebd., 102.

90 Siehe zu diesen Begrifflichkeiten: J. B. Metz, Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Freiburg/Basel/Wien 2011, 206. 91

Vgl. ebd., 205.

35

36

Revolutionäres Christentum

jungen Generationen fatalisieren.92 An der Zeit ist deshalb ein revolutionäres Christentum, das sich an den drei oben genannten Krisen entzündet: •

• •

5.

erstens, dem »Ökozid«. Die Rechtsanwältin Polly Higgins bezeichnet Ökozid als »die Antithese des Lebens schlechthin«93 . Darunter versteht sie »die weitgehende Zerstörung, Beschädigung oder den Verlust von Ökosystemen eines bestimmten Gebietes, sei es durch menschliches Handeln oder durch andere Ursachen, in einem Ausmaß, dass die friedliche Nutzung durch die Bewohner*innen dieses Territoriums ernsthaft beeinträchtigt wurde.«94 zweitens, der Krise der Demokratie durch die Bedrohung von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus drittens, der Corona-Krise, durch die die gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Ordnungsmuster destabilisiert wurden und deren Folgen noch nicht abzusehen sind.

Prophetische Kritik95

Diese Krisen fordern zur Kritik heraus. Prophetische Kritik war und ist immer Gesellschaftskritik. Dem US-amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer zufolge haben die Prophet*innen die Gesellschaftskritik erfunden.96 Walzer unterscheidet zwischen inter-

92 93

Vgl. ebd. P. Higgins, Eradicating Ecocide. Laws and governance to prevent the destruction of our planet, London 2010 (E-Book), Pos. 1162.

94

Ebd., Pos. 1171.

95

Diesen Abschnitt habe ich meinem Beitrag »Von Gott reden angesichts des Anderen – Zur Bedeutung der praktischen Philosophie für die christliche Theologie, in: M. E. Fuchs/M. Hofheinz (Hg.), Theologie im Konzert der Wissenschaften, 232-247« entnommen.

96

Vgl. M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990, 84.

36

Revolutionäres Christentum

jungen Generationen fatalisieren.92 An der Zeit ist deshalb ein revolutionäres Christentum, das sich an den drei oben genannten Krisen entzündet: •

• •

5.

erstens, dem »Ökozid«. Die Rechtsanwältin Polly Higgins bezeichnet Ökozid als »die Antithese des Lebens schlechthin«93 . Darunter versteht sie »die weitgehende Zerstörung, Beschädigung oder den Verlust von Ökosystemen eines bestimmten Gebietes, sei es durch menschliches Handeln oder durch andere Ursachen, in einem Ausmaß, dass die friedliche Nutzung durch die Bewohner*innen dieses Territoriums ernsthaft beeinträchtigt wurde.«94 zweitens, der Krise der Demokratie durch die Bedrohung von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus drittens, der Corona-Krise, durch die die gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Ordnungsmuster destabilisiert wurden und deren Folgen noch nicht abzusehen sind.

Prophetische Kritik95

Diese Krisen fordern zur Kritik heraus. Prophetische Kritik war und ist immer Gesellschaftskritik. Dem US-amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer zufolge haben die Prophet*innen die Gesellschaftskritik erfunden.96 Walzer unterscheidet zwischen inter-

92 93

Vgl. ebd. P. Higgins, Eradicating Ecocide. Laws and governance to prevent the destruction of our planet, London 2010 (E-Book), Pos. 1162.

94

Ebd., Pos. 1171.

95

Diesen Abschnitt habe ich meinem Beitrag »Von Gott reden angesichts des Anderen – Zur Bedeutung der praktischen Philosophie für die christliche Theologie, in: M. E. Fuchs/M. Hofheinz (Hg.), Theologie im Konzert der Wissenschaften, 232-247« entnommen.

96

Vgl. M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990, 84.

I. Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

ner und externer Kritik. Zur Erläuterung bezieht er sich auf zwei bedeutende prophetische Gestalten der Bibel: Jona und Amos. Deren jeweilige Kritik umreißt er folgendermaßen: Jona ist ein Prophet, der die Gesellschaft von außen betrachtet, der keine Beziehung zu den Menschen hat, die er kritisiert. Er wird von G-tt regelrecht gezwungen, nach Ninive zu gehen, um das Urteil G-ttes, die Vernichtung, zu verkünden. Jona hat keinen Bezug zu den Einwohner*innen von Ninive. Er hat auch gar kein Interesse an der Rettung der Stadt. Als wider Erwarten die Einwohner*innen umkehren und die Stadt der Zerstörung entgeht, freut Jona sich nicht, sondern ist verzweifelt, da er doch nun als falscher Prophet dasteht. Er sieht nur sich selbst, aber nicht diejenigen, die er kritisiert hat. Jonas Prophetie beinhaltet Gleichgültigkeit. Er fühlt sich nicht zugehörig.97 Wie anders verhält sich Amos: Er bangt mit dem Volk, er hofft, er leidet, ja er fiebert geradezu für seine Gemeinschaft. Er fühlt mit, sieht sich als Teil der Gemeinschaft, die er kritisiert. Und nicht nur das: Die Kritik, die er dem Volk Israel entgegenschleudert, kommt nicht von außen. Der Prophet als Kritiker ist hier nicht jemand, der ein besseres Verständnis von der Moral besitzt als diejenigen, die er kritisiert. Im Gegenteil! Er erinnert das, was alle wissen, neu. Es ist die Erinnerung, die ihn zur Empörung führt. Er klagt also eine Moral ein, die bereits existiert.98 Anders als viele heutige Gesellschaftskritiker*innen will Amos als Gesellschaftskritiker nicht originell sein. Er verkündet nichts radikal Neues. Er bezieht sich auf bereits Gehörtes: »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.« – so heißt es bei Micha (6,8).99 Amos ist kein Esoteriker, der ein Wissen hat, das andere nicht haben und das ihn von anderen abhebt. Er geht davon aus, dass die Menschen, zu denen er spricht, ihn verstehen. Er kennt das Volk, ist er doch Teil desselben. Und noch etwas ist entscheidend: Amos entwickelt keine Utopie einer besten Regierungsform. Er ist so sehr, gerade in seiner Wut, in der Gemeinschaft verwurzelt, dass er keinen Nicht-Ort, 97

Vgl. ebd., 90f.

98

Vgl. ebd., 103.

99

Vgl. ebd., 85.

37

38

Revolutionäres Christentum

keine Utopie, sucht.100 Des Weiteren hat er kein Interesse an sich selbst. Der Prophet beruft sich auf Werte, die auch die Kritisierten teilen. Wenn er die Reichen kritisiert, dann kritisiert er nicht deren Wohlleben, sondern »ihr Wohlleben auf Kosten der Armen«.101 Prophetische Kritik als interne Gesellschaftskritik ist demgemäß eine »Kritik des Bestehenden (…), die (…) mit Grundsätzen [beginnt], die dem Bestehenden bereits innewohnen«102 . Nicht Abstand bestimmt also die Haltung der internen Kritiker*innen, sondern Opposition.103 Gesellschaftskritiker*innen benötigen bestimmte Tugenden.104 Die erste Tugend ist die des Mutes. Der Mut der Kritiker*innen besteht darin, »Leute zu kritisieren, mit denen sie eine Menge zu tun haben«105 . Die zweite Tugend kann mit Metz als »Mitleidenschaft« bezeichnet werden. »Ein gutes Auge haben«, so nennt Walzer die dritte Tugend. Damit ist eine »(relativ) unvermittelte Erfahrung der Realität«106 gemeint. Der Kirche fällt die Aufgabe zu, prophetische Kritik als interne Gesellschaftskritik zu betreiben. Dazu bedarf sie aber nicht nur der Nähe zu den Menschen, sondern auch der Nähe zu nichtmenschlichen Lebewesen. Diese Nähe ist die Voraussetzung dafür, die Leiden der »Mutter Erde« wahrzunehmen.

100 Vgl. ebd., 94f. 101 Vgl. ebd., 99. 102 Ebd., 31. 103 Vgl. ebd., 67. 104 Vgl. ders., Gesellschaftskritik und Gesellschaftstheorie, in: R. Forst u.a. (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt 2009, 588-607, 601. 105 Ebd., 600. 106 Ebd., 604.

II. Christliche Hoffnung heute

1.

Mut zur Trauer

Unsere Schwester, Mutter Erde, »schreit auf wegen des Schadens, den wir ihr aufgrund des unverantwortlichen Gebrauchs und des Missbrauchs der Güter zufügen, die Gott in sie hineingelegt hat. Wir sind in dem Gedanken aufgewachsen, dass wir ihre Eigentümer und Herrscher seien, berechtigt, sie auszuplündern. Die Gewalt des von der Sünde verletzten menschlichen Herzens wird auch in den Krankheitssymptomen deutlich, die wir im Boden, im Wasser, in der Luft und in den Lebewesen bemerken. Darum befindet sich unter den am meisten verwahrlosten und misshandelten Armen diese unterdrückte und verwüstete Erde, die ›seufzt und in Geburtswehen liegt‹ (Röm 8,22).« 1 – Mit diesen eindringlichen Worten in Laudato si‘ wollte Franziskus die Welt und vor allem die Christ*innen wachrütteln. Bis heute bleiben die Schreie der Erde jedoch in der katholischen Kirche hierzulande ungehört.2 Ja, es gibt viele Papiere, Verlautbarungen, Predigten, in denen Laudato si‘ zitiert wird. Unzählig sind die Forderungen zur »Bewahrung der Schöpfung«. Auch gibt es viele einzelne

1

Papst Franziskus, Laudato si’, Nr. 2.

2

Dieses Kapitel beruht im Wesentlichen auf: J. Manemann, Kirche und Klimakrise – Ein philosophisch-theologischer Einspruch, in: https://philoso phie-indebate.de/3596/indepth-longread-kirche-und-klimakrise-ein-philo sophisch-theologischer-einspruch/ (abgerufen am 25.02.2021).

40

Revolutionäres Christentum

Umweltaktionen, etwa das Klimafasten. Aber all die Worte und Aktionen haben bislang keine Taten hervorgebracht, die der Höhe der Herausforderung angemessen wären. Der Religionssoziologe Jens Köhrsen stellt fest: »Zur öffentlichen Sensibilisierung und Bewusstwerdung im Bereich Energiewende und Klimawandel tragen politische Parteien, die Zivilgesellschaftlichen NGOs und einzelne Unternehmen in weitaus höheren Maßen durch ihre öffentliche Präsenz in diesen Themen bei [als die Kirchen]«.3 Seine Untersuchung in Emden ergab: »Das tendenziell randständige Engagement der Kirchen im Bereich der Energiewende beschränkt sich (…) nur auf die eigene Gemeinde. Umfassendere Projekte zur Förderung der lokalen Energiewende, die über die eigene Gemeinde hinausgehen, konnten nicht festgestellt werden. Gemeinsame Energiewendeprojekte oder themenbezogene Vernetzungen zwischen den Kirchen und den säkularen Protagonisten der Emder Energiewende konnten ebenfalls nicht nachgewiesen werden.«4 Auch die Wertevermittlungsfunktion gelingt anderen Organisationen besser.5 All dies wird zur Anklage in einer Zeit, in der sich der Zukunftshorizont zunehmend verfinstert. Es deutet alles darauf hin, dass wir* zwischen 2050 und 2100 mit einer 2-5°C-Erwärmung der Erde rechnen müssen – eine Katastrophe. Die Klimawissenschaftlerin Kate Marvel vom NASA Goddard Institute for Space Studies schreibt:

3

J. Köhrsen, Auf dem Weg zur grünen Religion? Kirchen und die ökologische Krise am Beispiel der Energiewende, in: G. Pfleiderer/H. Matern/J. Köhrsen (Hg.), Krise der Zukunft II. Verantwortung und Freiheit angesichts apokalyptischer Szenarien, Zürich 2018, 49-71, 61.

4

Ebd., 62.

5

Vgl. ebd., 62/63.

II. Christliche Hoffnung heute

»To be a climate scientist is to be an active participant in a slowmotion horror story.«6 (…) »As a climate scientist, I am often asked to talk about hope. Particularly in the current political climate, audiences want to be told that everything will be all right in the end. And, unfortunately, I have a deep-seated need to be liked and a natural tendency to optimism that leads me to accept more speaking invitations than is good for me. Climate change is bleak, the organizers always say. Tell us a happy story. Give us hope. The problem is, I don’t have any. (…) We need courage, not hope. Grief, after all, is the cost of being alive. We are all fated to live lives shot through with sadness, and are not worth less for it. Courage is the resolve to do well without the assurance of a happy ending.«7 In der Kirche ist diese Katastrophe nur »zumeist als Bewußtsein ›im Kopf‹, nicht in den Herzen. Sie erzeugt Depressionen, aber keine Trauer; Apathie, aber keinen Widerstand. [Christ*innen] (…), so scheint es, werden immer mehr zu Voyeuren des eigenen Untergangs«.8 Dagegen bedarf es des Mutes zur Trauer. Für ein revolutionäres Christentum ist Trauer die fundamentale Widerstandskategorie. Im Allgemeinen beziehen wir* uns, wenn wir* von Trauer sprechen, auf Trauerarbeit.9 In einer solchen Trauer geht es um den Verlust einer geliebten Person. In dieser Trauer wird aber nicht nur über den Verlust der Person getrauert, sondern immer auch und im Besonderen über den Selbstverlust, den der 6

K. Marvel, We Should Never Have Called It Earth, 01.08.2017, in: https://onb eing.org/blog/kate-marvel-we-should-never-have-called-it-earth/ (abgerufen am 07.02.2021).

7

Dies., We Need Courage, Not Hope, To Face Climate Change, 01.03.2018, in: https://onbeing.org/blog/kate-marvel-we-need-courage-not-hope-to-fa ce-climate-change/ (abgerufen am 07.02.2021).

8

Metz adressierte diese Kritik an die Gesellschaft, formulierte sie aber bereits u.a. im Blick auf die Umweltverschmutzung: J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 19.

9

In den philosophischen Ausführungen zur Trauer beziehe ich mich im Wesentlichen auf: B. Liebsch, Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Weilerswist 2006.

41

42

Revolutionäres Christentum

Tod des geliebten Menschen für die eigene Identität bedeutet. Diese Leerstelle soll nach erfolgreicher Trauerarbeit neu besetzt werden: »Vielfach wird Trauer als psychischer Schadensfall behandelt, der möglichst umgehend zu beheben ist.«10 Trauer gilt als Ausnahme vom normalen Leben und wird deshalb terminiert: »Wir trauern, um nicht mehr zu trauern, um uns zu absolvieren vom Betrauerten, um befreit vom Anderen wiederaufleben zu können.«11 Es gibt aber auch eine Form von Trauer, die der Terminierung widersteht, die radikal dem ›Weiter so‹ entgegengesetzt ist. Liebsch spricht von »moralischer Trauer«. Für diese Trauer gibt es keine Kompensation, keine Versöhnung.12 Sie ist auch nicht privat, sondern politisch. Sie bezieht auch fremde Tote und tote nichtmenschliche Lebewesen mit ein.13 Wenn es für das Christentum kein Leid gibt, »das nicht angeht«14 , dann gibt es auch keinen Tod irgendeiner Kreatur, der im Vorfeld aus dem Blickfeld einer möglichen Mit-Trauer ausgeschlossen werden darf. Auch die moralische Trauer entzündet sich an einer konkreten Verlusterfahrung. Diese weitet sich in der Trauer aus. In diesem Anwachsen wird die Trauer mit ihrem eigenen Unvermögen konfrontiert. Sie vermag nicht zu erfassen, was sie umfassen müsste. Und das liegt nicht nur an dem Ausmaß der Katastrophe, »sondern an unserer hergebrachten Beziehung zu ihrem Objekt«15 . Umweltaktivist*innen versuchen den Graben zwischen dem, was wir* uns verzweifelt vorzustellen versuchen, und dem, was wir* hergestellt haben, durch Performances zu überbrücken16 :

10

Ebd., 32.

11

Ebd., 131.

12

Vgl. ebd., 43.

13

Vgl. ebd., 116f.

14

P. Rottländer, Ethische Rechtfertigung weltweiter Solidarität. Deskriptive, normative und methodische Aspekte, in: N. Brieskorn (Hg.), Globale Solidarität. Die verschiedenen Kulturen und die Eine Welt, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 117-142, 121.

15

E. v. Redecker, Revolution, 110.

16

Vgl. ebd., 96.

II. Christliche Hoffnung heute

»Wenn Extinction Rebellion in wallenden Gewändern eine Trauerprozession mit gebleichten Dammhirschschädeln aufführt, lässt das erkennen, dass wir noch gar nicht zu erkunden begonnen haben, welche Praxis dem sterbenden Tierreich wirklich angemessen wäre. Denn was hier betrauert wird – ironischerweise übrigens in einer Performance, die dem Strecke-Verblasen nach einer Treibjagd sehr ähnelt –, soll ja nicht das Sterben sein, sondern das Aussterben. Dafür haben wir keine Formen.«17 Die Trauer über das Aussterben der Tiere und Pflanzen steht für das Gefühl, etwas verloren zu haben, das nicht genug wertgeschätzt wurde. Sie beginnt oft mit einem Erschrecken: der Unbetrauerbarkeit der Tiere und Pflanzen, die ausgestorben sind. Diese Trauer steht also zunächst für eine Trauer, die über ihre eigene Unfähigkeit zur Trauer trauert. Das verursacht ein Schuldgefühl. Es bedarf nun einer Emotionsarbeit, damit aus dieser Unfähigkeit eine moralische Wahrnehmung wird, die ein kreatürliches Solidaritätsempfinden auslöst. Die Aufgabe besteht somit in einer bewussten Sensibilisierung, die versucht, das überwältigende Ausmaß des Aussterbens in seiner Nichtvorstellbarkeit so vorzustellen, dass es emotional repräsentiert werden kann. Ohne diese Repräsentation gibt es keine Trauer als affektive moralische Wahrnehmung.18 Es ist diese Trauer, die zum aktiven Protest zwingt: »Die Seele der moralischen Trauer ist (…) der Protest (…).«19 Sie besitzt revolutionäres Potenzial, da sie unsere Wachstums- und Eigentumsökonomie durchbricht. Sie ist nämlich eine Beziehung zu totem Leben, die niemals in Besitz umkippen kann.20 Wer trauert, ist fähig, Beziehungen jenseits des Besitzdenkens zu pflegen.21 Trauer erwartet keinen Ausgleich

17

Ebd., 103.

18

Diese Zusammenhänge wurden mir durch Gespräche mit der Philosophin Larissa Berger klar, die über die Frage genuiner moralischer Wahrnehmung forscht.

19

B. Liebsch, Revisionen der Trauer, 149.

20

Vgl. ebd., 219.

21

Vgl. ebd., 54/ 132.

43

44

Revolutionäres Christentum

mehr. Sie ist umsonst. Trauer ist eine widerständige Emotion. Moralische Trauer ist eine Erinnerung, die sich weigert, die Toten ganz auszulöschen.22 Sie ist als »Trauer um einzigartige, un-ersetzbare, un-vergleichliche Andere«, wie Liebsch so eindringlich zeigt, die Weigerung, ein eigenes Leben zu führen, das nicht mehr vom Tod anderer gefährdet ist.23 Die Kirche hätte den Mut aufzubringen, die eigene Blindheit gegenüber dem Aussterben anzuerkennen, ihre Apathie zu überwinden und sich der Trauer auszusetzen. Ohne diese Trauer vermag sie keine »Geistesgegenwart«24 auszubilden. In seiner Weihnachtspredigt 2020 wies der evangelische Pfarrer und politische Aktivist William Barber II auf die Trauer der ersten Weihnacht hin: »Vor zweitausend Jahren, als Jesus in Bethlehem geboren wurde, war die Ungleichheit weit verbreitet. Klientelstaatliche Herrscher wie König Herodes in Judäa nutzten ihre Macht, um von armen Untertanen Reichtum anzuhäufen. Jesus, der Sohn Gottes, wurde in einer armen Familie geboren, die kein Zimmer zur Miete in Bethlehem finden konnte. Seine Geburt wurde nicht von den Wohlhabenden oder den politisch Mächtigen gefeiert, sondern von Wanderarbeiter*innen und ausländischen religiösen Minderheiten. Die Bewegung der Hoffnung und des neuen Lebens, die Jesus einleiten wollte, wurde von einem paranoiden und narzisstischen Herrscher angegriffen, der bereit war, unschuldige Kinder in dem verzweifelten Versuch zu töten, sich an die Macht zu klammern. Das erste Weihnachtsfest war nicht fröhlich und hell, sondern ein trauriger Anblick.«25

22

Vgl. ebd., 97.

23

Vgl. ebd., 15.

24

Vgl. dazu: A. Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen. Eine politische Philosophie des Kairós, Berlin 2020, 153-160.

25

W. Barber II, This isn’t a very joyful Christmas. But in mourning there is strength, in: Guardian 25.12.2020, in: https://www.theguardian.com/co mmentisfree/2020/dec/25/christmas-america-jesus-covid-william-barber (abgerufen am 07.02.2021). Den Hinweis auf Barber verdanke ich dem evangelischen Theologen Dominik Gautier.

II. Christliche Hoffnung heute

Für Barber drückt sich die Treue zu Jesus in Trauer aus: »Wenn wir der Geschichte von demjenigen treu sind, dessen Licht ›in der Finsternis leuchtet und das die Finsternis nicht überwunden hat‹, werden wir weinen, bis unsere Tränen zu einem Strom der Gerechtigkeit zusammenfließen, der wie mächtige Wasser und ein immer fließender Strom herunterrollt. Und in diesem Strom der Gerechtigkeit und der Liebe und der Barmherzigkeit werden wir uns verpflichten, gemeinsam für eine bessere Welt im Jahr 2021 zu arbeiten und für ein Weihnachten, an dem wir wirklich vom Frieden auf Erden und vom guten Willen gegenüber allen Menschen singen können.«26 Um das Potenzial der moralischen Trauer zu erkennen, ist es wichtig, ihre paradoxale Grundierung zu begreifen: Mit der Trauer stirbt zunächst die Hoffnung, aber gleichzeitig ist diese Trauer Platzhalterin von Hoffnung.27 Zum einen ist sie Ausdruck negativer Hoffnung, die uns mit unerfüllter Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert. Zum anderen handelt es sich um eine aktivierende Trauer, die im widerständigen Handeln gelebt wird. Wenn Menschen aber in diesem Handeln die Erfahrung machen, aktiver Teil von Veränderungsprozessen zu sein, erfahren sie Selbstwirksamkeit. Und mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit kann sich Möglichkeitssinn einstellen. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat es in die Sentenz gepresst: »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.«28 Wenn sich Möglichkeitssinn einstellt, kann Hoffnung aufblitzen.

26

Ebd.

27

An dieser Stelle wird der Unterschied zur »Theologie der Hoffnung« von Jürgen Moltmann deutlich, für den Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit negativ konnotiert sind: J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 18.

28

Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 3 1982, 391.

45

46

Revolutionäres Christentum

2.

Die Kraft zum Utopischen

Die christliche Hoffnung ist in einem dreifachen Sinne eine negative Hoffnung: •





Erstens, weil wir* nicht auf das hoffen können, was wir* sehen. Paulus lehrt im Römerbrief, dass »eine sichtbare Hoffnung (…) keine Hoffnung« (Röm 8,24) ist. Zweitens, weil Hoffnung heute im Zustand moralischer Trauer als Bewusstsein unerfüllter Hoffnung präsent ist: »Trauer ist Hoffnung im Widerstand«29 . Drittens drückt Hoffnung sich in einer utopischen Sollenskraft aus, die sich im aktiven Protest gegen das richtet, was nicht sein soll, ohne dabei jedoch die Hoffnung preiszugeben, es möge anders werden.

Die christliche Hoffnung auf Auferstehung ist eine »geerdete Hoffnung«30 . Sie lässt die Glaubenden nicht in Höhen schweben, sondern hält sie am Boden. Wie sollten die Hoffenden denn auch abheben, wenn sie in dieser Hoffnung »nichts Greifbares (…) bekommen, dafür aber alles geben sollen (…)«31 ? Es liegt deshalb an den Glaubenden, das Wagnis einzugehen, diese Hoffnung dennoch wirkmächtig werden zu lassen. Ihnen kommt somit die Aufgabe zu, »den Himmel [zu] erden«32 . Dazu benötigen sie die Kraft zum Utopischen. Wenn Christ*innen also nicht weiter an der Schrumpfung ihrer Hoffnung mitwirken wollen, müssen sie diese Kraft in sich wachrufen. Nun lässt sich Utopisches nicht herstellen, aber durch menschliches Handeln können Situationen geschaffen werden, in denen es sich einzustellen vermag. In diesem Sinne ist uns also eine Kraft 29 30

J. B. Metz, Religion, ja – Gott, nein, 32. T. R. Peters, Entleerte Geheimnisse. Die Kostbarkeit des christlichen Glaubens, Ostfildern 2 2017, 65.

31 32

Ebd. D. Sölle, Den Himmel erden, in: Dies./L. Schottroff, Den Himmel erden. Eine ökumenische Annäherung an die Bibel, München 1996, 11-14, 11.

II. Christliche Hoffnung heute

zum Utopischen gegeben. Wir* spüren etwas von dieser Kraft, wenn wir* gegenwärtige Verhältnisse überschreiten, wenn wir* beginnen, verkrustete Verhältnisse und Strukturen zum Tanzen zu bringen. Dazu müssen wir* aber selbst anfangen, zu tanzen. Nur durch Bewegung entfesseln wir* in uns und um uns herum alle vorhandenen Kreativkräfte. Und auf diese Kräfte kommt es an. Dabei ist allerdings zu beachten: »Es gibt keinen Tanz vor dem Essen.«33 Ohne eine ausreichende Versorgung kann nicht getanzt werden. Wer andere zum Tanzen bewegen möchte, muss dafür Sorge tragen. In jeder kreativen Situation scheint etwas Neues auf. Wenn wir* kreativ sind, dann machen wir* die Erfahrung, dass in uns und in unserer Gesellschaft viel mehr steckt, dass mehr möglich ist, als die Verwalter*innen der sogenannten Realität uns glauben machen wollen. Jeder kreative Akt ist zudem mit einem Versprechen aufgeladen: Das, was ist, ist nicht alles! Es sind diese Erfahrungen der Veränderung, die uns für Utopisches sensibilisieren. Kreativkräfte bewirken Veränderung. Aber erst durch die Kraft zum Utopischen können revolutionäre Veränderungen möglich werden. Kreativkräfte besitzen jedoch auch das Potenzial, sich zu einer utopischen Kraft zu entwickeln. Das ist dann der Fall, wenn die durch Kreativität ausgelösten Veränderungen eine derartige Dynamik entfachen, dass sie Orte des Utopischen gebären. Orte des Utopischen sind Risse in der Gegenwart, durch die die alles durchdringende Macht des Status quo, der für sich Alternativlosigkeit reklamiert, unwiderruflich aufgebrochen wird. Die Kraft zum Utopischen ist zunächst eine negative Kraft, die sich im Kampf gegen das, was nicht sein soll, bewährt. Das unterscheidet sie erst einmal von einer Utopie, die gemeinhin eine Zukunft visioniert, wie sie sein sollte.34 Die »Revolution für das Leben« kennt keine revolutionäre Utopie. Sie enthält die Weigerung, 33

E. Bloch, Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno, in: R. Traub/H. Wieser, Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt a.M. 1977, 58-77, 74.

34

Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf: J. Manemann, Ins Utopische verstrickt – eine Spurensuche, in: weiter denken. Journal für

47

48

Revolutionäres Christentum

ein Sein hervorzubringen, das sich als totale Antithese zum jetzigen Sein verhält.35 Die Negation des Bestehenden durch die Kraft zum Utopischen ist deshalb mehr als bloße Negation, zielt sie doch immer auch auf Rettung. Die »Revolution für das Leben« als Revolution gegen die »kapitalistische Sachherrschaft« (E. v. Redecker) will gegenwärtiges und zukünftiges menschliches und nichtmenschliches Leben retten, das heißt bewahren. Es ist dieses Moment der Rettung, an dem sich auch der utopische Funke eines anderen Zustandes entzündet. Um das Utopische besser zu verstehen, bietet sich ein Vergleich mit der Utopie an. In der Vergangenheit haben Sozialutopien die Funktion erfüllt, Gegenwart zu durchbrechen.36 Sie haben erzählt vom »Sieg einer neuen sozialen Vernunft über Privateigentum und Herrschaft, allgemeine[n] Wohlstand«, von der »Erleichterung des Lebens durch intelligente Anwendung von Technik«, vom »öffentliche[n] und private[n] Glück«37 . U-topos, der Nicht-Ort, das war ursprünglich der Ort in einer anderen Weltgegend: eine fiktive Insel. Später wurde dieser Ort verzeitlicht und in die Zukunft verlegt.38 Utopien haben immer eine kontra-faktische Funktion übernommen. Sie waren Negationen des Status quo und haben als solche die gegenwärtige Realität aufgesprengt.39 Diese Sprengungen waren aber häufig nicht nur riskant und gefährlich. Sie waren auch moralisch fragwürdig. Nicht selten ging mit ihnen eine moralische Entwertung all dessen einher, was der Utopie widersprach. Die Gegenwart hatte keinerlei Rechte mehr. Utopien Philosophie 1/2018, in: https://weiter-denken-journal.de/fruehjahr-2018-ge ist-der-utopie/Ins_Utopische_verstrickt.php (abgerufen am 25.01.2021). 35

In diesem Sinne ist sie von den Einsichten Albert Camus’ beeinflusst: A. Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013, 327.

36

Vgl. dazu und zum Folgenden die Ausführungen von M. Bondeli, Thesen zum Begriff und zur Aktualität der Sozialutopie, in: B. Sitter-Liver (Hg.), Utopie heute I. Zur aktuellen Bedeutung, Funktion und Kritik des utopischen Denkens und Vorstellens, Fribourg/Stuttgart 2007, 17-35.

37

Ebd., 18.

38

Vgl. ebd., 18-19.

39

Vgl. ebd., 21f.

II. Christliche Hoffnung heute

brachen oftmals mit der gesamten Gegenwart.40 Um die Gegenwart nicht zu überspringen, um sie nicht im Namen einer bloßen Idee zu vergewaltigen, mahnte bereits der Philosoph Ernst Bloch in seinem »Prinzip Hoffnung«, keine Luftschlösser zu bauen, sondern »konkrete Utopien« zu entwerfen. Diese wurden für Bloch zum Inhalt der Hoffnung. Der Blick auf Utopien lehrt, dass auch das Utopische nur gedacht werden kann, weil wir* so etwas wie eine Form des Bewusstseins als »Noch-Nicht-Bewusstes« besitzen.41 Hierbei handelt es sich um »ein produktives Vermögen, das unserem vorwärts treibenden Denken zugrunde liegt«42 . Für Bloch scheint es im Tagtraum auf: »Der Nachttraum bewegt sich im Vergessenen, Verdrängten, der Tagtraum in dem, was überhaupt noch nie als gegenwärtig erfahren worden ist.«43 In diesem Überschreiten der Verhältnisse durch den Vorgriff auf etwas, das noch nie war und auch so nie sein wird, sei es in Träumen, in Wünschen, im Verlangen, erfahren wir* die Kraft des Neuen. Aber es geht hier nicht um Träumerei, sondern um konkrete Utopie: »Der Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, ohne den der Traum nur abstrakte Utopie, das Leben aber nur Trivialität abgibt, ist gegeben in der auf die Füße gestellten utopischen Kapazität, die mit dem Real-Möglichen verbunden ist.«44 Das »Real-Mögliche« bezeichnet einen neuen Zustand, der nicht vom Himmel fällt, sondern als Potenzial in den vorgefundenen Bedingungen steckt.45 Diese sind keineswegs total. Sie umschließen uns, ohne uns abzuschließen. Solche Bedingungen können sich dann als Möglichkeitsbedingungen erweisen, wenn sie eine Eigendynamik enthalten, die sich als »schöpferischer Prozess« entfaltet.46 Das Mögliche ist, wenn es als

40 Vgl. ebd. 41

Vgl. ebd., 25.

42

Ebd., 26.

43

E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 1-32, Frankfurt a.M. 1985, 130.

44

Ebd., 165.

45

Vgl. M. Bondeli, Sozialutopie, 25.

46

Vgl. ebd.

49

50

Revolutionäres Christentum

»Real-Mögliches« vorgestellt wird, also nie ein Unbedingtes. Es ist nur als Bedingtes möglich.47 »Hoffnung, Erhabenheit, aufrechter Gang, Weltveränderung und Heilsversprechen«48 – das waren die Vokabeln von Blochs konkreter Hoffnungsphilosophie. Diese war stark durchdrungen von der Idee einer nach Vollendung strebenden Materie. Der Wärmestrom dieser Hoffnung ist mittlerweile erkaltet. Auf die Herausforderung des technologischen Zeitalters und der ökologischen Krise lässt sich das »Prinzip Hoffnung« nicht einfach übertragen. Der Philosoph Hans Jonas erhob gegen Bloch zu Recht die Forderung nach einem »Prinzip Verantwortung«, dessen Vokabeln lauten: »Verantwortung, Furcht, Zurückhaltung, Selbstbescheidung, Welterhaltung und Abwendung von Unheil«49 . Das heißt: Die Weltveränderung, von der heute zu reden ist, muss immer auch als Welterhaltung verstanden werden. Der hoffende Blick auf unser Zeitalter benötigt beides, und zwar beides gleichzeitig: Seinsverneinung und Seinsbejahung. In dieser Spannung wäre auch die utopische Sollenskraft christlicher Hoffnung zu entwickeln. Aber wie soll sich überhaupt Hoffnung einstellen, wenn in der Gegenwart immer weniger der Gedanke aufkommt, etwas könnte anders werden, und wenn immer weniger das Zutrauen empfunden wird, etwas dafür tun zu können? Bloch beginnt sein Werk »Geist der Utopie« (1918) mit den Zeilen: »Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her (…).« Und er fährt fort: »(…) aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm [dem sinnlos gewordenen Leben] seine Faust und seine Ziele werden.«50 Hier wird nicht an eine bloße Sehnsucht nach einem anderen Zustand appelliert. Diese würde

47

Vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 260.

48

M. Bondeli, Sozialutopie, 23.

49

Ebd.

50

E. Bloch, Geist der Utopie. Erste Fassung. Faksimile Ausgabe von 1918, Frankfurt a.M. 1985, 9.

II. Christliche Hoffnung heute

nicht genügen, um der Leere der Gegenwart etwas entgegenzusetzen. Bloch war klar: Es bedarf auch der Tat, die aber wiederum nicht ohne Weite, ohne Aussicht, ohne Utopie auskommt. Im Vergleich mit der Zeit des »Geistes der Utopie« scheint unsere Zeit der Kraft zum Überschreiten der Verhältnisse zu ermangeln, die Bloch noch aktivieren konnte. Ohne diese Kraft bleibt das Hoffen fade.

3.

Zukunftsangst

Wer heute über christliche Hoffnung spricht, darf von der Zukunftsmüdigkeit der Christ*innen nicht schweigen. Viele Christ*innen sind zukunftsmüde, weil sie nicht den Mut aufbringen, sich der Zukunft zu stellen, vor allem der Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder. Bereits vor vielen Jahren kritisierte Metz, dass die Kirche, wenn sie von Zukunft rede, nur zu Menschen spreche, die eine Zukunft vor sich hätten: etablierte Bürger*innen.51 Er warnte: »Die messianische Zukunft wird so vielfach zur feierlichen Überhöhung und Verklärung vorgefaßter bürgerlicher Zukunft und – angesichts des Todes – zur Verlängerung dieser bürgerlichen Zukunft und des in ihr mächtigen Ich ins Transzendent-Ewige.«52 Wir* scheinen unfähig, uns eine andere als die bürgerlich-kapitalistische Zukunft vorzustellen. Die Ursache dafür liegt nicht nur in unserer Bequemlichkeit. Diese Unfähigkeit resultiert auch aus einer tiefen Verunsicherung über das, was die Zukunft bringen wird. Denn eines wissen wir* insgeheim: Die Zukunft, von der zu sprechen wäre, ist nicht die in die Zukunft verlängerte bürgerliche Gegenwart. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft wird keine Zukunft haben. Diese Erkenntnis löst Angst aus, weil der gegenwärtige Zustand durch einen zukünftigen anderen Zustand abgelöst werden wird, der, so die Ahnung, schlechter sein wird als der gegenwärtige. Damit geht eine Kehrtwende einher, durch die »Zukunft, vormals natürliches Habitat der Hoffnung und berechtigter Erwartungen, zum Schreckensszenario drohender 51

Vgl. J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 9.

52

Ebd.

51

II. Christliche Hoffnung heute

nicht genügen, um der Leere der Gegenwart etwas entgegenzusetzen. Bloch war klar: Es bedarf auch der Tat, die aber wiederum nicht ohne Weite, ohne Aussicht, ohne Utopie auskommt. Im Vergleich mit der Zeit des »Geistes der Utopie« scheint unsere Zeit der Kraft zum Überschreiten der Verhältnisse zu ermangeln, die Bloch noch aktivieren konnte. Ohne diese Kraft bleibt das Hoffen fade.

3.

Zukunftsangst

Wer heute über christliche Hoffnung spricht, darf von der Zukunftsmüdigkeit der Christ*innen nicht schweigen. Viele Christ*innen sind zukunftsmüde, weil sie nicht den Mut aufbringen, sich der Zukunft zu stellen, vor allem der Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder. Bereits vor vielen Jahren kritisierte Metz, dass die Kirche, wenn sie von Zukunft rede, nur zu Menschen spreche, die eine Zukunft vor sich hätten: etablierte Bürger*innen.51 Er warnte: »Die messianische Zukunft wird so vielfach zur feierlichen Überhöhung und Verklärung vorgefaßter bürgerlicher Zukunft und – angesichts des Todes – zur Verlängerung dieser bürgerlichen Zukunft und des in ihr mächtigen Ich ins Transzendent-Ewige.«52 Wir* scheinen unfähig, uns eine andere als die bürgerlich-kapitalistische Zukunft vorzustellen. Die Ursache dafür liegt nicht nur in unserer Bequemlichkeit. Diese Unfähigkeit resultiert auch aus einer tiefen Verunsicherung über das, was die Zukunft bringen wird. Denn eines wissen wir* insgeheim: Die Zukunft, von der zu sprechen wäre, ist nicht die in die Zukunft verlängerte bürgerliche Gegenwart. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft wird keine Zukunft haben. Diese Erkenntnis löst Angst aus, weil der gegenwärtige Zustand durch einen zukünftigen anderen Zustand abgelöst werden wird, der, so die Ahnung, schlechter sein wird als der gegenwärtige. Damit geht eine Kehrtwende einher, durch die »Zukunft, vormals natürliches Habitat der Hoffnung und berechtigter Erwartungen, zum Schreckensszenario drohender 51

Vgl. J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 9.

52

Ebd.

51

52

Revolutionäres Christentum

Alpträume«53 avanciert. Aber gerade diese Kehrtwende könnte auch zu einer radikalen Neuperspektivierung des Verhältnisses von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, von Utopie und Dystopie motivieren, durch welche die hoffnungslose dystopische Perspektive in ihr Gegenteil umschlägt: Der Ausblick auf die Katastrophe würde so zum Movens der Tat. Woher sollte die Motivation zur Hoffnung kommen, zu dem, was sein soll, wenn nicht durch die Ablehnung dessen, was nicht sein soll? Hoffnung weicht der Dystopie nicht aus. Und jede verantwortete Dystopie geht mit dem Imperativ einher: Sie soll nicht sein! Zur Angst vor dem Verlust der Gegenwart und vor einer negativen Zukunft kommt noch die Angst vor der Angst hinzu. Gerade in der Kirche werden Ängste häufig verdrängt und tabuisiert. Der mediale und der politische Diskurs unterstützen diese Verdrängung, indem Angst als nur von außen inszenierte, aber nicht reale behauptet wird. Die Angst vor der Zukunft angesichts der Erhitzungskatastrophe muss den Menschen heute jedoch nicht eingeredet werden. Im Gegenteil! Diese Angst ist realistisch. Es gilt, sie zuzulassen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie lähmen kann. Die Bibel erzählt von dieser Gefahr beim Anblick einer Katastrophe: JHWH fordert in der Geschichte der Zerstörung von Sodom und Gomorrah Lot und seine Frau auf, die beiden Städte schnellstmöglich zu verlassen. Dabei ergeht an Lot der Befehl: »Nun musst du dein Leben retten! Blick nicht hinter dich (…)!« (Gen 19, 17) Diejenigen, die sich daran hielten, entkamen der Katastrophe; Lots Frau aber blickte zurück und erstarrte zur Salzsäule. Wichtig ist, so erläutert es der Exeget Jürgen Ebach, dass es sich hier nicht um eine Strafe handelt, sondern um die Folge des getanen Blicks: »Der Anblick der Katastrophe vermag zu versteinern. Wer in’s Inferno blickt, wird unfähig zur Bewegung, zum Sprechen, zum Handeln.«54 Aber die Geschichte zeige auch, dass aus dieser Erfahrung nicht ein Gebot abgeleitet werden dürfe: »Blicke nicht auf die Katastrophen!« Das ständige Weitergehen würde ja dazu führen, 53

Z. Bauman, Retrotopia, Berlin 2017, 286f.

54

J. Ebach, Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen. Reflexionen. Geschichten, Neukirchen-Vluyn 1986, 148.

II. Christliche Hoffnung heute

dass die Katastrophen sich wiederholten. Ebach zufolge wird in der Erzählung kein kategorischer Imperativ ausgesprochen, sondern eine Erfahrung: dass der Blick auf die Katastrophe versteinern kann.55 Angst kann aber auch Anzeiger von Zukunft sein, denn ohne das Gefühl von Angst gibt es keine Zukunft, da Zukunft immer mit Ungewissheit einhergeht. Zukunft kündigt sich nämlich dadurch an, dass sich Gegenwärtiges auflöst. Solange aber ungewiss ist, durch was denn das, was ist, abgelöst wird, befinden wir* uns in einer Krise, und das löst Angst aus. Diese Angst kann jedoch Zukunftsindikator sein. Und so schreiben Shumon Basar, Douglas Coupland und Hans Ulrich Obrist in ihrem Leitfaden für die extreme Gegenwart: »Du weißt, dass die Zukunft wirklich da ist, wenn du Angst bekommst.«56 Wer die reale Angst verdrängt, flüchtet häufig in Retrotopien. Retrotopien sind »Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit«57 . Sie stehen für einen festen Boden, der Stabilität garantieren soll.58 Solche Retrotopien sind Resultat des Wunsches nach einer Rückkehr zu einer verklärten vergangenen Normalität. Dieser Wunsch drückt sich gerade in der Corona-Pandemie aus. Er besitzt gefährliches Potenzial.

4.

Das Utopische als Unterbrechung

Um die Fallstricke sowohl einer Retrotopie als auch einer Utopie im Sinne einer von außen an die Gesellschaft herangetragenen und diese herabwürdigenden Fiktion zu vermeiden, ist christliche Hoffnung im Modus des Utopischen zu denken. Das Utopische ist nicht 55

Vgl. ebd., 149.

56

S. Basar/D. Coupland/H. U. Obrist, Erschütterung der Welt. Leitfaden für die extreme Gegenwart, Frankfurt a.M. 2015, 62.

57

Z. Bauman, Retrotopia, 261-264.

58

Vgl. ebd., 320-323.

53

II. Christliche Hoffnung heute

dass die Katastrophen sich wiederholten. Ebach zufolge wird in der Erzählung kein kategorischer Imperativ ausgesprochen, sondern eine Erfahrung: dass der Blick auf die Katastrophe versteinern kann.55 Angst kann aber auch Anzeiger von Zukunft sein, denn ohne das Gefühl von Angst gibt es keine Zukunft, da Zukunft immer mit Ungewissheit einhergeht. Zukunft kündigt sich nämlich dadurch an, dass sich Gegenwärtiges auflöst. Solange aber ungewiss ist, durch was denn das, was ist, abgelöst wird, befinden wir* uns in einer Krise, und das löst Angst aus. Diese Angst kann jedoch Zukunftsindikator sein. Und so schreiben Shumon Basar, Douglas Coupland und Hans Ulrich Obrist in ihrem Leitfaden für die extreme Gegenwart: »Du weißt, dass die Zukunft wirklich da ist, wenn du Angst bekommst.«56 Wer die reale Angst verdrängt, flüchtet häufig in Retrotopien. Retrotopien sind »Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit«57 . Sie stehen für einen festen Boden, der Stabilität garantieren soll.58 Solche Retrotopien sind Resultat des Wunsches nach einer Rückkehr zu einer verklärten vergangenen Normalität. Dieser Wunsch drückt sich gerade in der Corona-Pandemie aus. Er besitzt gefährliches Potenzial.

4.

Das Utopische als Unterbrechung

Um die Fallstricke sowohl einer Retrotopie als auch einer Utopie im Sinne einer von außen an die Gesellschaft herangetragenen und diese herabwürdigenden Fiktion zu vermeiden, ist christliche Hoffnung im Modus des Utopischen zu denken. Das Utopische ist nicht 55

Vgl. ebd., 149.

56

S. Basar/D. Coupland/H. U. Obrist, Erschütterung der Welt. Leitfaden für die extreme Gegenwart, Frankfurt a.M. 2015, 62.

57

Z. Bauman, Retrotopia, 261-264.

58

Vgl. ebd., 320-323.

53

54

Revolutionäres Christentum

auf den Staat, eine fiktive Gemeinschaft oder verklärte Vergangenheit festgelegt. Es beginnt mit dem widerständigen Handeln des Individuums. Dieses ist noch nicht völlig vergesellschaftet. Als Nochnicht-völlig-Vergesellschaftetes besitzt es das Potenzial zur Revolte gegen herrschende Zustände und damit das Vermögen, Vereinzelung aufzubrechen. Bloch hat die Aufgabe benannt: »Man ist mit sich allein. Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beidem muß man heraus.«59 Die Überwindung der Vereinzelung beginnt mit der Revolte: »Ich rebelliere, also sind wir.«60 Hier ist anzusetzen, da es keine christliche Hoffnung ohne Revolte gibt. Alles beginnt, wie Bloch sagt, »mit dem Hinhören: Wohin will ich denn eigentlich laufen, wie kann ich die unheilvollen Möglichkeiten, die in der Tendenz stecken, bremsen oder verhindern? Wie kann ich die günstigen, für uns Menschen günstigen Möglichkeiten, wie kann ich die fördern? [Das Utopische] (…) ohne Einklang mit der Tendenz der Wirklichkeit wäre Narretei (…).«61 Dies ist eine Warnung sowohl vor blindem Utopismus als auch vor blindem Aktionismus. Revolten finden nicht nur laut und schrill statt. Häufiger verlaufen sie unbemerkt und unerkannt. In der Erfahrung der Revolte schärft sich der Blick für das, »was durch die Macht der etablierten Gesellschaften daran gehindert wird, zustande zu kommen«62 . Revolten besitzen revolutionäres Potenzial. Sie wirken dann revolutionär, wenn sie zu Einsprengseln des Utopischen avancieren. Revolten drücken sich in unterschiedlichsten Aktionen aus. Für die Philosophin Luise Meier können das beispielsweise Fragen sein, die den herrschenden Zustand geradezu durchlöchern, oder Situationen, in denen sich eine Person unbrauchbar macht für den »Apparat der Systemreproduktion«, etwa dadurch, dass sie »sich

59

E. Bloch, Spuren, Frankfurt a.M. 1985, 11.

60 A. Camus, Der Mensch in der Revolte, 327. 61

E. Bloch, Über Politik als Kunst des Möglichen, in: ders., Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, Frankfurt a.M. 1985, 409-418, 410.

62

H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, in: ders., Schriften 8, Frankfurt a.M. 1984, 237-317, 244.

II. Christliche Hoffnung heute

zum Loch (…), zur Stolperfalle, zur Informationslücke«63 macht, oder dann, wenn Gewinn gerade nicht investiert, nicht verwertet, sondern aufgebraucht und damit für das System unbrauchbar gemacht wird.64 Das Utopische geht oft mit dem Kaputten einher, dem Rest, der nicht im Marktgeschehen aufgeht. So kann es sich einstellen beim Reparieren, beim »Teilen der Wartezeit« in der »Kapitalmaschine«.65 Aus der Pandemie kennen wir* das ›Runterfahren von oben‹. Eine revolutionäre Veränderung beginnt heute mit dem »Runterfahren von unten«66 . Das Neue findet sich in den Löchern, den »Zwischenräumen des Alten«67 . Es kennt »keinen sauberen Ursprung«68 . Es geschieht im System und ist gleichzeitig exterritorial zum System. Es bricht in den Rissen auf: »Ring the bells that still can ring Forget your perfect offering There is a crack, a crack in everything That’s how the light gets in« (Leonard Cohen, Anthem)69 In diesen Rissen kann sich das Utopische einstellen, etwa dann, wenn Heterotope entstehen, Widerlager, Orte in dieser Welt, an denen etwas geschieht oder geschehen ist, das nicht in diese (System)Welt passt.70 Es sind diese Orte, die die vermeintliche Alternativlosigkeit des gegenwärtigen Zustandes unterbrechen – und sei es

63

L. Meier, MRX-Maschine, Berlin 2018, 15.

64

Vgl. ebd., 20.

65

Vgl. ebd., 21.

66

E. v. Redecker, Revolution, 153.

67

Ebd.

68

L. Meier, MRX-Maschine, 20.

69

Den Hinweis auf den Song von Leonard Cohen verdanke ich Bischof Heiner

70

Zum Begriff der Heterotopie: M. Foucault, Andere Räume, in: K. H. Barck/P.

Wilmer. Gente/H. Paris/S. Richter (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, 34-46.

55

56

Revolutionäres Christentum

nur für einen kurzen Moment. Aber dieser Moment hinterlässt einen Riss. Solche Orte sind an eine spezifische Zeiterfahrung gebunden, an einen bestimmten Zeitschnitt, an eine Heterochronie.71 Sie setzen unser herkömmliches Zeitgefühl kurzzeitig außer Kraft. Um für das Utopische offen zu sein, bedarf es einer neuen Sensibilität, die einer den Menschen knechtenden Bedürfnisbefriedigung widersteht und für das Begehren öffnet. Während das Bedürfen auf die Befriedung ausgerichtet ist, ist das Begehren, um mit dem Philosophen Emmanuel Lévinas zu sprechen, eine Bewegung ins Unendliche, ein Überschreiten in Permanenz. Es ist dieses Begehren, das mich öffnet für die Welt, die mich umgibt. Durch dieses Begehren werde ich derart in die Anliegen anderer Menschen und nichtmenschlicher Lebewesen verstrickt, dass ein universales kreatürliches Solidaritätsempfinden entsteht. Dieses solidarische Empfinden zielt auf die Befreiung allen Lebens. Wer sich auf G-tt beruft, bekennt sich zu dieser Solidarität und dazu, dass die Utopie dieser Befreiung »nicht reine Projektion ist, was sie freilich wäre und bliebe, wenn nur Utopie wäre und kein Gott«72 . Der Blick auf das politische Leben ist ein Indikator dafür, ob wir* es ernst meinen mit G-tt oder ob es uns bloß um unseren geglaubten Glauben geht.73 Das Christentum wird als aktive, befreiende Hoffnung erfahrbar, wenn wir* Orte aufsuchen, die wehtun, an denen wir* mit etwas konfrontiert werden, das anders werden sollte. Nur so lernen wir*, in dieser Welt als Repräsentant*innen einer anderen Welt zu leben.74 Die christliche Hoffnung ist eine »passionierte Weltwahrnehmung« (T. R. Peters), die ihren Ausdruck findet in: Klagen. Trauern. Hoffen. Lieben. Tagträumen. Wirken. Organisieren.75

71

Vgl. zur Heterochronie: ebd., 43.

72

J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 65.

73

Vgl. ebd.

74

Vgl. R. Levitas, Utopia as Method. The Imaginary Reconstitution of Society, New York 2013, 220.

75

Vgl. ebd.

II. Christliche Hoffnung heute

5.

Die Zeit ist reif

Das Utopische sensibilisiert für das Reich G-ttes, es ist aber nicht mit ihm identisch. Die Verheißung des Reiches G-ttes ist zugesagt, und sie »kommt von vorn, aus dem Noch-nicht-Vorhandenen, nicht aus dem Vorhandenen«76 . Selbst in der Kirche wurde das Kommen des Reiches gefürchtet. Und so wurde in früheren Jahrhunderten »die Bitte um das Reich im [Vater Unser] verändert: Dein Reich komme, wird ersetzt durch Dein Geist komme. Der Geist genügte der Kirche (…)«77 . Die Zukunft, die die Verheißung des Reiches G-ttes verspricht, ist nicht »futurum als die von der Gegenwart her in Blick gefaßte Zukunft«, sondern »adventus als das Kommen der verheißenen Zukunft in die Gegenwart herein in Gestalt des Verheißungsworts. In das Futurum werfen wir unser Licht durch unser Hoffen und Planen, im Adventus wirft der Kommende sein Licht in unsere Gegenwart«78 . Erfolg ist deshalb nicht Bestandteil des Wörterbuches christlicher Hoffnung. Wir* können die Welt nicht erlösen: »Weil das Reich Gottes in seiner gegenwärtigen und zukünftigen Gestalt nur durch die Kraft Gottes, nicht durch die Kraft des Menschen verwirklicht wird, ist es die absolute Utopie. Seine Transzendenz ist aber nicht Beziehungslosigkeit, sondern Mobilisierung zur Teilnahme an der Humanisierung der menschlichen Gesellschaft auf das Reich Gottes als der wirklich humanen Gesellschaft hin.«79 Ausgestattet mit der Kraft zum Utopischen sind wir* in der Lage, am Aufbau dieses Reiches mitzuwirken. Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer unterscheidet 76

H. Gollwitzer, Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft. Worin besteht der besondere Beitrag von Christen in einer humanistischen Bewegung der Weltveränderung?, in: E. Feil/R. Weth (Hg.), Diskussion zur »Theologie der Revolution«, München/Mainz 1969, 41-64, 46.

77

J. Taubes, Abendländische Eschatologie, München 1991, 76.

78

H. Gollwitzer, Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft, 46.

79

Ebd., 55.

57

58

Revolutionäres Christentum

»(A) die absolute Utopie — (B) die relative Utopie — (C) das Sozialrevolutionäre Programm zur (mindestens approximativen) Realisierung der relativen Utopie. A ist Zielbegriff der christlichen Hoffnung; B ist Zielbegriff des gesellschaftlichen Handelns der Christen (…) und enthält in sich die Wertung des Menschen als Individuum und Sozialwesen, die aus der Botschaft vom Reiche Gottes folgt (christlicher Humanismus); C ist Produkt vernünftiger Überlegungen, ist offen für die Kooperation verschiedener Menschen mit verschieden begründetem Humanismus und ist vernünftig kontrovers.«80 Jede revolutionäre Aktion ist vor der absoluten Utopie zu rechtfertigen, die niemand unmittelbar in Anspruch nehmen darf.81 Eines sollte allerdings klar geworden sein: Die christliche Hoffnung ist keine Utopie, die sich erst einmal die Welt wegwünscht. Im Gegenteil! Sie zielt auf eine andere Welt in dieser Welt. Dafür steht, so Franziskus, Maria: »Mit der Kraft des Auferstandenen will sie eine neue Welt gebären, in der wir alle Brüder und Schwestern sind, in der es für jeden von unserer Gesellschaft verstoßenen Menschen Platz gibt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen.«82 Diese Kraft steht für die Verwandlung des Möglichkeitssinns in Gelegenheitssinn. Nur durch diese Verwandlung wird ein neues Fenster zum widerständigen Handeln aufgestoßen. Wenn hier von Gelegenheitssinn gesprochen wird, dann geht es um einen Sinn, der die Gelegenheit der Tat ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt: »Kairós«.83 Paul Tillich hat das kairologische Momentum wie folgt umrissen: »Weil die Zeit für etwas reif ist, bricht das Bewußtsein ihrer Reife in den sensitiven Geistern durch. Und weil das Bewußtsein durchgebrochen ist, wird das, was potentiell da war, aktuell und geschichtswirksam. Nur wo diese beiden Faktoren zusammentreffen,

80 Ebd., 56. 81

Vgl. ebd., 57.

82

Papst Franziskus, Fratelli Tutti, 278. Diesen Hinweis verdanke ich Michaela Quast-Neulinger.

83

Vgl. dazu und zu den folgenden Überlegungen: A. Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen, 63.

II. Christliche Hoffnung heute

kann man von einem Kairós reden.«84 Der Kairós-Gedanke steht für etwas, das sich in der Zeit erfüllen soll.85 Der Philosoph Alexander Neupert-Doppler ergänzt: »Erst wenn die Erfahrung, bereits in einer Kairós-Zeit zu leben, zur bewussten Erkenntnis dieses Kairós führt, sind richtige Handlungen denkbar.«86 Angesichts der Erhitzungskatastrophe dürfen Christ*innen die Gelegenheit zum Handeln nicht verpassen. Wenn sich dieses Gelegenheitsfenster schließen würde, ohne dass die Gelegenheit ergriffen worden wäre, so wäre das eine weitere Katastrophe.87 Es reicht deshalb nicht aus, dass wir* uns in ein neues Verhältnis zur Natur setzen; wir* müssen uns auch in ein neues Verhältnis zur Geschichte setzen.88 Dafür steht Kairós: die Wahrnehmung der Zeit als »Jetztzeit« (W. Benjamin). Denken wir daran: Wir* werden nicht nur durch unsere Untaten angeklagt, sondern auch durch unsere Versäumnisse.

6.

Wer hat Angst vor der Ansage der Apokalypse?

An der Zeit wäre heute eine Kirche, die durch den Kairós aufgeweckt würde. Wer die Zeichen der Zeit erkennen will, muss – von der Gelegenheit ergriffen – die Gelegenheit ergreifen und helfen, eine Praxis einzuleiten, die radikales Transformationspotential besitzt.89 Damit der Kairós-Begriff nicht zu einer bloßen Gelegenheit herabgestuft wird, die kommt und geht, oder – um seinen gefährlichen und rettenden Aspekt kupiert – zum bloßen Schmuckbegriff

84

P. Tillich, KAIROS – THEONOMIE – DAS DÄMONISCHE. Ein Brief zu Eduard Heimanns siebzigsten Geburtstag, 310-315, in: ders., Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere. Gesammelte Werke, Bd. XII, Stuttgart 1971, 312.

85

Vgl. ders., Klassenkampf und religiöser Sozialismus, in: ders., Hauptwerke 3, Berlin/New York 1998, 167-192,186.

86

A. Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen, 65.

87

Diesen Gedanken entwickelt A. Neupert-Doppler im Rekurs auf Walter Benjamin: vgl. ebd., 135.

88

Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. 3, Berlin 1984, 420.

89

Vgl. A. Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen, 274.

59

II. Christliche Hoffnung heute

kann man von einem Kairós reden.«84 Der Kairós-Gedanke steht für etwas, das sich in der Zeit erfüllen soll.85 Der Philosoph Alexander Neupert-Doppler ergänzt: »Erst wenn die Erfahrung, bereits in einer Kairós-Zeit zu leben, zur bewussten Erkenntnis dieses Kairós führt, sind richtige Handlungen denkbar.«86 Angesichts der Erhitzungskatastrophe dürfen Christ*innen die Gelegenheit zum Handeln nicht verpassen. Wenn sich dieses Gelegenheitsfenster schließen würde, ohne dass die Gelegenheit ergriffen worden wäre, so wäre das eine weitere Katastrophe.87 Es reicht deshalb nicht aus, dass wir* uns in ein neues Verhältnis zur Natur setzen; wir* müssen uns auch in ein neues Verhältnis zur Geschichte setzen.88 Dafür steht Kairós: die Wahrnehmung der Zeit als »Jetztzeit« (W. Benjamin). Denken wir daran: Wir* werden nicht nur durch unsere Untaten angeklagt, sondern auch durch unsere Versäumnisse.

6.

Wer hat Angst vor der Ansage der Apokalypse?

An der Zeit wäre heute eine Kirche, die durch den Kairós aufgeweckt würde. Wer die Zeichen der Zeit erkennen will, muss – von der Gelegenheit ergriffen – die Gelegenheit ergreifen und helfen, eine Praxis einzuleiten, die radikales Transformationspotential besitzt.89 Damit der Kairós-Begriff nicht zu einer bloßen Gelegenheit herabgestuft wird, die kommt und geht, oder – um seinen gefährlichen und rettenden Aspekt kupiert – zum bloßen Schmuckbegriff

84

P. Tillich, KAIROS – THEONOMIE – DAS DÄMONISCHE. Ein Brief zu Eduard Heimanns siebzigsten Geburtstag, 310-315, in: ders., Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere. Gesammelte Werke, Bd. XII, Stuttgart 1971, 312.

85

Vgl. ders., Klassenkampf und religiöser Sozialismus, in: ders., Hauptwerke 3, Berlin/New York 1998, 167-192,186.

86

A. Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen, 65.

87

Diesen Gedanken entwickelt A. Neupert-Doppler im Rekurs auf Walter Benjamin: vgl. ebd., 135.

88

Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. 3, Berlin 1984, 420.

89

Vgl. A. Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen, 274.

59

60

Revolutionäres Christentum

herabgestuft wird, um Allerweltliches mit dem Anschein von Besonderheit auszustatten, muss die Rede vom Kairós messianischapokalyptisch angeschärft sein. Der Kairós ist der Zeitpunkt, »der von dem gefüllt ist, was jetzt an der Zeit ist, und auch von dem, was er an womöglich jetzt noch unmöglichen Möglichkeiten und möglichen Unmöglichkeiten enthält«90 . Gerade der zweite Aspekt zeigt, dass mit ihm ein Zeit-Ereignis benannt ist, das die herrschende Zeit radikal unterbricht und für das Neue aufbricht. Der Kairós steht heute im Zeichen der Apokalypse. Er ist angesichts der Apokalypse zu ergreifen. Der apokalyptische Blick ist dringender denn je. Der Zukunftshorizont verdunkelt sich zunehmend. Und genau das ist das Thema der Apokalypse: Verdunkelung, die Verdunkelung der Zukunft und der Gegenwart. Nun lässt sich unsere Zeit nicht mit der Zeit vergleichen, in der Johannes die »Offenbarung« verfasste, aber wir* können von ihm lernen. Johannes weiß nämlich, was Hoffnungslosigkeit ist. Er weiß auch, was falsche Hoffnung ist. Und er weiß, dass die Botschaft Jesu vor allem eine Hoffnung für diejenigen ist, die keine Hoffnung mehr haben. Erinnern wir* uns: Die Johannes-Apokalypse ist ein »Text einer Kriegszeit«91 . Johannes, ein jüdischer Prophet, lebte laut Überlieferung im Exil auf der Insel Patmos. Um das Jahr 90 n.u.Z. fing er an, die Apokalypse niederzuschreiben. Die Religionshistorikerin Elaine Pagels skizziert die damalige Situation wie folgt: »Vielleicht erlebte er den Ausbruch des Kriegs in Jerusalem im Jahr 66 n. Chr. mit, als militante, von religiösem Eifer beseelte Juden immer wieder römische Soldaten angriffen und Waffenlager anlegten, um im Namen ›Gottes und unserer gemeinsamen Freiheit‹ einen Krieg gegen die römische Besatzung Judäas zu führen. Nach vier Jahren verzweifelten Kampfes schickte Rom 60.000 Soldaten zur Belagerung Jerusalems, die die Bewohner aushungerten und

90 J. Ebach, Einsicht in die Endlichkeit und ein Geschmack der Ewigkeit, 11, in: https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/wp-content/uploads/EbachBAB-Koh3.pdf (abgerufen am 05.03.2021). 91

E. Pagels, Apokalypse. Das letzte Buch der Bibel wird entschlüsselt, München 2013 (E-Book), Pos. 147.

II. Christliche Hoffnung heute

den erbitterten Widerstand der Revolutionäre brachen. Nach dem Sieg der römischen Truppen – zuerst unter Führung des späteren Kaisers Vespasian und dann unter dessen Sohn Titus – wurde der Tempelbezirk entweiht, der Tempel bis auf die Grundmauern niedergebrannt und die Innenstadt Jerusalems zerstört. (…) Wir können uns vorstellen, wie er [Johannes im Exil] tagsüber ruhelos am Meeresufer [von Patmos] entlanggeht und nachts wach liegt und die Sternbilder beobachtet, die über den Himmel ziehen. Entsetzt über das Gemetzel der Römer, dem so viele seiner Landsleute zum Opfer gefallen waren, legte Johannes seinen eigenen Angstschrei den Seelen in den Mund, die er, wie er sagt, im Himmel gesehen hat, wo sie Gottes Gerechtigkeit erflehten.«92 Mit »Apokalypse« wird nicht in erster Linie die Ansage einer zukünftigen Katastrophe und auch nicht nur die Erkenntnis der radikalen Befristung der Zeit bezeichnet. Das Wort »apokalyptein« bedeutet »enthüllen«, »aufdecken«. In der Situation der Bedrängnis ereilt Johannes der Auftrag: »Schreib’, was ist.« (Offb 1, 11) Dieser Auftrag umfasst die Kernbedeutung des Wortes Apokalypse. Apokalyptik ist also das Gegenteil von Verschleierung, von Ideologie. Der apokalyptische Auftrag lautet: Sag’, was an der Zeit ist, und zwar schonungslos. Apokalypse ist »die Erinnerung an die Erfahrungen der früheren Geschlechter, die im Augenblick der größten Gefahr, ohne sie zu verdrängen oder zu verschleiern, in der Enthüllung der Logik der Herrschenden Mut und Hoffnung faßten«93 . Die Ansage der kommenden Katastrophe enthüllt die Machtverhältnisse der Gegenwart. Hier zeigt sich das prophetische Erbe der Apokalyptik.94 Das verstehen die Mächtigen sehr wohl, die gegenwärtigen Warnungen vor der Erhitzungskatastrophe vorwerfen, bloßes Weltuntergangsgerede zu sein. So wollen sie der Apokalyptik den Stachel ziehen, um ihre Macht weiterhin ungestört auszuüben. Wer die Herrschaftsstrukturen in der Gegenwart enthüllen will, muss

92

Ebd., Pos. 148-159.

93

J. Ebach, Apokalypse, 11.

94

Vgl. ebd., 13.

61

62

Revolutionäres Christentum

deshalb die Frage stellen: Wer hat Angst vor der Ansage der Apokalypse?95 Der apokalyptische Blick auf die Erhitzungskatastrophe legt die Zerstörungen des ressourcen-extraktivistischen Kapitalismus radikal offen.96 Franziskus hat den Kairós erkannt. Er benennt die Katastrophe und fordert deren Ahndung als Völkerrechtsverbrechen: als Ökozid. Am 25. November 2019 hielt er in Rom im Rahmen einer Tagung der Internationalen Vereinigung für Strafrecht eine bemerkenswerte Rede. Leider fand diese Rede in der medialen Öffentlichkeit und in der Kirche hierzulande kaum Resonanz. Franziskus kritisiert die mangelnde Aufmerksamkeit, mit der die Strafjustiz Verbrechen verfolge, die von den Mächtigsten ausgehen. In diesem Zusammenhang bezieht er sich ausdrücklich auf die »Makro-Kriminalität von Unternehmen«. Dabei betont er noch: »Ich übertreibe mit diesen Worten nicht.« Franziskus wird sehr deutlich: Globale Finanzsysteme sind »die Quelle für schwere Verbrechen nicht nur gegen Eigentum, sondern auch gegen Menschen und die Umwelt. Es ist die organisierte Kriminalität, die u.a. verantwortlich ist für die Überschuldung von Staaten und die Ausplünderung der natürlichen Ressourcen unseres Planeten.« Und er fährt fort: »Dies sind Verbrechen, die die Schwere von Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben, wenn sie zu Hunger, Elend, erzwungener Migration und Tod durch vermeidbare Krankheiten, Umweltkatastrophen und Ethnozid an indigenen Völkern« führen. Franziskus fordert ausdrücklich, »Ökozid: die massive Verseuchung der Luft-, Land- und Wasserressourcen, die großflächige Zerstörung von Flora und Fauna sowie jede Handlung, die geeignet ist, eine ökologische Katastrophe auszulösen oder ein Ökosystem zu zerstören«, zu bestrafen.97 95

Diese Frage habe ich in Anlehnung an Jürgen Ebachs Frage »Wer hat Angst vor der Apokalypse?« formuliert: Ebd., 11.

96

Vgl. dazu: A. Acosta, Radikale Alternativen: Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann, München 2017.

97

Papst Franziskus, Address of his Holiness Pope Francis to Participants at the World Congress of the International Association of Penal Law, Sala Regia am 15.11.2019.

III. Mut zur Umkehr

1.

Die kapitalistische Sachherrschaft1

Franziskus spricht es klar und deutlich aus: »Diese Wirtschaft tötet.«2 Sie tötet, weil sie in einer »kapitalistischen Sachherrschaft« gründet, die die Welt in einen »Schlachthof« verwandelt hat3 : »Jeden Tag sterben 130 Tier- und Pflanzenarten aus.«4 Kapitalismus ist ein »Spaltungswerkzeug« (C. J. Robinson), das doppelt spaltet: »Der erste Schnitt, der seine Ordnung bestimmt, ist vom Eigentum gesetzt und verläuft zwischen Sachherrscher_in und als verfügbar ausgestanztem Objekt. Der zweite Schnitt zerteilt das Objekt der Sachherrschaft. Die Verwertungsabsicht zieht eine Trennlinie zwischen Ware und Auswurf, zwischen Wert und Nichtigem.«5 Kapitalismus bringt also mehr hervor als Profit und Waren: »CO2 , Produktionsabfälle, Verpackungen (und nach kurzer Zeit oft auch die abgenutzte Ware selbst) werden fallengelassen, aufgegeben, abgestoßen. Was die Verwertung eigentlich tut, ist, Güter in Waren und Ausschuss zu spalten. Anders als der Mehrwert kehren die von den Waren abgespaltenen Dinge aber 1

Den Begriff »kapitalistische Sachherrschaft« habe ich von E. v. Redecker übernommen: E. v. Redecker, Revolution, 15.

2

Papst Franziskus, Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben »Evangelii gaudium« über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Freiburg/Basel/Wien 2013, Nr. 53.

3

E. v. Redecker, Revolution, 16.

4

Ebd., 11.

5

Ebd., 14.

64

Revolutionäres Christentum

gerade nicht zum Ausgangspunkt zurück. Delfinmägen sind von Plastikmüll verstopft, nicht die Trichter des Kapitals. Freie Marktwirtschaft eben, frei von Windschutzhecken, die das Wüten des Markts einschränken würden.«6 In dieser Wirtschaft sind auch die Ausgeschlossenen, so Franziskus, »nicht ›Ausgebeutete‹, sondern Müll, ›Abfall‹«7 . Letztlich ist die Erhitzungskatastrophe nichts anderes als »die ökologische Variante der Sachherrschaftskatastrophe«8 : »Wir haben Erde, Flora, Fauna und Atmosphäre so lange als toten Stoff behandelt, dass nun etliche Arten – womöglich gar unsere eigene – als Todgeweihte auf diesem Planeten wandeln.«9 Diese Sachherrschaft wird aber nicht von bestimmten Personen gesteuert. Kapitalismus ist eine »passive Politik der Sachherrschaft«10 , während Faschismus als eine »aktive Politik der Sachherrschaft«11 bezeichnet werden kann. Faschist*innen verwandeln andere Menschen in toten Stoff, während der Kapitalismus Strukturen schafft, in denen Natur und Menschen wie Dinge behandelt werden, so als ob sie nur toter Stoff seien.12 Diese Differenz markiert eine permanente Gefahr: das Umkippen einer passiven Politik der Sachherrschaft in eine aktive, den Umschlag von Kapitalismus in Faschismus. Die »kapitalistische Sachherrschaft« ist zugleich eine »soziale Sachherrschaft«, da durch sie auch andere Menschen so behandelt werden, als seien sie Eigentum.13 Eine Gesellschaft, die unter dem Diktat dieser Herrschaft steht, entfremdet die Menschen voneinander. Durch den Zwang zur Verdinglichung der Welt wird diese

6

Ebd., 53.

7

Papst Franziskus, Die Freude des Evangeliums, Nr. 53.

8

E. v. Redecker, Revolution, 41.

9

Ebd.

10

Ebd.

11

Ebd.

12

Vgl. ebd.

13

Vgl. ebd., 32.

III. Mut zur Umkehr

grau, leer und tot. Wir* produzieren Kälte um uns herum und merken nicht, dass wir* selbst immer erfahrungs- und gefühlsärmer, mithin kälter werden. Eine solche Gesellschaft ist der »Nährboden des Totalitarismus«14 . Dem Kapitalismus ist nichts heilig. Er kennt keine Begrenzungen. Ihm wohnt eine eskalierende Dynamik inne, die auch vor kulturellen Tabus nicht Halt macht. Der Kapitalismus verweigert sich der moralischen Einhegung. Redecker demonstriert seinen Expansionsdrang anhand der Knochenmühlen, die der Agrarkapitalismus im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Diese Mühlen waren schier unersättlich. Als die Böden ausgelaugt waren und die Zufuhr von tierischen Knochen ausblieb, wurden Menschenknochen von den »Schlachtfelder[n] der Napoleonischen Kriege – neben Waterloo auch Austerlitz und Leipzig – aus[ge]hoben. Die dort massenhaft begrabenen Knochen von Pferden und Menschen verkauften sie als Düngemittel. Angesichts der Panik um nachlassende Erträge florierte das Geschäft (…).«15 Hier offenbart sich das Ungeheuerliche: »Die Profitaussicht erzeugt den Sog, der nachgerade die Toten aus den Gräbern hebt«16 . Der Kapitalismus zerstört unsere Humanität. »Humanität« stammt nämlich von »humare«: bestatten, beerdigen, begraben. Jedes Mal, wenn wir* über humanes Leben, über Humanität nachdenken, dann sind wir* mit Erde, mit Humus, mit Schmutz, mit Bestattung konfrontiert. Humanes Leben gibt es nicht losgelöst von der Einsicht, dass Menschen Staub sind. Aber humanes Leben gibt es auch nicht losgelöst von dem würdigen Umgang mit den Toten. Humanität bezeichnet die Fähigkeit, die Toten würdig zu verabschieden und sich ihrer zu erinnern.17 In der Erinnerung halten wir* die Würde der Verstorbenen über den Tod hinaus aufrecht. Diese Fähigkeit ist tief in den Kulturgeschichten der Menschheit verwurzelt. Vielleicht ist sie das Fundament von Moralität überhaupt, da es sich hierbei 14

Ebd., 40/41.

15

Ebd., 55.

16

Ebd., 46.

17

Vgl. J. Manemann, Erinnerung an die Zukunft, 35; ferner auch: C. West/T. Smiley, Hope on a Tightrope. Words & Wisdom, Carlsbad Calif. 2008, 23.

65

66

Revolutionäres Christentum

um einen Dienst am anderen Menschen handelt, den dieser nicht mehr erwidern kann. Unser Umgang mit den Toten hat somit Konsequenzen für unser Verständnis von Humanität. Die kapitalistische Eskalation gegen die Humanität nimmt auch heute weiter ihren Lauf, wie die Braunkohleförderung zeigt: »Mit den Dörfern verheizt wird die Heimat ihrer Bewohner:innen. In den Orten, die zur ›Devastierung‹ freigegeben werden, herrscht Endzeitstimmung: Kirchen und Schlösser werden abgerissen, Häuser sind vernagelt. Mit Aufklebern auf den Grabsteinen der Friedhöfe werden Angehörige gesucht, die bestimmen sollen, wohin die Knochen ihrer Vorfahren gebracht werden sollen, die bei Nacht und Nebel ausgegraben werden. Zerstört wird so das Gedächtnis von Generationen.«18 Dagegen formiert sich auch Protest von Christ*innen. Die Initiative Die Kirche(n) im Dorf lassen kämpft gegen die Zerstörung an und situiert sich mit ihrem Engagement im »Kampf für globale Klimagerechtigkeit«.19 Die »kapitalistische Sachherrschaft« besitzt eine Eigendynamik, der der Mensch immer mehr unterliegt. Und so entsteht neben der Knochenmühle eine weitere »Verwertungsmühle«, angetrieben durch die »sachliche Sachherrschaft«20 , den Zwang, den die Dinge über uns ausüben. Karl Marx hat diese Herrschaft unter dem Begriff des »Warenfetischismus« analysiert: »Der Fetisch besteht darin, dass wir dem Ding eine Macht zuschreiben, die ihm gar nicht zukommt. Es erscheint uns nur so, als sei der Wert einer Ware ihre unverrückbare Eigenschaft.«21 Der Wirtschaftswissenschaftler Franz J. Hinkelammert beschreibt, wie die Waren zueinander gesellschaftliche Beziehungen aufbauen:

18

A. Wyputta, Zerstörung durch Braunkohleabbau: Verheizte Heimat, in: taz 18.12.2020.

19

Vgl. Kirche(n) im Dorf lassen: https://www.kirchen-im-dorf-lassen.de (abgerufen am 14.02.2021).

20

E. v. Redecker, Revolution, 75f.

21

Ebd., 54.

III. Mut zur Umkehr

»Der künstliche Salpeter kämpft mit dem natürlichen Salpeter und vernichtet ihn; das Öl kämpft mit der Kohle, das Holz mit dem Plastik; der Kaffee tanzt auf den Weltmärkten auf und ab; das Eisen und der Stahl gehen eine Ehe ein. Nach einem langen Krieg zwischen Kupfer und Plastik schließen die beiden Frieden, der jedoch wahrscheinlich nicht mehr ist als ein Waffenstillstand. Die Eisenbahn streitet mit dem Lastwagen, das Fabrikbrot mit dem Bäckereibrot; andere Waren gehen Bündnisse miteinander ein, und die Fabriken schließen Ehen.«22 Die Waren treten nun ihre Herrschaft über die Menschen an. Sie bestimmen, wer mit wem und gegen wen kämpft.23 Sie verteilen Sympathien und Antipathien zwischen Menschen: »Es entsteht eine verhexte und verdrehte Welt.«24 Die Verwertungsmühle der »kapitalistischen Sachherrschaft« dreht sich scheinbar unaufhaltsam weiter. Das Selbst ist ihr zunehmend wehrlos ausgeliefert. Es beginnt sogar an seiner eignen Verwertung aktiv mitzuwirken. Es gibt sich selbst preis25 : Jede*r wird zum »Eigentümer seines Selbst«, und das eigene Selbst wird schließlich zum Kapital.26 Zum Spielball der eskalierenden Dynamiken geworden, verliert das Selbst zunehmend die Fähigkeit, diese Zusammenhänge aufzudecken. Diese Blindheit für die anonyme, weil »sachliche Sachherrschaft« ist das Einfallstor für Verschwörungserzählungen.27 Der Hass gegen die Verwertung sucht Schuldige, die er verantwortlich machen und an denen er sich austoben kann.28 Wird die Arbeitskraft zur bloßen Ware, dann entscheiden andere über sie: »Interessen und Kalküle der Fabrikbesitzer, Ab-

22

F. J. Hinkelammert, Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus, Freiburg/Münster 1985, 17.

23

Vgl. ebd.

24

Ebd., 18.

25

Vgl. E. v. Redecker, Revolution, 57.

26

Vgl. ebd., 58.

27

Vgl. ebd., 55.

28

Vgl. ebd., 63.

67

68

Revolutionäres Christentum

satzkrisen und Umbrüche auf den Weltmärkten und vieles andere mehr. Und auch wenn der einzelne Fabrikarbeiter individuell noch so tüchtig und fleißig ist: Die ökonomischen Grundlagen seiner Existenz kann er damit, wenn überhaupt, nur noch rudimentär beeinflussen.«29 Gegen dieses Zur-Ware-Werden ergreifen Regierungen immer wieder neue Maßnahmen, um die Eskalation aufzuhalten. Hierzulande wurde etwa durch das Modell des Normalarbeitsverhältnisses gegengesteuert.30 Aber zunehmend werden wieder prekäre Beschäftigungsverhältnisse registriert. Die dauerhafte Hegung des Kapitalismus scheint nicht zu gelingen. Heute breitet sich ein Optimismus aus, der glaubt, dass durch neue Technologien neue kreative Arbeitsverhältnisse realisiert werden würden, die nicht nur Freiräume für Selbstverwirklichung ermöglichen, sondern auch mehr Teilhabe. Der Philosoph ByungChul Han und die Philosophin Michela Marzano diagnostizieren jedoch das Gegenteil: eine »freiwillige Knechtschaft« (M. Marzano), die aus einem »Zusammenprall von Ausbeutung und Freiheit« (B.-C. Han) resultiert und zu einer sich beschleunigenden Ermüdung der Gesellschaft führt. Die neuen Freiheiten bauen oft einen gigantischen Verantwortungsdruck auf, den Einzelne auf Dauer nicht aushalten können. Wo es keine klar vorgegebenen Grenzen mehr gibt zwischen Arbeit und Privatleben, kommt dem Selbst die Freiheit zu, diese Grenzen zu ziehen. Aber vielen Menschen scheint das immer weniger zu gelingen. Sie beuten sich selbst aus, überschreiten ihre Leistungsgrenzen. »Das fiktive Selbsteigentum an der eigenen Arbeitskraft wird ständig ausgestellt, als Identität demonstriert. (…) Flexibilität! Einsatzbereitschaft! Belastbarkeit!«31 Han zufolge sind wir* keine Gehorsamssubjekte mehr, sondern Leistungssubjekte: »Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

29

H.-J. Große Kracht, Würde der Arbeit – Würde jenseits der Arbeit, in: C. Thies (Hg.), Der Wert der Menschenwürde, Paderborn 2009, 149-164, 153.

30

Vgl. Statistisches Bundesamt, Normalarbeitsverhältnis, in: https://www.de statis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Glossar/normalarbeitsverhaelt nis.html (abgerufen am 27.01.2020).

31

E. v. Redecker, Revolution, 87.

III. Mut zur Umkehr

ist nicht mehr die Disziplinargesellschaft, sondern eine Leistungsgesellschaft.«32 Die Leistungsgesellschaft ist eine Gesellschaft aus Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors.33

2.

Die Entfremdung des Selbst

Es ist an der Zeit, die Dynamiken der Selbstentfremdung aufzubrechen. Sie gründen in einer von der »kapitalistischen Sachherrschaft« ausgelösten Weltentfremdung: »das Subjekt ist ›von sich‹ entfremdet, weil es von der Welt entfremdet ist (…)«34 . Die Philosophin Rahel Jaeggi bezeichnet Entfremdung als »eine Beziehung der Beziehungslosigkeit«35 . Es geht also bei der Entfremdung nicht um eine Nicht-Beziehung, sondern um eine »Trennung oder Separierung von etwas, das eigentlich zusammengehört, den Bezugsverlust zwischen Größen, die dennoch in einem Verhältnis zueinander stehen«36 . Mit Entfremdung wird »die Qualität einer Beziehung« bezeichnet, die für einen Freiheitsverlust steht, der in der Unfähigkeit zur »Verwirklichung von wertvollen Zielen« besteht.37 Kennzeichen der Selbstentfremdung ist nach Jaeggi ein Handeln, in dem die handelnde Person nicht selbst präsent ist. Entfremdung heißt also, entfremdet sein von den Handlungsvollzügen: »Man ist entfremdet nicht von etwas (dem eigentlichen Selbst), sondern in seinen Handlungsvollzügen, in dem also, was man tut bzw. wie man es tut.«38 Unser Selbst ist ein Selbst, das in Handlungsvollzügen entsteht.39 Wenn wir* aber den Eindruck haben, wir* kommen als Person in unseren Handlungen nicht mehr vor, 32

B.-C. Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 6 2011, 19.

33

Vgl. ebd.

34

R. Jaeggi, Entfremdung, Berlin 2016, 14.

35

Ebd., 20.

36

Ebd., 48.

37

Ebd., 49/ 60f.

38

Ebd., 220.

39

Vgl. ebd., 262.

69

III. Mut zur Umkehr

ist nicht mehr die Disziplinargesellschaft, sondern eine Leistungsgesellschaft.«32 Die Leistungsgesellschaft ist eine Gesellschaft aus Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors.33

2.

Die Entfremdung des Selbst

Es ist an der Zeit, die Dynamiken der Selbstentfremdung aufzubrechen. Sie gründen in einer von der »kapitalistischen Sachherrschaft« ausgelösten Weltentfremdung: »das Subjekt ist ›von sich‹ entfremdet, weil es von der Welt entfremdet ist (…)«34 . Die Philosophin Rahel Jaeggi bezeichnet Entfremdung als »eine Beziehung der Beziehungslosigkeit«35 . Es geht also bei der Entfremdung nicht um eine Nicht-Beziehung, sondern um eine »Trennung oder Separierung von etwas, das eigentlich zusammengehört, den Bezugsverlust zwischen Größen, die dennoch in einem Verhältnis zueinander stehen«36 . Mit Entfremdung wird »die Qualität einer Beziehung« bezeichnet, die für einen Freiheitsverlust steht, der in der Unfähigkeit zur »Verwirklichung von wertvollen Zielen« besteht.37 Kennzeichen der Selbstentfremdung ist nach Jaeggi ein Handeln, in dem die handelnde Person nicht selbst präsent ist. Entfremdung heißt also, entfremdet sein von den Handlungsvollzügen: »Man ist entfremdet nicht von etwas (dem eigentlichen Selbst), sondern in seinen Handlungsvollzügen, in dem also, was man tut bzw. wie man es tut.«38 Unser Selbst ist ein Selbst, das in Handlungsvollzügen entsteht.39 Wenn wir* aber den Eindruck haben, wir* kommen als Person in unseren Handlungen nicht mehr vor, 32

B.-C. Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 6 2011, 19.

33

Vgl. ebd.

34

R. Jaeggi, Entfremdung, Berlin 2016, 14.

35

Ebd., 20.

36

Ebd., 48.

37

Ebd., 49/ 60f.

38

Ebd., 220.

39

Vgl. ebd., 262.

69

70

Revolutionäres Christentum

oder wenn die Frage, ob wir* etwas tun oder nicht tun, gleichgültig ist, da wir* auf die Handlungen ohnehin keinen Einfluss mehr haben, dann fühlen wir* uns immer mehr erschöpft, und diese Erschöpfung kann in eine Erschöpfungsdepression münden. Die Entfremdung kann aber auch zur Spaltung der Persönlichkeit führen. Das ist der Fall, wenn es einer Person nicht mehr gelingt, die Person, die arbeitet, mit der Person in nichtökonomischen Lebenswelten in Einklang zu bringen. Eine solche Störung zeitigt gefährliche Folgen: Die Person, die sich in der arbeitenden Person nicht mehr erkennt, weigert sich nämlich, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Selbstentfremdung macht krank und droht, in einem zunehmenden Kontrollverlust über das eigene Leben zu enden. Um diese Entfremdungen, die in der »kapitalistischen Sachherrschaft« gründen, aufzubrechen, sind Zustände zu schaffen, in denen der Mensch nicht von seinen eigenen Handlungen entfremdet wird. Die katholische Soziallehre fordert deshalb zu einem grundsätzlichen Perspektivwechsel auf, indem sie den »Subjektcharakter der menschlichen Arbeit« hervorhebt: »›Die Würde der Arbeit wurzelt zutiefst nicht in ihrer objektiven, sondern in ihrer subjektiven Dimension‹ (…), d.h., Würde und Wert der Arbeit resultieren grundsätzlich nicht aus dem, ›was geleistet wird‹.«40 Der Mensch vermag nur dann der Verdinglichung zur Ware entrissen werden, wenn er endlich Ausgangs- und Zielpunkt der Arbeit wird.41 Eine solche Arbeit wäre mehr als Lohnarbeit. Sie würde Anerkennung stiften und Solidarität. Ihre Kennzeichen wären »die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit im freien Arbeitsvollzug«, das Erlebnis der Freude am Ergebnis eigener Arbeit, die Erfahrung, für den Genuss und Gebrauch anderer etwas zu schaffen, die Erkenntnis, durch eigene Arbeit Teil größerer Zusammenhänge zu sein.42 Voraussetzung dafür wäre eine kooperative Ökonomie, in der die andere Person nicht zur Ware, zur Kund*in oder zur 40 H.-J. Große Kracht zitiert hier die Sozialenzyklika »Laborem exercens« (Johannes Paul II. 1981, 6,5): H.-J. Große Kracht, Würde der Arbeit, 158. 41

Vgl. ebd.

42

Vgl. E. v. Redecker, Revolution, 217-219.

III. Mut zur Umkehr

Konkurrent*in verdinglicht, sondern als Mensch anerkannt würde, der zur Kooperation fähig ist.

3.

Revolution als Beziehungsweise43

Die ökologische und klimatische Katastrophe offenbaren das ganze Ausmaß der Entfremdung: von uns selbst, von anderen Menschen und von nichtmenschlichen Lebewesen. Unser Selbstbild gründet in dem, was wir* Humanität nennen. Wenn wir* wissen wollen, wie es um unsere Humanität bestellt ist, sollten wir*, so hat es der Schriftsteller Milan Kundera vorgeschlagen, den Blick auf die Lebewesen richten, die voll und ganz von unserer Barmherzigkeit abhängen: die Tiere. Unser Versagen ist hier offensichtlich.44 In unserer Zivilisation, die in »kapitalistischer Sachherrschaft« gründet, werden Tiere nur als amorphe Verfügungsmasse betrachtet. Wer jedoch glaubt, er*sie könne weiterhin zur Welt eine »Beziehung der Beziehungslosigkeit« pflegen, wird das nicht ungeschoren überstehen. Metz hat die Perspektive benannt, auf die es heute ankommt: »Alle großen sozialen, ökonomischen und ökologischen Fragen können heute eigentlich nur noch durch Veränderungen bei und in uns selbst, in einer Art anthropologischer Revolution gelöst werden. Es geht heute, auch und gerade politisch, darum, daß wir ›anders leben‹ lernen, damit andere überhaupt leben können.«45 Revolution wird hier als eine »Beziehungsweise« (B. Adamczak) verstanden, an der mitzuwirken christlicher Auftrag wäre. Diese Revolution steht für eine Wechselwirkung zwischen Gesellschafts- und Selbsttransformation. Nicht nur die Welt ist unfertig, auch das Ich ist unfertig. Im Lichte dieser Revolution erscheint der Kapitalismus »als Gefüge

43

Die Kapitelüberschrift verdankt sich dem Buchtitel: B. Adamczak, Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017.

44

Vgl. M. Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt 44 2013, 336/336.

45

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 85.

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III. Mut zur Umkehr

Konkurrent*in verdinglicht, sondern als Mensch anerkannt würde, der zur Kooperation fähig ist.

3.

Revolution als Beziehungsweise43

Die ökologische und klimatische Katastrophe offenbaren das ganze Ausmaß der Entfremdung: von uns selbst, von anderen Menschen und von nichtmenschlichen Lebewesen. Unser Selbstbild gründet in dem, was wir* Humanität nennen. Wenn wir* wissen wollen, wie es um unsere Humanität bestellt ist, sollten wir*, so hat es der Schriftsteller Milan Kundera vorgeschlagen, den Blick auf die Lebewesen richten, die voll und ganz von unserer Barmherzigkeit abhängen: die Tiere. Unser Versagen ist hier offensichtlich.44 In unserer Zivilisation, die in »kapitalistischer Sachherrschaft« gründet, werden Tiere nur als amorphe Verfügungsmasse betrachtet. Wer jedoch glaubt, er*sie könne weiterhin zur Welt eine »Beziehung der Beziehungslosigkeit« pflegen, wird das nicht ungeschoren überstehen. Metz hat die Perspektive benannt, auf die es heute ankommt: »Alle großen sozialen, ökonomischen und ökologischen Fragen können heute eigentlich nur noch durch Veränderungen bei und in uns selbst, in einer Art anthropologischer Revolution gelöst werden. Es geht heute, auch und gerade politisch, darum, daß wir ›anders leben‹ lernen, damit andere überhaupt leben können.«45 Revolution wird hier als eine »Beziehungsweise« (B. Adamczak) verstanden, an der mitzuwirken christlicher Auftrag wäre. Diese Revolution steht für eine Wechselwirkung zwischen Gesellschafts- und Selbsttransformation. Nicht nur die Welt ist unfertig, auch das Ich ist unfertig. Im Lichte dieser Revolution erscheint der Kapitalismus »als Gefüge

43

Die Kapitelüberschrift verdankt sich dem Buchtitel: B. Adamczak, Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017.

44

Vgl. M. Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt 44 2013, 336/336.

45

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 85.

71

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Revolutionäres Christentum

von ineinandergreifenden Beziehungsweisen, lebendiger wie dinglicher. Die Warenbeziehung etwa, die die komplexen Beziehungsweisen des Gelds, des Kredits, des Kapitals voraussetzt und in sich aufnimmt, erscheint dann als eine, die Menschen verbindet, indem sie sie trennt.«46 Wer so auf den Kapitalismus blickt, dem wird die Erkenntnis zuteil, dass der Kapitalismus keineswegs souverän über die Bedingungen seiner Veränderungen verfügt. Wenn Revolution eine Beziehungsweise ist und der Kapitalismus als »ein Gefüge von ineinandergreifenden Beziehungen«47 wahrgenommen werden muss, dann besteht die Möglichkeit, den Kapitalismus bis zu seiner Unkenntlichkeit durch neue Beziehungsweisen zu zivilisieren. Anders als die Revolutionen, die wir* aus der Geschichte kennen, zielt die »Revolution für das Leben« auf einen »langsamen, aber allgegenwärtige[n] Umbau des Alltags«, um sich der »Zerstörungswut der kapitalistischen Gesellschaft in den Weg« zu stellen.48 Redecker markiert den Unterschied zu früheren Revolutionen: »Damit ist gerade keine heroische Opferleistung gemeint, sondern eine stetige, tagtägliche Übung. Die Schwarze Feministin Frances Beal formulierte diese Haltung 1968 folgendermaßen: ›Wir müssen anfangen zu verstehen, dass eine Revolution nicht nur die Bereitschaft erfordert, unser Leben aufs Spiel zu setzen und uns töten zu lassen. In gewisser Weise ist es leicht, sich dazu zu bekennen. Für die Revolution zu sterben ist eine einmalige Angelegenheit; für die Revolution zu leben bedeutet, die schwierigere Aufgabe zu übernehmen, unsere alltäglichen Lebensmuster zu ändern.‹ Das Leben für die Revolution setzt weniger auf den Bruch und mehr auf die Wiederholung. Und zwar im Besonderen auf die Wiederholung neuer Routinen und Handlungsmuster.«49 Es geht um eine »Revolution für das Leben«, die sich »der in sachlicher Sachherrschaft verlorengegangenen Welt an[nimmt]«50 . Die46

B. Adamczak, Beziehungsweise Revolution, Pos. 3000.

47

Ebd.

48

E. v. Redecker, Revolution, 147.

49

Ebd., 147/148.

50

Ebd., 194.

III. Mut zur Umkehr

se Revolution hat in unterschiedlichen Feldern bereits begonnen. Sie findet ihren Ausdruck nicht nur in gegenwärtigen öffentlichen Protestformen der Klimagerechtigkeitsbewegungen. Auch im Verborgenen findet sie statt. Fast unbemerkt breitet sie sich aus. So berichtet die Soziologin Lisa Dodson davon, dass im ökonomischen Feld bereits ein »moralischer Untergrund« entstanden sei. Dieser besteht aus vielen widerständigen Aktionen, die nicht einem Plan gehorchen, sondern der Spontaneität entspringen. In den Interviews mit ungehorsamen Manager*innen wird die Wirkmacht von Geschichten offenbar. Die Gesprächspartner*innen erzählen davon, dass sie »zu viel gewusst«51 hätten von den persönlichen Lebensumständen der Menschen, die in dem Unternehmen arbeiteten. Es gibt Manager*innen, die Gegenstände des Unternehmens verteilt haben, andere manipulierten Lohnabrechnungen, wiederum andere duldeten es, wenn Mütter sich während der Arbeitszeit um ihre Kinder kümmerten. Sie alle sahen keinen anderen Ausweg. Dabei beriefen sie sich auf ihr Gewissen und auf Solidarität. Mit ihrem Handeln sprengten sie absichtlich ihr Unternehmensumfeld auf, das auf bloße Maximierung des Profits ausgerichtet war.52 Dodson schreibt: »Sie alle denken, dass arbeitende Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen und ihre Familien versorgen können sollten. Das ist die Art von Gesellschaft, in der sie leben wollen. Auch wenn sie sich nicht in eine ausführliche Diskussion über Fairness stürzten, handelte jeder von ihnen nach der Idee der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, sogar mit einem gewissen persönlichen Risiko. Und obwohl diese Gesten klein sind, sind sie auch störend; sie senden winzige Zuckungen durch ein Marktsystem, das sich auf den Gehorsam gegenüber der Regel des Eigeninteresses verlässt, ohne Rücksicht auf den Schaden für andere.«53

51

L. Dodson, The Moral Underground. How Ordinary Americans Subvert an Unfair Economy, New York/London 2011, 18.

52

Vgl. ebd., 21.

53

Ebd., 25.

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Revolutionäres Christentum

Die Ungehorsamen erzählen davon, dass sie bewusst einer zur Ideologie verkommenen Arbeitsethik aktiv widersprechen wollten, die dazu anleitet, die Gründe für Armut im individuellen Charakter der Mitarbeiter*innen auszumachen.54 Dieser »moralische Untergrund« offenbart ein revolutionäres Gären. Er steht für eine Revolte »als Aufstand dagegen, ›daß es so weitergeht‹, Revolution als – Unterbrechung: eben das scheint (…) der Richtungssinn der anthropologischen Revolution zu sein. Wir Christen haben ein zentrales Wort dafür; es heißt: Umkehr, Umkehr der Herzen.«55

4.

Die Befreiung des Lebens

Die Lebensform »Kapitalismus« bietet keine Lösungen für die von ihr verursachten Probleme. Im Gegenteil! Sie wirkt krisenverstärkend. Deshalb bedarf es einer »Revolution für das Leben«.56 Und die Kirche sollte Teil dieser Revolution werden. So bleibt sie ihrer Verheißung treu, deren Hoffnungssätze »in einen Widerspruch zur gegenwärtig erfahrbaren Wirklichkeit« treten müssen.57 G-ttes Name ist schließlich ein »Verheißungsname, der neue Zukunft erschließt«58 . Durch diesen G-tt werden Glaubende »nicht in den hohen Mittag des Lebens gestellt, sondern in die Mörgenröte eines neuen Tages, in der Nacht und Tag, Vergehendes und Kommendes miteinander ringen«59 . Darum leben Glaubende »nicht in den Tag hinein, sondern über den Tag hinaus in Erwartung der Dinge, die laut den Verheißungen des creator ex nihilo und des Totenerweckers kommen sollen«60 . Anders als Philosoph*innen sollten Christ*innen der Wirklichkeit, wie Moltmann sagt, nicht hin54

Vgl. ebd., 32.

55

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 62.

56

»Revolution für das Leben« hat nichts zu tun mit dem »Marsch für das Leben«, der von fundamentalistischen Christ*innen organisiert wird.

57

J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 13.

58

Ebd., 25.

59

Ebd., 26.

60 Ebd.

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Revolutionäres Christentum

Die Ungehorsamen erzählen davon, dass sie bewusst einer zur Ideologie verkommenen Arbeitsethik aktiv widersprechen wollten, die dazu anleitet, die Gründe für Armut im individuellen Charakter der Mitarbeiter*innen auszumachen.54 Dieser »moralische Untergrund« offenbart ein revolutionäres Gären. Er steht für eine Revolte »als Aufstand dagegen, ›daß es so weitergeht‹, Revolution als – Unterbrechung: eben das scheint (…) der Richtungssinn der anthropologischen Revolution zu sein. Wir Christen haben ein zentrales Wort dafür; es heißt: Umkehr, Umkehr der Herzen.«55

4.

Die Befreiung des Lebens

Die Lebensform »Kapitalismus« bietet keine Lösungen für die von ihr verursachten Probleme. Im Gegenteil! Sie wirkt krisenverstärkend. Deshalb bedarf es einer »Revolution für das Leben«.56 Und die Kirche sollte Teil dieser Revolution werden. So bleibt sie ihrer Verheißung treu, deren Hoffnungssätze »in einen Widerspruch zur gegenwärtig erfahrbaren Wirklichkeit« treten müssen.57 G-ttes Name ist schließlich ein »Verheißungsname, der neue Zukunft erschließt«58 . Durch diesen G-tt werden Glaubende »nicht in den hohen Mittag des Lebens gestellt, sondern in die Mörgenröte eines neuen Tages, in der Nacht und Tag, Vergehendes und Kommendes miteinander ringen«59 . Darum leben Glaubende »nicht in den Tag hinein, sondern über den Tag hinaus in Erwartung der Dinge, die laut den Verheißungen des creator ex nihilo und des Totenerweckers kommen sollen«60 . Anders als Philosoph*innen sollten Christ*innen der Wirklichkeit, wie Moltmann sagt, nicht hin54

Vgl. ebd., 32.

55

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 62.

56

»Revolution für das Leben« hat nichts zu tun mit dem »Marsch für das Leben«, der von fundamentalistischen Christ*innen organisiert wird.

57

J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 13.

58

Ebd., 25.

59

Ebd., 26.

60 Ebd.

III. Mut zur Umkehr

terherhinken und »auf sie mit den Nachtaugen der Eule der Minerva« schauen. Sie sollten »die Wirklichkeit [erleuchten], indem sie ihr Zukunft vorweisen.«61 Dazu bräuchte es aber des Mutes zur Umkehr: »Die Krise (oder die Krankheit) des kirchlichen Lebens besteht (…) nicht nur darin, daß diese Umkehr nicht oder zu wenig stattfindet, sondern daß das Ausbleiben der Umkehr der Herzen unter dem Schein eines nur geglaubten Glaubens auch noch verschleiert wird. Kehren wir Christen in diesem Lande um, oder glauben wir lediglich an die Umkehr und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Umkehr die alten? Folgen wir nach, oder glauben wir nur an die Nachfolge und gehen dann unter dem Deckmantel der geglaubten Nachfolge die alten, immer gleichen Wege? Lieben wir, oder glauben wir an die Liebe und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Liebe die alten Egoisten und Konformisten? Leiden wir mit, oder glauben wir nur an das Mitleiden und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten ›Sympathie‹ allemal die Apathischen? Denn theologisch ist ja gerade darauf zu achten, daß uns die Berufung auf die Gnade nicht zu jener Gnade gerät, die wir mit uns selbst haben.«62 Christ*innen kommt heute die Aufgabe zu, von G-tt und Welt im Kontext der »Revolution für das Leben« zu sprechen. Was das heißt, zeigt eine Relecture des Philipperhymnus durch die evangelische Theologin Dorothee Sölle63 : »Orientiert euch daran, was im Bereich Christi gilt. Denn er, der bei Gott war, hielt es nicht für sein Privateigentum, bei Gott zu sein. Er verließ seine Heimat, verschenkte seine Vorrechte, wurde Sklave

61

Ebd., 30.

62

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 11f.

63

Vgl. D. Sölle, Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten 2

1983, 25.

75

76

Revolutionäres Christentum

und machte keinen Unterschied zwischen sich und anderen. Er übernahm freiwillig die Selbstentfremdung, freiwillig das Zunichte-Werden, den Tod am Kreuz. Daher hat Gott ihn endgültig beheimatet auf der Erde, er hat ihm, der eine Nummer geworden war, einen Namen gegeben, der für alle gilt, damit auf der Erde und im Weltraum in diesem Namen die Fremdherrschaft ein Ende hätte und Mut aufkäme zu sagen, daß Jesus recht hat. Denn das ist gut für Gott.« (Phil 2, 5-11) Wie Sölle schreibt, bietet das Christentum in Jesus keine Neuinterpretation der Welt an, sondern deren Veränderung64 : »Christus, der bei Gott war, sah es nicht als sein Privateigentum an, bei Gott zu sein.«65 Für Sölle lässt »Christus (…) sich in seinem Bei-Gott-Sein nicht zum Gott-Haben verführen. Das Gott-Haben degradierte Gott zum Privateigentum – es machte ihn zu einer Gegebenheit, die man haben, verwerten und zur Produktion bestimmter Bewußtseinsformen benutzen kann. Diese Versuchung, Gott als Privateigentum für sich zu pachten, ist für die Kirche seit ihren Anfängen gegeben.«66 Christus verändert die Welt dadurch, dass er »das Schicksal der Versklavten [übernimmt], nämlich die Selbstentfremdung des Menschen. Ihre modernen Formen sind – um nur einige anzudeuten –: das verdinglichte, sich selbst nur als austauschbare Sache erfahrende Bewußtsein, die sinnlose, in ihrem Ablauf und ihrer Ganzheit unerkennbare Arbeit, der gleichgeschaltete Ablauf von Produktion und Konsum (zwischen denen andere dritte Möglichkeiten nicht mehr entdeckt werden

64

Vgl. ebd., 17.

65

Ebd., 18.

66

Ebd., 19.

III. Mut zur Umkehr

können), die Weltbetrachtung unter der alleinherrschenden Kategorie der Ware und die damit zusammenhängende progressive Verdummung.«67 Das Sklave-Sein, das Christus angenommen hat, »heißt heute: austauschbar sein, in der Nicht-Identität leben, im Schmerz der Entfremdung«68 . Tränen können emotionale Gegenkräfte sein, die die Entfremdungen offenlegen oder sogar für kurze Momente durchbrechen. Mit Tränen der tiefen Verbundenheit beginnt die Unterbrechung der »kapitalistischen Sachherrschaft«. Die Apokalypse des Johannes verweist uns auf die basale Bedeutung der Tränen: »Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.« Es ist zu betonen, dass diese Geste G-ttes nur denen gilt, »die Tränen in den Augen haben, denen, die mitleiden und über die Unterdrückung und die Klage des Volkes weinen und mit ihm auf das Ende hoffen«69 . Bereits 1986 warnte der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker davor, dass wir* angesichts der »Gefahr, die Existenzbasis der Pflanzen, Tiere und Menschen im Ablauf einiger Jahrzehnte zu zerstören«70 , die Tränen nicht rechtzeitig weinen. Und er fuhr fort: »Tränen sind eine Gnade. Sie sind der Beginn des Trostes, der zu uns kommt, wenn wir gewagt haben, dem Schrecken in die Augen zu schauen. Solange wir den Schrecken verdrängen, leben wir in dem Krampf, in dem unsere scheinbar verständigen und entschlossenen Handlungen das Urteil herbeiführen, das sie unserer Vorstellung nach hätten verhindern sollen. Die Träne gibt die falsche Hoffnung auf, wir seien Meister unseres Geschicks. Sie eröffnet den Weg zur wachen Hoffnung auf das, was nicht in unserer Macht steht. Und damit macht sie uns frei zum wirklichen Han-

67

Ebd., 20.

68

Ebd., 21.

69

P. Richard, Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand. Ein Kom-

70

C. F. Weizsäcker, Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für

mentar, Luzern 1996, 236. Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, München/Wien 5

1986, 186.

77

78

Revolutionäres Christentum

deln. Wir sehen dann das erste Licht des neuen Tags. Die Zeit ist reif.«71 All das setzt natürlich voraus, dass es noch so etwas wie Resonanzerfahrungen in unseren (Welt-)Beziehungen gibt. Resonanz ist, Hartmut Rosa zufolge, das Gegenteil von Entfremdung. Entfremdung ist das »Gefühl, dass die Welt ihre Bedeutung verloren hat, dass sie blass und grau geworden ist. Dass mich nichts mehr berührt. Resonanz bedeutet gerade: berührt werden, und auch die Welt erreichen können. Nicht verschlossen, sondern offen sein.«72 Kairós-Empfindlichkeit gründet in resonanten (Welt-)Beziehungen, welche die Voraussetzung dafür sind, von einer Gelegenheit ergriffen zu werden. Resonanzfähigkeit gründet wiederum in Leidempfindlichkeit. Die Gelegenheit ergreifen ist – kairologisch betrachtet – ein revolutionärer Akt, der mit radikaler Umkehr, mit der »Umwendung der Herzen« (J. B. Metz) einhergeht: »Die Umwendung der Herzen (…) ist die radikalste und anspruchsvollste Form der Umwendung und des Umsturzes, und dies schon deswegen, weil die Umkehr der Verhältnisse nie all das ändert, was eigentlich geändert werden müßte. Diese Umkehr der Herzen ist darum aber gerade kein unsichtbarer oder, wie man gerne sagt, ›rein innerlicher‹ Vorgang. Er geht, wenn wir den Zeugnissen der Evangelien trauen, wie ein Ruck durch die Menschen, er greift tief ein in ihre Lebensorientierung, in ihre etablierte Bedürfniswelt und so schließlich auch in die durch sie mitbestimmten Verhältnisse; er verletzt und unterbricht die eigenen Interessen und zielt auf eine Revision vertrauter Praxis.«73 »Umkehr der Herzen« steht also nicht für »die Tyrannei der kleinen Entscheidungen«, die, losgelöst von den Anliegen Anderer, gemein-

71

Ebd., 117.

72

H. Rosa, Warum Achtsamkeit nicht möglich ist, wenn die Welt nicht achtsam ist (und was wir dennoch tun können), in: F. van Rootselaar, Leben in schwierigen Zeiten, Darmstadt 2019 (E-Book), Pos. 854-964, Pos. 925.

73

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 11/12.

III. Mut zur Umkehr

wohlschädliche Folgen mit sich bringt.74 Es geht auch nicht um einen bloßen Konsumverzicht, »den sich die konsumistische Gesellschaft dann und wann pseudo-asketisch verordnet«75 . Die Umkehr der Herzen findet immer mit Anderen und durch Andere statt, ist auf Andere und Anderes ausgerichtet. Bei dieser Umkehr setzt auch Franziskus an. Er fordert angesichts der Dringlichkeit der Situation eine »mutige kulturelle Revolution«76 . Hoffen auf Auferstehung heißt Aufstehen für eine neue Welt. Wir Christ*innen sollten uns daher einer »Revolution für das Leben« anschließen. Redecker sieht in den neuen Protestformen wie Black-LivesMatter, Extinction Rebellion, Fridays-for-Future, Ende Gelände u.a. die »Vorwegnahme einer anderen Ordnung«77 . Dafür steht auch die Bergpredigt. Sie konfrontiert gegenwärtige Regierungsprogramme mit dem »Regierungsprogramm des Himmelreichs« (K. Wengst). Dieses enthält nicht das Versprechen des Wohlstandes. Es heißt: »Euch gehört das Reich Gottes (…). Intendiert ist nicht individueller Reichtum, sondern das Ende von Hunger und Elend, von Weinen und Klagen.«78 Hier sei auch auf die Apostelgeschichte verwiesen: »›Omnia sunt communia‹. Alles soll allen gehören!« (Apg 4, 32) Redecker schlägt vor, »Omnia sunt communia« zu übersetzen mit »›alles soll gemein sein‹. (…) Alles soll allen gehören heißt dann: Alles kann sich frei von Leibeigenschaft organisieren. Und es heißt auch: Alles ist allen anvertraut. Alle sind einander anvertraut.«79 Und sie ergänzt diesen Grundsatz mit dem Prinzip: »Omnia communia sunt. Alles existiert gemeinsam. (…) so sicher in wechselseitiger Regeneration und umsichtiger Instandhaltung stehen, dass alles ineinandergreift, ohne dass man den Gezeiten Gewalt antun müsste. Das befreite Leben trägt sich selbst.«80 74

Vgl. M. Göpel, Die Welt neu denken. Eine Einladung, Berlin 2020, 137ff.

75

T. R. Peters, Evangelische Räte, 94.

76

Papst Franziskus, Laudato si’, Nr. 114.

77

E. v. Redecker, Revolution, 15.

78

K. Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs: Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 34.

79

E. v. Redecker, Revolution, 282.

80 Ebd., 284.

79

80

Revolutionäres Christentum

Ein Leben ohne Gewalt, ein Leben, das durch alle und mit allen getragen wird, das wahrhaft befreit ist, das ist die Vision des Reiches G-ttes. Diese neue Welt, die erhofft wird, steht nicht in beziehungsloser Diskontinuität zur gegenwärtigen. Die Vision der Auferstehung ist, wie Adorno bemerkte, wahrhaft materialistisch, da es sich um eine »Auferstehung des Fleisches«81 handelt. Die Toten stehen mit ihren Körpern auf. Der Körper ist kein Nebenprodukt menschlichen Lebens, das der Seele untergeordnet wird oder von dem sich die Seele befreien müsste. Paulus sieht das in aller Deutlichkeit: Der Mensch wird zu neuem Leben erwachen mit einem neuen Leib, der nicht mehr stirbt und vom Geist belebt wird.82 Paulus denkt die Befreiung vom Leib her. Er setzt beim Körper des Auferstandenen an. Dieser befreite Leib steht in Kontinuität mit dem Körper des Hingerichteten83 : »Im Moment des Wiedererkennens erfahren [die Jünger] (…) Jesus in körperlicher und sinnlicher Kontinuität. Der einzige Unterschied ist, daß er nicht mit demselben sterblichen Körper auferstanden ist, sondern mit einem unsterblichen Körper (Apg 13,34)«.84 Auferstehung ist also eine »körperliche Befreiung«, die schon jetzt beginnt. Und diese Befreiung ist für Paulus »in die Befreiung des gesamten körperlichen Universums eingebettet«85 . Das befreite Leben ist deshalb aus christlicher Perspektive körperlich zu denken. Diese Perspektive ist der Ansatzpunkt zur Solidarität mit allen Kreaturen. Die Antizipation des befreiten Körpers offenbart die Leiden, denen alle Körper, menschliche und nichtmenschliche, ausgesetzt sind. An den Widersprüchen, die wir* buchstäblich am eigenen Leib erfahren, wird die Differenz zwischen dem, was wir* erhoffen, und dem, was wir* erfahren, schmerzlich bewusst.86 Für Paulus ist die Imagination einer neuen Welt die Voraussetzung zur Befreiung dieser Welt. Seine Weltwahrnehmung beruht auf dem von Ebach in Anlehnnug an Ador81

Th. W. Adorno, Negative Dialektik, 207.

82

Vgl. F. J. Hinkelammert, Kapitalismus, 168f.

83

Vgl. ebd., 166.

84

Ebd., 167.

85

Ebd., 193.

86

Vgl. J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 195.

III. Mut zur Umkehr

no formulierten Grundsatz: »Nur wenn das, was ist, nicht alles ist, kann das, was ist, sich ändern.«87 Dabei besitzt Paulus ein klares Wissen davon, dass der Körper in Abhängigkeiten verstrickt ist, die ihn unterdrücken: »Diejenigen aber, denen es wichtig ist, zu den Reichen zu zählen, erliegen der Versuchung und gehen in die Falle, sie verstricken sich in vielfältige unvernünftige und schädliche Begierden, die die Menschen in den Abgrund des Verderbens stürzen. Die Wurzel aller Schlechtigkeit ist nämlich die Liebe zum Geld, und manche, die hinter dem Geld her waren, sind auf einen Irrweg geraten, der sie von der Glaubenswahrheit entfernt hat, und haben sich selbst viele qualvolle Schmerzen zugefügt.« (1 Tim 6, 9-10) Bereits hier wird ein vorkapitalistisches Wirtschaften des ImmerMehr kritisiert, das dem bloßen Zwecke der Geldvermehrung dient. Im Hintergrund steht die Vorstellung einer suffizienten Ökonomie: »Nahrung und Kleidung, Brot und ein Dach über dem Kopf: dies sind die Ziele der Wirtschaft und nicht die Anhäufung von Schätzen. Man ist am Leben orientiert, wenn man Nahrung und Kleidung sucht, und am Tod, wenn man sich der Liebe zum Geld zuwendet.«88 Es reicht jedoch nicht aus, eine Chrematistik zu kritisieren, die Geld (chremata) zum alleinigen Erwerbszweck stilisiert. Das hat auch Aristoteles getan. Verlangt ist heute, wie Redecker aufgezeigt hat, das Aufbrechen der kapitalistischen Eigentumslogik. Christ*innen müssen deshalb in ein neues Verhältnis zum Eigentum eintreten. Die erste Voraussetzung dafür ist die Weigerung, Eigentum als etwas Heiliges anzusehen.89 Die katholische Soziallehre unterstellt aus diesem Grund das »Recht auf persönlichen 87

Hier handelt es sich um eine Umformulierung des in Kapitel II. 1 »Mut zur Trauer« zitierten Satzes von Adorno: J. Ebach, Biblische Erinnerungen. Theologische Reden zur Zeit, Bochum 1993, 26.

88

F. J. Hinkelammert, Kapitalismus, 178.

89

Vgl. W. Palaver, Eigentum: Die Position der katholischen Soziallehre, in: https://www.pfz.at/documents/pdfs/wolfgang_palaver_eigentum_refer atstext.pdf (abgerufen am 06.03.2021), 3.

81

82

Revolutionäres Christentum

Besitz« dem allgemeinen Nutzungsrecht, der »Gemeinbestimmung der (Erden-)Güter«, da »Gott (…) die Güter der Erde allen Menschen zugedacht« hat.90 Diese Priorisierung ist von Brisanz. Sie ist Ausdruck eines »Primärkommunismus« – ein Begriff, den, wie der katholische Sozialethiker Wolfgang Palaver zeigt, der Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, aufgenommen hat, um die Sozialpflichtigkeit des partikulären Eigentums als eine Tatsache des Lebens festzuschreiben, an die Leben gebunden ist und welche selbst das Recht nicht zu ändern vermag.91 Überdies geht mit der Anerkennung von Eigentum in der katholischen Soziallehre keine Anerkennung eines spezifischen Eigentumssystems einher. Kennzeichnend für das katholische Eigentumsverständnis ist Palaver zufolge die in der Sozialenzyklika »Quadragesimo anno« hervorgehobene »Doppelseitigkeit des Eigentums«: seine Sozialund Individualfunktion. Die eine bewahrt vor Individualismus und die andere vor Kollektivismus.92 Fundamental ist jedoch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums: Eigentum muss dem Gemeinwohl dienen.93 Dieses Verständnis hat Konsequenzen. Palaver zitiert »Populorum progressio« (Paul VI. 1967, Nr. 24): »Das Gemeinwohl verlangt deshalb manchmal eine Enteignung von Grundbesitz, wenn dieser wegen seiner Größe, seiner geringen oder überhaupt nicht erfolgten Nutzung, wegen des Elends, das die Bevölkerung durch ihn erfährt, wegen eines beträchtlichen Schadens, den die Interessen des Landes erleiden, dem Gemeinwohl hemmend im Wege steht.«94 Bereits in »Gaudium et spes« (Zweites Vatikanisches Konzil 1965, Nr. 69) steht: »Wer aber sich in einer äußersten Notlage befindet, hat das Recht, vom Reichtum anderer das Benötigte an sich zu bringen.« Mit Hinkelammert ist noch zu ergänzen: »Ein Eigentumssystem ist ausschließlich in dem Maße legitim, in dem 90 Ebd., 6. 91

Vgl. ebd., 8. Siehe dazu: O. v. Nell-Breuning, Säkularisation und Utopie, in: Theologie und Philosophie 2/1968, 237-241, 239.

92

Vgl. W. Palaver, Eigentum, 4. Siehe dazu die entsprechenden Stellen in »Quadragesimo anno« (Pius XI. 1931), 45 u. 46.

93

Vgl. ebd., 11.

94

Ebd.

III. Mut zur Umkehr

es mit dem realen und materiellen Leben aller vereinbar ist. Es muß also mit der Forderung eines jeden vereinbar sein, sein Leben durch seine eigene Arbeit sichern zu können. Sofern das Privateigentum nicht mit dieser Forderung vereinbar ist, ist es illegitim.«95 Und hinzuzufügen ist heute: Ein Eigentumssystem ist ausschließlich in dem Maße legitim, in dem es mit dem realen Leben auch der nichtmenschlichen Lebewesen vereinbar ist. Die »Revolution für das Leben« zielt nicht auf die Abschaffung des Eigentums, sondern auf die Transformation desselben.96 Während »modernes Eigentum (…) den Besitzer nicht nur zu Kontrolle und Gebrauch [berechtigt], sondern auch zu Missbrauch und Zerstörung desselben«97 , kommt es jetzt darauf an, Eigentum als Anvertrautes zu pflegen.98 Redecker verweist in diesem Zusammenhang auf indigene Widerstandsformen: »Die Proteste unter dem Motto ›Wasser ist Leben‹ – ›mni wiconi‹ auf Lakota – berufen sich nicht auf moderne Eigentumsrechte, sondern auf Fürsorgepflichten gegenüber Land und Lebensgrundlagen. Wir könnten pflegen, was uns anvertraut ist, anstatt es zu unterwerfen.«99 Eigentum steht hier nicht für Ware, nicht für Besitz im Sinne des Beherrschens.100 Es geht um eine »neue Beziehung zum Land«101 , in der dieses nicht als »Besitzobjekt« erscheint, sondern als ein Territorium, das »immer schon geteilt [ist], und zwar mit allem, was darauf und davon lebt«102 . Die Vergesellschaftung, von der zu sprechen wäre, bedeutet nicht, »alle Güter in Allgemeinbesitz zu überführen, sondern sie von der Sachherrschaft zu befreien«103 . So wird deutlich, dass »Erde (…) kein Eigentum ist. Sie ist Leben«104 . Und Leben bedeutet immer 95

F. J. Hinkelammert, Kapitalismus, 307.

96

Vgl. E. v. Redecker, Revolution, 263.

97

Ebd., 22.

98

Vgl. ebd., 16.

99

Ebd.

100 Vgl. ebd., 292. 101 Ebd., 270. 102 Ebd., 271. 103 Ebd. 104 Ebd., 274.

83

84

Revolutionäres Christentum

die »Abhängigkeit von anderem Leben«105 . Eine Kirche im Horizont einer »Revolution für das Leben« würde in ein neues Verhältnis zu ihren Besitztümern treten, diese nicht als ihr Eigentum verwalten, sondern ihre Räume, Plätze, Wiesen … frei geben für alle, unabhängig von einer Kirchenmitgliedschaft, und dabei auch die nichtmenschlichen Lebewesen einbeziehen. »Revolution für das Leben« bezeichnet »eine Veränderung in den Grundlagen eines ökonomischen, politischen, moralischen und seelischen Systems. (…) Darum ist Revolution keine begrenzte Übergangszeit, sondern eine neue Erfahrung der Zeit selbst.«106 Aber worin besteht der Beitrag von Christ*innen? Vor allem an dieser Stelle lohnt es sich, die Erkenntnisse aus den Debatten über die »Theologie der Revolution« in den 1960er-Jahren aufzugreifen, insbesondere die Arbeiten von Richard Shaull, Helmut Gollwitzer und Jürgen Moltmann. Gollwitzer setzt das Reich G-ttes wie folgt ins Verhältnis zur Revolution: 1. »›Reich Gottes‹ meint die alle anderen Veränderungen übertreffende Revolution. 2. ›Reich Gottes‹ meint diejenige Revolution, die die Welt aus dem Verderben rettet und ans Ziel bringt. 3. ›Reich Gottes‹ meint eine Revolution, die wir nicht machen können, die aber an uns geschehen muß. 4. ›Reich Gottes‹ ist Inhalt einer Verheißung, die die Gegenwart revolutioniert. Die Revolution, die wir nicht machen, befähigt uns zu der Revolution, die wir zu machen haben. 5. (…) 6. Das Hören dieser Verheißung macht in der Gegenwart frei zum Bewahren wie zum Verändern.«107

Christ*innen als Akteur*innen der »Revolution für das Leben« könnten helfen, der Versuchung zur Rechthaberei zu widerstehen, 105 Ebd. 106 J. Moltmann, Gott in der Revolution, in: E. Feil/R. Weth (Hg.), Diskussion zur »Theologie der Revolution«, 65-81, 66f. 107 H. Gollwitzer, Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft, 45.

III. Mut zur Umkehr

der alle revolutionären Bewegungen ausgesetzt sind.108 Rechthaberei ist deshalb besonders gefährlich, weil sie dazu verleiten könnte, gerade im Namen des Guten eine neue Herrschaft zu begründen und Andersdenkende als Feinde zu diskriminieren. Problematisch ist auch ein Blick auf die Gegenwart, der sich in der Negation derselben erschöpft. Damit dürfen sich Christ*innen nicht begnügen. Sie haben Sorge dafür zu tragen, »daß jetzt schon Menschen aus schlechterem zu besserem Leben verholfen werden muß«. Es besteht auch die Gefahr, in einen »zukunftslosen Pragmatismus« zu verfallen, indem das Ziel zum »bloßen Fernziel« wird und »zum Gegenstand bloßer Lippenbekenntnisse«. Der Blick auf das Reich G-ttes bewahrt davor, sich selbst absolut zu setzen und von den Anhänger*innen der Revolution »bedingungsloses Mitmachen zu verlangen«. Insbesondere Christ*innen haben »in die politische Bewegung den Respekt vor der Freiheit des einzelnen Gewissens ein[zubringen] und (…) für die Respektierung dieser Freiheit [zu kämpfen], zugleich für die Bereitschaft, nach dem Wahrheitsmoment auf der Gegenseite zu fragen und sich dadurch korrigieren zu lassen«. Revolutionäres Handeln ist »etwas Unnatürliches«, das zwar nicht »der Natur zuwiderläuft«, sich aber »mit den Gesetzen der Natur nicht erfassen läßt«109 . Jede Revolution überführt die biologistische Vorstellung von Gesellschaft als natürlichem Organismus der Falschheit: Gesellschaft ist nicht Natur.110 Die »Revolution für das Leben« entzündet sich aus der Nähe zum Leben. Ihr Ziel ist eine Neufiguration des Zusammenlebens. Es geht ihr darum, Menschen und Natur in Resonanz zu bringen. Insofern kämpft sie nicht nur für die Rechte der Anteillosen, sondern auch für die Rechte nichtmenschlicher Lebewesen. Die »Revolution für das Leben« gründet in der Verpflichtung, so formuliert es Redecker, »die Gezeiten« des Lebendigen aufrechtzuerhalten. Sie drückt sich deshalb in einer »sorgenden Einstellung«111 aus. 108 Die folgenden Gedanken und Zitate stammen von: Ebd., 41f. 109 G. Hindrichs, Philosophie der Revolution, Berlin 2017, 10. 110 Vgl. ebd. 111 E. v. Redecker, Revolution, 274.

85

IV. Verwundbares Leben

1.

Demokratiepassion

Es ist die Sorge, die uns für Verwundbarkeiten sensibilisiert. Wenn heute von Verwundbarkeiten gesprochen wird, dann geht es häufig um die Vulnerabilität von Systemen. So sprachen US-Strategen in den 1980er Jahren angesichts der Sowjet-Raketen von einem »Fenster der Verwundbarkeit«, das es zu schließen gelte.1 Auch in den Klimaschutzdebatten wird auf die Gefahr vulnerabler Systeme hingewiesen, die durch Anpassungen an die Veränderungsprozesse in resiliente Systeme verwandelt werden müssten. Der Umweltökonom Dennis Meadows versteht unter Resilienz die Fähigkeit, Schock zu absorbieren, um schnell die Fähigkeit wiederzuerlangen, essentielle Funktionen auszuüben. Er denkt systemisch: »Wenn ein resilientes System fortfährt, ohne Unterbrechung zu funktionieren, dann ist es stabil. Wenn ein resilientes System das Funktionieren kurzfristig aufkündigt und dann fortsetzt, ist es flexibel. Wenn ein System nicht resilient ist, ist es brüchig, zerbrechlich.«2 Die Kirche hätte genau andersherum zu denken: Sie muss brüchig und zerbrechlich sein. Sie darf ihr »Fenster der Verwundbar-

1

O.A. »Mehr als erlaubt«, Spiegel 27.05.1985, in: https://www.spiegel.de/spie

2

D. Meadows, The Limits to Growth and the Future of Humanity. Presenta-

gel/print/d-13515095.html (abgerufen am 14.02.2021). tion at Amerika Haus On behalf of the Carson Center, München 4. December 2012, in: https://www.carsoncenter.uni-muenchen.de/download/events/po sters/121204_meadows_presentation.pdf (abgerufen am 11.03.2021).

88

Revolutionäres Christentum

keit«3 nicht schließen. An dieser Stelle möchte ich nochmal an Cohen erinnern: »There is a crack, a crack in everything, that’s how the light gets in.« Es braucht Risse, es braucht Fenster der Verwundbarkeiten, damit Neues eintreten kann. Und nicht nur das: Vulnerabilität ist für Kirche als Lebensform keine Schwäche. Sie ist nicht das Gegenteil von Widerstandsfestigkeit, sondern deren Bedingung. Widerstandsfestigkeit, die Fähigkeit, unter schwierigsten Bedingungen ein humanes Leben zu führen, setzt Bindungsfähigkeit voraus, und diese gründet wiederum in der Fähigkeit, durch die tiefen Anliegen Anderer verwundet zu werden. Ohne Verwundbarkeit gibt es also keine Widerstandsfestigkeit. Menschen, die widerstandsfest sind, fragen in katastrophalen Situationen nicht zuerst »Was kann ich tun?«, sondern »Was kann und muss ich lassen und loslassen?«4 . Vielen Menschen mangelt es jedoch an dem grundlegenden Vermögen loszulassen, sie möchten die Welt um sie herum ihren eigenen Bedürfnissen gemäß verändern. Dadurch verhindern sie, dass sich Neues einstellen kann.5 Um die Fähigkeit der Verwundbarkeit nicht zu verlieren, hätte sich Kirche als Lebensform von der Sorge um das (Zusammen-)Leben her neu zu entdecken. Und das gilt auch für die Demokratie, und zwar gerade heute, angesichts zunehmender demokratiefeindlicher Tendenzen. Am 17. Juli 2020 starb der bekannte Bürgerrechtler John Lewis. Am Tag seiner Beerdigung veröffentlichte die New York Times seinen letzten Text.6 Ein politisches Testament, ein eindringlicher Aufruf an die Bürger*innen zur Zivilcourage: »Wenn du etwas siehst, das nicht rechtens ist, dann musst du etwas sagen. Du musst etwas 3

Siehe das gleichnamige Gedicht von Dorothee Sölle, in: D. Sölle, Ein Volk ohne Vision geht zugrunde. Anmerkungen zur deutschen Gegenwart und zur nationalen Identität, Wuppertal 1986, 35/36.

4

M. Gruhl, Die Strategie der Stehauf-Menschen. Krisen meistern mit Resilienz, Freiburg 2010, 36.

5

Vgl. ebd., 41.

6

Die folgenden Ausführungen habe ich meinem Beitrag in der Frankfurter Rundschau entnommen: J. Manemann, Demokratie ist kein Zustand. Sie ist Tat, in: Frankfurter Rundschau 21.11.2020.

IV. Verwundbares Leben

tun.« Und dann folgen Sätze, die in den folgenden Wochen immer wieder von unterschiedlichen Menschen an unterschiedlichen Orten zitiert wurden: »Demokratie ist kein Zustand. Sie ist Tat (…).«7 Es waren diese Sätze, mit denen auch Kamala Harris am 7. November 2020 ihre Siegesrede begann. Lewis’ Demokratiedefinition erinnert an einen Vortrag, den der US-amerikanische Philosoph John Dewey 1939 hielt. Den Faschismus vor Augen plädierte dieser entschieden für die Demokratie als Lebensform.8 Für Lewis und Dewey war klar: Eine gefährdete Demokratie kann nur überleben, wenn sie sich immer wieder neu als Lebensform entdeckt. Auch hierzulande breiten sich demokratiefeindliche Tendenzen aus, oft sogar unter dem Deckmantel der Demokratie.9 Doch anstatt in dieser Situation Demokratie als Lebensform zu stärken, wird mehr über Systeme, über Institutionen und Strukturen gesprochen. Demokratische Institutionen sind wichtig. Wer wollte das bestreiten? Sie sind auch wichtig, um Demokratie im Alltag zu leben. Sie helfen, Demokratie als Lebensform zu stabilisieren. Aber zu meinen, Institutionen seien das wichtigste Fundament der Demokratie, ist gefährlich. Lebensformen können nämlich ohne Institutionen existieren; Institutionen können aber nicht, allenfalls nur kurzfristig, ohne Lebensformen existieren.10 Wenn wir* von Demokratie als Lebensform sprechen, dann geht es um soziale Alltagspraktiken. Dewey war davon überzeugt, dass das Herz und auch die letzte Garantie der Demokratie in freien Zusammenkünften von Nachbarn an der Straßenecke liegen, bei denen hin und her diskutiert wird, was diese in unzensierten Nachrichten des Tages gelesen haben. Für ihn war es offensichtlich, 7

J. Lewis, Together, You Can Redeem the Soul of Our Nation, in: New York Times 30.07.2020.

8

Siehe: J. Dewey, Creative Democracy – The Task Before Us, in: https://www. philosophie.uni-muenchen.de/studium/das_fach/warum_phil_ueberhaup t/dewey_creative_democracy.pdf (abgerufen am 07.03.2021).

9

Siehe zu meinen Ausführungen über das rechtspopulistische und identitäre Wir: J. Manemann, Demokratie und Emotion. Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet, Bielefeld 2019, 11-34.

10

Dieser Passus stammt aus: Ebd., 7f.

89

90

Revolutionäres Christentum

dass das verbriefte Recht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nichts bewirken kann, wenn im alltäglichen Leben die Kommunikation »durch gegenseitiges Misstrauen, durch Missbrauch, durch Angst und Hass erstickt wird«11 . Demokratie als Lebensform ist in Gefahr, wenn sich in Gesellschaft und Politik ein das Zusammenleben zersetzendes Misstrauen ausbreitet, das sich häufig aus Ressentiments speist. Das zeigt ein Blick auf die »Querdenken«-Demonstrationen. Ressentiment ist eine verspätete Rache für eine Erniedrigung oder Ohnmachtserfahrung, die bereits in der Vergangenheit zugefügt wurde.12 Das aktuelle Objekt der Aggression ist deshalb nur ein Ersatzobjekt, welches in keinerlei Beziehung zur erfahrenen Ohnmacht oder Erniedrigung steht. Um Ressentiments zu bekämpfen, müssen deshalb die Ursachen, die in der Vergangenheit liegen, aufgedeckt werden. Die Anti-Corona-Proteste haben demnach nicht viel mit der gegenwärtigen Corona-Politik zu tun. Das legen auch Aussagen von Psycholog*innen nahe, die darauf aufmerksam machen, dass durch die Pandemie zumeist keine neuen psychischen Störungen verursacht, aber bereits bestehende massiv verstärkt werden. Wut, Zorn und Hass, die sich während der Proteste entladen, wären somit nicht in erster Linie durch die Corona-Maßnahmen verursacht worden, sondern durch weiter zurückliegende Erfahrungen. Bei den Anti-Corona-Protesten »sind nicht nur vermummte Neonazis [dabei], sondern genauso Hippies mit Rasta-Mützen, Studierende (›Studenten stehen auf!‹), Unternehmer*innen (›Unternehmer stehen auf!‹), Umweltschützer*innen, Eltern (›Eltern stehen auf!‹) und Gläubige, (…) Rentner*innen und Arbeitnehmer*innen, Frauen wie Männer, weiße wie POCs. Dass der Protest so vielfältig daherkommt, darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er einen demokratiefeindlichen, regressiven und

11

J. Dewey, Creative Democracy.

12

Ich beziehe mich bei diesen Ausführungen auf: R. Müller, Ressentiment. Wiege des Populismus, Dresden 2019. Dazu auch: J. Manemann, Demokratie und Emotion, 60f.

IV. Verwundbares Leben

antisemitischen Konsens teilt.«13 Viele Teilnehmende gehören zur sogenannten Mittelschicht.14 Diese wird schon seit vielen Jahren von der Angst vor dem sozialen Abstieg geplagt. Eine solche Angst kann Angst vor Kontrollverlust mit sich bringen, welche mit Ohnmachtserfahrungen einhergeht. Das ist der Boden, auf dem Ressentiment gedeiht. Rechtspopulist*innen, Verschwörungsideolog*innen und Rechtsextremist*innen nutzen dieses Ressentiment, indem sie den Menschen, die Ressentiments hegen, vorgaukeln, die eigene Selbstbehauptung gelinge nur durch die Abwertung anderer und die Aggression gegen andere.15 Ihr Ziel ist es, eine populistische Masse zu erzeugen. Eine solche Masse wirkt ansteckend. Der Dresdner Dramaturg Robert Koall erzählt von der Ansteckungsgefahr der Masse in folgender Szene: »Beim Haarewaschen sagt die Friseurin zu mir: ›Ich bin dreimal zu Pegida-Demos gegangen, um mit den Leuten zu reden, die da

13

E. Fast/B. Winkler, »Querdenken« heißt vereint sein im Kampf gegen die liberale und offene Gesellschaft, in: Belltower News 13.11.2020 (https://w ww.belltower.news/leipzig-nachlese-querdenken-heisst-vereint-sein-im-k ampf-gegen-die-liberale-und-offene-gesellschaft-106861/), abgerufen am 02.04.2021.

14

Diese Einschätzung beruht auf eigenen Eindrücken beobachtender Teilnahme. Unterstützt wird diese durch: O. Nachtwey/R. Schäfer/N. Frei, Politische Soziologie der Corona-Proteste, Basel 17.12.2020, 51. Eine weitere soeben erschiene Studie über die Zustimmung zu Verschwörungserzählungen kommt allerdings zu dem Schluss: »Teilnehmende, die den präsentierten Aussagen stärker zustimmten, waren im Durchschnitt jünger, gestresster und berichteten über mehr Paranoia-ähnliche Erfahrungen (zum Beispiel ›Fremde und Freunde schauen mich kritisch an‹). Sie wiesen ausserdem eine politisch extremere Haltung sowie ein geringeres Bildungsniveau auf. Die Zustimmungswerte unterschieden sich nicht zwischen Geschlechtern.« (Verschwörungstheorien und Denkverzerrungen in der Covid-19-Pandemie, in: https://www.unibas.ch/de/Aktuell/News/Uni-Research/Verschwoerungs theorien-und-Denkverzerrungen-in-der-Covid-19-Pandemie.html; abgerufen am 12.04.2021).

15

Vgl. R. Müller, Ressentiment, 140.

91

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mitlaufen. Die allermeisten sind weitergelaufen, wenn ich sie angesprochen habe. Einmal bin ich beschimpft worden mit einem Wort, das war so schlimm, dass ich es jetzt nicht sagen möchte. Mit einem Mann, er war Ingenieur, habe ich diskutieren können, zum Beispiel über den Unterschied zwischen Flüchtlingen und Zuwanderern und so. Da sagt der plötzlich: ›Eigentlich brauch ich keinen einzigen von den Kanaken!‹ Das Irre war, dass der danach total erschrocken ist über das, was er da gerade gesagt hatte. ›Ich glaub, ich hab mich hier angesteckt‹, hat der gesagt, er würde sonst gar nicht so reden. Da hab ich gesagt: ›Sehen Sie! Man kann sich hier anstecken!‹ Ich glaube, das war 1927 auch so. Ich glaube, dass ganz viele, die dann 1933 krank waren, sich irgendwann vorher angesteckt haben.‹«16 Für Lewis, Dewey und Harris ist klar: Demokratie kann nur überleben, wenn sie als Lebensform lebendig bleibt. Und dazu braucht es Bürger*innen, die sich nicht nur als Wähler*innen, sondern als Akteur*innen der Demokratie begreifen. Die Leidenschaft für die Demokratie setzt bei den Bürger*innen zwei Fähigkeiten voraus: Leidempfindlichkeit und Differenzsensibilität. Leidempfindlichkeit heißt hier, nicht in der Wahrnehmung des eigenen Leids gefangen zu sein – ein Kennzeichen der Anti-Corona-Proteste, deren Teilnehmer*innen unsensibel gegenüber den Verwundbarkeiten anderer Menschen durch das Virus sind. Es heißt, fähig zu sein, durch das Leid Anderer verwundet zu werden. Differenzsensibilität steht für die Anerkennung Anderer in ihrem Anderssein.17 In liberalen Demokratien ist heutzutage beides, Leidempfindlichkeit und Differenzsensibilität, bedroht. Gerade angesichts gegenwärtiger Verkümmerungstendenzen unseres politischen Einfühlungsvermögens brauchen wir* einen radikalen Demokratismus der Mitleidenschaft.18 Dieser ist auch das Therapeutikum gegen die Ausbreitung von Ressentiments.

16

R. Koall, Dresden. Ein Winter mit Pegida, München 2015 (E-Book), Pos. 45.

17

Vgl. zu Leidempfindlichkeit und Differenzsensibilität: J. Manemann, Demokratie und Emotion, 68f.

18

Vgl. ebd., 10.

IV. Verwundbares Leben

Die Kirche kämpft heute gegen die sich ausbreitende Apotheose des Hasses. Dabei bezieht sie nicht nur klar und deutlich Stellung gegen demokratiefeindliche Tendenzen und die mit ihnen einhergehende gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Sie engagiert sich auch vor Ort mit konkreten Projekten. So etwa im ökumenischen Netzwerk »Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus« oder im Projekt »Kompetent für Demokratie. Beratung und Bildung für eine offene Kirche«. Susanne Brandes, Leiterin dieses Projektes, rät zu folgendem Umgang mit Rechtspopulist*innen: 1. »Arbeiten Sie Spaltungen entgegen: Rechtspopulist*innen versuchen häufig, ihre Kritiker*innen gegeneinander auszuspielen. Daher ist Solidarität mit den Opfern rechter Angriffe unbedingt erforderlich. 2. Legen Sie den Fokus auf die demokratische Mehrheit: Die deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschland lehnt die populistischen Angriffe auf das demokratische System ab. Oft hilft es mehr, sich auf die Demokratieunterstützer*innen zu konzentrieren als sich an den destruktiven, feindseligen Kräften aufzureiben. 3. Schweigen Sie dennoch nicht zu menschenfeindlichen Angriffen, beziehen Sie klar und transparent Stellung. 4. Wiederholen Sie populistische Falschaussagen nicht: Sagen Sie also nicht: ›Es stimmt gar nicht, dass es keinen Klimawandel gibt…‹, sondern fokussieren Sie sich auf die sachliche Ebene: ›Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Erderwärmung durch menschliches Handeln versursacht wird…‹ 5. Versuchen Sie, sich auf die wesentlichen Fakten zu begrenzen. Der große Reiz des Rechtspopulismus besteht gerade in seiner Vereinfachung, daher sind zu komplexe Argumente oft nicht hilfreich. 6. Verändern Sie den kommunikativen Rahmen durch Framing. Framing bedeutet, einige Aspekte einer wahrgenommenen Realität so hervorzuheben, dass eine bestimmte moralische Interpretation oder Bewertung befördert wird. Betonen Sie zum Bei-

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Revolutionäres Christentum

spiel die Chancen der Migration und vermeiden Sie die Wiederholung von Begriffen wie ›Flüchtlingskrise‹.«19 Die von der Kirche angebotenen Fortbildungen werden zu Recht von den Referent*innen als Formen des Widerstandes gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verstanden: »Dabei ist es uns wichtig, gegen alle Anfeindungen solidarisch an der Seite der Minderheiten zu stehen, auch wenn dies bedeutet, dafür selbst Opfer von Angriffen zu werden.«20 Was für die Demokratie gilt, das gilt erst recht für das Christentum. Christum ist kein Zustand, sondern eine Tat. Und: »Jede Tat ist Saat auf Hoffnung.«21 Ohne die Tat werden Christ*innen die eigene religiöse Entfremdung nicht überwinden. Diese Entfremdung hat ihre Ursache nämlich nicht nur in vermachteten Strukturen, die Missbrauch verursachen und fördern, sondern auch im gesellschaftlichen Desengagement. Heute fragen sich immer mehr Christ*innen, wozu ihr Christentum überhaupt noch nutzt, »weil sie in ihm keine Kraft der Zukunft finden können. (…) Wenn Christen wieder wissen, wozu sie da sind, werden sie auch wieder erfahren, wer sie eigentlich sind.«22 Allerdings befindet sich die Kirche im Kampf gegen demokratiefeindliche Tendenzen in einem performativen Widerspruch. Nach außen setzt sie sich für Demokratie und für den »Ausschluss von Ausschlüssen«23 ein, intern greifen immer noch vielfältige Exklusionsmechanismen. Sie steht deshalb heute vor der Aufgabe, im Zusammenhang einer »Revolution für das Leben« ihre gesellschaftliche Präsenz derart neu zu leben, dass mit dieser Neuverortung auch eine Selbsttransformation einhergeht. 19

S. Brandes, in: A. Honnacker, Demokratie glaubwürdig gestalten. Ein Gespräch mit Susanne Brandes, in: weiter denken. Journal für Philosophie 2/2019, https://weiter-denken-journal.de/herbst_2019_faschistische_versu chungen/Interview_Brandes.php (abgerufen am 19.02.2021).

20

Zu den Zitaten: ebd.

21

J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 193f.

22

J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 69.

23

P. Rottländer, Ethische Rechtfertigung weltweiter Solidarität, 121.

IV. Verwundbares Leben

2.

Kirche jenseits »weißer Religion«24

Zur gesellschaftlichen Präsenz der Kirche gehört ihr Engagement für Menschen, die nicht zählen, keine Rechte und keinen Anteil an der Gesellschaft haben. Viele Christ*innen und auch die Institution Kirche setzen sich auf unterschiedlichen Ebenen für Geflüchtete ein und erheben immer wieder energisch ihre Stimme, um Ungerechtigkeiten öffentlich zu machen. Im Fokus sind hier insbesondere »Menschen ohne Papiere« bzw. »Menschen ohne Aufenthaltsstatus«.25 Es gibt aber auch Menschen, die mit Rechten ausgestattet und dennoch häufig anteillos sind. So beschreibt der Psychiater Frantz Fanon seine eigene Anteillosigkeit mit eindringlichen Worten: »Ich wollte Mensch sein, nur Mensch. (…) Wo mich situieren? Oder wenn ihr lieber wollt: wo mich verkriechen? (…) Das viele Weiß, das mich ausbrennt… (…).«26 Egal, was Fanon versucht, er findet keinen Platz in der Welt: »Jedesmal war ich der Verlierer.«27 Fanon leidet nicht an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern am »Gefühl der Nichtexistenz«28 . Als ein Kriegsversehrter zu seinem Bruder sagt: »Finde dich mit deiner Hautfarbe ab, so wie ich mich mit meinem Stumpf abfinde, wir sind alle beide Unfallgeschädigte.«, reagiert Fanon empört: »(…) mit all meinem Sein lehne ich diese Amputation ab.«29 Heute von der Präsenz der Kirche in der Gesellschaft zu reden heißt, Rassifizierungen in der Gesellschaft und in der Kirche aufzudecken. Mit »Rassifizierung« werden »fortwährende (…) Konstruktions- und Rekonstruktionsprozesse von ›Rasse‹«30 be24

Die folgenden Ausführungen stammen aus: J. Manemann, Kirche jenseits weißer Religion, 331-337.

25

An dieser Stelle sei auf den »Jesuiten-Flüchtlingsdienst« hingewiesen: https

26

F. Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt 1985, 82f.

27

Ebd., 96.

28

Ebd., 101.

29

Ebd., 102.

30

E. Wollrad, Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Ras-

://www.jrs-germany.org/ (abgerufen am 20.03.2021).

sismus, Kultur und Religion, Königstein im Taunus 2005, 127.

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zeichnet. Eine differenzsensible Kirche muss aber die kritischen Anfragen zuerst an sich selbst adressieren und dann an die Gesellschaft. Allerdings ist die Frage nach dem Rassismus in der Kirche für die Kirche hierzulande kein Thema. Der Verweis auf die antirassistische Botschaft scheint, so die Unterstellung, gegen Rassismus zu immunisieren. Dieses Selbstbild gilt es aufzubrechen. Und so fordert die katholische Theologin Maureen H. O’Connell eine Kirche »jenseits weißer Religion«. Nun hat die Kirche hierzulande zwar erkannt, welche Gewalt vom Rassismus in der Gesellschaft ausgeht.31 Aber sie hat zu wenig an ihren eigenen Strukturen gearbeitet. Sie müsste dazu den Blick auf das Eigene werfen und dessen hegemoniale Struktur erkennen, die weiß ist. Der Rassismus innerhalb der Kirche ist keineswegs leicht zu bestimmen, da es sich beim Rassismus um ein »interlocking system of oppression«32 handelt. Eines ist aber offensichtlich: »Weißsein ist nicht lediglich eine unter mehreren ›rassistisch‹ konstruierten Varianten, sondern vielmehr der Kern rassistischer Hegemonie, Initiator und Motor von Rassifizierungsprozessen sowie Ordnungsprinzip gesellschaftlicher Beziehungen und Ressourcenverteilung.«33 Peggy McIntosh, Frauenforscherin und Aktivistin, hat eine Auflistung erstellt, die hilft, sensibel zu werden für die Bedeutung des Weißseins: » (…) 2. I can avoid spending time with people whom I was trained to mistrust and who have learned to mistrust my kind or me. 3. If I should need to move, I can be pretty sure of renting or purchasing housing in an area which I can afford and in which I would want to live. 4. I can be pretty sure that my neighbors in such a location will be neutral or pleasant to me.  

31

Vgl. Päpstliche Kommission Justitia et Pax, Die Kirche und der Rassismus. Für eine brüderliche Gesellschaft, 03.11.1988, Bonn 1989.

32

P. Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York/London 1991, 222.

33

E. Wollrad, Weißsein, 123.

IV. Verwundbares Leben

5. I can go shopping alone most of the time, pretty well assured that I will not be followed or harassed. (…) 7. When I am told about our national heritage or about ›civilization,‹ I am shown that people of my color made it what it is. (…).«34 Wer ein kritisches Bewusstsein vom Weißsein besitzt, wird nicht nur den Mythos von der Leistungsgesellschaft, in der jede*r etwas werden kann, und die damit einhergehende Vorstellung einer Meritokratie aufgeben35 , sondern auch die abstrakte theologische Rede von der Gleichheit aller Menschen im Blick auf kirchliche Einrichtungen und Strukturen hinterfragen.36 Mit der Rede von der neuen Präsenz der Kirche in der Gesellschaft angesichts menschenfeindlicher Tendenzen geht die Forderung einher, sich intensiv mit der kritisch-theologischen Weißseinsforschung zu befassen, aber mit dem Ziel, rassistische Strukturen in der Kirche zu erkennen und diese gemeinsam mit BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) zu überwinden. So 34

Die komplette Auflistung findet sich unter: P. McIntosh, White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack, in: https://nationalseedproject.org/Key-SE ED-Texts/white-privilege-unpacking-the-invisible-knapsack (abgerufen am 07.03.2021).

35

Vgl. ebd.

36

Als weiteres Beispiel für Rassifizierungen sei auf eine vor einigen Jahren veröffentlichte Untersuchung von Dokumenten von Misereor hingewiesen: Carolin Philipp hat herausgearbeitet, dass Schwarze Menschen dort durch ihre Lebensumstände bestimmt werden, Weiße hingegen durch ihre Lebensleistungen. Insgesamt werden Schwarze Menschen als passiv beschrieben. Vielfach übertönen die Repräsentant*innen der Armen die Armen (vgl. C. Philipp, Diskurse in der Entwicklungszusammenarbeit unter Berücksichtigung von Postkolonialer Theorie. Weißsein in den Grundlagendokumenten von Misereor und Brot für die Welt, 2006; siehe dazu auch: https://www.whitec harity.de). Misereor hat dieses Problem erkannt. So werden interne Fortbildungen über »Critical Whiteness Studies« und kritische Rassismusforschung angeboten und auch die eigene Arbeit selbstkritisch betrachtet: »Die Zeit der weißen Retter ist vorbei«. Ein Gespräch mit Sebastian Laschet, Marianne Pötter-Jantzen und Manta Wagner, die für kirchliche Hilfswerke arbeiten, in: Publik Forum 24/2020, 39-41.

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würde Kirche ein Bewusstsein davon ausbilden, dass sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche gilt: »race matters«37 . Losgelöst von der Einsicht »race matters« ist die Botschaft »Everybody counts« nicht zu haben.38 Seit kurzem setzt sich die deutsche Kommission »Justitia et Pax« für die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus ein.39 Das könnte ein Anfang sein, auch in der Kirche ein neues Bewusstsein für die Notwendigkeit zu entwickeln, Rassifizierungsprozesse und rassistische Strukturen innerhalb der eigenen Institution aufzudecken.40

3.

Sorgende Solidarität

Der Grundsatz »Everybody counts« enthält die Forderung nach Differenzsensiblität. Diese steht für die Anerkennung Anderer in ihrem Anderssein und beinhaltet, wie gerade in der Corona-Pandemie deutlich wird, die Pflicht, den Eigenperspektiven besonders verwundbarer und verwundeter Menschen Stimme zu verleihen. Es ist diese Empfindlichkeit, die es ermöglicht, ökonomisch, gesellschaftspolitisch und kulturell hergestellte Verwundbarkeiten zu erkennen, die sich in der Corona-Krise noch bedrohlicher auswirken. Die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft hängt davon ab, ob es gelingen wird, eine sorgende Solidarität zu entwickeln, die in der Empfindlichkeit für die spezifischen Verwundbarkeiten Anderer gründet.

37 38

Vgl. C. West, Race Matters, Boston 2001. Vgl. dazu: ders., in: J. Manemann/Y. Arisaka/V. Drell/A. M. Hauk, Prophetischer Pragmatismus, 127.

39

Vgl. o.A., »Wilmer: Intensive Aufarbeitung des Kolonialismus«, in: Neues Ruhr-Wort v. 06.03.2021.

40 Es bedarf aber auch einer kritischen Perspektive auf die Probleme »kritischer Weißseinsforschung«. Zudem dürfen durch diesen Fokus auf keinen Fall die Gefahren des Antisemitismus und die Erkenntnisse der Theologien nach Auschwitz in den Hintergrund geraten: Vgl. J. Manemann/ J. B. Metz (Hg.), Christologie.

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Revolutionäres Christentum

würde Kirche ein Bewusstsein davon ausbilden, dass sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche gilt: »race matters«37 . Losgelöst von der Einsicht »race matters« ist die Botschaft »Everybody counts« nicht zu haben.38 Seit kurzem setzt sich die deutsche Kommission »Justitia et Pax« für die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus ein.39 Das könnte ein Anfang sein, auch in der Kirche ein neues Bewusstsein für die Notwendigkeit zu entwickeln, Rassifizierungsprozesse und rassistische Strukturen innerhalb der eigenen Institution aufzudecken.40

3.

Sorgende Solidarität

Der Grundsatz »Everybody counts« enthält die Forderung nach Differenzsensiblität. Diese steht für die Anerkennung Anderer in ihrem Anderssein und beinhaltet, wie gerade in der Corona-Pandemie deutlich wird, die Pflicht, den Eigenperspektiven besonders verwundbarer und verwundeter Menschen Stimme zu verleihen. Es ist diese Empfindlichkeit, die es ermöglicht, ökonomisch, gesellschaftspolitisch und kulturell hergestellte Verwundbarkeiten zu erkennen, die sich in der Corona-Krise noch bedrohlicher auswirken. Die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft hängt davon ab, ob es gelingen wird, eine sorgende Solidarität zu entwickeln, die in der Empfindlichkeit für die spezifischen Verwundbarkeiten Anderer gründet.

37 38

Vgl. C. West, Race Matters, Boston 2001. Vgl. dazu: ders., in: J. Manemann/Y. Arisaka/V. Drell/A. M. Hauk, Prophetischer Pragmatismus, 127.

39

Vgl. o.A., »Wilmer: Intensive Aufarbeitung des Kolonialismus«, in: Neues Ruhr-Wort v. 06.03.2021.

40 Es bedarf aber auch einer kritischen Perspektive auf die Probleme »kritischer Weißseinsforschung«. Zudem dürfen durch diesen Fokus auf keinen Fall die Gefahren des Antisemitismus und die Erkenntnisse der Theologien nach Auschwitz in den Hintergrund geraten: Vgl. J. Manemann/ J. B. Metz (Hg.), Christologie.

IV. Verwundbares Leben

In der Pandemie ist viel von Sorge die Rede: »Man sorgt sich«, »Man ist solidarisch«.41 Dabei ist die Vorstellung von Solidarität als Zwangssolidarität weitverbreitet. Diese Solidarität gründet in der Vorstellung vom Virus als Gleichmacher: Das Virus könne jeden Menschen treffen. Und genau deshalb müssten wir Bürger*innen zusammenhalten. Ja, das Virus kann jeden Menschen treffen – aber es trifft nicht jeden. Eine solche Rhetorik der Solidarität zeugt von Blindheit gegenüber den unterschiedlichen Verwundbarkeiten, denen unterschiedliche Menschen aufgrund unterschiedlicher Gefährdungen in der Pandemie ausgesetzt sind. Daneben gibt es eine Zwecksolidarität, der ein bloßes Eigennutzenmotiv zugrunde liegt. Menschen zeigen sich mit anderen solidarisch, weil es für sie von Vorteil ist: »Ich unterstütze dich, damit du mich unterstützt.« Beide Solidaritäten laufen Gefahr, zum bloßen Abbild einer Tauschgesellschaft zu verkommen. Ihr kritisches Potenzial ist begrenzt. Es ist deshalb anders anzusetzen. »Ich habe keine Angst zu erkranken. Wovor dann? Vor all dem, was die Ansteckung verändern kann. Davor, zu entdecken, dass das Gerüst der Zivilisation, wie ich sie kenne, ein Kartenhaus ist. Ich habe Angst vor der Vernichtung, aber auch vor ihrem Gegenteil: dass die Angst vorübergeht, ohne eine Veränderung zu hinterlassen.«42 – so fasst der Schriftsteller Paulo Giordano seine Gefühlslage in der Pandemie zusammen. Auch ich habe weniger Angst vor der Ansteckung als Angst davor, dass es eine »Nach-Corona-Zeit« geben könnte, in der wir* überrascht feststellen, dass alles beim Alten geblieben ist. Um das zu verhindern, bräuchte es eine Form von Solidarität, die ich sorgende Solidarität nennen möchte. In der sorgenden Solidarität verbindet sich die auf »die Unterstützung bestimmter Menschen bei der Befriedigung konkreter Bedürfnisse« ausgerichtete Sorge mit einer auf »die Unterstützung bei der Befriedigung des Bedürfnisses nach Handlungsfähigkeit« Anderer ausge41

Vgl. zu den Solidaritäten: J. Manemann, Gleichheit vor dem Virus! Verwundbarkeiten und das Tragische in der Corona-Krise, in: M. Volkmer/K. Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, Bielefeld 2020, 349-356, 349-351.

42

P. Giordano, In Zeiten der Ansteckung, Hamburg 2020, 25.

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richteten Solidarität.43 Eine sorgende Solidarität besitzt das Potenzial, die Demokratie in eine sorgende Demokratie zu verwandeln.44 Sie beginnt mit der Schärfung des Blickes für unterschiedliche Verwundbarkeiten. Das Bewusstsein für Verwundbarkeiten scheint in der Krise gewachsen zu sein. So gibt es immer wieder Appelle zur Solidarität mit sogenannten »vulnerablen Personen« und »Risikogruppen«. Hier wird die Wahrnehmung von Verwundbarkeit allerdings häufig auf den medizinischen Aspekt verengt. Dadurch wird die entscheidende Herausforderung verfehlt. Es gibt nämlich, so die Philosophin Judith Butler, Körper, die besser geschützt sind als andere. Und das hat mit politisch-ökonomisch und gesellschaftspolitisch inszenierten Gefährdungen zu tun.45 Wer auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen ist, wer im Krankenhaus, Pflegeheim, Supermarkt etc. arbeitet, ist weniger geschützt als die Person, die im Homeoffice

43

M. Neumann/G. Winker, Sorge und Solidarität. Von verbindender CarePolitik zur solidarischen Gesellschaft, in: https://care-revolution.org/aktuell es/sorge-und-solidaritaet-von-verbindender-care-politik-zur-solidarischen -gesellschaft/1-11, 3 (abgerufen am 31.02.2021).

44

Joan Tronto spricht von »Demokratie als fürsorglicher Praxis«: J. Tronto, Demokratie als fürsorgliche Praxis, in: Feministische Studien extra/2000, 2542, 26. Die folgenden Überlegungen sind von Tronto beeinflusst. Den Begriff habe ich allerdings wegen der von Tronto selbst angeführten Assoziationen nicht übernommen: »Der Begriff des Fürsorgens selbst scheint eigentlich auf all das bezogen zu sein, was nicht demokratisch ist. Fürsorge evoziert Bilder von Ungleichheit, von Macht- und Autoritätsgefälle (Eltern und Kinder, Arzt und Patient, Herr und Knecht), nicht aber von Beziehungen unter Gleichen. Ja, würde man in der Geschichte des politischen Denkens nach ›Fürsorge‹ suchen, so würde sich herausstellen, daß sie entweder aus der Politik ausgeschlossen oder aber von dem einen oder anderen Typus einer hierarchischen politischen Institution, wie der Sklaverei, dem Kolonialismus oder monarchistischer Herrschaft zur Selbstlegitimation in Anspruch genommen wird.« (Ebd., 25)

45

Vgl. J. Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/New York 2010; ferner: J. Manemann, Gleichheit vor dem Virus!, 350f.

IV. Verwundbares Leben

arbeiten kann. Vor allem sind die Menschen der Pandemie im Besonderen ausgesetzt, die arm sind, krank, beeinträchtigt, die keine Wohnung haben. Die hier angezielte Sorge ist kritisch gegenüber Bedürfnisbefriedigungen, durch die das Selbst und Andere in negative Abhängigkeiten verstrickt werden. Mit Marcuse ist zu fragen: Wie kann das Selbst überhaupt »seine Bedürfnisse zufriedenstellen (…), ohne sich selbst zu verletzen, ohne durch seine Wünsche und Befriedigungen seine Abhängigkeit von einem ausbeuterischen Apparat zu reproduzieren, der, indem er Bedürfnisse befriedigt, Knechtschaft verewigt?«46 Wer Sorge und Verwundbarkeit in den Mittelpunkt des Interesses rückt, muss gleichzeitig wissen, dass »[alle] asymmetrischen Beziehungen, d.h. auch die versorgenden und fürsorglichen, (…) das Risiko des Machtmissbrauches, der Bevormundung, der ›fürsorglichen Belagerung‹ oder des Paternalismus«47 enthalten. Die Wahrnehmung von Verwundbarkeit führt auch nicht zwangsläufig zu Solidarität. Sie birgt auch Risiken in sich. So besteht etwa die Gefahr, dass gerade die Wahrnehmung der Verwundbarkeit Anderer eine Erinnerung an die eigene Verletzlichkeit generiert, die kein Solidaritätsempfinden auslöst, sondern Furcht, und zu neuen Herrschaftsformen führt. Des Weiteren ist zu bedenken, dass die Kennzeichnung »vulnerabel« eine stigmatisierende Markierung nach sich ziehen kann.48 In der Sorge geht es um konkrete Bedürfnisse. Dazu gehören bestimmte Güter, die wir* zum Überleben benötigen: Nahrungsmittel, eine Wohnung, Kleidung, eine medizinische Grundversorgung, ein Rechtssystem, das Leib und Leben schützt. Daneben haben wir* aber auch das Bedürfnis nach »Subsistenz, Schutz, Zuneigung, Verständnis (im Sinne von Verstehen), Partizipation, Muße, Kreativität, Identität und Freiheit. Hier wird deutlich, dass Bedürfnisse nicht auf materielle Versorgung mit Nahrung, Wasser oder 46

H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, 245.

47

R. Großmaß, Care-Ethik und Verantwortung, in: https://www.imew.de/filea dmin/Dokumente/Volltexte/Tagungen_2014/Vortragstext_Friedrichhainer _Kolloquium.pdf, 2 (abgerufen am 21.10.2020).

48

Auch hierzu vgl. J. Manemann, Gleichheit vor dem Virus!, 351.

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Wohnung reduzierbar sind, sondern in vielfacher Hinsicht direkt auf andere Menschen bezogen sind.«49 Sorge – und das ist entscheidend – ist eine Beziehungskategorie. Wenn wir* von Sorge reden, dann geht es um die interpersonale Sorge zwischen konkreten Menschen. Sorge wird hier ethisch verstanden. Sie geht mit dem Imperativ einher: »Du sollst dich sorgen!«. Das In-Sorge-Sein um einen anderen Menschen bezieht sich auf dessen Verwundbarkeiten in der Art und Weise, dass es Veränderungen im Zusammenleben bewirkt. Gemeint ist also ein tätiges In-Sorge-Sein, nicht ein passives Von-Sorge-Betroffensein. Diese Sorge führt auch über das Bedürfen hinaus. Sie öffnet für das Begehren. Das Begehren steht für ein Transzendieren des Selbst, dafür, nicht nur die eigene Verwundbarkeit zu erkennen, sondern vorzustoßen zur Verwundbarkeit Anderer.50 Hier zeigt sich bereits der Unterschied zwischen guter und schlechter Sorge. Gute Sorge vermag »den Bedürfnissen aller am Prozeß Beteiligten zu entsprechen (…), ›so gut wie möglich in der Welt zu leben‹«51 . Schlechte Sorge dient »nur den Zwecken einer der beteiligten Personen« oder der Aufrechterhaltung ausbeuterischer Strukturen.52 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Rede von Sorge innerhalb der Kirche höchst problematisch ist, ist kirchliche Seelsorge doch eng mit einer »Pastoralmacht« verbunden, die mittels der Sorge Macht über Menschen ausübt.53 Es geht deshalb um eine Sorge, die diese Pastoralmacht aufdeckt und Menschen innerhalb der Kirche zu authentischer Selbstsorge befreit. Laut der Philosophin Joan Tronto beinhaltet die Sorge vier Moraleigenschaften: »Sich kümmern: Erfordert Aufmerksamkeit als moralisches Element. Sorgen für: Erfordert Verantwortlichkeit 49

G. Winker, Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015, 145.

50

Vgl. dazu: J. B. Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg/Basel/Wien 2006, 166-171.

51

J. Tronto, Demokratie als fürsorgliche Praxis, 27.

52

Ebd., 28.

53

Vgl. H. Steinkamp, Die sanfte Macht der Hirten. Die Bedeutung Michel Foucaults für die Praktische Theologie, Mainz 1999.

IV. Verwundbares Leben

als moralisches Element. Pflegen: Erfordert Kompetenz als moralisches Element. Gepflegt werden: Erfordert Entgegenkommen (nicht nur auf Seiten der Gepflegten) als moralisches Element.«54 Die sorgende Solidarität bleibt nicht bei der Sorge als »Unterstützung bestimmter Menschen bei der Befriedigung konkreter Bedürfnisse« stehen, zielt sie doch auch und vor allem auf »die Unterstützung bei der Befriedigung nach Handlungsfähigkeit« anderer Menschen.55 Im Vordergrund steht die Fähigkeit zur Selbstsorge und zur Sorge um Andere. Dazu gilt es, Zustände zu schaffen, in denen Menschen die Fähigkeiten erwerben können, »mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen zu verstehen und Anteil an ihrem Leben zu nehmen, verschiedene soziale Kontakte zu pflegen; (…) sich die Situation eines anderen Menschen vorzustellen und Mitleid zu empfinden; (…) Gerechtigkeit zu üben und Freundschaften zu pflegen«56 . Diese Grundfähigkeiten benötigen wir*, um ein gutes Leben erstreben zu können. Wir* können sie aber nur entwickeln, wenn gleichzeitig aus Herrschaftsinteressen resultierende Handlungsbeschränkungen aufgebrochen werden, die uns daran hindern: »Dies können etwa die juristisch und ökonomisch legitimierte Macht von Behördenvertreter_innen oder Vorgesetzten, Geschlechternormen oder der Zusammenhang von Einkommen und Lebensstandard sein.«57 Sorgende Solidarität steht deshalb für Veränderung. Sie ist die Gegenkraft zu einem »Konservatismus der Krise« (M. Rau), der auf eine schnellstmögliche Rückkehr zu einer »Normalität« vor Corona drängt, weil sie für Exklusionsmechanismen sensibilisiert, die mit der Setzung von sogenannten »Normalitäten« einhergehen. Wie »normal« war denn die Zeit vor Corona? Die psychischen Störungen, mit denen wir* konfrontiert sind, gab es schon – wie gesagt – vor der Corona-Krise. Auch was unter Gesundheit verstanden wird, ist stark von dem beeinflusst, was »Normalität« heißt. Bloch fragte bereits Ende des II. Weltkriegs kritisch: »Was ist eine Gesundheit, 54

J. Tronto, Demokratie als fürsorgliche Praxis, 27.

55

M. Neumann/G. Winker, Sorge und Solidarität, 3.

56

M. C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder: Das gute Leben, Frankfurt 7 1998, 201.

57

M. Neumann/G. Winker, Sorge und Solidarität, 3.

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die lediglich dazu reif macht, wieder geschädigt, verbraucht, angeschossen zu werden? (…) der Kapitalismus ist ungesund – sogar für die Kapitalisten.«58 Und an anderer Stelle heißt es bei ihm: »Gesundheit wiederherstellen, heißt in Wahrheit: den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebildet wurde. (…) Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsfähigkeit, unter Griechen war sie Genussfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit.«59 Jede Rede von Normalität geht mit einer bestimmten Normativität einher. Was die einen als Normalität bezeichnen, wird von anderen als Ausnahmezustand erfahren. Die Abweichung von einer vermeintlichen »Normalität« wird nicht selten mit Stigmatisierung bestraft.60 Das erleben Menschen auch in der Corona-Pandemie. Es gibt an Covid-19 Erkrankte, die davon berichten, dass sie von anderen behandelt worden seien, als ob sie »die Pest« hätten. Auch nach der Krankheit hätten Nachbarn sie gemieden, teilweise sogar beschimpft. Eine Altenpflegerin, die an Covid-19 erkrankt war, stellt resigniert fest: »Ich habe geweint und die Welt nicht mehr verstanden, dass man so mit Betroffenen umgeht.«61 Solche Stigmatisierungen offenbaren die Gewalt einer Normalität, die Abweichung als Bedrohung empfindet. Eine sorgende Solidarität durchbricht vermeintliche Normalitäten immer wieder aufs Neue. Nicht nur, weil sie ein ausgeprägtes Sensorium für Verwundbarkeiten besitzt, sondern weil sie mit der Weigerung einhergeht, verwundbare und verwundete Menschen auf einen Opferstatus zu reduzieren. Eine sorgende Solidarität 58

E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 33-45, 545.

59

Ebd., 541.

60 Vgl. E. Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 1967, 7. 61

Aus: M. Löwenstein, »Man wird behandelt, als ob man die Pest hat«, NDR Info 27.04.2020, in: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronaviru s-Diskriminierung-nach-der-Quarantaene,corona2532.html (abgerufen am 27.09.2020).

IV. Verwundbares Leben

steht für Empowerment. Um jedoch verwundbare und verwundete Menschen zu ermächtigen, bedarf es immer auch der Entmächtigung derjenigen, die von einer Normalität profitieren, durch die Andere verwundbar gemacht oder verwundet werden. »Es erfordert, daß diejenigen, die vom Ausschluß anderer profitiert haben, ihre von Privilegien bestimmte Position räumen.«62 Die Corona-Gesellschaft droht zu einer Müdigkeitsgesellschaft zu werden, der die sozialen Energien abhandenkommen. Sorgende Solidarität ist das Anti-Depressivum gegen Erschöpfungsdepressionen. Sie ist inklusiv, benennt Alternativen zum Status quo und bricht Machtverhältnisse auf. Sie ist Movens einer SorgeRevolution63 , die Bestandteil der »Revolution für das Leben« ist und deshalb nicht bei der Sorge um die Menschen stehen bleibt, sondern sich auch auf die nichtmenschlichen Lebewesen erstreckt. Es geht dieser Revolution schließlich um »die Sorge um das ganze Haus«64 .

4.

Die Sorge-Revolution

Eine sorgende Solidarität steht in Spannung zu einer liberalen Bürgerlichkeit, die Emanzipation als Unabhängigkeit von anderen begreift, als Freiheit von den Zwängen, sich um andere sorgen zu müssen. Aber Sorgepraxen lassen sich nicht einfach abstreifen. Sie sind auch nicht begrenzbar auf einen häuslichen Raum. Sorge ist überschreitend, ausufernd. Sie sprengt Gruppenzugehörigkeiten, gesellschaftliche Schichten, verbindet, was zuvor unverbunden war.65 Sie bezieht sich sowohl auf öffentliche als auch politische Räume. Sorge ist politisch.

62

J. Tronto, Demokratie als fürsorgliche Praxis, 26.

63

Siehe dazu das Netzwerk »Care-Revolution«, in: https://care-revolution.org/ (abgerufen am 07.03.2021).

64

So lautet der Untertitel der Enzyklika »Laudato si’«.

65

Vgl. I. Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin 2020, 192.

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IV. Verwundbares Leben

steht für Empowerment. Um jedoch verwundbare und verwundete Menschen zu ermächtigen, bedarf es immer auch der Entmächtigung derjenigen, die von einer Normalität profitieren, durch die Andere verwundbar gemacht oder verwundet werden. »Es erfordert, daß diejenigen, die vom Ausschluß anderer profitiert haben, ihre von Privilegien bestimmte Position räumen.«62 Die Corona-Gesellschaft droht zu einer Müdigkeitsgesellschaft zu werden, der die sozialen Energien abhandenkommen. Sorgende Solidarität ist das Anti-Depressivum gegen Erschöpfungsdepressionen. Sie ist inklusiv, benennt Alternativen zum Status quo und bricht Machtverhältnisse auf. Sie ist Movens einer SorgeRevolution63 , die Bestandteil der »Revolution für das Leben« ist und deshalb nicht bei der Sorge um die Menschen stehen bleibt, sondern sich auch auf die nichtmenschlichen Lebewesen erstreckt. Es geht dieser Revolution schließlich um »die Sorge um das ganze Haus«64 .

4.

Die Sorge-Revolution

Eine sorgende Solidarität steht in Spannung zu einer liberalen Bürgerlichkeit, die Emanzipation als Unabhängigkeit von anderen begreift, als Freiheit von den Zwängen, sich um andere sorgen zu müssen. Aber Sorgepraxen lassen sich nicht einfach abstreifen. Sie sind auch nicht begrenzbar auf einen häuslichen Raum. Sorge ist überschreitend, ausufernd. Sie sprengt Gruppenzugehörigkeiten, gesellschaftliche Schichten, verbindet, was zuvor unverbunden war.65 Sie bezieht sich sowohl auf öffentliche als auch politische Räume. Sorge ist politisch.

62

J. Tronto, Demokratie als fürsorgliche Praxis, 26.

63

Siehe dazu das Netzwerk »Care-Revolution«, in: https://care-revolution.org/ (abgerufen am 07.03.2021).

64

So lautet der Untertitel der Enzyklika »Laudato si’«.

65

Vgl. I. Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin 2020, 192.

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Revolutionäres Christentum

Sorgende Solidarität transformiert die liberale Demokratie in eine sorgende Demokratie. In dieser sind Menschen durch Sorge miteinander verstrickt und bilden innerhalb dieser Verstrickungen neue soziale Selbstverständnisse aus, die wiederum verändernd auf das bestehende politische Institutionengefüge wirken.66 Die sorgende Demokratie trennt Menschen nicht voneinander durch Grenzlinien. Statt Grenzlinien schafft sie Grenzflächen. Die Grenzfläche steht nicht für Abschottung. Im Gegenteil. Grenzflächen sind Berührungsflächen. Sie stehen für Austausch, und ohne Austausch ist Leben nicht möglich. Das Prinzip der Grenzfläche ist aller Lebendigkeit immanent.67 Aller Austausch an den Grenzflächen hat ein Ziel: Aktivität zu ermöglichen.68 Auch die verschiedenen Sphären des Zusammenlebens werden durch Grenzflächen miteinander verbunden und sind auf den Austausch angewiesen. Es sind die Grenzflächen, auf denen neue Möglichkeiten erahnt und erkannt werden. Durch die Idee einer sorgenden Demokratie wird deshalb auch die liberale Trennung zwischen dem Politischen und dem Privaten infrage gestellt. Insbesondere in den ersten Monaten der Pandemie wurde der Privatraum von Seiten der Politik als Schutzraum markiert, mit fatalen Konsequenzen. Dabei ist das Private äußerst ambivalent: »Privat bedeutet nicht bloß etwas Persönliches, das der Innerlichkeit von irgendwem zugehört. Es bedeutet privus, einer Sache beraubt sein, also keine Stimme, keine öffentliche Präsenz haben.«69 Eine sorgende Demokratie richtet sich gegen die Privatisierung der Sorge. In ihr werden bislang ungehörte Stimmen gehört, weil sie die strikte Trennung zwischen dem Politischen und dem Pri-

66

Vgl. ebd., 161.

67

Vgl. E.-J. Speckmann, Grenzflächen. Prinzip der Lebendigkeit im Lebenden, Münster 2013.

68

Vgl. ebd., 55.

69

P. Virno, Grammatik der Multitude. Die Engel und der General Intellect, Wien/Berlin 2005, 30. Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich: I. Lorey, Demokratie im Präsens, 137f.

IV. Verwundbares Leben

vaten aufbricht.70 Gerade die Kirche könnte helfen, den privaten Raum durchlässig zu machen für politische Probleme, um einen erfolgreichen Rückzug von den Leiden Anderer zu verhindern. Gleichzeitig könnte sie dazu beitragen, den politischen Raum aufzubrechen für das Leid, das im Abseits des Privaten unbeachtet bleibt.71 Dadurch würden die Verzweiflungen, das Grauen und die Erfahrung von Sinnleere im politischen Raum hörbar und sichtbar. Die Kirche würde so aktiver Teil der Sorge-Revolution. Die SorgeRevolution würde aber ebenso vor der Kirche nicht haltmachen. Sie würde ihr Frauen- und Familienbild und auch ihre Vorstellungen einer Heteronormativität ins Wanken bringen. Schließlich hat sie mit dem »Aufstand aus der Küche«72 begonnen. Dieser wandte sich zunächst gegen die Trennung zwischen bezahlter Arbeit in der Erwerbstätigkeit und der unbezahlten Reproduktionsarbeit.73 Die Care-Aktivistin Almut Schnerring schreibt: »Von Unternehmen und Politik wird gerne angemerkt, dass CareArbeit Privatsache sei und man*frau sich nicht in die persönlichen Belange und Entscheidungen der Menschen einzumischen habe, als ob Politik und Wirtschaft nicht andauernd in die Privatsphäre eingriffen. Ob Schulpflicht, Werbung (im öffentlichen Raum), Vorratsdatenspeicherung, Big Data oder die Forderung nach örtlicher und zeitlicher Flexibilität bis hin zur ständigen Verfügbarkeit im Beruf – die Beispiele staatlicher und unternehmerischer Eingriffe in die Privatsphäre sind so vielfältig wie umfassend, warum also diese Zurückhaltung ausgerechnet im Care-Bereich? Auch hier wird darüber hinweggesehen, wie sehr Wirtschaft und Politik

70

Es geht nicht darum, die Trennung vollständig aufzuheben. Das war das Projekt des »Kronjuristen des III. Reiches«, Carl Schmitt, der behauptete, das Politische als das Totale erkannt zu haben.

71

Der Religionssoziologe José Casanova sieht in dieser Scharnierfunktion eine wichtige Aufgabe von Religion: J. Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, 5/6.

72

S. Federici, Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution, Münster 2 2015.

73

Vgl. J. Tronto, Demokratie als fürsorgliche Praxis, 31.

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Revolutionäres Christentum

von der aktuellen privaten Organisation der Care-Arbeit, vom fürsorglichen und selbstlosen Einsatz dieser vielen Frauen und wenigen Männer profitieren. Das ganze System funktioniert nur, weil es Care-Arbeit als privat ausklammert und nicht als wesentlichen Faktor für das Gelingen von Gesellschaft und Wirtschaft honoriert.«74 Es geht bei der Sorge-Revolution aber um mehr. Die kapitalistische Produktion ist nämlich auf »einen bestimmten Typus von Arbeiter_ innen (…) angewiesen (…)«75 . Und dieser steht für ein bestimmtes Verständnis von Frausein, Familie und Heteronormativität. Nicht nur die Arbeit im Haushalt, auch dieser Typus ist Teil der Reproduktion und damit Voraussetzung der Produktion.76 Die Sorge-Revolution zielt darauf ab, diese »Privatsphäre« aufzubrechen und neu zu besetzen: »Wenn der Haushalt der oikos ist, auf dem die Ökonomie beruht, dann sind es die Frauen, die historisch Hausarbeiterinnen und Gefangene des Haushalts gewesen sind, die die Initiative ergreifen müssen, um den Haushalt wieder zum Zentrum des kollektiven Lebens zu machen: zu einem Zentrum, an dem sich zahlreiche Menschen und Kooperationsformen treffen, das Schutz bietet, ohne zu isolieren und zu fixieren, das den Austausch und die Zirkulation gemeinschaftlichen Eigentums erlaubt und das dabei vor allem auch als Grundlage für kollektive Reproduktionsformen fungiert.«77 Eine »Revolution für das Leben« kann nicht gelingen, »solange wir unsere Reproduktion nicht auf kooperativere Weise gestalten und die Trennung zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, zwischen politischem Aktivismus und der Reproduktion

74

A. Schnerring, Equal Care: Über Fürsorge und Gesellschaft, Berlin 2020 (E-Book), Pos. 191.

75

S. Federici, Aufstand aus der Küche, 41.

76

Vgl. ebd.

77

Ebd., 103.

IV. Verwundbares Leben

des Alltagslebens aufheben«78 . Die Philosophin Silvia Federici fasst das Ziel wie folgt zusammen: »Unsere Macht als Frauen beginnt mit dem gesellschaftlichen Kampf um den Lohn, nicht um uns Zugang zum Lohnverhältnis zu verschaffen (denn wir waren noch nie außerhalb davon), sondern um aus ihm entlassen zu werden, so wie jeder Sektor der Arbeiter_innenklasse aus ihm entlassen werden soll.«79 Es geht um eine Sorge-Revolution, deren Ziel es ist, »unbezahlbar zu sein. Wir wollen einen Preis, der unsere Marktfähigkeit aufhebt. Wir wollen, dass Hausarbeit, Fabrikarbeit und Büroarbeit ›unökonomisch‹ werden.«80 Sorgende Solidarität ist »mehr als das Beistandsversprechen, weil sie sich nicht auf Verbundenheit überhaupt, sondern auf eine spezifische Art, unsere Verbundenheit zu organisieren, bezieht«81 . In seiner Sozialenzyklika »Fratelli tutti« schreibt Franziskus, ausgehend von der Corona-Pandemie: »Wenn einer meint, dass es nur um ein besseres Funktionieren dessen geht, was wir schon gemacht haben, oder dass die einzige Botschaft darin besteht, die bereits vorhandenen Systeme und Regeln zu verbessern, dann ist er auf dem Holzweg.«82 Aber das gilt ebenso für die Kirche. Der Aufstand der Frauen lässt auch die Kirche nicht ungeschoren. Maria 2.0 ist ein Beispiel dafür.83 Diese innerkirchliche Rebellion von Frauen zielt auf eine geschlechtergerechte Reform der Kirche. Sie könnte eine noch größere Dynamik entfalten, wenn es gelänge, die kirchliche Binnenperspektive zu weiten und sich als Teil der SorgeRevolution zu verstehen. Maria 2.0 würde die Kirche dadurch in die ökosozialen Verwobenheiten des Zusammenlebens verstricken. An dieser Stelle berühren sich auch Corona- und Umweltkrise. Das aggressive Vordringen in Biotope, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die menschengemachte globale Erhitzung führen 78

Ebd., 104.

79

Ebd., 121.

80 Ebd., 126. 81

E. v. Redecker, Revolution, 210.

82

Papst Franziskus, Fratelli Tutti, Nr. 7.

83

Siehe zu Maria 2.0: https://www.mariazweipunktnull.de/maria-webt-ein-n etz/ (abgerufen am 07.03.2021).

109

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Revolutionäres Christentum

dazu, dass ganze Ökosysteme destabilisiert werden und damit die Gefahr steigt, dass Viren von Tieren auf Menschen übertragen werden und so neuartige Infektionskrankheiten auslösen. Nicht die Immunisierung durch die Impfung wird uns auf Dauer schützen, sondern nur die Öffnung für das Leid der nichtmenschlichen Kreaturen. Die Impfung ist eine Antwort auf die Corona-Pandemie, aber sie ist nicht die Lösung. Selbst wenn wir* bald durch Impfungen das Virus eingehegt haben sollten, ist die Pandemiegefahr keineswegs gebannt. Die nächsten Pandemien stehen vor der Tür. Es sei denn, wir* änderten unseren Lebensstil. Wenn wir* weiter durch unseren Lebenswandel täglich etwa 150 Arten auslöschen und damit Biodiversität zerstören, wächst das Risiko weiterer Pandemien. Denn der Verlust von Biodiversität bedeutet die Erhöhung des Pandemierisikos. Es kommt darauf an, die Entwaldung des Planeten zu stoppen und den Wildtieren ihren Raum zum Leben zu lassen. Das ist auch für uns eine Überlebensfrage. Die Kulturtheoretikerin Elke Krasny schreibt: »Das Virus versetzt uns in Sorge.« In dieser Sorge sollten wir* bleiben und »das In-Sorge-Bleiben (…) erlernen.«84 Und diese Sorge gilt es, auszuweiten auf die gesamte Erde – ein Anliegen, das auch Franziskus am Herzen liegt. Seine Enzyklika Laudato Si’ weist darauf ja bereits im Untertitel hin: »Die Sorge um das gemeinsame Haus«. Angesichts der Pandemie fordert Franziskus das »Recht auf eine allgemeine Fürsorge, die jedem Menschen zukommt«, und einen »allgemeinen Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung«. Er kritisiert, dass »die Logik des Profits in so sensiblen Bereichen wie der Gesundheitsversorgung und der allgemeinen Fürsorge den Ton« angibt.85

84

E. Krasny, In-Sorge-Bleiben. Care-Feminismus für einen infizierten Planeten, in: M. Volkmer/K. Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft, 405-414, 410.

85

Papst Franziskus, Rede an Diplomaten, 08.02.2021, in: https://www.vatican news.va/de/papst/news/2021-02/papst-franziskus-rede-diplomaten-politik -wortlaut-politik-corona.html (abgerufen am 13.03.2021). Den Hinweis auf diese Rede verdanke ich: P. Antes, Der Mensch und seine Verwundbarkeit, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung 12.02.2021.

IV. Verwundbares Leben

Franziskus hat gleich nach Ausbruch der Pandemie dazu aufgerufen, sich um Kranke und Sterbende zu sorgen. Eine Reihe von Priestern ist diesem Aufruf gefolgt.86 Die Nachricht vom Tod von 30 Priestern im März 2020, die sich in Italien bei ihrem Einsatz infiziert hatten, rüttelte nach Auskunft von Diakon Andreas MüllerCyran (Krisenpastoral Erzbistum München-Freising) in der Pastoral Tätige im Erzbistum München-Freising auf.87 Sie ergriffen im April 2020 die Initiative zur Gründung einer »pastoralen Einsatzgruppe« von Seelsorger*innen, bestehend aus Priestern und Laien, deren Ziel es ist, Kranken und Sterbenden beizustehen und dabei das Risiko einer Infektion so gering wie möglich zu halten. Zudem sollte auch sichergestellt werden, dass Priester nicht nur für Covid19-Erkrankte da sein konnten, sondern auch für andere Kranke und Sterbende. Schließlich wollten die Initiator*innen der Gefahr begegnen, so Müller-Cyran, dass engagierte Priester ungewollt andere Menschen mit dem Virus infizieren. Die Mitglieder dieser Gruppe wurden in alle Schutzmaßnahmen eingeführt und mit der entsprechenden Ausrüstung ausgestattet. Dadurch wurden sie dem medizinischen Personal gleichgestellt. »Da die Seelsorgenden trotz aller Schutzmaßnahmen der Gefahr ausgesetzt sind, mit dem SARS-CoV-2 Virus in Kontakt zu kommen, sind sie während ihrer Tätigkeit bis 14 Tage nach dem letzten Einsatz von ihren allgemeinen Aufgaben entbunden. (…) ›Durch die Einsatzgruppe Seelsorge können wir als Kirche auch in der aktuellen Krise unseren Grundauftrag erfüllen, den Kranken und Sterbenden beizustehen‹, erläutert Thomas Hagen [Leiter der Gruppe]. ›Gerade in der Situation von Isolation, existentieller Angst und Bedrohung, die Covid-19 Erkrankte oft erleben, wollen

86

Vgl. A. Pitz, Wie sich Seelsorger im Kampf gegen das Virus aufopfern, in: Kirche und Leben 21.03.2020, https://www.kirche-und-leben.de/artikel/mehrals-30-priester-in-italien-an-corona-gestorben (abgerufen am 03.03.2021).

87

Telefonat am 03.03.2021.

111

112

Revolutionäres Christentum

wir ihnen nahe sein und ihnen Gottes Zuspruch bringen: Fürchtet euch nicht! Ihr seid nicht allein!‹, so Hagen.«88 Leider wurde jedoch bislang aus diesem beeindruckenden Engagement kein Modell für alle Bistümer in Deutschland. Durch die aktive Teilnahme von Christ*innen an der »Revolution für das Leben« würde die sorgende Solidarität eine wichtige Ergänzung erfahren, denn Christ*innen beziehen auch die Vergangenheit in die Sorge mit ein. G-tt steht schließlich für eine »Hoffnung auf eine Revolution zugunsten aller, der ungerecht Leidenden, der längst Vergessenen, ja auch der Toten«89 . Und so wird das In-Sorge-Bleiben auf die Toten ausgeweitet. Auch sie dürfen nicht ausgeschlossen werden. Aufgabe der Kirche wäre es, Sorge dafür zu tragen, dass die Toten und ihre unerfüllten Hoffnungen in der »Revolution für das Leben« nicht vergessen werden. Die Lehre von der Auferstehung dehnt somit die zeitliche Dimension der SorgeRevolution aus, die sich gegenwärtig nur auf die Gegenwart und Zukunft erstreckt. Sie klagt eine Solidarität mit den Toten, auch den toten nichtmenschlichen Kreaturen ein.90 Dadurch erhält die sorgende Solidarität eine Tiefenstruktur, die insbesondere das Gewicht der Opfer von Unterdrückung, Gewalt, Terror, ökologischen und klimatischen Katastrophen, auch der nichtmenschlichen Lebewesen spürbar werden lässt. Sie stellt ein »Gegengewicht (…) gegen das stündlich steigende Gewicht«91 all der toten Lebewesen und den Sog des Vergessens dar. Von ihr geht der Imperativ aus, »sich nicht an den Tod zu gewöhnen«92 . Eine solche Gewohnheit zerstört nämlich die Solidarität mit den Toten, auch mit den toten nichtmensch-

88

Pressestelle Erzdiözese München und Freising, Pastorale Einsatzgruppe für Covid-19-Erkrankte nimmt Arbeit auf, in:https://www.erzbistum-muenchen .de/news/bistum/Pastorale-Einsatzgruppe-fuer-Covid-19-Erkrankte-nimmt -Arbeit-auf-36737.news (abgerufen am 03.03.2021).

89

J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 74.

90 Der Gedankengang über die Solidarität mit den Toten verdankt sich den Überlegungen von J. B. Metz: ebd., 115. 91

E. Canetti, Über den Tod, München 2003, 61.

92

Ebd., 45.

IV. Verwundbares Leben

lichen Kreaturen und gibt sie dem Vergessen preis. Das aber wäre zutiefst inhuman: »Denn es bedeutet, die vergangenen Leiden zu vergessen und zu verdrängen und uns der Sinnlosigkeit dieser Leiden widerspruchslos zu ergeben. Schließlich macht auch kein Glück der Enkel das Leid der Väter wieder gut, und kein sozialer Fortschritt versöhnt die Ungerechtigkeit, die den Toten widerfahren ist. Wenn wir uns zu lange der Sinnlosigkeit des Todes und der Gleichgültigkeit gegenüber den Toten unterwerfen, werden wir am Ende auch für die Lebenden nur noch banale Versprechen parat haben. Nicht nur das Wachstum unseres wirtschaftlichen Potentials ist begrenzt, wie man uns heute einschärft; auch das Potential an Sinn scheint begrenzt und es ist, als gingen die Reserven zur Neige und als bestünde die Gefahr, daß den großen Worten, unter denen wir unsere eigene Geschichte betreiben – Freiheit, Emanzipation, Gerechtigkeit, Glück – am Ende nur noch ein ausgelaugter, ausgetrockneter Sinn entspricht.«93 Die »Revolution für das Leben« erklärt somit die Vergangenheit für unabgeschlossen. Sie weigert sich, zu glauben, dass die Herrschaftsgeschichte das letzte Wort haben wird.

93

Synodendokument »Unsere Hoffnung«, Würzburg 1975, 23.

113

V. Status confessionis

1.

Ziviler Ungehorsam

Eine »Revolution für das Leben« gibt es nicht ohne die Bereitschaft zum Widerstand. Die Erhitzungskatastrophe stellt einen status confessionis dar, eine Bekenntnissituation, »in der um des Bekenntnisses zu Christus willen für den Christen nur eine einzige inhaltliche Positionierung möglich ist«1 . Jede*r von uns weiß, dass wir* in den kommenden Jahrzehnten auf eine 2-5 Grad CelsiusErwärmung der Erde zusteuern. Es sei denn, wir* würden unsere Gesellschaft in den nächsten 5 bis 10 Jahren radikal verändern. Im Blick auf diese Tatsachenwahrheit erscheinen gerade diejenigen, die sich betont anti-radikal bzw. »realpolitisch« geben, als Vertreter*innen eines Radikalismus. Ihrem Handeln liegt nämlich eine entgrenzende Dynamik zugrunde, die als extremistisch bezeichnet werden muss. Diese Dynamik verdankt sich einer weltumspannenden Hominisierung, die (Um-)Welt nur als Verfügungsmasse eigener Bedürfnisbefriedigung begreift. Im Vergleich zu diesem Radikalismus ist die hier angezielte Radikalität der Revolution invers: Sie wendet sich gegen Rücksichtslosigkeit, gegen die Perspektive unendlicher Steigerung. Sie will nicht Schranken niederreißen, sondern das Bewusstsein für Limitationen schaffen.2

1

C. Tietz, Dietrich Bonhoeffer: Theologe im Widerstand, München 2 2019, 56. Zum Status confessionis bei Bonhoeffer: ebd. 52-60.

2

Das ist kritisch gegen Helmuth Plessner formuliert: H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 7 2018, 17.

116

Revolutionäres Christentum

Wenn hier von Radikalität gesprochen wird, dann geht es um Handlungsbeschränkungen. Radikalismus ist von einem Insuffizienzbewusstsein, Radikalität von einem Suffizienzbewusstsein getragen. Die Situation des status confessionis erfordert, dass die Kirche den ökologischen und klimatischen Notstand für ihre Zuständigkeitsbereiche ausruft und auch die Regierungen dazu auffordert. Ein Notstand tritt ein, wenn der Staat in seiner Existenz gefährdet ist oder wenn er seiner Aufgabe als Rechtsstaat, das Leben der Bürger*innen zu schützen, nicht mehr nachkommt. Letzteres zwingt zu zivilem Ungehorsam. Ziviler Ungehorsam ist ein symbolischer Akt, der moralisch legitimiert ist. Er stellt nicht die Rechtsordnung als Ganze in Frage. Im Gegenteil. Er steht für die Einhaltung derselben durch einen partikularen gesetzlichen Regelbruch ein. Christ*innen, die Akte zivilen Ungehorsams praktizieren, möchten Bürger*innen und Entscheidungsträger*innen für die Katastrophe sensibilisieren und ihre Unterstützung für die Ausrufung des Notstandes erhalten, um die Lebensgrundlagen aller Lebewesen zu schützen. 1983 avancierte »Heißer Herbst« zum »Wort des Jahres«.3 Erinnern wir* uns: Vom 1.-3. September 1983 fanden Sitzblockaden an Raketenstandorten statt, an denen sich auch viele Christ*innen beteiligten. Am 22. Oktober demonstrierten in Deutschland 1,3 Millionen Menschen gegen die geplante Stationierung amerikanischer Pershing-II-Raketen und Cruise-Missiles auf deutschem Boden. Angesichts der hitzigen Auseinandersetzungen widmete sich das »Kulturforum der Sozialdemokratie«, organisiert von Peter Glotz (Bundesgeschäftsführer der SPD), im September dem Themenfeld »Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat«.4 Der Katholik Heinrich Böll hielt damals ein beeindruckendes Plädoyer für die Besetzung der Straße: »Politiker neigen dazu, die Straße zu verachten oder 3

Die folgenden Abschnitte habe ich im Wesentlichen meinem Aufsatz »Ziviler Ungehorsam als politische Handlung. Einführende Bemerkungen aus aktuellem Anlass«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2/2020, 151-160, entnommen.

4

Vgl. P. Glotz (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a.M. 3 2015.

V. Status confessionis

verächtlich zu machen, zu sagen, wir lassen uns von der Straße nicht beeinflussen. Ich möchte darauf hinweisen, daß alle Parteien, alle Regierung von der Straße gewählt wird.«5 Dabei wusste Böll aus eigener Erfahrung auch von der Gefahr, die von der Straße ausgehen kann: »Wer so alt ist wie ich, älter oder ein bißchen jünger, ist natürlich auch traumatisiert durch die Straße, den Nazi-Terror auf der Straße, die, so habe ich es empfunden, Heimatvertreibung von der Straße durch die Nazis. (…) Ich muss mich von diesem Trauma befreien, um auf die Straße zu gehen, aber ich gehe nicht so auf die Straße, ich setze mich auf die Straße. Ich setze mich der Regelverletzung, der Ordnungswidrigkeit, der Strafbarkeit aus und möchte darauf hinweisen, daß man sich vielleicht strafbar machen muss, um das Delikt, dessen man sich strafbar macht, aus dem Strafgesetzbuch zu eliminieren.«6 Auf diesem Forum ergriff auch der Philosoph Jürgen Habermas das Wort. Er kritisierte mit scharfen Worten Versuche, Friedensaktivist*innen, die zivilen Ungehorsam praktizierten, zu kriminalisieren. Für Habermas ist die Praxis des gelebten zivilen Ungehorsams mitnichten eine Gefahr für den Rechtsstaat. Im Gegenteil: Praktizierter ziviler Ungehorsam ist für ihn »notwendiger Bestandteil« einer reifen politischen Kultur.7 Habermas bezieht sich in seinen Ausführungen im Wesentlichen auf den Philosophen John Rawls: »Der amerikanische Philosoph John Rawls hat in seiner bekannten Theorie der Gerechtigkeit die folgende Definition vorgeschlagen: ziviler Ungehorsam äußert sich in einer ›öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber gesetzeswidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik

5

H. Böll, in: P. Glotz (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 144-146, 144.

6

Ebd., 145f.

7

Vgl. J. Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: P. Glotz (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 29-53, 32.

117

118

Revolutionäres Christentum

herbeiführen soll.‹ Rawls nennt drei Bedingungen, die für gerechtfertigten zivilen Ungehorsam erfüllt sein müssen: der Protest muß sich gegen wohlumschriebene Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten; die Möglichkeiten aussichtsreicher legaler Einflußnahme müssen erschöpft sein; und die Aktivitäten des Ungehorsams dürfen kein Ausmaß annehmen, welches das Funktionieren der Verfassungsordnung gefährdet.«8 Ziviler Ungehorsam ist ein Widerstand, der »mit den Verfassungsgrundsätzen einer demokratischen Republik« im Einklang steht.9 Er ist also kein revolutionärer, sondern ein symbolischer Akt, der in der Absicht durchgeführt wird, »an die Einsichtsfähigkeit und den Gerechtigkeitssinn der jeweiligen Mehrheit zu appellieren«.10 Anders als die Sabotage findet ziviler Ungehorsam im öffentlichen Raum statt. Überdies wird er zuvor angekündigt, um von der Polizei kalkuliert werden zu können.11 Für Habermas besteht die besondere moralische Bestimmtheit des zivilen Ungehorsams darin, dass er nicht nur »private[n] Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen« entspringt. Bei der Praxis des zivilen Ungehorsams handelt es sich um eine »vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen (…), ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im ganzen zu affizieren, er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen«.12 Dabei gilt es darauf zu achten, dass die Regelverletzung im Blick auf das Protestziel immer verhältnismäßig ist.13 Ziviler Ungehorsam wahrt »die physische und psychische Integrität des Protestgegners oder unbeteiligter Dritter«14 . Die Gewaltfreiheit schließt jedoch Momente der Nötigung nicht generell aus: »(…) sie ist mit ›psychischem Druck und Beein-

8

Ebd., 34.

9

Ebd., 32f.

10

Ebd., 33.

11

Vgl. ebd., 35.

12

Ebd.

13

Vgl. ebd.

14

Ebd.

V. Status confessionis

trächtigung der Bewegungsfreiheit Dritter‹ vereinbar.«15 Der Politikwissenschaftler Andreas Braune betont, dass die Praxis des zivilen Ungehorsams das Potenzial besitzt, Impulse »für eine neue Politik im Rahmen des etablierten Systems«16 freizusetzen. Es geht beim zivilen Ungehorsam in diesem Verständnis nämlich nicht um einen Rechtskonflikt, sondern um einen politischen Konflikt zwischen verschiedenen Lebensformen.17 Angesichts der Proteste warnte Glotz damals die Politik davor, das Demonstrationsrecht zu verschärfen. Solche Ideen waren für ihn »von lebensgefährlicher Dummheit«.18 Er unterschied dabei deutlich zwischen zivilem Ungehorsam und Widerstand: »Das Widerstandsrecht aus Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes ist ein exzeptionelles Notrecht in einer staatsstreich- oder bürgerkriegsähnlichen Situation. Es schützt den demokratischen und sozialen Bundesstaat, die repräsentative und gewaltenteilende Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit; nichts sonst. Als Notrecht kann es nur in extremen Ausnahmesituationen – etwa im Falle eines offenen Verfassungskonflikts zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Exekutive oder bei Putsch – zum Zuge kommen.«19 Demgegenüber sei der zivile Ungehorsam durch eine individuelle Gewissensentscheidung motiviert und legitimiert. Und so fährt er fort: »Wer aufgrund einer individuellen Gewissensentscheidung zivilen Ungehorsam leistet und gewaltfrei Gesetze oder gesetzliche Bestimmungen übertritt, muß für die Konsequenzen einstehen. Tut er das, mag man sein Handeln als falsch kritisieren; wenn man ihn dann aber zum Gegner der freiheitlich-demokratischen

15

Ebd.

16

A. Braune (Hg.), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart 2017, 207.

17

Vgl. ebd., 209.

18

P. Glotz, Am Widerstand scheiden sich die Geister, in: ders. (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 7-28, 8.

19

Ebd., 14.

119

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Revolutionäres Christentum

Grundordnung stilisieren will, wird das den Widerspruch der Sozialdemokratie finden.«20 Die Vorstellung, der Akt des zivilen Ungehorsams sei eine Gehorsamsverweigerung aus individuellen Gewissengründen, wurde entschieden von der Philosophin Hannah Arendt kritisiert. Für sie ist ziviler Ungehorsam ein Akt politischen Handelns.21 Laut Arendt betrachten Jurist*innen zivilen Ungehorsam »nach dem Muster einer Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen«22 . Diese Betrachtungsweise führt jedoch zu einem falschen Verständnis dessen, was zivilen Ungehorsam ausmacht. Es geht hier nämlich nicht um die Entscheidung eines einzelnen Individuums. »Der Protagonist des zivilen Ungehorsams kann nur als Mitglied einer Gruppe auftreten und auch nur so sich behaupten.«23 Erst mit anderen vermag er*sie überhaupt Bedeutung zu erlangen. Beim zivilen Ungehorsam »handelt es sich in Wirklichkeit um organisierte Minderheiten, die weniger durch ein gemeinsames Interesse als durch eine gemeinsame Meinung zusammengehalten werden und durch die Entscheidung, sich selbst dann gegen die Politik der Regierung zu stellen, wenn sie mit Grund annehmen können, daß eine Mehrheit diese Politik unterstützt«24 . Arendt zufolge wird die Praxis des zivilen Ungehorsams durch den Bezug zum Gewissen entschärft, da das Gewissen unpolitisch ist.25 Ziviler Ungehorsam ist »also etwas, das [Arendt] zufolge immer nur in einer Gemeinschaft beziehungsweise ›Pluralität‹ von Menschen und im Lichte der Öffentlichkeit stattfinden kann«26 .

20

Ebd., 15.

21

Vgl. H. Arendt, Ziviler Ungehorsam, in: dies., In der Gegenwart: Übungen zum politischen Denken II, München/Zürich 2017, 283-321.

22

Ebd., 286.

23

Ebd.

24

Ebd.

25

Vgl. ebd.

26

A. Braune, Ziviler Ungehorsam, 130.

V. Status confessionis

Auch für Arendt ist die Vereinbarkeit des zivilen Ungehorsam mit der Verfassung und dem Regierungssystem offensichtlich.27 Wer zivilen Ungehorsam praktiziert, akzeptiere ja schließlich »die generelle Rechtmäßigkeit der Rechtsordnung«28 . Arendt deutet die Attraktivität des zivilen Ungehorsams als Ausdruck der Krise des repräsentativen Regierungssystems, das eine wirkliche Beteiligung der Bürger*innen nicht mehr ermöglicht und unter »der Bürokratisierung und der in (…) Parteien vorhandenen Tendenz, niemand außer den eigenen Parteiapparat zu repräsentieren«29 , leidet. Für sie ist der zivile Ungehorsam Ausdruck »organisierte[r] Minderheiten (…), die sich, wie sie annehmen, sprachlosen, wenngleich keineswegs ›schweigenden‹ Mehrheiten widersetzen, und es ist, meine ich, unbestreitbar, daß diese Mehrheiten sich unter dem Druck der Minderheiten stimmungs- und meinungsmäßig in einem erstaunlichen Grad gewandelt haben«30 . Auch für Arendt gehört die Gewaltlosigkeit zum Markenzeichen des zivilen Ungehorsams, dennoch unterscheidet sich ihr Verständnis des zivilen Ungehorsams von Habermas’ Version, denn ziviler Ungehorsam geht bei ihr nicht immer mit »der Anerkennung des bestehenden Systems und der Bereitschaft, die Strafe auf sich zu nehmen«, einher.31 Zu Recht fragt sie kritisch, ob etwa Gandhi »die Rechtmäßigkeit der Rechtsordnung« anerkannt habe.32 Ziviler Ungehorsam kann also durchaus für radikale Veränderung stehen. Arendts handlungstheoretische Position ähnelt deshalb eher »radikaldemokratischen Überlegungen (…), die [den zivilen Ungehorsam] (…) als Politisierungsstrategie und Instrument politischen Wandels betrachten«33 . Habermas’ Position wurde für die politische Debatte in der Bundesrepublik zum Referenzpunkt einer liberalen Version des zivi27

Vgl. ebd.

28

H. Arendt, Ziviler Ungehorsam, 301.

29

Ebd., 310.

30

Ebd., 318.

31

A. Braune, Ziviler Ungehorsam, 131.

32

H. Arendt, Ziviler Ungehorsam, 301.

33

A. Braune, Ziviler Ungehorsam, 132.

121

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Revolutionäres Christentum

len Ungehorsams. Gegenwärtig scheint jedoch Arendts Position das Selbstverständnis von Aktivist*innen besser widerzuspiegeln. Dazu zwei Beispiele: »XR versteht seinen Protest als Zivilen Ungehorsam. Rebell*innen gehen i.d.R. für eine begrenzte Zeitspanne in den ZU, um auf den drohenden planetaren Kollaps aufmerksam zu machen. Es handelt sich um einen symbolischen Alarm, der als Teil der politischen Meinungsbildung verstanden werden sollte. Zu dauerhaftem politischen Widerstand sind die Menschen zurzeit wohl mehrheitlich noch nicht bereit. Das zentrale Momentum von XR ist die Gewaltfreiheit. Die strikte Gewaltfreiheit gegenüber Personen ist ein unumstößlicher Konsens. Auch Gewalt gegen Sachen wird von der großen Mehrheit abgelehnt. Eine befreite und solidarische Gesellschaft erkämpfen wir uns nicht durch gewalttätige Proteste.« (Tino Pfaff, Pressesprecher von Extinction Rebellion Deutschland)   »Ich mache mein Verständnis von Protest nicht starr an Begrifflichkeiten fest. Für mich ist es wichtig, dass politische Praxis niemals nur rein symbolisch sein darf. Widerstand ist keine passive Haltung, sondern der aktive Versuch, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu ändern. Dieses Verständnis bezieht die Frage der Gewalt klar mit ein – und hier gibt es für mich keine ›ewige Wahrheit‹ der pauschalen Gewaltlosigkeit. Ich kann einen Kohlebagger sabotieren; ich kann mich gegen einen Polizisten wehren, der gerade auf mich eintritt und bleibe Humanist. Die Geschichte hat gezeigt, dass Widerstand gegen ein auf Gewaltausübung beruhendes System nicht ohne Formen von Gegengewalt auskommen kann.« (Jan, StudentsForFuture) Jan von den StudentsForFuture steht für einen Protest, der Gewalt als ultima ratio nicht generell ausschließt. Hier wäre eher von politischem Widerstand und nicht von zivilem Ungehorsam zu reden. Tino Pfaff von Extinction Rebellion begreift die eigenen Aktionen als Ausdruck des zivilen Ungehorsams, der mehrheitlich als gewaltfrei gedeutet wird. Aber auch das Verständnis des zivilen Ungehorsams von Extinction Rebellion scheint über das Modell von Rawls und Habermas hinauszugehen, enthält es doch zumindest Momente ei-

V. Status confessionis

nes »›verhindernden‹ zivilen Ungehorsams«, der darauf ausgerichtet ist, »die Umsetzung einer konkreten Politik physisch zu verhindern oder ihre politischen und ökonomischen Kosten durch Blockaden in die Höhe zu treiben, um sie so zu erschweren oder indirekt zu verhindern«34 . Ein solcher Ungehorsam kann deshalb teilweise Aktionen »direkter Intervention«35 mit einschließen. In der kirchlichen Pastoral wird der Blick auf christliche Radikalität oft durch das »Pathos existentieller Radikalität« vernebelt, welches den christlichen Glauben in seiner politischen Dimension stillstellt.36 Lebendig bleibt der Glaube aber nur im Widerspruch. Er muss eingesetzt, um gewonnen zu werden.37 Ohne Entäußerung gibt es keine christliche Existenz. Die Institution Kirche darf ihre Hoffnung nicht verwalten. Sie muss sie einlösen. Es gibt Christ*innen, die das sehr wohl wissen und aus diesem Grund zivilen Ungehorsam praktizieren. So beispielsweise im Kirchenasyl. Das jüngste prominente Beispiel ist die Äbtissin Mechthild Thürmer, die Geflüchteten im Koster Kirchschletten Asyl gewährt. Sie beruft sich dabei einerseits auf das Gewissen, andererseits auf die Tradition dieser Praxis.38 Mit dem Hinweis auf die Tradition bekommt der Ungehorsam eine politische Dimension, da die Äbtissin sich damit auf eine von vielen anderen Menschen geteilte Praxis beruft, in die sie sich einreiht. Hinzu kommt, dass sie von ihren Mitschwestern Unterstützung erfährt, also in der Gruppe handelt. Für das Christentum ist Gewaltfreiheit zentral. Das Referenzdokument für die Gewaltfreiheit ist bekanntlich die Bergpredigt. Ob allerdings Jesus hier einen absoluten Pazifismus propagiert, ist unter Theolog*innen umstritten. Jesus sagt zwar: »(…) wenn dich 34

A. Braune, Zur Einführung: Definitionen, Rechtfertigungen und Funktionen politischen Ungehorsams, in: ders. (Hg.), Ziviler Ungehorsam, 9-38, 30.

35

Ebd.

36

Vgl. J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 292.

37

In Anlehnung an eine Formulierung von Jürgen Moltmann: ebd., 311.

38

Vgl. Äbtissin Thürmer: Würde Gefängnisaufenthalt für Kirchenasyl hinnehmen, in: https://www.katholisch.de/artikel/26657-aebtissin-thuermer-wue rde-gefaengnisaufenthalt-fuer-kirchenasyl-hinnehmen (abgerufen am 28. 03.2021).

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124

Revolutionäres Christentum

jemand auf deine rechte Backe schlägt, halte ihm auch die andere Backe hin.« (Mt 5, 39) Er sagt aber nicht: Wenn du siehst, wie einer anderen Person auf die rechte Backe geschlagen wird, dann sage ihr, sie solle auch die andere hinhalten. Und er sagt erst recht nicht: Wenn du siehst, wie ein Mensch geschlagen wird, dann schau zu.39 Verlangt nicht die Liebe, dazwischenzugehen? Metz benennt »das christliche Dilemma: außerhalb der Liebe ist es nicht zu überwinden und Unschuld nicht zu bewahren – weder durch ein Prinzip unbedingter Gewaltlosigkeit noch durch vermeintliche Neutralität, da derjenige, der nicht handelt, der Stimme sich enthält, an all dem mitschuldig werden kann, was ungetan, unversucht und ungerettet bleibt. Und weil Gewaltlosigkeit auch getarnte Feigheit sein kann, weil sie die Züge des Opportunismus tragen kann, ist das Antlitz der Liebe nicht eindeutig von ihr geprägt; Liebe kann – für Augenblicke, und niemals gesucht, immer aufgedrängt – das finstere Antlitz der Gewalt als Ausdruck ihrer Verzweiflung annehmen. Freilich so, dass die Liebe immer weiß, wie sehr sie durch jegliche Gewalt verletzt wird.« Und er zitiert den Befreiungstheologen Ernesto Cardenal: »Der wirkliche Revolutionär ist der Feind der Gewalt, er will das Leben und nicht den Tod.«40

2.

Polizeigewalt und das Schweigen der Kirche

Der Staat reagiert auf Aktionen des zivilen Ungehorsams mit dem Einsatz der Polizei. In diesen Situationen treffen zwei Mächte aufeinander: die zivilgesellschaftliche Veränderungsmacht und die staatliche Ordnungsmacht. Beiden liegt eine Ethik zugrunde. Regierungspolitik ist verantwortlich für Ordnungsverhältnisse. Als 39

Vgl. dazu: J. B. Metz, Ein produktives Ärgernis – Rede zur Verleihung des Friedenspreises an Ernesto Cardenal, Frankfurt 1980, in: https://www.friede nspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/1980-1 989/ernesto-cardenal (abgerufen am 08.03.2021).

40 Ebd.

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Revolutionäres Christentum

jemand auf deine rechte Backe schlägt, halte ihm auch die andere Backe hin.« (Mt 5, 39) Er sagt aber nicht: Wenn du siehst, wie einer anderen Person auf die rechte Backe geschlagen wird, dann sage ihr, sie solle auch die andere hinhalten. Und er sagt erst recht nicht: Wenn du siehst, wie ein Mensch geschlagen wird, dann schau zu.39 Verlangt nicht die Liebe, dazwischenzugehen? Metz benennt »das christliche Dilemma: außerhalb der Liebe ist es nicht zu überwinden und Unschuld nicht zu bewahren – weder durch ein Prinzip unbedingter Gewaltlosigkeit noch durch vermeintliche Neutralität, da derjenige, der nicht handelt, der Stimme sich enthält, an all dem mitschuldig werden kann, was ungetan, unversucht und ungerettet bleibt. Und weil Gewaltlosigkeit auch getarnte Feigheit sein kann, weil sie die Züge des Opportunismus tragen kann, ist das Antlitz der Liebe nicht eindeutig von ihr geprägt; Liebe kann – für Augenblicke, und niemals gesucht, immer aufgedrängt – das finstere Antlitz der Gewalt als Ausdruck ihrer Verzweiflung annehmen. Freilich so, dass die Liebe immer weiß, wie sehr sie durch jegliche Gewalt verletzt wird.« Und er zitiert den Befreiungstheologen Ernesto Cardenal: »Der wirkliche Revolutionär ist der Feind der Gewalt, er will das Leben und nicht den Tod.«40

2.

Polizeigewalt und das Schweigen der Kirche

Der Staat reagiert auf Aktionen des zivilen Ungehorsams mit dem Einsatz der Polizei. In diesen Situationen treffen zwei Mächte aufeinander: die zivilgesellschaftliche Veränderungsmacht und die staatliche Ordnungsmacht. Beiden liegt eine Ethik zugrunde. Regierungspolitik ist verantwortlich für Ordnungsverhältnisse. Als 39

Vgl. dazu: J. B. Metz, Ein produktives Ärgernis – Rede zur Verleihung des Friedenspreises an Ernesto Cardenal, Frankfurt 1980, in: https://www.friede nspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/1980-1 989/ernesto-cardenal (abgerufen am 08.03.2021).

40 Ebd.

V. Status confessionis

solche ist Regierungspolitik Machtpolitik, da Ordnungsverhältnisse Machtverhältnisse sind. Macht ist jedoch nur so lange politisch, wie sie auf ein gutes Zusammenleben zielt, mit einem anderen Wort, auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Das unterscheidet Machtpolitik von bloßer Herrschaft. Machtpolitik lässt sich von Regeln leiten und sichert Ordnung. Veränderungsmacht zielt auf die Veränderung der Regeln, stört die Ordnung.41 Die Ethik der Machtpolitik ist die Ordnung, die Ethik der zivilgesellschaftlichen Politik ist die Veränderung. Anders als die Ordnungsethik zielt Veränderungsethik auf die produktive Destabilisierung bestehender Ordnungsmuster. Eine Demokratie zeichnet sich durch die Zivilisierung dieser Machtkollision aus. Das erste Gebot dieser Zivilisierung lautet: Gewaltlosigkeit. Die Polizei übt Gewalt im Sinne staatlicher Gewalt aus, nicht weil sie es will, sondern weil sie es muss. Das ist ihr »zentrales Erkennungsmerkmal«.42 Aktivist*innen dürfen diese Gewalt nicht verteufeln. Damit polizeiliches Handeln aber nicht in bloße Gewalt umkippt, muss sie verhältnismäßig und darf sie nicht willkürlich sein. »Im Gesetz scheint genau geregelt zu sein, was die Polizei zu tun hat«, aber »nicht mehr so genau geregelt ist die Frage, wie sie es zu tun hat.«43 Diese Leerstelle ist ein Einfallstor unverhältnismäßiger Gewalt. Vor ihr kann nur eine Polizeikultur bewahren. Kultur im normativen Verständnis ist auf Gewaltminimierung ausgerichtet.44 Eine gute Ärzt*in ist eine Ärzt*in, die sich nie an

41

Ulrich Beck spricht von Politik und Subpolitik: U. Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt 1993, 206. Dazu auch: J. Manemann, Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik, Ostfildern 2013, 60.

42

Vgl. R. Behr, Polizeikultur: Routinen – Rituale – Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, Wiesbaden 2006 (E-Book), Pos. 410.

43

Ders., Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, in: Betrifft JUSTIZ Nr. 69/März 2002, 272-276, 272.

44

Vgl. B. Liebsch, Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, 36-41.

125

126

Revolutionäres Christentum

den Tod der Patient*innen wird gewöhnen können. Eine gute Polizist*in ist eine Polizist*in, die zwar in der Lage ist, Gewalt als Mittel zu gebrauchen, die sich aber nicht an die Anwendung von Gewalt gewöhnen kann. Das zeichnet eine Polizeikultur aus, deren »Drehund Angelpunkt und auch (…) Prüfsteinstein« Gewalt ist.45 Der Polizeisoziologe Rafael Behr unterscheidet innerhalb der Polizei zwei Kulturen: eine »Polizeikultur« und eine »Polizistenkultur«.46 Letztere bezeichnet er als »Cop Culture«47 . Die Polizist*innenkultur sei das »›Konzentrat‹ des polizeilichen Alltagswissens«48 und divergiere von der offiziellen Polizeikultur: »Während Polizeikultur identisch ist mit dem, wie das Management die Polizei sieht und nach außen vertritt, ist Cop Culture eine nach innen gerichtete Alltagskultur derjenigen Polizist*innen, die unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum haben oder kurz: Cop Culture repräsentiert die ›Regeln der Straße, Polizeikultur die der Politik‹.«49 In der Cop Culture sei »der Bürger nicht Kunde, sondern Herrschaftsunterworfener. Und der Polizist ist nicht Dienstleister, sondern Vertreter der Staatsmacht«50 . Behr sieht v.a. die Cop Culture der BF-Einheiten der Bereitschaftspolizei (BF = Beweisnahme und Festnahme) sehr kritisch. Deren Mitglieder charakterisiert er als besonders »robust« und »eher militärisch«. In diesen Einheiten dominiere eine »polizeiliche Maskulinität«, »Kampfbereitschaft«, »unbedingte Solidarität«, eine »Krieger-Männlichkeit« und FreundFeind-Mentalität.51

45

R. Behr, Polizeikultur, Pos. 54.

46

Vgl. ebd.

47

Ebd., Pos. 137.

48

Ebd., Pos. 333.

49

Ders., »Die Polizei muss … an Robustheit deutlich zulegen«: Zur Renaissance aggressiver Maskulinität in der Polizei, in: D. Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt a.M. 2018 (E-Book), Pos. 3024.

50

Ebd., Pos. 3074.

51

Ebd.

V. Status confessionis

»Die ›Kunden‹ der BFE sind ausdrücklich keine ›Normalbürger‹ (wie Polizisten sich selbst und ihre Familien, Freunde etc. bezeichnen und auch den Teil der Bevölkerung, für den sie nicht zuständig sind), sondern ›Gegner‹, ›Störer‹, ›Verdächtige‹, ›Zielpersonen‹ oder zusammenfassend: potente Widersacher. Das Fehlen der Normalität macht die BFE funktional elitär, für das zivile Selbstverständnis der Polizei aber auch riskant.«52 Behr sieht die gegenwärtige Neuausrichtung der Polizei sehr problematisch: »War die Botschaft aus NRW in den 1980er und 1990er Jahren noch ›Kommunikation, so lange es irgendwie geht‹, so lautet sie jetzt: ›Einschreiten so konsequent wie möglich‹. Solche Nachrichten verdichten sich gegenwärtig in ganz Deutschland: Ob es neu geschaffene Spezialeinheiten in Hamburg zur Festnahme von Personen auf Dächern oder die sogenannte ›BFE+‹-Einheiten sind, zunehmend wird eine größere Härte der Polizei verlangt.«53 »Robustheit« und »Konsequenz« sind die neuen Euphemismen für Gewaltanwendung. Den Entscheidungsträger*innen scheint nicht deutlich zu sein, dass praktizierte Gewalt verändert: Sie verändert diejenigen, die sie ausüben. Sie verändert, zerstört, ja löscht vielleicht sogar diejenigen aus, denen sie gilt, und sie verändert auch diejenigen, die ihr nur zusehen, und auch diejenigen, die von ihr nur vom sogenannten Hörensagen wissen. Erreicht die Politik mit der Polizeigewalt nicht ihr Ziel, »wird das Ergebnis schließlich sein, daß die Welt gewalttätiger geworden ist, als sie es vorher war«54 . Und diese Folgen gelten sowohl für praktizierte domestizierte als auch und erst recht für nicht-domestizierte Gewalt. Was könnten Menschen über den Staat denken, nachdem sie von Bereitschaftspolizist*innen im staatlichen Gewand verkleidete

52

Ders., Polizeikultur, Pos.1438-1440.

53

Ders., Die Polizei, Pos. 3013.

54

Hannah Arendt hat auf diese unterschiedlichen Gefahrenpotentiale der Anwendung von Gewalt hingewiesen: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 18

2008, 80.

127

128

Revolutionäres Christentum

individuelle Gewalt erleben mussten? Was geht in ihnen vor, wenn die Polizei nicht alles in ihrer Macht Stehende unternimmt, um diese Gewalt zu sanktionieren? Vielleicht haben einige dieser Menschen durchaus damit gerechnet, im Zuge einer Blockade einen Schlag ins Gesicht zu bekommen? Vielleicht dachten sie auch bei sich, sie wüssten schon, was es heißt, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen? Vieles geschieht so wie in der Vorstellung, aber vieles auch nicht. Und so könnte es sein, dass einigen Aktivist*innen plötzlich mit diesem einen Schlag das Weltvertrauen für ihr ganzes Leben abhandenkommt. Was passiert mit Menschen, die erleben, wie etwa eine Einsatzgruppe der Polizei Hunde ohne Maulkorb in eine Gruppe von Aktivist*innen treibt, zu denen offensichtlich auch Menschen mit Beeinträchtigungen gehören – so geschehen beim Protestmarsch gegen den Braunkohleabbau im Tagebau Hambach am 28. September 2020?55 Was passiert mit Bürger*innen, wenn sie nicht mehr auf die Legalität und Legitimität der staatlichen Schutzmacht vertrauen dürfen? Dann schwindet das Vertrauen in den Rechtsstaat, dann bereitet die Staatsmacht den Nährboden für Radikalismus und Extremismus. Der Regelbruch derjenigen, die die Einhaltung derselben garantieren sollen, wiegt schwerer als der Regelbruch von Demonstrant*innen. Nicht zuletzt deshalb, weil staatlicher Regelbruch Kennzeichen autoritärer Regierungen ist. Und nicht nur das: Der Sieg durch Gewalt hat, so zeigt es Arendt, den Verlust der eigenen Macht zur Folge.56 Durch Gewalt unterminiert sich die Staatsmacht selbst. An diesen Bruchstellen hätte Kirche Präsenz zu zeigen. Sie kümmert sich in der Seelsorge um Polizist*innen, aber sie kümmert sich zu wenig bis gar nicht um Aktivist*innen. Sie lässt die Aktivist*innen im Pfefferregen stehen. Selbst dann bleibt der große Aufschrei in der Kirche aus, wenn Christ*innen an Gottesdiensten an den politischen Bruchstellen gehindert werden oder eine kirchliche Be-

55

Siehe: P. Haermeyer, Polizeigewalt beim Bunten Finger Ende Gelände, 28.09.2020, in: https://id-id.facebook.com/patrick.haermeyer/videos/9026 00680230579/?redirect=false (abgerufen am 14.02.2021).

56

Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, 55.

V. Status confessionis

obachterin Gewalt erfährt. Der Evangelische Pressedienst berichtet am 19.01.2021: »Die Initiative ›Die Kirche(n) im Dorf lassen‹ kritisiert einen Einsatz der Polizei gegen Umweltaktivisten am Braunkohletagebau Garzweiler II. Eine Theologin sei kurz nach ihrer Predigt in einem Gottesdienst am Montag in dem Dorf Erkelenz-Lützerath von Polizisten umringt, gestoßen und mehrfach auf den Rücken geschlagen worden, erklärte die Initiative in der Nacht zum Dienstag. (…) Nach Polizeiangaben vom Montag hatten Kleingruppen mit je bis zu 20 Aktivisten zwei Zufahrtsstraßen Richtung Lützerath blockiert. Eine Gruppe habe kurzzeitig einen für die Abrissarbeiten benötigten Tieflader von RWE im Weiterfahren gehindert. Die Proteste richteten sich gegen die geplante Abbaggerung des Dorfes und weiterer Ortschaften, die dem Braunkohleabbau weichen sollen. Die Polizei teilte mit, eine vor Ort von Aktivisten als Gottesdienst durchgeführte Veranstaltung sei ohne Störungen verlaufen. Die Aktivisten seien ohne Widerstand zu leisten aus ihrer Sitzblockade gelöst worden, so die Polizei. Hierbei sei ein Aktivist leicht verletzt worden. Es habe zudem zwei Versuche von Aktivisten gegeben, Absperrzäune zu überwinden. Den erteilten Platzverweisen kamen die Demonstranten laut Polizei nach. Eine vor Ort von Aktivisten als Gottesdienst durchgeführte Veranstaltung sei ohne Störungen verlaufen. Der Einsatz sei insgesamt friedlich verlaufen, so die Polizei, die nach eigenen Angaben mit mehreren Dutzend Beamten der Einsatzhundertschaft vor Ort war. Die Initiative ›Die Kirche(n) im Dorf lassen‹ erklärte hingegen, die Polizei sei von zwei Seiten in die Gottesdienstgemeinde eingedrungen, als sich eine Gruppe von Klimaaktivisten dem Gottesdienst angeschlossen habe. Die Gemeinde sei schließlich durch eine doppelte Polizeikette getrennt worden. Neben der Theologin seien auch andere Gottesdienstbesucher gestoßen worden. ›Die Initiative forderte mehrfach erfolglos eine Erklärung des Einsatzleiters für diese Maßnahme und den Abzug der Polizeikette‹, hieß es. Nach einer Stunde habe der Gottesdienst fortgesetzt werden können. Die Initiative verlangte eine Erklärung der Aachener Polizei für diesen ›Verstoß gegen die

129

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Revolutionäres Christentum

grundgesetzlich garantierte Freiheit der Religionsausübung‹. Für eine Stellungnahme zu diesen Vorfällen war die Polizei Aachen am Dienstagmorgen zunächst nicht zu erreichen.«57 Die Münstersche Zeitung berichtet folgenden Vorfall: »Diese Nacht möchten Benedikt Kern, Nils Laackmann und Dr. Julia Lis nicht noch einmal erleben. Die drei Mitarbeiter des Instituts für Theologie und Politik wurden am Abend des 1. Februar in ihrem Auto auf einer Straße am Kohlekraftwerk Datteln von der Polizei festgenommen und ins Präsidium nach Recklinghausen gebracht. ›Wir mussten uns entkleiden, wurden durchsucht, auch die Körperöffnungen‹, erzählt der Theologe Kern. Den Rest der Nacht verbrachten die drei ›halbnackt und frierend‹ in jeweils einer Einzelzelle. Der Vorwurf? Sie seien zur Verhinderung von Straftaten festgehalten worden, so die Polizei. Für den 1. und 2. Februar war eine Protestaktion gegen den Weiterbetrieb des Steinkohlekraftwerks Datteln IV von der Initiative ›Ende Gelände‹ angekündigt. (…) Die drei Münsteraner waren von den Protest-Initiatoren, wie sie sagen, ›eingeladen worden, die Aktion zu beobachten und zu begleiten‹. Benedikt Kern: ›Wir kannten keine Einzelheiten, wussten noch nicht einmal, wann demonstriert werden sollte.‹ Die Theologin Dr. Julia Lis, die das Vorgehen der Polizei als ›entwürdigend‹ erlebte, will nun rechtlich klären lassen: ›Darf man so was machen?‹«58 Wäre es nicht Aufgabe der Polizeiseelsorger*innen, um der Aktivist*innen und der Polizist*innen willen die Forderungen von Amnesty International einzufordern, etwa »die flächendeckende Einführung einer Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen, die in Deutschland noch immer nicht in allen 57

Evangelischer Pressedienst, Kirchliche Initiative kritisiert Polizeieinsatz bei Gottesdienst, in: https://www.evangelisch.de/inhalte/181405/19-01-2021/ki rchliche-initiative-kritisiert-polizeieinsatz-bei-gottesdienst (abgerufen am 14.02.2021).

58

K. Völker, Theologen aus Münster wehren sich gegen Polizei-Maßnahmen bei Protest in Datteln, Münstersche Zeitung 11.02.2020.

V. Status confessionis

Bundesländern herrscht, um gewalttätige Beamte identifizieren und zur Rechenschaft ziehen zu können. Es bedarf einer unabhängigen Meldestelle und Ermittlungsinstanz, sodass die Polizei bei Anzeigen von Fehlverhalten nicht länger gegen sich selbst ermitteln muss. Auch die Videoaufzeichnung von Bereichen in Polizeiwachen, in denen sich Inhaftierte aufhalten, könnten unter geeigneten Bedingungen ein Weg sein, Misshandlungen in Gewahrsam zu vermindern.«59 Aktionen des zivilen Ungehorsams sind Strategien, die die »Revolution für das Leben« vor einer Totalisierung bewahren. Sie zielen nämlich nicht auf den Umsturz, sondern unterbrechen und stören, um die Gesellschaft und ihre Institutionen veränderbar zu halten.60

59

D. Loick, Was ist Polizeikritik?, in: ders. (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt a.M. 2018 (E-Book), Pos. 563-568.

60 Diese Idee einer permanenten Revolution findet sich bei Richard Shaull: H.E. Tödt, Revolution als neue sozialethische Konzeption, Eine Inhaltsanalyse, 1340, in: T. Rendtorff/HE. Tödt, Theologie der Revolution. Analysen und Materialien, Frankfurt 1968, 13-41, 22.

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VI. Die Stille im Himmel

1.

Exoduspolitik

In der gegenwärtigen Situation prallen zwei Welten zusammen. Deshalb ist eine begriffliche Unterscheidung hilfreich, und zwar zwischen globus und mundus.1 Die Welt als globus gedacht ist das, »was uns umschließt, bestimmt und nicht entkommen lässt«2 . Mundus ist die Welt zwischen uns.3 Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung, denn die Welt als mundus verstanden »schließt uns nicht ein wie der Globus, sondern entsteht zwischen uns, sobald wir zu handeln beginnen«4 . Politik, die sich nur auf den Globus bezieht, ist reine Machtpolitik. Sie ist definiert als sogenannte Realpolitik. Ihre Vertreter*innen beanspruchen genau zu wissen, was es mit der Realität auf sich hat. Aber wer weiß schon zu sagen, was die Realität ist, geschweige denn, was in der sogenannten Realität möglich ist und was nicht? Wie können wir* überhaupt herausfinden, was unsere Gegenwart an Möglichkeiten bereitstellt? Wer tatsächlich das Mögliche Wirklichkeit werden lassen möchte, muss immer auch das Unmögliche wünschen. Das Unmögliche ist nämlich nicht das Gegenteil des Möglichen, sondern dessen Bedingung. Realpolitik, die auf diese Zusammenhänge nicht reflektiert, zerstört mit ihrem sogenannten Realitätssinn jeglichen

1

Vgl. O. Marchart, Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005, 166ff.

2

Ebd., 166.

3

Vgl. ebd., 167.

4

Ebd., 89.

134

Revolutionäres Christentum

Möglichkeitssinn.5 Eine solche Politik steht in der Gefahr, in bloße Verwaltung umzukippen. Die »Revolution für das Leben« ist Ausdruck mundialer Politik, die auf die Veränderung der Parameter zielt, die als »möglich« und »real« charakterisiert sind. Sie ist eine Kunst des Unmöglichen. Mundiale Politik ist unterbrechende Politik. Eine solche Politik begnügt sich nicht mit Realitätssinn, sondern evoziert Möglichkeitssinn. Ihr Modus ist nicht das Herstellen, sondern das Handeln. Das Spezifikum des Handelns ist das Neubeginnen.6 Dieses markiert den Unterschied zwischen Handeln und Herstellen: Handeln verändert.7 Aus Sicht der biblischen Traditionen ist mundiale Politik Exoduspolitik. Michael Walzer hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein Verständnis von Politik, das von den biblischen Erfahrungen des Exodus ausgeht, eine Politik ist, die den Realitäten standzuhalten versucht, ohne sich ihnen auszuliefern: »Wir – oder viele von uns – glauben immer noch an das, was der Exodus uns über Sinn und Möglichkeit von Politik lehrte (…): erstens, daß, wo immer man lebt, wahrscheinlich Ägypten ist; zweitens, daß es einen besseren Ort, eine reizvollere Welt, ein Gelobtes Land gibt; und drittens, daß der Weg zu dem Land durch die Wüste führt.«8 Der Auszug aus Ägypten ist die biblische Basiserfahrung.9 Aus diesem Grund bedeutet das Erreichen des verheißenen Landes Kanaan für die Israelit*innen auch nicht das Ende des Exodus. Der Exodus ist nicht Vergangenheit, sondern als Erinnerung permanenter Aufruf zum Auszug aus neuen Gefangenschaften in bessere Welten. Diese Erinnerung fordert ebenso den Auszug aus bürgerlich5

Vgl. dazu: J. Manemann, Wie wir gut zusammen leben, 101f..

6

Vgl. O. Marchart, Neu Beginnen, 18; H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, 217.

7

Vgl. J. Manemann, Unterwegs zu einer Exoduspolitik – Eine Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik, in: B. Kempen/K. Neumann (Hg.), Demokratie und Religion, Frankfurt a.M. 2011, 9-26, 20.

8

M. Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988, 157.

9

Die folgenden Ausführungen stammen aus: J. Manemann, Unterwegs zu einer Exoduspolitik, 16f.

VI. Die Stille im Himmel

kapitalistischen Abhängigkeiten. Der Exodus steht für eine Macht jenseits der staatlichen Macht: G-ttesmacht. Die Exoduserinnerung ist paradoxal: Einerseits wirkt sie als Rettungsanker in der Bodenlosigkeit, stiftet sie doch fortwährend Identität; andererseits ist sie der Grund einer permanenten Bodenlosigkeit. Dasein wird in und durch diese Erinnerung zum Exodus-Sein. Die Basalität des Exodus zeigt sich auch daran, dass er in den biblischen Traditionen zur Grundlage der Moral avanciert. Mit der Erinnerung an den Auszug werden die Richtigkeit und die Einhaltung der Gebote begründet. So steht im Buch Deuteronomium (Dtn 6,2025): »Wenn dein Kind dich morgen fragt: ›Was sind das für Weisungen, Bestimmungen und Rechtssätze, die Adonaj, unsere Gottheit, euch gegeben hat?‹« – dann sollst du ihm die Geschichte des Auszugs aus Ägypten erzählen. Losgelöst von der Erinnerung an die Befreiung aus der Unterdrückung gibt es in den biblischen Traditionen keine Ethik. Nur so wird deutlich, dass die Gebote nicht den Charakter der Knechtschaft besitzen, sondern der Bewahrung der Freiheit dienen. Die Erinnerung an den Exodus verlangt, nicht bei der Wahrnehmung des eigenen Leids stehen zu bleiben, sondern vorzudringen zur Wahrnehmung des fremden Leids.10 Die Erinnerung an das Leid im Exil soll öffnen für das Leid der Anderen. Und so avanciert die Erinnerung an das eigene Fremdsein zum hermeneutischen Schlüssel aller sozialen Vorschriften.11 Im Bundesbuch, der ältesten Rechtssammlung Israels, werden diese durch zwei Verse eingerahmt. Der erste Vers lautet: »Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypterland gewesen.« (Ex 22,20) Der andere Vers sagt: »Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil auch ihr Fremdlinge in Ägypterland gewesen seid.« (Ex

10

Vgl. zur Wahrnehmung fremden Leids: J. B. Metz, Memoria Passionis.

11

Vgl. F. Crüsemann, Das Gottesvolk als Schutzraum. Zum biblischen Asyl- und Fremdenrecht und seinen religionsgeschichtlichen Hintergründen, in: WolfDieter Just (Hg.), Asyl von unten. Kirchenasyl und ziviler Ungehorsam. Ein Ratgeber, Reinbek 1993, 48-71, 63.

135

136

Revolutionäres Christentum

23,9) Demgemäß steht die gesamte Ethik in dem Verhalten gegenüber den fremden Anderen auf dem Prüfstand.12 Politik aus der Erinnerung an den Exodus steht für politisches Handeln in seinem originären Sinn: für die Initiative, etwas Neues anzufangen.13 Eine Kirche, die sich im Zusammenhang einer »Revolution für das Leben« als nachbürgerliche Initiativkirche versteht, besitzt die Fähigkeit, durch ein Miteinanderhandeln mit anderen das Weiter-so-Handeln zu unterbrechen14 und Neuanfänge zu setzen. Die »Revolution für das Leben« reißt wie andere Revolutionen »eine Lücke in die Zeit«, spannt sie doch einen neuen Zeitraum auf, ein neues Zwischen, aber dieses ist nicht zu verstehen als eine Lücke »zwischen dem Ende des Alten und dem Beginn des Neuen«15 . Die »Revolution für das Leben« erschüttert das Alte, bricht es auf, zersplittert es, aber sie wirft diese Splitter nicht weg, sondern setzt sie neu zusammen. Auch sie ist, um mit Hannah Arendt zu sprechen, ein Wunder im Bereich der Geschichte, »etwas, das nach Maßgabe aller Erfahrung, Berechnung und Erwartung jeglicher Wahrscheinlichkeit spottet, uns unverfügbar ist (…).«16 Aber sie kommt nicht aus dem »Nirgendwo«17 . Dennoch setzt sie einen Neuanfang im Handeln, weil sie geschichtliche Abläufe unterbricht. Aus diesem Grund schafft die »Revolution für das Leben« das bestehende demokratische Institutionengefüge auch nicht ab, sondern bricht es für Neues auf. Dadurch werden die alten Strukturen produktiv destabilisiert und neu verflüssigt. Diese Revolution löst den Zusammenhang zwischen Initiative und Institution nicht auf, sondern bringt beide in ein spannungsreiches Verhältnis.18 Aber im 12

Vgl. ebd.

13

Vgl. O. Marchart, Neu beginnen, 43; Hannah Arendt, Vita activa, 217.

14

Vgl. zum Miteinander gegen ein Weiterhandeln in Revolutionen: G. Hindrichs, Philosophie der Revolution, 11.

15

So fasst es O. Marchart mit Rückgriff auf H. Arendt zusammen: O. Marchart, Neu beginnen, 64; Zitat aus: H. Arendt, Über die Revolution, München/Zürich 7 2011, 264.

16

Marchart, Neu beginnen, 68.

17

Ebd.

18

Ebd., 133.

VI. Die Stille im Himmel

Unterschied zu Arendts Revolutionsverständnis handelt es sich hier um eine Revolution in Permanenz. Als solche tendiert sie weniger dazu, selbst in eine neue Herrschaftspolitik umzukippen. Nicht zuletzt deshalb, weil es hier nicht die eine Revolution als kollektive Ereigniserfahrung gibt, sondern viele Ereignisse mit revolutionärer Sprengkraft, welche Mannigfaltiges hervorbringen. Die gegenwärtige repräsentative Demokratie offenbart bekanntlich Demokratiedefizite. Das Parlament repräsentiert nicht die Diversität der Gesellschaft. In der repräsentativen Demokratie dominieren mittlerweile die Parteien. Eine »Revolution für das Leben« bricht diese Dominanz auf. Sie kämpft dafür, neben der Legislativen, Judikativen und Exekutiven eine »Konsultative«19 ins Leben zu rufen: Bürger*innenräte auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Diese Räte sollen per Losverfahren zusammengesetzt werden. Sie ergänzen das repräsentative Modell durch direkt-demokratische Elemente. Solche Räte demokratisieren die Demokratie, da wir Bürger*innen durch sie produktiv repolitisiert werden. Ihre Mitglieder hätten die Aufgabe, gemeinwohlorientierte Empfehlungen an die Parlamente zu adressieren, mit denen diese sich nachweislich intensiv auseinandersetzen müssten.20 Eine Kirche, der es ernst wäre mit dem Exodusg-tt, würde die Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen, sich im Kontext dieser institutionellen Neufigurationen als partizipative Gemeinschaft wiederzuentdecken. Auf dem synodalen Weg könnten analoge Räte in der Kirche ins Leben gerufen werden, um die eigenen verkrusteten Strukturen aufzubrechen und derart zu verflüssigen, dass Kirche wirklich neu würde. Anknüpfungspunkte hierfür gibt es bereits, aber diese leiden immer noch an einer binnenkirchlichen Fixierung. Eine nachbürgerliche Initiativkirche, die sich als Projekt G-ttes im Horizont einer »Revolution für das Leben« begreift, würde eine jesuanische Leidenschaft freisetzen, die sich nicht mit Masterplänen 19

P. Nanz/C. Leggewie, Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2018.

20

Vgl. B. Heitker, in: Wie entsteht ein demokratisches Wir – Neue Perspektiven auf Aktion und Beteiligung, in: https://vimeo.com/430781686 (abgerufen am 08.03.2021).

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Revolutionäres Christentum

stillstellen ließe. Jesus hatte »offensichtlich keinen Masterplan für sein Leben und Wirken. In Galiläa ließ er sich auf Leute ein, denen er begegnete, sah sie an, half ihnen und heilte sie (…). Als es ihn dann wohl im Zusammenhang der jährlichen Pilgerfahrt nach Jerusalem führte, dann sicher nicht in der Absicht, dort für die Sünden der Menschen am Kreuz zu sterben.«21 Jesus wollte nichts erreichen.22 Erfolg war für ihn kein Kriterium. Er war bei und mit den Menschen. Er steuerte nichts, sondern ließ es geschehen.23 So schuf er Raum für G-ttes Handeln. Der katholische Theologe Thomas Ruster bringt das Entscheidende auf den Punkt: »Er war wie ein Gott, hielt aber nicht daran fest, wie ein Gott zu sein. Und dennoch hat er so viel erreicht! Es ist eingetreten, was der Hymnus sagt: Deshalb hat ihn Gott über alle erhöht und ihm einen Namen gegeben, der über allen Namen ist. Aber nicht, weil er es darauf angelegt hat! Das wäre das größte Missverständnis. Sondern es ist so gekommen, weil er so war, wie er war.«24 Die Aufgabe besteht also nicht darin, »mit einem neuen Amtskonzept die Kirche zu retten«25 , sondern in der Person Christi zu handeln und wie er die Ämter auszuüben.26 Nur so kann der Blick frei werden auf die Sakramentalität der Kirche. Nicht der Papst steuert die Kirche. Nicht die Bischöfe steuern die Kirche. Auch nicht die Laien. G-tt bewirkt Kirche. Kirche ist, wie Paul VI. es formuliert hat, »das sichtbare Projekt der Liebe Gottes zur Menschheit« (Ansprache vom 22. Juni 1973), und zu ergänzen wäre: der Liebe G-ttes zu den nichtmenschlichen Lebewesen. Als »Projekt der Liebe Gottes« ist Kirche ἐκκλησία, die Herausgerufene, die ihre Identität aus 21

T. Ruster, Balance of Powers: Für eine neue Gestalt des kirchlichen Amtes, Regensburg 2019, 221.

22

Vgl. ebd.

23

Vgl. ebd., 222.

24

Ebd.

25

Ebd.

26

Von dieser Aufgabe ausgehend, entwickelt Ruster eine neue »Balance of Power«, durch die sich die Gestalt des kirchlichen Amtes verändern könnte: ebd., 220/222.

VI. Die Stille im Himmel

einer Überlieferung schöpft, die zurückgeht auf eine Auslieferung: die Selbsthingabe G-ttes für die Menschen.27

2.

G-ttesmacht

Exoduspolitik steht für eine »Revolution für das Leben«. Sie konfrontiert jegliche »Ontokratie« (A. v. Leeuwen), die das Bestehende als ewig während legitimiert, mit G-ttes Macht, indem sie an einen neuen Himmel und eine neue Erde erinnert. Was aber heißt hier G-ttesmacht? Am Ende des Matthäus-Evangeliums spricht Jesus: »Gott hat mir alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben.« (Mt 28, 1620) Der Exeget Klaus Wengst kommentiert: »Das hier gebrauchte Wort für ›Macht‹ entspricht dem lateinischen potestas. Die beansprucht der Kaiser in Rom und übt sie auch faktisch aus. Indem Matthäus Jesus sagen lässt, dass er diese Macht nicht nur im Himmel habe, sondern auch ›auf der Erde‹, bestreitet er die universale Macht Roms, proklamiert er eine Gegenmacht, die anderer Art ist, insofern hier ein von Rom Gekreuzigter spricht, ein Opfer der imperialen Macht.«28 Maria hat diese Macht im Magnifikat als Umwertung der herrschenden Ordnung besungen. Aber handelt es sich bei dieser Vision von der Macht G-ttes um mehr als um die Hoffnung auf eine Gegenmacht zur herrschenden Macht? Wird hier nicht lediglich die Hierarchie auf den Kopf gestellt: Von nun an herrschen nicht mehr die Mächtigen, sondern die Schwachen. Von nun an leiden nicht mehr die Hungernden, sondern die Reichen. Von hier aus wäre es dann nicht mehr weit bis zur »Diktatur des Proletariats«. Dass die Macht G-ttes sich nicht in der Umwertung der Hierarchien erschöpft, mehr und anderes ist als bloße Gegenmacht, darauf verweist nicht zuletzt die Antwort Jesu auf die Frage, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen.

27

Vgl. J. Werbick, Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg 1994, 364.

28

K. Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs, 31.

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VI. Die Stille im Himmel

einer Überlieferung schöpft, die zurückgeht auf eine Auslieferung: die Selbsthingabe G-ttes für die Menschen.27

2.

G-ttesmacht

Exoduspolitik steht für eine »Revolution für das Leben«. Sie konfrontiert jegliche »Ontokratie« (A. v. Leeuwen), die das Bestehende als ewig während legitimiert, mit G-ttes Macht, indem sie an einen neuen Himmel und eine neue Erde erinnert. Was aber heißt hier G-ttesmacht? Am Ende des Matthäus-Evangeliums spricht Jesus: »Gott hat mir alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben.« (Mt 28, 1620) Der Exeget Klaus Wengst kommentiert: »Das hier gebrauchte Wort für ›Macht‹ entspricht dem lateinischen potestas. Die beansprucht der Kaiser in Rom und übt sie auch faktisch aus. Indem Matthäus Jesus sagen lässt, dass er diese Macht nicht nur im Himmel habe, sondern auch ›auf der Erde‹, bestreitet er die universale Macht Roms, proklamiert er eine Gegenmacht, die anderer Art ist, insofern hier ein von Rom Gekreuzigter spricht, ein Opfer der imperialen Macht.«28 Maria hat diese Macht im Magnifikat als Umwertung der herrschenden Ordnung besungen. Aber handelt es sich bei dieser Vision von der Macht G-ttes um mehr als um die Hoffnung auf eine Gegenmacht zur herrschenden Macht? Wird hier nicht lediglich die Hierarchie auf den Kopf gestellt: Von nun an herrschen nicht mehr die Mächtigen, sondern die Schwachen. Von nun an leiden nicht mehr die Hungernden, sondern die Reichen. Von hier aus wäre es dann nicht mehr weit bis zur »Diktatur des Proletariats«. Dass die Macht G-ttes sich nicht in der Umwertung der Hierarchien erschöpft, mehr und anderes ist als bloße Gegenmacht, darauf verweist nicht zuletzt die Antwort Jesu auf die Frage, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen.

27

Vgl. J. Werbick, Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg 1994, 364.

28

K. Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs, 31.

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Revolutionäres Christentum

Jesus ließ sich eine Münze geben und fragte, wessen Bild und Aufschrift auf der Münze sei. »Sie antworteten: ›Vom Kaiser.‹ Da sagte er zu ihnen: So gebt also dem Kaiser, was ihm gehört, und Gott, was Gott gehört!« (Mt 22, 21-22) Mit Ironie – so die Deutung des politischen Philosophen Armin Adam – hebelt Jesus die Fragestellung, dass er und seine Botschaft lediglich Bestandteil dieser Welt mit ihren Strukturen seien, aus. Er lässt weder erkennen, dass er für, noch dass er gegen die Steuer ist. Er offenbart somit die Belanglosigkeit der Frageintention: Die Macht G-ttes und sein Reich stellen nämlich keine Alternative zur herrschenden Macht dar, sondern sind etwas anderes.29 Das Reich G-ttes ist kein Spiegelbild herrschender Verhältnisse. Seine Herrschaft findet ihren »Niederschlag nicht in Institutionen (…), sondern (…) sie ist schon in den Herzen der Gläubigen angebrochen.«30 Aber die damit angezeigte »Umkehr der Herzen« greift in die gesellschaftspolitischen und sozioökonomischen Verhältnisse ein.31 Sie affiziert das Ganze mit Neuem. Und so heißt es denn auch in der Offenbarung des Johannes: »Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen. Das Meer ist nicht mehr. Die heilige Stadt Jerusalem, die neue, sah ich aus dem Himmel herabsteigen (…). Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron: ›Da! die Behausung Gottes bei den Menschen. Gott wird bei ihnen wohnen. Sie werden Gottes Völker sein, und Gott – Gott wird bei ihnen sein. Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein. Auch Trauer, Wehgeschrei und Schinderei wird nicht mehr sein. Das Erste ist vergangen.‹ Die Person, die auf dem Thron saß, sagte: ›Da! neu mache ich alles!‹.« (Offb 21,1-5a) Die Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde ist nicht eine Vision jenseits unserer Geschichte. Wer den Himmel suchen will, muss sich tief in das Geschehen auf der Erde verstricken lassen und auch die Erfahrung von der »Verfinsterung des Himmellichts«, von »Gottesfinsternis« (M. Buber), vom Schweigen G-ttes machen. So

29

Vgl. A. Adam, Politische Theologie: Eine kleine Geschichte, Zürich 2006, 17.

30

Ebd.

31

Vgl. J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 11f.

VI. Die Stille im Himmel

heißt es in der »Apokalypse«: »Und als das Lamm das siebente Siegel auftat, entstand eine Stille im Himmel etwa eine halbe Stunde lang.« (8,2) Aber genau in diesem Schweigen, in dieser Stille könnte die Aufforderung zum Ergreifen der Gelegenheit liegen. Nunmehr, so könnte interpretiert werden, »ist die Stunde der Erde gekommen: Vom Himmel gehen wir zur Erde über. Die Stille im Himmel veranlasst uns, Gott auf der Erde zu suchen. (…) Die Stille im Himmel lenkt unsere gesammelte Aufmerksamkeit auf die Erde.«32 An der Zeit wäre eine kairós-empfindliche Kirche, die gegen das Aussterben ankämpfte, indem sie die Gelegenheit ergriffe, die »Revolution für das Leben« endlich mit voranzutreiben. Angesichts des ökologischen und klimatischen Notstandes reicht es nicht aus, wenn die Deutsche Bischofskonferenz Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 empfiehlt. Diese Empfehlung zeigt: Die Kirche hat den Kairós noch nicht erkannt. Dazu müsste sie die Schöpfungstheologie neu verstehen, und zwar von der Apokalypse her. Ein Anfang wäre die Ausrufung des Klimanotstandes in der Kirche unter der Maßgabe, dass die Kirche in den kommenden fünf bis zehn Jahren CO2 -negativ sein will. Aber vielleicht ist alles zu spät? – wie der Schriftsteller Jonathan Franzen feststellte.33 Vielleicht müssen auch die Christ*innen sich ernsthaft fragen, ob G-tt die Menschheit nicht scheitern lässt. So heißt es beispielsweise in einer Parabel aus dem Mittelalter: »In einem elenden Dorf in Mittelpolen stand eine kleine Synagoge. Als der Rabbi eines Abends durchs Dorf ging, trat er in die Synagoge ein und sah Gott in einer dunklen Ecke sitzen. Er fiel auf sein Angesicht und rief: ›Herr Gott, was tust du hier?‹ Gott antwortete ihm weder mit Donner noch im Wirbelwind, sondern mit einer kleinen Stimme: ›Ich bin müde, Rabbi, ich bin auf den Tod müde.‹«34

32

P. Richard, Apokalypse, 118.

33

Siehe: J. Franzen, Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können. Ein Essay, Hamburg 2020.

34

Zit. n.: G. Steiner, Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay, Frankfurt a.M. 1981, 274.

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Für den Sprachphilosophen George Steiner erzählt die Parabel davon, »daß Gott (…) sein Ebenbild nicht mehr im Spiegel der Schöpfung erkennen konnte (…). Er hat die Welt ihren eigenen unmenschlichen Anschlägen überlassen und wohnt nun in einem andern Winkel des Universums, so fern, daß seine Boten uns nicht einmal mehr erreichen können.«35 Als ich kürzlich diese Parabel an anderer Stelle zitierte, meldete sich ein Leser zu Wort und fragte: »Und wenn – was wäre die Konsequenz? Setzen wir uns mit Gott in die Synagogenecke und warten müde auf den Tod?«. Die apokalyptische Antwort auf diese Frage lautet: Jetzt ist die Stunde der Erde gekommen, endlich das Menschenmögliche zu tun. Um diese Gelegenheit zu ergreifen, müssten wir Christ*innen – um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen – so leben, als ob es G-tt nicht gäbe.

35

Ebd.

Dank

Herzlich bedanken möchte ich mich bei: • • • • • •

Marvin Dreiwes M.A. für viele wertvolle Anregungen Anna Maria Hauk M.A. für das sorgfältige Korrekturlesen Robin Wehe M.A. für die Erstellung des Literaturverzeichnisses Anne Specht für die Durchsicht der Endfassung des Manuskripts Spax für die Abdruckgenehmigung von »Die Revolution gibt’s nicht im Fernsehen« dem transcript Verlag für die Unterstützung dieses Projekts.     Hannover, im April 2021 Jürgen Manemann

Literatur

Für die Links auf Webseiten Dritter und deren Inhalte übernehme ich keine Haftung, da ich mir diese nicht zu eigen mache, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Abrufe verweise.   Äbtissin Thürmer: Würde Gefängnisaufenthalt für Kirchenasyl hinnehmen, in: https://www.katholisch.de/artikel/26657-aebtis sin-thuermer-wuerde-gefaengnisaufenthalt-fuer-kirchenasylhinnehmen (Stand: 28.03.2021). Acosta, A., Radikale Alternativen: Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann, München 2017. Adam, A., Politische Theologie: Eine kleine Geschichte, Zürich 2006. Adamczak, B., Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017 (E-Book). Adorno, Th. W., Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 19591969, Frankfurt a.M. 1971, 88-104. Adorno, Th. W., Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 3 1982. Antes, P., Der Mensch und seine Verwundbarkeit, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung 12.02.2021. Arendt, H., Macht und Gewalt, München 18 2008. Arendt, H., Über die Revolution, München/Zürich 7 2011. Arendt, H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002. Arendt, H., Ziviler Ungehorsam, in: dies., In der Gegenwart: Übungen zum politischen Denken II, München/Zürich 2017, 283-321. Arns, P. E., Kirche und Theologie der Befreiung, in: Metz, J. B. (Hg.), Die Theologie der Befreiung: Hoffnung oder Gefahr für die Kirche?, Düsseldorf 2 1988, 136-146.

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Gender und Heilung Die Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica März 2020, 272 S., kart., 2 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5175-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5175-5

Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.)

Das Jenseits der Darstellung Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater März 2020, 214 S., kart., 13 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5162-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5162-5

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Religionswissenschaft Isabella Schwaderer, Katharina Waldner (Hg.)

Annäherungen an das Unaussprechliche Ästhetische Erfahrung in kollektiven religiösen Praktiken Februar 2020, 272 S., kart., 23 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4725-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4725-3

Martin Tulaszewski, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.)

Was Heilung bringt Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde 2019, 218 S., kart., 4 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-5042-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5042-0

Oliver Wäckerlig

Vernetzte Islamfeindlichkeit Die transatlantische Bewegung gegen »Islamisierung«. Events – Organisationen – Medien 2019, 432 S., kart., 9 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4973-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4973-8

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