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German Pages 297 [298] Year 2018
Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Band 218
Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Heft 18 der elften Folge
Reinhard von Bendemann Markus Tiwald (Hrsg.)
Migrationsprozesse im ältesten Christentum
Verlag W. Kohlhammer
NT Neues Testament an der Ruhr
1. Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-035471-5 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-035472-2 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Inhalt
Vorwort .....................................................................................................
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Reinhard von Bendemann Frühes Christentum und Migrationssoziologie – Ausgewählte methodische Fragen und Probleme .....................................
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Aaron Schart Fremdlinge und Tagelöhner in der Maleachischrift .................................. 51 Garrick V. Allen Eschatology, Migration, and Identity in the Late Second Temple Period . 69 Adrian Wypadlo Die philosophisch-allegorische Deutung der Migration Abrahams durch Philo von Alexandrien in De Virtutibus 211–219 und in De Abrahamo 68–88. Migration als monotheistischer Erkenntnisprozess ....................... 99 Linda-Marie Günther Der politische Widerstand gegen Rom im 2. und 1. Jh. v. Chr. – Phygades (ΦΥΓΑΔΕΣ) als Feinde der Pax Romana? ............................... 123 Hermut Löhr Heimatlosigkeit als ethisches und moralisches Argument in Texten des frühen Christentums .................................................................................. 139 Karl-Heinrich Ostmeyer Wie die Moabiterin Ruth in den Stammbaum Jesu bei Matthäus einwanderte ............................................................................... 153 Steffen Leibold Halacha für alle Völker. Migration und Toraobservanz bei Matthäus ............................................. 173
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Inhalt
Rita Müller-Fieberg Missionierende Migranten? Migrierende Missionare? – Ein perspektivischer Blick auf die Apostelgeschichte und ihre Figuren (Priszilla und Aquila) ................................................................................ 187 Uta Poplutz Fremdheit als Chance. Von der Identitätskonstruktion einer frühchristlichen Gemeinde im Spiegel des ersten Petrusbriefes ............... 207 Peter Wick Migration auf Erden und Himmelskult. Der Exodus der Glaubenden im Hebräerbrief .......................................... 231 Dagmar Börner-Klein Die wandernde Schechina ......................................................................... 249 Jennifer Krumm Kulturelle Spuren von Migration in frühchristlichen Inschriften aus Galatien .............................................. 261 Franz Gmainer-Pranzl Migration als locus theologicus. Überlegungen und Anstöße aus interkulturell-theologischer Perspektive . 279
Vorwort
Der Forschungsverbund ‚Neues Testament an der Ruhr‘ (NTR) greift aktuelle wie gesellschaftlich relevante Fragen auf, die gerade in der Region Ruhrgebiet einen besonderen Stellenwert einnehmen, und beleuchtet sie aus der Perspektive der neutestamentlichen Wissenschaft. Nach einem ersten Aufsatzband zum Thema Stadt (BWANT 198; 2012) und einem weiteren zum Thema Arbeit (BWANT 209; 2016) widmet sich der vorliegende Band dem Thema Migration. Er umfasst die Beiträge zweier Tagungen, die am 3. und 4. Juli 2016 in der Katholischen Hochschulgemeinde Dortmund und am 26. und 27. Mai 2017 an der Universität Duisburg-Essen stattgefunden haben. Der Komplexität der mit der Migrationsthematik verbundenen Forschungsfragen entsprechend, beinhaltet der Band nicht nur neutestamentliche Beiträge, sondern vereint alttestamentliche, frühjüdische, altertumswissenschaftliche, neutestamentliche und rabbinische Forschungsbeiträge. So entsteht auf der Basis inhaltlich und methodisch divergierender Aufsätze ein interdisziplinär anschlussfähiges Bild von den Migrationsprozessen im frühen Christentum, welches es ermöglicht, das Feld der Entstehung, Etablierung und Ausbreitung des ältesten Christentums begrifflich-konzeptionell in innovativer Weise zu ordnen und die Quellen für neue Fragestellungen zu öffnen. Wir danken Johannes Ebbertz, Janne Holzmann, Lothar Junker, Carolin Schaefer, Andreas Seifert und Kathrin Wenzel für die redaktionelle Betreuung des Bandes. Wir danken dem Herausgeberkreis von BWANT für die Aufnahme des Bandes in die Reihe und dem Verlag Kohlhammer, insbesondere Florian Specker, für die verlässliche Drucklegung. Bochum und Essen im Juni 2018 Reinhard von Bendemann Markus Tiwald
Frühes Christentum und Migrationssoziologie – Ausgewählte methodische Fragen und Probleme Reinhard von Bendemann
1.
,Schmelztiegel‘ und / oder ,Salatschüssel‘? – Möglichkeitsbedingungen der Verständigung mit der Migrationssoziologie
In den 1970er und 1980er Jahren wurde für das Ruhrgebiet eine Enttäuschung von Assimilierungserwartungen in Bezug auf zugewanderte Menschen festgestellt.1 In der Folge wurde die – allerdings bis heute verschiedentlich für das Ruhrgebiet gebrauchte – Metapher des melting pot, des ,Schmelztiegels‘ verschiedener Kulturen bzw. Ethnizitäten, fraglich. Mit der Metapher verband sich die Erwartung, dass Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen und differenten kulturellen Prägungen in der longue durée quasi von selbst ,verschmelzen‘ würden. Und zwar so weitgehend, dass sie schließlich – ohne
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„Die Arbeitssituationen unter Tage sind […] ‚relativ normal‘. Es gibt zwar Konflikte unter den Arbeitskollegen, aber es handelt sich dabei nur um solche Konflikte, die immer dann entstehen, wenn Menschen unter großen Belastungen auf engem Raum zusammenarbeiten müssen. Die Solidarität untereinander endet am Werkstor. Von da an haben beide Gruppen nichts mehr miteinander zu tun. Menschen, die unter sehr schwierigen Bedingungen tausend Meter unter der Erdoberfläche täglich 7–9 Stunden zusammenarbeiten, sehen sich außerhalb des Betriebes fast nie. Der Kontakt wird möglichst gemieden, und zwar von beiden Seiten“ (in: H. Korte, Die etablierten Deutschen, 275). So beschreibt Korte in den Ergebnissen seiner Studie zu Beschäftigten der Ruhrkohle AG mit Migrationshintergrund Mitte der 1980er Jahre die Situation des Miteinanders von – damals noch so genannten – ,Ausländern‘ und Deutschen (siehe zur Studie: H. Korte, Wohnsituation). Das in den 1970er und 1980er Jahren noch Überraschende besteht darin, dass die Studie zu dem Ergebnis kommt: Die eigentlich erwartete Assimilation der bei der Ruhrkohle beschäftigten Migranten ist ausgeblieben. Dauerhafte soziale Beziehungen zwischen Migranten und Einheimischen sind jenseits der vorgegebenen Gemeinschaft der Arbeit nicht zustandegekommen, dagegen ist – unabhängig von der Aufenthaltsdauer – ein Nebeneinanderher-Leben von Zuwanderern und Einheimischen zu konstatieren, das im günstigen Fall während der Arbeit nicht zu Konflikten führt. Die Frage, inwieweit für die polnischen Migranten im Ruhrgebiet auch von Prozessen einer erfolgreichen ,Verschmelzung‘ zu sprechen ist bzw. ob an dieser Stelle tatsächlich stärker nach Herkunftsländern und Regionen zu differenzieren ist, wird hier nicht weiter verfolgt.
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es selbst ursprünglich zu wollen – der Überzeugung wären, sie hätten eine gemeinsame verbindende Geschichte und Kultur.2 Auf der Basis einer mindestens partiellen Enttäuschung entsprechender Erwartungen bezüglich des Zusammenlebens und Verschmelzens3 von Zugewanderten und aufnehmender Gesellschaft begegnen seitdem auch andere Metaphern, um die sozialen Mischungsverhältnisse, die in Folge von Zuwanderung entstanden, zu beschreiben. Das Bild der ,Salatschüssel‘4 bringt zum Ausdruck, dass in einer Gesellschaft oder Region ggf. höchst unterschiedliche Ingredienzen zusammenkommen. Diese erscheinen zwar in der Schüssel – bunt gemischt – durch ein äußeres Dressing verbunden, doch kommt es im Inneren nur teilweise zu einer harmonischen Synthese: Die Inhalte bleiben ggf. separiert und können sich gegebenenfalls auch geschmacklich dissonant verhalten. Heuristisch soll uns im Folgenden die Frage beschäftigen: Lassen sich Modelle der Migrationssoziologie, die hinter entsprechenden Metaphern wie der des ,Schmelztiegels‘ und der ,Salatschüssel‘ stehen, in ein fruchtbares Gespräch mit Ansätzen der neutestamentlichen Wissenschaft, genauer, mit Beiträgen zur Erforschung der Geschichte des Frühchristentums, mit Studien zur Sozialgeschichte der ersten Christen, zur neutestamentlichen Ekklesiologie, Ethik und Theologie bringen? Eine entsprechende interdisziplinäre Gesprächssituation gestaltet sich alles andere als leicht.5 Die allgemeinen und grundsätzlichen Probleme der Vermittlung neutestamentlich-wissenschaftlicher Ansätze und Methoden mit der 2
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Vgl. zum Unvermeidlichkeitspostulat der Assimilation („[…] a process of interpenetration and fusion in which persons and groups acquire the memories, sentiments, and attitudes of other persons or groups, and, by sharing their experience and history, are incorporated with them in a common cultural life“; Park/Burgess, Introduction, 735) kritisch: Treibel, Migration, 89; Esser, Aspekte, 48: „Auch längerfristig gesehen können die Vorgänge nämlich durchaus auch in ein Kasten-System, in dauernden Konflikt oder auch in dauerhafte Unterordnung einer Gruppe münden. Kurz: Assimilation ist alles andere als ‚unvermeidlich‘.“ Zur Metapher des melting pot, „in dem unterschiedliche Herkunftstraditionen zu einem Ganzen verschmolzen werden sollen“ (Krauss, Integration, 12) und ihrer Bedeutung anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Zionistischen Kongresses 1997 und der Festlichkeiten zum 50. Jahrestag des Staates Israel 1998: Treibel, Migration, 97 mit Anm. 37. Zur ,Salatschüssel‘-Metaphorik: Krauss, Integration, 12; zur Metapher des ,pressure cooker‘ (Dampfkochtopf): Krauss, Integration, 21. Migrations-Phänomene sind Gegenstand verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen. Neben der Migrationssoziologie werden sie in den Wirtschaftswissenschaften, der Rechtswissenschaft, der Demographie, der Geographie, der Politikwissenschaft, der Philosophie und Sozialphilosophie, der Kulturanthropologie und Ethnographie, der (Sozial-)Psychologie und der Erziehungswissenschaft verhandelt. Seit Längerem ist das Themenfeld auch in den historischen Disziplinen angekommen (siehe den Überblick bei Treibel, Migration, 17). Aus neutestamentlicher Perspektive ist das Gebiet der Migrationssoziologie weitgehend Neuland, und dies gilt als kräftige
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Soziologie sind bekannt. Im Blick auf die Migrationssoziologie im Besonderen ist festzustellen: Ihre Theoriebildungen beziehen sich von ihren Anfängen her auf moderne Gesellschaften. Die jüngste migrationssoziologische Forschung gründet in ihren klassisch gewordenen Entwürfen auf der Untersuchung und Interpretation sozialer Entwicklungen vorrangig in Nordamerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts und richtet sich insbesondere auch auf Wanderungsprozesse zwischen den USA und ihren südlichen Nachbarn. Hinzu kommt: Migrationssoziologische Forschungen sind mit der Geschichte der Soziologie in vielfältiger Weise verflochten und verbinden sich hier mit ganz unterschiedlichen Schultraditionen und untereinander nur schwer vermittelbaren Ansätzen. Trotz aller methodischer Schwierigkeiten und Abständigkeiten der Fächer überrascht es gleichwohl, dass eine Begegnung neutestamentlicher Forschungen mit Ansätzen und Einsichten der Migrationssoziologie weitgehend fehlt und eine terra incognita markiert. Die Fehlanzeige beginnt schon beim Begriff ,Migration‘, der – obwohl die Sache so nahe zu liegen scheint, so zahlreich sind die Phänomene räumlicher resp. sozialer Mobilität in den frühchristlichen Quellen – in Gesamtdarstellungen der Geschichte des Urchristentums und der frühchristlichen Sozialgeschichte sowie auch in vielen Einzeluntersuchungen zu angrenzenden Themen fast völlig fehlt. Zugleich gilt: Stellt man die Lebensformen früher Christen oder die erste christliche Generation in Gänze dar, so ergeben sich, hinsichtlich der Beschreibungsbegriffe, Strukturen und Ordnungsmuster, Berührungspunkte, Überlappungen und Strukturanalogien zu Fragen, die in der migrationssoziologischen Forschung seit Langem bearbeitet werden. Es besteht jedenfalls Klärungsbedarf, wenn z. B. in neutestamentlichen Arbeiten oft eher intuitiv vom Grundsinn des Verbs migrare herkommend, von ,wandern‘, ,reisen‘ etc. die Rede ist oder mit Begriffen wie ,Inkulturation‘, ,Integration‘6 oder ,Assimilation‘7 gearbeitet oder auch das frühe Christentum in den Horizont einer religio migrans gerückt wird.8
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Einschränkung im Blick auf den folgenden Impuls-Beitrag: Es handelt sich lediglich um eine Auswahl von Themenhorizonten und Frageperspektiven und die Bezugspunkte sind so gewählt, dass sie für Fragenkreise und Probleme der neutestamentlichen Wissenschaft anschlussfähig und weiterführend sein können. Vgl. die sehr verschieden ausgelegte Rede von ,Integration‘ in der Darstellung der Geschichte des Urchristentums durch Koch, Geschichte, 90, 128, 199, 295 Anm. 23, 297, 400 u. a. m.; vgl. ‚Inkultation‘ als Beschreibungsbegriff: Koch, Geschichte, 237. Gegen einen ontologisierenden Gebrauch des Assimilationsbegriffs, der bisweilen auch in neutestamentlichen Forschungsbeiträgen begegnet, siehe Gotter, „Akkulturation“, 398: ‚Assimilation‘ sei dann erfolgt, wenn sich „eine Entität, die sich zuvor für distinkt gehalten hat, einer anderen (dominanten) Entität soweit annähert, daß sie auf der distinktionsrelevanten Ebene keine Differenz mehr sieht […] wiederum ist nicht die Differenz, die es im übrigen weiterhin geben mag, das Entscheidende, sondern die Wahrnehmung dieser Differenz“. Von Ebner wird der Begriff im Zusammenhang der Mysterienkulte gebraucht: Soziologisch werden sub voce religio migrans „die subtilen Transformationsprozesse einge-
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Zudem lässt sich zeigen, dass europäische oder nordamerikanische neutestamentliche Forschung im 19. und 20. Jahrhundert durchaus immer wieder indirekt – d. h. auch dort, wo entsprechende Termini oder Theoreme nicht reflektiert resp. wo sie gemieden werden – Annahmen widerspiegelt, die in dieser Zeit soziologisch z. B. bezüglich des Assimiliationsverhaltens von Fremden resp. Migranten leitend waren. Strukturanalogien zu den Ansätzen der frühen Chicago School finden sich z. B. in Darstellungen des Frühchristentums als Epochengeschichte, die in einer Art Teleologie auf ein zunehmendes SichEinrichten in der Mehrheitsgesellschaft hin verläuft. Liest man neutestamentliche Arbeiten im Licht der Perspektivwechsel, die jüngere migrationssoziologische Forschungen vollzogen haben, so wird vielfach transparent, wie stark auch die neutestamentliche Wissenschaft von impliziten Annahmen bestimmt ist, die sich einer westlichen Perspektive aus einer bestimmten Phase der Neuzeit verdanken, nämlich der Zeit nationalstaatlicher Gebilde. Vor allem aber, und so lautet die These für das Folgende: In Fragestellungen, wie sie die Migrationssoziologie beschäftigen, steckt tatsächlich ein Erschließungspotential für antike Texte. Fragen und Anstöße der Migrationssoziologie erlauben es, ein Feld begrifflich-konzeptionell zu ordnen und die Quellen für Fragen zu öffnen, die exegetisch weiterführend und auch theologisch bedeutsam sind.
2.
Ausgewählte Fragehorizonte und Erschließungspotentiale migrationssoziologischer Forschung
Definitionen dessen, was Migration ist, gehen von Phänomenen des Wechsels und der Bewegung von Menschen aus, differieren jedoch im Einzelnen nicht unbeträchtlich. Unter den Definitionskriterien umstritten sind insbesondere: fangen […], die sich abspielen, wenn Anhänger eines bestimmten, lokal geprägten Kultes diesen an einen anderen Ort bzw. in einem unterschiedlichen kulturellen Milieu weiterhin praktizieren wollen. […] In der durch die Eroberungen Alexanders bzw. der Römer globalisierten Welt des Mittelmeers“ sei „das an der Tagesordnung. Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung stoßen aufeinander: sei es als Eroberer, die sich als neue Herren mit lokal verwurzelten Traditionen konfrontiert sehen, oder sei es als Migranten, die ihre heimischen Lokaltraditionen […] auch in fremder Umgebung fortführen wollen. Wer seine religiösen Traditionen, die immer auch ein Stück der eigenen Identität ausmachen, bewahren“ wolle, müsse „bereit sein, Zugeständnisse zu machen und auf die neuen Bedingungen einzugehen. Mit der Vorstellung einer religio migrans sollen die subtilen Veränderungsprozesse, die dann auf mentaler, personaler und institutioneller Ebene stattfinden, erfasst werden: Anpassung genauso wie Druck von außen“ (Ebner, Stadt, 247–262; bes. 248f. / vgl. Auffarth, Anpassung, 19–30); vgl. zur Sache auch Theißen, Veränderungspräsenz, 25 (der erst in jüngeren Publikationen den Begriff Migration verwendet).
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Erstens die Frage, ob man vom Wechsel eines Ortes oder dem einer Gesellschaft auszugehen hat, zweitens, welche Bedeutung der überbrückten Distanz als solcher zukommt und wie man sie vermisst, drittens der Aspekt der Dauerhaftigkeit des Orts- / Gesellschaftswechsels und viertens die Frage, ob Formen erzwungener Orts- / Gesellschaftsveränderung der Migration als soziologisches Phänomen zu subsumieren sind.9 Bei allen Differenzen der Definitionen im Einzelnen kann man festhalten: Migrationssoziologie beschäftigt sich nicht allein mit Orts- / Gesellschaftsveränderungen und den orts- / gesellschaftswechselnden Akteuren als solchen, sondern vielmehr mit sämtlichen sozialen Phänomenen und Implikationen mehr oder weniger dauerhafter Veränderungen der Situierung von Einzelnen oder Gruppen.10 Die Beachtung sämtlicher sozialer Phänomene und Implikationen bedeutet z. B., dass auch die sozialen Kontexte, die von Migranten verlassen werden, sowie die sog. aufnehmenden Gesellschaften und ihr soziales feedback mit erforscht werden, und dass vielfach lange und komplexere Vorund Nachgeschichten entsprechender Vorgänge Aufmerksamkeit beanspruchen.11 Um einschlägige Fragestellungen für die neutestamentliche Wissenschaft fruchtbar zu machen, sollen im Folgenden zwei Textzusammenhänge als Testfälle ausgewählt werden. Diese können hier nicht philologisch und exegetisch im Einzelnen ausgeleuchtet werden. Sie sind vielmehr so gewählt und werden nur insoweit betrachtet, dass Fragestellungen als solche transparent werden. Bei einem Text handelt es sich um Ciceros Rekurs auf die Juden in seiner Verteidigungsrede Pro Flacco (66–69). Mit dem anderen Text wird das Wagnis eines großen Sprungs eingegangen: Wir beziehen uns hier auf einen zentralen Abschnitt aus dem lehrhaften Hauptteil des frühchristlichen Epheserbriefes, nämlich Eph 2,11–22. In beiden Texten finden wir – ganz allgemein betrachtet – eine Reflexion sozialer Konstellationen in enger Verbindung mit Zuschreibungen religiöser 9 10 11
Siehe Treibel, Migration, 17–22 zu Definitionen und Typologien der Migration. Siehe zur etwa 100-jährigen komplexen Geschichte der Migrationstheorien: Han, Theorien. Vgl. die offene Definition von Treibel, Migration, 21: „Migration ist der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen. So verstandene Migration setzt erwerbs- und familienbedingte, politische oder biographisch bedingte Wanderungsmotive und einen relativ dauerhaften Aufenthalt in der neuen Region und Gesellschaft voraus […].“ Nach Han, Soziologie, 7 „[…] ist Migration immer ein Prozess, der, beginnend von der Vorbereitung über den faktischen Verlauf bis hin zu einem vorläufigen Abschluss, in einem langen zeitlichen Kontinuum stattfindet. […] Es kann gesagt werden, dass der wesentlich zeitintensivere und schwierigere Teil der ‚inneren psychosozialen Migration‘ erst nach der ‚äußeren physischen Migration‘ beginnt […].“ Treibel, Migration, 171: „Gerade bei der Flucht ins Ausland kann man erkennen, wie wenig spontan und ungeplant selbst erzwungene Migration ist […].“ Zur Einbindung von Fluchtmigration in soziale Netzwerke: Pries, Migration und Ankommen, 50–52.
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Werturteile; und in beiden Texten geht es – ganz allgemein gesehen – jeweils um ein ,wir‘ im Unterschied zu einem ,ihr‘ bzw. einem ,sie‘. Die Texte scheinen vordergründig für die beiden eingangs genannten Metaphern anschlussfähig, nämlich die einer in bestimmter Hinsicht gelingenden Verbindung von Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft (,Schmelztiegel‘) sowie die einer entsprechenden Enttäuschung von Assimilationserwartungen (,Salatschüssel‘). In einem ersten Fall begegnen wir der Außensicht eines Römers in der Zeit der Republik, die von einer nicht gelungenen und im Ansatz unmöglichen Assimilation und Befriedung zwischen Römern und Juden ausgeht; wir blicken hier hinein in eine Fremdheits- und Entfremdungsgeschichte und begegnen Urteilen eines Gebildeten, der im Prozess die Argumente und Zeugen der Gegenseite dadurch unterminiert, dass er die Juden als die ‚auffälligen Anderen‘ im römischen Reich desavouiert, als die, denen barbarische superstitio zuzuschreiben ist und deren Religion sich schon immer mit der gloria des römischen Imperiums nicht vertragen konnte: Cicero, Pro Flacco 66–69 [Übers. M. Fuhrmann] (66) […] Sequitur auri illa invidia Iudaici. Hoc nimirum est illud quod non longe a gradibus Aureliis haec causa dicitur. Ob hoc crimen hic locus abs te, Laeli, atque illa turba quaesita est; scis quanta sit manus, quanta concordia, quantum valeat in contionibus. […] […] Jetzt folgt die leidige Geschichte von dem Gold der Juden. Das ist natürlich der Grund, weshalb die Sache des Flaccus in der Nähe der aurelischen Stufen verhandelt wird; wegen dieses Anklagepunktes hast du dich um diesen Platz und die Clique dort bemüht, Laelius: du weißt, wie stark sie ist, wie sie zusammenhält und welche Rolle sie bei Versammlungen spielt. […] (67) Cum aurum Iudaeorum nomine quotannis ex Italia et ex omnibus nostris provinciis Hierosolymam exportari soleret, Flaccus sanxit edicto ne ex Asia exportari liceret. Quis est, iudices, qui hoc non vere laudare possit? Exportari aurum non oportere cum saepe antea senatus tum me consule gravissime iudicavit. Huic autem barbarae superstitioni resistere severitatis, multitudinem Iudaeorum flagrantem non numquam in contionibus pro re publica contemnere gravitatis summae fuit. At Cn. Pompeius captis Hierosolymis victor ex illo fano nihil attigit. Jahr für Jahr wird regelmäßig auf Rechnung der Juden Gold aus Italien und allen unseren Provinzen nach Jerusalem ausgeführt: Flaccus untersagte in einem Erlass die Ausfuhr aus Asien. Wer könnte diese Maßnahme nicht uneingeschränkt gutheißen, ihr Richter? Dass kein Gold ausgeführt werden dürfe, hat der Senat schon oft – in früheren Jahren und zumal während meines Konsulats – mit größtem Nachdruck festgestellt. Diesem fremdartigen Aberglauben die Stirn zu bieten, zeigte Festigkeit; um der öffentlichen Ordnung willen auf den jüdischen, in den Versammlungen nicht selten zügellosen Haufen keine Rücksicht zu nehmen, bewies einen ausgeprägten Sinn für Würde. Doch Cn. Pompeius, der siegreiche Eroberer Jerusalems, ließ ihren Tempel gänzlich unangetastet.
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(68) In primis hoc, ut multa alia, sapienter; in tam suspiciosa ac maledica civitate locum sermoni obtrectatorum non reliquit. Non enim credo religionem et Iudaeorum et hostium impedimento praestantissimo imperatori, sed pudorem fuisse. […] Daran tat er, wie an vielem anderen, sehr weise: Er gab – in einer so argwöhnischen und schmähsüchtigen Stadt – den Verleumdern keine Gelegenheit zu Gerede. Ich glaube nämlich, dass nicht die Religion der Juden, unserer Feinde, dem hervorragenden Feldherrn Zurückhaltung auferlegt hat, sondern seine Rechtlichkeit. […] (69) […] Sua cuique civitati religio, Laeli, est, nostra nobis. Stantibus Hierosolymis pacatisque Iudaeis tamen istorum religio sacrorum a splendore huius imperi, gravitate nominis nostri, maiorum institutis abhorrebat; nunc vero hoc magis, quod illa gens quid de nostro imperio sentiret ostendit armis; quam cara dis immortalibus esset docuit, quod est victa, quod elocata, quod serva facta. […] Jedes Volk hat seine Religion, Laelius, wie wir die unsere. Schon vor der Einnahme Jerusalems, als die Juden noch mit uns im Frieden lebten, vertrug sich die Ausübung ihrer Religion schlecht mit dem Glanz dieses Reiches, mit der Größe unseres Namens, mit unseren altüberkommenen Einrichtungen; jetzt aber ist das umso weniger der Fall, als dieses Volk durch Waffengewalt kundgetan hat, was es von unserer Herrschaft hält; dabei hat es auch vorgeführt, was es den unsterblichen Göttern wert ist: es ist besiegt, ist zinsbar, ist versklavt.
Der zweite – modellhaft betrachtet der von Cicero avisierten und inszenierten Anordnung scheinbar komplementär – heuristisch gewählte Text, der frühchristliche Epheserbrief, etabliert dagegen aus einer Innensicht ein Konzept, das die Erzählung einer gelungenen Verbindung voraussetzt bzw. behauptet: Eph 2,11–22 11 Διὸ μνημονεύετε ὅτι ποτὲ ὑμεῖς τὰ ἔθνη ἐν σαρκί, οἱ λεγόμενοι ἀκροβυστία ὑπὸ τῆς λεγομένης περιτομῆς ἐν σαρκὶ χειροποιήτου, 12 ὅτι ἦτε τῷ καιρῷ ἐκείνῳ χωρὶς Χριστοῦ, ἀπηλλοτριωμένοι τῆς πολιτείας τοῦ Ἰσραὴλ καὶ ξένοι τῶν διαθηκῶν τῆς ἐπαγγελίας, ἐλπίδα μὴ ἔχοντες καὶ ἄθεοι ἐν τῷ κόσμῳ. 13 νυνὶ δὲ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ὑμεῖς οἵ ποτε ὄντες μακρὰν ἐγενήθητε ἐγγὺς ἐν τῷ αἵματι τοῦ Χριστοῦ. 14 Αὐτὸς γάρ ἐστιν ἡ εἰρήνη ἡμῳν, ὁ ποιήσας τὰ ἀμφότερα ἓν καὶ τὸ μεσότοιχον τοῦ φραγμοῦ λύσας, τὴν ἔχθραν ἐν τῇ σαρκἰ αὐτοῦ, 15 τὸν νόμον τῶν ἐντολῶν ἐν δόγμασιν καταργήσας, ἵνα τοὺς δύο κτίσῃ ἐν αὐτῷ εἰς ἕνα καινὸν ἄνθρωπον ποιῶν εἰρήνην 16 καὶ ἀποκαταλλάξῃ τοὺς ἀμφοτέρους ἐν ἑνὶ σώματι τῷ θεῷ
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Reinhard von Bendemann διὰ τοῦ σταυροῦ, ἀποκτείνας τὴν ἔχθραν ἐν αὐτῷ. 17 καὶ ἐλθὼν εὐηγγελίσατο εἰρήνην ὑμῖν τοῖς μακρὰν καὶ εἰρήνην τοῖς ἐγγύς. 18 ὅτι διʼ αὐτοῦ ἔχομεν τὴν προσαγωγὴν οἱ ἀμφότεροι ἐν ἑνὶ πνεύματι πρὸς τὸν πατέρα. 11 Daher erinnert euch, dass ihr einstmals die Heiden im Fleisch wart, ihr, die man Unbeschnittenheit nennt von Seiten der so genannten Beschneidung, die am Fleisch mit Händen vollzogen ist, 12 dass ihr zu jenem Zeitpunkt ohne Christus wart, ausgeschlossen von der Bürgerschaft Israels und fremd im Blick auf die Bundesschlüsse der Verheißung, da ihr Hoffnung nicht hattet und ohne Gott in der Welt [wart]. 13 Jetzt aber seid ihr in / durch Christus Jesus, die ihr einst fern wart, nahe gekommen durch das Blut Christi. 14 Er selbst ist nämlich unser Friede, der beides zu einem gemacht hat, und (zwar), indem er die Zwischenwand des Zauns aufgelöst hat, indem er die Feindschaft in / durch sein Fleisch, 15 das aus Geboten in Bestimmungen bestehende Gesetz außer Kraft gesetzt hat, damit er die zwei in / durch sich zu einem neuen Menschen erschaffe (und so) Frieden bewirke 16 und die beiden in / durch einen Körper / Leib mit Gott versöhne, nachdem er durch das Kreuz die Feindschaft in / durch sich tötete. 17 Und er kam und verkündete Frieden uns, den Fernen, und Frieden den Nahen. 18 Denn durch ihn haben wir – die beiden – den Zugang in / durch einen Geist zum Vater. 19 Ἄρα οὖν οὐκέτι ἐστὲ ξένοι καὶ πάροικοι ἀλλʼ ἐστὲ συμπολῖται τῶν ἁγίων καὶ οἰκεῖοι τοῦ θεοῦ, 20 ἐποικοδομηθέντες ἐπὶ τῷ θεμελίῳ τῶν ἀποστόλων καὶ προφητῶν, ὄντος ἀκρογωνιαίου αὐτοῦ Χριστοῦ Ἰησου, 21 ἐν ᾧ πᾶσα οἰκοδομὴ συναρμολογουμένη αὔξει εἰς ναὸν ἅγιον ἐν κυρίῳ, 22 ἐν ᾧ καὶ ὑμεῖς συνοικοδομεῖσθε εἰς κατοικητήριον τοῦ θεοῦ ἐν πνεύματι. 19 Folglich seid ihr nun nicht mehr Fremde und Paröken, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, 20 auferbaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, wobei der Eckstein / Schlussstein Christus Jesus selbst ist, 21 in dem das ganze Gebäude zusammengefügt ist und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn, 22 in dem auch ihr mit auferbaut seid zu einem fest gegründeten Gebäude Gottes in / durch (den) Geist.
In diesem Text ist die Verhältnisbestimmung von ,wir‘ und ,ihr‘ / ,sie‘ andersherum gelagert: Die Heiden erscheinen als die „Gottlosen in der Welt“ / ἄθεοι
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ἐν τῷ κόσμῳ (Eph 2,12),12 und die christliche ἐκκλησία suspendiert in sich die Trennbarriere der Tora, welche Juden und Heiden, aber auch Juden- und Heidenchristen separiert hat, im Kreuzestod Christi (Eph 2,14–16).13 An die Stelle der unversöhnlich diversifizierten Vergangenheit ist nach dem Epheserbrief die neue Schöpfung einer versöhnten Korporität getreten, in der nun auch die ehemals ‚Gottlosen‘ – in Hinsicht auf ihr Heil unterschiedslos – inkorporiert und insofern zu qualitativ vollgültigen Mitbürgern mit allen kultischen Rechten werden, womit die Fernstehenden Gott in der gleichen Weise nahegebracht worden sind wie die Juden, deren Verheißung und Hoffnung immer schon Gottes Nähe war (Eph 2,17f.19–22).14 Nach dem Epheserbrief ist im Christusgeschehen der von Cicero als „Feindschaft“ angesprochene Zustand überwunden, und „Frieden“ ist unter den Menschen realisiert worden (Eph 2,14f.). Alle haben unbeschadet ihrer differenten Herkunft, kulturellen und ethnischen resp. religiösen Prägung unterschiedslos – vermittelt durch den göttlichen Geist – Zugang zum „Vater“ (Eph 2,18), stehen damit in derselben Nähe zu Gott. Ohne die fundamentalen zeitlichen, kulturellen und religiösen / theologischen Differenzen zwischen diesen beiden exemplarisch gewählten Ausgangstexten in irgendeiner Weise nivellieren zu wollen, soll es im Folgenden um die begrenzte methodische Frage gehen: Wie könnten diese so verschiedenen Texte ,sprechend‘ werden, wie lassen sie sich gegebenenfalls ordnen, ohne ihnen Gewalt anzutun, welche Perspektiven eröffnen sich, wenn wir sie im Licht von Anstößen und Einsichten jüngerer migrationssoziologischer Forschung lesen?
2.1
Gestalten der Migration
Ein erster Fragenkreis betrifft die Formen von Migration, betrachtet man sie nicht isoliert, auf Einzelakteure bezogen, sondern in ihrer Verflechtung sowohl in weiterzufassende historische Zusammenhänge auf der einen, als auch 12 13
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Zum neutestamentlichen Hapaxlegomenon ἄθεοι: Sellin, Epheser, 198: „Vorausgesetzt wird, dass nur der Gott Israels Gott ist.“ Eine ausführliche exegetische Würdigung des so zentralen und lange so kontroversen Abschnittes Eph 2,11–22 kann hier in keiner Weise erfolgen. Siehe mit weiterer Forschungsliteratur: Merklein, Amt, 118–158 (zu Eph 2,19–22); Barth, Ephesians, 253– 325; Lincoln, Ephesians, 122–165; Schwindt, Weltbild, 453–463; Sellin, Epheser, 188–243; vgl. zur Traditionsgeschichte: Faust, Pax, 73–220. Die Frage, ob das Judentum für den Eph – metaphorisch – noch die ,Mutter‘, oder vielmehr bereits die ,Schwiegermutter‘ darstellt, ist in der Forschung umstritten (siehe die knappe Bewertung der Einleitungsfragen bei Sellin, Epheser, 49–64). Dem Brief liegt es innerhalb der dritten frühchristlichen Generation insgesamt fern, positive heilsgeschichtliche Aussagen über Israel zu treffen. Umgekehrt gilt aber auch: „Israel wird […] nichts genommen oder abgesprochen. Es wird auch nicht angedeutet, dass Israel das ihm verheißene Heil sich verwirkt habe“ (Sellin, Epheser, 199). Die Juden werden also nicht zu den Fremden per se.
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in ihrer Verwobenheit in literarische Konzeptionen – mit solchen haben wir es ja sowohl bei Cicero als auch im frühchristlichen Epheserbrief zu tun – auf der anderen Seite. Im Zusammenhang des Cicero-Textes stellt sich die Frage, wie Juden – wahrscheinlich seit der Makkabäerzeit – nach Stadtrom gekommen sind. Aufgrund der Quellenlage wissen wir dies nicht genau.15 Die Rede Pro Flacco hält Cicero, wie er betont, nahe den „aurelischen Stufen“ im Jahr 59 v. Chr, vier Jahre nach der Eroberung Judäas und Jerusalems durch die Truppen des Pompeius im Jahr 63 v. Chr., d. h. nach dessen Rückkehr, auf der er zahlreiche jüdische Kriegsgefangene mit nach Rom brachte. Zugegen sind Juden aus der Asia, die Laelius, der Ankläger, als Zeuge dafür aufbietet, dass Flaccus in der Zeit seiner Statthalterschaft in der Asia erpresserische Unterschlagungen vorgenommen hat (crimen rerum repetundarum), indem er den Juden die Entsendung von Gold nach Jerusalem untersagte.16 Angesprochen ist darüber hinaus eine turba, eine Schar, die Cicero verächtlich mit ista avisiert; die Rede ist von der beträchtlichen manus der Juden, von ihrer concordia und von dem, was sie in öffentlichen Versammlungen zu bewirken vermag (Flacc. 66). Aus verschiedenen Gründen ist damit sehr wahrscheinlich, dass die von Pompeius mitgebrachten jüdischen Kriegsgefangenen nicht die Anfänge des Judentums in Stadtrom markieren. Möglich bis wahrscheinlich ist, dass die ersten Juden in der urbs sich in Folge der Handelsbeziehungen Roms, insbesondere mit Kleinasien und Ägypten, in der Kapitale niederließen. Zur Zeit Ciceros ist längst nicht nur mit jüdischen römischen Bürgern im ,Halbmodus‘ freigelassener Sklaven, sondern auch im ,Vollmodus‘ zu rechnen. Dazu kommen peregrini.17 Das Feld lässt sich nach Formen und Typen untergliedern, die in der Migrationssoziologie im Blick auf die räumlichen, zeitlichen und intentionalen bzw. ursächlichen und dimensionalen Merkmale differenziert werden. Angesprochen sind u. a. Formen der Binnenwanderung, der temporären sowie permanenten, der „Individualmigration“ wie auch der „Gruppen-“ oder „Kollektiv-“ und „Kettenmigration“18. Phänomene erzwungener Migration spielen damit keineswegs die einzige, aber sehr wohl eine besonders wichtige Rolle.
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Zu den Anfängen der Etablierung des Judentums in Rom: Goodman, Jerusalem, 385f. Zur Bedeutung von Migrationsprozessen für das Wachstum Stadtroms: Lo Cascio, Impact, 23–32. Goodman, Jews, 389: „The confiscation itself was not denied, so Cicero’s defence of his client had to rest on the assertian that Flaccus’ actions had been legal and on emotions stirred up by casting aspersions in the Jews, asserting that the jury was being intimidated by the Jewish crowd outside the court.“ Zu den Bedingungen des Aufenthaltes von Fremden in Rom, zum Kriterium des domicilium und des municipium: Coşkun, Bürgerrechtsentzug, 113–124. Vgl. Kalter, Migration, 197–200.
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Bezieht man die Vorgeschichte der Situation zur Zeit Ciceros mit ein, so erfahren wir in den Quellen von einer ersten Vertreibung stadtrömischer Juden für das Jahr 139 v. Chr.19 Der praetor peregrinus Hispalus verweist nach Valerius Maximus (Fact. et Dict. Mem. I 3,3) neben Chaldäern auch die Juden in einem Edikt aus Italien resp. „zur Rückkehr in ihre Häuser“ innerhalb von zehn Tagen. Die Juden hätten nämlich versucht, „Römer[n] ihre kultischen Gebräuche zu lehren“ (qui Romanis tradere sacra sua conati erant) bzw. sie hätten versucht, „römische Sitten“ mit dem Kult des Jupiter Sabazius zu „infizieren“ (Sabazi Iovis cultu Romanos inficere mores conati erant). Hispalus habe ferner „die privaten Altäre von den öffentlichen Plätzen“ beseitigt.20 Insofern hier der praetor peregrinus aktiv wird, sind zunächst die jüdischen peregrini von der Maßnahme getroffen. Nach Cicero (Off. I 125,1–3) ist es die Pflicht des peregrinus wie des „Zugewanderten“ (incola), „nichts außer sein eigenes Geschäft zu betreiben, sich nicht in die Angelegenheiten des anderen einzumischen und sich auf gar keinen Fall um die Angelegenheiten des fremden Staates zu kümmern.“ Auch die peregrini waren dabei jedoch nicht einfach rechtlos und konnten nicht ohne Grund aus der Stadt ausgewiesen werden. Im Umkehrschluss muss man festhalten, dass die Maßnahmen des Hispalus dagegen nicht die Juden im Status von Bürgern der civitas Romana getroffen haben können; hier wäre der Senat zu beteiligen gewesen; und auch jüdische Sklaven, die Eigentum römischer Bürger waren, können hiervon zunächst nicht einfach tangiert worden sein. Die Vertreibungsbemühungen, die zur Zeit Ciceros bereits drei Generationen zurückliegen, lassen sich also nicht als erzwungene Kollektivmigration resp. als kollektives displacement der stadtrömischen Juden darstellen. Vielmehr bleiben offenbar viele Juden in Rom, es ist zudem mit Rückkehrern zu rechnen, und zunächst wird es sich um erzwungene Fälle von Individualmigration gehandelt haben. Die stadtrömischen Juden haben damit jeweils – und das macht sich Cicero in seiner Rede zu Nutze, um die Zeugen der Gegenseite zu desavouieren – seit Generationen in der Öffentlichkeit der urbs eine nennenswerte Rolle gespielt, und sie haben als die ‚paradigmatisch Anderen‘ ein schlechtes Image.21 19
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Val. Max. Fact. et Dict. Mem. I 3,3 (zu Unsicherheiten der historischen Belastbarkeit: Wolter, Römerbrief I, 31 mit Anm. 59). Siehe hierzu: Baltrusch, Romanos, 51–53. Zu weiteren Ausweisungen aus Stadtrom, die nicht auf Juden bezogen waren, in früherer Zeit: Coşkun, Bürgerrechtsentzug, 29f. Zu den verschiedenen Vertreibungsmaßnahmen gegen Juden in Stadtrom: Goodman, Rome, 386–388; Noy, Foreigners, 37–52. Noy, Foreigners, 42: „The source material does not allow a reliable reconstruction of what actually happened, and of whether there were really separate expulsions of Jews and Sabazius-worshippers […] or just confusion in the source.“ Zur Traditionsgeschichte des polemischen Topos von den nicht integrierbaren Juden: Baltrusch, Urteil, 414–419. Vgl. Tac. Hist. V 3–5: „[…] Dort bei den Juden ist alles unheilig (profana), was bei uns heilig (sacra) ist; andererseits ist bei ihnen gestattet,
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Lenken wir nun den Blick auf Fragestellungen, die sich in ganz anderer Weise vom Text des Epheserbriefs her ergeben, so sind auch hier zwei Frageebenen zu unterscheiden: Die eine Ebene betrifft die historische Frage der Vorgeschichte des Briefes. Das Fragen richtet sich hier zuerst auf die Modalitäten der Mission des Paulus und seiner Mitarbeiter in Kleinasien, denn der Brief schließt – bei allen sprachlichen und konzeptionellen Modifikationen und Weiterentwicklungen – eng an Paulus als Lehrer an. Zugleich stellt sich für Kleinasien die Frage nach einer bereits früh erfolgten Verbreitung des Christentums über Wege des Sklavenhandels und der Wirtschaftsmigration. Zu fragen ist insbesondere auch nach Netzwerken der Migration in Kleinasien, ermöglicht insbesondere durch die Institution der Gastfreundschaft.22 Erschwert werden uns solche Fragen aber dadurch, dass uns die Quellen im Stich lassen bzw. der Epheserbrief nur wenig Aufschluss über seine konkrete soziohistorische Verortung zulässt.23 Die aufschlussreichere Frageperspektive, und damit ist die andere Ebene angesprochen, betrifft die der literarischen Konzeptualisierung der Vergangenheit der Adressaten im Brief. Diesen wird nämlich ein Status als Migranten
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was wir als Gräuel betrachten. […] Die erwähnten Gebräuche (ritus), woher sie auch immer stammen mögen, rechtfertigt ihr hohes Alter, die übrigen Einrichtungen, verwerflich und abscheulich wie sie sind, setzten sich eben wegen ihrer Verkehrtheit (pravitate) durch. […] Das kam auch daher, weil in den Kreisen der Juden unerschütterlich treuer Zusammenhalt und hilfsbereites Mitleid herrschen, während allen anderen Menschen gegenüber feindseliger Hass hervortritt. Beim Essen, beim Schlafen halten sie auf strenge Trennung und kennen trotz der starken Neigung der Volksart zur Sinnlichkeit (ad libidinem) keinen Geschlechtsverkehr mit Frauen fremder Völker (alienarum); unter ihnen selbst ist nichts verboten. Die Beschneidung haben sie als besonderes Unterscheidungsmerkmal bei sich eingeführt. Wer zu ihrem Kult (in morem eorum) übertritt, hält sich auch an diesen Brauch; auch wird den Proselyten zuallererst das Gebot beigebracht, die Götter zu verachten, das Vaterland (patriam) zu verleugnen, ihre Eltern, Kinder und Geschwister gering zu schätzen […]. Keine Huldigung (adolatio) für Könige, keine Ehrung (honor) für den Kaiser.“ Juv. Sat. 14: Die Juden als Beispiel, wie schlechte Charaktereigenschaften der Eltern auf ihre Kinder übergehen; sie missachten Gesetze / sind nicht integrierbar, vgl. 96–114: Quidam sortiti metuentem sabbata patrem nil praeter nubes et caeli numen adorant […]. Romanas autem soliti contemnere leges Iudaicum ediscunt et servant ac metuunt ius […]. Sed pater in causa, cui septima quaeque fuit lux ignava et patrem vitae non attigit ullam. Vgl. Han, Soziologie, 14–17 zu „migration networks“ (Han, Soziologie, 15: „Sie bestehen aus interpersonellen Bindungen [interpersonal ties], die über Raum und Zeit hinweg die Migranten mit Menschen aus ihrem Herkunftsland auf der Basis der Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen sowie der gemeinsamen Herkunft miteinander verbinden […].“) Zum Bild der Apostelgeschichte: Förster, Religion, 167–184. Zum antiken Freundschaftsethos: von Bendemann, Freundschaftsethik, 80– 99. Vgl. zu den Verbindungen des Eph zum Kol und zu den paulinischen Homologumena: Lincoln, Ephesians, xlvii–lviii; Gese, Vermächtnis; zum Problem der Paulusschule: Vegge, Paulus.
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bzw. ein Migrationshintergrund zugeschrieben, und dies, obwohl sie selbst wahrscheinlich tatsächlich nicht gewandert sind, sondern als Ortsresidente im Blick sind. Das ist ein spannender Vorgang: Normalen Leuten, höchst wahrscheinlich überwiegend Sesshaften, weist der auctor ad Ephesios unter der literarischen Zielperspektive der Aufhebung von Eigenem und Fremdem in Eph 2,19 eine Vergangenheit als Migranten resp. Fremden und Beisassen zu (ξένοι καὶ πάροικοι). Dahinter stehen alttestamentliche und hellenistisch-jüdische traditionsgeschichtliche Voraussetzungen.24 Ziel ist die Aussage: Die Adressaten sind nicht mehr ξένοι, sie sind aber auch nicht mehr nur ‚Paröken‘, und damit Bürger zweiter Ordnung, sondern sie sind Vollbürger resp. „Mitbürger der Heiligen“ geworden (ἀλλʼ ἐστὲ συμπολῖται τῶν ἁγίων) – diese Aussage bezieht sich wahrscheinlich auf die Judenchristen25 –und, wie jene, Hausge-
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Zunächst ist im Text eine jüdische Sicht bestimmend, nach der die Menschheit insgesamt in zwei Gruppen zu differenzieren ist: Nämlich in Juden und Nichtjuden, in Zugehörige zum Heilsvolk Israel – symbolisiert durch die Beschneidung – und Nicht– Zugehörige. In diesen Zusammenhang gehört die Unterscheidung vom Fern- und Nahesein. Im zeitgenössischen Judentum wird die fern-nah-Unterscheidung einmal in der Deutung von Jes 57,19 (zu Eph 2,17 und zur frühjüdischen Rezeption von Jes 57,19: Sellin, Epheser, 226f.; Lincoln, Ephesians, 27f.) auf das Verhältnis von Toratreuen und Gesetzesfernen sowie auch auf das Verhältnis von Israeliten und Proselyten bezogen (NumR 8,4 u. a.). Insbesondere in der nachexilischen Prophetie spielt die Rede von den Fernen eine wichtige Rolle (Sach 6,15; 10,9; Jes 60,4.9; vgl. 33,13; 49,12). Das griechische Verb für ‚ausgeschlossen sein‘ stammt aus dem Kolosserbrief (1,21) und findet sich im Neuen Testament nur noch in Eph 4,18 (Sellin, Epheser, 355f.). Es steht im Eph synonym zu ξένος. Mit dieser Unterscheidung gehen weitere Differenzierungen einher, wie die von rein - unrein / heilig - unheilig sowie weitere metaphorische Konzepte, allen voran die Metapher vom Leib (siehe zur christologisch determinierten Leib- / Organismusmetaphorik sowie zur Ekklesiologie des Eph insgesamt: Gerber, Braut, 214–218 und passim). Zu beachten ist, dass neben dieser zunächst ganz jüdisch gedachten Strategie des making others – diachron betrachtet – eine weitere Differenzierung aufscheint. Diese führt an die Geschichte und Situation der christlichen Adressaten heran: Ausgangspunkt dieser weiteren Differenzierung ist die Rede von „Fremdlingen und Beisassen“ in Eph 2,19. In Lev 17 stehen Israeliten und „Fremdlinge“ gemeinsam den unreinen heidnischen Völkern gegenüber (Lev 18,24–30; vgl. 18,2f.). „Paröken“ / „Beisassen“ sind demgegenüber kontinuierlich Ansässige, die jedoch nicht die vollen Bürgerrechte besitzen (vgl. Philo Vit. Mos. I 35 u. a.). Sellin, Epheser, 231f. Die Rede von den „Heiligen“ in Eph 2,19 kann sich vom brieflichen Kontext her wie auch aus traditionsgeschichtlichen Erwägungen weder auf die Juden noch auf alle Christen (so im Präskript Eph 1,1) beziehen. Auch sind die Heiligen hier nicht auf die Engel zu deuten, wie eine lange Auslegungsgeschichte dies proponiert hat (es geht demgegenüber in Eph 2,19 nicht um die himmlisch-eschatologische Existenz der Christen wie im vorausgehenden Briefabschnitt in 2,6f.). Vielmehr verweisen die Heiligen – in der diachronen Anordnung von Einst und Jetzt, die den Text bestimmt – auf die Judenchristen. Siehe im Einzelnen: Sellin, Epheser, 232f. Heiden- und Judenchristen verhalten sich jetzt nach dem Eph nicht mehr wie Fremdlinge und Heilige zueinander. Die Nähe der Heiden zu Gott im Vergleich zu der Nähe der Juden zu Gott wäre
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nossen Gottes (οἰκεῖοι τοῦ θεοῦ). „Hausgenosse“ / οἰκεῖος ist im Griechischen das Antonym zum „Fremden“ / ἀλλότριος.26 Es handelt sich damit um metaphorische Zuschreibungen, die der Sicherung der im Kreuz begründeten (und im Zuge der paulinischen Mission neu gewonnenen) Identität der Adressaten dienen. Diese metaphorischen Zuschreibungen lassen sich mit Phänomenen und Strategien vergleichen, die in der Migrationssoziologie anders unter der Frage von ‚neo-ethnicity‘-Phänomenen verhandelt werden. Wir kommen unten darauf zurück (siehe unter 2.4).
2.2
Die Krise von Push- und Pull-Modellen – Weitere methodische Umbrüche und Perspektivwechsel
Die jüngere migrationssoziologische Forschung hat sich sukzessive von dem durch Ernest George Ravenstein entwickelten Push- und Pull-Modell27 verabschiedet bzw. relativiert es in seiner Erklärungsvalenz stark. Ravenstein ging davon aus, dass die Bestimmungsfaktoren von Migration in Analogie zu Gravitationsgesetzen der Physik in zwei Gruppen einzuteilen seien, die sog. Pushund Pull-Faktoren. Die Push- und Pull-Schematik hat sich – nicht zuletzt in ihrer vorrangig ökonomisch konzeptualisierten Reiz-Reaktion-Auslegung28 – als zu mechanistisch gedacht erwiesen. Oswald konzediert entsprechenden Push- und Pull-Modellen noch einen heuristischen Wert als „erster Ordnungsversuch“ oder Ansatz „einer allgemeinen Abwägung“, stellt jedoch fest, dass „sie […] anspruchsvoller soziologischer Forschung“ nicht genügen. Die Pushund Pull-Modelle verdeckten komplexere Dynamiken und Übergangsphänomene sowie regionale resp. kontextuelle Differenzen. Demgegenüber seien bei jedem Migrationsvorgang und jeder Migrationsentscheidung
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nur eine abgeleitete vermittelte. Beide Gruppen sind nun demgegenüber zu einem heiligen Tempel in Gott zusammengewachsen. (V. 21f.). Zu Philos Konzeption von Vaterland, Mutterstadt und Fremde vgl. Krauter, Bürgerrecht, 403–418. Zum Heimat- / Vaterlandsverständnis Ciceros, Ovids und Senecas: Olshausen, Patria, 316–324. Siehe: Ravenstein, Gesetze. Zu sozialdarwinistischen Annahmen bei Park / Burgess und zur weitgehenden Reduktion von Interaktionen im Zusammenhang von Migrationsprozessen auf Phänomene von (wirtschaftlicher) Konkurrenz und Wettbewerb in der Chicago School vgl. Treibel, Migration, 88. „Die frühen Assimilationsmodelle gehen explizit oder implizit davon aus, dass die ‚weichen‘ Faktoren wie Kultur und Religion gegenüber den ‚härteren‘ des (ökonomischen und sozialen) Wettbewerbs immer weniger Gewicht haben, dereinst ganz verschwinden würden, wobei Migration als das Vehikel der dafür notwendigen Vermischung – und somit als Entwicklungsmotor – angesehen wird“ (Oswald, Migrationssoziologie, 97f.).
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multiple Faktoren, persönliche, soziale und auch religiöse, in den Blick zu nehmen.29 In enger Verbindung hierzu hinterfragen jüngere Forschungen auch das in der älteren Migrationssoziologie zumeist implizit zugrunde liegende Sesshaftigkeitspostulat. Die ältere migrationssoziologische Forschung war mehr oder minder von der Annahme der Sesshaftigkeit als Normalzustand von Menschen bestimmt. Migrierenden wurde damit ein Ausnahmestatus zugewiesen; auf dieser Grundlage waren Migrationsphänomene immer schon mit dem potenziell Irregulären und Destabilisierenden konnotiert.30 In der jüngsten migrationssoziologischen Forschung kann dagegen geradezu umgekehrt konstatiert werden, die Frage sei nicht, warum Menschen sich auf Wanderschaft begeben resp. Ortsveränderungen vornehmen, sondern erklärungsbedürftig sei vielmehr, warum sie dies im Einzelfall oder phasenweise nicht tun.31 Annahmen über Migrationsphänomene haben es immer auch mit der Konzeptualisierung von Grenzen und Distanzen zu tun. Sie lassen demnach danach fragen, wie Menschen die Welt nicht nur physisch, sondern zunächst mental strukturieren und einteilen. In der Zeit der nationalstaatlichen Gebilde des 19. und 20. Jahrhunderts bestimmte die Forschung häufig ein monozentrisches Denken, von dem her die Welt konzeptualisiert und Wanderungsvorgänge vermessen wurden.32 Die jüngere migrationssoziologische Forschung setzt sich kritisch mit entsprechenden Core-Periphery-Modellen auseinander33 und stellt deren vielfach implizit normativen Charakter heraus. Sie fragt nach der Genese neuer transnationaler sozialer Räume,34 reklamiert in diesem Zusammenhang auch den Diaspora-Begriff und gestaltet ihn konzeptionell so, dass auch von ‚Diasporen‘ im Plural gesprochen werden kann, und zwar bezogen aus einer global entworfenen Perspektive auf transnational communities, die in verschiedener Weise durch soziale Beziehungen oder memories of a homeland bestimmt werden.35 29 30
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Oswald, Migrationssoziologie, 71f.; zu Petersens Kritik am Push- und Pull-Modell: Treibel, Migration, 164–166. Vgl. Peukert, Migration, 9, zur „aus der Zeit der Romantik […] stammende[n] Idee des Volkes als einer naturgegebenen Einheit“, welche auch den Terminus der ‚Völkerwanderung‘ eminent belastet. Vgl. Pries, Neue Migration, 15. Zur Überwindung bzw. Bedeutungsausdünnung‘ seit der Pax Westfalica überkommener nationalstaatlicher Ordnungsschemata: Pries, Transnationalisierung, 22–46. Vgl. Han, Soziologie, 323f., zur Theorie des internen Kolonialismus. Vgl. Pries, Neue Migration, 18–29, zu wissenschaftlichen Raumkonzepten und zur jüngeren Raumsoziologie. Faist, Volume, 208 („In diasporas, a group has suffered some kind of traumatic event which leads to the dispersal of its members, and there is a vision and rememberance of a lost homeland to be restored or an imagined homeland still to be established, often accompanied by a refusal of the receiving society to fully recognize the cultural distinctiveness of the immigrants […].“); vgl. Faist, Volume, 195–241, zu „Transnational
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In welcher Weise können entsprechende Umbrüche und Perspektivwechsel in migrationssoziologischen Forschungsmodellen unsere Fragen und unseren Umgang mit den Quellen schärfen und ggf. auch verändern? Tangiert ist zunächst die Frage, wie Phänomene von Wanderung und displacement in übergeordnete Schemata einzupassen sind, die in der Darstellung der Geschichte des Frühchristentums Kausalitäten konstruieren. Zu fragen ist z. B.: Wie kausal, kalkuliert und kalkulierbar haben sich die Wege tatsächlich gestaltet, auf denen der neue Glaube verbreitet wurde? Erschließt sich insbesondere die paulinische Aktivität nach einfach konturierten Push- und PullFaktoren? Wie lässt sich diesbezüglich hinter die literarischen Inszenierungen zurückfragen, die sowohl Paulus selbst von seiner Reiseaktivität in seinen Briefen vermittelt, als auch diejenigen, die Lukas in der Apg wählt und die beide in verschiedener Weise das Planvolle und Unausweichlich-Stringente der paulinischen Mission unter göttlicher Notwendigkeit herausstellen?36 Ähnlich hat es im Umfeld des Paulus Akteure gegeben, die nicht nur planvoll-zielgerichtet oder gezwungen gewandert sind, sondern auch in Formen einer frei gewählten Lebensweise. Zu denken ist z. B. an Aquila und Priska.37
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Social Spaces“. Siehe Mayer, Diaspora, 7: „Anstelle von post-kolonialen Identitäten sprechen Kultur- und Sozialwissenschaftler dieser Tage von diasporischen Formationen, um auszudrücken, dass sich das Geschehen der Globalisierung nicht allein vor dem Hintergrund der Geschichte von Kolonialisierung und Widerstand und damit primär über die Kategorien von Peripherie und Metropole angehen lässt“ (unter Bezug auf das von U. Parameswaran reklamierte „Zeitalter der Diaspora“). Mayer, Diaspora, 8: „Diasporen lassen sich ebenso wie Nationalstaaten als ‚vorgestellte Gemeinschaften‘ begreifen […]“; vgl. Mayer, Diaspora, 17: Diasporische Gemeinschaften sind „oft stark ortsgebunden“, definieren „sich als Gruppe vorwiegend lokal“ und haben oft „weit weniger Kontakte und Verbindungen zu anderen diasporischen Gemeinschaften oder Niederlassungen derselben Ethnie oder Religionsgemeinschaft […], als offizielle Selbstdarstellungen vermuten lassen […].“ Zu den Wurzeln jüdischer Diaspora-Konzepte Mayer, Diaspora, 46f.: „Das Bewusstsein von der Periodizität, Vorläufigkeit und Aufhebbarkeit der eigenen Situation in der Fremde ermöglicht einen Modus der kulturellen Interaktion, der von Flexibilität und Konservativismus gleichermaßen gekennzeichnet ist.“ Vgl. demgegenüber exemplarisch Verheydens Urteil, es lasse sich „[…] mehr als einmal der Eindruck gewinnen, Lukas beschreibe Paulus als planlos durch unterschiedliche Regionen und Provinzen in Asien Umherstreifenden […].“ Und auch den Briefen sei „das Bild des ohne klaren Plan Getriebenen und Wankenden […] nicht völlig unbekannt“ (Verheyden, Missionsreise, 112; u. a. mit Blick auf 2 Kor 1,15f.). Zu den Modalitäten der paulinischen Mission und ihrer Inszenierung in den Quellen: vgl. Reinbold, Propaganda, 117–225 (Reinbold, Propaganda, 221–224, zu Priska und Aquila). „Nach dem gängigen Verständnis ist Migration, da sie stets mit Bewegung und Veränderung verbunden ist […], per se etwas Neues und Innovatives. Petersen korrigiert diese Wahrnehmung mit seinem Hinweis auf diejenigen Wanderer, die eigentlich gar nicht nach etwas Neuem, sondern auch in der Fremde nach dem Vertrauten streben […]“ (Treibel, Migration, 166). Ein entsprechender Perspektiv-wechsel ist auch für das zu beachten, was häufig unter den Beschreibungsterminus der ,Mission‘ gefasst wird, mit dem den frühen Jesus-nachfolgern / den Boten sowie auch Akteuren
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Weiterhin kann in Auseinandersetzung mit Umbrüchen der jüngsten migrationssoziologischen Forschung danach gefragt werden, in welcher Weise und in welchem Umfang wir Core-Periphery-Konzeptionen in den Quellen wahrnehmen und mit ihnen umgehen, wenn es um die wissenschaftlicher Darstellung und Interpretation geschichtlicher Zusammenhänge geht.38 Im Fall des Auszugs aus Ciceros Rede Pro Flacco ist die Zentrierung auf die urbs mit Händen zu greifen. Von der Kapitale her wird das Geschehen in den Provinzen perspektiviert. Der Glaubwürdigkeitsgrad von Zeugen bemisst sich nach ihrer – auch geographisch vermessbaren – Nähe zu Rom; nicht nur mit den Juden, sondern schon mit den Griechen aus der Asia hat Cicero vor seinem Publikum in dieser Hinsicht leichtes Spiel. Darin wird die Perspektive der Optimaten in der römischen Kapitale greifbar.39 Die Situation der Juden in Stadtrom wurde von Maßnahmen, die mit CorePeriphery-Konzepten korrelieren, über einen langen Zeitraum mitbestimmt. Im Zusammenhang der zweiten Vertreibungsmaßnahme von Juden aus Rom unter Tiberius im Jahr 19 n. Chr.40 habe der Senat nach Tacitus (Ann. II 85) „durch scharfe Verordnungen die Ausschweifungen der Frauen“ eingeschränkt und „über die Beseitigung des jüdischen und ägyptischen Gottesdienstes“ verhandelt. Auf Senatsbeschluss seien „4000 Personen des Freigelassenenstandes (libertini generis), die von diesem Aberglauben angesteckt waren“, „soweit es ihr Alter zulasse, auf die Insel Sardinien zu verbringen, um das dortige Räuberunwesen einzudämmen. Wenn sie dort infolge des ungesunden Klimas umkämen, spiele dieser Verlust keine Rolle. Alle übrigen sollten Italien verlassen, wenn sie nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrem unheiligen Kult (profanos ritus) entsagt hätten.“ Nach Sueton habe Tiberius – d. h. der Kaiser, und nicht der Senat – bestimmt, die „Jugend der Juden“ (Iudaeorum iuventutem) „als Soldaten zum Kriegsdienst“ auszuheben und
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besonders im Umfeld der paulinischen Aktivität stets ein zielgerichtetes und quasi alternativloses Handeln als unmittelbarer Ausdruck der ,Sache‘ zugeschrieben wird. Zu den Theorie-Grundlagen: Schörner, Zentrum-Peripherie-Modell, 95–99, der von einem „großen heuristischen Wert“ der Feststellung von „Zentrum-Peripherie-Relationen“ ausgeht (Schörner, Zentrum-Peripherie-Modell, 98), gleichwohl einschränkt, dass „keinesfalls für alle Regionen und Phasen des Imperium Romanum von der gezielten Konstruktion Roms als Zentrum gesprochen werden kann“ (Schörner, Zentrum-Peripherie-Modell, 97). Maßnahmen der relegatio basieren auf dem Prinzip dieser Nähe resp. Ferne zu Rom. Cicero selbst hat dies bei seiner Verbannung nach Griechenland erfahren, unter der er beträchtlich litt. Zu den Rechtsgrundlagen und Formen der Exilierung in der römischen Kaiserzeit: Stini, Exil, 300–309. Die Informationen in den Quellen, die über diese zweite Vertreibung Auskunft geben können, variieren beträchtlich; vgl. auch Jos. Ant. 18,81–85; Suet. Tib. 36; Philo, Leg. ad Gai. 159–161; Cass. Dio 57,18 5a; siehe Botermann, Maßnahmen, 410–435; Baltrusch, Romanos, 53–56.
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„unter diesem Vorwand über die Provinzen mit ungesundem Klima“ zu verteilen (per speciem sacramenti in provincias gravioris caeli distribuit). Der Aufenthalt in der Ferne von Rom gilt hier als verderblich und potentiell „krankhaft“.41 Sueton spricht im Zusammenhang der Juden von solchen, „die Ähnliches sektenhaft betrieben / Ähnliches verfolgten (similia sectantes)“42. Stellt man die beiden eingangs gewählten exemplarischen Texte auch hier typisierend gegenüber, so kann man im Vergleich als Stärke der Konzeption des frühchristlichen Epheserbriefes auffassen, dass er in seiner ökumenischen Orientierung und seiner universal ansetzenden Christologie und Ekklesiologie konkrete Ortsbindungen und Perspektivierungen der Welt im Ansatz zu überwinden vermag. Der Fluchtpunkt, von dem aus die Menschheit insgesamt in den Blick genommen wird, ist das Versöhnungsgeschehen am Kreuz; damit wird eine Metaperspektive gewonnen, die irdische Konstellationen von ,Mächten und Gewalten‘ sowie auch Orten und potentiellen Zentren wie Rom transzendiert.
2.3
Akkulturation – Terminologische Differenzierungen und Fragen
Migrationssoziologie, die sich mit sämtlichen sozialen Phänomenen und Implikationen mehr oder weniger dauerhafter Orts- resp. Gesellschafts-veränderungen von Einzelnen oder Gruppen beschäftigt (siehe unter 1), geht mit dem Kultur-Begriff und seinen Derivaten um.43 41
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Botermann, Maßnahmen, 416: „Ausweisungen waren im republikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom wenn auch nicht gerade an der Tagesordnung, so doch ein gebräuchliches ordnungspolizeiliches Mittel, um ohne viel Aufheben und ohne Gerichtsverfahren unerwünschte Personen und Personengruppen aus der Hauptstadt zu entfernen.“ Zum Problem einer missionarischen Aktivität, die zur Ausweisung der Juden im Jahr 19 n. Chr. geführt habe: Feldman, Jew, 302f. Zu Formen militärischer Migration: Rass, Migration, 9–29; zur Mobilität im Zusammenhang des römischen Heeres: Herz, Mobilität, 80–99. Suet. Tib. 36. Zu den erheblichen Verständnisproblemen dieser Aussage: Botermann, Maßnahmen, 420f. Siehe hierzu Gotter, Akkulturation, 373–406 (374: „Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Akkulturation‘ scheinen mitunter gerade deswegen unbeschränkt verwendbar, weil man darunter weitgehend verstehen kann, was man will.“). Zum Problem des Kulturbegriffs: „In komplexen Kulturen nimmt wohl niemand an der ganzen Kultur teil. Kultur wird in der Hauptsache ausschnittweise erlebt, begrenzt durch Alter, Geschlecht, Religion, Landschaft, Beruf, Klasse, verschiedene Teilgruppen, und es bleibt ungewiß, inwieweit die Normen dieser Teilgruppen den angenommenen Kulturkonflikt der Kultur im weiteren Sinne teilen oder durch ihn beeinflusst werden“ (Hollander 1955, 176; zit. nach Treibel, Migration, 111). Grundlegend: Berry, Psychology, 232–253. „In der Praxis […] dominiert“ nach Berry „bei einem Akkulturationsvorgang immer eine Kultur die andere, eine dominante Gruppe eine stärker akkulturierende Gruppe. Obwohl auch
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Erforscht werden Gemeinschaften unter dem schillernden Kultur-Begriff daraufhin, inwieweit ihnen soziokulturelle Gemeinsamkeiten zukommen, welche Bedeutung eine gesprochene Sprache in ihnen hat, welche soziokulturellen Gemeinsamkeiten sie darüber hinaus verbinden, wie in ihnen gemeinsame Erfahrungen, Vorstellungen von gemeinsamer Herkunft, aber auch Annahmen über eine gemeinsame Zukunft geteilt werden und ob und wie sich in ihnen ein strukturiertes gemeinschaftliches Handeln ausbildet. In Hinsicht auf das Verhältnis entsprechender kulturell bestimmter Gemeinschaften zur Kultur einer umgebenden Aufnahme- bzw. Mehrheitsgesellschaft ergeben sich unterschiedliche Formen und Möglichkeiten. Die Terminologien sind hier in der migrationssoziologischen Forschung keineswegs einheitlich bzw. weiterhin umstritten. Dies betrifft im Kern die Frage, was denn Akkulturation als weitreichendste Form kultureller Annäherung, Übernahme und Verschmelzung meint – in der älteren Forschung oft mit Assimilation in eins gesetzt.44 Entgegen einer ontologisierenden Verwendung des Kulturbegriffs in attributiven Beschreibungen markiert die Frage nach ‚Akkulturationseinstellungen‘ (attitudes) beteiligter Akteure (Einzelne und Gruppen) ein wichtiges Forschungsfeld. „Es geht dabei einmal um den Grad, in dem jemand bleiben möchte, wie er ist, im Gegensatz zu demjenigen, der alles aufgeben möchte, um ein Teil der größeren Gesellschaft zu werden. Es geht zweitens um das Ausmaß, in dem jemand täglich Austausch mit Angehörigen der dominanten Kultur sucht oder nur zur eigenen Gruppe Kontakt halten will […].“45 Der ,Inkulturationsbegriff‘, der eher auf das Verbleiben kultureller Differenzen verweist, wird ebenfalls nicht einheitlich definiert.46 In deutlichem Unterschied zu Akkulturation, Inkulturation, Rezeption, Akzeptation, Adaption u. a. verweisen die Termini Kommunalismus, Autonomie, Persistenz, Separatismus und Irredentismus in verschiedener Weise auf ,selbstbewusstere‘ Verhaltensformen von Einzelnen und Gruppen bis hin zu aggressiverem Abgrenzungshandeln.47
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die dominante Gruppe Wandlungen unterworfen ist, beispielsweise durch größere kulturelle Diversifikation, Bilingualität oder Veränderungen des Schulsystems, wird sich vor allem die akkulturierende Gruppe verändern. Deren Individuen unterliegen sowohl dem Einfluß der sich ändernden eigenen wie dem der dominanten Kultur“ (Krauss, Integration, 19). Vgl. Han, Soziologie, 198f., 312, zur Unterscheidung von externer und interner, kognitiver, sozialer und struktureller Assimilation. Krauss, Integration, 21. Nach Krauss, Integration, 15 bestehe bei Interkulturation „[…] ein Teil des Alten neben Elementen des Neuen und diffusen Überschneidungsbereichen weiter […]“. Zu „Separation“ bzw. „Segregation“, vg. Kraus, Integration 21f. Siehe zu den verschiedenen Gestalten der möglichen Reaktion auf Kulturkontakte: Heckmann, Integration, 159–179; Meyer, Akkulturationsprozesse, 9–18. In Hinsicht auf Vorgänge kultureller Persistenz bieten griechische Autoren des 1. und 2. Jahrhunderts ein spannendes Untersuchungsfeld, die sich trotz ihres Status als römische Bürger
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Unsere beiden zu heuristischen Zwecken gewählten Ausgangstexte haben wir bei allen Schwierigkeiten, sie überhaupt vergleichen zu können, in dieser Weise eingangs idealtypisch als komplementäre Möglichkeiten aufgefasst. Nach Cicero ist eine Akkulturation der Juden in die Gesellschaft der civitas Romana nicht nur gescheitert, sie ist vielmehr im Ansatz nicht möglich – und dies betrifft bereits die Zeit vor dem Feldzug des Pompeius und dem sich aus römischer Sicht so darstellenden Irredentismus, der in ausdrückliche ‚Feindschaft‘ gemündet ist. Die Juden mit ihrer barbara superstitio (Flacc. 67) vertragen sich ganz grundsätzlich nicht mit dem splendor und der gravitas nominis (69) des römischen Reiches. Sie stellen nach Cicero im öffentlichen Leben einen „zügellosen Haufen“ (multitudo flagrans) dar. Vollends im Licht der offen ausgebrochenen Feindschaft erscheinen die Maßnahmen des Pompeius gegen die Juden als Ausdruck römischer Mannestugenden wie severitas und gravitas; dass Pompeius den Jerusalemer Tempel nicht zerstört hat (Flacc. 67), war Zeichen seines pudor (68). Der Epheserbrief behauptet dagegen die vollständige und gelungene Beseitigung der „Feindschaft“ und Realisierung von „Frieden“ unter den differenzierten Gruppen, und begründet die „Eins-Werdung“ zu „einem neuen Menschen“ (Eph 2,15) christologisch bzw. ekklesiologisch. Diese erste Gegenüberstellung bedarf nun freilich der Differenzierung und Brechung. Denn, anders als Cicero es in seiner Rede im Rückgriff auf offenbar konsens- und publikumsfähige Klischees der Juden als „Gesindel“ darstellt, ist für das stadtrömische Judentum im Licht weiterer Quellenzeugnisse auch nach Vorgängen einer erfolgreichen Akkulturation resp. Inkulturation zu fragen. So zeigt uns Philo in der Legatio ad Gaium (155–158) ein Bild, nach dem die Juden zwar in Rom schon räumlich, jenseits des Tiber, eine Kolonie bilden48 und auch sonst nicht auf ihre religiösen Eigenheiten verzichten – genannt
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kulturell als Griechen verstehen und ihre Kultur gegen die römische Kultur behaupten. Siehe hierzu mit weiterer Literatur: Pabst, Mobilität, 401–409. Bei der Untersuchung von kulturellen Kontakten im Imperium Romanum eröffnet sich insgesamt ein sehr weites Feld, in dem gängige Kategorien oft versagen. So fragt Meyer: „Wann, d. h. wie lange ist ein Phänomen ‚nur‘ für Rom typisch (und mithin als ‚römisch‘ zu bezeichnen), wann wird es ein das gesamte Imperium umfassendes (und durch welchen Terminus ist es dann zu beschreiben)? Wann ist es sinnvoll, etwas aus Rom Stammendes oder dort Erfundenes als ‚römisch‘ zu bezeichnen, wann nicht?“ (Meyer, Akkulturationsprozesse, 17). Vgl. Flaig, Grenzen, 97: „Eine Kultur verändert sich wahrnehmbar, wenn unterschiedliche kulturelle Praktiken sich auf neue soziale Felder ausweiten. Aber das bedeutet nicht, daß sie sich derjenigen Kultur annähert, die zum Differenzierungsschub die dinglichen, semantischen und performativen Elemente liefert […].“ Goodman, Rome, 163: „The relationship between Rome and Jerusalem was complicated by the fact that a Roman could be Jewish and a Jew could be Roman […].“ Zum Judenviertel in Rom siehe Lampe, Christen, 26–28. Zu Migration und Koloniebildungen methodisch vgl. Treibel, Migration, 87 (zu Chicago). Nach Wirth ist die „physikalische Entfernung zwischen Minderheit und Mehrheit […] zugleich ein Gradmesser für die soziale Distanz […]“ (Treibel, Migration, 93). Philo, Leg. ad Gai. 155– 157: „Es war ihm [Augustus] wohlbekannt, dass der große Stadtteil Roms jenseits des
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werden Synagogenversammlungen, Sabbatobservanz, Regelung der eigenen finanziellen Angelegenheiten und das Senden der Tempelsteuer nach Jerusalem –, sich jedoch an das stadtrömische soziale und politische Umfeld auch angepasst haben und hierin Förderung erfuhren (vgl. auch Jos. Ant. XIV 185– 216). Die Juden sind z. B. in die öffentliche stadtrömische Getreideversorgung eingebunden. Möglich wird der zwischen ethnischer und religiöser Identitätswahrung und kultureller Anschlussfähigkeit angesiedelte Status nach Philo durch die Toleranz des Augustus.49 Beredt ist auch, dass nach Sueton Juden an den Trauerfeierlichkeiten für den ermordeten Caesar teilnehmen, und zwar als einzige aus der „Menge der fremden Völker“ (exterarum gentium multitudo). Juden hätten sogar mehrere Nächte hintereinander den Scheiterhaufen Cäsars besucht (Suet. Caes. 84,5: praecipueque Iudaei, qui etiam noctibus continuis bustum frequentarunt). Auf den frühchristlichen Text des Epheserbriefes gesehen, stellen sich analoge Fragen, die das komplementäre Bild der erfolgreichen Einung betreffen. Kulturell-religiöse Einheit wird hier zwar konzeptionell eindrücklich zur Sprache gebracht und den Adressaten vor Augen gestellt. Die ‚Feindschaft‘ gilt als ein für alle Mal überwunden. In der Konzeptionen des Textes bemisst sich dies vor allem am μεσότοιχον τοῦ φραγμοῦ – womit auf dem Hintergrund einer im hellenistischen Judentum geprägten Vorstellung auf den Trennzaun der Tora verwiesen ist, der Juden und Heiden voneinander trennt.50
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Tiber von Juden besetzt und besiedelt war, die Mehrzahl von ihnen Freigelassene und römische Bürger. Denn als Kriegsgefangene (αἰχμάλωτοι) waren sie nach Italien gebracht und von ihren Besitzern freigelassen worden, ohne sie zu zwingen, ihre überlieferten Gewohnheiten aufzugeben (τῶν πατρίων παραχαράξαι). So war es Augustus bekannt, dass sie Synagogen besaßen und sich in ihnen versammelten, besonders am heiligen Sabbat (ταῖς ἱεραῖς ἑβδόμαις), wenn sie öffentlich in der Philosophie ihrer Väter unterwiesen wurden. Er wusste aber auch, dass sie fromme Gaben sammelten von ihren Erstlingsopfern und sie durch Leute, die die Opfer überbrachten, nach Jerusalem sandten. Trotzdem vertrieb er sie nicht aus Rom und entzog ihnen nicht das römische Staatsbürgerrecht, weil sie auch ihre Zugehörigkeit zum Judentum hoch hielten (τῆς Ἰουδαïκῆς ἐφρόντιζον). Er traf auch keine Änderungen gegen ihre Synagogen, hinderte sie nicht, sich in ihnen zu versammeln, um ihre Gesetze (τῶν νόμων) auszulegen, und legte dem Einziehen ihrer Opfergaben nichts in den Weg.“ Zur Toleranz des römischen Staates gegenüber den Juden (sog. religio licita) gibt es durchaus sehr verschiedene Informationen in den Quellen; zur Rücksicht Caesars: Jos. Ant. XIV 8,3; 10,8; Suet. Caes. 84,5; zu Augustus: Philo Leg. ad Gai. 155ff; 311ff.; Jos. Ant. XVI 6,2; zu Claudius, der die Privilegien der Juden bestätigt: Jos. Ant. XIX 5,3. Zum Verständnis der Trennbarriere in Eph 2,14f. vgl. Arist. 139,142: „Mose umzäunte (περιέφραξεν) uns mit undurchdringlichen Gittern und eisernen Mauern (τείχεσιν), damit wir mit keinem der anderen Völker Gemeinschaft hätten […] Damit wir nicht besudelt und durch schlechten Umgang verdorben würden, umzäunte er uns auf allen Seiten mit Reinheitsgesetzen, und zwar bezüglich Speisen, Trank, Berührungen, dem was wir hören, dem was wir sehen (πάντοθεν ἡμᾶς περιέφραξεν ἁγνείαις καὶ διὰ
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Inwieweit dieses Konzept aber den tatsächlichen soziokulturellen und religiösen Realitäten unter den Adressaten entspricht, ist eine andere Frage. Indem die pagane Mehrheitsgesellschaft unter einem jüdischen Blickwinkel faktisch kollektiv als ‚gottlos‘ gilt – mit dem neutestamentlichen Hapaxlegomenon ἄθεοι werden die Adressaten im Kontrastschema von einst und jetzt auf ihre Vergangenheit angesprochen –, erhält man quasi ein Gegenbild der Strategie Ciceros, nach dem den di immortales, den unsterblichen Göttern, die Juden nichts wert sind, was sich daran zeigt, dass sie im aktuellen Konflikt „besiegt“, „zinspflichtig“ und „versklavt“ worden sind. Wird im Schreiben ad Ephesios aus frühchristlichem Blickwinkel die Überwindung solcher Gottesfeindschaft behauptet, so stellt sich mit der konkreten literarischen Durchführung jedoch das Problem der faktischen Akkulturierbarkeit. Durchdenkt man die Konzeption des Eph weiter, so sind jedwede Formen von Fernsein, d. h. einer Distanznahme, nicht mehr vorgesehen. Das Einheitspostulat, das von Christus und der im Christusgeschehen begründeten Kirche her gedacht ist, scheint Akkulturation nur umgekehrt denken zu können, nämlich als Sakralisierung der Welt.51
2.4
Ethnizität – (neue) Ethnisierung
Neben dem Kultur-Begriff und seinen Derivaten spielt der Ethnizitätsbegriff in der migrationssoziologischen Forschung eine zentrale Rolle. Etwas vereinfacht dargestellt, geht ein breiter Strang der Forschung, der auch in der Migrationssoziologie rezipiert wird, von Einsichten Max Webers aus, nach dem Ethnizität nicht auf reale (Volks-)Zugehörigkeiten, d. h. qua Abstammung, Genealogie / Blutsverwandtschaft oder konkreter Verwurzelung in einem bestimmten Territorium, verweist. Vielmehr hat Ethnizität nach Max Weber mit der empfundenen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit von Menschen zu einer Gruppe oder einem Volk zu tun. Es geht also, so könnte man sagen, um den
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βρωτῶν καὶ ποτῶν καὶ ἁφῶν καὶ ἀκοῆς καὶ ὁράσεως νομικῶς).“ Siehe zur strategischen Situierung des Aristeasbriefs zwischen Akkulturation und Abgrenzung: Feldmeier, Weise, 20–37. Dieses Urteil ist freilich von Aussagen im paränetischen Briefteil her mindestens zu relativieren. Bereits Eph 2,11–13 steht unter dem Vorzeichen der Mahnung zur Erinnerung. Der Text bezieht sich hierbei auf eine Situation der Adressaten, die man liminal nennen kann (im Übergang von der Phase der Liminalität zur Aggregation): Die Adressaten werden daran erinnert, wie sie von Fernen zu Nahen wurden, wie sie eine Schwelle überschritten haben, hinter die man zugleich erneut zurückfallen könnte. Mit dem sogenannten Revelationsschema von einst und jetzt sollen die Adressaten nicht allein gegenüber der sogenannten heidnischen Umwelt, sondern vor allem im Hinblick auf ihre eigene Vergangenheit stabilisiert und immunisiert werden.
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Glauben an Gemeinsamkeiten einer Gruppe, nicht um Gemeinsamkeiten, die tatsächlich in der Wirklichkeit ‚da sein‘ müssen.52 Nach Weber sind ethnische Gruppen darum von dem, was er „Sippe“ nennt, dadurch unterschieden, dass ihnen kein reales Gemeinschaftshandeln zukommt.53 Auf der Linie Webers ist dann festzustellen, dass ethnische Gruppen nicht ontologisch existieren. Ethnizität impliziert vielmehr immer die Konstruktionsleistung des making ethnicity. Making ethnicity kann aus einer Gruppe selbst heraus erfolgen; es kann aber auch einen Zuschreibungsvorgang von außen meinen, wobei beide Vorgänge in enger Wechselwirkung zu untersuchen sind.54 Wenn wir unsere beiden Ausgangstexte in dieser Richtung befragen, so ist ganz deutlich, dass beide von Strategien eines making ethnicity bestimmt und getragen sind. Zunächst: Cicero fasst das Judentum ethnisch auf. Das ist im Licht der jüngeren Auseinandersetzung in der Frage, ob die Rede von ,Juden‘ auch in frühchristlichen Texten grundsätzlich ethnisch – und nicht religiös – aufzufassen sei und darum Juden in der Regel mit ,Judäern‘ zu übersetzen sei,55 ein 52
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Zu Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1922): „Unter Ethnizität ist weniger die faktische als die gefühlsmäßige Volkszugehörigkeit zu verstehen“ (Treibel, Migration, 186). Weber, Wirtschaft, 44: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen, ‚ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht.“ Vgl. Han, Soziologie, 317. Vgl. demgegenüber Oswald, Migrationssoziologie, 98f. zu den „essentialistischen Ansätzen“ der Ethnizitätsforschung. Zu Typen ethnischer Differenzierung: Esser, Aspekte, 117–141; zu den ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen im Anschluss an Max Weber: Han, Soziologie, 316f., 321f. Die jüngere, nachhaltig durch Mason angestoßene Diskussion (vgl. Mason, Jews, 457– 512; siehe zusammenfassend: Stegemann, Religion, 50f.; Sänger, Ἰουδαϊσμός, 153– 158, mit weiterer Literatur) hat gezeigt, dass in der Auffassung von Ἰουδαῖος und der zugehörigen Derivate im Sinne eines ethnicon Richtiges erkannt ist. Die kollektive Identität Israels wurde zunächst ethnisch konstruiert; auch die Praxis der Tora ist damit zunächst Ausdruck der Gesetzesbindung eines konkreten ,Volkes‘; dies lässt sich auch auf das sog. Diasporajudentum beziehen (Stegemann, Religion, 55f.). Damit ist freilich zugleich impliziert, dass es sich um ein ethnisches Konstrukt handelt, in dem nicht nur die Axiome gemeinsamer Abstammung, gemeinsamer Verwurzelung im Land, gemeinsamer Sprache, allgemeiner Regeln für das Zusammenleben bzw. der Sitten und Gebräuche, sondern vor allem das der religiösen Praxis (und Überzeugungen) unverwechselbare und konstitutive Bedeutung gewinnt. Insofern ist das eine nicht gegen das andere (,ethnisch‘ vs. ,religiös‘) auszuspielen und lassen sich die Befunde nicht einfach separieren (vgl. Stegemann, Religion, 51–53). Jedes literarische Einzelzeugnis, dem eine Konstruktion des ,Judäer‘- resp. ,Jude‘-Seins inhäriert, ist in seiner unverwechselbaren soziohistorischen Verankerung auf die besonderen Mischungsverhältnisse und Akzentgebungen hin zu beschreiben und zu untersuchen. Grundsätzlich gilt: Die Ἰουδ-
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spannender Befund. Nach Cicero gilt: sua cuique civitati religio (Flacc. 69). Die civitas der Juden wird von Cicero konkret mit Jerusalem verbunden, und Cicero spricht das Judentum im Weiteren dann noch einmal als gens, als „Geschlecht“, an. Wie bereits festgestellt worden ist, handelt es sich hierbei nicht um eine neutrale Beschreibung, sondern um ein Ethnisierungskonzept, das ganz von der „Größe unseres Namens“, d. h. aus der Perspektive der civitas romana entworfen ist. Wie Cicero das jüdische Volk ,ethnisiert‘, um es als inferior erscheinen zu lassen, so verfolgt er in der Rede Pro Flacco zugleich Strategien der Ethnisierung Roms. Diese Strategien schneidet der Redner zugleich auch auf die Person des Angeklagten zu. Flaccus stammte aus der gens Valeria, deren Geschichte sich mit der Abschaffung des Königtums und den Anfängen der römischen Republik verband, und Flaccus hatte zur Entlarvung und Depotenzierung Catilinas beigetragen. Cicero unterstellt den Prozessgegnern, dass sie für die Niederlage Catilinas Rache nehmen wollten (Flacc. 94–96) und lässt es sich nicht entgehen, in der Rede – wie ja auch sonst oft bei ihm überdeutlich Derivate konnten „in der griechisch-römischen Antike das spezifisch religiöse Profil und die kulturelle Eigenart des jüdischen Ethnos zur Sprache bringen – sowohl aus der jüdischen Binnenperspektive als auch aus der Fremdwahrnehmung“ (Sänger, Ἰουδαϊσμός, 183). In einer Entwicklung, innerhalb derer die religiöse Praxis als Ausdruck axiomatischer Überzeugungen mehr und mehr zum fokalen Bezugspunkt der Ethnizitätskonstruktion werden konnte, kommt der Exilszeit konstitutive Bedeutung zu, innerhalb derer kultische Vorstellungen sozial ausgelegt und in den Dienst der Demarkation der eigenen Gruppe gestellt werden konnten. Nach Albertz wird in Neh mit (dem häufig durch Artikel determinierten) יהודיםeine Fremdbezeichnung der babylonischen und persischen Umwelt übernommen, zur Selbstbezeichnung gemacht und als Instrument des othering resp. der Selbstidentifikation (Sabbat-Halacha; Verbot exogamer Ehen u. a.) genutzt. Sie wird auf diejenigen angewandt, die das Exil überdauert haben. „Wie alle ethnischen Minoritäten mussten die kleinen jüdischen Gemeinschaften in Babylon und Persien ständig in einer doppelten Frontstellung um ihr Überleben kämpfen, einerseits gegen den kulturellen Druck von außen, andererseits gegen die Gefahr der Assimilation von innen. Daher sind für solche Minoritäten eine hochgradige Gruppensolidarität im Innern und eine scharfe Abgrenzung von der gesellschaftlichen Umwelt typisch“ (Albertz, Konzepte, 23f.). In der Folge kann dann ,Judäer‘- / ,Jude‘-Werden vorrangig religiös im Sinne der Bekehrung konstruiert werden (vgl. z. B. 2 Makk 9,17: Antiochus IV. verspricht, im Fall seiner Heilung von Krankheit ein Jude zu werden). Sänger macht auch die Gegenprobe geltend: Von ,paganen Judäern‘ wissen die antiken Quellen nichts (Sänger, Ἰουδαϊσμός, 180). Die gesamte jüngere Diskussion um die adäquate Auffassung der Ἰουδ-Derivate hat freilich etwas Unbefriedigendes resp. Aporetisches, weil ihr durchgängig die – nicht geklärte – Frage unterliegt, was denn Religion ist (ein Überzeugungssystem? / eine Praxis? u. v. a.). Wie bei allen entsprechenden Problemen der Kategorisierung und Beschreibung hilft es auch an dieser Stelle nur bedingt bzw. führt in neue Aporien, wenn man meint, die Probleme mit der Nutzung quellsprachlicher (antiker) Konzepte lösen zu wollen. Die Annahme Ciceros z. B., nach der jedes Volk seine eigene Religion habe (sua cuique civitati religio Flacc. 69), beschreibt keine Lösung, sondern führt unter den Bedingungen moderner Forschung nur auf das Ausgangsproblem zurück.
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– sein eigenes Konsulat mit der Zerschlagung der Verschwörung Catilinas ins rechte Licht zu setzen. In entsprechenden Aussagen Ciceros, in denen er sich als ‚Retter des Vaterlandes‘ präsentiert, wird die von ihm beschworene Republik zu einem fiktionalen Konzept der Ethnisierung des römischen Volkes mit seinem mos maiorum. Auf entsprechende Konzepte einer Ethnisierung resp. Selbstethnisierung sind – unter ganz anderen Vorzeichen – auch frühchristliche Texte zu befragen. Eph 2 setzt in der Feststellung der Differenz und Fremdheit von einem jüdischen Standpunkt her an. Von diesem her kommt der Verfasser auf die judenchristliche Sicht zu sprechen. Die eigentliche Zielperspektive jedoch, die alles umgreift, ist die: Im versöhnenden Christusgeschehen fallen Eigenes und Fremdes zusammen; in kultischen Kategorien: ein témenos, ein heiliger, abgegrenzter Bezirk, von dem her es noch Fremde geben könnte, ist im Geschehen des Kreuzes suspendiert. Eph 2,11–22 stellt in einer Retrospektive die durch das Christusgeschehen aufgehobene Trennung zwischen Heiden und Juden und ihre Zusammenführung in der einen ἐκκλησία als Gottesvolk dar. Im Blick auf das Schreiben ad Ephesios lässt sich noch ein interessanter Aspekt anschließen, der seit den Anfängen der Migrationssoziologie eine erhebliche Rolle gespielt hat: Die Frage der Zuordnung von Selbst- und Fremdwahrnehmungen zur Folge von Generationen migrierender Menschen. Prominente Beiträge der frühen migrationssoziologischen Forschung in Nordamerika rechneten mit einem stufenhaften und selbstständig, ja geradezu zwanghaft ablaufenden Prozess, der am Ende in die vollständige Assimilation von Zugewanderten an ihre Aufnahmegesellschaft münden würde (siehe unter 1.).56 Diese Stufen wurden auf ein Konzept von Generationen projiziert, in dem die dritte Generation eine besondere Bedeutung erhielt und der entscheidenden Zielstufe entsprach. Die erste Generation bleibe demnach noch überwiegend in den Mustern der Herkunftskultur befangen. In der zweiten Generation werde die ,marginale‘ Situation realisiert und würden die Konflikte ausgetragen, die mit Konditionen oder Gefühlen einer Benachteiligung zusammenhängen. In der dritten Generation käme es jedoch schließlich zur Assimilation an die Kultur der Aufnahmegesellschaft, wobei lediglich Reste der Herkunftskultur verblieben. Nach der migrationssoziologischen Grundthese der Chicago School müsste folglich das Merkmalbündel ,ethnische Herkunft‘ mit der dritten Einwanderer-Generation jede konstitutive Bedeutung verlieren. Weitere Forschungen zeigten dann sehr bald schon für die nordamerikanischen Städte, innerhalb derer entsprechende Untersuchungen durchgeführt wurden, dass die Erwartung, die Konstruktion der Zugehörigkeit zu einem ursprünglichen ,Volk‘ bzw. einer entsprechenden Verwurzelung von Zuwanderern werde in der dritten Generation irrelevant und ethnische Gruppen lösten sich als solche auf, simplifizierend war. Demgegenüber beobachtete man und 56
Siehe im Überblick: Treibel, Migration, 89–96.
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trug dem in modifizierten Modellen bald Rechnung, dass sich gerade die dritte Migranten-Generation oft dadurch auszeichnet, dass in ihr ethnische Identifikationen in neuer Weise gesucht werden.57 Dieses Phänomen einer erhöhten Nachfrage nach einer erst in zeitlicher Distanz eintretenden eigenen ethnischen Identifizierbarkeit beschäftigt Beiträge der internationalen Migrationssoziologie gegenwärtig intensiv; es wird unter den Bezeichnungen „neo-ethnicity“ oder „ethnic revival“ verhandelt.58 Hierbei spielt der von Herbert J. Gans geprägte Begriff der „symbolischen Ethnizität“ eine besondere Rolle.59 „Ethnische Gruppen“ lassen sich dabei nicht einfach unter den Aspekten der Aneignung oder auch Einspeisung kultureller Merkmale aus der / in die Mehrheitsgesellschaft betrachten; vielmehr entstehen gegebenenfalls neue und unverwechselbare Gruppenstrukturen mit eigenen Kulturen. Die neue Ethnizität reklamiert zwar das ,Alte‘ als genuin solches, generiert jedoch faktisch unverwechselbar Neues. Bezogen auf unsere Ausgangstexte, würde sich an diesem Punkt die Frage nach der in der Forschung so viel strapazierten dritten Generation des Frühchristentums stellen, der in der Regel – mit einem breiten common sense der Forschung – auch der Epheserbrief zugerechnet wird. Es stellt sich die Frage, inwieweit Akzentverlagerungen gegenüber Konzepten der zweiten Generation, insbesondere zu den Briefen des Apostels Paulus, zu greifen sind. Weitet man den Blick auf die große Diversizität von christlichen Zeugnissen der weitgefassten dritten Generation des Frühchristentums, so stellt sich für den Epheserbrief die Frage, inwieweit hier die ethnisierende Konstruktion der Christen als Fremde gegenüber den paulinischen Homologumena zugenommen und sich intensiviert hat.60 57
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Zum Generationenbegriff und zu Grundproblemen der Konzeptualisierung von Generationen übergreifenden Vorgängen der Sozialisation: Mühler, Sozialisation, 111–135. Bedeutsam waren v. a. die Forschungen Milton M. Gordons, Marcus Lee Hansens „Problem of the Third Generation“ (1938) und die 1955 erschienene Studie von Will Herberg. Nach Hansen widersetzt sich gerade die dritte Generation mit einer verstärkten ethnischen Identifikation dem Assimilationsdruck (Treibel, Migration, 189; „Was der Sohn vergessen will, an das will der Enkel sich erinnern“; Hansen, Problem, 9). Siehe im Überblick: Reuter, Religion, 186–190. Die Rede von ,neuen Ethnizitäten‘ geht auf den britischen Soziologen Stuart Hall („New Ethnicities“, 163–172) zurück (vgl. zu Definition: Mayer, Diaspora, 11–14). „[…] symbolische Ethnizität kann die vollständige (identifikative) Assimilation in die Aufnahmegesellschaft verhindern und das Zugehörigkeits-Gefühl und die Primärbeziehungen der Eingewanderten auf die ethnische Gruppe konzentriert sein lassen“ (Treibel, Migration, 198). Bei Paulus ist die Konstruktion der frühen Christen als Fremde nicht in der Weise bestimmend (vgl. v. a. Gal 4,21–31; Phil 3,12.30; vgl. 2 Kor 5,1–10). Mit Feldmeier, Christen, 83, kann man zudem feststellen, dass die mit der These einer himmlischen Zugehörigkeit gesetzten Implikationen von Paulus nicht im Sinne einer Nichtzugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft der Christen ausgelegt werden. Zur bei Paulus vergleichsweise randständigen Vorstellung einer himmlischen Beheimatung / Zielbestimmung der Christen: Schinkel, Bürgerschaft. Der Epheserbrief schließt grund-
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Neben dem Epheserbrief verdient vor allem der erste Petrusbrief Aufmerksamkeit. In 1 Petr erfolgt eine planvolle Ethnisierung der Adressaten unter dem Label von „Fremdlingen“ und „Beisassen“. Die Zuschreibung des Fremdlingsstatus fungiert hier als ein wesentliches Element einer ethnischen Neukonstruktion.61 Sowohl im Fall des Epheserbriefes als auch im Fall von 1 Petr wird dabei wahrscheinlich (überwiegend) sesshaften Adressaten62 ein entsprechender Fremdlingsstatus zugeschrieben; bei allen Unterschieden sind wahrscheinlich Menschen adressiert, die selbst nicht Zugewanderte sind. Entsprechende Verschiebungen, Umbrüche und Neuansätze in der ethnischen Konstruktion lassen nach Strategien der Grenzziehung und dem tatsächlichen Leben von Gruppen fragen. Sowohl der Epheserbrief als auch der erste Petrusbrief vermitteln den Adressaten keine ,harten‘ Strategien der ethnischen Abgrenzung, ihre Pragmatik zielt nicht auf Segregation oder gar Irredentismus – Strategien, die in der Migrationssoziologie gegenwärtig unter dem Label „ethnic revival“63 wahrgenommen werden. Wie sich die kulturellen und religiösen Beziehungen in der Praxis tatsächlich gestaltet haben könnten und wie mit entsprechenden Kontaktsituationen umgegangen wird, ist dabei für alle Lebensbereiche einzeln zu diskutieren. Für die paulinische Missionsgemeinde in Korinth und für die Christenheit, die der
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sätzlich an Paulus in positiver Hinsicht an: Zum Hebräerbrief vgl. Feldmeier, Christen, 83; „Die besondere Bedeutung des Hebr liegt […] nicht zuletzt darin, dass er als einzige biblische Schrift überhaupt den Gedanken der Fremde explizit ausdeutet, ausdeutet als Leben aus dem Glauben in gehorsamer Erwartung von Gottes Zukunft“ (Feldmeier, Christen, 92). Siehe zur Traditionsgeschichte von παρεπίδημος, πάροικος, παροικία sowie διασπορά: Feldmeier, Christen, 8–74. Im Alten Testament wird die Thematik Fremde im Zusammenhang der Exilserfahrung virulent. Hier erfolgt die Rückbesinnung auf die „eigenen Ursprünge und Lebensweisen der Vergangenheit, in der Israel sich bildete, und daraus resultierend eine Abgrenzung gegen ein sich an den Standards der Umgebung orientierendes Selbstverständnis […]. Die Erzväter werden so gewissermaßen zum Gleichnis gläubiger Existenz, der auch und gerade in der ‚Fremde’ Gottes Verheißungen gelten […] womit das Ger-sein auch zum Vorzeichen des Kommenden wird. Mit dem Blick auf die ‚Väter’ kann Israel seine absolute Verwiesenheit auf den Existenz gewährenden Gott ins Bewusstsein rufen: ‚Ein umherziehender Aramäer war mein Vater […]‘ (Dtn 26,5)“ (Feldmeier, Christen, 44). Im hellenistischen Diasporajudentum gibt es dagegen das grundsätzliche Bestreben, „die volle bürgerliche Gleichberechtigung zu erreichen und von daher ihre Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Land zu betonen […]“ (Feldmeier, Christen, 64). Vgl. zu schematischen Aufteilungen der Thematik Fremdheit auf einzelne neutestamentliche Autoren bzw. Schriftengruppen: Feldmeier, Christen, 75 Anm. 2 in kritischer Auseinandersetzung mit Lampe. Die diffizilen soziohistorischen Fragen im Blick auf 1 Petr, der in seinem Präskript ein äußerst weit gespanntes Gebiet avisiert, sind hier nicht ausführlich zu diskutieren. Vgl. Elliott, Home, 1–100. Siehe zum ethnic revival resp. zur ethnic mobilization, die bei „oberflächlicher Betrachtung […] der zunehmenden Individualisierungstendenz der modernen Menschen“ (Han, Soziologie, 318) widerspreche: Han, Soziologie, 318–321.
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erste Petrusbrief adressiert, gilt dies beispielhaft für das Problem exogamer Ehen (vgl. 1 Kor 7,12–16; 1 Petr 3,1–7).64
2.5 Fremdheitskonzeptionen In den Texten, die von den Vertreibungsmaßnahmen der Juden aus Rom handeln, werden die Juden mit anderen desintegrierten Gruppen und Einflüssen zusammen gesehen, die Rom im Vollzug der sukzessiven Erweiterungen des Reiches Richtung Osten erreichten.65 Dies gilt über die oben angesprochenen Texte hinaus, die von Expulsionsvorgängen wissen, auch für das in seiner Bedeutung für die Anfänge des römischen Christentums so viel diskutierte Ausweisungsedikt des Claudius. Nach Sueton (Claud. XXV) ist die Ausweisung von Juden, „weil sie von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe stifteten“ (Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit), mit anderen religionspolitischen Maßnahmen, u. a. gegen den gallischen Druidenkult und die eleusinischen Mysterien verbunden.66 64
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Siehe zu alttestamentlichen, frühjüdischen und frühchristlichen Stellungnahmen zu exogamen Ehen: El Mansy, Ehen. Ein verwandtes spannendes Thema bieten altchristliche Texte, nach denen die Praxis frühchristlicher Akteure dazu führt, dass Frauen ihren ,paganen‘ Männern entfremdet werden. Vgl. Iust. Apol. II 2; Tert. Scap. III 5; ActAndr 36; ActPetr 33f. sowie die Thekla-Legende. Vgl. zur Resonanz frühchristlicher Zeugen unter Frauen bereits Apg 5,14; 8,12; 9,2; 16,13–15; 17,4.12.34 u. a. Ein weites, hier nicht eigens zu thematisierendes Feld beschreibt eine genderbezogene Migrationsforschung (vgl. Treibel, Migration, 106: Migrantinnen „werden besonders stereotyp wahrgenommen […]“). Zum Verhältnis der Juden und des römischen Reiches insgesamt: Baltrusch, Juden. Zur historischen Bewertung von Apg 18,2, Cass. Dio LX 6,6 und Oros. Hist. VII 6,15: Wolter, Römerbrief I, 33–41 (mit zwei verschiedenen Maßnahmen rechnet auch Baltrusch, Romanos, 56). Wolter, Römerbrief I, 36: „Auch die Aktion des Claudius war eine Maßnahme, die auf die Bewahrung bzw. Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung ausgerichtet war, und keine Strafe wie die relegatio oder die deportatio. Ebenso stand die dezentrale Organisationsform der stadtrömischen Judenschaft der Realisierbarkeit einer Entfernung aller Juden aus Rom entgegen […]. Nur einzelne Juden […] können darum von dem Ausweisungsedikt betroffen gewesen sein.“ Suet. Claud. XXV: „Ausländern (peregrinae) verbot er, römische Namen, d. h. Geschlechtsnamen zu führen. Wer sich das römische Bürgerrecht unbefugterweise anmaßte, wurde auf dem Esquilinischen Felde mit dem Beil enthauptet. Die Provinzen Achaja und Mazedonien, welche Tiberius der kaiserlichen Verwaltung unterstellt hatte, gab er dem Senat zurück. Den Lykiern, die sich gegenseitig durch innere Zwietracht aufrieben (ob exitiabiles inter se discordias), nahm er die Freiheit, während er sie den Rhodiern, die ihre alten Vergehen bereuten, wiedergab. Den Einwohnern von Ilium, als Stammväter des römischen Volkes (quasi Romanae gentis auctoribus), erließ er für immer alle Abgaben. Er verlas dabei einen alten griechisch geschriebenen Brief, in welchem Senat und Volk von Rom dem König Seleukos Freundschaft und Bündnis nur unter der Bedingung zusicherten, dass er die Einwohner von Ilium, ihre Blutsverwandten (consanguineos), von jeder Steuerlast befreite. Die Juden, vertrieb er aus Rom, weil
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Spannend für unser Thema sind römische Texte, in denen die Fremdheit des jüdischen Volkes mit dem Exodus, d. h. mit einer Migrationsgeschichte korreliert wird. Daraus wird der Topos, der sich bei Hekatios von Abdera (4. / 3. Jh. v. Chr.) bis zum Judenexkurs des Tacitus findet, nach dem die Juden wegen einer von den Göttern geschickten Seuche aus Ägypten ausgezogen seien.67 Juden erscheinen in ihrer religiösen Praxis damit aus römischer Sicht immer wieder als Fremde par excellence resp. als krank.68 Auch im Epheserbrief begegnen Kategorien des Fremden, hier gewonnen aus alttestamentlichen und hellenistisch-jüdischen Vorstellungen (s. o. unter 2.4). Und zu erinnern ist hier auch noch einmal an den philonischen Abraham sowie an die recht späten frühchristlichen Texte, die Konzepte von Heimatlosigkeit und Fremde im Zusammenhang ethischer Aussagen aktivieren.69 Das lässt zuletzt nach der Konstruktion von Fremdheit fragen. Ein Blick in Forschungsbeiträge der Migrationssoziologie schärft im Umgang mit unseren Quellen den Blick dafür, dass der Begriff des Fremden kein neutraler Beschreibungsterminus ist. Ein sehr weites Feld älterer Fremdheitsforschung ist
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sie von Chrestus aufgehetzt (impulsore Chresto), fortwährend Unruhe stifteten (Iudaeos […] tumultuantes). Den germanischen Gesandten erlaubte er, in der Orchestra zu sitzen. Hierzu veranlasste ihn die naive Äußerung ihres Selbstgefühls. Als man ihnen nämlich ihre Plätze in den Abteilungen des Amphitheaters angewiesen hatte, die für das Volk bestimmt waren, begaben sie sich, sobald sie die Parther und Armenier auf den Senatsplätzen sitzen sahen, ohne weiteres auf eben diese Plätze. Stolz erklärten sie dabei, ihre Tapferkeit (virtutem) und ihr Rang (condicionem) seien um nichts geringer. Den Druidenkult bei den Galliern mit seiner unmenschlichen Grausamkeit, den Augustus nur römischen Bürgern verboten hatte, schaffte er vollständig ab. Dagegen versuchte er, den eleusinischen Mysterienkult (sacra Eleusinia) sogar von Attika nach Rom zu verpflanzen. Ferner veranlasste er, dass in Sizilien der vor Alter eingestürzte Tempel der Venus Erycina aus römischen Staatsmitteln wiederaufgebaut wurde. Bündnisse (foedus) mit fremden Königen schloss er auf dem Forum ab, wobei ein Schwein geopfert und die alte Formel der Fetialen (vetere fetialium praefatione) angewendet wurde. Indessen, alle diese und andere ähnliche Maßnahmen wie überhaupt seine ganze Regierung waren zum großen Teil weniger sein eigenes Werk als das seiner Frauen und seiner Freigelassenen. Er selbst nahm meistens nur die Stelle ein, die ihren Interessen oder Launen entsprach.“ Hiervon zu unterscheiden Cass. Dio LX 6,6: „Die Juden, die wieder sehr zahlreich geworden waren, so dass sie wegen der schieren Menge kaum aus Rom ausgewiesen werden konnten, ohne dass sie Aufruhr (ταραχῆς) verursachten, vertrieb er zwar nicht, aber er ordnete an, dass sie ihre bisherige Lebensweise beibehielten und keine Zusammenkünfte veranstalten sollten. Er löste auch die Klubs (ἑταιρείας), die Gaius wieder zugelassen hatte, auf.“ Zum Judenexkurs des Tacitus: Gruen, Rethinking, 179–196. Zum Verhältnis von Römern und Juden: vgl. Baltrusch, Romanos, 49–51. Nach Jos. Contr. Ap. II 2, wurde die jüdische Sabbatobservanz polemisch so erklärt, dass die Israeliten am siebten Tag von einer krankhaften Schamdrüsenschwellung befreit wurden, welche bei den Ägyptern σαββάτωσις genannt wurde. Siehe die Beiträge von A. Wypadlo und H. Löhr in diesem Band.
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zu verzeichnen und seit den 90er Jahren eine intensive Renaissance entsprechender Forschungen.70 Der Begriff Fremdheit wird hier wissenschaftssprachlich ganz unterschiedlich gefasst, und er ist jedenfalls nie unbelastet.71 Der Fremde ist dabei in seiner sozialen Wertigkeit und seiner Selbstwahrnehmung keineswegs nur der ‚Marginalisierte‘72 und seelisch Instabile, der einen Kulturkonflikt und Statusunsicherheiten in seiner Person auszutragen hat.73 Vielmehr gibt es seit Georg Simmels 1908 erschienener „Soziologie“ auch Beschreibungen, die der Rolle des Fremden Vorteile zuschreiben. Nach Simmel kann der „stranger“ in seinem Zwischenzustand zwischen Distanz und Nähe, Gleichgültigkeit und Tangiert-Sein sozialen Abstand gewinnen und hieraus auch Nutzen ziehen. „Weil er nicht von der Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist, steht er allen diesen mit der besonderen Attitüde des ‚Objektiven‘ gegenüber […].“74 Generell ist zu beachten, dass Fremdheit nicht auf der Ebene von Entitäten angesiedelt ist, sondern vielmehr auf der Wahrnehmungs- und Diskursebene in Kontaktsituationen rangiert. Dies impliziert zugleich, dass die Feststellung von (kulturellen, ethnischen u. a.) Differenzen nicht eo ipso Fremdheit bewirken bzw. zu ihrer Konstatierung führen muss.75 Unter solchen Vorzeichen kann z. B. gefragt werden, inwieweit der erste Petrusbrief, der durch die Begriffe der ‚Beisassen‘ und ‚Paröken‘ seine Adressaten ihrer Umwelt entfremdet und dies insbesondere mit der Erwählungsvorstellung begründet, hierdurch gerade auch positive Orientierungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume gewinnt.76
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Siehe den Überblick: Treibel, Migration, 103–108. Vgl. den forschungs- und literaturgeschichtlichen Überblick über Konstruktionen von Fremdheit: Müller-Funk, Theorien. Zu aktuellen Fremdheitskonzepten und ihren Voraussetzungen: Yadin, Topoi, 118–172. Zum Begriff und zu Gestalten der Marginalisierung: Roeck, Außenseiter, 106–142. Daneben ist der Terminus der Entwurzelung zu vergleichen, der („the uprooted“) auf den nordamerikanischen Historiker Oscar Handlin zurückgeht. In dieser Richtung waren die Beiträge zur Fremdheitsforschung von Park („Human Migration and the Marginal Man“; 1928) und Stonequist (1937) gelagert. Simmel, Soziologie, 510. Nach Treibel, Migration, 104, hatte Simmel dabei den „jüdischen Händler mittelalterlicher Gesellschaften vor Augen“. Vgl. Gotter, „Akkulturation“, 396. Zu frühchristlichen Fremdheitskonzepten: Kampling, Fremde, 215–239 (vgl. hier den wichtigen Epilog zum Juden als paradigmatisch Fremden in G. Stählins Artikel ξένος κτλ. in ThWNT V, 1–36). Zur Konzeptualisierung Fremder im Pentateuch und späteren Anschlusspunkten für das Modell der Proselyten: Achenbach, gȇr, 29–69.
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Ausblick – Weitere Potentiale interdisziplinärer Verständigung mit der Migrationssoziologie
Wir gingen von zwei Beispieltexten aus: Einer Rede Ciceros aus der Zeit der römischen Republik sowie dem frühchristlichen, der Paulusschule zuzuschreibenden Epheserbrief. In Begriffen der älteren Forschung fassten wir diese Texte, die teilweise gleiche Kategorien zu verwenden scheinen, als Testfälle für eine gescheiterte Assimilation und gelungenes melting auf, im einen Fall aus einer Außenperspektive, im anderen Fall aus einer Innenperspektive. Unser Ziel war dabei, an beiden Texten Fragestellungen, die in der migrationssoziologischen Forschung von Bedeutung sind, als Fragestellungen zu erproben und für weitere Analysen zu öffnen. Dabei haben wir Ordnungsmöglichkeiten entdeckt, sind aber auch an Grenzen von interdisziplinären Verständigungsmöglichkeiten gestoßen und haben lediglich begrenzte Ausschnitte wahrnehmen können. Weitere Felder einer interdisziplinären Verständigung, die für die neutestamentliche Wissenschaft von Gewinn sein können, wären zu benennen. In einem Ausblick sei die Erforschung von Fluchtphänomenen angesprochen,77 in der ebenfalls grundlegende Perspektivwechsel in der jüngeren migrationssoziologischen Forschung zu verzeichnen sind. Die ältere Forschung ging von Prozessen selbstgewählter und selbstbestimmter Wanderung aus. Fluchtphänomene waren damit a priori ausgeblendet. Zudem wirkten politische Definitionen ,des Flüchtlings‘ in die Diskussionen hinein, die von geschlossenen staatlichen Gebilden oder Blöcken ausgingen und Flucht eng mit der Vorstellung eines Grenzübertritts (klar definierter territorialer Gebilde) korrelierten.78 In der jüngeren Forschung sind in beiden Hinsichten deutliche Verschiebungen und Akzentverlagerungen zu verzeichnen. Zum einen richtet sich der Blick verstärkt auf die Flüchtlinge als Akteure. Flüchtlinge werden nicht mehr allein unter dem Aspekt ihres Objektseins erforscht. Phänomene von Flucht sind demnach auf einer breiten Skala einzuordnen, auf der Flüchtlinge keineswegs rein passiv und planlos zu verorten sind, sondern vielmehr im Blick auf ihre Fluchtentscheidung und die Wahl eines Fluchtortes etc. stärker ,proaktiv‘ in den Blick kommen.79 77 78 79
Vgl. den Beitrag von L.-M. Günther in diesem Band. „Die Festlegung von ‚Flüchtlingseigenschaften’ ist eine politische Frage […]“ (Treibel, Migration, 162; vgl. Treibel, Migration, 159–163, zu Flüchtlingsbegriffen). „Es ist so gut wie nie wahr, daß sich Menschen einfach nur auf den Weg machen, um nur wegzukommen. Der Gedanke an einen Weg ohne Ziel ist unerträglich.“ (Ascherson 1994; zit. nach Treibel, Migration, 157). Vgl. Oswald, Migrationssoziologie, 73ff. Richmond, Theories kritisierte die konventionelle Unterscheidung von ‚freiwilliger‘ und ‚unfreiwilliger‘ Migration als unbrauchbar. Es eröffnet sich eine breite Skala von Möglichkeiten, die sich zwischen dem Typus des ‚proaktiven‘ wie dem des ‚reaktiven‘
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Zum anderen sind Fluchtphänomene in den Fokus der Forschung gerückt, die nicht mehr von den quasi ontologischen Annahmen bezüglich territorialer resp. nationalstaatlicher Grenzen her zu begreifen sind. Auch auf dem Feld der Flucht-Forschung sind damit zahlreiche Fragestellungen zu benennen, die als solche für frühchristliche Quellen spannend und weiterführend sein können. Fragen können sich zunächst auf Beschreibungsbegriffe richten, wie sie in der neutestamentlichen Wissenschaft für Fluchtphänomene verwendet werden. In einschlägigen Kategorisierungen melden sich noch einmal die Probleme von Push- und Pull-Modellen (siehe unter 2.2). Die Rede von Fliehen, Flucht etc. in den Quellen erscheint vielfach einseitig Push-Faktoren zuzuordnen. Fliehen meint dann, vor widrigen Umständen, Kriegen, Hungersnöten, politischen und militärischen Nöten resp. Verfolgung davonkommen, entrinnen, Sich-in-Sicherheit-Bringen etc. In diesem Sinn werden die griechischen Derivate der Wurzel φευγ- auch in zahlreichen frühchristlichen Texten allgemein gebraucht, bis hin zu einem mehr technischen Gebrauch von Termini des Wortfelds Flüchtling / Fliehen. Zugleich zeigen die in sich vielfältigen φευγ-Derivate jedoch auch, dass entsprechende Veränderungen des Territoriums / der Situierung nicht einfach unausweichlich sind, sondern eine aktive Komponente beinhalten.80 Insbesondere der metaphorische transitive Gebrauch der φευγ-Derivate in ethischen Zusammenhängen setzt voraus, dass es einer Willensentscheidung und einer
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Flüchtlings aufspannt (siehe hierzu: Treibel, Migration, 166–168). Vgl. grundsätzlich Han, Soziologie, 12: „Der Migrationsvorgang ist ein komplexer Prozess, der von seiner Entstehung und seinem Ablauf her durchgehend multikausal und multifaktorial bestimmt wird. Es wird somit überaus schwierig bzw. kaum möglich, eine exakte Trennungslinie zwischen den freiwilligen Migrationen zu ziehen.“ Zu den Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre in Europa und ihrem ‚aktiven‘ Potential: Pries, Migration und Ankommen, 13–15, 52–54. Das Substantiv φυγή findet sich im Neuen Testament allein in Mt 24,20 (Mk 13,18 vgl. l.). Das zugehörige Verbum als Simplex begegnet in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen und literarischen Kontexten. Es kann ein weiteres Spektrum abdecken (Sich-Hals-über-Kopf-Davonmachen; unvermittelt zurückweichen; sich in Sicherheit bringen u. a.; von Einzelnen: Mt 2,13; 8,33 par; Mk 14,52 [der nackt fliehende Jüngling]; Joh 10,5.12; Apg 7,29: Mose; Apg 27,30: beim Schiffbruch; Jak 4,7: vom Teufel; Offb 12,6: Die Frau flieht vor dem Drachen; kollektiv von der Jüngerflucht in Mk 13,14; 14,50; Mt 10,23; 24,16; 26,56; Lk 21,21 als Aufforderung an „die in Judäa“, die ins Gebirge fliehen sollen; vgl. Mk 5,14; 16,8; Lk 8,34 als Form des ,Ergriffenseins‘). Die Unmöglichkeit des Entrinnens vor dem Zorngericht wird in der Gerichtsaussage Mt 3,7 par akzentuiert; vgl. Mt 23,33; Lk 3,7. Übertragen kann das Verb den kosmischen Rückzug im Sinne des Sich-Verflüchtigens, Minimierens und Verschwindens in apokalyptischen Zusammenhängen bezeichnen (vgl. Offb 16,20; 20,11). Vgl. technisch φυγαδεύω: zum Flüchtling machen; aus dem Land jagen (im NT nur Apg 7,29 v. l.; vgl. 1 Clem 5,6; Apg 7,29 D-Text: absoluter Gebrauch vom Verbannter-Sein). Vgl. ἐκφεύγειν: a) „das Heil in der Flucht suchen“; absolut: Apg 16,27; mit ἐκ: Apg 19,16. b) „entrinnen, entkommen“; absoluter Gebrauch in 1 Thess 5,3; Hebr 2,3; 11,34; 12,25; c) mit dem acc. dessen / der Sache, dem / der man entkommt: Lk 21,36; Herm vis 23,4f.; Röm 2,3: dem Gericht Gottes; 2 Kor 11,33.
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aktiven Kraftanstrengung bedarf, um bestimmte Handlungsbereiche resp. ,Laster‘ aktiv zu meiden / zu überwinden , um sich positiv auf einen Weg zu tugendhaftem Lebenswandel hin auszurichten.81 Über entsprechende semantische resp. traditionsgeschichtliche Beobachtungen zum griechischen Wortfeld des Fliehens in frühchristlichen Texten hinaus stellt sich die Frage nach der tatsächlichen Praxis bestimmter Akteure, ihren Voraussetzungen, Implikationen und Folgen. Wir stoßen hier neuerlich auf dasjenige Problem, das bei allen soweit beleuchteten Feldern der Verbindung migrationssoziologischer Fragen mit frühchristlichen Texten und weiteren Zeugnissen virulent war: Die Ebene von (literarischen) Inszenierungen ist von der Ebene historischen Fragens sorgsam zu unterscheiden; zugleich stellt sich auf der zweiten angesprochenen Ebene nicht einfach Objektivität ein, vielmehr transportieren Beschreibungsbegriffe und Theoreme vielfach Wertungen, die sich mit den Quellentexten verbinden und die zugleich spätere / zeitgenössische soziohistorische und politische Verhältnisse spiegeln können. Zunächst zwei Beispiele für die literarische Inszenierung von Flucht-Phänomenen im Neuen Testament. Die Erzählung von der Flucht der Jesusfamilie nach Ägypten in Mt 2,13–23 ist vom Erzähler als kunstvoll verwobener Teil der Vorgeschichten so gestaltet, dass die Leserschaft die göttliche Notwendigkeit dieses Ausweichmanövers sofort erkennt und in sie einstimmen muss. Flucht und korrespondierende Rückkehr bzw. Wohnungnahme in Nazaret sind von der Transzendenz legitimiert (vgl. die im Wortlaut korrespondierenden Befehle des ἄγγελος κυρίου in Mt 2,13.20). Nach der vorausgehenden Erzählung Mt 2,1–12, welche den wahren König im Gegenüber zum brutal agierenden Jerusalemer König Herodes etabliert hat, rechnet die Erzählung nun bei der Leserschaft mit Genugtuung und Erleichterung. Komplexer gestaltet sich die Frage nach der Thematisierung der Flucht des Paulus aus Damaskus in 2 Kor 11. Offenbar kann Paulus hier nicht ungebrochen damit rechnen, dass seine Adressaten in ein entsprechendes Erleichtert-Sein über sein Entkommen einstimmen werden bzw. er muss möglicherweise mit Stimmen rechnen, die andere Interpretationen des Vorgangs vertreten. Hier kommen deutlich Aspekte von shame and honor von (überstürzten) Ortsveränderungen resp. Flucht frühchristlicher Akteure ins Spiel. Paulus selbst thematisiert sein Fliehen aus Damaskus jedenfalls im Zusammenhang von Phänomenen der „Schwäche“ / ἀσθένεια. Fragt man historisch, 81
Vgl. den transitiven Gebrauch von φεύγειν: Von Handlungen Fliehen / Meiden / SichScheuen vor / sich zurückhalten von mit dem accusativus rei: 1 Kor 6,18; 10,14 (hier mit ἀπό + Genetiv); 1 Tim 6,11 (im Gegensatz zu διώκειν); 2 Tim 2,22; Offb 9,6; Epikt. Diss. I 7,25; 4 Makk 8,19; TestRub 5,5 (πορνεία); 1 Clem 30,1; 2 Clem 10,1; Ignat. Ad Trall. XI 1; Smyrn. 7,2; Ad Phil. II 1.6 u. a. Vgl. ähnlich auch der Gebrauch von ἐκφεύγειν (Philo, Leg. All. III 236: die Schlechtigkeit; Herm vis 24,4: die Welt). Vgl. ἀποφεύγειν in 2 Petr 2,18.20 mit dem Genitiv der Sache: „dem durch die Begierde in der Welt gewirkten Verderben entfliehen“ (vgl. Herm mand 43,13 mit acc.).
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so richtet sich das Interesse auf folgende Fragen: Wie alternativlos war es für Paulus, Damaskus zu verlassen? Wie aktiv oder passiv war er bei diesem Vorgang? Und: Wie ist dieser von den zurückgelassenen Christen sowie auch von weiteren Rezipienten, gegebenenfalls auch outsidern interpretiert worden? Traditionsgeschichtlich schließt die Frage an, wie im zeitgenössischen philosophischen Diskurs die Frage der Legitimität resp. Ehrenhaftigkeit des Fliehens verhandelt worden ist. Nicht ausgeschlossen ist, dass Paulus selbst nicht nur einmal mit entsprechenden Fragen konfrontiert worden ist und dass solche Fragen auch durchaus von Mitgliedern seiner Missionsgemeinden gestellt wurden, keineswegs nur von Dritten.82 Entsprechende Fragekreise der literarischen Inszenierung und historischen Verortung von Fluchtvorkommnissen ließen sich auf die älteste Jesusbewegung erweitern, und sie lassen sich hinein in Zeugnisse der weiteren Etablierung und Ausbreitung des ältesten Christentums in vielfältiger Weise prolongieren. Ab wann ist ein Anschluss an die älteste Jesusbewegung nicht nur als ein bewusster Nachfolgeentscheid in die Wanderexistenz, sondern ggf. auch als eine Flucht vor bestimmten sozialen Konstellationen und materiellen Fixierungen aufzufassen? Wie wurden entsprechende Vorgänge des Verlassens von Besitz, Beruf und Familie in der ,Nachfolge‘ vom sozialen Umfeld der Akteure wahrgenommen und bewertet? Inwieweit führten sie zu einer Destabilisierung der zurückgelassenen Familien, Dorfverbände etc.? Wie sah das soziale feedback auf das Verhalten der Scheidenden aus? Dass Begriffe und Ordnungsmuster der Forschung – geht es um Fluchtphänomene – vielfach alles andere als neutral sind, kann man auch an der Forschungsgeschichte zur sog. ‚Flucht der Urgemeinde nach Pella‘ studieren. Ohne auf Texte wie Mk 13,14 par oder auch Q 13,34f. und spätere Quellen eingehen zu können:83 Euseb spricht im Zusammenhang der Pella-Tradition 82
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Zu den Problemen des Verständnisses von 2 Kor 11,32f., der Beziehung zu Apg 9,24f., zum Problem der Wertigkeit der Notiz im Zusammenhang des 11. Kapitels und zur Frage, ob Paulus hier möglicherweise auf einen Ehre bestreitenden Vorwurf seiner Gegner reagiert: Schmeller, 2. Korintherbrief II, 265–270 (Der Vorfall sei „in der Tat ein Beleg für Schwachheit, […] demonstriert weder sein Durchhaltevermögen noch seine Tapferkeit oder seine Leistungsfähigkeit […] ein Rettungsmanöver mit komischen, fast schon grotesken Zügen […] das Gegenteil einer ruhmreichen Tat […] sogar etwas Demütigendes […]“; Schmeller, 2. Korintherbrief II, 266f.). Ähnliche Fragen darf man u. U. auch bei anderen Paulusbriefen bzw. der Beziehung des Paulus zu weiteren Missionsgemeinden stellen, insbesondere wenn es zum vorzeitigen / überstürzten Abreisen, zu Ausweichmanövern o. ä. kommt; es ist nicht gesagt, dass Gemeindezugehörige, aber auch outsider ein entsprechendes Verhalten jeweils als alternativlos resp. ehrenhaft begriffen haben (vgl. die Situation des 1 Thess mit den Informationen in Apg 17,10 im Kontext). Zur alten und viel umstrittenen Frage nach Bezeugung, Alter, Verlässlichkeit und Provenienz der Pella-Tradition (vgl. Euseb. Hist. Eccl. III 5,3; Epiphan. Salam. Haer. XXIX 7,7f.; XXX 2,7; De Mens. et Pond. 15; vgl. – umstritten –: Mk 13,14; Ps.Clem.
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(Euseb. hist. eccl. III 5,3) von einem Verlassen der Stadt (μεταναστῆναι τῆς πόλεως) in Folge einer den „Angesehenen“ durch eine Offenbarung (διʾ ἀποκαλύψεως) zuteil gewordenen „Weisung“ – und zwar vor der eigentlichen Katastrophe Jerusalems. Und er schreibt von einem aktiven „Sich-Niederlassen“ (auf Zeit) (μετοικίζειν) der an Christus Glaubenden aus Jerusalem in der Stadt Pella (die Euseb allerdings versehentlich in die Peräa verlegt). Man wird also mindestens in der Beschreibung dieses Textes eher nicht von einer Flucht, sondern von einer – ggf. auch längerfristig geplanten – Emigration sprechen und ggf. auch weiter differenzieren, wenn man das homogenisierende Bild, das sich bei Euseb ergibt, hinterfragt und sich das Geschehen eher in der Art einer ‚Kettenmigration‘ vorstellt. Damit ist die Frage möglicher Wertungen eines entsprechenden Prozesses, sofern er sich historisch validieren lässt, durch Zeitgenossen noch keineswegs entschieden. Ephiphanius und Hegesipp vermitteln das Bild, die Urgemeinde hätte Jerusalem nicht bzw. nur vorübergehend verlassen und stellen damit mindestens indirekt auch sicher, dass sich die ersten Christen in Jerusalem mit dem Beginn des Krieges nicht einfach ,aus dem Staub gemacht‘ haben.84
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Recogn. I 37,2; 39,3): Strecker, Judenchristentum, 229–231; Lüdemann, Heidenapostel II, 265–286. Siehe die Diskussion mit weiterer Forschungsliteratur bei Koch, Geschichte, 375–385 (ob Lk 13,34f. „an die Jesusgemeinde in Jerusalem gerichtet“ war [so Koch, Geschichte, 381], scheint allerdings kaum so zuversichtlich zu bejahen; auch die Verbindung von Mk 13,14 mit zeitgeschichtlichen Ereignissen (Aufrichtung des Standbildes des Kaisers) und die Datierung des Orakels vor 68 n. Chr. durch Koch [Koch, Geschichte, 384] lässt Fragen und Probleme offen); Frenschkowski, Galiläa, meint, die Urgemeinde habe ähnlich wie Josephus in Rom das Gerichtswerkzeug Gottes gesehen (vgl. Frenschkowski, Galiläa, 555), wofür es auch in Q m. E. keine klaren Indizien gibt. Vgl. zur ständigen und ungebrochenen Präsenz der Urgemeinde in Jerusalem: Heges. Hypomn. (Euseb. Hist. Eccl. II 22f.); Epiphan. Salam. De Mens. et Pond. 14f.
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Fremdlinge und Tagelöhner in der Maleachischrift Aaron Schart
1.
Einführung
Die Maleachischrift bildet den Schluss des Zwölfprophetenbuchs. Sie stellt keine herkömmliche Prophetenschrift dar, sondern umfasst eine Sammlung von sechs sogenannten Disputationsworten, in denen der Prophet im Namen YHWHs Vorwürfe seiner Hörer gegen Gott zurückweist. Dabei sucht und formuliert er jeweils einen argumentativen Ausgangspunkt, den seine Hörer ebenfalls bejahen, und versucht dann mittels einer Reihe von Argumenten, mehr oder weniger schlussfolgernd, die Hörer entweder zu der Einsicht zu bewegen, dass sie falsche Vorstellungen von Gottes Wesen und Handeln haben oder dass sie zu ungeduldig sind. Im letzteren Fall verweist er darauf, dass YHWH in der Zukunft noch so handeln wird, wie es die Angeredeten vom Gott Israels erwarten.1 Die Maleachischrift ist bekannt für ihre extensive Kultkritik: Gleich im zweiten Disputationswort (Mal 1,6–2,9), das mit Abstand am umfangreichsten ist, wird der Kult am wiedererrichteten Tempel in Jerusalem kritisiert. Das Besondere dieser Kultkritik, im Vergleich zu derjenigen der früheren Propheten, ist, dass sie den Kultteilnehmern keine moralischen Vergehen vorwirft, sondern dass diese bestimmte Normen der Kultgesetzgebung nicht einhalten. Dieses Verhalten sei Ausdruck einer Missachtung YHWHs, der als oberste Autorität uneingeschränkte Ehrerbietung und Gefolgstreue verlange. Demgegenüber seien irdische Verpflichtungen, auch diejenigen gegenüber der persischen Herrschaft, die in Jerusalem durch den Statthalter vertreten ist, bestenfalls zweitrangig. Es sind darüber hinaus jedoch an vier Stellen auch soziale Kritikpunkte eingeflochten: In Mal 1,13 wird den Kultteilnehmern vorgeworfen, „Geraubtes“ (gāzûl) darzubringen. Dies dürfte metaphorisch gemeint sein und auf nicht näher ausgeführte ökonomische Machenschaften anspielen, die schwächere Wirtschaftssubjekte schädigen. In Mal 2,11 wird festgestellt, dass Juda „die Tochter eines fremden Gottes geheiratet“ habe. Dies wird mehrheitlich als Anspielung darauf verstanden, dass Männer fremdreligiöse Frauen heirateten. Dies wiederum wird nicht nur religiöse, sondern auch soziale Probleme nach sich gezogen haben. Im selben Zusammenhang, in Mal 2,14–16, wird einigen Männern vorgeworfen, gegenüber der 1
Vgl. Schart, Disputationswort, 4.
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Aaron Schart
„Frau der Jugend“ treulos gehandelt zu haben. Auch dieser Vorwurf ist sehr pauschal und lässt der Imagination der Leserschaft viel Spielraum, aber er zielt sicher auch auf schwerwiegende soziale Verwerfungen in den Ehen und Familien. Im Folgenden soll es aber lediglich um die vierte Stelle, Mal 3,5, gehen.
2.
Die Aufzählung der Rechtsbrecher in Mal 3,5
In Mal 3,5 wird einer Ihr-Gruppe im Namen YHWHs die folgende Ankündigung vorgehalten: (5) Und ich werde mich euch nähern, um des Rechts (mišpaṭ) willen. // Und ich werde ein sich beeilender Zeuge sein gegen die Zauberer und die Unzucht treibenden und gegen die Meineidigen // und gegen die Unterdrücker des Lohns des Tagelöhners, der Witwe und des Waisen, und die Beuger des Schutzbürgers – aber mich fürchten sie nicht, hat YHWH Zebaot gesagt.
Angekündigt wird also, dass YHWH unverzüglich als Zeuge ein Gerichtsverfahren einleiten wird. Vier Gruppen werden als Angeklagte genannt. Jede Gruppe wird durch das Partizip Plural eines Verbs eingeführt. Dies bringt zum Ausdruck, dass die adressierten Gruppen durch ihr dauerndes inkriminiertes Handeln gekennzeichnet sind. Die erste Gruppe nutzt magische Praktiken, vermutlich um sich selbst Vorteile zu verschaffen oder andere zu schädigen, die zweite Gruppe treibt Unzucht, die dritte leistet Meineide und die vierte unterdrückt ( cšq), wobei als Opfer vier verschiedene wehrlose Personengruppen genannt werden. Zum Schluss wird festgehalten, dass alle Vergehen Ausdruck fehlender YHWH-Furcht sind. Die Liste der inkriminierten Handlungen ist sehr knapp formuliert, sie setzt offensichtlich voraus, dass die Leserschaft weiß, dass es sich um Verbrechen handelt. In der Tat sind sie alle in der Tora verboten.
2.1
Magische Praktiken
Das Verb kšp bezeichnet anscheinend einen besonderen Typ magischer Praktiken, der angesichts der spärlichen Angaben des AT nicht mehr genauer bestimmt werden kann.2 Außerhalb Israels handelte es sich bei den kšp-Spezialisten offenbar um hoch anerkannte Fachleute, auf deren Expertise sich, neben derjenigen anderer Spezialisten, Könige stützten (Ex 7,11; Dan 2,2). Innerhalb Israels dagegen waren sie zumindest umstritten (z. B. 2 Kön 9,22). Innerhalb 2
Zum Begriff vgl. Schmitt, Magie, 107–109.
Fremdlinge und Tagelöhner in der Maleachischrift
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der Prophetenbücher werden sie negativ gesehen (Jes 47,9.12; Jer 27,9; Mi 5,11). Innerhalb der Gesetze wird eine weibliche kšp-Spezialistin mit dem Tod bedroht (Ex 22,17) und nach Dtn 18,10 gehören männliche kšp-Spezialisten zu den verschiedenen Typen von Magiern, die innerhalb Israels ihr Geschäft nicht ausüben dürfen.3 In welchen Fällen und zu welchen Zwecken welche magischen Praktiken eingesetzt wurden, ist aus dem AT nicht mehr zu erkennen. Die religionsgeschichtlichen Analogien aus Mesopotamien und dem noch heute praktizierten Voodoo-Kult machen aber deutlich, dass kein Bereich des Lebens ausgespart ist. Warum an dieser Stelle allein die kšp-Spezialisten und keine anderen Magier genannt werden, dürfte entweder daran liegen, dass der verwendete Begriff als Oberbegriff für verschiedene Praktiken diente oder dass diese Gruppe von Spezialisten aus Sicht des Autors die Gesellschaft der Provinz Jehud in besonders gravierender Weise schädigte.4 Warum diese magischen Praktiken in Israel so stark bekämpft wurden, obwohl man ihre Wirkmacht in den Umweltreligionen konstatierte, wird im Alten Testament nicht im Einzelnen erklärt, man muss aber einerseits eine starke Konkurrenz zum YHWH-Glauben und andererseits eine Überlegenheit über mantische Praktiken empfunden haben. Eine Erklärung könnte sein, dass man magische Praktiken als Manipulation des Gotteswillens zum eigenen Vorteil begriff (vgl. etwa Ez 13,18–21).
2.2
Ehebruch
An zweiter Stelle werden diejenigen Personen genannt, die Ehebruch begehen. Das Verb nʼp ist aus entsprechenden gesetzlichen Regelungen bekannt. Dass der Schutz der Ehe von höchster Bedeutung war, erhellt bereits aus der Tatsache, dass er im Dekalog verankert ist (Ex 20,14; Dtn 5,18). Nach Lev 20,10 wird Ehebruch sogar mit dem Tode bestraft. In der Prophetie wird die Verwerflichkeit des Ehebruchs vorausgesetzt (Hos 1,2; 3,1; Jer 9,1; 29,23). In der Weisheit wird auf die selbstzerstörerischen Folgen des Ehebruchs hingewiesen (Spr 6,32; 30,20).5 In Mal 3,5 selbst wird der Begriff des Ehebruchs nicht konkretisiert. Innerhalb der Maleachischrift dürfte am ehesten die Passage Mal 2,14–16 geeignet sein, um zu erläutern, an was gedacht ist: Dort greift der Prophet nämlich 3 4
5
Vgl. Kessler, Maleachi, 242. Die Auffassung von Schmitt, Magie, 367, dass der Prophet gar keine realen Vorgänge im Auge hatte, sondern lediglich einen traditionellen Topos fortschreibe, ist wenig überzeugend. Kessler, Maleachi, 242: „Ehebruch wird von der Tora untersagt (Ex 20,14 = Dtn 5,18; Lev 20,10), in der Weisheit geächtet (Hi 24,15; Spr 6,32; 30,20) und in der Prophetie häufig kritisiert (Jer 9,1; 29, 23; Hos 3,1 u. ö.).“
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Aaron Schart
eine Gruppe von Männern an, denen er vorwirft, gegenüber „den Frauen ihrer Jugend“ treulos zu handeln. Da der Vorwurf nicht weiter ausgeführt wird, ist es schwierig zu ermitteln, was genau den Männern vorgeworfen wird. Die ‚Frau der Jugend‘ dürfte diejenige Frau bezeichnen, die die Eltern für ihren Sohn ausgesucht haben. Da von einer Scheidung von der Frau der Jugend an dieser Stelle nicht die Rede ist, könnte die Treulosigkeit darin bestehen, dass der Mann später eine zweite Frau nimmt und die Rechte der ersten Frau einschränkt. Damit würden auch die Pläne der Eltern, die diese mit der Verheiratung hatten, Schaden leiden. Würde dieser Umstand vom Propheten als Verstoß gegen das Ehebruchsverbot betrachtet, dann läge eine Ausweitung des Verständnisses dieser Norm vor. Denn was immer man sich unter der Untreue gegenüber der Frau der Jugend vorstellt, ob es um das Eingehen einer zweiten Ehe oder um Scheidung oder um Gewalt in der Ehe geht, so schützt das Ehebruchsverbot ursprünglich nicht die Interessen der verheirateten Frau, sondern diejenigen des verheirateten Mannes.
2.3
Meineid
An dritter Position werden diejenigen aufgelistet, die mit betrügerischer Absicht einen Eid leisten. Auch der Meineid ist durch ein Gesetz der Tora ausgeschlossen. In Lev 19,12 heißt es: Und ihr sollt nicht falsch schwören bei meinem Namen und so den Namen deines Gottes entweihen. Ich bin der HERR. (ZUR)
Der Meineid war ein Verbrechen, das das gesamte Gerichtswesen unterminierte, weil die Gerichtsverhandlung damals allein auf der wahrheitsgemäßen Zeugenaussage basierte. Darüber hinaus bot der Eid auch die Gewähr für die Erfüllung von Verträgen und war damit grundlegend für längerfristiges ökonomisches Handeln.
2.4
Unterdrückung
An letzter Stelle der Aufzählung wird das Verbrechen der Unterdrückung (cšq) genannt. Auch diese ist in der Tora verboten. In dieser Hinsicht besonders pointiert wird in Lev 19,13 formuliert, wo Unterdrückung mit Raub parallelisiert wird. Zudem wird der Tatbestand am Beispiel der Entlohnung eines Tagelöhners erläutert: Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken und nicht berauben. Den Lohn eines Tagelöhners sollst du nicht bis zum nächsten Morgen zurückbehalten. (ZUR)
In Mal 3,5 wird der Tatbestand der Unterdrückung an vier Gruppen exemplifiziert, die im kollektiven Singular aufgelistet werden: Der Lohnarbeiter
Fremdlinge und Tagelöhner in der Maleachischrift
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(śākîr), die Witwe, der Waise und der ‚Fremdling‘ (ger, damit ist der ortsansässige Fremde gemeint). Die letzten drei Gruppen werden oft als die klassischen personae miserae genannt.6 Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie keinen eigenen Zugang zur Rechtsgemeinschaft hatten, die ‚im Tor‘ des Dorfes tagte, so dass es für sie notorisch schwierig war, im Falle von Rechtsbruch ihr Recht einzuklagen. Im Falle des Fremdlings wird beispielhaft erläutert, worin die Unterdrückung besteht, nämlich darin, dass der Fremdling ‚abgedrängt‘ wird. Der Formulierung unterliegt die Vorstellung, dass dem Fremdling, wie auch anderen Personen der Gesellschaft, das Recht zusteht, den eigenen ‚Weg‘ zu verfolgen. Ihn von diesem Weg abzudrängen, z. B. durch Rechtsbeugung oder ökonomische Unterdrückung, nimmt ihm ein elementares Lebensrecht. Die Besonderheit von Mal 3,5 besteht darin, dass zusätzlich zu den drei klassischen personae miserae auch der Lohnarbeiter (śākîr) als Opfer erscheint, zudem noch an erster Stelle der Reihe. Zudem wird eine merkwürdige Formulierung gewählt: „diejenigen, die den Lohn (śākār) des Lohnarbeiters unterdrücken.“ Die Unterdrückung richtet sich also nicht direkt gegen die Person des Lohnarbeiters, sondern primär gegen dessen Lohn. Das ist sehr ungewöhnlich, denn das Verb cšq / ‚unterdrücken‘ hat normalerweise eine Person zum Objekt. Sollte die Formulierung also nicht einfach ein Schreibfehler, eine Dittographie, sein, so dürfte es um eine wichtige Näherbestimmung des Vergehens gehen. Eine Sachparallele findet sich in Dtn 24,14–15: Du sollst einen armen und bedürftigen Tagelöhner nicht bedrücken, weder einen deiner Brüder noch einen Fremden in deinem Land, an deinem Ort. Am selben Tag sollst du ihm seinen Lohn geben, und die Sonne soll darüber nicht untergehen, denn er ist arm und sehnt sich danach. Sonst ruft er den HERRN gegen dich an, und es trifft dich Strafe. (ZUR)
An dieser Stelle wird exemplarisch deutlich, wie sich die Unterdrückung eines Lohnarbeiters vollziehen konnte: Der Arbeitgeber wartet mit der Auszahlung des Lohnes an einen armen und bedürftigen Lohnarbeiter. Warum ist ein solcher Zahlungsverzug so schlimm, dass er als Beispiel für Unterdrückung angeführt wird? Entweder liegt es daran, dass der Lohnarbeiter in einer solch schlechten Lage ist, dass er und seine Familie den vereinbarten Lohn dringend zum Überleben brauchen. Oder, was aus meiner Sicht wahrscheinlicher ist, der Arbeitgeber soll gezwungen werden, den Lohn schon parat zu haben, bevor er einen Lohnarbeiter anstellt, damit der Lohnarbeiter kein Ausfallrisiko hat. Die in Mal 3,5 angesprochene Unterdrückung des Lohnes könnte sich auf eine solche Praxis des Zahlungsverzuges beziehen. Allerdings wird in einem solchen Fall so formuliert, dass direkt die Person des Lohnarbeiters unterdrückt wird. Die Formulierung in Mal 3,5, wonach „der Lohn des Lohnarbeiters“ unterdrückt wird, dürfte daher noch einen anderen Sachverhalt im Blick 6
Ebach, Fremde, 43.
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haben. Christian Frevel hat vorgeschlagen, die Formulierung so zu verstehen, dass es nicht um den Zahlungsverzug geht, sondern um die Höhe des Lohnes.7 Dies scheint mir die Formulierung gut zu erklären. Demnach würden Arbeitgeber kritisiert, die ihre eigene Stärke und die Bedürftigkeit des Lohnarbeiters ausnutzen, um den Lohn unter ein faires Maß zu drücken. Insgesamt kann man also sagen, dass der Prophet mit seiner Sozialkritik Normen der Tora anwendet, deren Geltung er bei seiner Hörerschaft voraussetzt. Die knappen, aber juristisch präzisen Formulierungen in Mal 3,5 setzen vermutlich eine bereits durch die Endredaktion gegangene schriftliche Tora voraus, die das Bundesbuch, das Deuteronomium und das Heiligkeitsgesetz enthielt. Am Beispiel der Unterdrückung des Lohnes des Lohnarbeiters zeigt sich aber auch, dass der Prophet die traditionellen Normen innovativ anwendet: Der Prophet setzt den Lohnarbeiter an die erste Stelle der Reihe der klassischen personae miserae und bildet die Vorstellung einer ‚Unterdrückung des Lohnes‘. Implizit setzt er damit die Idee eines gerechten Lohnes voraus, denn ohne diese Idee würde die Aussage der ‚Unterdrückung‘ des Lohnes keinen Sinn machen.
3.
Die sozio-ökonomische Welt hinter dem Text
Wie sich zeigte, werden in Mal 3,5 zur Beschreibung der Missstände Begriffe verwendet, die den einschlägigen Gesetzesbestimmungen der Tora entnommen sind. Damit ist deutlich, dass es sich um eindeutige Gesetzesverstöße handelt. Auf der anderen Seite ist die bloße Aufzählung von Rechtsbrüchen für die Leserschaft aber sehr unanschaulich. Welche konkreten Handlungen vom Propheten als Rechtsbrüche eingestuft wurden und welche Motive auf Seiten der Gesetzesbrecher eine Rolle spielten, bleibt offen. Entsprechend schwierig ist es, die sozio-ökonomische Welt zu rekonstruieren, die dem Text unterliegt. Man kann aber davon ausgehen, dass der Prophet die Unterdrücker der personae miserae nicht zum Ziel eines göttlichen Einschreitens erklärt hätte, wenn es nicht tatsächlich sozio-ökonomische Probleme in der Gesellschaft gegeben hätte. Seine Botschaft wäre sonst von sehr begrenztem Wert für die ersten Hörer gewesen. Dass Witwen und Waisen in einer schwierigen sozialen Lage sind, ist nichts Ungewöhnliches. Der Schutz dieser personae miserae ist ein uraltes und weit verbreitetes Anliegen von Gesetzen und findet sich z. B. bereits im Codex Hammurapi.8 7
8
Frevel, Arbeitsverhältnisse, 60, 64; Frevel, Arbeitsverhältnisse, 66, weist darauf hin, dass die Septuaginta, anders als der MT, auch in Dtn 24,14 von der Unterdrückung des Lohnes spricht. Schellenberg, Hilfe, 186; Ebach, Fremde, 43.
Fremdlinge und Tagelöhner in der Maleachischrift
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Allein aus der puren Nennung dieser Gruppen lässt sich also wenig über die vorausgesetzte Situation erschließen. Man müsste genauere Informationen darüber haben, in welcher spezifischen Weise Witwe und Waise Opfer bestimmter Verbrechen wurden, um mehr sagen zu können, doch dazu enthält die Maleachischrift keine Angaben. So bleibt es bei der Feststellung, dass der Prophet beobachtet hat, dass die personae miserae sich in einer prekären Lage befanden. Markant ist dagegen, dass in Mal 3,5 das Ergehen des Lohnarbeiters, noch dazu an erster Stelle, thematisiert wird. Dazu gibt es keine Sachparallele. Die erste Folgerung, die man ziehen kann, ist die, dass die Zahl der Lohnarbeiter zu der Zeit des Textes signifikant gestiegen sein muss, so dass ihr Schicksal von gesellschaftlicher Relevanz war. Wie kommt es aber zu einem Anstieg der Lohnarbeit? Eine mögliche Erklärung ist, dass die Familien nicht mehr in der Lage waren, für alle ihre Mitglieder für ausreichende Lebensverhältnisse zu sorgen. Das gemeinsam erwirtschaftete Familieneinkommen war nicht groß genug dafür. Die Konsequenz war dann, dass insbesondere jüngere Söhne die Familie verließen, um ihr Auskommen anderswo zu finden. Da diese über keinen Landbesitz verfügten, mussten sie Lohnarbeit annehmen. Diese Lage wird Jahrhunderte später im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) vorausgesetzt, in dem der jüngere Sohn das Haus verlässt, um sich in der Fremde eine Existenz aufzubauen. Die Annahme, dass jüngere Söhne ihre Familien verließen, kann zudem erklären, warum die Zahl der Fremdlinge anstieg, wenn man annimmt, dass man am neuen Wohnort den Status des Fremdlings erhielt, selbst wenn man demselben Volk und derselben religiösen Gruppe angehörte.9 Die Gruppe der Fremdlinge dürfte mit derjenigen der Lohnarbeiter eine große Schnittmenge gehabt haben, denn der Fremdling besaß kein Eigentum an Land und konnte seinen Bedarf an Lebensmitteln nicht aus der eigenen Produktion decken. Auf der anderen Seite muss es aber auch ökonomische Strukturen gegeben haben, die Lohnarbeiter aufnehmen und beschäftigen konnten. Um eine hohe Zahl von Lohnarbeitern anstellen zu können, muss die perserzeitliche Provinz Jehud über Produktionseinheiten verfügt haben, die im großen Maßstab produzieren konnten. Es ist eine interessante Frage, wie die Lohnarbeiter bezahlt wurden. Bekamen sie einen Anteil an den hergestellten Produkten, bekamen sie Lebensmittel und Alltagswaren oder bekamen sie Geld? Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) bekamen die Arbeiter ihren Lohn in Münzen ausgezahlt. Wenn der Arbeitgeber Geld bezahlt hat, dann musste er sich dieses durch entsprechenden Verkauf der Produkte beschaffen. Den besten Preis erhielt man sicherlich nicht von den ökonomisch schwachen Familienbetrieben des eigenen Landes, sondern im internationalen Handel, der von den Persern 9
Zum ‚Fremdling‘ vgl. Ebach, Fremde, 39–61. Der Status des ‚Fremdlings‘ war nicht von ethnischen oder religiösen Voraussetzungen abhängig, Nicht-Israeliten wie Israeliten konnten diesen Rechtsstatus erlangen, Ebach, Fremde, 48–52.
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sehr gefördert wurde. Im internationalen Handel war aber sicher auch die Konkurrenz stark. Man kann sich gut vorstellen, dass sich die kleine und schwache Provinz Jehud gegenüber der internationalen Konkurrenz nicht so sehr mit der hohen Qualität ihrer Produkte, sondern mit preisgünstiger Arbeit durchsetzen konnte. Dies würde wiederum erklären, warum die Arbeitgeber möglichst geringe Löhne durchsetzen mussten, um auf dem internationalen Markt bestehen zu können.
4.
Indirekte Hinweise auf die ökonomische Situation aus den verwendeten Vergleichen und Metaphern
Leider enthält die Maleachischrift keine weiteren Angaben, die direkte Hinweise auf die sozio-ökonomische Situation der Gesellschaft geben könnten. Man kann aber versuchen, aus Vergleichen und Metaphern indirekt Hinweise zu gewinnen.
4.1
Mal 1,8 Der Verweis auf den persischen Statthalter
In Mal 1,8 fordert der Prophet seine Gegner ironischerweise auf, doch dem persischen Statthalter (pæḥāh) Gaben von der gleichen schlechten Qualität anzubieten, die sie YHWH im Tempel darbringen. Der Statthalter, so ist vorausgesetzt, würde diese schlechte Qualität bestimmt nicht akzeptieren. Hinter dieser Äußerung kann man ein gestiegenes Qualitätsbewusstsein erkennen, das durch den persischen Statthalter in der Provinz Jehud zum Maßstab genommen und durchgesetzt wurde. Die Macht dazu könnte daher stammen, dass man unter dem schon erwähnten Zwang stand, für den internationalen Handel zu produzieren, als dessen Repräsentant der persische Statthalter hier fungiert. Um gegen die internationale Konkurrenz bestehen zu können, musste auch die beste Qualität eingesetzt werden.
4.2
Mal 3,14 Die Frage nach dem Profit
Mit dem Qualitätsbewusstsein dürfte die Profitorientierung zusammenhängen. In Mal 3,14 unterstellt der Prophet seinen Gegnern eine abnorme Profitorientierung. Diese wenden die Frage nach dem Profit sogar auf den Dienst für Gott an: Ihr habt gesagt: Es ist vergeblich, Gott zu dienen! Und: Was bringt es für einen Profit (bæṣaʿ), dass wir den Dienst für ihn verrichten und dass wir mit Trauermiene umherlaufen vor YHWH Zebaot? (Mal 3,14)
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59
Die Angeredeten sind so sehr von dem Gedanken an den maximalen Profit beherrscht, dass sie selbst den Einsatz für Gott von einem messbaren Profit abhängig machen. Diese Einstellung ließe sich dadurch erklären, dass sie in ihrem ökonomischen Handeln die Leistungsfähigkeit der Profit-Orientierung erfahren haben.10
4.3
Mal 3,2 Die ‚Seife der Walker‘
In Mal 3,2 vergleicht der Prophet das zukünftige Gerichtshandeln YHWHs mit zwei professionellen Reinigungsverfahren. Man wird annehmen dürfen, dass der Prophet gerade diese Verfahren auswählte, weil sie für die damaligen Beobachter besonders eindrücklich waren. Wer aber könnte den Tag ertragen, da er kommt? Und wer könnte bestehen bei seinem Erscheinen? Denn er ist wie das Feuer eines Schmelzers und wie die Seife (borît) der Walker. (Mal 3,2)
Die Phrase ‚Seife der Walker‘ ist auffällig, weil das Reinigungsmittel, bei borît handelt es sich vermutlich um Seife, durch die Konstruktusverbindung näher qualifiziert wird.11 Es geht also um ein chemisches Reinigungsmittel, das im professionellen Betrieb eingesetzt wurde. Als gewalktes Produkt wird im AT nur Kleidung erwähnt. Es ist aber naheliegend, dass die Walker auch für die Reinigung der Wolle und des Leders zuständig waren. Der Einsatz eines besonderen, den Spezialisten vorbehaltenen Reinigungsmittels spricht dafür, dass auch auf dem Gebiet von Kleidung, Wolle und Leder die Ansprüche an die Qualität gestiegen waren.
4.4
Mal 3,19.21 Brandrodung
In Mal 3,19 wird der Vergleich eingesetzt, dass die Frevler „wie Strohstoppeln“ verbrannt werden. Und in Mal 3,21 kommt die Aussage hinzu, dass die Gerechten die Frevler „wie Asche zertreten“ werden. Beide Vergleiche spielen darauf an, dass man abgeerntete Stoppelfelder abbrannte, um das Feld schneller und besser wieder für den nächsten Anbau nutzen zu können. Dieses Verfahren ist auch in Nah 1,10; Ob 18; Joel 2,5; Jes 33,11; 47,14; Ex 15,7 erwähnt, also in Texten, die frühestens in die Zeit des babylonischen Exils zu datieren 10
11
In das Wortfeld ökonomischer Fachbegriffe gehört vielleicht auch der Begriff sǝgullāh „Privateigentum“ in Mal 3,17. Der Begriff bezeichnet das verfügbare Eigenkapital einer einzelnen Person, das zu mehren das Ziel ökonomischen Handelns ist. In diesem Fall wird der Begriff vom Propheten positiv besetzt, insofern er ihn benutzt, um Israels Sonderstatus bei Gott auszudrücken: Das Gottesvolk ist sozusagen das Kapital, das Gott einsetzt, um die Geschichte zu gestalten. Zur Bedeutung von borît siehe Schart, Lauge / Seife, 1.2.2.
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Aaron Schart
sind. Das Verfahren der Brandrodung ist besonders dann sinnvoll einsetzbar, wenn man größere zusammenhängende Anbauflächen zur Verfügung hat. Dass der Prophet das Verfahren der Brandrodung als Vergleich heranzieht, könnte darauf deuten, dass große landwirtschaftliche Produktionseinheiten entstanden waren.
4.5
Mal 3,20 Die ‚Sonne der Gerechtigkeit‘
In Mal 3,20 wird die Metapher von der ‚Sonne der Gerechtigkeit‘ gebildet: Für euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen, und in ihren Flügeln ist Heilung. Und ihr werdet hinausgehen und umherspringen wie Mastkälber. (ZUR)
Die ‚Sonne der Gerechtigkeit‘ stellt eine Anspielung auf die persische Flügelsonne dar, die vermutlich den persischen Gott Ahura Mazda symbolisiert.12 YHWH benutzt das persische Symbol, um den Gerechten seines Volkes Heilung zukommen zu lassen. Damit wird vorausgesetzt, dass die Hörerschaft mit diesem Symbol der persischen Herrscherideologie eine positive Gerechtigkeitserwartung verknüpfte. Besonders interessant ist, dass mit der Flügelsonne der Begriff ‚Heilung‘ verbunden wird. Dies deutet darauf hin, dass die Hörerschaft sich nach Heilung sehnte, entweder deshalb, weil es tatsächlich einen Anstieg von Krankheitsphänomenen gab oder weil ‚Heilung‘ als Metapher für gelingendes Leben diente.
4.6
Mal 3,20 Mastkälber
In Mal 3,20 werden Mastkälber (ʿæglê marbeq) erwähnt. Das setzt nicht nur voraus, dass es Mastkälber gab, sondern auch, dass die Leserschaft beobachten konnte, was passierte, wenn man die Mastkälber von Zeit zu Zeit auf die Weide ließ: Kurzzeitig aus ihrer Regungslosigkeit befreit, vollführten sie Freudensprünge auf der Weide. Möglicherweise betrieben die großen landwirtschaftlichen Produktionseinheiten auch Kälberzucht, denn die Kälberzucht setzte voraus, dass man große Flächen zur Verfügung hatte, auf denen man wiederum Futter von hoher Qualität anbauen konnte. Das qualitativ hochwertige Fleisch wird man ebenfalls für den internationalen Handel produziert haben.
12
Noetzel, Maleachi, 228; Willi-Plein, Haggai, 280.
Fremdlinge und Tagelöhner in der Maleachischrift
4.7
61
Mal 3,3 Das ‚Feuer des Schmelzers‘
In Mal 3,3 wird die Läuterung von Silber und Gold als Vergleich dafür benutzt, wie YHWH die levitischen Priester reinigen wird, damit diese wieder einen gottgemäßen Dienst am Tempel verrichten können. Die Läuterung von Silber und Gold ist ein technisch anspruchsvolles Verfahren, das die Hörerschaft ebenfalls gekannt haben muss. Bemerkenswert ist wieder die genaue Formulierung. In Mal 3,2–3 wird zum einzigen Mal im AT die Berufsbezeichnung ‚Schmelzer‘ genannt. Zudem dürfte die Phrase ‚Feuer des Schmelzers‘ das gesamte Verfahren der Läuterung von Metallen bezeichnen, deren wichtigstes Element die Erzeugung von Temperaturen war, die es erlaubten, die verarbeiteten Metalle zum Schmelzen zu bringen. Die Verwendung dieser Technik als Vergleichsobjekt zum göttlichen Handeln war sicherlich dann rhetorisch besonders effektvoll, wenn das Verfahren von den Zeitgenossen als Wunderwerk bestaunt wurde.13 Hinzu kommt, dass man in der persischen Provinz Jehud Gold und Silber zu einem ganz neuen Zweck einsetzte: Die archäologischen Funde lassen erkennen, dass die Perser in Palästina die Münzen einführten, was sicherlich das ökonomische Handeln gravierend veränderte.
5.
Archäologische Hinweise: Die Jehud-Münzen
Es wurden bisher 1.117 Münzen gefunden, die aus der späten Perserzeit (4. Jh.) stammen und auf die der Name der persischen Provinz Jehud geprägt ist.14 Die Auswertung der Münzfunde für die Rekonstruktion der sozioökonomischen Situation in Jehud ist noch lange nicht abgeschlossen.15 Im Folgenden sollen wenige Phänomene hervorgehoben werden. a) Die sogenannten Jehud-Münzen, die speziell für die Provinz Jehud ausgegeben wurden, sind aus hochreinem Silber gefertigt. Der Reinheitsgrad betrug 97 %. Das ist faktisch das Maximum dessen, was man technisch überhaupt erreichen konnte. „Im Gegensatz dazu wurden für samarische Münzen durchschnittlich weniger als 91,8 %, für philistäische Münzen durchschnittlich 94,3 % ermittelt.“16 In der Provinz Jehud muss man also über eine international
13 14
15 16
Wie der außergewöhnlich hohe Reinheitsgrad der Jehud-Silbermünzen zeigt, muss die Silberherstellung in Palästina von technisch herausragender Qualität gewesen sein. Bremer, Gott, 275, der sich auf die Zusammenstellung von J. P. Fontanilles stützt, der die website ‚Menorah Coin Project‘ betreibt. Die website bietet Bilder von 13.000 judäischen Münzen, die übersichtlich geordnet und datiert werden. Vgl. etwa Schaper, Numismatik. Bremer, Gott, 288.
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führende metallurgische Technik verfügt haben. Auf diese könnte der Ausdruck ‚Feuer des Schmelzers‘ (Mal 3,3) verweisen. b) Die Münzen zeigen griechisches und persisches Bildinventar, z. B. Porträts der Göttin Athena oder eines persischen Königs. Das verweist darauf, dass die Idee Münzen zu prägen, aus dem internationalen Handel stammt. Wenn dem so ist, dann wird aber auch das ökonomische Handeln der Produzenten der Provinz Jehud, dem die Münzen dienten, von den griechischen und persischen Vorbildern gesteuert worden sein. Der Wert der Münzen wird sich deshalb vor allem an deren Kaufkraft im griechischen und persischen Raum orientiert haben. c) Die ältesten Münzen besaßen einen sehr großen Wert und waren deshalb nur für große wirtschaftliche Transaktionen geeignet. Die Münzen wurden dann aber sehr viel kleiner, damit sicher auch ihr Wert. Die kleinen Münzen waren auch für kleine und lokale Geschäfte einsetzbar. Das hat sicherlich auch die Möglichkeiten verbessert, um Lohnarbeiter zu bezahlen. d) Bemerkenswert ist, dass man bestrebt war, das Bildinventar der Münzen dem Glauben an YHWH anzupassen. Die älteste Jehud-Münze ist in dieser Hinsicht spektakulär: Auf der Rückseite der Münze hat man vermutlich versucht, YHWH bildlich darzustellen!17 Das Bildinventar schließt sich zwar an die Darstellung thronender Gottheiten in Griechenland an, aber es gibt doch Eigenheiten, die am besten dadurch erklärt werden können, dass YHWH dargestellt werden sollte. Entscheidend ist, dass die Gottheit auf einem großen Rad sitzt, was ohne Parallele ist, sich aber von der Vision Ezechiels her erklären lässt, der in seiner Berufungsvision (Ez 1,15–24; vgl. Ez 10,9–21) jemanden, sicherlich YHWH selbst, auf einem Thron sitzen sieht, der von vier Wesen getragen wird, die jeweils über ein Rad und vier Flügel verfügen, die es dem Thron erlauben, sich zu bewegen und sich auch in die Luft zu erheben. Da der Sitz, der auf der Münze abgebildet ist, von der Seite gezeigt wird, muss man mindestens ein weiteres Rad auf der vom Betrachter abgewandten Seite ergänzen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass zwei weitere Räder, die zu der Vierzahl Ezechiels noch fehlen, als Folge der Seitenansicht verborgen sind.18 Den Versuch zu machen YHWH darzustellen, lag nahe, da die Münzen, die man aus Griechenland kannte, zwingend eine Darstellung der Gottheit enthielten. Auf anderen frühen Jehud-Münzen stellte man zu diesem Zweck die Göttin Athene dar.19 Man kann mutmaßen, dass die Münzpräger keine Möglichkeit sahen, auf die Darstellung der Gottheit zu verzichten, wenn die Münze 17 18
19
Siehe Blum, Schiqquz Schomem, 20; Mattfeld, Yahweh’s Image; Leuenberger, Gott, 64. Ob die Darstellung, wie seit Blum, Schiqquz Schomem, 22–24, immer wieder vermutet wird, z. B. auch Leuenberger, Gott, 64, YHWH auf einem geflügelten Sonnenrad zeigen soll, ist doch sehr zu bezweifeln. Dagegen spricht schon, dass auf der abgewandten Seite der Ansicht mindestens ein weiteres Rad ergänzt werden muss. Auf der Website ‚Menorah Coin Project‘ sind das die Typen YHD-03 bis YHD-08.
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akzeptiert werden sollte, andererseits sollte die Münze wohl deutlich als judäische Münze erkennbar sein. Es fällt aber auf, dass nie wieder eine Münze mit YHWH-Darstellung geprägt wurde. Dies lässt sich am einfachsten mit einer strikten Auslegung des Bilderverbots erklären: Nicht nur Repräsentationen YHWHs für die kultische Verehrung betrachtete man als verboten, sondern auch zweidimensionale Darstellungen auf Münzen. Sehr deutlich zeigt sich die Auswirkung des Bilderverbots auch im Fall der von Fontanilles so genannten „patriotic series“20. Diese Münzen tragen keine Bilder von Göttern oder Königen, sondern lediglich Symbole: Auf der Rückseite wird immer ein Falke dargestellt, auf der Vorderseite kommen ein Schofar, eine Lilie, ein Räuchergefäß oder ein Ohr vor. Der Falke dürfte inspiriert worden sein durch die allgegenwärtige Eule Athens auf den älteren Jehud-Münzen.21 Identifizierten sich die Athener mit der Klugheit der Eule, so dürften sich die Bewohner Yehuds mit dem Falken identifiziert haben. Die Symbole auf der Vorderseite, Schofar, Lilie, Räuchergefäß und Ohr müssten, wenn man auch in diesem Fall die Analogie zu den griechischen Vorbildern zieht, Symbole sein, die die Darstellung einer Gottheit ersetzen. Im Falle von Schofar und Räuchergefäß ist der Bezug auf den Kult und damit auf den verehrten Gott offensichtlich. Die Lilie symbolisiert wohl die Schönheit und Fruchtbarkeit des Landes, das wiederum als Gabe Gottes an sein Volk gesehen wird. Das Ohr dürfte ebenfalls auf Gott verweisen.22 Es bietet sich an, das Ohr als Hinweis auf Gottes Hören zu verstehen. Da die Abbildung eine Münze ziert, ist vermutlich nicht nur allgemein daran zu denken, dass Gott Gebete hört, sondern es soll, spezifischer, der Nutzer der Münze daran erinnert werden, dass Gott den Notschrei der Ausgebeuteten hört und dort strafend eingreift, wo der Lohnarbeiter unterdrückt wird (Dtn 24,15). Auf diese Weise könnte man versucht haben, die mit der Nutzung von Münzen möglichen wirtschaftlichen Transaktionen dem YHWH-Glauben und seiner Sozialgesetzgebung zu unterstellen.
6.
Die Übersetzung der Septuaginta Septuaginta καὶ προσάξω πρὸς ὑμᾶς ἐν κρίσει καὶ ἔσομαι μάρτυς ταχὺς
20 21 22
Masoretischer Text שׁפָּט ְ ְקָר ְבתִ י אֲ לֵיכֶם ַל ִמּ ַ ו ְו ָהי ִיתִי עֵד ְמ ַמ ֵהר
ἐπὶ τὰς φαρμακοὺς
ַבּ ְמכַשְּׁ פִים
καὶ ἐπὶ τὰς μοιχαλίδας
וּבַמְ נָאֲ ִפים
Auf der Website ‚Menorah Coin Project‘ handelt es sich um die Münzen mit den Ordnungsnummern YHD-12 bis YHD-15. Ordnungsnummern YHD-03 bis YHD-08. Im ‚Menorah Coin Project‘ handelt es sich um die Ordnungsnummer YHD-13.
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Aaron Schart καὶ ἐπὶ τοὺς ὀμνύοντας τῷ ὀνόματί μου ἐπὶ ψεύδει καὶ ἐπὶ τοὺς ἀποστεροῦντας μισθὸν μισθωτοῦ καὶ τοὺς καταδυναστεύοντας χήραν καὶ τοὺς κονδυλίζοντας ὀρφανοὺς καὶ τοὺς ἐκκλίνοντας κρίσιν προσηλύτου καὶ τοὺς μὴ φοβουμένους με λέγει κύριος παντοκράτωρ
שּׁקֶר ָ שׁ ָבּעִים ַל ְ ִוּ ַבנּ שׂכִיר ָ שׂכַר־ ְ וּבְעשְׁ קֵי אַ ְל ָמנָה ְוי ָתוֹם וּמַ טֵּי־גֵר וְֹלא י ְֵראוּנִי אָמַר י ְהוָה ְצבָאוֹת׃
Der Text der Septuaginta ist gegenüber dem MT sprachlich deutlich glatter. Es spricht nichts gegen die Annahme, dass der Konsonantenbestand des MT auch derjenige der Septuaginta-Vorlage war und der glattere Text im Rahmen der Übersetzung entstand. Im Folgenden sei nur auf drei Glättungen hingewiesen. – Als Äquivalent für das hebräische Verb cšq / ‚unterdrücken‘ hat die Septuaginta das Verb apostereō / ‚vorenthalten‘ gewählt. Der Übersetzer konnte mit der Formulierung, dass 'der Lohn des Lohnarbeiters“ unterdrückt wird, vermutlich keinen Sinn verbinden. Nach seiner Meinung geht es bei dem inkriminierten Verhalten um das in Dtn 24,14–15 erwähnte Verbrechen, dass dem Lohnarbeiter sein ihm zustehender Lohn verspätet oder gar nicht ausgezahlt wird. – Geglättet wird auch der äußerst knappe und unanschauliche Vorwurf des MT, dass eine Gruppe den ger beugen würde. Der Übersetzer fügt das Wort krisis „Rechtsentscheid“ ein und spitzt den Vorwurf damit auf das Rechtsverfahren zu: Dem Opfer wird der ihm zustehende Rechtsanspruch verwehrt. – Als Äquivalent für den hebräischen Begriff ger wird der in der Tora-Übersetzung verwendete Begriff proselytos benutzt. Wie es scheint, ist proselytos ein Neologismus der Septuaginta, der gebildet wurde, weil der Übersetzer im griechischen Recht kein dem ger vergleichbares Rechtsinstitut vorfand. Innerhalb der Septuaginta scheint proselytos noch nicht die Bedeutung einzuschließen, dass die Person einen religiösen Übertritt zum Glauben Israels vollzieht.
7.
Die Aufnahme von Mal 3,5 im Neuen Testament
Im NT gibt es zwar keine direkten Zitate von Mal 3,5, aber mehrere Sachparallelen. Die wichtigsten seien im Folgenden angesprochen. Fragt man zunächst nach der Gattung, so finden sich Listen von Übeltätern, denen die göttliche Strafe angekündigt wird, auch in Offb 21,8 und 22,15. In diesen Listen begegnen zum Teil dieselben Begriffe wie in der SeptuagintaFassung von Mal 3,5, so heißt es in Offb 21,8:
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Den Feigen und Ungläubigen, den mit Greueltaten Befleckten und Mördern, den Unzüchtigen, Zauberern (φαρμάκοις) und Götzendienern und allen, die der Lüge (τοῖς ψευδέσιν) dienen, wird ihr Teil beschieden sein im brennenden Feuer- und Schwefelsee; das ist der zweite Tod. (ZUR)
Auch im Neuen Testament gibt es also ein ‚Gericht nach den Werken‘, durch das Gruppen, die gegen Gottes Rechtswillen verstoßen, vom endzeitlichen Heil ausgeschlossen werden.23 Proselyten werden in Mt 23,15; Apg 2,11; 6,5 und Apg 13,43 als Personen, die zum Judentum übergetreten sind, beiläufig erwähnt, spielen aber sonst keine Rolle. In keiner Weise ist erkennbar, dass sie unter besonderem göttlichen Schutz stehen würden. Der Lohnarbeiter misthōtos wird in Joh 10,12–13 erwähnt. Dort dient er als Beispiel für eine Person, die keine Verantwortung für die ihm anvertrauten Schafe übernimmt, da sie ihm nicht gehören. Dass der Lohnarbeiter besonderen Schutz genießen sollte, ist nicht im Blick. Dies ist anders im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16). Das Substantiv misthōtos fällt zwar nicht, aber es ist von misthoō / ‚mieten‘ und vom misthos / ‚Lohn‘ die Rede (Mt 20,7.8), den die Arbeiter am Ende des Ernteeinsatzes ausbezahlt bekommen. Das Rätsel des Gleichnisses ist, warum alle Lohnarbeiter denselben Lohn bekommen, obwohl sie unterschiedlich lange gearbeitet haben. Es ist offensichtlich, dass der Weinbergbesitzer nicht nach dem Maß der eingesetzten Arbeitszeit bezahlt, sondern nach anderen Gesichtspunkten, die der sekundäre Nachtrag Mt 20,15 als Ausdruck seiner Güte beschreibt. Die Erklärung dieses Verhaltens könnte darin bestehen, dass es der Weinbergbesitzer als gerecht (Mt 20,4) empfindet, jedem Arbeiter, jedenfalls jedem, der sich bis zum Abend bereit gehalten und dann gearbeitet hat, einen Mindestlohn zu bezahlen. Dieser Mindestlohn von einem Denar könnte zugleich derjenige Betrag sein, dessen der Lohnarbeiter bedarf, um davon seine Familie zu ernähren. Der Lohn diente damit primär dem Lebenserhalt des Arbeiters. Wäre das Gleichnis so zu verstehen, dann würde es zu der Stoßrichtung von Mal 3,5 und derjenigen Gesetze passen, die den besonderen Schutz der personae miserae festschreiben und zu diesen auch den Lohnarbeiter rechnen.24 Das Unrecht, Personen etwas vorzuenthalten, das diese rechtmäßig von einem verlangen können (apostereō) wird im NT einige wenige Male erwähnt. Bemerkenswert ist der Umstand, dass die Zusammenfassung des Inhalts der
23 24
Siehe zur Thematik etwa Jüngel: Ein paulinischer Chiasmus. Zum Verständnis der Vorstellung vom Gericht nach den Werken in Röm 2,2–11, 173–178. Der gleiche Lohn für alle Arbeiter wäre auch dann gerechtfertigt, wenn der Weinbergbesitzer die Zeit, in der sich die Arbeiter für ihren Einsatz lediglich bereithalten, ebenfalls als Arbeitszeit anerkennen würde. Zudem muss die Arbeit ja am Ende des Tages komplett erledigt sein. Als der Weinbergbesitzer sieht, dass die eingesetzten Arbeitskräfte nicht ausreichen, um die Ernte zu bewältigen, ist er auf zusätzliche Arbeiter angewiesen. Nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage führt diese Notlage dazu, dass die Arbeiter einen höheren Preis für ihre Arbeit verlangen können.
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Aaron Schart
Tora in der Episode vom reichen Jüngling (Mk 10,19) den Tatbestand des Vorenthaltens (apostereō) enthält, obwohl das Verb nur ein Mal, in Ex 21,10, in der Septuaginta-Fassung der Tora, enthalten ist und dort nur die Rechte der ersten Ehefrau für den Fall regelt, dass der Ehemann eine zweite Frau heiratet. Eine prominente Rolle spielt der Tatbestand des Vorenthaltens (Verb apostereō) in 1 Kor 6,7–8, wo Paulus die Gemeindemitglieder dazu anhält, auf die Durchsetzung von Rechtsansprüchen gegenüber Mitchristen zu verzichten. Die engste Parallele zu Mal 3,5 findet sich im Jakobusbrief, wo dazu ermahnt wird, den Arbeitern ihren Lohn nicht vorzuenthalten, da Gott auf die Schreie der Unterdrückten hört. Dabei wird mit der Phrase „HERR Zebaot“ exakt die Gottesbezeichnung aus Mal 3,5 übernommen: Seht, der Lohn der Arbeiter, die eure Felder gemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, er schreit zum Himmel, und die Hilferufe der Erntearbeiter sind dem Herrn Zebaoth zu Ohren gekommen! (Jak 5,4 ZUR)
Insgesamt zeigt sich, dass der Einsatz der Maleachischrift für die Unterdrückten und insbesondere für einen gerechten Lohn für den Lohnarbeiter im Neuen Testament positiv weitergeführt wird. Als neues Element kommt hinzu, dass Paulus in 1 Kor 6,7–8 dazu aufruft, es innerhalb der christlichen Gemeinde lieber zu erdulden, wenn einem ein prinzipiell zustehender Lohn vorenthalten wird. Dabei dürfte vorausgesetzt sein, dass jemand nicht aus Eigennutz, sondern nur aus triftigem Grund dem Mitchristen zumutet, auf etwas ihm Zustehendes zu verzichten. Im Sinne des Einsatzes für die gleiche Sache und der solidarischen Verbundenheit innerhalb der Gemeinde teilen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer das unternehmerische Risiko.
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Eschatology, Migration, and Identity in the Late Second Temple Period Garrick V. Allen
Migration features prominently in key narratives in the Hebrew Bible from the very beginning – the expulsion of Adam and Eve, Cain’s wandering, the Babel dispersion, and Abram’s migration from Ur. This trend continues throughout the Torah (e. g. the Exodus and Wilderness Wanderings) and is found also in the Writings (e. g. Ruth). In addition to these examples, the former and latter prophets are overtly concerned with another migratory event that lurks still over the literary and social world of the Persian, Hellenistic, and Roman periods: exile and return. The return from Babylon following Cyrus’ decree (mid 6th century BCE) prompted some post-exilic authors to represent these events as the restoration (e. g. Ezra-Nehemiah, Haggai, Zechariah 1–8). However, in the Hellenistic and Roman periods, dissatisfaction with ‘The Restoration’ was pervasive.1 From the late third century BCE to the first century CE, the trope of migration continued to play a role in Judaism’s social and literary life. Exile and restoration became an important lens through which to articulate eschatological expectations and present a vision of an ideal social and political order. The literature of the late Second Temple period presents two overlapping, but distinct attitudes toward the role of migration in the restoration from exile and the fate of Israel’s opponents. One strand, represented by the sectarian documents from Qumran, presumes only a limited place for those outside the sect. A second, represented by 1 Enoch, Tobit, and the post-70 CE Apocalypses, among other works, presents scenarios where the nations pay homage to YHWH (or his messiah), finding an often ambiguous, but not entirely negative role in the coming age. This stream of texts is more conciliatory to the fate of outsiders and more inclusive in their scope of restoration than the sectarian texts. The eschatological outlooks of these two streams, while complex, also intersect at many points. However, even though they share a tradio-historical trajectory2 and 1 Enoch and Tobit were transmitted at Qumran, these * 1 2
The author is a research associate of the Department of Ancient and Modern Languages and Cultures, University of Pretoria. On the historical nature of the immediate restoration period, see Grabbe, Reality, 292– 307. As many have noted; e. g. Werman, Epochs, 229–255, who emphasises the theme of the periodization of history in early Jewish works. Werman even goes so far as to identify the Animal Apocalypse (1 Enoch 85–90) as a Qumranic composition based on the
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Garrick V. Allen
streams are distinguishable in terms of their uses of migratory events in eschatological contexts. In order to understand the way that eschatological migration illuminates the social and ideological environment of the late Second Temple period, I first focus on perspectives of exile and restoration in the sectarian works. Second, I survey texts beyond the Yaḥad, suggesting that attitudes toward the scope of restoration and the fate of the nations in eschatological scenarios provide insight into the socio-political world that these authors inhabited.3 The web of eschatological expectations in early Judaism expresses “not only future hopes but an understanding of the entire structure of human life and community, which also determines the present”4. Hope for the age to come reflects the desired social organisation of the present.5 This discussion provides another point of comparison between perspectives within Judaism in this period, offering insight into the diversity of eschatological expectations. Despite this pluriformity, the following discussion highlights the sub-structural similarities across texts. The role of migration in these scenarios is a window onto the communal boundaries of different text producers and their interrelationships.
1.
Eschatological Migration in the Yaḥad
A number of works composed and / or transmitted by the Yaḥad offer insight into the group’s eschatological expectations. As early as 1959 Morton Smith noted that eschatology was an important aspect of the Yaḥad’s Weltanschauung:6 the community saw itself as the bridge between Israel’s past and the
3
4 5
6
similarities of the 490-year scheme, following the influential arguments of Kister, History, 1–18 (esp. 1–6) and Dimant, Literature, 544–545. In regard to the Yaḥad, Hogeterp, Identities, 111–130, here 112 notes that, “it may not be an exaggeration to say that the respective eschatological perceptions are a constitutive element of sectarian self definition”. Collins, Patterns, 352. Collins, Patterns, 356 notes that the “expectation of the two messiahs then would seem to fit a realistic and univocal expectation of the future, and indicate a specific way in which the community should be organized […] The sectarians considered themselves to be already an eschatological community. Hence their present institutions already anticipate those of the messianic age”. Davies, Eschatology, 39–55 notes that the unsystematic eschatological expectations of the scrolls makes it difficult to identify a particular community with a stagnant ideology reflected therein. The diversity of the scrolls mirrors the internal diversity of the group(s) who collected and transmitted these works. Smith, Variety, 71–72.
Eschatology, Migration, and Identity
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eschaton.7 This perspective is witnessed most obviously in the Damascus Document (CD) and סרךtexts. The founding of the community described in CD I 7 explains the process as divinely initiated: God “visits them” ( )פקדםand causes “to sprout” ( )ויצמחa shoot from Israel and Aaron (cf. Isa 60.21), using terms that are overtly eschatological.8 These lexemes, along with the assertion that the group existed in the “last generation” ( )בדור אחרוןand in an “age of wickedness” ( ;קץ הרשיעCD I 12; VI 10, 14; XII 23; XV 17; cf. 1QpHab II 1– 10), shows that the origin and life of the community were eschatological in orientation: “the sect is destined to be the shoot from which the new eschatological world will spring.”9 Additionally, in the Rule of the Community, proper adherence to the Law of Moses (1QS V 8–10) is emphasised in order to prepare for life in the coming age (VIII 12–16; 1QSa I 1–5; 1QSb I 1–4). Purity and legal observance are important social norms because the community understood themselves as participating in the idealised future and as a ‘temple’ community that straddles the boundary between ages.10 So how then did this community understand the role of migration in their eschatological scenarios, and how does this articulation illuminate their social situation?11 A handful of manuscripts offer further insight into this question. The first document is 4QTanḥumim (4Q176),12 a work whose depiction of restoration only implies a migratory event, showing the connection between a
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Collins, Patterns, 359, 374. Cf. Xeravits, King, 6–7; Steudel, אחרית הימים, 231, 241– 242. A similar perspective is found in 4Q416, a non-sectarian text examined by Elgvin, Eschatology, 126–165 (esp. 139–145). On the eschatological terminology in sectarian works see Puech, Croyance, 329–330; Knibb, Essays, 327–348. Dimant, Literature, 491–492. Dimant, Literature, 493. CD also speaks of a migration from Judah to Damascus (CD IV 3; VI 5; VIII 21; XIX 34; XX 12), an exilic event foundational to the community’s attitude toward piety and social identity. However, it is not immediately obvious how this migration is related to the eschatology of CD. Cf. Fuller, Restoration, 52–60. Doering, Urzeit-Endzeit, 41–47 (cf. Ps. Sol. 14.1–5); Kuhn, Enderwartung, 176–177. Harrington, Outsiders, 187–203 emphasises the social ramifications of maintaining ritual purity: eschatology, purity, and social boundaries form a self-reinforcing ideological circuit. Cf. also Schiffman, Community, 7–9, 35–36, 68–71; idem, Qumran, 256– 269. What follows is a representative sample of sectarian attitudes toward migration in the coming age. Numerous other documents that speak to the messianism and / or eschatology of the scrolls are noted only on the periphery since they do not make migration a central feature of their eschatology (e. g. 11QMelchizedek, 4QTestimonia [4Q174], and the pesharim). First published in DJD V, 60–67 by Allegro and examined early on by Strugnell, Notes, 229–236. Of the 57 fragments assigned to this manuscript in its editio princeps in 1968, a number have since be reassigned or otherwise identified. For example, Kister has identified frags. 19–21 as portions of a Hebrew copy of Jubilees (Fragments, 529– 536). Both hands in the manuscript are datable to the mid first century BCE. Cf. Høgenhaven, Character, 99–101. The line numbering in this article follows that of Høgenhaven which differs from DJD V.
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paucity of migratory expectations and a group ill-disposed to outsiders. Although this manuscript lacks explicit sectarian language, its social mentality coheres well with the overall attitude of Yaḥad.13 This manuscript is often classified as “exegetical literature” due to its extended string of quotations following the serial arrangement of Isaiah in columns I–III.14 However, even though it quotes scripture,15 it also belongs to the trajectory of poetic or liturgical compositions.16 The beginning of this work is not preserved and remnant material of the first column contains a prayer that draws upon Psalm 79 (cf. I 12–15 and Ps 79.1–3), a psalm that exhorts God to reverse the fortunes of Israel and humble her enemies, the nations ()גוים.17 The chain of juxtaposed quotations to deutero-Isaiah found in columns I–III are bracketed by descriptions of the quotes as “consolations” ( )תנחומיםor “words of consolations” ( )דברי תנחומיםat the beginning and end of the chain (I 15; III 13). The quotations represent thematically and lexically linked utterances which develop the idea of YHWH’s power, his love for his people (cf. also the quotation / allusion to Zech 13.9 in frag. 15), and, most importantly for our discussion, the “contrast between the future glory of Israel and its past affliction and humiliation”18. While this fragment provides a number of interesting observations related to numerous questions, including the text of Isaiah at Qumran19 and practices
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Although an author associated with the Yaḥad may not have composed 4Q176, the community transmitted it. Cf. Høgenhaven, Character, 99–123, here 123. Campbell, Texts, 78 refers to the non-scriptural sections as “sectarian comment”. The manuscript coheres with E. Tov’s “Qumran Scribal Practice” (Practices, 281). The designation of 4Q176 as “exegetical literature” is most clearly seen in its handling in various editions. See the overview in Høgenhaven, 4QTanhumim, 154–155, esp. n. 12. Campbell, Texts, 82 refers to 4Q176 as “an interpretive anthology of scripture”. Steudel, Midrasch, 187 argues that 4Q176 could be called “thematischer Midrasch”. Stanley, 4QTanhumim, 578–582 emphasises the importance of 4Q176 for ancient evidence of testimonia collections, however the social function of the quotation chain is inconclusive. I 15–20 (Isa 40.1–5); I 20–22 (Isa 41.8–9); II 1–2 (Isa 41.10); II 3–11 (Isa 43.1–7, [v. 4 is lacunose]); II 11–13 (Isa 44.3); II 13–20 (Isa 49.7, 13–17); II 20–22 (Isa 51.22– 23); III 1 (Isa 51.23); III 2–4 (Isa 52.1–3); III 5–12 (Isa 54.4–10). Column 4[?], i. e. frags. 12, 13, and 42, also retain some limited material from Isa 51.23 and 52.1–2. Cf. the summary of the quotation chain in Stanley, 4QTanhumim, 570–572. Høgenhaven, Character, 122. Høgenhaven, Character, 113 argues that “the prayer, in other words, shares both its overall perspective and, to a large extent its language with Psalm 79”. Cf. also idem, 4QTanhumim, 157 and DJD V, 61. In this way, the string of Isaiah quotations is the divine voice that responds to the prayer for reversal of fortunes in I 12–15. Høgenhaven, Character, 107–108 contains a succinct summary of the contents of the manuscript. I quote here from 108. The text seems to be closely aligned with the form represented by 1QIsaa and 4QIsac in contrast to the MT-stream, although the material for comparison is minimal. Cf. Høgenhaven, Character, 108–110.
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of text compilation or excerption in this period,20 I am primarily interested in the document’s portrayal of the future fortunes of Jerusalem. First, the prequotation material in column I (12–15) describes Jerusalem’s adverse situation. The speaker requests God to perform marvels and justice, battle hostile kingdoms, and see the unburied corpses of priests in Jerusalem (mentioning “your sanctuary”, )מקדשׁכה. The parallel section following the quotations contains similar thematic material. Column V 1 refers to the “sanctuary” ( )ונם אף במקד]ו[שׁwithin what seems to be a request for YHWH to remedy the situation of his people. Within this framework, the interceding quotations function as the divine response to the desire for a reversal of Jerusalem’s fortunes. The first text quoted (I 15–20) is Isa 40.1–5, which, following the description of the quoted text as “consolations”, opens appropriately with two imperatives invoking the people to take comfort ()נחמו נחמו עמי. Jerusalem is then addressed and assured that she has already received her just punishment (v. 2). In v. 3–4 the flattening out of the earth and the making straight of paths precedes God’s coming to his people and his glory is revealed (v. 5a). Interestingly, Isa 40.5b, the portion of the text that declares that “all flesh shall see it together” ( )וראו כל־בשר יחדוis omitted from the quotation, excluding any possible universalistic interpretation. Following this initial quotation, a number of other thematically linked quotations ensues, including those related to exhortation and comfort (Isa 41.8–10; I 20–22, II 1–2); the restoration of “your seed” (( )זרעךIsa 43.1–7; II 3–11); the pouring out of “my spirit upon your seed ( )זרעךand my blessing upon your offspring” (( )צאצאיך44.3; II 11–13); the humiliation of the nations juxtaposed with calls for creation to rejoice in God’s comfort of his people and his remembrance of Zion (Isa 49.7, 13–17; II 13– 20); and a recitation of material from Isa 51.22–23 (II 20–22) where YHWH promises to withhold his “bowl of wrath” from Israel. The second to last quotation in 4Q176 occurs in III 2–4, preserving Isa 52.1–3. In this text, YHWH implores Jerusalem to “shake off the dust” because she has been redeemed. A consequence of this redemption is that the uncircumcised ( )ערלand unclean ( )טמאwill not enter her again (52.1). The chain concludes with a lengthy section from Isa 54.4–10, in which YHWH professes his steadfast love and compassion for Israel (III 5–12). Within this sequence of interrelated quotations, the people are called to take comfort because they will be restored from various lands, YHWH will have compassion on them, and their enemies will be defeated. This last point, found primarily in the quotation of Isa 52.1–3, directly addresses the complaints introduced in I 12–15. Beyond YHWH’s promises of comfort, the most concrete action implied in the prophetic texts is the declaration that those who are uncircumcised and unclean will never again enter the city. This assertion, in connection with the statement of Ps 79.1–3 that God will humble the nations 20
Cf. Stanley, 4QTanhumim, 569–582.
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()גוים, implies a limited role for the opponents of the sect in the age to come. In terms of migration, 4Q176 implies very little, despite its promise of a restoration of the faithful. Its portrayal of the fortunes of Jerusalem suggests that there is no role for the nations outside of defeat. The lack of a role for the Yaḥad’s opponents or mention of migration, among other features, is indicative of an author that is deterministically hostile to outsiders. Another text from Qumran that has a similar outlook on the role migration is 4QCatena A (4Q177).21 This manuscript originally consisted of approximately 18 columns, of which portions of columns VIII–XII are preserved, following the reconstruction of Annette Steudel.22 The work is surely a product of the Yaḥad, using pesher formulae (e. g. IX 9, X 6) and other phrases characteristic of the community’s literature.23 The text of this scroll is interspersed with explicit quotations followed by interpretation, leading to the usual designation of “thematic commentary”24 or “thematic midrashim.”25 Throughout, its author applies scriptural locutions “to the contemporary experience of his community, which he understands to be living in the eschatological era.”26 The general thrust of the manuscript is eschatological, referring often to “the last days” (באחרית הימים, e. g. IX 10, 14; X 7; XII 6[?]).27 Moreover, it is concerned with a conflict with co-religionists dubbed “the seekers of smooth things” ()עדת דורשׁי הלקות, a conflict that is solved in the age to come (IX 12–13; cf. 4QPesher Nahum 3–4 II 2; II 4; III 3; III 6–7). This social divergence is characterised as a conflict between light and darkness (X 7–9; XI 11–16), confirming the Yaḥad’s perception of outsiders as a diametrically other. This opposition to those outside of the community, the ‘men of Belial’, and the community’s conflict with this group comes to a climax in column XI. Although only the middle portion of lines 6–16 are preserved, the content of
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Annette Steudel has argued extensively that 4Q177 is part of a single literary work, based on similarities in content, style of quotation, and material reconstructions, of which 4Q174 is also a copy, a work that she has titled Midrasch zur Eschatologie. Cf. Steudel, Midrasch, 127–169; idem, 4QMidrEschat, 531–541. While a possible reconstruction (despite the lack of overlap between 4Q174 and 4Q177), I am interested here only in 4Q177, which was originally published by John Allegro in DJD V, 69–75 (cf. Strugnell, Notes, 236–248. Brooke, Florilegium, 129–150 suggests entitling 4Q177 Eschatological Commentary B. Steudel, Midrasch; cf. eadem, 4QMidrEschat, 532. I preserve her textual designations throughout, without necessarily endorsing 4Q177’s direct literary connection to 4Q174. E. g. עצת היחד/ ( אנשׁיe. g. IX 9–10; X 5) and ( אנשׁי בליעלe. g. IX 4). Cf. Steudel, 4QMidrEschat, 535; eadem, Interpretation, 478; Brooke, Catena, pp. 1.121–122. Cf. Brooke, Commentaries, 149. Steudel, Interpretation, 481. Laughlin / Tzoref, Theme, 169; cf. Brooke, Catena, 122. Cf. Steudel, אחרית הימים, 225–246 for discussion on the temporal polyvalence of this collocation and a list of all its occurrences in the Scrolls.
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the column is partially clear.28 Following a quotation of Ps 6.2–5 in lines 6–8, the conflict comes to the fore, interspersed with an allusion to Abraham’s negotiations regarding Sodom in Gen 18.22–33.29 Victory over the spirits of Belial is assured for the just because God’s great hand will be with them (XI 14). The culmination of this victory is found in the penultimate line: “[those who fear God will sanctify his name and they will come to Zion with joy, and Jerusalem […]” (XI 15). The final line of the column insinuates the utter destruction of those who belong to Belial: “the men of his lot will be fin[ished] forever, and all the sons of light will be reunited […]” (XI 16). Although a migration is not emphasised here, the question of who will be welcome in Jerusalem is indicative of the Yaḥad’s social desires.30 The assertion that those who fear God will come ( )באוto Jerusalem, insinuates a movement to which the adversaries of the Yaḥad are not privy. The phrase “and they will come to Zion with joy” ( )ובאו ציון בסמחהis similar to Isa 35.9–10 ([ ובאו ציון ברנה...] )והלכו גאוליםand 51.11 ( )ובאו ציון ברנה ושמחתwhere the exiles return in a joyful reverse-migration.31 The future destruction of Belial and his people, juxtaposed with the expected re-gathering ( )אסףof the sons of light, is intertwined with the community’s present social situation and their identification with the past situation of David as reflected in the use of Psalm material. Like 4Q176, God will deliver the community from their downtrodden situation. The movement of peoples is symbolic of this expectation: the sons of light will come to Jerusalem, while their enemies (likely the religious elite in Jerusalem, perhaps the Pharisees)32 will be expelled (cf. 4Q491 frag. 16 4). So far as 4Q176 and 4Q177 are concerned, migration is a limited event, and is implied only in the anticipated restoration of the faithful. The remaining major sectarian documents that speak to the Yaḥad’s es chatology also preserve similarly narrow migration traditions. The Hodayot (witnessed most completely by 1QHa) exemplify this perspective, explicitly expressing deterministic approaches to communal boundaries (e. g. VI 21–22 and XI 27–36).33 Both the so-called ‘Community Hymns’ and ‘Teacher
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There is some question regarding Steudel’s material construction of frags. 12–13 which make up part of her column 11, but this is beyond the scope of this discussion. Cf. Laughlin / Tzoref, Theme, 174 and VanderKam’s review of Steudel’s book in CBQ 57 (1995), 576–577. The placement of Psalms material here is suspect. Cf. Laughlin / Tzoref, Theme, 170, 174; Steudel, Midrasch, 60; Campbell, Texts, 51. Cf. Campbell, Texts, 50–51. Cf. Steudel, Midrasch, 117; Strugnell, Notes, 246. Isa 51.10–11 juxtaposes the remembrance of the Exodus event with the future return from exile, clearly demarcating an expected migratory event. Cf. Westermann, Isaiah, 243; McKenzie, Second Isaiah, 126. Steudel, 4QMidrEschat, 540–541. Cf. Harkins, Proposal, 101–134 for clear articulation of the history of research on the scroll (including its challenging material reconstruction), the literary shape of the
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Hymns’ blur the line between present experience, the liturgical praxis of the community, and the expected future. For example, the psalmist’s assertion that both he and his community commune with the “congregation of the sons of heaven” (XI 22–23; XIV 8, 15–16) indicates that the community understood its present position within the context of an immediate relationship with the divine realm.34 It is within the community that the affairs of this world meld with divine machinations. Within such a model, with all its vagaries, where the present organization and life of the community corresponds to the idealised social order of the coming age, there is little need to expect large-scale migra tions, either in this age or the next. However, the text uses movement as a metaphor for social boundaries. For example, in col. XIV, the poem praises God for making his law and truth known to both the “men of your council” and “all the peoples” (XIV 10–13). Despite the universal accessibility of God’s law, only those who follow it truly walk in God’s path: “even though you, God, commanded them to seek fortune far from their paths, [walking]35 on [your] ho[ly] path, on which the uncircumcised, the unclear, the vicious, do not travel. They have staggered off the path of your heart […] Belial is the counsellor of their heart” (XIV 20–22). Additionally, for those who “lean on God’s truth”, his protection will be like a fortified city that foreigners “will not penetrate” (XIV 25–28), in which weapons will not be allowed when “the wicked battles will come to an end” (XIV 29). This text foresees a forthcoming time of protection for those who depend on God following a time of warfare. Even though migration is not a central issue in the Hodayot, its poems offer insight into the eschatology of the Yaḥad. The legal structure of the sect defines its members against those they consider outsiders. The time of comfort for the faithful will come after the time of war has past. The eschatology of the Hodayot is influenced by its underlying supposition that the boundary of the age to come will be marked by cosmic warfare (1QHa XI 35, cf. 4QpIsaa; 1QS X 19). This expectation is shared by and most fully articulated in the War Scroll (1QM). While regulations did exist for the uptake of new members and departure of current members (1QS VII 16–27), texts like the 1QM present the age to come as the outcome of a present (XIII 14–16) conflict between the “sons of light” and the “sons of darkness” (e. g. I 1–19, cf. 1QS III 13–IV 26), where the faithful community fights as instruments of God’s judgment (e. g. 1QM VI 5–6). The use of the term “holy ones” ( )קודשׁיםin this context is also indicative of the blurring between the members of the community and the heavenly host (e. g. VII 6; XII 1–7, cf. 1QSa II 8–9; 1QHa XI 21–23; 4Q405 frag. 20 II 21–
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work, and current research trends. Cf. also Schuller, Scholarship, 119–162. See DJD 40 for the editio princeps. Cf. Harkins, Proposal, 119–121; Collins, Expectation, 90 for a full appraisal of this theme. Reconstructed as ילכו.
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22).36 The community’s communion with angels, at least in liturgical settings, motivated adherence to purity and legal standards.37 The theme of holy war played a prominent role in the construction of communal eschatology, superseding the need for migratory events. The need for a restoration of the community or a re-gathering of the faithful is minimal because they were already localized within the community. Furthermore, the humiliation of the nations and their role in the age to come abates in light of their defeat in the ultimate cosmic conflict. Although the sectarian documents generally eschew migratory events as key features of eschatological scenarios, 1QM maintains hope for a return to Jerusalem. In comparison to other early Jewish texts that portray eschatological armed conflicts (e. g. Ezek 38–39; Sib. Or. 3.657–731; 1 En 56.5–8; Rev 19–20; 4 Ezra 13.5–11), 1QM is exceptional in that the role of Jerusalem is relatively muted.38 In other warfare texts, Jerusalem is a place of last refuge, a stumbling block to invaders, and the respite of the eventual victors. Despite 1QM’s modulating of Jerusalem’s importance, two texts describe its enduring relevance in the age to come. First, in the prologue to the work, Jerusalem is a place to which the sons of light are destined to return: “when the exiled sons of light return from the wilderness of the peoples (cf. 4QpIsaa frags. 5–6 2; Ezek 20.35) and camp in the wilderness of Jerusalem. And after the war, they shall go up from there (( ”]…[ )יעלו משׁם1QM I 3). The movement to the “wilderness of Jerusalem” and the subsequent “going up from there” brings about “a time of salvation for the peoples of God and a period of rule for all the men of his lot, and of everlasting destruction for all the lot of Belial” (I 5).39 Whatever the meaning of במדבר ירושלם,40 the phrase “implies a migration from the hinterlands toward a location certainly nearer the polis than before.”41 Similarly, the prayer in the first portion of XII 7–16 (cf. XIX 1–8) encourages the combatants to deal decisively with their enemies (XII 7). The result of the forthcoming battle will be celebratory:
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Cf. Yadin, Scroll, 240–242. The blurring of angelic and human military forces in 1QM and other texts is further explored by Chazon, Communion, 95–105; Wassen, Angels, 533–537; Frennesson, Communion. A comparative chart of the elements of the eschatological war motif are provided by Erho, Motif, 373. Cf. Dan 11.40–12.3. Additionally, there are some issues involved with reconstructing the right margin of lines 3–6. See Schultz, World, 89–91. On this see Najman, Study, 447–466 (esp. 453), who argues that מדברin 1QM I 2–3 refers to a “wilderness of suffering”, and Schultz, World, 163–165. Erho, Motif, 368. In contrast, the war described in column II indicates that the war will be organized from the temple, where its priestly leaders will be engaged in cultic activities (lines 1–6). The issue of literary coherence associated with 1QM, as well as its repetitions of material, likely indicate compositional layers or perhaps stages of the eschatological battle. Cf. Schultz, Layers, 153–164.
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Garrick V. Allen (13) Rejoice, Zion, passionately! Shine with jubilation, Jerusalem! Exult, all the cities of Judah! Open (14) your gate continuously so that the wealth of the nations can be brought ( )להביאto you! Their kings shall wait on you, all your oppressors lie prone before you, the dust (15) [they shall lick the dust of your feet. Daughter]s of my nation, shout with jubilant voice! Adorn yourselves with splendid finery! Rule over the king[dom …].
This text implies two coinciding migratory events that result from the conclusion of the war. First, the righteous will inherit and return to the Land, returning to their rightful place as the true representatives of faithful Israel. In connection with I 3, the author of 1QM understood the social world of his community within in terms of exile and return, using a return to Jerusalem and an eschatological conflict as a means of supporting communal identity.42 Second, this prayer indicates the presence of foreign rulers in Jerusalem, along with the wealth that they bring ()באו. In this scenario, the nations are not co-heirs to the faithful inheritors of the city, but are subservient. Overall, when the eschatology of the Yaḥad emphasises migratory events at all, they tend to downplay the movement of peoples in the age to come. Migration only comes to the fore in the return of the community to dominance and the connected humiliation of foreign rulers in their presence. There is no unified sectarian doctrine related to expectation of particular migratory events. This also holds true when one examines two documents that were composed outside of Yaḥad, but transmitted among the scrolls: 4QRenewed Earth (4Q475) and the New Jerusalem text. Both of these documents stand as an intermediary between the strand of sectarian eschatology that minimizes the role of migration and the strand represented by non-sectarian early Jewish documents. To begin, the New Jerusalem text (NJ), an Aramaic apocalyptic work preserved in multiple copies (1Q32, 2Q24, 4Q554, 4Q554a[?], 4Q555, 5Q15, 11Q18), describes Jerusalem’s layout, the gathering of enemies, and an expectation of deliverance.43 It is closely related to a complex of texts that are part of a broader ‘New Jerusalem’ tradition (Ezek 40–48, Temple Scroll, the Reworked Pentateuch texts, Rev 21–22, etc.).44 Following Lorenzo DiTommaso’s reconstruction,45 the vision picks up in the midst of a description of the measurements of the walls and gates of the city, named after the twelve tribes. The seer moves inward to measure the city’s blocks and thoroughfare, detailing its layout and dwellings. The result is a resplendent city adorned in precious jewels, whose size and 42 43 44
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Cf. Duhaime, Règle, 131–145. Edited by DiTommaso, Dead Sea. For an overview see García Martínez, New Jerusalem, 606–610; Frey, New Jerusalem, 800–816. Cf. DiTommaso, Dead Sea, 109–169; Schiffman, Qumran, 313–318 for the various streams and characteristics of New Jerusalem tradition in early Judaism and at Qumran specifically. See García Martínez, Qumran, 180–186 for a clear discussion on the relationship between NJ and 11QTemple and Frey, New Jerusalem, 812–816 for a tradiohistorical discussion. DiTomasso, Dead Sea, 90–95.
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organization might accommodate considerable groups of pilgrims.46 Located between the preceding description of the city and a fragmentary depiction of a new temple and its cultic operations, a short portion on the political realities of the future age occurs (4Q554 frag. 2 III + 4Q554 frag. 7): 15. after it; and the Kingdom of M[edia after it; and the Kingdom of […] after it; and the Kingdom of 16. the Kittim after it. All these kingdoms shall appear one after another ([ )בסוף 17. others great and powerful with them m[ 18. with them Edom and Moab and the Sons of Ammon[…] 19. of Babylon, the land, all of it, which is not ysr[ 20. and they shall do evil to your descendants until the time when y[…] and I saw that[ 21. with all ‘m[…] kingdoms […], which shall n[ot …] xxxxx’ these rb[…] 22. And nations will se[rve] them[…] vac The king[gs of the people[…]
Although the meaning of the text is open to debate, the occurrence of the compound “( בסוףin / at the end”) likely indicates “the advent of the eschatological age”47. In this period, and following the four-kingdom schema found in other apocalyptic works (e. g., Dan 2.24–45; 7.1–8, 15–28), the enemies of Israel appear at an appointed time (cf. Dan 11.40–46). This listing of opponents suggests that the fragment witnesses to the theme of the humbling of the nations.48 Although the antecedent of “( עממיןthem”) in line 22 is unclear, the phrase “and the nations will se[rve] them” ( )ויעב]דון[ בהון עממיןprobably refers to the nations’ diminutive status vis-à-vis Israel. Interestingly, while NJ shares the expectation that Israel’s current political situation will be reversed in the age to come, the extant material does not definitively support the idea that the text anticipates an eschatological military conflict like the one presumed in other sectarian documents. DiTommoso goes so far as to say that “there is no evidence in 4Q554 2 iii of a battle being described or anticipated”49. It is more likely that the list of nations refers to the traditional enemies that now migrate to Jerusalem as humbled foes. There is reason to believe that migration played a role in the eschatological future depicted in NJ in two ways. First, even if the arrangement of the city and its dwellings were designed to be permanently inhabited, the presence of the names of the twelve tribes on the gates of the city indicates that the experience of exile has ended. This necessarily implies a counter-migration to the city (cf. Isa 60), although it is not articulated in the extant material. Second, if the list of nations is a precursor to a pilgrimage of servitude, then the gathering of nations once hostile to Jerusalem constitutes a parallel migration to that of restoration. NJ
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García Martínez, New Jerusalem, 609; Puech, Jérusalem nouvelle, 102. DiTommoso, Dead Sea, 170–173. DiTommoso, Dead Sea, 174–175. DiTommoso, Dead Sea, 175.
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stands at an intermediate juncture between sectarian documents like the Hodayot or War Scroll, which only imply the re-gathering of Israel and moderate the role of the nations in the coming age, and texts like the Animal Apocalypse and Tobit, which are more explicit both in their depictions of restoration and the role of the nations. Although partially implied due to the state of NJ’s preservation, migration plays an increasingly important role in depictions of social dynamics in the next epoch. The eschatological horizon of NJ is similar to other sectarian works, but “the correspondence among these texts does not always translate to specific elements”50. The presence of numerous exemplars of NJ demonstrates its currency in this period and its ability to exist within the eschatological structures of the Yaḥad.51 One encounters a similar situation in 4QRenewed Earth (4Q475), a palimpsest not composed within the Yaḥad, containing nine partially preserved lines.52 In line 1, “( יבחר ציוןhe chose / will choose Zion”) is tentatively reconstructed, and is followed in line 3 by language paralleled in the exodus event (“[He stretched out his h]ands in their midst”) and Moses’ report to the people in Exod 24.3 (“told them all the[ precepts]”). The presence of the phrase כול “( תבלall the earth”) in both lines 4 and 5 suggests that the purview of the document extends to nations beyond Israel. In this scenario “there will no longer be a guilt in the land” (line 4) and “the earth will be like fire” (line 5).53 Torleif Elgvin argues that lines 4–5 “describe the universal judgment and rebirth, in apocalyptic style”54, pointing to prophetic texts (Isa 24–25; 65.17– 19; 66.22) and apocalypses like 1 Enoch that anticipate more ‘universal’ eschatological events. Although migration does not play a prominent role in the remains of this text, witnessed only in the phraseology borrowed from the Exodus event, its eschatology is similar to that found in NJ. This is especially true as it concerns the role of the nations in the eschatological scenario, although Elgvin’s assertion that the nations partake in the peace and prosperity of the coming age in 4Q475 is not entirely convincing.55 Nonetheless, NJ and 4Q475 witness a strand of discourse that differs in important ways from the sectarian documents as it relates to the movement of peoples in the coming age, offering a more positive outlook by offering the nation some role in the eschaton. Overall, the Yaḥad’s attitude toward eschatological migration was influenced by an expected reversal of fortunes, articulated in terms of restoration 50 51 52 53 54 55
DiTommoso, Dead Sea, 184. So much so that García Martínez, Qumran, 212–213 argues that NJ is a sectarian document (contra Frey, New Jerusalem, 808–810). DJD XXXVI, 464–475 (here 464), edited by Elgvin. Cf. idem, Earth, 576–591. The readings in the editio princeps differ at critical junctures with DSSSE, 956–957. Reading “( שׁאfire”) for “( שׁעmoth”). DSSSE, 956 reads “( עדןEden”). DJD XXXVI, 469. DiTommaso, Dead Sea, 167–168 also casts doubt on a number of reconstructions that are key for Elgvin’s argument.
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from exile and a return to divinely ordained prominence. The eschatology of these texts is unsystematic and yields some tension, based upon the community’s special place for itself on the cusp of history.56 The strict legal and purity regulations of communal life enacted as a proleptic experience, ostracizing those who do not conform. If the nations play any role, they are subservient to the community. In addition to these attitudes toward migration, the community transmitted other works that, while sharing a similar eschatological sub-structure, differ in terms of individual elements. The Yaḥad, while deterministic in outlook, tolerated a spectrum of eschatological ideologies.
2.
Eschatological Migration in other Jewish Works
Another strand of attitudes toward migration is located in other Jewish works, some of which are also preserved at Qumran (1 Enoch and Tobit), that placed a stronger emphasis on migration both in terms of Israel’s restoration and an explicit role for the nations.57 The first work that provides evidence for the role of migratory processes within eschatological frameworks is 1 Enoch, more specifically the booklets known as the Animal Apocalypse (AA) and the Book of the Watchers. AA, part of the larger section of 1 Enoch (83–90) known as the Dream Visions, is an apocalypse that reviews history by allegorically depicting dramatis personae one ontological step below their normal rank: the antediluvian patriarchs are bulls, Israel are sheep, the hostile nations are various birds, and angels are people. Using “white bulls” as the ideal form of humanity, AA divides history into three eras: 1. the antediluvian, in which Adam and the Sethite line are “snow white bulls” (85.3, 9–10); 2. the post-deluge, in which the Shemite line begins as white bulls and Noah becomes a man (89.1, 9); and 3. the coming age represented by a white bull with large horns (90.37–38). This repetition emphasises that the ideal state of humanity, both in the present age and the age to come, corresponds to humanity’s Urzeit. The deterioration of nations into varying species, wrought by the dalliances of watchers (86.1– 6) and the offspring of Noah’s sons (89.10–12), is viewed negatively, culminating in the renewal of humanity to its intended state.58 The historical review ends in 90.19 and the remainder of the text (90.20– 38) presents a scenario in which Israel’s enemies are judged, bringing a period 56 57
58
Cf. Dimant, Literature, 538–542. Herms, Apocalypse, 55 is correct to note that the presence of portions of 1 Enoch and Tobit (among other previously known works) is convincing evidence that the community’s eschatological substructure tolerated, if not espoused, the eschatological perspectives in these works. So also Tiller, Commentary, 17–20.
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of universal peace.59 This final section begins in vs. 20–27 with the erection of a throne in the “pleasant land” and the opening of books by “the Lord of the sheep” (cf. Dan 7.9–10).60 This action leads to the judgment of the angels who defiled humans (cf. 86.1, 4; 87.2), the seventy shepherds who erroneously prosecuted their duties (cf. 89.59–61), and the blind sheep (= disobedient coreligionists), all of whom are cast into a fiery abyss (90.26–27; cf. 26.1). Following judgment, Jerusalem is renewed (90.28–36). The “old house” (= Jerusalem) is folded up and the Lord of the sheep erects a more magnificent new “house”. All the birds of heaven (= nations) make obeisance to the sheep and obey their words. Following Enoch’s insertion into the scene (90.31–32), all who had “been destroyed and scattered” (= resurrection) and the wild beasts and birds are assembled in the new house. The Lord of the sheep rejoices (90.33). The gathering of Israel and the nations brings about an era of peace (90.34–36) in which the sword given to the sheep (89.19) is sealed and their eyes opened. The vision concludes (90.37–38) with humanity’s primordial restoration. A messianic figure (a white bull with large horns) frightens the wild animals, and these species are transformed into white cattle. The Lord of the sheep rejoices over this transformation and the eminence of the horned bull. A number of features of AA indicate that its eschatology differs significantly from the sectarian documents, especially as it relates to migration and its anthropological consequences. First, following the judgment scene, all sheep appear in the “new house” (90.29), signifying a restoration of the nonblind sheep. In the following verse, “all the animals that were upon the earth” bow to the sheep and obey their words (90.30). This depiction is closely related to a number of scriptural texts that describe foreign nations attaching themselves as slaves in “the land” (Isa 2.2–3; 11.10; 14.1–2; Mic 4.1–7; Zech 8.23). Following this preliminary gathering, all the sheep who had been destroyed by the nations assemble in Jerusalem and “all become good” (90.33). The gathering of Israel to the “new house” is not remarkable in light of the sectarian documents that also expect a return to the city, even though the restoration is wider in scope, including those sheep destroyed by their adversaries.61 However, the presence of foreign nations runs contrary to their subservient role in 59
60 61
García Martínez, Qumran, 77 argues that the eschaton begins in 90.17 and Nickelsburg, 1 Enoch, 354–355 argues that the third era begins in 90.28. R. Nir, Color, 50 argues that the return of the color white in 90.6 inaugurates the eschatological age, but this presses the historical narrative of the text too far. The definite boundary of this age and the next is blurred in AA. 90.20–36, which looks forward to the coming events at the end of the second age, and 90.37–38 (a section troubled with textual issues and no Aramaic attestation), which enigmatically describes the events of the third age. Danielic traditions are closely related historically and ideologically to AA. See a number of short articles in Boccaccini (ed.), Enoch, 17–72. The articulation that the sheep destroyed by wild beast (Tiller, Commentary, 380; Nickelsburg, 1 Enoch, 405–406) gather in the New Jerusalem is anomalous, but cf. Dan 12.1–3.
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sectarian documents. In AA, the dissolution of national boundaries and distinguishing anthropological features is a positive development. Patrick Tiller summarises 90.28–36 as involving the geographic restoration to Jerusalem, the national restoration of Israel, and a moral restoration of all peoples […] Jerusalem is now home to all nations, Israel is now not only independent but also chief of all the nations, and all people have become obedient to God.62
The terse events of the third age – the gathering of all nations and anthropological metamorphosis – are the result of a migratory event at the end of the second age in which all peoples live in the spacious, but brimming New Jerusalem (90.36; cf. T. Benj. 9.2). Migration plays an important role in the restoration of humanity to its edenic ideal.63 Because all people are descended from a white bull (Adam), humanity must be reunited in a single geographic location and become like their shared patriarch.64 Even though the author of AA advocated for military intervention, and was devoted to religious reform (cf. 90.6–9), the text envisions a future in which all national and social boundaries are dissolved. The Book of the Watchers (1 Enoch 1–36), an older counterpart to AA (mid-third century BCE),65 also preserves traditions of eschatological migration within the Enochic intellectual tradition. 1 En 10.20–11.2 foretells the events to come after the judgment and punishment of the watchers (10.8–15), including the removal of sin, ritual pollution, plagues, and suffering and the universal worship of God (10.21; cf. Isa 66.18–23). Although not as radical as the alteration of humanity in AA, this pericope anticipates the nations’ future worship, implying a migratory event to a renewed Jerusalem, although this is not explicitly stated.66 Later on in the Watchers narrative, part of Enoch’s visionary journey, a migration of the “righteous and pious” to “the holy place” or “the house of the Lord” (25.5) is more clearly anticipated (cf. Jub. 1.15–18). Enoch is shown a pungent tree among a small forest around a throne (24.4–5) and his guide informs him that it will be planted at the holy place and that it is for the pious. These people will rejoice, enter the holy place, and enjoy long life (25.6). Immediately following this exchange, the seer’s heavenly tour continues to “the 62 63 64
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Tiller, Commentary, 374. Cf. Doering, Urzeit-Endzeit, 48–50. Doering, Urzeit-Endzeit, 50 remains unconvinced that Israel are transformed into bulls, suggesting that they remain sheep. The Ethiopic text is notoriously difficult in 90.37– 38, but the emphasis of the Lord of the sheep’s satisfaction with the transformation in v. 38 points in the direction of a universal metamorphosis. Nickelsburg, 1 Enoch, 7. The “fallen stars” (= watchers) in AA (1 Enoch 86; cf. 10.11– 15) incontrovertibly demonstrates AA’s awareness of the Book of the Watchers. Hogan, Traditions, 107–119, here 114–115 notes that the Book of the Watchers is a major source for the author of AA. Doering, Urzeit-Endeit, 28.
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centre of the earth,” including description of an edenic Jerusalem surrounded by dry valleys (26.1–6). The use of Eden imagery and assertion that the righteous will enter Jerusalem shows once again that migration plays a role in Urzeit-Endzeit correlation. As Nickelsburg states, “these lines [25.5b–6b] correspond to 10:21 and its emphasis on worship in the new age, and both reflect Isaiah 65, where a new Jerusalem is the center of a new heaven and a new earth”67. Moreover, in 1 Enoch 27, the seer enquires about the division of Jerusalem and the surrounding dry valleys. Uriel’s response ties migration closely together with the theme of judgement. The valley is for the accursed ones who will gather there (27.2), while “the land full of trees” is for the righteous. The close proximity of the two locations is designed to reinforce the outcome of the judgement (27.3–4). These texts (10.20–11.2 and 25.5–27.5) present conflicting expectations for the future of humanity in the coming age, due in part to the composite nature of the Book of the Watchers.68 1 En. 10.20–11.2 implies that the judgment of the watchers will entail the reversal of all problems that derived from their intrusion on the human population. In contrast, chapters 25–27 picture a judgment of humanity that distinguishes between those who are righteous and those who are not. In this sense, the ideology of 10.20–11.2 stands closer to AA than 25.5–27.5. However, in both segments migration is anticipated. Although only implied in 10.20–11.2, we are repeatedly told that the righteous will “enter” or “come to” the treed city, while the accursed will “be gathered” to the dry valley. Migration plays a role in the eschatology of both layers of watchers tradition. Another work – the book of Tobit – preserves eschatological expectations similar to those found in the Enochic tradition. Following his son’s journey from Nineveh to retrieve his money on layaway in Media and the celebration of his son’s wedding, Tobit instructs to Tobias to pay the wages of the man who accompanied him, Azariah (5.13; 12.1–5). After Tobias’ guide reveals himself to be Raphael, one of the seven angels before God’s throne (12.15), Tobit – exiled in Nineveh – makes a speech praising God (13.1–17), in which he emphasises Jerusalem as the holy city. He encourages “all people” to “speak of his majesty, and acknowledge [God] in Jerusalem” (13.8–9).69 He continues in 13.11
67 68 69
Nickelsburg, 1 Enoch, 315. On the mechanics of the growth of the watchers tradition see Newsom, Development, 310–329. There has been some source-critical discussion as to the place of chapters 13–14 in the context of the whole book. However, the fragments of Tobit found at Qumran that preserve parts of 13–14 (4Q196, 198–200) shows that this segment was composed before 70 CE. See further Gregory, Rebuilding, 153–178; Herms, Apocalypse, 62–67; Moore, Tobit, 55.
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A bright light will shine to all the ends of the earth; many nations will come (ἥξει) to you from far away, the inhabitants of the remotest parts of the earth to your holy name, bearing gifts in their hands for the King of heaven. Generation after generation will give joyful praise in you; the name of the chosen city will endure forever.
Tobit refers here to an eschatological Jerusalem built with precious materials (13.16b–17), a description similar to other New Jerusalem traditions (Ezek 40–48; Rev 21–22, NJ; 11Q19, etc.).70 Likewise, in his deathbed speech in the following chapter, Tobit foresees the destruction of the Temple and the Babylonian exile, warning Tobias to flee Nineveh based on the prophecy of Nahum. However, he also foresees an end to exile: God will have mercy on the people and they will rebuild the temple, but the full splendour of Jerusalem will not be manifest until the “times of fulfillment” (ἕως πληρωθῶσιν καιροí GI) (14.5): all exiles will be brought back ( יתיבin 4Q198), the temple will be rebuilt, and “the nations in the whole world will all turn (ἐπιστρέψουσιν) and worship God in truth” (14.5–6; cf. Isa 2.2–3; 45.14–25; 49.7; Jer 16.19; Zech 8.20–23; Ps 72.10–11). At this time, too, all Israelites mindful of God “will be gathered (ἐπισυναχθήσονται, GII) together; they will come (ἥξουσιν, GII) to Jerusalem” (14.7; cf. Deut 12.10–12OG). In both Tobit’s speech and testament, he expects migration to play an important role in the eschaton. A key component of this restoration is that all Israelites will be re-gathered to live in the Land, including the ten tribes exiled by the Assyrians. A second feature of Tobit’s eschatology that accentuates migration is the expectation that the nations will come bearing gifts after conversion (ἐπιστρέφω). Unlike AA, Tobit maintains a distinction between the nations and Israel in the age to come, although the nations also worship God. Moreover, Tobit focuses on the keeping of communal social practices like endogamy, burial, and almsgiving, highlighting the importance of social functions as proleptic experiences of the coming age, although the book’s appraisal of the role of the nations in the age to come is more positive than the sectarian documents.71 Even though “those who commit sin and injustice will vanish from the earth” (14.7), those who “convert” will have a part in the eternal worship of God in Jerusalem (cf. Isa 60.3–10).72 Tobit emphasises the movement of peoples as a central eschatological component. The restoration of Tobit’s 70
71 72
Cf. Fitzmyer, Tobit, 316–317. Weitzman, Allusion, 49–61 also draws repeated attention to allusions to the Torah in Tobit, arguing that Tobit 12–13 is designed to allude to Deuteronomy 31–32. He notes that “the evocation of the prophet’s song in Tobit 12–13 hints that Jews presently living in exile have reached a similar turning point in their history – that their sojourn in exile is almost over and their life in the land is about to resume” (61). Discussing 13.11, Moore, Tobit, 280–281 notes that “Tobit’s […] compassion and broad-mindedness are clearly evident”. Cf. deSilva, Apocrypha, 80; Fuller, Restoration, 32. Herms, Apocalypse, 75 notes that Tobit’s anticipation of “Israel’s repentance, re-gathering and ultimate vindication before the nations, has its most immediate roots in Isaiah”.
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eyesight following his son’s journey (11.11–15) corresponds to the eschatological restoration of Israel (and humanity) that occurs as the result of a migratory event.73 The book of Baruch, presented as a composition originally read to the Judean exiles in Babylon following Jerusalem’s destruction in 587 BCE (1.1–4), also expects the return of exiles.74 In the midst of a lengthy penitential prayer containing repeated assertions that God was just to punish Jerusalem (1.14– 3.9), the divine voice intrudes in 2.29–35, constituting an extended loose composite citation.75 God rehearses his promise to punish the people in their unfaithfulness, but also to restore them in 2.34–35 (cf. Deut 30.1–10; Lev 26.42– 45; Jer 31[38].33; 24.6; 42[49].10). I will bring them again into the land that I swore to give to their ancestors, to Abraham, Isaac, and Jacob, and they will rule over it; and they will not be diminished. I will make an everlasting covenant with them to be their God and they shall be my people; and I will never again remove (κινήσω) my people Israel from the land that I have given them.
This promise of restoration is the first hint at a migratory event. This hope is more explicit in 4.23, 36–37, a segment closely related to numerous texts in deutero and trito-Isaiah.76 First, the speaker assures the exiles of a reversal of fortunes, a counter-migration of sorts: “For I sent you out (ἐξέπεμψα) with sorrow and weeping, but God will give you back (ἀποδώσει) to me with joy and gladness forever” (4.23). Second, Jerusalem is encouraged to “Look towards the east (cf. Ezek 43.2) […] and see the joy that is coming (ἐρχομένην) to you from God. Look, your children are coming (ἔρχονται) whom you sent away (ἐξαπέστειλας); they are coming (ἔρχονται) gathered (συνηγμένοι) from east and west, at the word of the Hold One, rejoicing in the glory of God” (4.36–37; cf. Isa 49.18; 60.4).77 The repetition of forms of ἔρχομαι, in juxtaposition to verbs for outward movement, emphasizes the act of migration. The final chapter of Baruch reinforces the picture of a divinely initiated countermigration. 5.5–6 repeats sentiments from both 2.34–35 and 4.36–37, imploring Jerusalem to look to the east for her “children gathered (συνηγμένα) from the west and east” (cf. Isa 11.11; 43.5–6), a rehearsal of the historical reality
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Hicks-Keeton, Already / Not Yet, 97–117 emphasizes the correspondence between Tobit’s blindness / healing and Israel’s exile / future restoration. Theories on the dating of Baruch and its constituent parts vary widely. See Adams, Baruch, 4–8; Nickelsburg, Literature, 94–97; Steck, Baruch, 22–23; Davila, Provenance, 225–227; deSilva, Apocrypha, 202–205. See Adams / Ehorn, Citations, 134–139. This is noted by numerous commentators, recently summarized in Adams, Lament, 61–77. Cf. Steck, Baruchbuch, 226–228; Xeravits, Background, 97–133 for a detailed discussion of the use of scriptural traditions in this pericope.
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of exile (“they went out [ἐξῆλθον] from you on foot”), and God’s future promise to “bring them back (εἰσάγει) to you, carried in glory, as on a royal throne” (cf. Isa 49.22) on a flat road that he has prepared (cf. Isa 40.4–5). This “level road” imagery from Isaiah 40 is a prominent feature of Psalms of Solomon 11 and the same interpretive tradition likely stands behind Baruch 4–5.78 In Ps. Sol. 11.2–5, Jerusalem is directly addressed to stand and look for her children who are assembled (συνηγμένα) by the Lord from the east and west. From the north they come (ἔρχονται) with joy and “from far distant islands God has assembled (συνήγαγεν) them”. They travel along a flattened path, shaded by fragrant forests.79 Both the tradition of restoration in Baruch and Psalms of Solomon 11 rely on Isa 40.4–5 (as well as Isaiah 60 and 66) and personify Jerusalem as an expectant mother, looking out for the eventual return of her children (cf. Tob 13.9 and Anna in Tob 10.7; Isa 49.14–50.1).80 In these texts, the future restoration of Jerusalem is predicated upon a migration that reverses the exile, based on the narrative of Israel’s history.81 Interestingly, both Baruch and Psalms of Solomon 11 speak only to the restoration of Israel (cf. 2 Macc 2.18). The foreign nations who Israel served will be utterly desolate (Bar 4.30–35). There deutero-Isaianic traditions in Baruch especially are deployed as a tradition through which to articulate the restoration ideology of 4.34–5.5.82 The theme of exile and return, deeply enmeshed with the movement of peoples, serves as a cohesive that ties the composite parts of Baruch together. Unlike the previous works, Baruch is less optimistic regarding the fate of the nations. Similar to the emphasis in Tobit of the restoration of the 10 tribes, the sixth vision of 4 Ezra – “the Man from Sea” (13.1–58)83 – prominently features the restoration of Israel. In this vision, Ezra sees a man arising from the sea, who flies with the clouds, and whose voice melts people (13.1–4). In opposition to him, a great multitude gathers (congregabatur) to make war; in response, the man carves a mountain and flies to it (13.5–7). Nonetheless, the multitude advances against him, only to be routed by a stream of fire from his mouth (13.8–
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Cf. Adams, Baruch, 142–146; Moore, Daniel, 314–316; deSilva, Apocrypha, 208–210. Ps. Sol. 17.26 also expects an eschatological, messianically appointed gathering (συνάξει) of the faithful to Jerusalem and judgment. In this text, the gentiles are subservient to the gathered faithful and bring tribute to behold God’s glory (17.30–32, 34). So also Adams, Baruch, 144–145. Flusser, Psalms, 556–558 identifies a genre of “eschatological psalms”, a category to which, according to him, includes the last two chapters of Tobit, Bar 4.5–5.9, Psalms of Solomon 11, Sir 35.17–20; 36.1–17, and the “Apostrophe for Zion” in 11QPsa. It is suggestive that each of Flusser’s texts includes reference to eschatological migration. Steck, Baruch, 44. Moore, Daniel, 312–313, 316. The imagery of this scene is closely related to preceding visionary material in 4 Ezra (the ‘Eagle Vision’ in 11.1–12.51) and indebted to Daniel 7. Cf. Stone, 4 Ezra, 384. Cf. also Müller, Messias, 111–134.
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11; cf. Isa 11.4; Hos 10.10–11).84 Following his victory, the man descends the mountain and “calls to him” (advocantem ad se) a peaceful multitude. Many people respond (accedebant ad eum) (13.12–13). After an extended request (13.14–24), the vision is interpreted, identifying the man from the sea as God’s son (13.26, 32) whose appearance will bring bewilderment upon the earth and rouse military conflict. In addition to national conflicts (13.31–32), the appearance of the man will unite these forces against him (13.33–34). The mountain upon which he stands is Zion and it serves as the platform from which he judges the nations (13.35–38). This judgment leads to the appearance of the “peaceful multitude”, which he gathers (colligentum) (13.39). This group is the ten tribes who were taken across a river to another land by Shalmaneser (13.40–41). However, Shalmaneser’s plans were scuttled, as the exiles decided to “leave the multitude of the nations” to sojourn to an uninhabited land where they might keep the law (13.41–43; cf. Jos. ant. 11.133; Sib. Or. 2.170–173; T. Mos. 3.4–9; 4.9). The journey lasts one and a half years (13.45). These tribes will dwell in this land until “the last times” (novissimo tempore),85 and they are about to come again (13.46–47). The interpretation of the vision makes migration a central feature. First, the gathering of the nations envisions a mass movement of warring entities. The mechanics of the battle are minimal in comparison to 1QM, but it stands in the same traditional stream.86 Second, this event is followed by another migration that is expanded in the interpretation. The exiled tribes of the northern kingdom (cf. 2 Kgs 17.1–23), we are told, did not really go into exile in Assyria. Instead, they sojourned to an uninhabited land. The journey took one and a half years and was accompanied by miraculous signs (cf. Ex 13.21–22; 40.34–38; Num 9.15–23). Amidst this complex of migrations, the recurrent theme of crossing a river serves as a boundary marker, borrowing a literary device from the depiction of the entrance into the Land in Jos 3.14–17. The exiles in 4 Ezra are taken from the land across a river (13.40) and they cross the Euphrates (13.43) to the uninhabited land. From there, they will return and God will stop the waters so that they might pass over once more. This string of river crossings harkens to other significant migratory events in Israel’s past, including the Exodus (Ex 14), the end of the wilderness wanderings (Jos 3.14–17), and the prophetic expectation of a new Exodus (esp. Isa 11.15–16). These events apply foremost to the ten lost tribes, but ambiguities in 4 Ezra 13.13 and 48–50 indicate that people from the nations will have some role to play in a restored Israel, although the picture of restoration here is not 84 85 86
Stone, 4 Ezra, 386 points out that Isa 11.4 was understood eschatologically in the Second Temple period, used in connection with Ps 2.9 (cf. Ps. Sol. 17.23–24). This phrase “implies the proximity of eschatological events” (Stone, 4 Ezra, 405). The image of a gathered foe against Israel also finds background in numerous scriptural texts, e. g. Deut 28.49; Joel 2.1–10; Ps 2.1–2; Zech 14.2; Ezek 38–39. Cf. Stone, 4 Ezra, 385.
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universal.87 In 13.13 “many people” (hominum multorum) come to the man from the sea, some willingly (those bringing gifts and offerings) and some as prisoners (those who are bound). Michael Stone takes this verse to refer to the converted gentiles who accompany the returning exiles, enacting the text of Isa 66.20: “and they shall bring all your brothers from all the nations as an offering to the Lord […] to my holy mountain Jerusalem, says the Lord” (cf. also Ps. Sol. 17.31; Isa 55.5).88 The mention of chains also enacts part of the oracle in Isa 45.14. 4 Ezra 13.13 is interpreted in 13.48–50: these people are those who remain in the land after the defeat of the hostile nations and are protected by the man from the sea. Non-exiles take part in the restoration both as pilgrims and vassals. In this vision, migration is a marker of desired political and social realities. The unified movement of the nations against the man from the sea indicates their current powerful position following the destruction of Jerusalem in 70 CE. From all corners of the earth, they oppose the one who stands upon mount Zion. After their defeat, Israel’s exiled tribes are able to return, marked by a lengthy migration.89 They experience no opposition, but are protected by the messiah. However, the interpretation implies that others, including those already dwelling in the land, will take part in the restoration as well. The final work examined here, 2 Baruch, is closely related to 4 Ezra in a number of ways.90 It is a text oriented toward the eschatological future,91 and, for the purposes of this discussion, we zoom in on the portion of the book known as the ‘Apocalypse of the Clouds’ (53.1–74.4), which features a migratory event near the end of the work. After falling asleep (52.7), the seer beholds a cloud filled with black, multi-coloured water that covers the whole earth (53.1–4; cf. 4 Ezra 4.49; Dan 7). It rains upon the land, interchanging twelve times between black and bright waters. At the end, the blackest water rains down, bringing devastation, and a lightning appears from the cloud, healing the places upon which the black water had fallen (53.5–9). The lightning then takes control of the whole earth (53.10) and twelve rivers appear from the sea and become subservient to the lightning (53.11). After this puzzling vision, Baruch prays for an interpretation (54.1–22) and the angel Ramael appears to him (55.3), offering a lengthy interpretation of the meaning of the waters. According to Ramael, they represent periodization of Israel’s relationship with God. Ramael expands upon the material of the vision:92
87 88 89 90 91 92
Müller, Messias, 130. Stone, 4 Ezra, 387. Contra Herms, Apocalypse, 118–119. So also Aune / Stewart, Past, 160–161. Cf. Henze, 4 Ezra, 181–200; idem, Apocalypticism, 10–13. Numerous parallel texts can also be observed in Berger, Synopse. Cf. Henze, Apocalypticism, 125–126. Henze, Apocalypticism, 272–274.
90
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Order 1 2
Colour of Water Black Bright
Text 56.5–16 57.1–3
3
Black
58.1–2
4
Bright
59.1–12
5
Black
60.1–2
6
Bright
61.1–8
7
Black
62.1–8
8
Bright
63.1–11
9
Black
64.1–65.2
10
Bright
66.1–8
11
Black
67.1–9
12
Bright
68.1–8
(13) (14)
Blackest Last black waters
69.1–5 70.1–71.3
(15)
Last bright waters
72.1–74.4
Corresponding Event Transgression of Adam Abraham and his generation Sins of the nations, wickedness of Egypt (Exod 1.14) Coming of Moses, Aaron, Miriam, Joshua, and Caleb The works of the Amorites (Judg 3.5) Time of David and Solomon Jeroboam, his successors, and Jezebel; Assyrian exile Righteousness of Hezekiah and divine destruction of Sennacherib (2 Kgs 16.20; 18.1–19.37) Wickedness of Manasseh (2 Kgs 21.2) Generation of Josiah (2 Kgs 22.1) Zion’s ‘present’ situation (Babylonian destruction) Future salvation of the people, Zion rebuilt, priesthood and offerings restored, the nations come to honour Zion The End (69.5) Tumult, war, and confusion The messiah
Narrowing in on the twelfth bright waters, the angelic intermediary describes the future restoration of Jerusalem. In a time when all hope seems lost, the people will be saved and their enemies humiliated (68.2–3). They will “rejoice” (68.4; cf. Isa 35.9–10; 51.11), Zion will be rebuilt, cultic and priestly institutions renewed, and the nations “will come” to honour it (68.5–6; cf. Tob 14.5–6). The emphasis on the reinstituted priesthood and cult in 2 Bar 68.4–5 insinuates that the nations who come to Zion do so to worship. However, like 4 Ezra 13, the migration of the nations is not universal, as many are destroyed in this era (e. g. 44.15; 51.1–6; 68.7). Nonetheless, this scenario envisions at least a partial role for a selection of the nations in the coming age. Additionally, the close connection between history and the future age (cf. 2 Bar 36.1–43.4) “suggests that the two are inseparably connected to one an-
Eschatology, Migration, and Identity
91
other, the former leading to the latter and the latter richly informed by the former”93. For example, the identification of Abraham and his immediate offspring as those who first hoped for a new world and future judgement (57.2) connects the distant past with the expected future.94 While the restoration of the people to Jerusalem is implied, the sojourning of the nations to honour Jerusalem plays an important role in the eschatological outlook of the post 70 CE Jewish apocalypses.
3.
Conclusions
This preceding discussion leads to a number of observations. First, a pluriformity of eschatological beliefs permeates the literature and ideology of early Judaism. As Matthias Henze notes, “eschatological expectations differed widely from individual to individual and from group to group, depending on the group’s intellectual background, its theological orientation, and its sociopolical makeup”95. There exists no systematic articulation of eschatological beliefs, and individual features of scenarios often stand in tension with parallel expectations, both internal to certain works and in conversation with cognate texts. The primary point of dissonance between the sectarian perspective and broader currents is that the opponents of the Yaḥad never have a role in the age to come beyond destruction (CD XX 20–21, 32–33; 4Q171 III 10–13).96 In contrast, the fate of opponents in other works range from the more universalistic where opponents take part in worship of God (AA, Tobit, 4 Ezra, 2 Baruch), to the subservient (NJ, 4Q475, Baruch, Psalms of Solomon) where opponents migrate to the city as vassals. The beneficiaries of migratory events differ, influenced in part by the ways in which individual authors appropriated their scriptural traditions.97 For example, works that draw on Isaiah 11 (e. g. 4 Ezra 13.8–11; Bar 5.5–6; 1 En. 90.30), 45.14–29 (4 Ezra 13.13, 48–50; Tob 14.5–6), or 65–66 (1 En. 25.5–6; Baruch 4–5; Psalms of Solomon 11; 4Q475; NJ) tend to envision restoration as something that extends beyond the boundaries of ‘Israel’. However, even when texts draw from the same scriptural source, the selection of material can lead to differing interpretations. For instance, both 4Q176 I 15–20 and Bar 5.5–6 use traditions from Isa 40.4–5. However, 4Q176 omits the final locution of Isa 40.5 that implies that “all flesh” ( )כל־בשׂרwill see the coming of God. This variation, both in ideology 93 94 95 96 97
Henze, Apocalypticism, 126. Henze, Apocalypticism, 277–278. Henze, Apocalypticism, 278. Fuller, Restoration, 13–101 consistently highlights the complexities of early Jewish expectations of restoration. Schiffman, Qumran, 288–291. Doering, Urzeit-Endzeit, 57. This multiplicity of perspectives is also paralleled in the prophetic texts of the Hebrew Bible. Cf. Schmid and Steck, Restoration, 41–81.
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and exegesis, is a testament to the richness of Jewish intellectual life in the Second Temple period. Conversely, numerous points of connection exist between texts with differing eschatological agendas. This should come as no surprise since many writings that pre-date the formation of the Yaḥad were transmitted among the scrolls. First, there is a common expectation that Urzeit wird Endzeit – that the future will resemble the distant past.98 At times this entails the anthropological metamorphosis of all humanity to an ideal state and, in others, it involves the exaltation of the faithful community exclusively to edenic-like circumstances. For the sectarians, the transition to Urzeit had already begun within the life of the community. The return from exile and restoration of the temple come to exemplify the eschatological hopes of a broad swathe of Jewish thought, even if the individual components and scope of such hopes remained fluid.99 This discussion also indicates that portrayals of eschatological migration are confined to marginalised groups that felt they were currently in exile.100 Both the Yaḥad and other Jewish works approached the eschaton from the viewpoint of exile and diaspora, even if the authors of these texts or the groups they represent were physically located in Palestine.101 The Yaḥad understood their situation as voluntary exile (CD IV 3; VI 5; VIII 21; XIX 34; XX 12), and Tobit, Baruch, 4 Ezra, and 2 Baruch adopt exilic perspectives. AA also articulates dissatisfaction with the Second Temple and the “blind” rulers of Israel (1 En. 89.73). As a counter example, the Maccabean literature is silent on the issue of migration in the age to come, since they generally place their hopes for an ideal future in the hands of the Hasmonean dynasty.102 The difference between the Yaḥad and the ideology of a composition like 1 Enoch is that the Qumran community viewed their own activity as a proleptic experience of the post-exilic age. Migration in the sense of restoration to Jerusalem is only necessary if one is currently separated geographically or spiritually from the temple and political influence. The New Jerusalem theme running through many of the texts is a symptom of exile and / or displeasure with the prevailing situation in Jerusalem. The migration of the nations to a central location for judgment is indicative also of antagonistic social distinctions that define the exilic experience. Not only is there probative cause for conflict with the ruling parties, but also for tension with the foreign overlords.103 For the authors of the works examined above, the restoration did not take place in the Persian period or with the ad-
98 99 100 101 102 103
Doering, Urzeit-Endzeit, 56. Gregory, Rebuilding, 174–175. VanderKam, Exile, 94–109 and Abegg Jr., Exile, 111–125. Schwartz, Studies, 19–24; Hacham, Exile, 3–21. Schürer, History, 500. Cf. Schiffman, Qumran, 81–97. Of course other Hellenistic Jewish works have a positive appraisal of the temple, e. g. Letter of Aristeas, Aristobulus, and Philo.
Eschatology, Migration, and Identity
93
vent of the Hasmonean dynasty, but remains a future event. Their dissatisfaction with the prevailing social dynamics works itself out within their presentation of the coming age, an age where the ideal social order becomes a reality through divine action. The various expectations are due not only to the theology or exegesis of a given author, but also to the fact that social identities in this period were not static.104 Within the texts examined above, we find a pluriformity of ‘Jewish identities’ expressed in the eschatological hopes of various authors, reworked and redacted over an extended period of time. As a result, the function of migration in eschatological scenarios illuminates the intersection of socio-political perceptions, historical consciousness, and exegetical proclivities.
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Die philosophisch-allegorische Deutung der Migration Abrahams durch Philo von Alexandrien in De Virtutibus 211–219 und De Abrahamo 68–88. Migration als monotheistischer Erkenntnisprozess Adrian Wypadlo
1.
Philo von Alexandrien – der geniale Denker des hellenistischen Judentums
Migration ist ein Standardthema menschlicher Kulturgeschichte über Zeiträume und Kulturgrenzen hinweg und die Heilige Schrift – insbesondere das Alte Testament – ist ein Buch diverser Migrationsbewegungen. Urbild des migrierenden und zugleich gottsuchenden Menschen ist dabei in den Bahnen des Prätextes von Gen 12–15 der Erzvater Abraham. In diesem Aufsatz soll an zwei Beispielen gezeigt werden, wie Toratexte, die sich im engeren Sinne mit Wanderungsbewegungen Abrahams befassen, im Raum des hellenistischen Diasporajudentums neu gedacht und damit im Hinblick auf ihre Entstehungszeit neu kontextualisiert und aktualisiert werden. Beiden ausgewählten Textstellen gemeinsam ist die Transformation der eigentlichen Wanderungsbewegung Abrahams in ein dem jüdischen Monotheismus verpflichtetes philosophisches Ideal. Anders formuliert: Eine Migration wird als monotheistischer Erkenntnisprozess und als damit zusammenhängender Tugenderwerb inszeniert. Unser Gesprächspartner hierzu ist Philo von Alexandrien (um 20 v. Chr. bis um 45 n. Chr.),1 dessen Opus eine Vielzahl von Migrationsbewegungen
1
Zahlenangabe bei Böhm, Rezeption, 38. Ähnlich auch Seland, Philo, 4f. Eine kompakte Kurzbiographie bietet von Bendemann, Philo, 7f. Die Daten des Lebens Philos sind freilich nur ungefähr zu erheben. So verzichtet Kaiser, Philo, 25 auf eine Datierung des Lebens Philos, verweist jedoch überzeugend auf dessen Selbsteinschätzung in Leg. Gai 1 und 182, wonach sich Philo zum Zeitpunkt der Legatio zu οἱ γέροντες rechnet und damit wohl als ‚alt‘ bezeichnet. Die Datierung der Leitung der Gesandtschaft der alexandrinisch-jüdischen Gemeinde zu Kaiser Gaius (Caligula) auf die Jahre 39/40 n. Chr. empfiehlt es, seine Geburt in den Zeitraum 30–10 v. Chr. zu legen. Genauere Angaben werden kaum möglich sein, was die in der Forschung vorliegende Schwankungsbreite erklärt. Philos Lebensdaten weisen damit eine partielle Überschneidung mit den Lebensdaten des Jesus von Nazareth und Paulus von Tarsus auf, wobei der Alexandriner an keiner Stelle Kenntnisse des neu entstehenden Christentums aufweist. Ohnehin liegen sichere Kenntnisse über das Christentum in
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philosophisch, teilweise sogar allegorisch interpretiert.2 Philo ist für uns aufgrund der vergleichsweise hohen Zahl der von ihm erhaltenen Werke der prominenteste Vertreter des gebildeten Judentums Alexandrias:3 Er ist Theosoph, der seinen den Moseschriften verdankten jüdischen Glauben als beste aller Philosophien darstellen möchte,4 Philosoph,5 in erster Linie aber Ausleger der LXX.6 Das Opus Philos ist für den religionsgeschichtlich arbeitenden Exegeten ein wahrer Glücksfall, da uns mit diesem Werk ein Einblick in die alexandrinische Exegese der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts ermöglicht wird, „die es in dieser relativen Geschlossenheit für die Antike so nicht noch einmal gibt“7. Es ist Ausweis seiner intimen Kenntnisse unterschiedlicher Auslegungstraditionen im alexandrinischen Judentum,8 was sich aus der in der Philo-Forschung allgemein akzeptierten Unterteilung seines Werkes in drei große Schriftenreihen deutlich zeigt, die im Hinblick auf das intendierte Publikum diverse Auslegungstraditionen vitalisieren: Im Folgenden unterscheide ich innerhalb des Opus Philos die Expositio Legis, die Quaestiones et Solutiones und den Allegorischen Kommentar. Gerade als Schriftausleger ist Philo alles andere als ein
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Alexandrien erst aus der Mitte des 2. Jh. vor. Vgl. dazu die Ausführungen bei Theobald, Evangelium, 94f. Vgl. auch Fürst, Christentum, 70–72. Das Corpus Philonicum enthält eine Fülle von Abrahamrezeptionen und -interpretationen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeiten seien genannt: Abr. 60–276; Virt. 211–219; Praem. 27–30.57f.61; Vit. Mos. I 7.76; All. I 59; III 83–85; Cher. 4– 10.18.31.40; Sacr. 5.43.59; Det. 9f.124; Post. 17f.27.65.75; Ebr. 24; Sobr. 17f.56; Conf. 79; Migr. 1–225; Her. 1–316; Congr. 1–180; Fug. 200; Mut. 1–270; Som. I 64– 67; Quaest. Gen. III 1; IV 153. Weitere Stellen bei Böhm, Abraham, 378. Einen ersten Überblick zu Abraham im erhaltenen Opus Philos bietet Hahn, Gestalt, 203–215. Vgl. dazu Noack, Gottesbewußtsein, 5f. Noack nennt als Bildungsorte Philos „Synagoge, Synagogenschule, Gymnasium, Ephebie, öffentliche Verlesung, öffentliche Bibliothek, private Philosophenschule“. Vgl. dazu auch Mendelson, Education, 29–33; Runia, Philo, 32–34. Ähnlich auch Böhm, Rezeption, 17. Vgl. dazu Noack, Gottesbewußtsein, 8–10. Man wird nicht darin fehlgehen, Philo als einen Zeugen des im 1. Jh. n. Chr. in Alexandria immer wichtiger werdenden Platonismus zu werten. Vgl. dazu die hilfreichen Ausführungen bei Tobin, Creation, 10–19. Als LXX-Ausleger ist Philo eingebettet in einen Strom jüdischer Schriftexegese in Alexandria. Vgl. dazu Mack, Traditions, passim; Mack, Philo, passim; Sandelin, Philo, 25f. Der Text der LXX wird von Philo weitestgehend mit der Tora identifiziert, die ihm als vorgegebene, mit absoluter Gültigkeit ausgestattete Größe erscheint, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln interpretiert, wobei die anderen Corpora der LXX allenfalls illustrativ hinzutreten. Dass Philo sich auch als Politiker verstand, ist eine wichtige Randnotiz, die aber im Zusammenhang unserer Fragestellung zu vernachlässigen ist. Vgl. dazu Goodenough, Politics, passim. Neuerdings auch Seland, Citizen, passim. Mit Böhm, Abraham, 382. Zu den alexandrinischen Auslegungstraditionen (Arist; Aristobulos; Demetrios u. a.) vgl. Böhm, Rezeption, 46f.
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Einzelphänomen,9 er ist vielmehr Exponent der intellektuell hochstehenden jüdischen Minderheit Alexandrias, die „Anschluß an die herrschende Bildungskultur gefunden hat“, ohne aber im Hellenismus naht- und konturlos aufzugehen.10 Philos „die jüdische als auch die griechische Kultur in bewundernswerter Weise“ umschließende „Bildungsbreite“11 und die damit einhergehende denkerische Leistung oszilliert zwischen „Affirmation der hellenistischen Bildungskultur“ und einer selbstgewählten, seiner jüdischen Identität geschuldeten Distanz zu dieser.12 Als solchem geht es ihm primär „um eine philosophisch avancierte, ‚moderne‘ Deutung des kanonischen Toratextes“13, der für ihn normative Geltung behält. Dies geschieht unter Zuhilfenahme platonischer, stoischer, aristotelischer und neupythagoreischer Ansätze, wobei der Platonismus die führende Denkrichtung darstellen dürfte.14 Kennzeichnend für Philos denkerische, die Wanderung Abrahams in den Blick nehmende Bewegung ist die Weite seines Migrationsbegriffs im Spannungsfeld seiner Treue zur Tora, die für ihn Ausgangs- wie Endpunkt seines Denkens darstellt, und seiner Offenheit für eine philosophische Daseins- und Existenzerhellung, der er aber ein Einspruchsrecht gegenüber der Richtigkeit biblischer Aussagen nicht gestattet.15 Im Gegenteil: Philosophische Spekulation steht in Diensten des Wahrheitserweises der Tora. Philo setzt dabei voraus, dass der Toratext eine jenseits des geschriebenen Wortes liegende tiefere Wahrheit enthält. Erst die allegorische Lektüre vermag die Schönheit, aber auch den Wahrheitsgehalt des dem Mose geoffenbarten Textes vollends offenzulegen. Exegese hat daher – ohne den Literalsinn völlig abzulehnen – von vornherein den Tiefencharakter des inspirierten Toratextes im 9
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Vgl. dazu z. B. Georgi, Weisheit, 249, Anm. 15: „Er ist sicher keine Einzelfigur, sondern spricht für eine bestimmte Form des Diasporajudentums.“ Frucht der Philo-Forschung der vergangenen Jahrzehnte ist der Verzicht auf die Rede von Philos angeblicher Randposition innerhalb des antiken Judentums. Im Gegenteil: Philo gehört in den Kernbereich des hellenistischen Judentums, er betreibt Exegese unter Heranziehung aller ihm zur Verfügung stehenden Traditionen, Denk-, Sprach- und Argumentationsmuster. Zu Philo als LXX-Ausleger vgl. insbesondere die wegweisende Studie von Mack, Traditions, passim. Philo liebt es zudem, die Position anderer Denker wie Schriftausleger mittels eines – eine gewisse Distanz signalisierenden – τινες einzuführen. Dazu führt Sellin, Allegorese, 116 aus: „Er [scil. Philo] hält sich vielmehr an die Sitte (oder Unsitte) der Stoiker, an die sich auch Paulus hält, Vertreter anderer Meinungen mit einem allgemeinen τινες zu bezeichnen.“ Mit Noack, Gottesbewußtsein, 5. Von Bendemann, Philo, 15. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 5. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 8. Philo weist eine intime Kenntnis der Schriften Platons auf. Vgl. dazu Runia, Philo, passim. Beachtlich und bewundernswert ist die Breite der Bildung Philos, wozu die Kenntnis der griechischen Dichtung von Homer bis Theokrit ebenso gehört wie die genaue Kenntnis der vorsokratischen, platonischen, aristotelisch-peripatetischen, pythagoreischen wie auch hellenistischen Philosophen. Vgl. Noack, Gottesbewußtsein, 9f.
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Blick zu behalten und die Allegorese gilt Philo als „der Königsweg, die universale, substantielle Wahrheit der gesamten Schrift zu entschlüsseln“16, was aber im Gegenzug nicht heißt, dass jede Form der Schriftauslegung Philos als allegorisch zu deuten ist. Trotz seines der LXX verpflichteten Interesses an Migrationsbewegungen dürfen wir uns Philo als einen vergleichsweise ortsfest Alexandria verpflichteten Privatgelehrten aus wohlhabendem Haus vorstellen,17 der sich eine exegetisch-philosophische Beschäftigung jenseits der Existenzsicherung leisten konnte und neben der Anführung der Gesandtschaft zu Kaiser Gaius (Caligula) im Winter 39/40 n. Chr.,18 ggf. einige Wallfahrten nach Jerusalem unternahm, was mit einer gewissen Vorsicht Prov. II 10719 entnommen werden kann.20 Das Interesse an Migrationsbewegungen ist daher kaum biographisch begründet, sondern fällt mit seinem Interesse an seiner Bibel in eins.
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Mit Noack, Gottesbewußtsein, 12. Das bedeutet freilich nicht, dass Philo sich grundsätzlich vom Literalsinn der mosaischen Schriften verabschiedet hätte. Dagegen sprechen seine Ausführungen in Migr. 89–93, in denen sich Philo mit ‚radikalen‘ Allegoristen auseinandersetzt, denen er die Abrogation jüdischer Identity-markers vorwirft. Dieser Text lässt auf innerjüdische Streitigkeiten hinsichtlich der Auslegung der LXX in den Synagogen Alexandrias zu Lebzeiten Philos schließen. Eine lebendige Darstellung Alexandrias als Ort der schöpferischen Tätigkeit Philos findet sich bei Kaiser, Philo, 43–51. Die Tatsache seiner Berufung zum Führer der Gesandtschaft der alexandrinischen Juden nach Rom in den Wintermonaten 39/40 n. Chr. lässt gleichwohl auf seine hohe Reputation im alexandrinischen Judentum schließen und indiziert den Grad seiner Anerkennung. Dazu führt Böhm, Rezeption und Funktion, 56 überzeugend aus: Philo war „kein geistig-elitärer oder gar häretischer Außenseiter, sondern ein bekannter und breiter akzeptierter Repräsentant der jüdischen Bevölkerung seiner Stadt.“ Zu den Hintergründen der Gesandtschaft zur Caligula vgl. Seland, Citizen, 64–68. Für die über die Grenzen des Judentums hinausgehende Bekanntheit Philos spricht nicht zuletzt die Rezeption und Tradierung philonischer Schriften im Raum der Alten Kirche. Mit Haacker, Geschichtstheologie, 215. Böhm, Rezeption, 38 mit Anm. 2. Böhm schließt auch aus Spec. Leg. I 72f. indirekt auf eine Jerusalem-Wallfahrt Philos. Die Wallfahrten Philos nach Jerusalem offenbaren, dass das alexandrinische Judentum trotz aller hellenistischen Sozialisation „eine innere Verbindung mit dem palästinischen Mutterland, insbesondere eine Loyalität zum Jerusalemer Tempel, behielt“. Mit Böhm, Rezeption, 47. Weniger ins Gewicht fallen die in All. II 85 angedeuteten Rückzüge aus dem hektischen Stadtleben Alexandriens (hier: πάτρις) ins alexandrinische Hinterland.
Deutung der Migration Abrahams durch Philo
2.
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Die Textauswahl Virt. 211–219 und Abr. 68–88
Die Schriften De Virtutibus21 und De Abrahamo22 sind – auch wenn Philo selbst seinem Schrifttum keine Systematik zugeordnet hat – wahrscheinlich der dritten und letzten Periode des die LXX, konkret die Tora, auslegenden literarischen Wirkens Philo zuzuordnen.23 In der Philo-Forschung werden beide unter die Expositio Legis gezählt.24 Beiden Texten gemeinsam ist die Tatsache, dass die Hürden für das Verständnis der die LXX auslegenden Ausführungen wesentlich niederschwelliger angelegt werden, als es im Fall der Schriftenreihen Allegorischer Kommentar und der Quaestiones der Fall ist. Sie sind weniger als ‚philosophischer Lehrvortrag‘ als vielmehr als ‚geistlichambitionierte Schriftlesung‘ mit philosophischem Impetus treffend charakterisiert. Äußeres Kennzeichen hierfür ist der weitgehende Verzicht auf eine Zitation der LXX25 sowie die striktere Trennung zwischen Wortsinn und allegorischer Deutung, wobei nicht der auszulegende Toratext als vielmehr das verhandelte Thema den Gang der Argumentation beherrscht.26 So wird vor dem Hintergrund des zu behandelnden Themas der Stoff des zugrundeliegenden LXX-Abschnittes paraphrasierend wie auch interpretierend nacherzählt.27 Als intendiertes Lesepublikum sind von daher interessierte Heiden, Proselyten oder religiös nicht tiefer gebildete Juden zu denken.28 Christian Noack bezeich21 22
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Zur Forschungsgeschichte zu Virt. vgl. Hilgert, Review, passim. De Abrahamo stellt einen Primärtext dar, der sich durch seine Auslegung von Gen 11,27–26,5 LXX auf einen Textbereich bezieht, der auch in der LXX gänzlich dem Patriarchen Abraham gewidmet ist. Die auf De Abrahamo aufbauenden Isaak (De Isaaco) und Jakob (De Iacobo) behandelnden Primärtexte Philos sind verloren gegangen. Zu dieser dritten Schriftenreihe sind ferner zu zählen: Op.; Jos.; Vit. Mos. I/II; Decal.; Spec. Leg.; Praem. Eine Kurzeinführung in die Konzeption der Schriftenreihe Expositio Legis bietet Wilson, Virtues. Zur umstrittenen Zugehörigkeit von Vit. Mos. I/II zur Expositio Legis vgl. die – die Argumentation von Goodenough, Exposition weiterführenden – Ausführungen von Böhm, Rezeption, 24f. Vgl. zur Expositio Legis allgemein Siegert, Interpretation, 167. Vgl. Böhm, Rezeption, 118. Im Hinblick auf unsere Thematik: In Virt. 211–219 dominiert nicht die Exegese von Gen 12–15, sondern das von Philo verhandelte Thema, konkret die monotheistische Metanoia des Abraham. In Abr. 60–207 ist die Frömmigkeit des Abraham das alles beherrschende Thema. Dennoch sollte davon Abstand genommen werden, angesichts der Expositio auf die Rede von einer ‚Kommentierung‘ des biblischen Textes zu verzichten. So etwa bei Sellin, Allegorese, 91–95. Auch die Auslegungen der Expositio Legis vermitteln zwischen dem LXX-Text und dem Leser / der Leserin und sind somit als ‚Kommentar‘, wenn auch mit selektierender Intention zu werten. Wiefel, Buch, 875 formuliert zur Expositio Legis: „Bei der Expositio Legis wäre vielleicht an apologetische Vorträge zu denken, die auch sympathisierende Nichtjuden erreichen sollten.“ Dazu passt, dass im Hinblick auf die Darstellung des Judentums in
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net diese Schriften in seiner Philo-Dissertation mit dem Titel „Gottesbewußtsein“ – nicht zu Unrecht – als „missionstheologisch“, dahingehend, dass ihre Intention die „ständige innerliche Einübung der monotheistischen Wirklichkeitswahrnehmung“ ist,29 womit auch ein Präferenzthema philonischen Denkens getroffen ist. Der erstgenannte Text, der Abschnitt Virt. 211–219,30 ist ein Spitzentext philonischer Genesis-Exegese, der in der Philo-Forschung dementsprechend bereits des Öfteren Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.31 Abraham wird hier als Musterbeispiel eines Menschen mit ‚schlechter‘ Herkunft vor Augen geführt, der ausgehend von seiner monotheistischen μετάνοια zum Inbegriff vollkommener Tugendhaftigkeit geworden ist.32 Kennzeichen dieses Textes, der weitgehend ein nicht-allegorisierendes Enkomion auf Abraham darstellt,33 ist die Deutung des Auszugs des Abraham als dessen monotheistischen Gotteserkenntnis-Prozesses, sodass Abraham hier als Modell des gottesfürchtigen, bekehrungswilligen und für die rechte Philosophie offenen Heiden dargestellt wird, der als solcher den Aufbruch wagt und infolgedessen mit allen notwendigen Tugenden beschenkt wird.34 Zielpunkt der Gedankenentwicklung in Virt. 217 ist der prophetische ἐνθουσιασμός des Abraham, wobei die eigentliche Migration als gottsuchendes, inspiratorisches und pneumatisches Ereignis dargestellt wird zwischen dem polytheistischen Irrglauben als
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der Expositio Legis eine Außenposition eingenommen wird, die geeignet ist, nichtjüdische Leserinnen und Leser in den vorgelegten Gedankengang einzubeziehen. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 58 (kursiv i. Orig.). Vgl. ferner Kaiser, Philo, 35. Aufgabe der philonischen Schrift De Virtutibus ist der Aufweis der Tugendhaftigkeit der mit der Tora gleichgesetzten ‚mosaischen Philosophie‘. In Virt. 1–50 wird die Tugend der Tapferkeit (περὶ ἀνδρείας) abgehandelt. In 51–174 wird die Menschenfreundlichkeit (φιλανθρωπία) behandelt. Der Abschnitt Virt. 175–186 beinhaltet exkursorische Aussagen zur „Umkehr“ (περὶ μετανοίας) und arbeitet somit der späteren Abraham-Thematisierung vor. Der abschließende Teil liegt in Virt. 187–227, in dem der „wahre Adel“ (περὶ εὐγενείας) besprochen wird, für den Abraham das leuchtendste Beispiel ist. Dabei liegt selbstverständlich ein ethisch-transformiertes Verständnis des Adels vor, insofern sich der wahre Adel am Besitz von Tugenden entscheidet. Philo betreibt somit eine Individualisierung und ‚Demokratisierung‘ des ursprünglich aristokratisch-elitären εὐγένεια-Begriffs mittels seiner Ethisierung vor. Vgl. dazu Noack, Gottesbewußtsein, 42; Wypadlo, Verklärung, 336f. mit Anm. 243. Zu verweisen ist insbesondere auf Noack, Gottesbewußtsein, 36–103. Ferner Georgi, Gegner, 76–81; Friedländer, Geschichte, 302–310; Wypadlo, Verklärung, 335–349. Vgl. Wypadlo, Verklärung, 340. Der in missionstheologischer Hinsicht werbende Charakter von Virt. 211–219 ist zwar offensichtlich, doch sollte Abstand davon genommen werden, den Text mittels einer allegorischen Deutung von Gen 12,1ff. auslegen zu wollen. Die Vorbildlichkeit Abrahams steht außer Frage, doch wird Abraham hier (anders als etwa in Abr. 68) nicht als Symbol für die den einen und wahren Gott suchende Seele gedeutet. Eine Seelenallegorese liegt demnach keinesfalls vor, wohl aber eine in sich geschlossene Lobrede auf Abraham. Die in der Philo-Forschung üblich gewordene Versprachlichung dieses Befundes im Hinblick auf die Expositio Legis lautet „Abraham ist […] der Prototyp des Proselyten“. Vgl. für viele Böhm, Abraham, 390.
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Ausgangspunkt und der monotheistischen Gotteserkenntnis und der damit verbundenen „Begeisterung“ / ἐνθουσιασμός als Schlusspunkt der Argumentationskatene. Doch schafft es Philo, in diese Gedanken weitere Präferenzthemen seiner Philosophie zu integrieren. Zu nennen wäre hier die Bekehrung an sich (212–214), die Gottesschau (215) und der Glaube als höchste Erkenntnisform (216). Stärker allegorisierend ist der zweite Text Abr. 68–8835, insofern Abraham als Symbol der Gott suchenden, lernenden Seele begriffen wird, wobei er auch hier als Einzelperson ernst genommen wird, sodass trotz einer gewissen hier vorliegenden allegorisierenden Lektürerichtung36 eine entpersonalisierende Tendenz – wie sie oft im Allegorischen Kommentar sowie in den Quaestiones begegnet, nach der Abraham ausschließlich als Symbol für eine bestimmte geistige Haltung wahrgenommen wird, – nicht festzustellen ist.37 Richtig ist aber, dass Abraham in beiden auszulegenden Textstellen trotz der Achtung seiner Individualität zur Verkörperung einer bestimmten, dem missionstheologischen Charakter der Schrift geschuldeten Tugend wird. Die oberste Tugend ist – wie zu zeigen ist – der Glaube und die mit diesem verbundene Frömmigkeit (εὐσέβεια),38 der bzw. die alle weiteren Tugenden nach sich ziehen.39 In beiden Fällen wird die Migration des Abraham als dessen durch die monotheistische Gotteserfahrung initiierte Bewusstseinswandlung beschrieben, auf deren Spitze der angesprochene prophetische ἐνθουσιασμός steht. So bieten beide Textbeispiele Philo das Forum, seine Präferenzthemen wie „Gottesvorstellung, Kosmologie, Anthropologie und Ethik“40 am Beispiel des Abraham anschaulich zu behandeln.
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Die Gliederung von De Abrahamo ist vergleichsweise schlicht gehalten: Abr. 1–6: Vorverständigung über das Vorhaben; Abr. 7–47: Enosch, Henoch und Noah als Vorläufer des Patriarchen; Abr. 48–59: Charakterisierung der Patriarchentrias als ἀρχηγέται τοῦ ἡμετέρου ἔθνους; Abr. 60–276: Enkomion auf Abraham. Nach Priessnig, Form, 148 sind es die in De Abrahamo vorliegenden ‚allegorischen Einlagen‘, die die Form einer regelrechten Biographie ‚sprengen‘. Auch De Abrahamo kann als Enkomion bezeichnet werden. Auffälligerweise benutzt Philo selbst diese Bezeichnung, wenn er in Abr. 217 formuliert: ἡ λέξις ἐγκωμιαστική. So ist der Großabschnitt Abr. 60–207 der εὐσέβεια des Abraham insgesamt gewidmet. De Abrahamo und De Virtutibus gehen somit vom Prinzip der Reziprozität aus: Das Streben des Menschen nach Tugend und nach der über diese zu erreichenden Vollkommenheit fällt in eins mit der Ausrichtung des Menschen auf Gott hin, wobei das göttliche Handeln am Menschen als göttliche Antwort auf die menschliche Suchbewegung begriffen wird. So urteilt im Hinblick auf die Expositio Legis insgesamt Böhm, Rezeption, 122.
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3.
Die Migration des Abraham als monotheistischer Erkenntnisprozess (Virt. 211–219)
3.1
Abrahams ‚schlechte‘ Herkunft I (Virt. 211)
Der Abschnitt Virt. 211 ist als zweigeteilter Übergangsvers konzipiert.41 Während die Teilverse 211a–c von einer τάξις von Menschen sprechen, denen ihre ‚edle‘ Herkunft aufgrund von Boshaftigkeit oder sittlicher Verderbtheit nichts nützte, stellt Abraham trotz seiner ‚schlechten‘ Herkunft eine gegenteilige Ordnung von Menschen dar, wie Philo in Virt. 211d–f darstellt42: d e f d e f
ἔχω δ᾽ εἰπεῖν ἑτέρους τὴν ἐξ ἐναντίας ἀμείνω τεταγμένους τάξιν, οἷς πρόγονοι μὲν ὑπαίτιοι, ζηλωτὸς δὲ καὶ ἀνάπλεως εὐφημίας ὁ βίος. „Ich habe von anderen zu reden, die im Gegensatz zu diesen eine bessere Ordnung (von Menschen) darstellen, deren Altvorderen zwar Schuldige waren, deren Leben aber beneidenswert ist und im besten Rufe steht.“
Mit diesem programmatischen Satz wird die Beschreibung der Migration des Abrahams eingeleitet, mit der Philo Gen 12 auslegt.43 Den Auszug Abrahams aus Chaldäa (Gen 12,1–5) deutet der Alexandriner als Abwendung vom astronomischen Götzendienst seines Vaters und als Hinwendung zum wahren Gott Israels. Dieser Auszug wird dabei sowohl als Bewusstseinswandlung als auch als Tugenderwerb gedeutet. Der im Folgenden aufzuzeigende Adel (εὐγένεια) des Abraham liegt für Philo demnach nicht in seiner Herkunft begründet – diese war aufgrund seiner chaldäisch-polytheistischen Herkunft sogar ausgesprochen schlecht –, er wird vielmehr in seiner μετάνοια verankert, wobei der Tugendbegriff konsequent an die Gottesbeziehung gebunden wird.44 Philo betreibt somit eine theologisch-ethisierende Transformation des ursprünglich aristokratisch-elitären Adelsbegriffs,45 was durchaus dem stärker ethisch ausgerichteten Charakter der an De Specialibus Legis sich anschließenden Schrift De Virtutibus gerecht wird. Die μετάνοια wird nun im Folgenden als ein sukzessiv erfolgender Prozess beschrieben, dessen Spitze der prophetische ἐνθουσιασμός des Abraham darstellt. Metanoia und Migration des Abraham 41
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Philo führt in Virt. 198–210 vier Beispiele ein (Adam und Kain; Noah und Ham; Gott und Adam; Isaak und Esau), mit denen er die Insuffizienz einer vornehmen Herkunft nachweisen möchte, sofern sich diese mit einem nichttugendhaften Leben verbindet. Philo entfaltet somit den ersten Teil seiner in Virt. 189 ausgesprochenen These, dass nur bei Vernünftigen und Gerechten (τοὺς σώφρονας καὶ δικαίους) von Adel zu sprechen ist. Mit Wilson, Virtues, 390.404. Nach dem Beispiel Abrahams (212–219) fügt Philo in Virt das Beispiel der Tamar sowie zweier weiterer, namentlich nicht genannter Frauen an (Virt. 220–227). Vgl. Böhm, Rezeption, 89f. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 42.
Deutung der Migration Abrahams durch Philo
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fallen demnach weitgehend in eins und werden durch die prophetische ‚Begeisterung‘ gleichsam gekrönt.
3.2
Abrahams ‚schlechte‘ Herkunft II (Virt. 212) a b c d e a b c d e
τοῦ τῶν Ἰουδαίων ἔθνους ὁ πρεσβύτατος γένος μὲν ἦν Χαλδαῖος πατρὸς δὲ ἀστρονομικοῦ τῶν περὶ τὰ μαθήματα διατριβόντων, οἳ τοὺς ἀστέρας θεοὺς νομίζονται καὶ τὸν σύμπαντα οὐρανόν τε καὶ κόσμων, παρ᾽ οὓς τὸ τε εὖ καὶ τὸ χεῖρον ἑκάστοις φασὶν ἀποβαίνειν, οὐδὲν ἔξω τῶν αἰσθητῶν αἴτιον ὑπολαμβάνοντες εἶναι. Der Ahnherr des Volkes der Juden war nämlich von Abstammung her Chaldäer. Sein Vater war Astronom, welche sich mit Mathematik befassen, welche meinen, dass die Sterne Götter seien und auch der gesamte Himmel und auch der Kosmos, von welchen – so sagen sie – sowohl das Gute als auch das Schlechte jedermann herabgesandt wird, glaubend, dass keine Ursache außerhalb der wahrnehmbaren Dinge ist.
In Virt. 212 präzisiert Philo die Abstammung des Abraham, ohne ihn explizit beim Namen zu nennen. Dessen negative Herkunft und damit den Ausgangspunkt seiner Migration macht der Alexandriner, Gen 11,28.31 und 15,7 interpretierend, an der chaldäisch-„astrologischen“ Abstammung fest,46 wobei die heute selbstverständliche Differenzierung von Astronomie und Astrologie von Philos Sprachgebrauch fernzuhalten ist.47 Der missionstheologische Impetus der Aussagenreihe zeigt sich in der vergleichsweise distanzierten Einführung des Abraham als τοῦ τῶν Ἰουδαίων ἔθνους ὁ πρεσβύτατος in 212a, womit das Interesse auch der nicht-jüdischen Öffentlichkeit auf ihn gelenkt und Abraham als Vorbild einer etwaigen neuen Lebensausrichtung vor Augen gestellt werden soll.48 Die ‚schlechte Herkunft‘ begründet Philo in 212b mit der Tatsache, dass 46
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Zur semantischen Koinzidenz der Begriffe ‚Chaldäer‘ und ‚Astronom / Astrologe‘ in der antiken Literatur vgl. z. B. Hdt. Hist. 1.181; Strab. Georg. 16.1.6; Cic. Div. 1.1.2; Arr. Anab. 7.17.1; Jos. Ap. 1.129. Bei der Verwendung des Lexems χαλδαῖος fokussiert Philo die Äquivalenz dieses Begriffs mit ‚Astrologe‘. Die Denominationen ‚Bewohner von Mesopotamien‘ oder ‚Mensch mit hebräischer Sprache‘ sind an dieser Stelle nicht zu greifen. Vgl. zu diesem Komplex Wong, Use, 1–14. Astrologische Überlegungen werden von Philo grundsätzlich kritisch gesehen, obwohl er in Vit. Mos. I 23f. im Hinblick auf die Ausbildung des Mose einräumt, dass hierzu auch die ‚chaldäische Wissenschaft‘, also die Beschäftigung mit Himmelskörpern gehörte. Wie ein Kommentar zu den in Virt. 212 genannten Inhalten der astrologischen Lehre erscheint der Abschnitt Abr. 69, in dem Chaldäer und Astrologen weitgehend gleichgesetzt werden. Positiv wertet hingegen Josephus in Ant. I 166–168 die astrologischen wie mathematischen Kenntnisse des Abraham, die als solche positiv von den Ägyptern aufgenommen und an die Griechen weitergegeben wurden. Vgl. Siker, Abraham, 188–208, bes. 194–196.
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Abrahams Vater Astronom war, „einer von denen, die sich mit Mathematik beschäftigen“ (πατρὸς δὲ ἀστρονομικοῦ τῶν περὶ τὰ μαθήματα διατριβόντων), womit eindeutig die Tätigkeit von Astrologen gemeint ist.49 Die Negativeinschätzung der Astrologie seitens Philos wird in Virt. 212 recht deutlich ausgesprochen, wenn er als ‚Weltanschauung‘ der chaldäischen Astrologen50 angibt οἳ τοὺς ἀστέρας θεοὺς νομίζονται καὶ τὸν σύμπαντα οὐρανόν τε καὶ κόσμων – οὐδὲν ἔξω τῶν αἰσθητῶν αἴτιον ὑπολαμβάνοντες εἶναι (vgl. Migr. 179) und damit die zeitgenössische Astrologie kritisch in den Blick nimmt.51 Somit projiziert er wohl die diesbezügliche inner-alexandrinische Auseinandersetzung der Abfassungszeit von De Virtutibus in die Zeit Abrahams zurück und erklärt sie zum Ausgangspunkt der abrahamitischen Migration.
3.3
Philos Kritik der astrologischen Wirklichkeitswahrnehmung (Virt. 213) a b c d e f a b c d e f
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τούτου δὲ τί ἂν εἴη χαλεπώτερον ἢ μᾶλλον ἀπελέγξαι τὴν ἐν τῇ ψυχῇ δυσγένειαν δυνάμενον δι᾽ ἐπιστήμης τῶν πολλῶν καὶ δευτέρων καὶ γενητῶν εἰς ἀνεπιστημοσύνην ἰούσῇ τοῦ ἑνὸς καὶ πρεσβυτάτου καὶ ἀγενήτου καὶ ποιητοῦ τῶν ὅλων καὶ διά τε ταῦτα ἀρίστου καὶ διὰ μυρία ἄλλα, ἃ διὰ μέγεθος ἀνθρώπινος λογισμὸς οὐ χωρεῖ; was könnte es Schlimmeres / Gefährlicheres geben und was könnte mehr überführen die unedle Gesinnung in der Seele, kommend durch die Kenntnis der vielen, sekundären und gewordenen Dinge zur Unkenntnis des Einen und Ältesten und Ungeschaffenen und des Schöpfers aller Dinge der der Edelste ist wegen dieser und Myriaden anderer, welche wegen ihre gewaltigen Menge kein menschlicher Geist fassen kann?
Vgl. Klauck, Umwelt, 186: „Mathematici hießen in der Antike nicht die Mathemati-ker, sondern die Astrologen.“ Zum Konnex von ‚Mathematik‘ und ‚Astrologie‘ vgl. z. B. Juv. Sat. 14, 248–250; Plat. Resp. 528e. Zur philonischen Einschätzung der Astronomie als der „Königin der Wissenschaften“ (βασιλίδα τῶν ἐπιστημῶν) vgl. Congr. 49–51. Der Herkunft nach wird Abraham als „Chaldäer“ bezeichnet: γένος μὴν ἦν Χαλδαῖος. Vgl. zu dieser Bezeichnung und ihrer Nähe zum Begriff ‘Astronom’ in der Expositio Legis Wong, Use, passim, bes. 5: „Hence the use of Chaldean clearly emphasizes the astrological features of the ῾old᾽ system which Abraham has left behind.“ Zur im jüdischen Monotheismus begründeten Negativeinschätzung der Astrologie vgl. Böhm, Rezeption, 195 mit Anm. 351. Die Beschreibung der Weltanschauung der Chaldäer, die Philo in Migr 179 bietet, stellt diese zudem als Proto-Stoiker dar, nach denen sowohl das Schicksal als auch jegliche Naturnotwendigkeit göttlich aufgeladen ist. Vgl. Wilson, Virtues, 405. Zur philonischen Negativqualifizierung der In-eins-Setzung von Kosmos und Gott bei den ‚Chaldäern‘ vgl. Sandelin, Danger, 113f.
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Mittels einer überlangen, in sich geschachtelten rhetorischen Frage, die auf die Akzeptanz der Argumentation seitens der Rezipienten abzielt, trägt Philo in Virt. 213 seine Kritik der chaldäisch-astrologischen Wirklichkeitswahrnehmung vor, wobei diese Kritik aus der jüdisch-monotheistischen Perspektive heraus erfolgt. Philo verbindet dabei seine monotheistische Wirklichkeitswahrnehmung mit einem dezidierten Schöpfungsglauben, da er in Virt. 213d vom ποιητῆς τῶν ὅλων spricht, dem er die „sekundären und gewordenen“ Dinge (δευτέρων καὶ γενητῶν) gegenüberstellt. Der Glaube an den einen Schöpfer und die rein astrologische Wirklichkeitskonstruktion werden hier als grundsätzlich inkompatibel erachtet.52 Kosmologische Wirklichkeitsbetrachtung ist jedoch nicht per se von Übel, wird es aber dann, wenn der notwendige Übergang von der kosmologischen hin zu theologischen Realitätseinschätzung in Abrede gestellt wird, so dass in Konsequenz des Gedankens der wahre Philosoph notwendigerweise zum Theologen werden muss.53 Die in Virt. 213d vorgetragenen Gottesprädikate entnimmt Philo der philosophischen, insbesondere platonischen Tradition und verbindet diese mit impliziten Ausführungen hinsichtlich der menschlichen Tugend: Der Adel der Seele, den Philo gerade am Beispiel des Abraham aufzeigt, entscheidet sich also nicht an der Herkunft, sondern am Glauben an den Gott, der der „Eine“ und „Älteste“, der „Ungeschaffene“ und der „Schöpfer aller Dinge“ ist. Der „Adel der Seele“ wird hier jedoch via negativa durch die Wendung ἐν τῇ ψυχῇ δυσγένειαν (Virt. 213b) eingespielt, sodass der astrologischen Wahrnehmung eo ipso δυσγένεια, der monotheistischen jedoch wahrer Adel zukommt, womit Philo zugleich die Königsprädikation vorbereitet, die Abraham im Anschluss an seine Migration von den ihn Aufnehmenden in Virt. 216 empfangen wird.
3.4
Abrahams Erkenntnis des einen Gottes (Virt. 214) a b c d e f g a b
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ὧν ἔννοιαν λαβὼν καὶ ἐπιθειάσας καταλείπει μὲν πατρίδα καὶ γενεὰν καὶ πατρῷον οἴκον, εἰδὼς ὅτι μένοντος μὲν αἱ τῆς πολυθέου δόξης ἐγκαταμενοῦσιν ἀπάται ἀνήνυτον κατασκευάζουσαι τὴν τοῦ ἑνὸς εὕρεσιν, ὅς ἐστιν ἀίδιος μόνος καὶ ὅλων πατὴρ νοητῶν τε ἆυ καὶ αἰσθητῶν, εἰ δὲ μετανασταίη, μεταναστήσεται καὶ τῆς διανοίας ἡ ἀπάτη μεθαρμοσαμένης τὴν ψευδῆ δόξαν εἰς ἀλήθειαν. Darin Einsicht nehmend und inspiriert, verlässt er das Vaterland, die Sippe und das väterliche Haus,
Die Praxis der Chaldäer, die Geschöpfe (Himmelskörper) anstelle des einen Gottes zu verehren, ist für Philo die Quelle großen Übels und großer Unfrömmigkeit. Vgl. dazu Abr. 69; Quaest. Gen. 3,1. Vgl. Kaiser, Philo, 67. In Her. 301 spielt Philo auf Plat. Phaedr. 246e an, wenn er es als Aufgabe des Philosophen erachtet, die Frage nach Gott, dem großen Lenker des geflügelten Weltwagens zu stellen. Vgl. dazu Runia, Philo, 214f.
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im Wissen dass – wenn er bliebe – die Trugbilder der polytheistischen Meinung verbleiben würden und es fertigbrächten, dass das Finden des Einen unvollendet bliebe, der allein ewig ist und der Vater von Allem ist, sowohl der noetischen als auch der sinnlichen (Dinge), wenn er aber auswandere, werde auch die Täuschung des Denkvermögens auswandern und die trügerische Meinung würde sich in Wahrheit wandeln.
In Virt. 214 thematisiert Philo durch die Verwendung des Verbs μετανίσταμαι („auswandern“) die Migration des Abraham als Konsequenz seiner Lösung von einer falschen Wirklichkeitswahrnehmung. Dabei wird ein innerer Vorgang in Beziehung zu einem äußeren gesetzt: Der inneren Erkenntnis der Einzigkeit Gottes (Virt. 214e: ὅς ἐστιν ἀίδιος μόνος […]) folgt die äußere Auswanderung aus den heimatlichen Gefilden (Virt. 214f: εἰ δὲ μετανασταίη […]). Der äußere Milieuwechsel, konkret die äußere Migration, ist also Folge einer monotheistischen Bewusstseinswandlung.54 Auffällig ist, dass der Alexandriner andere Schwerpunkte setzt als im zugrunde liegenden Prätext von Gen 12,1–4, wo es das Wort Gottes ist, das Abraham zur Auswanderung antreibt.55 In De Abrahamo 71 ist es prätextgemäßer das göttliche Wort (ὁ ἱερὸς λόγος56), das Abraham zur Migration aufruft. Durch diese Schwerpunktverlagerung schafft es Philo in Virt. 214, helleres Licht auf das Erkenntnisvermögen Abrahams zu lenken, insofern er sich durch eigenen Vernunftgebrauch zur Migration entschließt, was zugleich stärker der Textgattung unserer Textpassage als Enkomion entspricht. Es ist demnach eine Vernunftüberlegung des Abraham, die Migration zu beginnen und das astrologisch geprägte väterliche Milieu zu verlassen, in dem der monotheistische Erkenntnisprozess prinzipiell nicht zu Vollendung gelangen könnte, da die „Trugbilder der polytheistischen Fehlmeinung“ (214c: αἱ τῆς πολυθέου δόξης) in ihm verblieben. Auffällig ist die Zusammenstellung diverser, den Erkenntnisprozess Abrahams darstellender Lexeme (ἔννοια – εἰδώς – διάνοια). In stärker allegorisierender Form kommt Philo in Abr. 68–8857 auf diesen monotheistischen Erkenntnisprozess Abrahams zu sprechen und deutet Abraham zunächst allegorisch als „die tugendliebende und den wahren Gott suchende Seele“ (Abr. 68). Der monotheistische Erkenntnisprozess wird im Folgenden mit einem Lichtereignis verglichen, wenn Philo in Abr. 70 ausführt:
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Mit Noack, Gottesbewußtsein, 48. Wieder anders ist die Darstellung Abrahams bei Josephus, wonach Abrahams Einsicht in die Unstimmigkeiten der himmlischen Bewegungen diesen zur Erkenntnis eines über den kosmischen Körpern stehenden Herrschers führt. Vgl. dazu Jos. Ant. I 154– 156. Eine inhaltliche Füllung dieses ‚Wortes Gottes‘ findet bei Philo an keiner Stelle statt. Gleichwohl dürfte es sich um einen mit der menschlichen Vernunft erfassbaren Aspekt des innerweltlichen Wirkens Gottes handeln. Vgl. Sandmel, Philo, 94. Vgl. hierzu Hahn, Gestalt, 209f. Ferner Ostmeyer, Verständnis, 279f.
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Nachdem Abraham in diesem Glauben herangewachsen und lange Zeit Chaldäer (Sternenverehrer) gewesen war, öffnete er wie aus tiefem Schlafe das Auge der Seele und begann statt tiefer Finsternis reinen Lichtglanz zu schauen; er folgte diesem Licht und nahm wahr, was er vorher nicht gesehen hatte, einen Lenker und Leiter der Welt, der über sie waltet und in heilsamer Weise sein Werk regiert und allen seinen Teilen […] seinen Schutz und Beistand angedeihen lässt.58
Das Bewusstsein Abrahams vor seiner μετάνοια59 wird mit einem tiefen Schlaf verglichen, sodass in Folge dieses Gedankens die Erkenntnis des einzigen Gottes eine bisher durch den Schlaf unterdrückte Fähigkeit des Abraham darstellt. Das Bild des präkonversionalen Abraham ist nicht per se schlecht, insofern es sich nicht um einen grundsätzlichen als vielmehr temporären Defekt des an ihm aufgezeigten menschlichen Erkenntnisvermögens handelt.60 Vom Schlafe gilt es aber aufzuwachen: Abraham „öffnet das Auge der Seele“ und „folgt“ dem geschauten Licht. Auch hier ist die μετάνοια eine Tat des Abrahams, der aber göttliche Hilfe zukommt, die Philo mit dem Topos des Lichtglanzes, dessen Quelle Gott selbst ist, kommuniziert. Dieses radikale Umdenken führt auch nach Abr. 71–77 zur Migration, hinaus aus dem väterlichen Milieu. Sofort nach Abschluss der Migration führt Philo in Abr. 78f. aus: Nachdem er aber seinen Wohnsitz geändert hatte, musste er erkennen, dass die Welt untertan und nicht selbständig ist, nicht herrschend, sondern beherrscht von einem Urheber, von einem, der sie geschaffen. Damals zuerst hat dies der Geist aufschauend wahrgenommen. Denn vorher hatten die sinnlich wahrnehmbaren Dinge eine dichte Finsternis über ihn ausgebreitet, und erst als er diese durch warme und flammende Lehren zerstreut hatte, vermochte er wie bei klarem Himmel eine Vorstellung von dem früher im Verhüllten und Unsichtbaren zu gewinnen.
Der Erkenntnisprozess wird also auch hier durch die anschließende Migration verstärkt. Erst durch die Entfernung aus der väterlichen Umgebung, damit auch durch die Beseitigung der Täuschung, die durch die Sinnenwelt erfolgt, wird Abraham für die ‚wahren Lehren‘ empfänglich, die seine μετάνοια vollenden.61 Zurück zu Virt. 214: Auch wenn die Eigenleistung Abrahams im Vordergrund steht, wird die göttliche Hilfe durch den Inspirationsgedanken (214a: ἐπιθειάσας) dezent eingespielt, sodass die Vernunfttätigkeit Abrahams und die
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Vgl. zu diesem Text auch Wilson, Virtues, 405f. Übersetzung hier und unten (Abr. 78f.) nach Cohn, Philo-Werke I, 111–113. Vgl. zum Komplex μετάνοια, μεταβολή, βελτίωσις Bailey, Metanoia, 135–141. Vgl. Georgi, Gegner, 144. Konsequenterweise kann Philo Abraham nach seiner monotheistischen Gotteserkenntnis und der mit dieser zusammengehörenden Migration als den σοφός schlechthin bezeichnen. Vgl. z. B. Abr. 80.131.168.255. Philo bezeichnet in Her. 98f. die Migration Abrahams als „beste Migration“ (δι’ ἧς ἀποικιῶν ἡ ἀρίστη), sie führt „weg von der Sternenkunde“ (ἀπὸ ἀστρονομίας) und führt „zum Schöpfer und Vater der Welt“ (πρὸς τὸν ποιητὴν καί πατέρα αὐτοῦ).
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göttliche Inspiration im Zusammenhang der Auswanderung gleichsam synergetisch zusammenwirken. Was der konkrete Inhalt der ἀλήθεια ist, in die hinein die Migration geschieht, wird von Philo an dieser Stelle nicht genauer ausgeführt. Philo begnügt sich mit dem Verweis auf die Einzigkeit des ewigen Schöpfergottes. Hilfreich ist hier ein Seitenblick auf De Opificio Mundi 170– 172,62 wo Philo eine Art ‚Credo‘ der monotheistischen Wirklichkeitswahrnehmung formuliert: – Gott existiert und waltet: Der Atheismus ist nicht tragfähig. – Gott ist einzig: Der Polytheismus ist eine Projektion der Ochlokratie63 in den Himmel. – Die Welt ist die Schöpfung Gottes, sie ist mitnichten ewig. – Der Kosmos ist einzig wie Gott einzig ist. – Gott sorgt für den Kosmos mittels der Naturgesetze wie Eltern für ihre Kinder sorgen. Eine solche umfassende monotheistische μετάνοια dürfen wir beim Enkomion Abrahams in Virt. 214 ebenfalls vermuten: Abraham erschließt sich durch reinen Vernunftgebrauch die Transzendenz des einen Gottes, sodass seine frühere astrologische Wirklichkeitswahrnehmung zu einer Serie negativ konnotierter Im-ma-nenzerfahrungen degradiert wird.64
3.5
Die Intensivierung der Gotteserkenntnis (Virt. 215) a b c d e f g h i a b c d e f
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ἅμα δὲ καὶ τὸν πόθον ὃν ἐπόθει γνῶναι τὸ ὂν προσανερρίπισε λόγια χρησθέντα· οἷς ποδηγετούμενος ἐπὶ τὴν τοῦ ἑνὸς ἀοκνοτάτῃ σπουδῇ ζήτησιν ἤει· καὶ οὐ πρότερον ἀνῆκεν ἢ τρανοτέρας λαβεῖν φαντασίας, οὐχὶ τῆς οὐσίας, τοῦτο γὰρ ἀμήχανον, ἀλλὰ τῆς ὑπάρξεως αὐτοῦ καὶ προνοίας. Gleichzeitig fachten aber auch sein Verlangen, mit dem er verlangte zu erkennen das Seiende, prophezeite Worte an. Von ihnen geführt geriet er mit entschlossener Anstrengung zur Untersuchung des Einen und nicht früher hörte er auf, bis er deutlichere Vorstellungen empfing,
Vgl. zu diesem Text Kaiser, Philo, 195f.; Sandelin, Philo, 23f.; Noack, Gottesbewußtsein, 51f. Die ὀχλοκρατία ist laut Op. 171 die schlechteste aller Staatsformen, dann herrschen laut Conf. 108 sowohl Ungleichheit als auch Ungerechtigkeit wie Gesetzeslosigkeit vor. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 51.
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nicht des Wesens, dieses ist unerreichbar/unbeschreibbar, sondern über seine Existenz und Vorsehung.
Abraham wird das Verlangen (τὸν πόθον) zugesprochen, das Seiende (τὸ ὄν) erkennen zu wollen. Dabei ist er bei diesem Verlangen nicht allein auf sich selbst verwiesen, sondern erfährt Hilfe durch prophezeite Worte (λόγια χρησθέντα), womit der Beitrag Gottes im Erkenntnisprozess Abrahams kommuniziert wird, der ihn weiter von seiner chaldäisch-astrologischen Herkunft distanziert.65 Gott unterstützt die Suche des Abraham und treibt sie voran.66 Damit wird die Vorstellung der göttlichen Inspiration (vgl. Virt. 214a) semantisch variiert und der in Virt. 216 angesprochenen Königsvorstellung hinsichtlich des Abraham der Weg gebahnt. Abraham lebt, insofern seine Gottessuche von Gott selbst unterstützt wurde, in einem intensiven Gottesverhältnis, womit die Intention der Migration als einer kontinuierlichen μετάνοια treffend ins Wort gebracht ist. Das Objekt der Suche des Abraham ist das ‚Seiende‘. Die Gottesbezeichnung τὸ ὄν67 entnimmt Philo der platonisch-stoischen Tradition und indiziert damit den die Schöpfung transzendierenden Gott, auf den zwar mittels des Kosmos oder der Ideenwelt geschlossen werden kann, der jedoch stets als diese transzendierend gedacht wird. Wie sich die Gottessuche Abrahams materialiter vollzog, bleibt an dieser Stelle jedoch ein Desiderat. In Abr 79 ergänzt Philo, dass der monotheistische Erkenntnisprozess Abrahams durch „warme und flammende Lehren“ (ἐνθέρμοις καὶ διαπύροις δόγμασιν) unterstützt wurde. Der Schwerpunkt der Ausführungen hier in Virt. 215 ist vielmehr via negativa das Objekt der Gottessuche, indem Philo betont, dass das Wesen Gottes dem menschlichen Forscherdrang unzugänglich ist (οὐχὶ τῆς οὐσίας),68
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Vgl. Wypadlo, Verklärung, 343 Anm. 269. Zur Begleitung des Erkenntnisweges des Gott suchenden Menschen durch Gott selbst vgl. besonders Praem 46. Vgl. zu diesem Text Kaiser, Philo, 185. Die Erkenntnis Gottes in der Bewegungsrichtung ‚von oben nach unten‘ dürfte für Philo die eigentliche Gotteserkenntnis sein, insofern hier philosophischer Erkenntnisdrang gleichsam ‚theologisch‘ umfangen wird. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 56. Der Konnex von τὸ ὄν und τοῦ ἑνός in Virt. 215 indiziert recht deutlich, dass es sich in beiden Fällen um eine Gottesbezeichnung handelt. In Vit. Cont. 2 bezeichnet Philo τὸ ὄν als „besser als das Gute, reiner als die Eins und ursprünglicher als die Monade“ (τὸ ὄν, ὃ καὶ ἀγαθοῦ κρεῖττόν ἐστι καὶ ἑνὸς εἰλικρινέστερον καὶ μονάδος ἀρχεγονώτερον). Vgl. dazu Hay, Anthropology, 140. Mit Leonhardt-Balzer, Vorstellungen, 104. Vgl. zu diesem Fundamentalsatz philonischer Gotteslehre Op. 69–71, bes. 69. Ferner Mut. 11f.; Praem. 40–44; Som. I 67. Vgl. auch Vit. Cont. 2 als ausgewiesene Lehre der Therapeuten. Vgl. dazu die Skizze philonischer ‚negativer Theologie‘ bei Sellin, Gotteserkenntnis, 19–21, bes. 20: „Gott selbst wird nämlich von Philo noch einmal über die Spitze der ontologischen Pyramide hinaus transzendiert“. Sellin verweist auf Praem. 40: „Denn jenes Wesen, das noch besser ist als das Gute, ursprünglicher als die Einheit und reiner als die Eins, kann unmöglich von einem anderen geschaut werden, weil es nur von sich allein begriffen werden darf.“ (Übersetzung nach Sellin, Gotteserkenntnis, 20f.).
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womit er ein Grundaxiom jüdisch-alexandrinischer Missionstheologie im paganen Umfeld kommuniziert. Angesprochen ist damit kein Defekt menschlichen Erkenntnisvermögens, sondern eine schöpfungsgegebene Begrenzung. Erkennbar ist hingegen nach Philo seine Existenz (ὕπαρξις) und seine Vorsehung (πρόνοια), womit die schöpfungszugewandte Seite Gottes betont ist. In seiner Schrift Vita Contemplativa über die Therapeuten69 zählt Philo zu den Elementen der schöpfungszugewandten Seite Gottes, die als solche vom Menschen erkennbar sind, den von Gott geschaffenen Kosmos, die Ideenwelt, die in der Welt wirkenden Kräfte Gottes und das Wesen der φύσις (vgl. Contempl. 64 und 90). Auch die philonische Logoslehre ist hier geltend zu machen, sofern der Logos als Schöpfungsmittler sowie „Ausdruck der bleibenden Verbundenheit Gottes mit dieser Schöpfung“70 zu begreifen ist. Transzendenzkontakt ist für Philo im Zuge der Wahrung der Heiligkeit und Einzigkeit des biblischen Schöpfergottes demnach Kontakt mit der schöpfungszugewandten Seite Gottes.71 Nicht also Wesenserkenntnis Gottes, sondern die Intensität und Qualität des Gottesbewusstseins zeichnen den migrierenden Abraham aus.
3.6
Der Glaube und die Königswürde Abrahams (Virt. 216) a b c d e f g h a b c d e f g h
διὸ καὶ πιστεῦσαι λέγεται τῷ θεῷ πρῶτος, ἐπειδὴ καὶ πρῶτος ἀκλινῆ καὶ βεβαίαν ἔσχεν ὑπόληψιν, ὡς ἔστιν ἓν αἴτιον τὸ ἀνωτάτω καὶ προνοεῖ τοῦ τε κόσμου καὶ τῶν ἐν αὐτῷ. Κτησάμενος δὲ πίστιν, τὴν τῶν ἀρετῶν βεβαιοτάτην, συνεκτᾶτο καὶ τᾶς ἄλλας ἁπάσας, ὡς παρὰ τοῖς ὑποδεξαμένοις νομίζεσθαι βασιλεύς […]. deswegen auch heißt es von ihm, dass er der erste an Gott Glaubende war, da nun er auch der Erste war, der nicht schwankende und sichere Annahme hatte, dass es eine oberste Ursache gebe und sie Vorsorge treffe für die Welt und für alles in ihr. Erworben habend den Glauben die festeste aller Tugenden, da gewann er auch alle anderen (Tugenden) wie er von den ihn aufnehmenden als König erachtet wurde […].
Der erste Teil von Virt. 216 bietet eine interpretierende Paraphrase von Gen 15,6, des rechtfertigungstheologischen Spitzenverses bei Paulus.72 Philo setzt aber andere Akzente als Paulus. Die Auswanderung in Verbindung mit der Erkenntnis des einen Gottes führt Abraham nach Philo zum Glauben an diesen. 69 70 71 72
Zur Vorstellung und Wertschätzung der Therapeuten bei Philo vgl. die prägnanten Ausführungen bei Kaiser, Philo, 242f. Mit Sellin, Gotteserkenntnis, 22. Vgl. dazu Noack, Gottesbewußtsein, 64. Vgl. für viele Wolter, Rechtfertigungslehre, passim. Vgl. auch Böhm, Rezeption, 5f.
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Glaube kann hier wie in Abr. 262-269 als eine „aus eigener Kraft erworbene Überzeugung des erkenntnisstrebenden Menschen von der obersten Ursache“ definiert werden.73 Der Glaube enthalte dabei zwei voneinander zu unterscheidende Objekte: Er bezieht sich auf Gott als die oberste Ursache von allem (ἔστιν ἓν αἴτιον τὸ ἀνωτάτω)74 sowie auf die Tatsache der göttlichen Bewahrung der Welt und aller Dinge in ihr (προνοεῖ τοῦ τε κόσμου καὶ τῶν ἐν αὐτῷ). Mit dem zweiten Glaubensinhalt ist der Aspekt des Vorsehungsglaubens angesprochen, den Philo in De Opificio Mundi IX in gleichsam kontroverstheologisch-kosmologischer Absicht zur Sprache bringt75: Die aber von der Welt behaupten, dass sie unerschaffen sei, merken nicht, dass sie das nützlichste und notwendigste der zur Gottesverehrung (εἰς εὐσέβειαν) führenden Dinge beseitigen, nämlich die Vorsehung (τὴν πρόνοιαν).76
Eine Selbst- oder Weltverachtung ist damit nach Philo nicht ausgedrückt, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass im menschlichen Streben „nach Erkenntnis Gott allein wirklich vertrauenswürdig ist“77. Der auf diesen allein vertrauenswürdigen Gott sich richtende Glaube ist damit kein Akt, der die Vernunfttätigkeit suspendiert, sondern diese allenfalls von ihrer Verabsolutierung bewahrt, insofern durch den Glauben die astrologisch geprägten Trugbilder und Überzeugungen des damals noch mathematisch denkenden Abraham, des Abraham vor der Migration, beseitigt werden. Da nun der Glaube als die höchste aller Tugenden erachtet wird, werden die weiteren Tugenden durch den Glaubenserwerb gleichsam nachgezogen. In Virt. 180–182 wird dieser Gedanke – hier im Hinblick auf die Proselyten allgemein – argumentativ vorbereitet, da πίστις, εὐσέβεια und τιμὴ θεοῦ als Verbalisierungen einer intakten Gottesbeziehung im philonischen Sprachgebrauch semantisch eng verwandt sind. In Virt. 181 lesen wir: a b c a
73 74
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ἅμα δ᾽ ἀναγκαῖον ἕπεσθαι, ὡς ἐν ἡλίῳ σκιὰν σώματι, καὶ τῇ τοῦ ὄντος θεοῦ τιμῇ πᾶσαν τὴν τῶν ἄλλων ἀρετῶν κοινωνίαν. zugleich ist es notwendig,
Mit Böhm, Rezeption, 195. Vgl. dazu auch Som. I 160f. Philo schließt dabei – anders als Platon – von der sichtbaren Welt auf den κόσμος νοήτος, der als solcher das Urbild der irdischen Wirklichkeit darstellt. Dazu benutzt er die der stoischen Tradition entnommene Überzeugung, „dass der Kosmos aus zwei Teilen bestehen müsse, einer aktiven Ursache (αἰτίον […]) und einem passiven Objekt (παθητόν […])“. Mit Kaiser, Philo, 171. Die Abhängigkeit dieser Schrift von platonischer Tradition, insbesondere von Platons Timaios dürfte nicht zu leugnen sein. Vgl. zu De Opificio Mundi insgesamt Kaiser, Philo, 171–173. Übersetzung nach Cohn, Philo-Werke I, 30. Zu Op. 8f. vgl. Wolfson, Foundations, 295–300. Zur Kritik der Leugnung der göttlichen Vorsehung bei Epikur vgl. Aet. 170– 172. Vgl. dazu auch Sandelin, Philo, 23f. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 69.
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dass – wie bei der Sonne der Schatten dem Körper folgt – auch der Verehrung des seienden Gottes die völlige Teilhabe an den anderen Tugenden (folgt).
Die intakte Gottesbeziehung ist demnach sowohl Basis als auch Bedingung zur Erlangung aller anderen Tugenden. So wird auch in De Abrahamo in den Abschnitten 60–207 zunächst die εὐσέβεια Abrahams als oberste und wichtigste Tugend abgehandelt, bevor Philo in 208–261 auf Abrahams Philanthropie und Gerechtigkeit gegenüber Menschen zu sprechen kommt. Philo leitet daraus – in den Bahnen von Platons Rep. 587b, wo nur der Weise ein wahrer König sein könne – hier in Virt. 216 genauso wie in Abr. 261 ab, der ausgewanderte Abraham sei von der ihn beobachtenden Umgebung als König wahrgenommen worden.78 Da konnten Sie das Lob über so große und so herrliche Tugend – denn alles an ihm war ja ausgezeichnet – nicht in ihrer Seele verschließen; sie traten an ihn heran und riefen aus: ‚ein König von Gott (gesandt) bist du unter uns‘.79
3.7
Die prophetische ‚Inspiration‘ als Vollendung der μετάνοια (Virt. 217)
Die umfassenden Tugenden des Abraham, denen die Glaubenstugend als Fundament zugrunde liegt, führen nach Virt. 217 zu einer Reaktion seiner Umwelt. Diese Reaktion ist durch Erschütterung und Bewunderung geprägt: a b c d a b c d
καὶ δῆτα θεραπεύοντες αὐτὸν διετέλουν ὡς ἄρχοντα ὑπήκοοι τὸ περὶ πάντα μεγαλεῖον τῆς φύσεως αὐτοῦ καταπληττόμενοι τελειοτέρας οὔσης ἢ κατὰ ἄνθρωπον […]. Und wahrhaft hoch achteten sie ihn beständig wie Untertanen den Herrscher, erschüttert wegen der alles überragenden Größe seiner Natur, die vollendeter war als unter Menschen üblich […].
Die überragende, in den umfassenden ἀρεταί gründende Größe der Natur Abrahams positioniert diesen im Zwischenbereich zwischen Gott und Mensch. Philo spricht hier von einer „durch die höhere Einsicht gewonnene[n] Natur“80, wobei es gerade das monotheistische Gottesbewußtsein ist, das „die überragenden Fähigkeiten“ verleiht, die die Umgebung „zur ehrfürchtigen Anerkennung“ bewegen.81 Ohne die entsprechende Begrifflichkeit zu benutzen, positioniert Philo Abraham an dieser Stelle in der Nähe seiner Logos-Konzeption, die er braucht, um einerseits die absolute Transzendenz Gottes zu wahren, 78 79 80 81
Vgl. dazu Noack, Gottesbewußtsein, 71f. Übersetzung nach Cohn, Philo-Werke I, 365. Mit Georgi, Gegner, 78. Mit Georgi, Gegner, 78.
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andererseits die schöpfungszugewandte Seite Gottes und damit die bleibende Verbundenheit des transzendenten Gottes mit seiner Schöpfung zu betonen.82 Wichtig ist dabei, dass die angesprochene Gotteserkenntnis Abrahams kein innerlich-unsichtbarer oder gar rein intellektueller Vorgang bleibt, sondern konkrete äußerliche und von der Umgebung wahrnehmbare Folgen zeitigt. Der Gedanke der außen wahrnehmbaren ‚Qualität‘ Abrahams als Folge seines μετάνοια-Prozesses wird nun in Virt. 217g–j mittels der Gedankenfigur der prophetischen Inspiration vollendet83 und wie folgt beschrieben: g h i j
g h i j
ὁπότε γοῦν κατασχεθείη, μετέβαλλε πάντα πρὸς τὸ βέλτιον, τὰς ὄψεις, τὴν χρόαν, τὸ μέγεθος, τὰς σχέσεις, τὰς κινήσεις, τὴν φωνήν, τοῦ θείου πνεύματος, ὅπερ ἄνωθεν καταπνευσθὲν εἰσῳκίσατο τῇ ψυχῇ, περιτιθέντος τῷ μὲν σώματι κάλλος ἐξαίρετον, τοῖς δὲ λόγοις πειθώ, τοῖς δ᾽ ἀκούουσι σύνεσιν. Jedes Mal, wenn er nun ergriffen wurde, veränderte sich alles zum Besseren: der Blick, die Haut, die Größe, die Haltung, die Bewegungen, die Stimme, weil der von oben herabgewehte/eingehauchte göttliche Geist in seine Seele einzog, verlieh dieser seinem Körper herausragende Schönheit, seinen Worten Überzeugungskraft und den (ihn) Hörenden Verständnis.
Der Weg der μετάνοια Abrahams vollendet sich in der pneumatischen Inspiration mittels des von oben (217j: ἄνωθεν) in Abraham eingehenden göttlichen Geistes. Charakteristika dieser Inspiration sind zunächst die äußerlich wahrnehmbaren körperlichen Folgen. Sie betreffen sowohl die körperliche Erscheinung Abrahams (Augen; Haut; Größe) als auch die Körperhaltung, die Bewegungen und die Stimme und führen zu seiner Verschönerung bzw. Verbesserung.84 Ursache dieser Verschönerung Abrahams ist die göttliche Nähe, derer er auf dem Migrationsweg der μετάνοια teilhaftig wurde. Diese Verschönerung wird von der Umgebung Abrahams als regelrechte Verwandlung wahrgenommen, die als solche die ‚Gegenwart der Transzendenz‘ in Abraham indiziert.85 Mit der prophetischen Inspiration kommt der Prozess der μετάνοια des Abraham zu seiner Vollendung, der Weg der Tugend erreicht seinen Gipfelpunkt, was der Tatsache zu entnehmen ist, dass Philo in Virt. 218 keine weiteren Schritte einer ‚Veredelung‘ Abrahams anführt, sondern auf den in Virt. 212–217 geschilderten Umkehrprozess zurückblickt und die Argumente 82 83 84 85
Zur Logos-Konzeption Philos vgl. Sellin, Gotteserkenntnis, 21–23. Vergleichbares kann Philo auch von Mose berichten (vgl. Vit. Mos. I 57; II 66–76; II 272). Vgl. zu diesem Themenkomplex Wypadlo, Verklärung, 349–365. Zur Überzeugungskraft des Abraham vgl. auch Jos. Ant. I 154; 161–167. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 84.
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für die durch tugendhaftes Leben erworbene, wahre εὐγένεια sammelt. Diese Zusammenfassung wird in Virt. 218 im Modus einer rhetorischen, ein unbedingtes ‚Ja‘ erfordernden Frage vorgelegt, in die sechs Partizipien integriert werden, die nacheinander die Begründung für den wahren – nicht über die Herkunft, sondern über den Tugenderwerb vermittelten – Adel Abrahams liefern. Den exemplarischen Charakter des Weges Abrahams als Weg gelingender μετάνοια betont Philo zum Abschluss des Enkomions auf Abraham in Virt. 219: οὗτος ἅπασιν ἐπηλῦταις εὐγενείας ἐστὶ κανών[…] Dieser Weg steht also allen offen, die sich vom polytheistischen Irrglauben zu dem einen und wahren Gott bekehren. Der missionarisch-werbende Charakter von Virt. 212–218 wird damit offensichtlich, bei dem insbesondere Proselyten im Blickfeld sein dürften, denen Abraham als Modell gelungener μετάνοια vor Augen geführt wird. Dazu formuliert Christian Noack: „Μετάνοια ereignet sich da, wo Menschen diesen polytheistisch geprägten Lebens- und Wirklichkeitsraum verlassen und sich auf dem Weg zur monotheistischen Wirklichkeitserfahrung befinden, die sich in der Begegnung mit dem Schöpfergott vollzieht.“86
4.
Abraham als Modell des Proselyten
Philo legt im Abschnitt Virt. 211–219 eine philosophisch ambitionierte Deutung des Prätextes von Gen 12–15 vor. Die Migration des Abraham wird innerhalb dieser Exegese als ein monotheistischer Erkenntnisprozess sowohl interpretiert als auch inszeniert. Abraham erscheint – ohne auf Allegorese reduziert zu werden – als Prototyp eines Menschen mit pagan-chaldäischer und astrologischer, nach Sicht Philos also dezidiert schlechter Herkunft, dessen Gottessuche aber den Prozess einer umfassenden Migration initiiert. Der monotheistische Erkenntnisprozess und die Migration des Abraham fallen zusammen. Auf der Spitze des Erkenntnisprozesses – oder um im Bild zu bleiben – am Zielpunkt der Migration erfährt Abraham durch seine konsequente Öffnung hin zur Transzendenz die Begabung mit dem göttlichen Pneuma, den prophetischen ἐνθουσιασμός. Diese prophetische Inspiration als Folge der Annahme des vollkommenen Glaubens an den einen Schöpfergott interpretiert Philo als Gipfelpunkt des Tugendweges Abrahams, da die εὐσέβεια als höchste Tugend per se alle weiteren Tugenden nach sich zieht (Virt. 181). Der prophetische ἐνθουσιασμός bleibt jedoch eine göttliche Gabe, die der gottsuchende Mensch von Gott erhalten, nicht jedoch erzwingen kann. Diese prophetische Begabung hat zudem außen wahrnehmbare optische Konsequenzen, da sie zu Verschönerung des gesamten Habitus Abrahams beiträgt, sodass der 86
Vgl. Noack, Gottesbewußtsein, 100.
Deutung der Migration Abrahams durch Philo
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die Wanderung abgeschlossene Abraham von der ihn aufnehmenden, neuen Umgebung mit königlichen Attributen versehen werden kann. Die in diesem Beitrag kurz skizzierte Interpretation Philos von Gen 12–15 ist ein hervorragendes Beispiel für eine Relecture und eine Neukontextualisierung eines biblischen Migrationstextes. Innerhalb dieser Neukontextualisierung erscheint Abraham als Prototyp eines Proselyten,87 womit übereinstimmt, dass die Schriftenreihe Expositio Legis, zu der De Virtutibus und De Abrahamo ohne Zweifel gehören, einen nicht zu verkennenden missionstheologischen Impetus hat. So hat der „Weg Abrahams vom Irrglauben bis hin zum vollkommenen Weisen […] exemplarische, vorbildliche Bedeutung für all diejenigen, die sich vom Heidentum zum jüdischen Glauben bekehren.“88
Literatur BAILEY, Jon N., Metanoia in the Writings of Philo Judaeus, in: SBL.SP 30 (1991), 135– 141. BEKKEN, Per Jarle, Philo’s Relevance for the Study of the New Testament, in: Seland, Torrey (Hg.), Reading Philo. A Handbook to Philo of Alexandria, Grand Rapids u. a. 2014, 226–267. BENDEMANN, Reinhard von (Hg.), Philo von Alexandria – Über die Freiheit des Rechtschaffenen (Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur), Göttingen 2016. BÖHM, Martina, Abraham und die Erzväter bei Philo. Überlegungen zur Exegese und Hermeneutik im frühen Judentum, in: Deines, Roland / Niebuhr, Karl-Wilhelm (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 172), Tübingen 2004, 377–395. BÖHM, Martina, Rezeption und Funktion der Vätererzählungen bei Philo von Alexandrien. Zum Zusammenhang von Kontext, Hermeneutik und Exegese im frühen Judentum (BZNW 128), Berlin u. a. 2005. COHN, Joseph, Über Abraham, in: Cohn, Leopold u. a. (Hg.), Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung Bd. I, Berlin u. a. 21962, 93–154. FRIEDLÄNDER, Moritz, Geschichte der jüdischen Apologetik als Vorgeschichte des Christentums. Zürich 1903. FÜRST, Alfons, Christentum als Intellektuellen-Religion. Die Anfänge des Christentums in Alexandria (SBS 213), Stuttgart 2007. GEORGI, Dieter, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief. Studien zur religiösen Propaganda in der Spätantike (WMANT 11), Neukirchen-Vluyn 1964. GEORGI, Dieter, Frau Weisheit oder das Recht auf Freiheit als schöpferische Kraft, in: Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.): Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte, München 1988, 243–276. GOODENOUGH, Erwin R., Philo’s Exposition of the Law and his De Vita Mosis, in: HThR 26 (1933) 109–125. 87 88
So auch Bekken, Relevance, 250f. Mit Noack, Gottesbewußtsein, 99.
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Der politische Widerstand gegen Rom im 2. und 1. Jh. v. Chr. – Phygades (ΦΥΓΑΔΕΣ) als Feinde der Pax Romana? Linda-Marie Günther
Ist von Migrationsprozessen im frühen Christentum die Rede, so kann die späthellenistische Geschichte dazu nur bedingt einen Beitrag leisten; immerhin ist die Geschichte des frühen Christentums selbst noch Teil der Ereignis- und Interpretationszusammenhänge der hellenistisch-römischen Übergangszeit des letzten vorchristlichen und ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Mit den Phänomenen Mobilität und Exil stehen insbesondere Aspekte wie Bürgerrecht, Bürgerkrieg und Krieg generell in engem Zusammenhang – auch in dem in meinem Beitrag thematisierten Zeitraum, der die definitive Durchsetzung römischer Herrschaft im östlichen Mittelmeerraum umfasst. Im Folgenden ist nicht von ‚Migranten‘ die Rede, sondern von Flüchtlingen, φυγάδες.1 In der gesamten griechischen Antike bezeichnet der Begriff des φυγάς erstens den Flüchtling respektive Vertriebenen, der sein Leben in Sicherheit bringt vor äußeren Feinden, die seine Heimatstadt (πατρίς) bedroht oder bereits erobert haben. Zweitens bezeichnet der Begriff denjenigen, der sein Leben vor böswilligen Mitbürgern dadurch in Sicherheit bringt, dass er die Heimatstadt verlässt, sei es aus Furcht vor einer Kapitalstrafe bzw. dem ‚sozialen Tod‘, der Ausbürgerung, sei es vor der durch ein bereits ergangenes Gerichtsurteil verhängten Verbannung. Durch ein solches Urteil wurde der bisherige Bürger zum Staatenlosen, den die Gesetze seiner πατρίς auch nicht mehr vor Gewalttätigkeiten aller Art schützen, zudem verliert er samt seiner Familie durch Konfiskation von Besitz und Vermögen seine materielle Existenzgrundlage. Erwähnt ein Text also einen φυγάς, braucht es weitere Informationen, um zu bestimmen, ob jemand vor dem äußeren Feind oder dem inneren Feind auf die Flucht (φυγή) gegangen ist. Für einen Migranten, der – in einem wie großen Kollektiv auch immer – seine Heimat verlässt, um an einem anderen Ort, einer anderen Region, in einer ganz anderen, fernen Weltgegend eine neue Heimat zu suchen, gibt es keinen einheitlichen griechischen Begriff: Am ehesten zu fassen ist da noch der
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Dazu siehe das zweibändige Werk von Seibert, Flüchtlinge; zur Begriffserläuterung, 2f.
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Siedler bzw. ‚Umsiedler‘ der archaischen oder frühhellenistischen sog. Kolonisation.2 Der Unterschied zwischen dem φυγάς und dem ‚Auswanderer‘ liegt in der jeweiligen Zukunftsperspektive: Der ‚Auswanderer‘ plant grundsätzlich nicht, in die Heimat zurückzukehren, sondern hat den festen Wunsch, anderenorts heimisch zu werden. Dagegen hat der Exilant die unbedingte Absicht, so bald wie irgend möglich als Bürger in die Heimatstadt zurückzukehren. Freilich setzte die Realisierung des Ziels zumeist voraus, dass ein Verbannungsurteil förmlich aufgehoben wurde, dass die inneren Feinde ihre Machtpositionen verloren hatten oder dass der Feind sich nicht mehr in der eroberten Stadt aufhielt, ja sogar, dass eine zerstörte Polis wiederhergestellt, neu gegründet wurde. Mit diesen kurzen Ausführungen ist schon gesagt, wie sich äußere und innere Kriege auswirkten: Die jeweils Unterlegenen suchten durch Flucht ihr Leben zu retten, das in dem Maße in Gefahr war, wie die Sieger in den betreffenden Individuen eine Gefahr für ihre neu errungene Machtposition sahen. Im Grundsatz war das Risiko für Angehörige der Führungselite also wesentlich größer, verbannt oder vertrieben zu werden, als für das so genannte ‚einfache Volk‘. Wurden Meinungsführer einer größeren Bewegung vertrieben bzw. existenziell bedroht, schlossen sich ihnen gemeinhin auch weniger prominente Gefolgsleute an, doch da diesen Menschen die materiellen Ressourcen schneller ausgegangen sein dürften, werden sie eher als jene zur Heimkehr bereit gewesen sein.3 Über logistische Fragen und Probleme berichten unsere Quellen zumeist nichts: Zum einen übergeht die Geschichtsschreibung zumeist die Unterlegenen, zum anderen haben gerade diese, sobald sich ihre Lage wieder verbesserte, kein Interesse daran, die Gegebenheiten ihrer politischen Schwäche detailliert im kollektiven Gedächtnis zu bewahren. Das einleitend Skizzierte lässt sich an den wohl bekanntesten Flüchtlingen des Neuen Testamentes illustrieren: Die Heilige Familie entwich wegen der existenziellen Bedrohung des Jesuskindes durch König Herodes von Bethlehem nach Ägypten. Allein beim Evangelisten Matthäus wird berichtet, dass sich Joseph mit Maria und dem neugeborenen Knaben auf göttliche Anweisung in Sicherheit brachte, nach dem Tod des Königs Herodes aber in die galiläische Heimat zurückkehrte (Mt 2,13–22). Dass der Zimmermann aus Nazareth nicht zur Führungselite oder zu einer gefährlichen Opposition gegen das Regime in Jerusalem gehörte, spielt für die (zum kleineren oder größeren Teil fiktive) Geschichte keine Rolle, denn die Prophezeiung der Geburt des neuen Königs der Juden reichte
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Vgl. die unterschiedlichen Verben (und deren z. T. partizipialen Ableitungen) aus dem Wortfeld ‚wohnen‘ (griech. οἰκίζειν) im Bericht des Thukydides (Hist. VI 3,1–6,1) zur Landnahme der Griechen in Sizilien im 8.–6. Jh. v. Chr. Vgl. dazu die aufschlussreiche Studie von Bernstein, Konflikt.
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aus, um den bei seinen rechtgläubigen Untertanen weitestgehend verhassten Herodes um seine Herrschaft fürchten zu lassen (Mt 2,3–6).4 Ebendieser Herodes hatte als junger Mann selbst Erfahrungen als Flüchtling gesammelt, nämlich als er bei der parthischen Eroberung Jerusalems im Jahr 40 v. Chr. den ‚Flüchtlingstreck‘ der Hasmonäersippe und ihrer Anhänger aus der Stadt herausführte; während dort Antigonos Mattathias, der Neffe und Thronrivale des bisherigen Hohenpriesters und Ethnarchen Johannes Hyrkanos II., sein Regime etablierte, waren die Nachbarn Judäas, namentlich der Nabatäerkönig und die Ptolemäerin Kleopatra VII., nicht bereit, den Flüchtlingen irgendeine Unterstützung zu gewähren, erst recht keine militärische zur Wiederherstellung des status quo ante.5 Für den Kontext dieses Beitrags, der auf die Haltung von Flüchtlingen gegenüber Rom fokussiert, ist relevant, dass Herodes damals (und später) die Personifikation der bei vielen Juden missliebigen prorömischen Herrschaft des Hyrkanos war. Es lag daher auf der Hand, dass er, nachdem er die anderen Flüchtlinge auf der Festung Massada in Sicherheit gebracht hatte, in eigener Person bis nach Rom reiste, um militärische Unterstützung für die Restauration des gerade gestürzten Regimes zu gewinnen. Tatsächlich hat er dann – in Rom vom Senat auf Antrag des Marcus Antonius und des Caesar-Erben Octavianus mit dem Titel des rex appellatus ausgestattet – mit Waffengewalt Jerusalem und Judäa zurückgewonnen und den Krieg, in dem innere und äußere Polarisierung verflochten waren, für sich entschieden.6 Bei Flavius Josephus, unserer Hauptquelle für die hier skizzierten Ereigniszusammenhänge, lesen wir allerdings nichts Genaueres über diejenigen ‚principes‘, die nun beim neuerlichen Regimewechsel zu φυγάδες wurden; Herodes soll in Jerusalem umgehend blutige Säuberungen durchgeführt haben, was die Fluchtchancen seiner Gegner verringert haben dürfte.7 Wer immer damals sein Leben ins Exil retten konnte, galt als Feind Roms und damit als Feind der ‚Wohltäter der Menschheit‘, ja als Feind der neuen Weltordnung, der Pax Romana bzw. der sich einige Jahre später durchsetzenden Pax Augusta.8 In der archaischen und klassischen Zeit der griechischen Geschichte waren innere Spannungen bzw. Parteienkämpfe sehr häufig – der
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Zur beträchtlichen Verhasstheit des Herodes bei den Juden siehe Günther, Herodes, 195–213. Günther, Herodes, 63–66. Günther, Herodes, 72–87. Jos. Bell. I 18,4; vgl. dazu Günther, Herodes, 87f. Zur Pax Romana und Pax Augusta gibt es zahlreiche historische Erörterungen, insbesondere im Kontext der von Augustus propagierten aetas aurea; natürlich begegnet die Frage von Krieg und Frieden in jeder Darstellung der Geschichte dieses ersten ‚Kaisers‘, z. B. bei Kienast, Augustus, 274–310; Bleicken, Augustus. 511–525; zu den ideologischen Aspekten vgl. auch Zanker, Augustus, 171–196 und Wengst, Pax Romana.
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Begriff der στάσις umfasst das alles und sogar ‚Bürgerkrieg‘.9 Mit der Dominanz der hellenistischen Monarchien – also der Antigoniden, Seleukiden, Ptolemäer und dann auch der Attaliden, Ariarathiden, Hasmonäer und so weiter – spielten die Konflikte etwa zwischen Demokraten und Oligarchen oder zwischen griechischen Poleis mit hegemonialen Ambitionen keine so wesentliche Rolle mehr. Genauer gesagt: Jetzt gruppierten sich Widersacher um neue Pole; pro- oder antimakedonisch, pro- oder antiseleukidisch und so fort.10 Ein Abbau innerer Spannungen ist nur dort zu beobachten, wo – zumeist nur vorübergehend – die Herrschaft einer Monarchie über einen definierten Raum stabil genug war, um den Aufbau von ‚fünften Kolonnen‘ in den Poleis zu unterbinden. Die diplomatische Flexibilität der Machtakteure in der hellenistischen Staatenwelt verhinderte indessen eine starre Blockbildung und damit auch eine Ideologisierung von Machtansprüchen. Dass sich gerade dies durch das Auftreten der Römer im östlichen Mittelmeerraum grundlegend veränderte, haben die Zeitgenossen nicht erkannt – und wohl auch nicht erkennen können, denn wie hätten sie wissen können, dass libertas nicht einfach ein lateinisches Wort für ἐλευθερία war, societas nicht dasjenige für συμμαχία und amicitia erst recht nicht für φιλία? Die Polarisierung entlang der Linie pro oder contra Rom entwickelte sich rasant seit den ersten Jahren des 2. Jahrhunderts v. Chr.11 und verlor gleichsam ihren Sinn erst, als die Pax Romana unter Augustus jeden Widerstand marginalisiert hatte. Zuvor allerdings produzierte dieser Widerstand dort, wo er sich entwickelte, stets neue Scharen von φυγάδες – und in dem Maße, wie die Romfreunde zunächst noch nicht in der Überzahl waren, produzierte derselbe Widerstand im – zumeist ephemeren – Erfolgsfall auch φυγάδες unter den Rom-Freunden, wie ja das Beispiel des Herodes illustriert. In der vorhellenistischen Zeit gibt es ein einziges überliefertes Beispiel für rigorose Intoleranz einer Großmacht gegenüber Gegnern ihrer Herrschaft bzw. eines von ihnen eingesetzten Regimes, und zwar in der Form eines – versuchten – Vorgehens gegen Flüchtlinge. Nur eine einzige Polis scheint darauf mit dem Versuch reagiert zu haben, dieser politischen Haltung die Stirn zu bieten, nämlich Theben. Plutarch überliefert in seiner Biographie des Spartaners Lysandros den rechtsverbindlichen Beschluss der Lakedaimonier, Sieger über 9 10
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Vgl. allgemein Gehrke, Stasis. Den Zeitraum der Diadochenkämpfe und des 3. Jahrhunderts („Das Gleichgewicht der hellenistischen Mächte“) behandelt Seibert, Flüchtlinge, 162–187, gelangt allerdings zu der Auffassung, es sei „auffallend, daß die Geschichte der Phygades während des 3. Jahrhunderts viel weniger als in früheren Zeiten von den großen politischen Gegensätzen, wie z. B. zwischen Makedonenanhängern und Makedonengegnern u. ä. bestimmt worden sind.“ Eine Erklärung dafür mag freilich im Fehlen einer Historiographie im 3. Jahrhundert – zwischen Diodor, der bis 302/1 vorliegt, und der Geschichtsschreibung des Polybios – liegen; die inschriftlichen Zeugnisse sind von Seibert nicht erschöpfend ausgewertet worden. Vgl. dazu Gruen, Hellenistic World.
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Athen im Peloponnesischen Krieg, „dass alle Flüchtlinge aus Athen von überallher zurückgebracht und dass alle, die sich ihrer Abführung widersetzten, als Feinde angesehen werden sollten.“12 Indem potenzielle Helfer der φυγάδες direkt kriminalisiert wurden, erschwerte oder verhinderte man also die Flucht von Unterlegenen und Besiegten an einen sichereren Ort. Dank Plutarch kennen wir die Gegenbeschlüsse der Thebaner, nämlich „dass jedes Haus und jede Stadt in Boiotien den hilfsbedürftigen Athenern offenstehe, dass, wer einem Flüchtling, der verhaftet werden sollte, nicht Beistand leiste, eine Strafe von einem Talent zahlen (sc. sollte).“ Tatsächlich ging der Sturz des Regimes der ‚30 Tyrannen‘, das Lysander 404 in Athen installiert hatte, von Flüchtlingen aus, die sich in Theben gesammelt hatten und von dort nach Attika aufgebrochen waren.13 Die Rigorosität der spartanischen Haltung gegenüber athenischen Flüchtlingen ist keinesfalls eine phantastische Übertreibung des kaiserzeitlichen Autors, vielmehr bezeugen inschriftlich dokumentierte ‚Verfolgungsdekrete‘ weitere Fälle; so ist ein entsprechender Volksbeschluss aus Amphipolis erhalten, wo man 359 oder 357 v. Chr. gegen politische Feinde des neuen Makedonenkönigs Philipp II. vorging: „Beschluss des Volkes: Philon und Stratokles sollen verbannt sein aus Amphipolis und dem Land der Amphipoliten in ewiger Verbannung, sie selbst und ihre Kinder; und wenn sie etwa gefangen werden, sollen sie behandelt werden wie Feinde, und straflos soll ihre Tötung sein; ihre Vermögen sollen von der Gemeinde eingezogen werden und der Zehnte davon geweiht sein dem Apollon und dem Strymon. […] Wenn jemand den Beschluss aufzuheben beantragt oder diese Leute beherbergt mit List oder Machenschaften irgendwelcher Art, dessen Vermögen soll von der Gemeinde eingezogen werden, und er selbst soll aus Amphipolis verbannt sein in ewiger Verbannung.“14
Im Folgenden sollen einige Fallbeispiele aus den rund eineinhalb Jahrhunderten der römischen Machtgewinnung und -stabilisierung im hellenistischen Osten zeigen, wie die Polarisierung pro und contra Rom ihren dogmatischen Charakter und ihre konfrontative Blockhaftigkeit gewann, um die schlichte Behauptung römischer Indifferenz und Nichtakzeptanz von dezidierter Neutralität zu verdeutlichen, komprimiert in dem Statement, dass, wer nicht für sie war, ihnen als bekämpfenswerter Gegner galt. Zu skizzieren ist die Entwicklung einer schließlich kompromisslosen Intoleranz, die später auch für andere Konfrontationen (etwa gegenüber Juden oder gegenüber der ‚Sekte‘ der frühen Christen) routinierte Dynamiken bereitstellen konnte. Die ‚Geschichte‘ der römischen Einflussnahme in der griechischen Staatenwelt bei der Frage, wie mit φυγάδες umzugehen sei, begann bereits im
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Plut. Lys. XXVII. Vgl. zum historischen Ereignisverlauf z. B. Welwei, Athen, 249–252. Dittenberger, Sylloge; der deutschsprachige Text orientiert sich – unter Verzicht auf die diakritischen Zeichen – an Brodersen / Günther / Schmitt.
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Ersten Makedonischen Krieg (215 bzw. 212/1 bis 205) und steigerte sich insbesondere im Verlauf des Zweiten Makedonischen Krieges (200–196).15 Der folgende Antiochos-Krieg (193/2 bis 188) begann im sog. Mutterland und setzte sich in Kleinasien bis zum Sieg über das Seleukidenreich fort. Im Zusammenhang dieser militärischen Konfrontationen zwischen griechischen Staaten und römischen Oberbefehlshabern erwiesen sich die zahlreichen Verbannten und Geflüchteten der früheren Kriege bzw. der Polarisierung von romfreundlichen und romfeindlichen Personenkreisen in einzelnen Poleis als immer schwieriger zu handhabendes Problem. Im Ersten Makedonischen Krieg kämpften die Römer gegen den Makedonenkönig Philipp V. und die mit ihm verbündeten Achäer16; selbst waren sie mit den Ätolern verbündet, wobei der entsprechende Vertrag von 212/1 regelte, dass Immobilien als Beute den Ätolern, Mobilien aber den Römern gehören sollten.17 Im Jahr 211 wurde Ägina im Saronischen Golf, ein Mitglied des Achäerbundes, erobert: Die kriegsgefangene Bevölkerung galt als ‚Mobilie‘ und gehörte somit Rom, während die Insel als Immobilie den Ätolern zustand und an den befreundeten und verbündeten König von Pergamon, Attalos I., verkauft wurde. Der Geschichtsschreiber Polybios, dessen Vater Lykortas eine führende Rolle im Achäerbund gespielt und seinem Sohn später zahlreiche Details aus jener Zeit berichtet hatte, bezeugt, dass es nicht wenigen Männern aus Ägina gelungen war, zu entfliehen.18 Doch noch mehr als 20 Jahre später hofften äginetische φυγάδες darauf, eines Tages in die Heimat zurückkehren zu können:19 Einer der Exil-Ägineten bewog im Jahr 186/5 den Achäerbund dazu, eine als ‚Bestechungsversuch‘ bewertete Finanzofferte des pergamenischen Königs Eumenes II. abzulehnen mit dem Hinweis, „man könne wohl beanspruchen, Eumenes solle lieber […] die Stadt zurückgeben, dann werde ihm die Liebe aller sicher sein“, es würde die Annahme des Geldgeschenkes „unzweifelhaft zur Folge haben, die Hoffnungen der Ägineten auf Rückkehr in die Heimat für immer zu Grabe zu tragen.“ Das Schicksal offenbar einer größeren Gruppe von Flüchtlingen aus ihrer Heimatstadt Elateia in Phokis ist in einer Inschrift aus der achäischen Kleinstadt Stymphalos dokumentiert.20 Zu einem in der Forschung umstrittenen
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Neben den bereits genannten Studien von Seibert (s. o. Anm. 1) und Gruen (s. o. Anm. 11) dient die profunde Untersuchung von Deininger, Widerstand. Zu den Ereigniszusammenhängen vgl. die Darstellung bei Errington, Geschichte, 173– 177; Hammond / Walbank, History, 391–410. IG IX 12 2, 241; eine deutsche Übersetzung in Brodersen / Günther / Schmitt, Inschriften. Pol. Hist. IX 42: „Als Aigina von den Römern genommen war, versammelten sich die Aigineten, soweit sie nicht heimlich hatten entkommen können, bei den Schiffen […].“ Pol. Hist. XXII 11. Vgl. SEG 11,1950, Nr. 1105; SEG 38,1988, Nr. 355; Brodersen / Günther / Schmitt, Inschriften, 188f.
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Zeitpunkt während des Zweiten Makedonischen Krieges21 hatten diese Menschen ihre Heimat verlassen müssen und waren in Stymphalos äußerst gastfreundlich aufgenommen worden – aufgrund einer mythologischen Verwandtschaft. Vermutlich im Jahr 190, nach rund 15 Jahren in der achäischen Fremde, durften die Elateier mit römischer Genehmigung zurückkehren22 und ehrten nun so aufrichtig wie überschwänglich ihre achäischen Wohltäter. Die Wohltaten der Stymphaler bestanden darin, dass sie die Elateier in ihre Privathäuser aufgenommen hatten, während die Polis für die Verpflegung mit Nahrungsmitteln und allem Sonstigen aufkam. Anteil erhielten die φυγάδες nicht nur an den sakralen Aktivitäten, „da sie sie auffassten wie eigene Bürger“, sondern sie bekamen auch Ackerland zur kostenlosen Nutzung und wurden zudem für zehn Jahre von den eigentlich fälligen Abgaben aus den Erträgen befreit. Zur Rückkehr in den Anfangsjahren des Antiochos-Krieges kam es, als M. Acilius Glabrio, der das Phokerland nach der Schlacht bei den Thermopylen (Herbst 191) kontrollierte, einer Gesandtschaft der Achäer gestattete, dass die Elateier aus Stymphalos dorthin zurückkehren und ihr früheres Eigentum zurückerhalten durften. Die Rücksiedlung in die Heimatstadt verzögerte sich aufgrund der kriegsbedingt sehr schwierigen Versorgungslage, doch auch in dieser Phase erreichten die Stymphaler zugunsten ihrer Gäste vom Achäischen Bund die Genehmigung zur Ausfuhr von Getreide nach Elateia. Bei der Debatte um den genauen Zeitpunkt der Vertreibung der phokischen Flüchtlinge handelt es sich in unserem Zusammenhang weniger um das chronologische Problem, als vielmehr um die Frage, ob (schon) der römische Oberbefehlshaber Flamininus aus strategischer oder anderer Motivation eine ansässige Bürgerschaft vertrieben hatte oder ob es (erst) die Ätoler waren, die sich zur Erweiterung ihres Territoriums in Phokis festsetzten. In dem einen Fall müsste man annehmen, dass die φυγάδες romfeindlich gesinnt waren, in dem anderen, dass sie romfreundlich waren. Die erste Ansicht stützt sich auf die literarisch überlieferte Episode von der Eroberung Elateias,23 das von einer makedonischen Besatzung verteidigt wurde; zunächst suchte Flamininus „mit den führenden Männern“ zu verhandeln, doch lautete deren Antwort, sie hätten keinen Handlungsspielraum we21
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Vgl. dazu Seibert, Flüchtlinge, 531, mit Anm. 1487 (188), der ‚198‘ favorisiert mit dem Argument, dass T. Quinctius Flamininus im Jahr 198 „den Ort, der in wichtiger strategischer Position für den Nord-Süd-Verkehr gelegen ist, belagert und eingenommen“ habe; damals sei nach Aussage der literarischen Quellen den Elateiern die Freiheit zugebilligt worden. Eine alternative Datierung geht auf Passerini zurück, der sich ein Jahr nach dem Fund der Inschrift dazu geäußert hat (Passerini, condizione, 83–95): demnach sind es die Ätoler gewesen, die nach Überlassung der eroberten phokischen Polis die Bürger vertrieben haben sollen; diese Ansicht ist auch von Lehmann, Untersuchungen, 125ff., vertreten worden. Vgl. Seibert, Flüchtlinge, 196 mit Anm. 1535 (536). Liv. Ab urb. Cond. XXXII 24, 1–7.
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gen der Überzahl und Stärke der ‚Königlichen‘. Aus der folgenden Schilderung der Kämpfe ist nicht ersichtlich, dass Bürger am militärischen Widerstand beteiligt gewesen wären; schließlich lauteten die römischen Kapitulationsbedingungen für die Bürger auf ‚Freiheit‘, für die makedonischen Soldaten auf Verschonung ihres Lebens. Sollte es damals zu einer Vertreibung der Bürger gekommen sein, hätte Polybios, aus dessen Bericht Livius seine Kenntnisse schöpfte, dies übergangen.24 Meines Erachtens lässt die überlieferte Tatsache, dass die Erlaubnis zur Rückkehr von Acilius Glabrio erlangt wurde, den Schluss zu, dass der entscheidende Schritt dessen Sieg über die Ätoler gewesen ist, denn nun hatten diejenigen, die sich der Stadt 196 bemächtigt hatten, keinen Rechtsanspruch mehr auf Elateia. Wären die Elateier einst als Romfeinde nach Stymphalos ausgewichen, hätte der diplomatische Vorstoß der Achäer bei Acilius Glabrio wohl wenig Aussicht auf Erfolg gehabt – dies lehrt eben auch das vorhin genannte Beispiel der Ägineten, denen auch unter veränderten politischen Bedingungen die Rückkehr in das von Eumenes beherrschte Ägina verwehrt wurde. Als weiteres Argument ist anzuführen, dass die Stymphaler, die nicht ohne Rücksprache mit den zuständigen Organen des Achäerbundes die vertriebenen Elateier hätten aufnehmen können, kaum einer so großen Gruppe von Gegnern Roms Zuflucht gewährt hätten. Exemplarisch für φυγάδες, die als dezidierte Gegner Roms respektive Freunde Makedoniens in der Geschichtsschreibung bei Polybios und Livius überliefert sind, sei hier zunächst der Fall von Chalkis geschildert: Die strategisch und ökonomisch bedeutende, der attisch-böotischen Küste gegenüberliegende Stadt an der Westküste Euböas zählte unter der Makedonenherrschaft zu den drei ‚Fußfesseln‘ in Hellas. Hier kam es bereits im ersten Jahr des Zweiten Makedonischen Krieges (200 v. Chr.) zur Vertreibung von Romfreunden durch Anhänger des Königs Philipp V.; die φυγάδες flohen nach Athen und wandten sich dort an den römischen Konsul C. Claudius mit dem Versprechen ihre Heimatstadt den Römern zuzuspielen.25 Damit dürften sie auf ihre Rückkehr in die Heimatstadt mit römischer Waffenhilfe abgezielt haben.26 Als der römische Angriff auf Chalkis dann allerdings scheiterte, hatten die Flüchtlinge nichts weiter erreicht als große materielle Verluste in ihrer πατρίς. Ihnen ebnete die Heimkehr erst der nach der makedonischen Kapitulation federführend von T. Quinctius Flamininus ausgehandelte Friedensvertrag mit der Abtretung der ‚Fesseln Griechenlands‘ (197/6 v. Chr.), wie einer Passage aus Plutarchs panegyrischer Titus-Vita zu entnehmen ist: 24
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Vgl. Seibert, Flüchtlinge, 532 Anm. 1487, bemerkt, dass die spätere Datierung den Vorteil hätte, „daß der Ruhm des Flamininus als Hellenenfreund nicht mit einer solchen Tat befleckt würde“, was der Argumentation Lehmanns entspricht (s. o. Anm. 22). Liv. Ab urb. Cond. XXXI 23,1,11; Deininger, Widerstand, 80; Seibert, Flüchtlinge, 187f. Vgl. Seibert, Flüchtlinge, 187: „Ihre Rückführung hofften sie damit wohl automatisch zu erreichen.“
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„Titus selber begab sich nach Chalkis […] und legte die Verfassung wieder in die Hände des Volkes […]. Dann zog er von Stadt zu Stadt, sorgte für Ordnung und Recht, für Eintracht und Frieden, stillte die Parteiwirren, rief die Verbannten in die Heimat zurück und freute sich seines versöhnenden Einflusses auf die Griechen […].“27
Wie sich dieses ‚Programm‘ faktisch auswirkte, zeigte sich in dem von Richtungskämpfen geschüttelten Böotien an den Ereignissen um den dort führenden Staatsmann Brachyllas aus Theben. Während er als eingefleischter Makedonenfreund ein Freiwilligenkorps gegen die römischen Gegner kommandiert hatte, wurde in seiner Abwesenheit die Stadt von den Makedonengegnern dem römischen Feldherrn Flamininus ausgehändigt, der allerdings in seinem Winterlager in Elateia Ende des Jahres 197 den Böotern die erbetene Erlaubnis gab, dass jene ‚Freiwilligen‘ in ihre Heimat zurückkehren durften. Unter ihnen, die ohne römische Genehmigung als ‚Staatenlose‘ hätten außerhalb Böotiens bleiben müssen, war auch Brachyllas, der nunmehr seine bisherige Politik fortsetzte und erneute Richtungskämpfe auslöste. Als daraufhin die Romfreunde bei Flamininus mit der Sorge um ihre eigene politische Existenz vorstellig wurden, äußerten sie nicht nur ihre Befürchtungen über eine erneute Einflussnahme Philipps V. vermittels seiner Freunde, sondern forderten von dem römischen Feldherrn die Statuierung eines Exempels zur Einschüchterung ihrer innenpolitischen Gegner: nichts weniger als die Ermordung des Brachyllas.28 Wenn auch Flamininus mit dieser Sache nichts zu tun haben mochte, so wollte er „aber ihren Absichten nicht im Wege sein“29 und verwies sie an den ätolischen Strategen, der dann den Meuchelmord in Auftrag gab.30 Das Attentat löste heftige antirömische Ausschreitungen in Böotien aus und kostete schon bald die Drahtzieher selbst den Verlust der Heimat, in einem Fall sogar das Leben,31 doch führten diese Unruhen zugleich auch zu einer massiven Drohung des Flamininus und der Forderung nach einer hohen Bußzahlung, nach deren Ablehnung durch die Böoter die römische Belagerung
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Plut. Tit. XII 3; der hier auch genannte Abzug der inzwischen römischen Besatzungstruppen ist erst im Jahr 194 erfolgt; die Reise des römischen Feldherrn durch Griechenland gehört aber in das Jahr 196; vgl. Seibert, Flüchtlinge, 191: „Man kann diese allgemeine Angabe aus Mangel an Detailkenntnissen nicht spezifizieren.“ Deininger, Widerstand, 81, verweist darauf, dass es in Chalkis zwischen 194 und 192 zu einer Polarisierung zwischen den anti- und den prorömischen Richtungen gegeben habe; daher dürfte die Rückkehr der seit 200 v. Chr. verbannten Romfreunde kaum bereits 196 erfolgt sein; zu den weiteren Richtungskämpfen und den dabei unterlegenen, nun ihrerseits vertriebenen Romgegnern s. u. Deininger, Widerstand, 54–56; Seibert, Flüchtlinge, 191. Pol. Hist. XVIII 18,43. Der Mord wurde Anfang des Jahres 196 durchgeführt: Seibert, Flüchtlinge, 191; Deininger, Widerstand, 56 f. Liv. Ab urb. Cond. XXXIII 28–29; Deininger, Widerstand, 57; Seibert, Flüchtlinge, 191 m. Anm. 1503 (533).
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zweier Städte begann; Verhandlungen brachten dann eine Reduktion der geforderten Geldsumme sowie die Einigung auf die Auslieferung der für das „execrabile odium Romanorum“ verantwortlichen Makedonenfreunde.32 Indessen hatten auch in Chalkis, wohin die zu Beginn des Zweiten Makedonischen Krieges geflüchteten Romfreunde zurückgekehrt waren (s. o.), die makedonenfreundlichen Politiker schnell wieder an Boden gewonnen; als ihr führender Kopf agierte Euthymides, während Mikythion der Exponent der Romfreunde war, die bei einem Gesandtschaftsbesuch des T. Quinctius Flamininus in der Stadt (192 v. Chr.) von ihrem Protektor die Verbannung der romkritischen Bürger erreichten.33 Exilort war zunächst Athen, das einst die vertriebenen Makedonenfeinde aus derselben Stadt aufgenommen hatte (s. o.), dann trat Euthymides, der seit rund 15 Jahren als πρόξενος (‚Staatsgastfreund‘) der Ätoler bezeugt ist,34 in direkten Kontakt mit den Ätolern, die sich seit dem Ende des Zweiten Makedonischen Krieges von der römischen amicitia distanziert hatten und nunmehr eine Befreiung Griechenlands von der Vorherrschaft der Römer propagierten.35 Mithilfe der exilierten Chalkidier versuchte bald darauf der Ätoler Thoas, der als ‚Architekt‘ des antirömischen Bündnisses mit dem Seleukidenkönig Antichos III. und des 192/1 ausbrechenden neuen Krieges Roms im hellenistischen Osten gelten darf, die Stadt Chalkis zu gewinnen, doch scheiterte der Umsturzversuch an der militärischen Solidarität anderer euböischer Städte.36 Im Dezember 192 bzw. Januar 191
32
33 34
35 36
Liv. Ab urb. Cond. XXXIII 29,1; vgl. Deininger, Widerstand, 57 f.; Seibert, Flüchtlinge, 533 Anm. 1503, mit der zweifellos richtigen Vermutung, dass die ausgelieferten Böoter mit dem Tod bestraft worden sind. Liv. Ab urb. Cond. XXXV 37,4; Deininger, Widerstand, 81; Seibert, Flüchtlinge, 194 mit Anm. 1519 (534). IG IX 12, 31 Z. 67 f. dokumentiert für vermutlich das Jahr 208/7 v. Chr. einen Euthymidas (so auch die Namensform bei Livius) Sohn des Aristomachos aus Chalkis, an dessen Identität mit dem profilierten Romgegner des Jahres 192 kaum ein Zweifel sein kann: vgl. Deininger, Widerstand, 81 Anm. 7; Seibert, Flüchtlinge, 534 Anm. 1519. Bemerkenswert ist diese langjährige politische Beziehung des Euthymides deshalb, weil der Ätolerbund damals mit Rom verbündet war und gegen Philipp V. im Ersten Makedonischen Krieg stand; darin zeigt sich die Flexibilität von führenden Männern einer griechischen Polis im Sinne ihrer offenbar wenig dogmatischen Einstellung zu Rom. Vgl. dazu Deininger, Widerstand, 58–67. Liv. Ab urb. Cond. XXXV 37–38; Deininger, Widerstand, 82; Seibert, Flüchtlinge, 195; er betont in 534 Anm. 1525, dass nach der Sicherung von Chalkis für die Römer durch eine aus Pergamon zur Verfügung gestellte Schutztruppe keine „Säuberungen“ stattgefunden haben dürften, weil es dafür in der Überlieferung keine Hinweise gebe; dies ist insofern plausibel, als es einige Monate später in Chalkis zu einem erneuten – und erneut vergeblichen – Versuch kam, die Stadt auf die Seite der Romgegner zu ziehen, diesmal unter Führung des mit seinen Expeditionstruppen bereits in Thessalien gelandeten Antiochos III. (vgl. Deininger, Widerstand, 83).
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brachte Antiochos III. mit seiner militärischen Übermacht die Stadt zur Kapitulation, was unmittelbar zur Flucht der prorömischen Politiker führte.37 Der König machte Chalkis vorübergehend zu seiner ‚Residenzstadt‘ und heiratete sogar die Tochter des – zweifellos romfeindlichen – Bürgers Kleoptolemos;38 dieser wie die junge Gattin namens Euboia flohen dann nach der für die Römer siegreichen Schlacht bei den Thermopylen Ende April gemeinsam mit Antiochos nach Kleinasien, ebenso die romfeindlichen Exponenten Eubulides und Philon, deren Auslieferung im Friedensvertrag zwischen Rom und Antiochos III. im Jahr 188 ebenso verlangt wurde, wie die des Thoas und Hannibals.39 Hatte sich Philipp V. im Antiochos-Krieg auch als treuer Verbündeter Roms erwiesen, so kam es doch schon wenige Jahre nach dem Friedensschluss zu neuen Polarisierungen pro und contra Rom in Städten an der thrakischen Küste, im Kontext derer der Makedonenkönig in Rom als Gegner der jüngst etablierten ‚Weltordnung‘ wahrgenommen wurde. In Ainos und Maroneia, Städten an der östlichen thrakischen Küste, wandten sich die beiden rivalisierenden Gruppen an konkurrierende Protektoren, nämlich die eine an den Makedonenkönig, die andere an Eumenes II. von Pergamon. Die beiden Monarchen richteten ihre Hoffnungen auf einen territorialen Gewinn ihrer Städte, selbstredend mit Zustimmung Roms, doch war hier der Attalide absolut im Vorteil, da er bzw. bereits sein Vater Attalos II. in den bisherigen Kriegen Roms sich als dessen ‚bester Freund‘ erwiesen und so nach der Niederlage seiner Rivalen (Philipp V., Antiochos III.) an Prestige und Territorium hatte gewinnen können. Die beiden genannten Städte westlich des Hellespont befanden sich also bei ihrem inneren Parteienstreit zugleich im Konfliktfeld der beiden Nachbarn.40 Schließlich wandten sich die Gegner des Makedonenkönigs mit pergamenischer Unterstützung mit Beschwerden über Philipp V. im Jahr 186/5 an den römischen Senat.41 Bei Polybios heißt es: „Es kamen Gesandte von König Eumenes nach Rom mit der Meldung, Philipp eigne sich die Städte in Thrakien an, und die Verbannten aus Maroneia, die Philipp anklagten und ihm die Schuld an ihrer Vertreibung gaben […].“42 Obgleich sich um den kontrovers referierten Sachstand 37 38 39
40 41 42
Pol. Hist. XX 8; Liv. Ab urb. Cond. XXXV 50–51; Deininger, Widerstand, 84f. Deininger, Widerstand, 85 mit den zahlreichen Quellenbelegen zu dieser politisch-propagandistichen Ehe in Anm. 37. Pol. Hist. XXI 17; Liv. Ab urb. Cond. XXXVI 21; 37, 45; Deininger, Widerstand, 85f.; Seibert, Flüchtlinge, 534 Anm. 1527, vermutet, dass die namentlich bekannten Romfreunde Mikythion und Xenokleides aus ihrem uns unbekannten Fluchtort mit Einzug der Römer in Chalkis noch im selben Jahr 191 wieder in ihre Stadt zurückkehrten. Zum allgemeinen Ereigniszusammenhang vgl. Errington, Geschichte, 184–189. Vgl. auch Seibert, Flüchtlinge, 200–202. Pol. Hist. XXII 9; vgl. Liv. Ab urb. Cond. XXXIX 24,9: „Und Verbannte aus Maroneia waren gekommen, die vertrieben worden waren, weil sie die Sache der Freiheit gegenüber der Besatzung des Königs verteidigt hatten; diese berichteten, nicht nur Maroneia, sondern auch Ainos befinde sich in der Hand Philipps.“
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eine römische Gesandtschaft kümmerte, erschienen Anfang des Jahres 184 erneut Verbannte aus jenen Städten am Tiber.43 Nun forderte eine weitere Senatsdelegation von dem Makedonenkönig den Abzug seiner Besatzungen. Dass der Senat nicht die Rückkehr der romfreundlichen Flüchtlinge in ihre Städte forderte, sondern ihnen bestenfalls durch den Abzug der Soldaten Philipps einen Vorteil gegenüber der makedonenfreundlichen Richtung ermöglichte, lässt sich durchaus als ein Charakteristikum römischer Politik bezeichnen, beschloss der Senat doch nur, „was seiner Politik dienlich war“44. Der modernen Interpretation bleibt dabei anheimgestellt, in der ‚Halbherzigkeit‘ der römischen Fürsorge für Leute, die wegen ihrer prorömischen Haltung zu φυγάδες geworden waren, eine nachlässige Ignoranz oder eine gezielte Förderung innerer Unruhen zu sehen. Möglicherweise liegt eine Erklärung für das – auch schon im Fall von Chalkis – evidente Desinteresse an einer ‚Heimführung‘ vertriebener Romfreunde aber auch in einer realitätsnahen Berechnung der Chancen, die Richtungskämpfe in den betreffenden Poleis mit einer erzwungenen Rehabilitaton der Flüchtlinge dauerhaft zu befrieden; offenbar konnte der ferne Senat für die persönliche Sicherheit der Heimkehrer umso weniger garantieren, als die Poleis und Staatenbünde (κοινά) selbst in ihrer Entscheidungshoheit über Ab- und Zuerkennung des Bürgerrechts ein wesentliches Zeichen ihrer Autonomie sahen, das die Römer auf dem Hintergrund der von ihnen ja propagierten Freiheit und Selbstbestimmung der Hellenen nicht übergehen konnten.45 In die Richtung dieser Interpretation weist m. E. die Wendung Roms zu einer absolut rigorosen Politik gegenüber allen denjenigen städtischen oder bündischen Repräsentanten, deren bedingungslose Loyalität noch nicht bewiesen war. Faktisch dominierte Rom in eigentlich allen politischen Belangen des seit 188 formal befriedeten Hellas; überall hatten romtreue Kreise das Sagen, es existierten aber auch überall divergente Positionen; bei kleineren oder größeren Konflikten wandten sich alle Beteiligten nun also an den Senat direkt, wobei die ‚zuverlässigen‘ Freunde dort mit ihren Versionen ohnehin die offeneren Ohren fanden. Zwei Beispiele für das Schicksal romkritischer bzw. -feindlicher φυγάδες in der Zeit des Dritten Makedonischen Krieges verdeutlichen, wie die bislang tolerierte Meinungsvielfalt zugunsten einer unwidersprochenen Loyalität gegenüber Rom diskreditiert und eliminiert wurde. Der Krieg gegen Perseus, seit 179 v. Chr. Nachfolger seines Vaters Philipps V., begann 172/1 und endete
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Pol. Hist. XXII 15 nennt diesmal Verbannte aus Maroneia und aus Ainos. – Der Exilort der Beschwerdeführer ist nicht bekannt, doch dürften die Gegner Philipps V. spätestens nach der zweiten Demarche im Attalidenreich Zuflucht gefunden haben, wie schon Seibert, Flüchtlinge, 537 Anm. 1566, vermutet hat. Seibert, Flüchtlinge, 201. Vgl. Deininger, Widerstand, 119–124 (im Kontext des achäisch-spartanischen Konfliktes); Seibert, Flüchtlinge, 197–200, beschäftigt sich mit der Haltung Roms gegenüber den griechischen φυγάδες, insbesondere mit den spartanischen Verbannten.
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168/7 nach dem militärischen Sieg der Römer mit der Ausradierung des Makedonischen Reiches von der politischen Landkarte 168/7.46 Den militärischen Auseinandersetzungen waren umfangreiche diplomatische Aktivitäten vorangegangen, bei denen die griechische Staatenwelt auf die Linie Roms eingeschworen wurde bzw. werden sollte. Zu der längeren Vorgeschichte dieses Krieges – samt der auch von Polybios geteilte Perspektive, Philipp V. habe seinem Sohn den fortgeschrittenen Plan eines Revanchekrieges gegen Rom vererbt47 – gehörten nicht zuletzt fortgesetzte attalidische Denunziationen, etwa die Instrumentalisierung der inneren Konflikte in Ainos und Maroneia (s. o.). Die für so gut verwurzelt gehaltene prorömische Haltung der griechischen Poleis und ihrer Repräsentanten, die freilich in nicht wenigen Fällen inzwischen auch für Perseus, amicus et socius Roms, Sympathien entwickelt hatten, kippte schlagartig im Sommer 171 nach einer unerwarteten und viel beachteten Niederlage des römischen Heeres: Viele Griechen begeisterten sich jetzt für Makedonien.48 Die Reaktion des römischen Feldherrn bestand in einer Schuldzuweisung für die Niederlage an fünf führende Männern des Ätolerbundes, die sofort nach Rom deportiert wurden – wohin hätte man sie auch verbannen sollen? Bei der anschließenden ‚Jagd‘ auf tatsächliche oder vermeintliche Freunde des Perseus stützten sich die Römer – wie auch früher schon, etwa im Fall des Thebaners Brachyllas (s. o.) – auf ihre ‚Freunde vor Ort‘, deren Informationen, Insinuationen und Denunziationen unkritisch aufgriffen wurden. Jetzt aber ließ man den Anzeigen und Verleumdungen seitens derjenigen, die sie für die allergrößten Romfreunde hielten und die sich primär gegen die jeweiligen innenpolitischen Kontrahenten richteten, stets radikale Konsequenzen folgen. Dies schildert Polybios exemplarisch am Fall des Epiroten Charops, der als junger Mann einige Zeit in Rom verbracht hatte und nach einer dominanten Position in seiner Heimat strebte: „Als aber der Krieg gegen Perseus ausbrach, verleumdete der Bursche jene Männer sofort bei den Römern, wobei er sich auf deren gute Beziehungen zum makedonischen Königshaus von früher her stützte, in der gegenwärtigen Situation aber alles, was sie sagten und taten, genau beobachtete und in ungünstigem Sinne ausdeutete, entweder etwas fortließ oder etwas hinzufügte, und damit sogenannte 46 47
48
Vgl. zu den Ereigniszusammenhängen Errington, Geschichte, 191–195; Hammond / Walbank, History, 505–557. Pol. Hist. XXII 8 tadelt diejenigen Geschichtsschreiber, die in diversen Aktionen des Perseus die Ursachen für den Dritten Makedonischen Krieg gesehen haben und betont unter Hinweis darauf, dass Alexander III. seinen Krieg gegen das Achämenidenreich von seinem Vater Philipp II. geerbt hatte, die Vorbereitung des Krieges gegen Rom schon unter Philipp V.: „Perseus aber wurde nach seinem Tode der Vollstrecker seines Willens.“ (XXII 8,3). Pol. Hist. XXVII 9, 1: „[…] (Es) flammte wie ein Feuer die Stimmung der Menge für Perseus auf, mit der vorher die meisten hinter dem Berg gehalten hatten.“ – Vgl. Deininger, Widerstand, 159–191 (zum Widerstand gegen Rom im Dritten Makedonischen Krieg).
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Linda-Marie Günther Beweise gegen sie gewann […]. Als Charops nun seinen großangelegten Verleumdungsfeldzug gegen (Kephalos) eröffnete und alles, was nicht ganz den römischen Wünschen entsprach, als bewusste Sabotage auslegte, nahmen jene Männer das zunächst auf die leichte Schulter, da sie sich keiner feindlichen Gesinnung gegen die Römer bewusst waren. Als sie jedoch sahen, dass die (sc. vier) Ätoler nach der Reiterschlacht ohne irgendeinen triftigen Grund nach Rom abgeführt wurden […], gingen sie in Voraussicht ihres Schicksals miteinander zu Rate, was sie tun sollten.“49
Nach dem Ende des Perseus-Krieges wurde eine hohe vierstellige Zahl an ‚Kriegsverbrechern‘ nach Rom gebracht und in Italien in verschiedenen Orten interniert – unter ihnen auch der Geschichtsschreiber Polybios als ein hoher Funktionär des Achäerbundes – allesamt aufgrund von Listen, die ihre innenpolitischen Gegner als ‚bewährte Romfreunde‘ ausgestellt hatten;50 keinem von ihnen wurde ungeachtet des allen gemeinsamen Vorwurfes des Hochverrats an Rom allerdings der Prozess gemacht. So blieben sie auf eine viel sicherere Weise aus dem politischen Verkehr ihrer Heimatstädten gezogen, als es frühere Verbannungen je vermocht hatten, wie das Schicksal des Rhodiers Polyaratos zeigt.51 Dieser Mann war in seiner Heimatstadt als romkritischer Staatsmann aufgefallen und glaubte, sich durch die Flucht ins ptolemäische Ägypten in Sicherheit bringen zu können, jedoch wurde nach Kriegsende von dem dortigen König seine Auslieferung verlangt. Ptolemaios VI. schickte ihn allerdings nur in seine Heimatstadt Rhodos zurück; was dem Flüchtling die Gelegenheit bot, bei einem Halt im lykischen Phaselis zu entfliehen und als Schutzflehender (ἱκέτης) auf Rettung zu hoffen. Angesichts der römischen Forderung ging seine Odyssee weiter, bis man ihn in Kibyra auslieferte; in Rom ist er dann höchstwahrscheinlich hingerichtet worden. Dass es also angesichts der realen römischen Dominanz gänzlich sinnlos geworden war, als Schutzflehender aufzutreten, bringt Polybios in einem bitteren Kommentar zum Ausdruck: „[…] Ich weiß nicht, was er dabei im Sinn hatte: Hätte man ihn danach gefragt, er würde es selbst nicht haben angeben können […]. Welche andere Möglichkeit (neben der Antwort ‚nach Rhodos‘ bzw. ‚nach Rom‘) blieb also offen? Denn einen anderen Ort, der ihn hätte aufnehmen und ihm Sicherheit bieten können, gab es nicht.“52
Φυγάδες – also Flüchtlinge, Vertriebene, Verbannte – waren in der gesamten griechischen Staatenwelt und in allen Epochen ein bekanntes Phänomen; jeder sog. Parteienstreit, jede militärische Unterwerfung führte zahlreiche Menschen aus dem Kreis der Unterlegenen aus ihrer πατρίς, ihrer Heimatpolis, fort. Im ‚Exil‘ suchten sie indessen keine neue Heimat, sondern warteten auf einen 49 50 51 52
Pol. Hist. XXVII 15. – Vgl. dazu Deininger, Widerstand, 173–175. Dazu ausführlich Deininger, Widerstand, 191–214 (Kap. III 3: „Die ‚große Säuberung‘ in Griechenland“). Vgl. Deininger, Widerstand, 204–206. Pol. Hist. XXX 9.
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günstigen Moment für die Rückkehr in ihre Stadt, zumeist in der Hoffnung auf entsprechende, gegebenenfalls auch militärische Unterstützung ihrer politischen Gastgeber. In einem multipolaren Staatensystem funktionierten Flucht und Rückkehr ebenso wie in einem bipolaren System, denn es gab – wenn auch eingeschränkt – Zufluchtsorte bei den Feinden der eigenen Gegner bzw. deren Protektionsmächten. Seit sich aber eine einzige Großmacht für die allseitige und ‚ewige‘ Friedenswahrung zuständig erklärte, nämlich Rom als patronus libertatis Graecorum bzw. dann Augustus als vindex libertatis, verringerten sich die Zufluchtsorte für Personen, die mit der römischen Herrschaft nicht einverstanden waren, ja in ihr weniger eine Friedensgarantie denn eine Despotie sahen. Das Machtstreben der romfreundlichen Kreise in den Gemeinden verbannte oder vertrieb diese ‚Widerständler‘, die aus der Perspektive Roms und seiner Freunde am sichersten in einer Internierung aufgehoben, also komplett aus dem ‚politischen Verkehr‘ der griechischen Staatenwelt gezogen waren. Als Gegner einer auf Kontrolle und ‚Ordnung‘ der Oikumene abzielenden Weltmacht galten sie als notorische Störenfriede ohne legitimen Zufluchtsort.
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Literatur BERNSTEIN, Frank, Konflikt und Migration. Studien zu griechischen Fluchtbewegungen im Zeitalter der sogenannten Großen Kolonisation, St. Katharinen 2004. BLEICKEN, Jochen, Augustus. Eine Biographie, Berlin 1998. DEININGER, Jürgen, Der politische Widerstand gegen Rom in Griechenland 217 – 86 v. Chr., Berlin / New York 1971. ERRINGTON, Robert Malcolm, Geschichte Makedoniens, München 1986. GEHRKE, Hans-Joachim, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jh. v. Chr., München 1985. GRUEN, Erich S., The Hellenistic World and the Coming of Rome, Berkeley 1984. GÜNTHER, Linda-Marie, Herodes der Große, Darmstadt 2005. HAMMOND, Nicholas Geoffrey Lemprière / WALBANK, Frank William, A History of Macedonia Bd.3, Oxford 1988. KIENAST, Dietmar, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 1982. LEHMANN, Gustav Adolf, Untersuchungen zur historischen Glaubwürdigkeit des Polybios, Münster 1967. PASSERINI, Alfredo, La condicione della città di Elatea dopo la seconda guerra macedonica in una nuova iscrizione, in: Ath. 26 (1948), 83–95. SEIBERT, Jakob, Die politischen Flüchtlinge und Verbannten in der griechischen Geschichte, Darmstadt 1979. WELWEI, Karl-Wilhelm, Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jh. v. Chr., Darmstadt 1999. WENGST, Klaus, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrung und Wahrnehmung des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986. ZANKER, Paul, Augustus und die Macht der Bilder, München 1989.
Heimatlosigkeit als ethisches und moralisches Argument in Texten des frühen Christentums Hermut Löhr
1.
Der Kontext der Fragestellung
Die folgenden Ausführungen gehen der Frage nach, ob und inwiefern das in einer Reihe von frühchristlichen Texten des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. begegnende Motiv der irdischen Heimatlosigkeit der Glaubenden bzw., etwas später, der ‚Christen‘, in ethischen Reflexionen oder direkten moralischen Weisungen der uns überlieferten Quellen eine Rolle spielt. Dieser Fragestellung liegt die allgemeinere Annahme zu Grunde, dass die in frühchristlichen Texten sich findenden Argumentationen sehr oft direkt ethischen oder moralischen Zwecken dienen oder, anders gesagt, dass frühchristliche Glaubensaussagen und Existenzdeutungen intentional und explizit vielfach deutlich ethisch oder moralisch konnotiert sind. Stimmt dies, so ist frühchristliche Theologie gar nicht getrennt von frühchristlicher Ethik oder Moral1 zu beschreiben. Dies wiederum hätte Auswirkungen für einen den antiken Quellen insgesamt adäquaten Begriff von Religion und ihrer rational-argumentativen – theologisch-philosophischen – Durchdringung. In Hinsicht auf die Rekonstruktion frühchristlicher Ethik und Moral aber ist es mein Anliegen, sowohl ihr Selbstverständnis wie auch ihre materiale Ausformung auf Exklusivität und Inklusivität in Bezug auf die antik-mediterranen Gesellschaften zu untersuchen.
2.
Die ‚Schrift an Diognet‘
Das Motiv der irdischen Heimatlosigkeit der Christen wird in der frühchristlichen Literatur besonders eindrücklich in der ‚Schrift an Diognet‘ entfaltet. Dieser Text wird zu den apologetischen Schriften des entstehenden Christentums gerechnet, zugleich aber, etwas inkonsequent, in Sammlungen der ‚Apostolischen Väter‘ aufgeführt. Seine literarische Integrität, Verfasserschaft und Datierung sind umstritten; die hier vorausgesetzte Datierung in die zweite 1
Zu einer möglichen Unterscheidung der Begriffe ‚Ethik‘, ‚Moral‘ und ‚Ethos‘ vgl. Schockenhoff, Grundlegung, 18–20.
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Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. hat zwar Gründe für sich, kann aber nicht als gesichert gelten.2 Das Motiv der Weltferne der Christen wird in den Kapiteln 5 und 6 breit entfaltet und auf ethischer Ebene ausgewertet. Betrachten wir dieses Textstück etwas näher: Zunächst ist zu bemerken, dass die ‚Schrift an Diognet‘ in 5,1 wirklich von „Christen“ (χριστιανοί) spricht, also eine feste Bezeichnung für die Größe der Christus-Anhänger voraussetzt, welche als solche erst für das späte erste oder das beginnende zweite Jahrhundert gesichert ist.3 Die Pointe der Ausführungen in den beiden Kapiteln besteht darin, dass Gleichheit und Differenz der Christen zu ihrer kulturellen Umwelt zugleich ausgesagt werden. Dass das Konzept eines ‚dritten Geschlechts‘4 (neben Juden und Griechen) unausgesprochen im Hintergrund steht, wird von Beginn der Ausführungen an deutlich: Die Argumentation wird mit der Feststellung eröffnet, die Christen unterschieden sich weder hinsichtlich des von ihnen bewohnten Stückes Erde, noch durch die Sprache, noch durch die Sitten von den anderen Menschen (5,1f.). Mit anderen Worten: Typische Charakteristika eines eigenen ἔθνος oder γένος sind nicht zu erkennen. Die Betonung der Gleichheit und Unauffälligkeit der christlichen Lebensweise wird recht breit ausgeführt, bevor dann Diogn 5,5ff. auch die Differenzen zu ihrer Umwelt herausarbeitet: „Sie bewohnen jeder sein Vaterland [πατρίς], aber wie Nichtbürger; sie haben an allem Anteil wie Bürger, und alles erdulden sie wie Fremde. Jede Fremde ist für sie Vaterland, und jedes Vaterland Fremde.“5 Positiv gewendet könnte man vom Kosmopolitismus der Christen sprechen; anders formuliert geht es um die grundsätzliche irdische Unbehaustheit der Gläubigen, bei gleichzeitiger gesellschaftlicher und politischer Integration. Ist dies eine bloße Behauptung, nur ein eschatologischer Vorbehalt, der der unreflektierten Einbürgerung der Christen in die vorhandenen Verhältnisse zumindest rhetorisch wehren soll, oder hat eine solche Positionierung gute Sachgründe, ja existenzielle Erfahrungen für sich? Noch anders gewendet: Ist die irdische Heimatlosigkeit der Christen allein ein literarisches Motiv oder sind aus dem Text erfahrungsbezogene Gründe und Anlässe solcher Aussagen zu erkennen? In den folgenden Abschnitten wird die Behauptung mit einer Art moralischer Phänomenologie begründet: Der Text weist auf Differenzen im Verhalten der Christen zu ihrer Umwelt hin, und er normiert damit zugleich das Ver-
2 3
4 5
Vgl. Lona, Diognet, 63–69. Vgl: Apg 11,26; genaue Bedeutung (Eigen- oder Fremdbezeichung? ‚Christen‘ oder ‚Messianer‘?) und historische Zuverlässigkeit der Notiz stehen in Frage; vgl. z. B. Schnabel, Acts, 524f. Vgl. Wolter, Geschlecht. Diog 5,5; Übers. Lindemann / Paulsen, Väter, 313.
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halten seiner christlichen Leserinnen und Leser. Unterscheidende materialethische Momente sind: der Verzicht auf die Kindesaussetzung,6 die Abwehr von „Unzucht“ (πορνεία),7 eine gewisse (wie sich auswirkende?) Distanz zu den Gesetzen der Stadt, zugleich deren Überbietung im Wohlverhalten,8 die liebevolle Zuwendung zu den anderen, selbst in der Situation der Verfolgung, bis hin zur praktischen Feindesliebe. Die Passage läuft darauf hinaus, die kulturell-soziale Differenz, ja Trennung der Christen gegenüber Juden wie Griechen zu konstatieren, indem die Nicht-Reziprozität des Verhaltens der Christen gegenüber ihrer Umwelt ausgedrückt wird. Die Christen sind damit als dritte Größe neben Juden und Griechen rhetorisch und ethisch konstituiert: „Von den Juden werden sie als Fremdstämmige bekämpft, und von den Griechen werden sie verfolgt.“9 Natürlich ist diese sehr pauschale Darstellung nicht als direkte Abbildung der Lebensrealität im Beieinander von Juden, Griechen und Christen aufzufassen; die Formulierung ist ja global und an konkreten regionalen Lebensverhältnissen nicht interessiert. Im folgenden Kapitel der Schrift wird die Differenz und Bezogenheit der Christen auf den κόσμος im Vergleich von Leib und Seele ausgedrückt. Die Pointe dieser Ausführungen besteht darin, zugleich Unterscheidung und Beziehung von Seele und Leib, von Christen und Welt zum Ausdruck zu bringen. Diese Differenz wird in unterschiedlichen Perspektiven pointiert: Die Christen gehören nicht zu einer Stadt, sondern sind über die Welt zerstreut. Die Christen wohnen in der Welt, aber sie stammen nicht aus ihr. Die Welt ist für die Christen ein Gefängnis, zugleich wird die Welt von den Christen zusammengehalten. Die Christen wohnen in der Welt wie in der Fremde: „Unsterblich wohnt die Seele in einer sterblichen Behausung, ebenso wohnen die Christen als Beisassen [παροικοῦσιν] in vergänglichen (Behausungen) und erwarten die Unvergänglichkeit im Himmel.“10 Unbehaustheit und Heimatlosigkeit der Christen auf Erden (genauer: im Kosmos) werden durch folgende Aspekte betont: – Ortsungebundenheit, Nicht-Zugehörigkeit zu einer irdischen πόλις; – Einpassen in die Lebenssituationen der Fremdlingschaft11; – Verbreitung in griechischen und barbarischen Gebieten; – Beieinander von Gleichheit und Unterschiedenheit in den Sitten; – Situationen von Verfolgung und Verunglimpfung; – Bestrafung (offenbar durch irdische Gerichte) und Verfolgung.
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Merkwürdigerweise wird Abtreibung nicht erwähnt. Diese Deutung ergibt sich jedoch nur, wenn man mit Prudentius Maran (1742) in 5,7 gegen den Codex Argentoratensis κοίτην emendiert; vgl. Lona, Diognet, 164–166. Vielleicht könnte man beschreibungssprachlich von der Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität sprechen. Diog 5,17; Übers. Lindemann / Paulsen, Väter, 313. Diog 5,8; Übersetzung Lindemann / Paulsen, Väter, 315, modifiziert. Zur Semantik von παροικειῖν, πάροικος und παροικία vgl. Feldmeier, Fremde, 12–19.
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Darf man diese und ähnliche Formulierungen als den – gewiss stilisierten Ausdruck tatsächlicher frühchristlicher Lebenserfahrung und -praxis verstehen, so ist die Bestimmung der Heimat als ‚Himmel‘ als kontrafaktische Utopie zu interpretieren: Heimatlosigkeit gibt es nicht ohne eine Vorstellung von Heimat, Abwehr bestimmter Sitten gibt es nicht ohne Besinnung auf ein eigenes, sozial gültiges und plausibel begründbares Ethos. Inwieweit dieses Ethos materialiter von den als mehrheitlich-irdisch angenommenen Lebens- und Diskurszusammenhängen unterschieden ist, wäre eigens zu prüfen; der vorliegende Text belässt es bei wenigen Andeutungen, die es m. E. nicht erlauben, von einer ganz spezifischen christlichen Moral zu sprechen. De facto mag die hier vertretene Moral also auch wenig exklusiv verstanden worden sein. Ohne dass dies ausdrücklich gesagt würde, darf man annehmen, dass das Motiv der himmlischen Heimat dazu helfen soll, die Besonderheiten des angepriesenen christlichen Verhaltens zu plausibilisieren: Denn die aufgeführten Verhaltensweisen werden ja nicht durch rationale Argumentation näher begründet, sondern sie werden als gegeben präsentiert. Das christliche Ethos wird scheinbar nur beschrieben und in nicht ganz deutlicher Weise mit dem Verweis auf die himmlische Heimat erklärt, damit zugleich aber natürlich auch nach außen angepriesen und nach innen empfohlen oder in Erinnerung gebracht. Mit der Heimat ist immer ein charakteristisches Verhalten verbunden, so könnte man die im Hintergrund der Darstellung stehende Überzeugung zusammenfassen. In dieser Perspektive wird dem Motiv der Christen als dem dritten Geschlecht ein präziser Ort in der ethischen Überzeugungsstrategie des Textes zugewiesen, es ist so nicht bloß Nachbildung und Ersatz für andere eher ethnische denn religiöse Bestimmungen wie ‚Juden‘, ‚Griechen‘ und ‚Barbaren‘ zu lesen. Daneben klingt im Textzusammenhang noch eine teleologische Argumentation an, wenn von der Erwartung der Unvergänglichkeit im Himmel die Rede ist. Hingewiesen wird ferner auf die Übung durch Bewährung und die wachsende Zahl der Christen, bevor Kap. 6 mit dem Verweis auf die göttliche Ordnung schließt. Der Passage in Diogn. 5f. gelingt es in bemerkenswerter Weise, das Beieinander von Integration und Weltferne der Christen zu vielleicht moralisch orientierenden, gewiss aber auch zu apologetischen Zwecken zu verwenden und in der Beschreibung zu plausibilisieren. Weder redet der Text der Weltflucht und Isolation, noch einem vollständigen Aufgehen im saeculum das Wort. Die Utopie der himmlischen Heimat wird dazu verwendet, die so erreichte Balance zu halten.
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Der ‚Hirte des Hermas‘ und der 2. Clemensbrief
Wenden wir uns einem älteren christlichen Text zu (vielleicht aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.), der das Motiv der irdischen Heimatlosigkeit entfaltet. Die erste Bildrede des ‚Hirten des Hermas‘ setzt mit einer Feststellung des Offenbarungsmittlers gegenüber dem Ich-Erzähler ein: „Ihr wisst, ihr Knechte Gottes, dass ihr in der Fremde wohnt. Denn eure Stadt ist fern von dieser Stadt.“12 Diese Einleitung macht schon deutlich, dass zwei benachbarte, aber voneinander unterscheidbare Motive kombiniert sind: dasjenige von Heimat und Fremdlingschaft und dasjenige zweier weit voneinander entfernter (und das heißt zugleich: ganz unterschiedlicher) Städte.13 Deutlich ist im ganzen Kapitel die zeitliche Dimension; die ‚Heimkehr‘ in die eigene Stadt liegt noch in der Zukunft; am Schluss des Kapitels wird die Metapher durch die Rede vom ‚Gerettetwerden‘ aufgelöst bzw. umformuliert. Der Unterscheidung zweier Städte wird die Unterscheidung zweier Herren zugeordnet: Die Identifikation des „Herrn dieser Stadt“ wird von den Interpreten diskutiert. Eine klare zeitgeschichtliche Anspielung scheint nicht ausgesprochen zu sein, so dass der Vorschlag, diesen Herrn mit dem oder einem bestimmten römischen Imperator gleichzusetzen, nicht verifizierbar ist.14 Die andere Stadt wird als die eigene Stadt des Adressaten bezeichnet, also als seine Heimat. Auch wird ein, genauer: der Herr erwähnt und mit Gott identifiziert. Die Tatsache, dass hier nicht vom Herrn der Stadt die Rede ist, markiert den Übergang von bildhafter zu eigentlicher theologischer Sprache. Ferner ist von dem Gesetz oder den Gesetzen der fremden Stadt und dem Gesetz der eigenen Stadt die Rede, und diese werden einander gegenüber gestellt. Hier ist der sehr breite frühchristliche und frühjüdische Diskurs um das Gesetz also aufgenommen und in die politische Metaphorik eingebunden: πόλις und Gesetz gehören zusammen. Die geäußerte Gesetzeskritik zielt nicht auf eine grundsätzliche Ablehnung von Normen etwa zugunsten einer autonomen Moral oder einer Fokussierung auf die Passivität des Menschen im Gegenüber zu Gott; vielmehr werden die unterschiedlichen Gesetze nach ihrem Ursprung und Inhalt unterschieden. Auch hier überschreitet der Text die Grenze zwischen Bild und Sache: Das Gesetz der Heimatstadt wird zum Gesetz des Adressaten selbst, und sogleich danach ist von den zu tuenden Werken Gottes, seinen Geboten und Verheißungen die Rede (50,7), was deutlich auf ein Verständnis des göttlichen Gesetzes im Sinne der biblisch-jüdischen Vorstellungen von Tora weist. 12 13 14
Herm 50,1; Übers. Lindemann / Paulsen, Väter, 425. Dieses Motiv ist in jüdischen und christlichen apokalyptischen Texten des 1. und 2. Jahrhunderts erstmals deutlicher greifbar, vgl. Leutzsch, Wirklichkeit, 197–199. Die von Theodor Zahn vertretene Deutung der Stadt auf Rom wird gegenwärtig zumeist abgelehnt; vgl. Zahn, Hermas, 124.
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Ausführlich wird in Herm 50 die moralische Weisung entfaltet: Das ganze Kapitel ist von Reichtumskritik durchzogen, genauer scheint es – nicht nur bildlich – um Grundbesitz zu gehen. Zwar geht der Text nicht so weit, Besitz grundsätzlich abzulehnen; die konkrete Weisung zum Thema lautet vielmehr (50,6): „Erwirb dir als einer, der im fremden Lande wohnt, nicht mehr, als was du brauchst und was dir ausreicht“15, aber die Aussage lässt es doch offen, ob Grundbesitz überhaupt zu empfehlen sei, und sie relativiert jedenfalls kaum die Warnungen vor dem Ausschluss von der Heimatstadt wegen des Besitzes von Vermögen in der fremden Stadt. Hier scheint das Motiv von Heimat und Fremde also für ein konkretes Anliegen eingesetzt zu sein. Dessen unbeschadet wird die Rede von Äckern, Gütern und Häusern auch bildlich genutzt; dahinter steht die Vorstellung vom himmlischen Lohn für soziale Taten, konkret: den Loskauf (von Gefangenen oder Sklaven) und das Kümmern um Witwen und Waisen (50,8). In dieser Perspektive kann die Verschwendung zugunsten anderer der Verschwendung der „Heiden“ bzw. „Völker“ (ἔθνη) gegenübergestellt werden. Zum Kapitelschluss finden sich katalogartige Weisungen (die wiederum um Fragen von Geld und Besitz kreisen), mit der auffälligen Warnung vor Falschmünzerei. Das Motiv von Heimatlosigkeit und Heimat wird in Herm 50 also ganz deutlich für konkrete Weisungen zum Verhalten im Alltag eingesetzt, und die Konzentration und Konkretheit der Mahnungen lässt schon vermuten, dass der Text hier tatsächlich vorhandene Haltungen oder Tendenzen seiner intendierten Leserschaft vor Augen hat. Entscheidend ist die Einführung der Vorstellung von den Gesetzen der beiden Städte, die paränetisch ausgewertet wird. Deutlicher noch als in Diogn dient die untersuchte Motivik in Herm 50 nicht allein oder primär dazu, ein bestimmtes Existenzverständnis oder entsprechende konkrete Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen und diesen eine tröstende Utopie an die Seite zu stellen, sondern dazu, eine bestimmte Existenzhaltung zu plausibilisieren und mit sehr konkreten Weisungen zu versehen. Die Tatsache, dass der Text nicht nur beschreibt und so orientiert, sondern direkt warnt und mahnt, trägt zu dem Eindruck bei, dass die Korrektur eines tatsächlich in den Leserkreisen anzutreffendes Verhalten angestrebt ist. Deutlich in moralische Weisung eingebettet ist das Motiv auch in 2 Clem 5,1. Der Kontext dieser gern als Homilie bezeichneten Schrift ist insgesamt von Paränese bestimmt: So wird in Kap. 3 das Bekennen zu Christus, dem Retter, als Gehorsam zu verstehen gegeben. Und in Kap. 4 wird dies durch eine Reihe von Mahnungen konkretisiert, die an unterschiedliche neutestamentliche Textzusammenhänge, darunter die matthäische Bergpredigt, erinnern. Daran schließt 5,1 eine allgemeinere Mahnung an:
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Übers. Lindemann / Paulsen, Väter, 427.
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„Darum, Brüder, indem wir den gastweisen Aufenthalt in dieser Welt preisgeben, lasst uns den Willen dessen tun, der uns berufen hat, und lasst uns keine Furcht davor haben, aus dieser Welt hinauszugehen.“16 Mit der Rede von „dieser Welt“ (ὁ κόσμος οὗτος) verwendet 2 Clem das aus der ungefähr zeitgenössischen jüdischen Apokalyptik bekannte Zwei-Äonen-Schema und nutzt es für die moralische Weisung, und zwar so, dass die Distanz zu dieser (vergehenden, vor dem Ende stehenden) Welt zur Begründung für einen „frommen und gerechten“17 Wandel und für die Warnung vor dem Begehren wird. Im darauffolgenden Kapitel wird zunächst das JesusWort vom Diener zweier Herren (Lk 16,13) aufgenommen und auf den Dienst an Gott oder Mammon bezogen. Dies wird zusammengerückt mit der dualistischen Unterscheidung zweier Äonen; der Text erklärt, diese zwei Äonen stünden einander als Feinde gegenüber (6,3). Es folgt sogleich ein Lasterkatalog mit der Nennung einigermaßen konventioneller Laster wie „Ehebruch“, „Verderbnis“, „Geldgier“ und „Täuschung“, die mit dem gegenwärtigen Äon verknüpft seien. Folgerichtig wird zur Abkehr von dieser Art zu leben und der Zuwendung zu einem Leben entsprechend dem kommenden Äon gemahnt. Verheißen sind einem solchen Verhalten „Ruhe des kommenden Reiches und des ewigen Lebens“ (5,5) oder, abgekürzt, „Ruhe“ (6,7). Das Gegenbild ist die „ewige Strafe“ (6,7); für die christliche Existenz besteht die Herausforderung darin, die Taufe „rein und unbefleckt zu bewahren“ (6,9). Eine Taufentsündigungslehre vertritt 2 Clem also nicht. Die Dualität von Hier und Dort, Jetzt und Einst begegnet auch in den folgenden Kapiteln und ist paränetisch kontextualisiert, wird aber nicht mehr explizit mit der Terminologie der Fremdlingschaft belegt. Das angedeutete Motiv wird in 2 Clem ganz deutlich zur moralischen Weisung genutzt. Dabei wird das Bild von Stadt oder Heimat nicht weiter entfaltet; interessant ist der Versuch, die Argumentation wiederholt auf neutestamentliche Textzusammenhänge, und hier besonders auf Worte Jesu, zu stützen. Der Äonen-Dualismus ist in einer Weise paränetisch verzweckt, dass man fragen darf, ob er seine in anderen Zusammenhängen wahrnehmbare geschichtsdeutende Macht18 im vorliegenden Textzusammenhang nicht ganz eingebüßt hat. Dass das Motiv der Fremdlingschaft auf konkrete Erfahrungen des Fremdseins, der Anfechtung oder Verfolgung anspielen würde, ist nicht deutlich. Fremdheit und Heimatlosigkeit werden ganz im Sinne moralischer Differenz verstanden.
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Übers. Lindemann / Paulsen, Väter, 159. Hier klingt der gemein-antike ‚Kanon der zwei Tugenden‘ an; vgl. Dihle, Kanon. Es ist jedoch auch genauer zu untersuchen, ob das ausgearbeitete Schema je solche geschichtsdeutende Intention oder Kraft besaß. Eine genauere Beschäftigung mit dieser Frage behalte ich einem anderen Beitrag vor.
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4.
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Der neutestamentliche Befund
Auch die einschlägigen neutestamentlichen Passagen, welche das genannte Motiv enthalten oder andeuten, sind auf ihre ethischen und moralischen Konnotationen zu befragen: Der wohl früheste christliche Beleg findet sich in Phil 3,20.19 Das dritte Kapitel des Schreibens ist zunächst von der Selbstdarstellung des Paulus geprägt, in Hinsicht auf seine frühere Existenz als gesetzestreuer und -eifriger Israelit und Pharisäer, zugleich als Verfolger der ἐκκλησία, wie in Hinsicht auf sein gegenwärtiges Wirken. Die paränetische Auswertung folgt ab V. 17; der Autor fordert die Adressaten dazu auf, ihn nachzuahmen. Die in V. 18 formulierte Ablehnung der „vielen, die unter uns leben“, erinnert an die Polemik in V. 2; vermutlich sind hier eher Irrlehrer als moralisch Verkommene im Blick. Und die Polemik in V. 19, die ohne Zweifel moralische Untertöne hat, ist so allgemein, dass sie wohl als Stereotyp ohne konkreten Anhalt an der Wirklichkeit anzusehen ist. V. 20 nimmt in anderer Bildlichkeit dann die Zukunftserwartung der Verse 12 bis 15 auf, indem von der „Bürgerschaft“ (πολίτευμα)20 im Himmel (der dem in V. 19 erwähnten „Irdischen“ gegenübersteht) gesprochen wird. An die Rede vom Himmel wird dann fast formelhaft die Erwartung des Kommens Christi angefügt. Der Motivzusammenhang von Heimat und Heimatlosigkeit ist nur eben angedeutet; seine Erwähnung wirkt im Kontext etwas überraschend. Die ethische Akzentuierung ist schwach, aber wahrnehmbar; sie ist durch den Verweis auf das Vorbild des Apostels veranschaulicht und wird durch die Rede vom himmlischen Ziel teleologisch orientiert: Irdische Heimatlosigkeit ist Ausdruck einer moralischen Differenz, die festgestellt, damit aber zugleich auch empfohlen wird. Die Frage nach Ausgestaltung und Begründung der moralischen Norm wird mit dem untersuchten Motiv nicht deutlich verknüpft. Geht man bei der Suche nach relevanten Textpassagen von einschlägigen Wortfeldern wie ξένος κτλ., πάροικος κτλ., πατρίς κτλ. aus, so kommt die Evangelientradition wenig in den Blick. Natürlich aber gibt es eine Reihe von Texten, welche zu dem weiteren Motivzusammenhang gerechnet werden können. In der synoptischen Tradition gehören dazu z. B. die Trennung Jesu von seiner Verwandtschaft und seiner Vaterstadt, das Wort Mt 8,20 / Lk 9,58 (Q) von der Heimatlosigkeit des Menschensohns, Jesu Umkehrruf an alle und sein Ruf in die Nachfolge aus den bisherigen sozialen Bindungen an einige, der ja auch als modellhaft für Rezipienten der Texte verstanden werden kann oder 19
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Obwohl Schwemer, Stadt, 229, πολίτευμα in Phil 3,20 nicht mit „Stadt“, „Gemeinwesen“, sondern mit „Bürgerrecht“ wiedergibt, sieht sie eine enge Beziehung zwischen Phil 3,20 und Gal 4,26. Eine solche motivliche Beziehung ist nicht ausgeschlossen; es ist aber festzuhalten, dass Phil 3,20 sich auf keine konkrete himmlische Stadt (z. B. das himmlische Jerusalem) bezieht. Zur Diskussion um die Semantik des Wortes vgl. Schwemer, Stadt, 229.
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einzelne Motive der Kindheitsgeschichten bei Mt und Lk. Für das Joh wäre auf die grundsätzliche Distanzierung vom κόσμος und die Konstruktion der Gemeinde als Gegenwelt, die Vorstellung von der Zeugung „von oben“ (Joh 3,3), das Sein ‚aus Gott‘ oder auch der Verweis auf die vielen Wohnungen im Haus des göttlichen Vaters zu verweisen. Und ohne Zweifel kommt manchen dieser Texte eine orientierende Funktion über die erzählte Welt des Textes hinaus zu. Freilich besteht die Gefahr – der die Exegese nicht immer widerstanden hat –, dass durch eine zu sehr geweitete Untersuchungsperspektive der Blick für Detail und Differenzierung unscharf wird. Von daher stellt sich die Frage nach alternativen Zugriffen auf Textzusammenhänge, die nicht schon aufgrund ihrer Lexematik dem Motiv zugeordnet werden können. Eine Möglichkeit sehe ich darin zu prüfen, welche neutestamentlichen Zitate in solchen späteren frühchristlichen Texten aufgenommen werden, die das Motiv der Heimatlosigkeit klar ansprechen. Man könnte hier von einem äußeren Ring von Texten sprechen, der sich um den inneren Kreis legt. Ich wies schon darauf hin, dass in der Passage 2 Clem 5 auf eine Reihe von Zitaten aus der JesusTradition Bezug genommen wird.21 In ihnen werden Erfahrungen von Fremdheit und Verfolgung ebenso aufgegriffen wie konkrete Weisungen und teleologische Motivierungen zum Tun des Guten. Es ist zu bemerken, dass narrative Konstellationen (in denen das Verhalten Jesu selbst zur Orientierung werden könnte) nicht angespielt werden.22 Der schon besprochene Abschnitt aus Diogn. enthält dagegen keine direkten Zitate und ruft die Jesus-Tradition offenbar nicht auf. Deutlicher sind Anklänge an paulinische Texte wie 2 Kor 6,8; 10,3 und Phil 3,20 zu hören. In Hinsicht auf Herm 50 kann wiederum eine gewisse Nähe zu Aussagen der synoptischen Tradition konstatiert werden,23 Zitate sind jedoch gar nicht zu identifizieren.24 Blicken wir auf das Vorkommen von Terminologie und Motiv in Hebr 11: Sie taucht im Abraham-Beispiel in V. 9 zum ersten Mal auf. Der Gegensatz von Heimat und Fremde ist hier dadurch zugespitzt, dass der Text den biblischen Zusammenhang aufruft, ja, zitiert, und zugleich unterläuft: Denn das „Erbland“ oder „Land der Verheißung“, zu dem Abraham auszieht, wird zum Land der Fremdlingschaft in Zelten. Dem gegenübergestellt ist die Erwartung
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Dazu gehören die an die Jünger gerichteten Logien Lk 10,3 par. Mt 10,16; Lk 12,4f. par. Mt 10,28 in 2 Clem 5,2–4, Lk 16,13 par. Mt 6,24 in 6,1, Mk 8,36 parr. Mt 16,26 / Lk 9,25 in 6,2. Die Rezeption des Wortes Mt 8,20 par. in der frühchristlichen Literatur wäre einer eigenen Untersuchung wert. In den Apostolischen Vätern finde ich es nicht aufgenommen. Brox, Hermas, 289 verweist auf Mt 6,19.20; 16,26 und 19,29. Für die etwas spätere patristische Literatur und ihre Verwendung neutestamentlicher Aussagen vgl. Roldanus, Références.
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der erwarteten (das heißt: künftigen) und auf Steine gegründeten Stadt Gottes.25 Diese Motivik wird in der Zusammenfassung in den Versen 13 bis 16 aufgenommen; mit ihrer Existenz bekennen die genannten Patriarchen, dass sie „Fremde und Beisassen“26 „auf Erden“ (ἐπὶ τῆς γῆς) sind. Zu verweisen ist auch auf den Rückblick in 11,38, der die Situation der Verfolgung zu akzentuieren scheint. Wenn auch die in Kap. 11 angeführten Beispiele biblische Zeugen und zugleich Beispiele der den Adressaten empfohlenen eschatologischen Heils-Erwartung und Haltung sind, kann man kaum sagen, dass das Motiv von Heimatlosigkeit und Heimat im Hebr direkt zur moralischen Weisung ausgewertet würde. Immerhin taucht das Motiv in 13,14 noch einmal auf; dabei werden, liest man den Vers genau, zwei Städte unterschieden, deren eine hier und zugleich „nicht bleibend“, die andere aber „kommend“ und, so darf man ergänzen, bleibend, oder im Sinne vom 12,26 ‚unerschütterlich‘ ist. Die inhaltliche Verknüpfung mit dem Kontext scheint mir durch den Verweis auf die Schande Christi ‚außerhalb des Lagers‘ zu bestehen; im Hintergrund könnten konkrete Erfahrungen von Ausstoßung und Verfolgung stehen, auf die der Hebr auch sonst wiederholt verweist (vgl. 10,32–36; 13,3). Ob solche Erfahrungen freilich durch das Christsein als solches, sozusagen das nomen ipsum, hervorgerufen wurden, ist schwer zu beurteilen. In historischer Perspektive ist ja immer damit zu rechnen, dass die Erfahrung sozialer Marginalisierung durch die betroffenen Individuen oder Gruppen nicht einfach dargestellt, sondern in sehr spezifischer Weise gedeutet wird, und etwa die Aussage, man leide um Christi willen, wäre zunächst als eine solche Deutung und nicht ohne weitere Prüfung als historisches oder juristisches Faktum zu lesen. Ich muss hier auf das Vorkommen des Motivs in Eph 2,19 nicht genauer eingehen. Denn zwar begegnet dort die Konsoziation von ξένοι und πάροικοι27, und auch von einer paränetischen Anwendung ist durchaus zu sprechen, doch geht es nicht um die Normierung des alltäglichen Verhaltens, sondern um die Integration der ἐκκλησία über die Unterscheidung von Israel und den Völkern in der Christus-Gemeinschaft. Die im Kontext begegnende Gebäude-Metaphorik bezieht sich auch nicht auf ein himmlisches Haus oder eine himmlische Stadt, sondern eben auf die „Kirche“, die „Gemeinde“ oder „Volksversammlung“. Interessant ist, dass die als „Fremde“ etc. Angesprochenen de facto in den frühen Gemeinden, die im Eph im Blick sind, zahlenmäßig die Mehrheit gebildet haben könnten. Der Gebrauch der Terminologie scheint von einem von Israel her gedachten (vgl. V. 12) Verständnis der erwähnten „Heiligen“ und „Hausgenossen Gottes“ bestimmt zu sein (vgl. V. 12), dem auch die „Apostel und Propheten“ (V. 20) zugerechnet werden. Mit anderen Worten: Dem Textzusammenhang ist deutlich mehr zu entnehmen als 25 26 27
Zur ‚politischen‘ eschatologischen Erwartung des Hebr vgl. auch 12,22; 13,14 für πόλις; in 12,28 wird von der βασιλεία gesprochen. Die Wendung ist in der frühchristlichen Literatur erstmals bei Just. Apol. 67,6 aufgenommen. Vgl. sonst Phil. Somn. 1,45; Diod. Hist. 20,84.
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bloß die Aussage, in Christus sei die Grenze zwischen Juden und Heiden aufgehoben. Das angedeutete Motiv von Heimatlosigkeit und Heimat setzt auch theologisch-ekklesiologische Akzente. Prominentester neutestamentlicher Beleg für die Verwendung des Motivs ist ohne Zweifel der 1. Petrusbrief.28 Schon in der adscriptio wird das Motiv aufgenommen; das Schreiben ist demnach an die „Auserwählten, die Fremdlinge der Diaspora29 des Pontus, Galatiens, Kappadokiens, der Asia und Bithyniens“ (1,1) gerichtet.30 Das Motiv der Fremdlingschaft ist hier also zum ersten Mal mit Begriff und Vorstellung der Diaspora verbunden. Damit klingt der Gedanke des Gottesvolkes an, ohne hier schon ausformuliert zu werden; dies geschieht dann ausführlich in 2,9f. In der an das briefliche Präskript anschließenden Briefeingangseulogie folgt der Verweis auf das künftige, himmlische und unvergängliche Erbe (κληρονομία), das den Adressaten in Aussicht gestellt wird (1,5). Die nach der Eulogie in V. 13 aufgenommene erste direkte Paränese des Textes schließt dann mit dem erneuten Hinweis auf die Fremdlingsexistenz (1,17): „Und wenn ihr den Vater anruft, der ohne Ansehen der Person nach dem Tun eines jeden richtet, so führt in der Zeit eurer Fremdlingschaft ein Leben in Furcht [scil. Gottes].“ Auch die zweite Textpassage, die hier zu nennen ist, formuliert eine Mahnung. Nach der an die Bekehrung erinnernden Zusage an die Adressaten, „auserwähltes Geschlecht, königliches Priestertum, heiliges Volk“ und Volk des Eigentums zu sein, heißt es in 2,11f.: „Geliebte, ich ermahne euch als Beisassen und Fremdlinge,31 euch von den fleischlichen Begierden zu enthalten, welche wider die Seele streiten: Bewahrt euren guten Wandel unter den Völkern, damit sie, während sie euch als Übeltäter schmähen, durch eure schönen Taten zur Erkenntnis kommen und Gott preisen am Tag der Heimsuchung.“
Diese sehr allgemeine Mahnung wird dann in den folgenden Textpassagen konkretisiert, zunächst durch die Mahnung zum Gehorsam gegenüber den politischen Autoritäten (2,13–17) und dann in Form einer Art Haustafel mit Mahnungen an Sklaven, Ehefrauen und Ehemänner (2,18–3,7). 28 29
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Vgl. hierzu die Studien von Feldmeier, Fremde, und Elliott, Home. Ein seit der Septuaginta geläufiger griechischer Terminus, für das früheste Christentum vgl. Joh 7,35; Jak 1,1 und dann öfter in Justins Dialog mit Trypho (113,3; 117,2.4.5; 121,4). In vergleichbarer Weise ist 1 Clem praescr. von der „Kirche Gottes, die in Rom als Fremde wohnt, an die Kirche Gottes, die in Korinth als Fremde wohnt“ gerichtet. Das verwendete griechische Partizip ist παροικοῦσα. Dies ist umso auffälliger, als die Motivik sonst in 1 Clem keine Rolle zu spielen scheint. PolPhil praescr. und MartPol praescr. könnten schon direkt von der Formulierung in 1 Clem abhängig sein. Die Konsoziation von πάροικος und παρεπίδημος findet sich zuvor, soweit ich sehe, in der griechischen Literatur nur in Gen 23,4 LXX im Kontext der Episode von Abrahams Kauf der Begräbnisstätte für Sara (hebr. )גר ותושׁב, in Ps 39 (38),12, und dann, als direktes Zitat dieser Passage, bei Phil. Conf. 79,2.
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Die mit dem Verweis auf die Fremdlingschaft angedeutete Distanz zu den konkreten vorfindlichen Lebenskontexten sowie die später ausgeführte eschatologische Erwartung führen den Text nicht dazu, ein Leben in Weltabgewandtheit und Isolation zu empfehlen. Vielmehr wird das empfohlene Verhalten als mögliches Vorbild für die Umwelt zu verstehen gegeben. Und die Aufforderung, alle Menschen zu ehren (2,17), mag zwar eher prudentiellen Erwägungen als einer universal angelegten Ethik und Moral entstammen, führt aber jedenfalls über den Horizont der eigenen Gruppe hinaus. De facto führen die konkreten Weisungen des Briefes auch nicht auf eine frühchristliche Sondermoral, welche die Gruppe als solche deutlich erkennbar von moralischen Normen der Umwelt unterschieden haben müsste; und notiert werden sollte auch der Befund, dass etwa religiös bedingte Sonderregeln (zu denken wäre an ein Feiertagsgebot oder Speise- und Fastenvorschriften) nicht erwähnt werden. Der Text erinnert zudem an die frühere ‚heidnische‘ Unmoral der Adressaten selbst (4,3): „Denn lange genug war die vergangene Zeit, gemäß dem Willen der Völker zu handeln, in der ihr gelebt habt in Schwelgereien, Begierden, Trunkenheit, Gelagen, Trinkgelagen und frevelhafter Götzenverehrung.“ Die in der Umwelt wahrgenommene und verworfene Lebenspraxis, so wird behauptet, prägte durchaus auch das vergangene Leben der Adressaten selbst. Die vorausgesetzte Konversion ist also auch und primär eine moralische Konversion. Noch deutlicher als im zitierten Abschnitt wird dann in 4,15f. erkennbar, dass solche heidnische Unmoral nicht einfach hinter den Adressaten liegt: Denn der Text unterscheidet in seiner Leidensparänese die Unterscheidung zwischen einem Leiden aufgrund eigenen Unrechttuns einerseits, aufgrund des Christseins andererseits. Und konsequent wird die Erwartung des göttlichen Gerichts auch und zuerst auf das „Haus Gottes“ bezogen (V. 17). Zusammenfassend ist festzustellen, dass 1 Petr das Motiv der Heimatlosigkeit weniger deutlich als die anderen bisher betrachteten Text mit demjenigen der himmlischen Heimat korreliert. Man könnte sagen, dass die Vorstellungen von Fremdlingschaft und Diaspora unter den Völkern viel prägender ist als die Dualität von Existenz in der Welt (oder diesem Äon) und Heimat im ‚Himmel‘ oder in der kommenden Welt. Dazu passt, dass der Gedanke des Gottesvolkes deutlich akzentuiert ist; dem werden ‚die Völker‘ gegenübergestellt. Der ethische Rahmen dieser konstruktiv-rhetorischen Leistung ist sehr deutlich: Die Identität der Gemeinschaft ist im Wesentlichen moralisch gefasst. Dies bedeutet jedoch weder, dass eine christliche Sondermoral empfohlen würde, welche die Adressaten materialiter und de facto von ihrer Umwelt trennen müsste, noch dass die konkreten Weisungen auf gruppeninternes Verhalten beschränkt wären. Das aus der Befolgung der gegebenen Weisungen resultierende Ethos wäre also eher inklusiv als exklusiv. Und zum anderen deutet der argumentative und rhetorische Aufwand, mit dem die Adressaten als Gemeinschaft repräsentiert werden darauf, dass diese Konstruktion der
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Christen als – ortsübergreifende – Gemeinschaft für den Verfasser unseres Textes nicht einfach als soziale, religiöse und kulturelle Realität gegeben war, sondern eine Herausforderung darstellte.
5.
Das Motiv der Heimatlosigkeit in Quellen des entstehenden Christentums
Das Motiv der Heimatlosigkeit wird in den untersuchten Textzusammenhängen auf die sich in den Quellen aussprechende Wir-Gruppe, die Adressaten oder, im Falle der Evangelientradition, auf das Vorbild der Gruppe und seine exemplarischen Nachfolger bezogen. Zwar findet sich in den Quellen gelegentlich auch der Hinweis auf die ‚Fremden‘ oder die ‚Gäste‘ als die ‚bedeutsamen Anderen‘ der eigenen Gruppe, doch wird deren Status und die sich aus ihm ergebende ethische Herausforderung nicht mit Hilfe der genannten Motivik bearbeitet. Es zeigte sich, dass das Motiv der Heimatlosigkeit nicht ausschließlich, aber markant in ethischen Argumentationen und zur direkten Weisung eingesetzt wird. Diese semantische und pragmatische Einbindung wird unterschiedlich gestaltet und kann u. a. die politische und nomologische Dimension des Bildes entfalten und teleologische Begründungsstrukturen in sich aufnehmen. Mit Hilfe des Motivs können sowohl allgemeine Orientierungen zum Verhalten in der Welt wie konkrete Weisungen ausgesprochen werden. Wenn es auch zutrifft, dass das Motiv geeignet ist, eine eschatologisch konnotierte existenzielle Distanz zu Welt und Mehrheitsgesellschaft auszusprechen, so geschieht dies in den untersuchten Stücken nicht undifferenziert; der Verweis auf die Heimatlosigkeit bedeutet keineswegs Weltflucht oder strikt exklusives Sonderethos. Auch wurde wiederholt deutlich, dass Rhetorik und Argumentation der Texte keinen direkten Aufschluss über die tatsächliche soziale Situation der frühen Christen geben. Eine Antwort auf die Frage nach Analogien und traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen der Motivik im frühen Christentum konnte im Rahmen dieses Beitrags nur angedeutet werden: Der motivspendende Bereich scheint eindeutig die frühjüdische Literatur zu sein, die ihrerseits auf biblische Narrative zurückgreift. Dies ist noch genauer zu untersuchen; dabei ist auch zu bestimmen, ob der Motiveinsatz in den frühchristlichen Texten etwa als typisch apokalyptisch gelten kann. Ebenso ist auch an die frühjüdischen Texte die Frage nach der Art der ethisch-moralischen Auswertung des Motivs zu richten. Doch ist hier noch eine methodische Korrektur anzubringen: Als heuristisch weiterführend hat sich mir in den letzten Jahren mehr und mehr ergeben, die frühchristlichen Texte nicht als Ausdruck eines eigenen, mehr oder weniger geschlossenen Diskurses zu betrachten – und dann in einem zweiten
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Schritt nach Analogien und Einflüssen der Umwelt zu fragen, sondern vielmehr mit den zeitgenössischen frühjüdischen Texten zusammenzufassen als Zeugen einer umfassenderen jüdisch-frühchristlichen Gesprächslage. In Hinsicht auf die Verwendung des Motivs der Heimatlosigkeit fällt ja auf, dass sein Vorkommen in jüdischen Texten deutlich vermehrt ab dem späten ersten Jahrhundert n. Chr. festzustellen ist. Zumindest einige der hier angesprochenen frühchristlichen Texte – die ‚Schrift an Diognet‘ ist kaum sicher datierbar – gehören also in den Kontext dieses umfassenderen Diskurses und seiner ethisch-moralischen Ausprägung und sind aus dieser Perspektive neu zu lesen.
Literatur BROX, Norbert, Der Hirt des Hermas (KAV 7), Göttingen 1991. DIHLE, Albrecht, Der Kanon der zwei Tugenden, in: Ausgewählte kleine Schriften zu Antike und Christentum (JAC.E 38), Münster 2013, 19–47. ELLIOTT, John H., A Home for the Homeless. A Sociological Exegesis of 1 Peter, Its Situation and Strategy, London 1982. FELDMEIER, Reinhard, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief (WUNT 64), Tübingen 1992. LEUTZSCH, Martin, Die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit im „Hirten des Hermas“ (FRLANT 150), Göttingen 1989. LINDEMANN, Andreas / PAULSEN, Henning, Die Apostolischen Väter, Tübingen 1992. LONA, Horacio E., An Diognet (KfA 8), Freiburg i. Br. u. a. 2001. NOORMANN, Rolf, Himmelsbürger auf Erden. Anmerkungen zum Weltverhältnis und zum 'Paulinismus' des Auctor ad Diognetum, in: Wyrwa, Dietmar (Hg.), Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche. FS U. Wickert (BZNW 85), Berlin / New York 1997, 199–229. ROLDANUS, Johannes, Références patristiques au ‘chrétien-étranger’ dans les trois premiers siècles, in: Lectures anciennes de la Bible (Cahiers de Biblia Patristica 1), Strasbourg 1987, 27–52. SCHNABEL, Eckhard J., Acts (Zondervan Exegetical Commentary on the New Testament), Grand Rapids 2012. SCHOCKENHOFF, Eberhard, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg i. Br. u. a. 2007. SCHWEMER, Anna M., Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht bei Paulus, in: HENGEL, Martin, u. a. (Hg.), La Cité de Dieu / Die Stadt Gottes. 3. Symposium Strasbourg, Tübingen, Uppsala, 19.–23. September 1998 in Tübingen (WUNT 129), Tübingen 2000, 195–243. WOLTER, Michael, Ein neues «Geschlecht»? Das frühe Christentum auf der Suche nach seiner Identität, in: Lang, Markus (Hg.), Ein neues Geschlecht? Entwicklung des frühchristlichen Selbstbewusstseins (NTOA / StUNT 105), Göttingen 2014, 282–298. ZAHN, Theodor, Der Hirt des Hermas, Gotha 1868.
Wie die Moabiterin Ruth in den Stammbaum Jesu bei Matthäus einwanderte Karl-Heinrich Ostmeyer
1.
Berührungen des Buches Ruth mit dem Evangelium nach Matthäus
Mit keinem biblischen Text sind die ersten Abschnitte des Neuen Testaments enger verbunden als mit dem Ende des Buches Ruth.1 Der Stammbaum Davids in Ruth 4,12.18–22 findet sich exakt wieder im Stammbaum Jesu2 nach Matthäus (Mt 1,3–6).3 Die Generationenfolge begegnet zwar ebenfalls in 1 Chr 2,4–15. Doch wird dort nur noch Tamar als Mutter des Perez (1 Chr 2,4; vgl. Ruth 4,12; Mt 1,3), nicht aber Ruth als Urgroßmutter Davids erwähnt. In allen biblischen Schriften erscheint der Name Ruth außer im Ruthbuch nur noch in Mt 1,5. Der Name der Stadt Bethlehem ist in den vier Kapiteln des Ruthbuches siebenmal vertreten4 und im zweiten Kapitel bei Matthäus mit fünf Belegen5 häufiger als im gesamten übrigen Neuen Testament.6 Der Evangelist Matthäus erwähnt im Stammbaum Jesu keine der jüdischen Erzmütter (Sara, Rebekka, Rahel7, Lea).8 Betont nennt er stattdessen vier Nichtjüdinnen: Tamar9 aus Syrien bzw. Mesopotamien,10 die Moabiterin Ruth (Mt 1,5; Ruth 1,4 u. ö.), die Hure Rahab aus Jericho (Mt 1,5; Jos 2,1 u. ö.) und die Frau des Hethiters Uria (Mt 1,6; 2 Sam 11,3 u. ö.).11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
11
Zur Gattungsbestimmung vgl. Fischer, Rut, 81–85. In der vorliegenden Untersuchung werden die Bezeichnungen Ruthrolle, Ruthbuch und Ruthnovelle synonym verwendet. Vgl. Ostmeyer, Stammbaum, 175–192. Der Stammbaum in Lk 3,23–38 nennt unter den Vorfahren Davids in Lk 3,32–34 z. T. andere Namen (z. B. in V. 33 Admin und Arni). Ruth 1,1f.19(2x).22; 2,4; 4,11. Mt 2,1.5f.8.16. Außer in Mt 2 begegnet Bethlehem im Neuen Testament nur noch in Lk 2,4.15 und Joh 7,42. Rahel, die zweite Frau Jakobs / Israels erscheint außerhalb der Genesis nur noch in Ruth 4,11; 1 Sam 10,2; Jer 31,15 und Mt 2,18. Ein knapper Überblick über die Diskussion bei Klaiber, Matthäusevangelium, 30f. Tamar (Gen 38,6–30; Ruth 4,12) wird im Neuen Testament nur in Mt 1,3 erwähnt. Jub 41,1 und TestJud 10,1 bezeichnen sie als Tochter Arams. Philo Virt. 221 (Συρία); TestJud 10,1 (Μεσοποταμία). Die Septuaginta gebraucht Syrien und Mesopotamien häufig synonym (Gen 28,6f., Ps 59,2), kann Syrien aber auch als Aram (Αραμ) bezeichnen (Jes 7,1.8); vgl. אֲרם נַה ֲַרי ִם ַ (Dtn 23,5; Ri 3,8; 1 Chr 19,6). Matthäus vermeidet den Namen Batseba, um den Akzent auf ihren nichtjüdischen Mann zu legen; vgl. Stegemann, Uria, 246–276.
154
2.
Karl-Heinrich Ostmeyer
Was Ruth von den anderen Frauen im Stammbaum bei Matthäus unterscheidet
Ist die Erwähnung der fremden Frauen im Stammbaum Jesu an sich schon auffällig, so gilt das im Besonderen für die Moabiterin Ruth.12 Anders als bei den Herkunftsvölkern der drei anderen fremden Frauen wird bezogen auf die Moabiter, מוֹאב,13 dezidiert ausgeschlossen, dass sie jemals in die Gemeinde Israels aufgenommen werden (Dtn 23,4;14 Am 1,13–2,1 u. ö.).15 In verschiedenen alttestamentlichen Schriften werden voneinander unabhängig Gründe angeführt, durch die sich Moabiter und Ammoniter disqualifiziert hatten: Ihr Ahnherr Lot hatte sich von seinem Onkel Abram und damit von der Verheißung getrennt (Gen 13,8–11). Beide Völker entstammen der inzestuösen Verbindung Lots mit seinen beiden Töchtern (Gen 19,32–38).16 Den Moabitern und Ammonitern wurde angelastet, dem Volk Israel auf seinem Weg in das verheißene Land Wasser und Nahrung verweigert zu haben (Dtn 23,5); der König der Moabiter bezahlte den Orakelsprecher Bileam (Num 22,17f.37) dafür, Israel zu verfluchen (Dtn 23,5); Unzucht mit Moabiterinnen verleitete nach Num 25,1–3 das Volk Israel zum Götzendienst. Hinzu kommen in den Fremdvölkersprüchen des Propheten Amos Beschuldigungen wegen Leichenschändung durch die Moabiter (Am 2,1) und wegen der Ermordung Schwangerer (harot; )הָרוֹתdurch die Ammoniter (Am 1,13). Der Evangelist Matthäus ist bestrebt zu erweisen, dass in Jesus alle Verheißungen der biblischen Schriften erfüllt sind (z. B. Mt 1,22; 2,15.17.23 u. ö.). Doch die Ausländerin Ruth scheint alle alttestamentlichen Verheißungen gegen sich zu haben. Die Geschichten um die übrigen Frauen des Stammbaums sind zwar ebenfalls nicht unproblematisch, doch in der 12
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16
In der Ruthrolle wird Ruth stereotyp als Moabiterin bezeichnet: Ruth 1,22; 2,2.6.21; 4,5.10 (vgl. 1,4); Nielsen, Intertextuality, 20 erkennt in der wiederholten Benennung der moabitischen Herkunft Ruths einen „marker“, der auf Gen 19,37 verweist. Gleiches gilt für die Ammoniter ()בני־עמון. Zur Deuteronomiumskritik der Ruthrolle vgl. Braulik, Book 1–20. Zakovitch, Buch, 47: „Offenbar interpretiert der Verfasser des Buches Rut Dtn 23 bereits so, wie es später auch von der rabbinischen Halakha aufgrund des im Buch Rut Erzählten verstanden wurde. In der Mischna heißt es dazu: ‚Ammoniter und Moabiter sind verboten, und ihr Verbot ist ein ewiges Verbot; ihre Frauen sind jedoch bereits heute erlaubt‘ (Mischna Jevamot 8,3).“ Gerlemann, Ruth, 10: „Ruth hat einige bemerkenswerte Züge, die die Vätergeschichten der Genesis in Erinnerung bringen“; er erwähnt u. a. Ackerkauf und Hungersnot, die allerdings ebenso gut Jeremia „in Erinnerung bringen“. Callaham, Ruth, 186, benennt u. a. die Beziehung zur Lot-Geschichte, erkennt die Parallelen allerdings erst „after the separation from Abraham“, d. h. nach Gen 13,11; vgl. Murphy, Wisdom, 87. Fisch, Ruth, 436, nimmt eine Sonderrolle ein. Er vergleicht die auffälligen Struktur-Parallelen zwischen Ruth und Gen (13.)19.38 und fordert mit Recht, dass eine vollständige Exegese derartige Parallelen zu berücksichtigen habe.
Die Moabiterin Ruth
155
biblischen Tradition ist bei keiner anderen der Ausschluss ähnlich explizit wie bei den Moabitern, denen Ruth angehört. Keine der genannten fremden Frauen scheint weiter von der Integration in das Volk Israel und der Zugehörigkeit zum Stammbaum Jesu entfernt, als die Moabiterin Ruth. Was hat Matthäus bewogen, sie nicht nur in den Stammbaum Jesu aufzunehmen (Mt 1,5), sondern ihre Person und Rolle darüber hinaus durch die oben benannten häufigen Bezüge zum Buch Ruth zu betonen?
3.
Ruths eigener Stammbaum
Im Unterschied zu den anderen Personen der Matthäus-Genealogie (Mt 1,2– 16) hat Ruth einen Stammbaum, der sich nicht mit dem Stammbaum Jesu überschneidet. Wie die Genealogie Jesu reicht auch ihr Stammbaum hinab bis in die Generation Abra(ha)ms. Als Moabiterin leitet sich Ruth von Lot ab, dem Neffen Abrams (Gen 12,4f.; 19,36f.). Allein Ruth repräsentiert diesen Zweig des Stammbaums, und indem sie als Vorfahrin Jesu in Mt 1,5 erwähnt wird, erhält auch Jesus Anteil an ihrer Geschichte. Wäre die Ruthrolle nicht, bliebe die Geschichte der Moabiter in den alttestamentlichen Texten eine Unheilsgeschichte.17 Der Evangelist dürfte die Ruthnovelle kaum als ein „Idyll“18 oder als bloße Unterhaltungsliteratur gelesen haben. Dafür sind die mit der Moabiterin verbundenen Probleme und deren Implikationen für seine Theologie zu gewichtig. Ihm geht es im Eingangsteil seines Evangeliums um nichts weniger als um die Herkunft des Messias Jesus. Diese Herkunft ist für Matthäus kein schmückendes Beiwerk, sondern in den Ursprüngen ist bereits das Zukünftige grundgelegt. Was Jesu Vorfahren widerfuhr, ist gleichsam ihm selbst widerfahren. Hinter jedem einzelnen Namen der Genealogie steht nicht nur die jeweilige Person, sondern auch ihre Vergangenheit. Mit der Nennung des Namens Ruth beginnt ein Lauf zurück durch die Geschichte: Die oben benannten Taten der Moabiter und Ammoniter gegen das Volk Israel, deren Exkommunikation, der Lot-Zyklus einschließlich Inzest samt seinen Folgen, bis hin zur Trennung Lots von Abram in Gen 13,8–11. Da Jesus durch Ruth Teil hat an diesem Abschnitt der Geschichte, fließen sowohl die Verfehlungen der Vorfahren Ruths als auch die ihr zugeschriebenen Erlösungstaten ein in die Geschichte Jesu, auch ohne dass Matthäus expressis verbis über die Vorfahren der Ruth berichtet. Worin die ‚Erlösungstaten‘ Ruths bestanden, ist Gegenstand der im fünften Kapitel dieser Untersuchung beschriebenen ‚Heilungen‘. 17 18
Braulik, Deuteronomium, 115, spricht mit Blick auf die Ruthrolle von einer Gegengeschichte; vgl. Fischer, Rut, 61–63.208. Vgl. Gunkel, Reden, 86 unter Verweis auf J. W. v. Goethe.
156
Karl-Heinrich Ostmeyer
Als einem Autor, der einen komplexen Stammbaum von Abraham bis auf Jesus konstruiert (Mt 1,2–16) und häufiger Sodom (Mt 11,23) und die Sodomer (Mt 10,15; 11,24) erwähnt als jeder andere Autor des Neuen Testaments, darf Matthäus das Vertrautsein mit den Grundzügen der biblischen Geschichte zugetraut werden. Er wusste um die Trennung Lots von Abram (Gen 13,8–11), vom Inzestfall Lots und seiner beiden Töchter (Gen 19,33–36) und dass daraus die Moabiter und Ammoniter abgeleitet wurden (Gen 19,37f.). Dass den Angehörigen beider Völker der Zugang zur Gemeinde Israels verwehrt war, weil sie Israel nicht mit „Wasser und Brot“ versorgt hatten (Dtn 23,5) und stattdessen den Magier Bileam (vgl. Philo Vit. Mos. I 276) zur Verfluchung des Volkes gedrungen hatten (Num 22,17f.37), war für gebildete Juden des ersten nachchristlichen Jahrhunderts Allgemeingut. Die Kenntnis der Fremdvölkersprüche (Am 1,13–2,1) und die darin mit Kriegsverbrechen begründete, bleibende Exkommunikation beider Völker lässt sich dagegen weder verifizieren noch ausschließen. Dem Evangelisten lag daran, Ruth trotz ihrer moabitischen Herkunft als voll integriert und als würdige Erzmutter des Messias zu präsentieren. Die Ereignisse, die Ruth durch ihr eigenes Leben und Handeln gelöst und geheilt hatte, galten auch für Jesus als gelöst. Zugleich kam das in Jesus gegenwärtige Heil vermittels seiner Ahnfrau auch allen Kindern Lots zu, d. h. den Moabitern und Ammonitern. Durch Ruth hatten sie entgegen den Verdikten in Dtn 23,4 und Am 1,13–2,1 wieder Zutritt zum Heilsbund. Die Trennung Abrams von Lot (Gen 13,8–11) war durch Ruth überwunden. Jesus war damit nicht nur zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 10,6; 15,24) gesandt, sondern auch die Nachkommen Lots waren in die Verheißung reintegriert und zählten zu seiner Herde. Erst durch Ruth wurden Gruppen in den Heilsbund aufgenommen, die ohne sie außen vor geblieben wären. Voraussetzung dafür, dass Ruth nicht nur selbst in das Haus Israel und in die Heilsgeschichte aufgenommen wurde, sondern dass sie auch ihre Vorfahren mit zurück nach Israel brachte, war die ‚Reparatur‘19 der in alttestamentlicher Perspektive im Wesentlichen unheilvollen Geschichte Lots und seiner Nachkommen.20
19
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Callaham, Ruth, 187, benennt das Phänomen der ‚Geschichtsreparatur‘ in Bezug auf die am Ende des Richterbuches beschriebenen Vorgänge in Bethlehem: The „book reverses and redeems these negative aspects of Israelite history“; vgl. Fisch, Ruth, 436; Zakovitch, Buch, 60f. Das Phänomen literarisch-theologischer Reparatur der Vergangenheit (was zu unterscheiden ist von Neuschreibung oder Uminterpretation) begegnet in der Ruthnovelle nicht erst- oder einmalig: Z. B. bezeichnet Esth 2,5 Mordechai als Benjaminiter und Urenkel Kischs; damit steht er in einer Linie mit dem Benjaminiter Saul, dem Sohn ebenjenes Kischs (1 Sam 9,1f.). Der Gegenspieler Mordechais ist Haman, der Agagiter. Der Gegenspieler Sauls in 1 Sam 15,8f. war der Amalekiterkönig Agag. Die Verschonung Agags und Sauls Ungehorsam, an ihm den Bann zu vollstrecken, kosten Saul Kopf und Krone. „Als Überwinder Hamans, des Agagiters, vollzieht Mordechai den Sieg Sauls
Die Moabiterin Ruth
4.
157
Die Funktion des matthäischen Stammbaums
Für Matthäus repräsentieren die Namen der Genealogie von Abraham bis zu Jesus in ihrer Gesamtheit und im Einzelnen das Leben und die Botschaft Jesu:21 Jesus verkörpert mittels seines Stammbaums die Zeit der Väter (Mt 1,2–6), der Könige (Mt 1,6–12) und des Priestertums (Mt 1,12–16). Er kann sein Volk deshalb aus allen seinen Sünden retten (Mt 1,21), weil er selbst mit seinem Stammbaum das Volk Israel in allen seinen Höhen und Tiefen abbildet. Einer der Vorfahren Jesu war der aussätzige König Usija (Mt 1,8;22 2 Chr 26,20f.). In seinem Vorfahren Jechonja (Mt 1,11f.; 1 Chr 3,17 LXX) wird Jesus mit Gefangenschaft assoziiert (vgl. Mt 26,50); in den fremden Frauen unter seinen Vorfahrinnen oder in Aram (Mt 1,3f.),23 dem Sinnbild der Fremdheit (Dtn 26,5), erfuhr er diese Fremdheit selbst (vgl. Mt 25,35.43). Das Aufrufen der einzelnen Namen des Matthäusstammbaums ist zugleich das Präsentmachen ihrer Geschichte. Jesus ‚heilte‘ diese Geschichte durch sein Leben, seine Lehren und seine Taten24 (vgl. Mt 8,17 in Aufnahme von Jes 53,4). Hier liegt ein Schlüssel dazu, warum gerade die Ruthrolle die größte Nähe zur Matthäusgenealogie aufweist. Auch Ruth hat, wie im Folgenden zu zeigen ist, durch ihr Verhalten und ihr Handeln Geschichte noch einmal durchlebt und geheilt. Dadurch ist Ruth für Matthäus einerseits zum Vorbild für die ‚Heilungsgeschichte‘ Jesu geworden, zum anderen sind durch die Aufnahme von Ruth in Mt 1,5 ihre Taten zugleich zu den Taten Jesu geworden.
21 22 23 24
über die Amalekiter (1 S 15)“, Gerlemann, Esther, 77. Cohn, Otherness, 181 nennt weitere „countermemories“. Vgl. Ostmeyer, Stammbaum, 189–192. Mt 1,8 transkribiert wie die Septuaginta den Namen des aussätzigen Königs Usija ֻעזִּיּ ָהוּ (2 Chr 26,21) als Ὀζίας. Während Jub 41,1 und TestJud 10,1 Tamar als Tochter Arams bezeichnen, nennt Mt 1,3f. einen ihrer Urenkel Aram. In Abänderung seiner Markusvorlage ist Jesu erste Heilung nach der Bergpredigt die Heilung eines Aussätzigen Mt 8,2–4.
158
Karl-Heinrich Ostmeyer
5.
Heilungen der Ruthrolle im Einzelnen
5.1
Heilung des Bruchs zwischen Abram und Lot25 (Gen 13,8–12)
Die Knechte Abrams und die Knechte Lots geraten in Streit (Gen 13,7). Daraufhin führt Abram seinen Neffen Lot an einen Ort, von wo aus sie das spätere Juda und die Jordansenke überblicken (Gen 13,9f.). Abram fordert Lot auf, sich von ihm zu trennen26 und lässt ihn wählen: „Gehst Du zur Rechten, gehe ich zur Linken“ (Gen 13,9). Lot entscheidet sich für die Jordanebene (Gen 13,11), geht nach Osten in Richtung des späteren Moabs und siedelt sich in der Nähe Sodoms an (Gen 13,12). Die Moabiterin Ruth war mit dem Bethlehemiter Machlon verheiratet (Ruth 1,4f.; 4,10). Er war mit seinen Eltern Elimelech und Noomi (Ruth 1,2) sowie seinem Bruder Kiljon (Ruth 1,2) wegen einer Hungersnot nach Moab ausgewandert (Ruth 1,1). Dort verstarben er und sein Bruder kinderlos (Ruth 1,5). Die inzwischen ebenfalls verwitwete Noomi (Ruth 1,3) machte sich mit beiden Schwiegertöchtern auf den Rückweg nach Bethlehem (Ruth 1,6).27 Auf halber Strecke fordert sie die beiden jüngeren Frauen auf umzukehren (Ruth 1,8). Sie selbst sei alt und könne keine Söhne mehr gebären, die dann wiederum ihre Schwägerinnen heiraten würden (Ruth 1,12f.). Sie mögen stattdessen zurückkehren ins „Haus ihrer Mutter“ (;לבית אמה Ruth 1,8). Diese außergewöhnliche Wendung wird plausibel vor dem Hintergrund des Inzestes, dem die Moabiter entstammen. Bewusst wird vermieden, die beiden Moabiterinnen zur Rückkehr in ihres Vaters Haus aufzufordern.28
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28
Fisch, Ruth, 435: „In the reunion of Ruth and Naomi, […] the old sad break between the families of Lot and Abraham is repaired.“ In Gen 13,8 bittet Abram seinen Neffen Lot, es möge nicht Streit zwischen ihnen sein, denn sie seien Brüder ()אַחִים. Er versucht, diesen Streit durch die Aufforderung zur Trennung beizulegen. Ps 133,1 setzt dagegen, wie angenehm ( )נָּעִיםes sei, wenn Brüder ( )אַחִיםauch beieinander wohnten () ִהנֵּה מַ ה־טּוֹב וּמַה־נָּעִים שֶׁ בֶת אַחִים גַּם־יָחַד. In Ruth 1,20 fordert Noomi dazu auf, sie nicht bei ihrem an ( נָּעִיםangenehm) anklingenden Namen, נָעֳמִי, sondern bei dessen Gegenteil, ( מ ָָראbitter), zu rufen. In Gen 19,14 weigern sich die beiden potentiellen Schwiegersöhne Lots, ihren Schwiegervater zu begleiten, während in Ruth 1,6 beide Schwiegertöchter ihrer Schwiegermutter Noomi folgen. Der Begriff „Vaterhaus“ ( )בית אבfällt in der Ruthrolle nicht (vgl. Gen 12,1; 38,11; Lev 22,13). Wohl aber lobt Boas Ruth in Ruth 2,11 dafür, dass sie ihren Vater und ihre Mutter verlassen hat. Schlüsse auf den Tod der Väter bzw. auf ein besseres Trostvermögen von Müttern sind an den Text herangetragene historisierende oder psychologisierende Erklärungsmuster; Campbell, Ruth, 64 zählt einige „rationalizing explanations“ auf; vgl. auch Fischer, Rut, 133f.; Fischer, Book, 25f.; Wetter, Ruth, 157f.
Die Moabiterin Ruth
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Der Autor29 der Ruthrolle liebt Parallelinszenierungen: Er gestaltet die Szene am Scheideweg zwischen dem Land Juda und den Gefilden Moabs äußerlich parallel zu Gen 13,8–12. Der Ausgang beider Szenen ist gegenteilig: Lot trennt sich nach Aufforderung von seinem Onkel Abram (Gen 13,11) – Ruth, eine Tochter Lots im weiteren Sinne, trennt sich auch nach ausdrücklicher Ermahnung nicht von Noomi, einer Tochter Abrahams (Ruth 1,16–18). Während Orpa, die andere Schwiegertochter, nach kurzem Zögern dem Drängen Noomis nachgibt und zurück nach Moab geht (Ruth 1,14f.), „klebt“ sich Ruth an ihre Schwiegermutter (Ruth 1,14b; ;וְרוּת דָּ ְבקָה בָּהּ30 vgl. Gen 2,24)31 und gibt die Antwort, die ihr Vorfahr Lot an selber Stelle seinem Onkel Abram hätte geben sollen: „Dein Volk ist mein Volk, Dein Gott ist mein Gott. Wohin Du gehst, will ich gehen und dort will ich begraben werden“ (Ruth 1,16f.).32 Ruth folgt ihrer Schwiegermutter, der ‚Abrahamstochter‘ Noomi, nach Westen und lässt wie Abram Heimat und Elternhaus im Osten hinter sich (Gen 12,1),33 um in ein Land zu ziehen, das sie vorher nicht kannte (Ruth 1,14.18f.; 2,11).34 29
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Darüber, ob sich das Buch Ruth einem Autor, einer Autorin oder einer Gruppe verdankt, ist hier nicht geurteilt. Frevel, Buch, 23–25 wägt die Argumente für eine Autorin ab und bleibt unentschieden; vgl. die Diskussion bei van Dijk-Hemmes, Ruth, 134– 139; Fischer, Rut, 93f.; Fischer, Book, 33f.; Köhlmoos, Ruth, XVI. Eine detaillierte Untersuchung des Wortfelds - דבק בbietet Callaham, Ruth, 191–196; vgl. Saxegaard, Character Complexity, 130. Er begründet ausführlich die Wahrscheinlichkeit einer intertextuellen Beziehung von Gen 2,24 und Ruth 1,14. Zugleich bezweifelt er, dass es dem Autor um die Darstellung einer homoerotischen Beziehung zwischen den beiden weiblichen Hauptfiguren gegangen sei; Saxegaard, Character Complexity, 190 und 194– 196. „Ruth’s Moabite genealogical roots are replaced with more fitting Israelite ones“, Wetter, Ruth, 158; vgl. Cohn, Overcoming, 165: „And by ,cleaving‘ to Naomi (1.14), Ruth takes the part of a husband ‚cleaving‘ to his wife (Gen 2.24), while by supplying her with grain and child, Ruth also functions as Naomi’s ,wife‘.” Die Wendung „( וְרוּת דָּ בְקָ ה בָּהּund Ruth ‚klebte‘ sich an sie“; vgl. Gen 2,24) steht in Ruth 1,14b für eine Art Einverleibung in das Volk Abrahams. In der Wahl des Verbs aus Gen 2,24 deutet sich bereits die Abkehr vom inzestuös belasteten Elternhaus an. Ruth will sich aufs Engste mit einer Tochter Abrahams verbinden. Die Septuaginta übersetzt - דבק בin Ruth 1,14 mit einer Form von ἀκολουθέω, dem neutestamentlichen Terminus technicus für Nachfolge. Mit 25 Belegen verwendet Matthäus das Verb häufiger als jeder andere Autor der biblischen Schriften. In der Sekundärliteratur finden die z. T. wörtlichen Parallelen der Gespräche am Scheideweg zwischen Abram und Lot einerseits (Gen 13,8–12) und Noomi und Ruth andererseits (Ruth 1,8–17) vergleichsweise wenig Beachtung. Fisch, Ruth, 427, deutet sie zutreffend unter strukturellen Aspekten. Für Hertzberg, Bücher, 262 legt sich ein Vergleich des Verlassens der Heimat bei Abram und Ruth nahe: „Es ist durchaus wahrscheinlich, dass diese Parallele von dem Verfasser des Buches Ruth bedacht worden und zu seiner Sinndeutung heranzuziehen ist“; Frevel, Buch, 75. Bachrach, Mother, 86; Zenger, Buch, 56f.; Zakovitch, Buch, 118f.; Nielsen, Ruth, 59 machen auf den Zitatcharakter von Ruth 2,11 (zu Gen 12,1) aufmerksam. Die Zusammenschau von Gen 12,1 und Ruth 2,11 findet sich u. a. bei Fischer, Rut, 176f.; Fischer, Book, 43, und Köhlmoos, Ruth, 42.
160
5.2
Karl-Heinrich Ostmeyer
Heilung des Inzests (Gen 19,31–36)35
Wie der Autor der Ruthrolle die Nichttrennung Ruths von Noomi parallel zur Trennung Lots von Abram inszenierte, so konstruiert er auch die nächtlichen Szenen des Zusammenseins Lots mit seinen Töchtern und Ruths mit Boas bis hinein in den Wortgebrauch und die Satzstruktur parallel:36 Zweimal geben die Töchter Lots ihrem Vater Wein und legen sich zu ihm, um von ihm Samen (Nachkommenschaft) zu erhalten (Gen 19,33–36). Was in der Genesis über das Handeln der älteren Tochter (Gen 19,32f.) und der jüngeren Tochter Lots (Gen 19,34f.) berichtet wird, ist im Buch Ruth aufgeteilt auf die Schilderung des Plans der Noomi (Ruth 3,2–4) und dessen Ausführung durch Ruth (Ruth 3,7–14). Ruth wartet gemäß der Anweisung Noomis, bis „Boasʼ Herz fröhlich ist“ (Ruth 3,3.7), legt sich zu ihm und überlässt das Weitere ihm. Während Lot seine nächtliche Begegnung laut Gen 19,33b.35b nicht wahrnimmt, handelt Boas bei vollem Bewusstsein (Ruth 3,13f.).37 Auch Ruth erhält Samen; allerdings in Ruth 3,15 in Form von Getreide38 und erst später im Sinne von Nachkommenschaft.39 Sinn der doppelten Erzählung bei Ruth (Plan und Ausführung) ist es, die Handlungen beider Lotstöchter zu revidieren. Sowohl die Moabiter als Nachkommen der älteren Tochter (Gen 19,37) als auch die Ammoniter als Kinder der jüngeren (Gen 19,38) sollen ‚gelöst‘ werden.
5.3
Heilung der Nachkommen der Töchter Lots (Gen 19,36–38)
Die Darstellung im Ruthbuch entspricht in der Reihenfolge der Geschehensabläufe und bis hinein in die Wortwahl der Loterzählung.40 Diese durchgehaltene Akoluthie lässt die Namensgebung in beiden Erzählungen nebeneinander zu 35
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Fischer, Rut, 208, spricht von einer „Gegengeschichte zu den Genesiserzählungen“; Fischer, Rut, 208: „Die Moabiterin saniert mit ihrer Tat […] die inzestuöse Tat ihrer Ahnfrau und ihres Ahnherrn.“ Die Zusammenschau der beiden Texte wird mit unterschiedlicher Argumentationsrichtung u. a. vertreten von Goodman-Thau, Zeitbruch, 46–48 und 76 und Fisch, Ruth, 425– 436. Zu den Verbindungen zwischen Ruth 3 und Gen 19 vgl. Zakovitch, Scene, 28–39 und Zakovitch, Buch, 49–51. Zur Parallelität der Szenen vgl. Zenger, Einleitung, 224. Stone, Measures, 190f.: The „symbolic relationship between food and fertility corresponds to the narrative arc of the book as it moves the story from famine and infertility to food and fertility“; vgl. Stone, Measures, 194 und 198f. Auf die Bedeutung der identischen Abfolge von Parallelen verweisen u. a. Callaham, Ruth, 192f.; Hays, Echoes, 29–31; Spronk, Book, 271, und Korpel, Memories, 152.
Die Moabiterin Ruth
161
stehen kommen. Die ungewöhnliche Bezeichnung des Ruthsohnes als „Sohn für Noomi“41 (Ben le-Noomi; ;ילד־בן לנעמיRuth 4,17)42 steht parallel zur Benennung des Sohnes der jüngeren Lotstocher: „Ben Ammi“ ( ;בן־עמיSohn meines Volks; Gen 19,38). Die letzten vier hebräischen Buchstaben des aus fünf Buchstaben bestehenden Namens Ben Ammi ( )בן־עמיergeben Noomi ()נעמי. Der Verfasser des Ruthbuches spielt sowohl auf inhaltlicher, wie auf sprachlich-struktureller Ebene mit den von ihm gebrauchten Namen. In Ruth 1,20 erklärt Noomi, man möge sie nicht bei ihrem Namen Noomi rufen (;נעמי „die Angenehme“)43, sondern sie vielmehr mit Blick auf ihr Schicksal Mara („ ;מראdie Bittere“) nennen.44 Die oben erwähnte Namensgebung lässt erkennen, dass es der Ruthrolle nicht primär um die Eigenbedeutung („die Angenehme“) des Namens Noomi ging. Der nur im Buch Ruth begegnende Name (Noomi)45 wurde vielmehr konstruiert, um einen sprachlich-theologischen Bezug zwischen der Namens-
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Witzenrath, Buch, 356f., und ähnlich Gerlemann, Ruth, 8f., vermutet hinter der Benennung des Kindes der Moabiterin Ruth als „Sohn für Noomi“ die Absicht des Autors, den Makel der „moabitischen Ahnfrau“ Davids zu entschärfen. Nach Nielsen, Ruth, 1 und 29 u. ö., ist es das Ziel des Buches, die Abkunft Davids von einer Ausländerin als gottgewollt darzustellen. Unter den bisherigen Lösungsversuchen zu Ruth 4,17 ist keiner auf allgemeine Zustimmung gestoßen. Textverderbtheiten werden vermutet (vgl. Rudolph, Buch, 25); ehemals anderslautende Namen werden postuliert: Gunkel, Reden, 84 schlägt „Jible´am“ vor. Eissfeldt, Einleitung, 649 und Würthwein, Megilloth, 24 vermuten mit anderen „Ben Noam“ als ursprünglichen Namen; weitere Vorschläge bei Lacoque, Livre, 142. Die bei dieser Art von Namensgebung möglichen Wortspiele (Eissfeldt, Stammessage, 27) mit Bezug auf Oved (Lamparter, Buch, 54f.; Murphy, Wisdom, 94) oder Noomi (Eissfeldt, Einleitung, 649) werden vermisst; Ruth 4,17 kann dem ursprünglichen Textbestand ganz (Zenger, Buch, 11) oder teilweise (Haller, Megilloth, 2; Schmidt, Einführung, 316) abgesprochen werden. Gunkel bringt das Problem auf den Punkt: „Die wissenschaftliche Aufgabe wäre, aus den Worten jullad ben leno´omi den Namen wieder herauszulesen“ (Gunkel, Reden, 84). Ego, Noomi, 974: „hebr. ‚die Freundliche‘“. Zakovitch, Buch, 77, zur Bedeutung des Namens Noomi: „Dieser Name birgt wohl keine für die Erzählung wichtige Bedeutung in sich.“ Auffällig ist die Ähnlichkeit der Namen „( נָ ֳעמִיNoomi“) und der mehrfach begegnenden „( נַעֲמָ הNaama“). Letztere ist die Mutter des Sohnes Salomos und Davidsenkel Rehabeam. Dreimal heißt es stereotyp von Rehabeam: וְשֵׁם ִאמוֹ נַ ֲעמָה ָהעַמֹנִית (1 Kön 14,21.31; 2 Chr 12,13) – „und der Name seiner Mutter war Naama, die Ammoniterin“. Das oben bezeichnete Wortspiel wird erst durch die Abwandlung des gebräuchlichen Namens „( נַעֲמָ הNaama“) in den sonst nicht belegten Namen נָעֳמִי („Noomi“) ermöglicht.
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gebung in Ruth 4,17 (Ben le-Noomi)46 und in Genesis 19,38 (Ben-Ammi) zu ermöglichen.47 Das Kind der Moabiterin Ruth ‚erlöst‘ sowohl die Moabiter, als auch vermittels der Schwiegermutter Noomi48 die Ammoniter. Das entspricht dem Sprachgebrauch der biblischen Schriften: Moabiter und Ammoniter treten so häufig paarweise auf,49 dass die Nennung des einen das Ausschauhalten nach dem anderen provoziert.50 Wenn der Name ‚Noomi‘ konstruiert wurde, um einen sprachlich-theologischen Bezug zu Gen 19,38 zu ermöglichen, stellt sich die Frage, wie es sich mit dem ebenfalls außerhalb der Ruthrolle und außer in Mt 1,5 nicht belegten Namen der Hauptfigur ‚Ruth‘ verhält. Ist der Name ‚Ruth‘ in Analogie zur ‚Heilung‘ der Lotgeschichte mithilfe der Konstruktion des Namens ‚Noomi‘ gleichfalls als sprachlich-theologisches Konstrukt zu deuten?51 Hierauf wird im Kontext der ‚Heilung des Banns‘ (Kapitel 5.7) einzugehen sein.
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Loretz, Oswald, Verhältnis, 125, sieht in Ruth 4,17 das „zentrale Problem der Rut-Interpretation“. Campbell, Ruth, 169, hatte also zu Recht gefragt: „Would he [der Ruth-Autor, Vf.] not have given us some advance hint of the final trick he was going to play? Or at least would he not have used a word in the final clause which linked it back to something in the story? These are questions to continue pondering.“ Brenner, Ruth, 308, bemerkt „Ruth’s disappearance from the scene after she gives birth to a son“. In Brenner, Ruth as a Foreign Worker, 161f deutet sie Ruths Verschwinden als Ausdruck der Unmöglichkeit, die Grenzen der Herkunft und den Klassenunterschied nachhaltig zu überwinden. Gen 19,37f.; Dtn 23,4; 1 Kön 11,7.33; Neh 13,1; Am 1,13–2,1; Zef 2,8f.; Jer 48,1–49,6; Hes 25,1–11 etc.; Brenner, Ruth, 307: „Moab and Ammon and their derivative generic modifiers appear as a pair forty-two times. The most famous of these pairs is the injunction against letting Moabites and Ammonites join the Israelite community (Deut 23:4 = Neh 13:1).“ Die Mutter des Großvaters Davids war die Moabiterin Ruth; die Mutter des Enkels Davids (Rehabeam) war die Ammoniterin Naama (1 Kön 14,21.31; 2 Chr 12,13). In einem Midrasch zu Ps 40,6 erklärt König David (bJeb 77a) seinem ihm auf dem Schoße sitzenden Enkel Rehabeam, dass ihretwegen das Ammoniter- / Moabiter-Verbot aus Dtn 23,4 in Bezug auf Frauen gelöst sei. Ruth Rab XLI, 4: Die in Gen 13,5 genannten Zelte Lots werden als Ruth, die Moabiterin, und als Naama, die Ammoniterin, gedeutet; vgl. auch Gen Rab LI, 7.10; bJeb 63a und 77a. Keiner der Versuche einer etymologischen Deutung stieß bisher auf einhellige Zustimmung. Für den Namen der wichtigsten Person der Ruthrolle liegen zahlreiche Wurzelvorschläge vor: bBer 7b; bBB 14b leiten רותab von – רוהsättigen (vgl. Ego, Rut, 1149: „Tränkung“, „Erquickung“; ähnlich Korpel, Memories, 162); Yalkut Shimeoni § 600 verknüpft den Namen mit – ראהsehen; R. Jochanan erklärt in Yalkut Shimeoni § 600, Ruth komme von רתת/ ‚zittern‘, weil sie vor der Übertretung zurückschreckte; Zenger, Buch, 36, favorisiert ( רעותGefährtin, Freundin). Er argumentiert, dass „den Erzähler nicht die wissenschaftlichen Etymologien dieser Namen bei der Wahl geleitet [haben], sondern die Konnotationen, die ein Hebräisch sprechender Zeitgenosse aus ihnen heraushören konnte“. Dabei ist jedoch fraglich, ob ein Orientale aus רותein Ajin ‚heraushört‘, vgl. Knauf, Ruth, 547; bei Haller, Megilloth, 3 wird ρόδος erwähnt.
Die Moabiterin Ruth
5.4
163
Die Heilung der Unzucht mit Moabiterinnen (Num 25,1)52
Der Autor des Buches Ruth schickt seine Heldin in ähnliche Situationen, wie sie ihre moabitischen Vorfahren durchlaufen haben, lässt die Moabiterin Ruth aber dezidiert anders agieren. Dem Autor des Ruthbuches liegt daran, den Eindruck sexueller Kontakte vor der offiziellen Verbindung Ruths mit Boas zu vermeiden. Das Buch Ruth setzt damit ein Gegengewicht zu der Erwähnung sexueller Kontakte des Volkes Israel mit Moabiterinnen und in dessen Folge der Hinwendung zum Götzendienst (Num 25,1–3). Boas lobt ausdrücklich, dass die Moabiterin Ruth sich von den jungen Männern ferngehalten hat (Ruth 3,10; vgl. Mt 5,28).
5.5
Heilung der Nahrungsverweigerung durch die Moabiter und Ammoniter (Dtn 23,5a)
Eine der Begründungen für den Ausschluss der Ammoniter und Moabiter lautet, sie hätten sich geweigert, dem Volk Israel auf seinem Weg ins verheißene Land „mit Brot und mit Wasser“ ( ) ַבּ ֶלחֶם וּ ַב ַמּי ִםentgegen zu kommen (Dtn 23,5). Dem steht das Tun der Moabiterin Ruth entgegen: In Bethlehem angekommen, sorgt Ruth für das Auskommen beider Frauen, indem sie zur Zeit der Gerstenernte auf dem Feld des Boas Ähren aufliest (Ruth 2,2f.). Anders als die Moabiter beim Durchzug des Volkes Israel (Dtn 23,5a) bringt sie ihrer judäischen Schwiegermutter das gesammelte (Ruth 2,17), das von der Mahlzeit übrige gebliebene (Ruth 2,18b) und darüber hinaus auch das von Boas als Geschenk erhaltene Getreide (Ruth 3,17). Der Abrahamssohn und Besitzer des Feldes, Boas, nimmt die Moabiterin, die sich von ihrem Elternhaus, ihrer Verwandtschaft (Ruth 2,11) und damit von ihrer inzestuösen Vergangenheit losgesagt hat, als „Tochter“ auf (Ruth 2,8; vgl. 3,10f.) und bewirtet sie (Ruth 2,9.14). Diese Bewirtung besiegelt Ruths Aufnahme in den Abrahamsbund. Sie findet ihre engste Parallele in der Bewirtung der drei Männer53 durch Abraham in Gen 18,3–8: Boas und Abraham bitten ihre Gäste, nicht woandershin zu gehen (Ruth 2,8;
52
53
Vgl. Zakovitch, Buch, 40 und 51; Stone, Compilational, 123. Cohn, Overcoming, 169 erkennt ebenfalls die Parallele zu Num 25,1f.: „Unlike the lascivious Moabite women who entice Israelite men, she is forthright in her approach to Boaz“; vgl. Kowalski, Book, 176. Abraham verwendet für seine Gäste die Gottesanrede ( אֲ דֹנָיGen 18,3), während Ruth ihren Gastgeber Boas mit „( אֲ דֹנִיmein Herr”; Ruth 2,13) anspricht.
164
Karl-Heinrich Ostmeyer
Gen 18,3) und versorgen sie mit Wasser54 und Brot.55 Die Menge an Mehl bzw. Getreide, die Boas und Abraham ihren Gästen zukommen lassen, ist identisch: Die drei Seah56 in Gen 18,6 entsprechen dem einen Epha in Ruth 2,17.57
5.6
Heilung der Anstiftung zur Verfluchung durch Bileam (Dtn 23,5b; vgl. Num 22–24)
Das Matthäusevangelium lässt an diversen Stellen Anspielungen auf den Bileam-Zyklus vermuten:58 Der Moabiterkönig Balak hat Bileam aus Aram (Num 23,7a),59 „aus den Bergen vom Osten“ holen lassen (Num 23,7b LXX: ἀπ᾽ἀνατολῶν); Bileam schaut in einer Prophetie den „Stern aus Jakob“ (Num 24,17). In Mt 2,2 fragen die Magier nach dem neugeborenen König der Juden, weil sie seinen Stern im Osten (ἐν τῇ ἀνατολῇ) geschaut haben. Die Moabiter bezahlten den Magier Bileam dafür, Israel zu verfluchen (Num 22,17f.37). Sein geplantes Fluchen wurde zwar auf Gottes Geheiß in Segen verwandelt (Dtn 23,6), doch die Verfluchungsabsicht der Moabiter galt neben der Nahrungsverweigerung für Israel beim Auszug des Volkes aus Ägypten als Grund für die dauerhafte Exkommunikation der Moabiter und Ammoniter in Dtn 23,4–7.
54 55
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59
‚Wasser‘ ist in Ruth 2 nicht expressis verbis genannt, doch das in Ruth 2,9 gebrauchte „verb שאבrefers exclusively to drawing water“, Stone, Measures, 192. Sprachlich begegnen bezogen auf Ruth und den Abraham- / Lotzyklus sowohl wörtliche Parallelen als auch Umstellungen im Detail. In ihrer Reihenfolge vertauscht erscheinen hier „Bissen“ und „Brot“ (Gen 18,5; Ruth 2,14); vgl. die getauschte Reihenfolge von „Heimat“ auf der einen und „Vaterhaus“ bzw. „Vater und Mutter“ auf der anderen Seite (Gen 12,1; Ruth 2,11) oder „Aufstehen“ und „Niederlegen“ (Gen 19,35b; Ruth 3,14a). Vgl. die drei Maß Mehl in Mt 13,33 par (ἀλεύρου σάτα τρία). Die Septuaginta übersetzt das eine „( ֵאיפָהEpha“) der hebräischen Vorlage von Ex 16,36 und Jes 5,10 ebenso wie die drei ְסאִיםin Gen 18,6 mit τρία μέτρα („drei Maß“). D. h. ein „( אֵ יפָהEpha“) entspricht drei ( סְאִ יםSingular: סְאָה, Seah; vgl. Mischna Men 7,1). Das wiederum bedeutet, dass die Menge an Mehl in Gen 18,6 (drei Seah) und die Menge an Getreide in Ruth 2,17 (ein Epha) identisch sind (in Ruth 2,17 LXX wird „Epha“ in „οιφι“ transkribiert). Luz, Evangelium, 161 lässt offen, ob die Anklänge von Mt 2,1–12 an Num 24,17 „einer vom Autor gewollten Leserlenkung“ geschuldet sind. Er verweist aber auf die Parallelen im Wortgebrauch zwischen Mt 2,16 und Num 22,27.29 (ἐμπαίζω und θυμόω) sowie Mt 2,1 und Num 23,7 (ἀπ᾽ ἀνατολῶν). Deutlicher spricht sich Konradt, Evangelium, 40 für einen engen Bezug aus: „Vor allem aber dürfte Matthäus die Weissagung Bileams (Philo bezeichnet ihn in Mos 1,276 als Magier) in Num 24,17, dass ein Stern in Jakob aufgehen werde, vor Augen gehabt haben.“ Bileam verbindet mit Tamar (Mt 1,3) eine gemeinsame Herkunft. Vgl. Dtn 23,5; TestJud 10,1; Philo Virt. 221 (s. o. Anmerkung 10).
Die Moabiterin Ruth
165
Jesus erklärt in der Bergpredigt (Mt 5,43), es sei gesagt: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ Als mögliche Grundlage für die in dieser Form nicht begegnende Anweisung lässt sich der ewige Ausschluss der Ammoniter und Moabiter aus der Versammlung des Herrn verstehen: „Du sollst nicht suchen ihren Frieden und ihr Wohl alle deine Tage, für ewig“ (Dtn 23,7). Mit Jesu dagegengesetzter Aufforderung, seine Feinde zu lieben (Mt 5,44; vgl. Lk 6,27f.), verbalisiert Matthäus, was de facto mit der Integration der Moabiterin Ruth in den Stammbaum längst vollzogen ist. Moabiter und Ammoniter haben in der Person Ruths Anteil am Heil erlangt. Ruth aus Moab hatte durch ihr Leben und Handeln ein Gegengewicht gesetzt zur von den Moabitern initiierten, wenn auch gescheiterten Verfluchung durch Bileam.60 Boas und Noomi werden um Ruths willen gesegnet: In Ruth 4,11f. sprechen die Ältesten dem Boas wirtschaftliche Prosperität und Nachwuchs zu, und in Ruth 4,14f. preisen die Frauen den Herrn für das, was er Noomi durch Ruth hat zukommen lassen.
5.7
Heilung des Banns (Fremdvölkersprüche in Am 1,13–2,1)
Auf einen weiteren Aspekt, der einer Rückkehr der Moabiterin Ruth in die Gemeinschaft Israels und damit auch ihrer Integration in den matthäischen Stammbaum entgegenstand, ist einzugehen. In den Fremdvölkersprüchen des Amos werden unmittelbar nacheinander Ammoniter und Moabiter davon ausgeschlossen, dass Gott sie in die Gemeinschaft zurückbringt ()ֹלא ֲאשִׁיבֶנוּ.61 Die im Amosbuch erwähnten Gründe haben nichts mit den zuvor behandelten Ausschlusskriterien des Pentateuchs zu tun. Während die Moabiter sich laut Am 2,1 durch Leichenschändung disqualifiziert haben, bleibt den Ammonitern wegen der Ermordung Schwangerer (harot; )הרוֹתder Zutritt verwehrt (Am 1,13).62
60 61 62
Lacoque, Livre, 13: „Ruth la Moabite est l’anti-Moab“. Vgl. die positive Wendung für Moab in Jer 48,47 und Ammon in Jer 49,6. Die Kriegsverbrechen an Schwangeren ( )הרותwerden in Am 1,13 den Ammonitern ( )בני־עמוןangelastet, d. h. den Nachkommen der jüngeren Lotstocher. Unmittelbar im Anschluss folgt der Fremdvölkerspruch gegen die Moabiter wegen Leichenschändung (Am 2,1). Wie bereits gezeigt, geht es dem Ruthbuch darum, beide Lotstöchter samt ihren Nachkommen ‚zu lösen‘, d. h. ‚zurückzubringen‘ und ihre Geschichte zu heilen.
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Eine sprachliche Parallele zwischen den Fremdvölkersprüchen des Amosbuches und der Ruthrolle begegnet im regelmäßigen Gebrauch der Wurzel שׁוב. ( שׁובim Qal: umkehren;63 im Hifil: zurückbringen64) ist das Leitwort65 der Ruthrolle. Die Objekte der den Ammonitern angelasteten Kriegsverbrechen waren Schwangere ()הרות. Wenn der Autor des Ruthbuches nach einem bedeutungsvollen Namen für eine kinderlose moabitische Witwe ohne Aussicht auf Schwangerschaft suchte und wenn dieser Name einen inhaltlichen Bezug zu den verfemten Moabitern und Ammonitern und deren Taten aufweisen sollte, dann bot sich der zweite Teil des hebräischen Wortes für Schwangere ()הרות in Am 1,13 an: ( רותRuth).66 Die Moabiterin Ruth, die mit ihrem Namen die Opfer und Objekte von Kriegsverbrechen verkörpert, erlöst mit ihrer Umkehr die Subjekte dieser Verbrechen, die Ammoniter.67 Die Nennung der „Nachbarinnen“ als Namensgeberinnen „des Sohns für Noomi“ in Ruth 4,17 ist ohne Analogie. Der Erzählduktus legt es nahe, die Nachbarinnen als einen Hinweis darauf zu verstehen, dass notwendig beide „beieinander Wohnenden“68 („Nachbarinnen“; )השכנותgelöst werden müssen. D. h. keine der beiden Lotstöchter, als Stammmütter der Moabiter und der Ammoniter (also beide Nachbarvölker), kann ohne die andere gelöst werden.69
6.
(Er-)Lösungen Ruths und Jesu
Die im Stammbaum Jesu genannten fremden Frauen werden neben den Magiern aus dem Osten (Mt 2,1) mit Recht als Hinweis auf die nichtjüdischen
63 64 65
66
67
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Ruth 1,6–8.10–12.15(2x).16.21.22(2x); 2,6; 4,3.15. Ruth 1,21; 4,15. Eine Übersicht zu den Leitworten in der Ruthrolle bei Fischer, Rut, 36–40. Grundlegendes zu Leit- und Deuteworten in der Ruthrolle auch bei Dommershausen, Leitwortstil, 394–407; vgl. Frevel, Buch, 16–19 und 55; Kowalski, Rewriting, 177. Der hier gemachte Vorschlag versteht sich als Versuch zu erklären, wie ein schriftkundiger Mensch auf den singulären Frauennamen „Ruth“ ( )רותkommen konnte. Dem Autor oder der Autorin ging es weder um Etymologie noch um Grammatik, sondern um Theologie. Fischer, Rut, 35, fasst die bisherigen Vorschläge zur Deutung des Namens ‚Ruth‘ zusammen: „Der Name ist bei allen Möglichkeiten positiv konnotiert […]. Es ist dennoch bemerkenswert, daß in dieser Erzählung mit ihren sprechenden Namen ausgerechnet die Hauptperson keinen Namen trägt, der eindeutigen Hinweischarakter hat.“ Vgl. Ps 133,1הנה מה־טוב ומה־נעים שבת אחים גם־יחד ׃. Zum Bezug von נעיםin Ps 133,1 und Noomi ( )נעמיs. o. Anm. 26. In dieselbe Richtung zielt die Betonung der doppelten Lösung: Ruth, die Moabiterin (von den „Feldern Moabs“; Ruth 1,22; 2,6) und das Feld der Noomi (Ruth 4,3–6) sind zu lösen. Zur Wendung ‚Felder Moabs‘ vgl. Fischer, Rut, 124.
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Völker verstanden, denen durch Jesus der Zugang zum Heil offensteht.70 Wie der Name Immanuel („Gott mit uns“) in Mt 1,23 dem „ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende“ in Mt 28,20 korrespondiert, so entspricht der Stammbaum aus Juden und Heiden (Mt 1,1–17) der Aufforderung „alle Völker“ zu Jüngern zu machen (Mt 28,19).71 Während Tamar (Mt 1,3), Rahab (Mt 1,5) und die Frau des Uria (Mt 1,6) nur für sich selbst stehen, kommt mit Ruth (Mt 1,5) der Subtext ihrer Herkunft mit ins Spiel.72 Sie bringt gleichsam ihre eigene Abstammungsgeschichte in die Genealogie Jesu mit ein: Die Nachkommen Lots und seiner Töchter. Ruths Umkehr73 bereitet David, dem Sohn Isais, den Weg (Ruth 4,22; Mt 1,5f.). Indem Ruth in den Stammbaum bei Matthäus aufgenommen wird (Mt 1,5), werden ihre Vorfahren, die Moabiter und Ammoniter, mitaufgenommen.74 Durch Ruth75 (Mt 1,5) erhält der Aufruf zur Mission aller Nationen (Mt 28,19) eine zusätzliche Dimension. Mit den einst von der Abrahamsverheißung getrennten Lotnachkommen (den Moabitern und den Ammonitern; Gen 70 71
72
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Vgl. Konradt, Sendung, 135f.; Klaiber, Matthäusevangelium, 23.36. Konradt, Evangelium, 462 versteht ebenfalls „die nichtjüdischen Frauen im Stammbaum (1,3–6)“ neben der „Verheißung des Völkersegens (Gen 12,3 u. ö.)“ als Anspielung auf das „Sendungswort in [Mt 28] V. 19a“. Der hier identifizierte Subtext ist de facto ein doppelter. Wie das Matthäusevangelium das Ruthbuch integriert, ohne die Bezüge jeweils kenntlich zu machen, so liegen dem Buch Ruth der Abraham- / Lotzyklus und die alttestamentlichen Worte und Erzählungen über die Moabiter und Ammoniter als maßgeblicher Subtext zu Grunde. Cohn, Overcoming, 175, nennt die Handlung der Ruthnovelle „a counterhistory“; vgl. Cohn, Overcoming, 181. Der Inzest nach der Zerstörung Sodoms, dem die beiden Volksgruppen entstammen, ist zwar nicht ausdrücklich erwähnt, wird aber z. B. bei den matthäischen Nennungen Sodoms (Mt 10,15; 11,23f.) ‚mit aufgerufen‘. In Mt 9,1 begegnet die im Neuen Testament parallellose Bezeichnung Kapernaums als „seine (Jesu) Stadt“ (vgl. Mt 4,13). In Mt 11,23f. stellt der Evangelist Sodom mit ebendieser Stadt, Kapernaum, in einen semantischen Kontext. Die Gegenüberstellung zeigt zugleich, dass selbst für Sodom Hoffnung bestanden hätte, wenn dort die Zeichen Jesu geschehen wären. Fisch, Ruth, 435, kennzeichnet die Ruthnovelle zutreffend als „Heilsgeschichte in miniature“ in des Wortes doppelter Bedeutung. Aufgrund eines Strukturvergleiches, verweist er u. a. auf die Parallelität der Ruthnovelle zu Gen 13 und 19,31–33 und kommt zu dem Schluss: „Thus it may be suggested that the function of the story of Ruth is to ‚redeem‘ the previous episodes in the corpus“; vgl. Fischer, Book, 45. Fischs Ziel ist nicht primär die Untersuchung der Autorintention, sondern das Fruchtbarmachen der strukturalistischen Methode (in enger Anlehnung an Lévi-Strauss, Structure, 227–255) für die Bibelexegese; „the structuralist will […] seek to be as inclusive as possible, rejoicing when he can bring together many stories under one single ‚code‘“, Fisch, Ruth, 428. Nach Fisch prägt sich die gleichbleibende psychische Grundstruktur einer Gemeinschaft jeweils auf verschiedenen Kulturstufen in strukturell parallelen Erzählungen aus, Fisch, Ruth, 434: „The story of Lot is one of the cave-dwellers (Gen. xix 30). The story of Judah is one of sheep-farmers […]; in the story of Ruth we have reached a more advanced stage of cul-ture.“ Aufgrund formaler Beobachtungen stellt Fisch Gen 38 in eine Reihe mit Gen 13 und 19 und Ruth (Fisch, Ruth, 430f.). Fisch
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13,11), die beispiellos dezidiert exkommuniziert waren (Dtn 23,4 etc.), werden gerade diejenigen fremden Völker in den Stammbaum Ruths und damit Jesu integriert, die am weitesten vom Heil entfernt waren. Es geht in Mt 28,19 nicht um geografisch ‚ferne Völker‘ und auch nicht nur um die Völker, die zur Zeit Jesu existierten. Durch die Aufnahme Ruths in den Stammbaum wird verdeutlicht, dass kein Volk zu keiner Zeit unabänderlich ausgeschlossen ist vom Zugang zum Heil. Alle Völker, d. h. alle Menschen, selbst die Feinde (Mt 5,44) und die durch ein Wort der Tora76 scheinbar auf ewig Ausgeschlossenen (Dtn 23,4–6), sind an allen Orten und zu allen Zeiten als potentielle Empfängerinnen und Empfänger der Taufe und Lehre Jesu (Mt 28,19f.) und damit des an ihn gebundenen Heils zu verstehen.
7.
Schlusswort
‚Ruth‘ ist mehr als nur einer der Frauennamen im Stammbaum Jesu bei Matthäus. An Ruths Namen knüpfen sich ihre Herkunft und vor allem ihr heilender Umgang mit der Vergangenheit. Wie in Ruths Stammbaum finden sich auch in Jesu Genealogie übel beleumundete Menschen.77 In beider Leben und Handeln sind die dunklen Flecken der Vergangenheit nicht verdrängt, sondern aufgenommen und geheilt. Auch wenn Ruths moabitische Herkunft nicht explizit im Matthäusevangelium erwähnt wird, ist doch deutlich, dass dem Evangelisten wesentliche Stationen ihrer Geschichte vertraut waren. Das Handeln und Ergehen der Nachfahrin Lots und Urgroßmutter Davids (Ruth 4,22) legt sich als Subtext unter die Theologie des Matthäusevangeliums. Ihre Geschichte kommt an Eckpunkten des Evangeliums, z. B. in den gehäuften Ruth-Bezügen der beiden matthäischen Eingangskapitel, in der Bergpredigt (Mt 5,43f.), in Gerichtsworten (Mt 11,23f.) oder im Missionsbefehl (Mt 28,19f.) an die Oberfläche. Jesu bei Abraham beginnender Stammbaum wird durch Ruth ergänzt und angereichert um den Stammbaum Lots.
76
77
lässt offen, ob der Ruth-Autor die Parallelgeschichten heilen wollte; vgl. Cohn, Overcoming, 174f. Leitwort des Ruthbuches ist wie oben erwähnt: „umkehren“ ()שׁוב. Werden die Schwangeren aus Am 1,13 ( )הרותals Ausgangspunkt für die Bildung des Namens Ruth ()רות verstanden und der Buchstabenbestand selbst umgekehrt, so entsteht „Tora“ ()תורה. In der Tat ist die Umkehr zur Tora, d. h. ihre Wiederaufrichtung nach dem Irrweg im Lotzyklus eine zentrale Intention der Ruthrolle. Am Fest der Tora-Gabe, dem Wochenfest (Schawuoth), wird traditionell die Ruth-Rolle gelesen; vgl. Zakovitch, Buch, 69f. Z. B. Joram (Mt 1,8; 2 Kön 8,16–18; 2 Chr 21,5f.10f.18–20) und Manasse (Mt 1,10; 2 Kön 21,1–18; 2 Chr 33,1–18 ); vgl. Ostmeyer, Stammbaum, 177.
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Das heilsame Handeln Ruths als Vorfahrin Jesu fließt ein in seine Herkunft und wird programmatisch für sein eigenes Handeln als Messias aller Menschen, insbesondere die Hinwendung zu Ausgegrenzten und Verlorenen. Ruth ist die gleichen Wege wie ihre Vorfahren noch einmal gegangen.78 Doch an den Wegscheiden und Kreuzungen hat sie sich bewusst anders entschieden.79 Dadurch hat sie die Zwangsläufigkeit einer ewigen Wiederholung der Geschichte widerlegt und so ihre Vorfahren ‚erlöst‘. Ruth hat sich ihrer Vergangenheit gestellt und durch ihre Rückkehr in den Abrahamsbund den Weg für alle in den Heilsbund freigemacht. Im Umgang mit unheilvoller Vergangenheit sind im Ruthbuch theologische Grundstrukturen des Neuen Testamentes vorgezeichnet.80
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78 79
80
Kowalski, Rewriting, 204: „It can be stated that the Ruth story is a rewriting of other (older) OT stories and legal texts.“ Lau, Identity, 119. „Ruth’s choices led to a change in her person. […] In many ways identity shapes or even constrains ethics, but ethics can also alter identity“; vgl. Lau, Identity, 194f. Vgl. die Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12–21: Die Unheilsgeschichte ist durch Christus revidiert worden. Teilhabe an der durch Christus erwirkten Heilsgeschichte bedeutet, mitgekreuzigt werden (Röm 6,6), mitbegraben werden und mitauferstehen (Röm 6,4f.; vgl. Kol 2,12).
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Die Moabiterin Ruth
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Halacha für alle Völker. Migration und Toraobservanz bei Matthäus Steffen Leibold
„Warum mich als Christen der Talmud interessiert“, erklärt Friedrich-Wilhelm Marquardt in einem kurzen Beitrag1 und verweist dabei einleitend auf eine auslegungsgeschichtlich strittige Passage2 aus dem Matthäusevangelium. In Mt 23,2–3a findet sich folgende Aufforderung Jesu an das Volk und seine Schüler:3 […] ἐπὶ τῆς Μωϋσέως καθέδρας ἐκάθισαν οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι. πάντα οὖν ὅσα ἐὰν εἴπωσιν ὑμῖν ποιήσατε καὶ τηρεῖτε – Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet. Diese Aufforderung ist sprachlich unmissverständlich klar formuliert, ungeachtet aller nachfolgenden Polemik über pharisäisches Handeln: Für die Nachfolger Jesu ist die stets neu zu erfragende pharisäisch-schriftgelehrte Lehrmeinung alltagspraktisch verbindlich!4 Fiedler geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass „die Jesus-Tradition kein Ensemble von Weisungen [enthält], das die Lebenspraxis einigermaßen umfassend geregelt hätte“5. Auf diese Weise erhält Mt 23,2–3a eine exponierte Stellung für die Fragen des täglichen Lebens der matthäischen Gemeinde. So richtig diese Ansicht vor dem Hintergrund der in alle Bereiche des Lebens hineinragenden jüdischen Toraauslegung ist, so sehr greift sie vor dem Hintergrund vor allem der ebenfalls von Jesus vor Volk und Schülern gehaltenen (Mt 5,1) Bergpredigt in Mt 5–7 aber auch zu kurz. Besonders die so genannten Antithesen aus Mt 5,21–48 lassen sich über die einleitende Wendung ἐγὼ δὲ λέγω – und ich sage euch doch sehr deutlich als eine Form der 1 2
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Dieser Beitrag ist ein Gruß an meinen neutestamentlichen Lehrer Klaus Wengst als Dank für seinen Einfluss auf mein theologisches Denken. Vgl. Marquardt, Talmud. Eine knappe systematische Auflistung aller Versuche zeitgenössischer Exegese, die „vorbehaltlose Anerkennung pharisäisch-schriftgelehrter Tora-Auslegung“ abzuschwächen oder gar zu widerlegen, findet sich bei Fiedler, Matthäusevangelium, 345f.; vgl. zuletzt auch Konradt, Evangelium, 355, der Mt 23,3a als „ironische Aussage“ mit der Funktion, ein „Widerlager“ zu V. 3b zu sein deutet, die in Mt 23,3 angelegte Differenz zwischen Lehre und (unzureichendem) Tun allerdings nicht ausreichend würdigt. Allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die weibliche Form verzichtet. Vgl. dazu auch Crüsemann, Wahrheitsraum, 216 zu Mt 23,2f.: „Was die Schriftgelehrten und Pharisäer lehren, ist ohne Ausnahme von den Jüngerinnen und Jüngern Jesu zu tun!“ Fiedler, Matthäusevangelium, 346.
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Steffen Leibold
aktualisierenden Auslegung der Tora durch den matthäischen Jesus selbst verstehen,6 die sehr wohl lebenspraktische Weisungen enthält. Nun stehen beide Texte zugleich im Matthäusevangelium und zwar wegen ihrer strukturell und inhaltlich engen Verbindung. Um der Beziehung zwischen der Bergpredigt und darin vor allem Mt 5,21–48 sowie der Aufforderung in Mt 23,2–3a auf die Spur zu kommen, geht der Blick zuerst auf die narrative Anlage des Matthäusevangeliums. Hier wird das leitende Thema der Migration virulent. Erst vor dem Hintergrund der besonderen Struktur des Matthäusevangeliums kann eine plausible Verhältnisbestimmung beider Textbereiche zur Toraobservanz der matthäischen Gemeinde vorgenommen werden.7 Da nun beide Texte Bestandteil des noch heute verbindlichen christlichen Kanons sind, wird zum Abschluss die in Marquardts Frage aufscheinende Bedeutung jüdischer Lehrmeinung für gegenwärtiges Christentum neu aufgegriffen.
1.
Der Weg vom Zion hin zu allen Völkern – zur narrativen Struktur des Matthäusevangeliums
Um die narrative Struktur des Matthäusevangeliums besser verstehen zu können, ist zuerst ein Blick auf die alttestamentlichen Vorstellungen einer Völkerwallfahrt zum Zion zu richten. Im Mittelpunkt wird dabei die Version aus Jes 2,2–4 stehen.
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Vgl. dazu bspw. Wengst, Regierungsprogramm, 77–82. Vgl. Fiedler, Matthäusevangelium, 125, der den Befund, dass Jesus „zwar einige halachische Bestimmungen äußert […], dass er aber insgesamt seine Anhängerschaft auf die umfassende Einhaltung pharisäischer Halachot verpflichtet“, allein mit dem Hinweis auf das korrelative Verhältnis von Tora und Halacha erklärt, damit aber dennoch eine Antwort auf die Frage schuldig bleibt, warum es trotz Mt 23,2–3a exponierte halachische Äußerungen des matthäischen Jesus gibt. Über diesen strukturellen Zugang wird überdies ebenfalls versucht, Mt 23,2–3a nicht umgekehrt in einschränkender Weise vor dem Hintergrund einer Absolutsetzung der Torasauslegung Jesu in der Bergpredigt zu verstehen, vgl. zu dieser Deutung bspw. Frankemölle, Wurzeln, 272– 274. Nach Vahrenhorst, Matthäus, 306 „überrascht“ Mt 23,2f. im Kontext eines Evangeliums, das eine eigenständige Position im halachischen Diskurs seiner Zeit einnimmt und dabei Jesus mitsamt seiner vor allem in der Bergpredigt erkennbaren halachischen Positionen als einzigen Lehrer benennt (Mt 23,8–10) und dessen Worte gehört und getan werden sollen (Mt 7,24). Doch umfasst die Bergpredigt nicht alle halachisch relevanten Bereiche des menschlichen Lebens, weshalb Mt 23,2–3a unbedingt ernst genommen werden muss. Dann umschließt die Lehre Jesu aus Mt 23,10 auch Mt 23,2f., und der Hinweis aus Mt 7,24 bildet einen wichtigen Abschluss für die Bergpredigt in ihrer Verortung im Lehrraum des Matthäusevangeliums, wie es nun über die Konfiguration mit der Zionswallfahrt plausibel gemacht werden soll.
Halacha für alle Völker
1.1
175
Die Völkerwallfahrt zum Zion im Jesajabuch
In diesem Abschnitt des Jesajabuches wird zum ersten Mal vom so genannten Ende der Tage als einer „Zeitenwende […] innerhalb der Geschichte“8 Israels berichtet: In einer zukünftigen Zeit, die allein JHWH bestimmt, werden alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη nach Jes 2,2b LXX) zum Zion als dem Berg Gottes kommen. Der Zion wird als Ort näher bestimmt, von dem aus die Weisung (die Tora) als Wort JHWHs an alle Völker ausgeht. Die wichtigste Folge dieses Lernens ist, dass göttliche Rechtsprechung durch JHWH zu globalem Frieden zwischen den Völkern führt.9 Diese Vision eines zukünftigen weltweiten Friedens durch die Weisung JHWHs auf dem Zion in Jerusalem findet sich in fast wörtlicher Übereinstimmung auch in Mi 4,1–5, allerdings wird diese Fassung mit V. 5 durch einen bemerkenswerten Nachsatz ergänzt. Dort steht, dass alle Völker weiterhin im Namen ihrer Gottheit gehen, nur das Volk Israel geht für immer im Namen JHWHs, seiner Gottheit. Weisung von Zion, nach Mi 4,1b im Gegensatz zu Jes 2,2b übrigens nicht explizit für alle Völker, bedeutet nicht zugleich die Ersetzung eigener Gottheiten durch JHWH. Auch wenn JHWH als Quelle der Weisung für viele Völker in einer exponierten Stellung steht, findet sich in dieser Version eine Toleranz anderen Gottheiten gegenüber,10 die dem Jesajatext fern ist. Hier geht es allein um JHWH als alleinige Gottheit und eine universale Verbreitung von JHWHs Weisung.
1.2
Der Weg zu allen Völkern im Matthäusevangelium
Besonders die Fassung der Zionswallfahrt aus Jes 2,2–4 mit dem Tempel der einzigen Gottheit JHWH als Mittelpunkt bildet die Vorlage der narrativen Konzeption des Matthäusevangelium: Matthäus nimmt wie Jesaja Bezug auf den Tempel in Jerusalem, allerdings ist er zur Zeit der Abfassung dieses Textes bereits zerstört und kann deshalb nicht mehr im Sinne der Völkerwallfahrt als Zentrum der Vermittlung der schriftlichen und mündlichen Tora für alle Völker fungieren. Theologisch findet dieser Befund ebenfalls Ausdruck in der Aufnahme des letzten Abschnitts von Jes 56,7 LXX (ὁ γὰρ οἶκός μου οἶκος προσευχῆς κληθήσεται πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν – Denn mein Haus soll ein Haus
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So die Begrifflichkeit von Maier, Völkerwallfahrt, 107. Vgl. zur Auslegung des Abschnittes bspw. Beuken, Jesaja, 88–96. Vgl. dazu generell Leibold, Raum, 316f., ebenso wie Ebach, Josef, 112, Anm. 199: „In der Formulierung in Mi 4,5 […] scheint in der Beurteilung fremder Religionen ein Konzept auf, das von Toleranz und Konvivenz getragen ist. Diese (perserzeitliche) Konzeption verbindet sich mit der der Genesis und unterscheidet sich vom Exoduskonzept wie von dem der frühen Prophetie.“
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Steffen Leibold
des Gebetes sein für alle Völker) in der Szene der so genannten Tempelreinigung durch Jesus in Mt 21,13. Im Gegensatz zur synoptischen Parallelstelle Mk 11,17 fehlt dem Ausspruch Jesu im Matthäusevangelium die in der Vorlage in Jesaja enthaltene und an die Zukunftsvision aus Jes 2,2–4 erinnernde Völkerperspektive (πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν).11 Matthäus nimmt allein Bezug auf die (grundsätzliche) Bedeutung des Jerusalemer Tempels für das Judentum, die Völkerperspektive ist nicht mehr an diesen Ort gebunden. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer erfordert eine theologische Neuausrichtung, um die weiterhin zentrale Vision aus Jes 2,2–4 dennoch wahr werden lassen zu können. Statt einer Wanderungsbewegung aller Völker nach Jerusalem muss die Weisung JHWHs nun in umgekehrter Richtung zu den Völkern an ihren jeweiligen Orten getragen werden, wie es bereits in Jes 51,4 anklingt. Dieses Vorhaben findet sich nun in prominenter Stellung als jesuanischer Auftrag am Ende des Matthäusevangeliums in Mt 28,18–20: Die Schüler Jesu werden mit der Verbreitung der göttlichen Lehre für alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη in Mt 28,19) betraut. Migration ist dem Matthäusevangelium konzeptionell eingeschrieben – sie dient der Erfüllung der alttestamentlichen Vorstellung von der Völkerwallfahrt in der Zeitenwende, die JHWH über Jesus Christus eingeläutet hat.12 Jesus verkündet die neue Richtung, die die Verbreitung der göttlichen Weisung für alle Völker nehmen soll, allerdings nicht auf dem Zion in Jerusalem, sondern stattdessen auf einem geographisch nicht ermittelbaren Berg in Galiläa (Mt 28,16). Dieser Berg erinnert sprachlich an den Ort der Verkündigung der Bergpredigt (Mt 5,1 und 8,1)13 und dient möglicherweise einer Abgrenzung von Jerusalem als Zentrum jüdischer Theologie im Rahmen der besonderen und auf Dezentralisierung ausgelegten Weisung des in Galiläa aufgewachsenen (Mt 2,22 und 3,13) jüdischen Jesus.14 Der Auftrag Jesu in Mt 28,18–20 ist inhaltlich klar formuliert: Alle Völker sollen zu Schülern gemacht werden, indem sie lernen sollen zu halten, was Jesus seinen Schülern aufgetragen hat. An dieser Stelle soll auf einen for-
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In Lk 19,46 fehlt in der Aufnahme von Jes 56,7 ebenfalls die Völkerperspektive, was auf einen ähnlichen Umgang mit der Verbreitung der Weisung JHWHs für alle Völker zusammenhängen kann; vgl. zur Verkündigung des Evangeliums im lukanischen Doppelwerk die Überlegungen von Schmidt, Abkehr. Eine Diskussion der Stellung der Tora und Halacha im lukanischen Konzept der Lehre in der Diaspora kann an dieser Stelle nicht erfolgen. In Mt 3,2 wird der Umkehrruf Johannesʼ des Täufers im Gegensatz zu Mk 1,4 mit dem Hinweis auf das Kommen des Himmelreiches ergänzt; Jesus nimmt diesen Ruf in Mt 4,17 auf, seine Schüler sollen ihn in Mt 10,7 weitertragen. Dieser Zusatz markiert eine raum-zeitliche Neuerung, die wie Jes 2,2 als Zeitenwende verstanden werden kann. Vgl. auch Fiedler, Matthäusevangelium, 429. Diese Abgrenzung ist nicht überbietungstheologisch zu verstehen, wie es bereits Mt 23,3a verdeutlicht; vgl. zur Deutung der Funktion des Berges auch Abschnitt 2.2.
Halacha für alle Völker
177
schungsgeschichtlichen Dissens hingewiesen werden, der über die Frage bestimmt wird, ob die Wendung πάντα τὰ ἔθνη in Mt 20,19 ebenfalls eine Sendung zu den Juden impliziert oder nicht, bei dem es sich im Kern aber letztlich um die unterschiedliche heilsgeschichtliche Einordung des Judentums handelt. Fiedler stellt heraus, dass im Rahmen einer jüdisch-christlichen Theologie nicht allein ein angenommener Ausschluss Israels aus dem Adressatenkreis problematisch ist, sondern in umgekehrter Weise auch eine Inkludierung als eine weitere Ausdrucksweise einer heilsgeschichtlichen Ablösung Israels gelten kann. Selbst im Rahmen einer Anerkennung einer weiterhin bestehenden „Geltung der Zusagen Gottes an Israel“ hat eine „inklusive Deutung den Nachteil, gerade das einzuebnen, was sie anerkennt“15. Fiedler plädiert deshalb vor dem Hintergrund der Anweisungen an die Schüler in Mt 10,6, zu den Juden (dem Haus Israel) zu gehen, in Mt 28,19 eine Sendung zu den Nichtjuden zu verstehen, die neben der Anweisung aus Mt 10,6 als aktueller Auftrag besteht. Diese Deutung lässt sich durch zwei Beobachtungen aus Mt stützen, die Fiedlers Position ergänzen: Zum einen fällt auf, dass die Sendung zu den verlorenen Schafen Israels keine (neue) Lehre wie in Mt 28,20 impliziert, sondern allein der Verkündigung des nahe herbeigekommenen Himmelreichs dient,16 das bereits Johannes der Täufer angekündigt hat (Mt 3,2). An die Juden ist allein diese Mitteilung gerichtet, weil sie die Ermittlung und Vermittlung der Weisung Gottes bereits kennen.17 Hinzu kommt, dass die Adressaten aus Mt 28,20 halten sollen, was Jesus seinen Schülern aufgetragen hat, und dazu gehört unbedingt auch der Befehl aus Mt 23,3a. Juden zu verkündigen, sie sollen sich an die (eigene) pharisäisch-schriftgelehrte Tradition der Toraauslegung halten, erscheint konzeptionell eher unlogisch – vielmehr geht es Matthäus um die Verortung aller anderen Völker als Lernende der Tora (vgl. Mt 5,17–19) und der Halacha. Überdies sind die herbeiziehenden Völker in der motivischen Vorlage der Völkerwallfahrt in Jes 2,2–5 ebenfalls von den Juden als dem Haus Jakob, dem Volk JHWHs (Jes 2,6) unterschieden. Die Völker wollen nach Jes 2,3a auf den Pfaden JHWHs gehen – im Hebräischen der gleiche Wortstamm wie die Halacha.
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Fiedler, Matthäusevangelium, 430. Vgl. auch Fiedler, Matthäusevangelium, 228, der sich dafür ausspricht, dass Mt 10,6 als „endzeitliche Vorbereitung Israels auf das nahende Himmelreich“ gelten kann. Eine Ablehnung der Botschaft von jüdischen Gruppierungen wie den Pharisäern und Schriftgelehrten ändert dabei allerdings nicht ihre Stellung als Lehrer für die Schüler Jesu! Die reine Botschaft von der Ankunft des Himmelreiches bedeutet, dass die Halacha des matthäischen Jesus nicht als innerjüdische Ansicht gedacht ist, die auch den jüdischen Gruppierungen vermittelt werden sollte, wie es Vahrenhorst, Matthäus, bes. 417f. sieht, sondern als eine Lehre für die Migration zu allen Völkern nach Mt 28,18–20.
178
2.
Steffen Leibold
Migration und Vermittlung der Halacha
Die Pharisäer und Schriftgelehrten aus Mt 23,3a gelten als Lehrer aller Völker, die nach Mt 28,19 zu Schülern gemacht werden. Sie vermitteln die Halacha für alle Völker! Zugleich weist Jesus selbst eindrücklich daraufhin, dass die Tora vollumfänglich gültig bleibt (Mt 5,17–19) und schließt an diese Festlegung eigene halachische Überlegungen an (Mt 5,21–48). Darüber hinaus finden sich auch an anderen Stellen des Matthäusevangeliums wie bei der Heilung des Mannes mit der verkrümmten Hand am Sabbat in Mt 12,9–13 auf konkrete Situationen bezogene halachische Aussagen Jesu.18 Aus diesem Grund erfolgt nun eine Verhältnisbestimmung der verschiedenen Aussagen Jesu zu Tora und Halacha im konzeptionellen Rahmen der umgekehrten Zionswallfahrt im Matthäusevangelium.
2.1
Das Befolgen jüdischer Lehre nach Mt 23
Mt 23,3a nimmt im Spektrum der neutestamentlichen Aussagen zur Toraobservanz die radikalste Position ein. Eine Befolgung der pharisäisch-schriftgelehrten Halacha19 impliziert grundsätzlich das Halten der Tora,20 sodass in Mt 23,3a die Aussage Jesu aus Mt 5,17–19 integriert ist. Damit rückt Matthäus an Paulus heran, der in Röm 3,31 auf die fortlaufende Geltung der Tora im Vertrauen auf Gott hinweist. Allerdings bedeutet diese Sicht auf die Tora nicht wie bei Matthäus die Übernahme halachischer Positionen, stattdessen steht gegenseitige Rücksichtnahme innerhalb der Gemeinschaft im Vordergrund, wie in Röm 14 zum Umgang mit der Speisegesetzgebung verhandelt wird. In Gal 2,6 beantwortet Paulus in seinen Schilderungen zum Apostelkonzil die Frage, an welche jüdischen Gesetze sich die nichtjüdischen Menschen aller Völker in der Nachfolge Jesu Christi halten sollen, negativ, während die lukanische Darstellung in Apg 15,20.29 und Apg 21,25 dagegen die Enthaltung von Götzenopfer(fleisch), Blutgenuss und dem Fleisch verendeter Tiere sowie von torawidrigen Beziehungen anführt und damit die Bereiche des Kultes, des menschlichen Zusammenlebens und der Speisegesetzgebung tangiert.21 Auch wenn 18 19
20 21
Vgl. zu dieser Stelle Leibold, Wiederherstellung, 138–142. Die Kritik an der Lehre der Pharisäer in Mt 16,6.12 bezieht sich nicht auf die Halacha, sondern auf die Anerkennung Jesu als Messias, welche keine Voraussetzung für pharisäische Lehrautorität ist; vgl. dazu Fiedler, Matthäusevangelium, 285f. Frankemölle, Matthäus 2, 215 stellt diese Episode in den Zusammenhang der ab Mt 13,54 geschilderten Reaktionen auf Jesus, die mit Petrusʼ Feststellung in Mt 16,16 endet. Vgl. zum grundsätzlichen Zusammenhang von Tora und Halacha im Judentum zur Zeit Jesu die Zusammenfassung bei Fiedler, Matthäusevangelium, 125. Vgl. zur lukanischen und paulinischen Sicht auf die Tora auch Crüsemann, Wahrheitsraum, 217–222.
Halacha für alle Völker
179
Paulus grundsätzlich die Geltung der Tora betont und in Apg 15 das Befolgen von konkreten Geboten aus Lev 17f. thematisiert wird,22 geht Matthäus deutlich weiter: Hier wird nicht allein die fortlaufende Gültigkeit der gesamten Tora bestätigt, sondern überdies die uneingeschränkte Übernahme pharisäisch-schriftgelehrter Halacha gefordert! Allerdings kann ein konzeptioneller Filter für den Anspruch aus Mt 23,3a über die pharisäisch-schriftgelehrte Frage nach dem wichtigsten Gebot in Mt 22,34–40 gefunden werden. Im Mittelpunkt aller Auslegung steht gleichberechtigt das Schma Jisrael aus Dtn 6,5 und das Nächstenliebegebot aus Lev 19,18.34. Diese beiden Pole bilden für Jesus die Eckpfeiler jeder Toraauslegung und daraus resultierender Praxis.23 Auf diese Weise kann zum einen der universale Anspruch von Mt 23,3a aufrecht erhalten werden – ansonsten würde pharisäisch-schriftgelehrte Toraauslegung als fern von Gottes- und Menschenliebe angesehen werden –, doch verschiebt sich der Fokus zum anderen weg von genuin kultischen Geboten hin zu einer Befolgung lebenspraktischer Vorgaben, die expliziter in diesem Rahmen von Gottes- und Menschenliebe stehen.24 Durch diesen Zuschnitt wird nun die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Mt 23,3a und der Bergpredigt und insbesondere der halachischen Festlegungen Jesu in Mt 5,21–48 virulent, werden dort doch ebenfalls Themen des gesellschaftlichen Umgangs und des richtigen Gottesdienstes verhandelt. An dieser Stelle wird erneut der Ort der jeweiligen Worte des matthäischen Jesus relevant.25 Die Rede Jesu in Mt 23 ergeht in Jerusalem als dem Zentrum des religiösen Lebens des Judentums. An allen Orten nun, an denen die Schüler Jesu wie in Jerusalem auf Schriftgelehrte und Pharisäer treffen, die in den Synagogen auf dem Stuhl des Mose Halacha lehren, sollen sie diese Auslegungen befolgen. Wenn aber keine jüdische Lehrautorität ange22
23 24
25
Die Regeln in Apg 15 sind in frührabbinischer Zeit als Vorgaben für Proselyten – im Sinne eines Zusammenlebens mit Juden – entwickelt worden und haben über das Verbot torawidriger Beziehungen nur eine Gemeinsamkeit mit den noachidischen Geboten, die in jüdischer Tradition bis heute für alle Menschen gelten; vgl. dazu auch Müller, Tora, 161–166. Vgl. auch Fiedler, Matthäusevangelium, 347 zur Betonung der ‚Mitmenschlichkeit‘ bei der Toraauslegung. Der Befund, dass in Mt 23,3a πάντα – alles befolgt werden soll, lässt sich allerdings nicht vollends über Einschränkungen wie Mt 22,34–40 abschließend erklären. Einer Deutungslinie ohne Abschwächungstendenzen ist der Boden nicht entzogen. Vgl. auch Kosch, Gesetz, 68, der von einer „Ethik des gerechten und solidarischen Zusammenlebens“ bei Matthäus spricht, der „die von den Pharisäern inner- und außerhalb seiner Gemeinde hoch geschätzten kultischen und rituellen Vorschriften“ untergeordnet sind. An dieser Stelle können die noachidischen Gebote erneut als Option für christliche Ethik ins Gespräch gebracht werden, lassen sie sich doch deutlich im Kontext von Gottes- und Menschenliebe verorten und sind sie überdies zugleich eine explizite Halacha für nichtjüdische Menschen. Vgl. dazu auch die Aufteilung von Mt 5–7 nach Wick, Bibelkunde, 14.
180
Steffen Leibold
troffen wird, dann dienen vor allem die Bestimmungen der so genannten Bergpredigt als Grundlage der Lehre für alle Völker – sie lassen sich als eine Art Halacha ‚to go‘ verstehen.
2.2
Die Bergpredigt als Halacha ‚to go‘
Ein enger Zusammenhang von Mt 23 und der Bergpredigt wird nicht allein über die verhandelten Themen im Kontext von Gottes- und Nächstenliebe, sondern traditionsgeschichtlich über die Figur des Mose hergestellt: Die Pharisäer und Schriftgelehrten sitzen auf dem Stuhl des Mose, doch auch Jesus selbst wird mit dieser Figur verbunden: Sein Aufstieg auf einen galiläischen Berg in Mt 5,1 erinnert motivisch an den Aufstieg Mose auf den Sinai und lässt sich in Konfiguration mit Mt 23,2 als eine weitere Installation einer jüdischen Lehrautorität im Matthäusevangelium verstehen: Auch Jesu Lehre auf dem Berg ist wie die Lehre der Schriftgelehrten und Pharisäer als verbindlich für die Nachfolger Jesu zu verstehen.26 Zu Beginn der Bergpredigt wird die Tora, bestehend aus Gesetz und Propheten, in Mt 5,17–19 als weiterhin aufgerichtet bezeichnet.27 Diese Stelle ist prominent vor der konkreten halachischen Auslegung Jesu und vor weiteren Aussagen Jesu zum falschen oder richtigen Gottesdienst sowie zum Götzendienst im Zentrum der Bergpredigt verortet. Im Anschluss an diese konkreten Vorgaben folgen in Mt 7,12–27 abschließende Mahnungen Jesu, die ganz allgemein auf das Tun der göttlichen Weisung abheben.28 Hier liegt eine weitere enge Verbindung zu den Worten Jesu in Mt 23,2–3a vor: Auch in seiner Rede über die Pharisäer erinnert er über den Befehl zum Halten pharisäisch-schriftgelehrter Lehre indirekt an die fortlaufende Gültigkeit der Tora und hebt ebenfalls explizit auf das Tun der Lehre ab. Über die Fokussierung dieses Handelns auf die Mitmenschlichkeit lassen sich die Bergpredigt und Jesu Rede in Jerusalem mittels der Verse Mt 7,12 – der so genannten Goldenen Regel – und der Zuspitzung der Tora und der Propheten auf die Gottes- und Nächstenliebe in Mt 22,40 noch deutlicher aufeinander beziehen. Genauer gesagt ist der Anspruch vom Halten der schriftlichen und pharisäisch-schriftgelehrt ausgelegten mündlichen Tora aus Mt 23,2–3a im Rahmen der Bergpredigt integriert! So universell der Horizont der Rahmung des Textblocks Mt 5,21–7,11 gestaltet ist, so ausgewählt sind die halachischen Auslegungen Jesu als Reisegepäck weltweiter Migration. Die Makrostruktur der Lehre lässt sich über die beiden aus Mt 22,34–40 bekannten alttestamentlichen Stellen der Gottes- und 26
27 28
Die Verbindung von Mt 5,1 mit Mt 23,2 verbietet eine Deutung des Aufstiegs auf den Berg als „eine antitypische Parallele zu Mose“ (Wengst, Regierungsprogramm, 30 mit weiteren Argumenten gegen eine Überbietung der Mosetora durch Jesus). Vgl. auch Wengst, Regierungsprogramm, 69–72. Nach Wick, Bibelkunde, 14 bilden Mt 5,17–20 und Mt 7,12–14 eine Klammer der konkreten Ausführungen über den Verweis auf die Tora und Propheten.
Halacha für alle Völker
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Menschenliebe als (ineinander verschränkte) Überbegriffe abbilden: Während 5,21–48 vorrangig auf die Mitmenschlichkeit – auch im Rahmen des Gottesdienstes (Mt 5,23f.) – abhebt, konzentrieren sich die nachfolgenden Verse bis 7,11 primär auf das Verhältnis zu Gott – und darin auf die Mitmenschen, wie beispielsweise die Aufforderung in Mt 7,1–5, sich vor einer Kritik anderer zuerst in Selbstkritik zu üben,29 erkennen lässt. Besonders die so genannten Antithesen in Mt 5,21–48 im Horizont von Mt 23,2–3a nun aber allein als „beispielhaft[e] Orientierung für das Leben“30 zu bezeichnen und ihnen (sowie der gesamten Bergpredigt) damit die Legitimation abzusprechen (eine Form von) Ethik zu sein, greift vor dem Hintergrund der räumlich determinierten Unterscheidung der Lehre von Mt 5–7 und Mt 23,2–3a allerdings zu kurz Auch wenn die Worte Jesu nicht auf alle relevanten Bereiche der Tora ausführlich anspielen, bilden sie dennoch ein in sich geschlossenes Grundgerüst für die Vermittlung der göttlichen Weisung auf dem Weg zu allen Völkern: Zuerst wird dabei der einzelne Mensch als soziales Wesen in den Blick genommen und davon ausgehend die Ebene der zwischenmenschlichen Beziehung genauer beschrieben. Die Verse Mt 5,21–26 stellen dabei zuerst die soziale Stellung des gleichwertigen und gleichberechtigten31 Mit-Menschen32 heraus, die weder über Beschimpfungen als immaterielle Abwertung noch über Geldschuld als materielle Abwertung gemindert werden darf. Dieser Mensch in seinen gesellschaftlichen Bezügen wird im zweiten (Verse 27–30) und dritten Abschnitt (Verse 31f.) erneut in den Blick genommen. Hier geht es um den unbedingten Schutz der Ehe als der (textlich vermittelt; vgl. auch 1Kor 71,–9) überwiegenden Lebensform: Zum einen soll nicht in die Beziehung anderer Menschen eingegriffen werden und zum anderen soll die eigene Ehe nicht beendet werden.33 Beide Forderungen fallen durch ihre drastischen Formulierungen auf, die wie bereits Mt 5,21–26 im Kern auf die hohe Relevanz und die unbedingte Bewahrung der den Menschen determinierenden gesellschaftlichen Strukturen abheben. Nach den Vorgaben zur Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des Menschen stehen in Mt 5,33–48 klimaktisch angeordnete Ausführungen zum richtigen Umgang mit dem Mitmenschen an. Die Verse 33–37 heben zuerst auf eine wahrhaftige Kommunikation untereinander als zentrale Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen ab. In den nachfolgenden Versen 38–42 fordert Jesus nun über die Beschreibung 29 30 31 32
33
Vgl. Wengst, Regierungsprogramm, 189–192. Fiedler, Matthäusevangelium, 129. Das Motiv der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung findet sich ebenfalls und prominent in der zur Rahmung gehörenden Goldenen Regel in Mt 7,12. In Mt 5,22–24 ist zwar der Bruder (ἀδελφός) als Teil der matthäischen Gemeinde genannt (vgl. auch Fiedler, Matthäusevangelium, 133), doch spricht sich Wengst, Regierungsprogramm, 85 unter Verweis auf die universale Bedeutung von ἀδελφός in Mt 25,40 für die Übersetzung „Mitmensch“ aus, die sich auch über die Ausweitung des Bezuges auf andere Menschen in den Versen 25f. stützen lässt. So auch Fiedler, Matthäusevangelium, 140.
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von drei unterschiedlich verorteten, kaskadisch aufgebauten Situationen eine Abkehr von der Möglichkeit, im Falle eines Konfliktes selbst über Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zu bestimmen: Weder soll im Falle eines körperlichen Konflikts, der überdies als Beleidigung gewertet werden kann,34 geltendes Recht zur Wiedergutmachung eingefordert werden, noch soll im Falle einer juristisch zwar rechtmäßigen, aber moralisch fragwürdigen Verurteilung der rechtliche Mindeststandard eingefordert werden,35 noch soll das Menschen ungleich machende Recht der römischen Besatzungsmacht, einen Menschen zum Frondienst zu zwingen, gebrochen werden. Stattdessen soll stets in einer Art umkehrenden Überbietung der Vorgaben gehandelt werden, um die „Situation gesellschaftlicher Asymmetrie“36 und darin den Menschen sichtbar zu machen, der nicht als gleichwertig und gleichberechtigt anerkannt wird. Sind nun die Rahmenbedingungen zur Sicht auf den Mitmenschen abgesteckt, kann die Feindesliebe als eine Form der radikalen Synthese der vorausgegangenen Forderungen gefordert werden: Wer seine Feinde liebt, weiß sowohl um den Wert des Menschen als auch darum, dass der Mensch seinen eigenen Wert nicht selbst erhalten kann und soll. Im Anschluss an diese anthropologischen Konstanten folgen mit Mt 6,1– 7,11 Forderungen zur alltäglichen Frömmigkeit, die konkrete Handlungen wie Almosengeben, Beten und Fasten betreffen (Mt 6,1–18), das Vertrauen auf Gottes Fürsorge thematisieren (Mt 6,19–34) und zuletzt grundsätzlich das Verhalten anderen gegenüber genauer beschreiben (Mt 7,1–11). Im Mittelpunkt dieser Forderungen steht über die Einleitung in Mt 6,1 ein besonderer Zusammenhang von Tun und Gerechtigkeit: Wer allein aufgrund einer erwünschten Öffentlichkeitswirksamkeit Almosen gibt, betet und fastet und darin seine Gerechtigkeit zur Schau stellt, gilt als einer der Heuchler (οἱ ὑποκριταί in Mt 6,2.5.16), die allein durch das Erheischen von Aufmerksamkeit entlohnt werden, nicht aber durch göttlichen Lohn (Mt 6,1) – ihr Handeln ist letztlich egoistisch motiviert und nicht vollends auf den Mitmenschen fokussiert. Der in Mt 6,1 genannte Begriff der Gerechtigkeit fungiert dabei als Ausdruck einer verbindenden Trennung zu den Schriftgelehrten und Pharisäern des Matthäusevangeliums. Nicht allein die Teile der Bergpredigt ab Mt 6,1, sondern der gesamte Textkomplex von Mt 5,21–7,11 ist vor der Maßgabe der Gerechtigkeit zu lesen, wie Mt 5,20 formuliert: Λέγω γὰρ ὑμῖν ὅτι ἐὰν μὴ περισσεύσῃ ὑμῶν ἡ δικαιοσύνη πλεῖον τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων, οὐ μὴ εἰσέλθητε εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν. – Denn ich sage euch, dass wenn eure Gerechtigkeit nicht noch mehr überfließt als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen werdet. Dieser Satz ist nun allerdings nicht als polemische Kritik zu verstehen, sondern drückt statt-
34 35 36
Vgl. bspw. Wengst, Regierungsprogramm, 118f. Vgl. Wengst, Regierungsprogramm, 122. Wengst, Regierungsprogramm, 124.
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dessen aus, dass auch die Schriftgelehrten und Pharisäer in hohem Maße Gerechtigkeit üben.37 Eine Konfiguration mit Mt 23 konkretisiert diesen besonderen Sachverhalt: Die Schriftgelehrten und Pharisäer lehren nach Mt 23,3a Gerechtigkeit als eine auf den Mitmenschen ausgerichtete Halacha, allerdings ist ihr eigenes Tun nicht vollends kongruent mit ihrer Lehre,38 weshalb sie in der Rede Jesu Mt 23 durchgehend – parallel zu Mt 6,1.5.16 – als Heuchler betitelt werden. In dieser fehlenden Übereinstimmung ist ihre überfließende Gerechtigkeit letztlich doch determiniert.39
2.3
Zusammenfassung
Die Bergpredigt in Mt 5–7 kann als ein in sich geschlossenes System von anthropologischen Grundannahmen und konkreten Forderungen für die alltägliche Frömmigkeitspraxis gelten. Im Kern handelt sie vom unbedingten Tun der Tora für den Mitmenschen als Ausdruck einer Gerechtigkeit, die vor JHWH Bestand hat. Gedacht ist dieser zentrale Text für die über Mt 28,18–20 ins Evangelium eingeschriebene Migration der matthäischen Christen, um alle Völker in Umkehrung der Zionswallfahrt die Weisung JHWHs zu lehren. Über
37 38
39
Vgl. zur Betonung der Gerechtigkeit der Pharisäer auch Fiedler, Matthäusevangelium, 127f. sowie Wengst, Regierungsprogramm, 75f. Vgl. auch Vahrenhorst, Matthäus, 306–311, der auf einen rabbinischen Diskussionsprozess zur Gewichtung von Lehre und Tat hinweist, der möglicherweise auch hinter den Worten von Mt 23,2f steht. Über diese Deutung lässt sich ein Überlegenheitsanspruch, wie ihn Fiedler, Matthäusevangelium, 128 erwähnt, dennoch nicht ganz aus der Welt schaffen. Die Kritik Jesu an den Pharisäern und Schriftgelehrten in Mt 15,1–9 – in Vers 7 werden sie ebenfalls als Heuchler bezeichnet – lässt sich ebenfalls vor diesem Hintergrund deuten: In diesem Textabschnitt wird unterschieden zwischen der Tora als Weisung Gottes (am Beispiel von Ex 20,12 und Ex 21,17) und der pharisäisch-schriftgelehrten Halacha, die Gottes Gebot (in seiner Fokussierung auf den Mitmenschen) aushebelt; vgl. dazu auch Frankemölle, Wurzeln, 265. Frankemölle deutet diese Unterscheidung allerdings als „Widerspruch“ und nimmt sie zum Anlass, Mt 23,2f. dahingehend zu interpretieren, dass pharisäisch-schriftgelehrte Halacha nur vor dem Hintergrund einer Verkündigung der „in der Schrift vorgegebene[n] Tora“ (Frankemölle, Wurzeln, 273) befolgt werden muss. Unter Bezugnahme auf das Zitat aus Jes 29,13 LXX in Mt 15,8f. kann hier allerdings in umgekehrter Leserichtung ähnlich wie in Mt 23 eine feine Unterscheidung zwischen grundsätzlich richtiger Lehre und unzureichender Praxis wahrgenommen werden, die an einer falschen Schwerpunktsetzung des Verstandesorgans Herz – und konkret an einer fehlenden Ausrichtung auf die Eltern als wichtigen Mitmenschen – erkennbar wird. Auf diese Weise wird der Zusammenhang von pharisäisch-schriftgelehrter Halacha und Torabezogenheit nicht infrage gestellt. Ähnlich resümiert Konradt, Evangelium, 243, der Mt 15,3–9 als Kritik an einer „falschen Gewichtung unter den Torageboten“ versteht und die Pharisäer (historisch) von dem Vorwurf einer „Aushöhlung des fünften Gebots“ freispricht. Auf diese Weise wird die Gültigkeit von Mt 23,3a nicht angerührt; vgl. auch Fiedler, Matthäusevangelium, 279.
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die halachischen Forderungen der Bergpredigt können alle Völker Schüler der einzigen Gottheit JHWH werden. Diese Betonung jüdischer Lehre wird nun durch die unmissverständliche Aufforderung aus Mt 23,2–3a unterstrichen, auf pharisäisch-schriftgelehrte Halacha zu hören, wo immer sie gelehrt wird. Auf diese Weise ergibt sich ein Konzept, das zwei verschiedene, aber eng auf einander bezogene Lehrräume konstruiert: Während die Bergpredigt als eine Art Halacha ‚to go‘ für die notwendige Migration der Schüler Jesu gelten kann, fordert Mt 23,2–3a eine stete Ankopplung an jüdische Auslegung vor Ort.40
3.
Warum die Kirche41 die Halacha interessierten sollte – Implikationen für die Gegenwart
In Deutschland lassen sich gegenwärtig vielerorts jüdische Gemeinden finden; hier besteht die Möglichkeit einer Teilhabe an halachischer Weisung statt einer reinen Konzentration auf die Bergpredigt. An dieser Stelle wird der eingangs erwähnte Anspruch Marquardts, als Christ Interesse für den Talmud zu entwickeln, virulent. Als Folge der Aufforderung in Mt 23,3a skizziert Marquardt drei Bereiche, in denen Christen davon profitieren, „in den Talmud […] hineinzuhören“42: Er spricht von einer anderen Erkenntnis Jesu und des Lesers selbst sowie von einer anderen Gotteserkenntnis. Ohne an dieser Stelle auf die Plausibilität der inhaltlichen Konkretion einzugehen, missachtet Marquardt in seinem Anliegen die in Mt 23,3a angelegte Beziehung des Lernens und Lehrens. So nah Matthäus die Schüler Jesu an die jüdische Lehre bindet, so wenig allerdings bedeutet die Bezogenheit auf Tora und Halacha eine selbstständige Aneignung jüdischer Auslegungstradition. Ein Befolgen der Forderung aus Mt 23,3a kann allein im Versuch, in der persönlichen Begegnung von jüdischen Auslegungsautoritäten zu lernen, eingelöst werden, nicht aber im Selbststudium. Nur auf diese Weise ist die Abhängigkeit, in die Matthäus die Schüler Jesu zu den Schriftgelehrten und Pharisäern stellt, als ein zentraler Ausdruck der Umkehrung der Zionswallfahrt 40
41
42
Der enge Bezug ergibt sich auch über die matthäische Aufnahme der Zionswallfahrt, in der, wie auch in Mt 5,17–19 erkennbar wird, die gesamte Tora im Blick ist. So gilt die Bergpredigt zwar als das wichtigste Reisegepäck für die Migration (der Lehre JHWHs), aber zum Leben braucht man mehr. Eine Unterscheidung zwischen einer (sich über die Jahrhunderte vom Judentum entfernenden) Kirche und dem Judentum als zwei eigenständigen Größen ist neben einer sachlichen Verkürzung auch kein adäquater Blick auf das Matthäusevangelium, das die Schüler Jesu in einer engen Abhängigkeit zu jüdischer Lehre und jüdischem Leben sieht; vgl. dazu auch Fiedler, Israel, 73. Dennoch muss jeder Versuch, das matthäische Lehrkonzept für gegenwärtige Prozesse fruchtbar zu machen, an dieser Stelle ansetzen. Marquardt, Talmud, 218.
Halacha für alle Völker
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in Matthäus eingelöst: Sie stehen – wie Jesus selbst – in der Sukzession der Lehrer der Weisung JHWHs. Inhaltlich verbindlich wird an dieser Stelle der Katalog der noachidischen Gebote, der nach dem Talmudtraktat Sanh 56a/b als fester Ausdruck der jüdischen Anforderung an nichtjüdische Menschen gelten kann. Diese Gebote stehen klar im nach Mt 22,40 skizzierten Referenzrahmen von Gottes- und Nächstenliebe. Interessanterweise decken sich diese halachischen Festlegungen, nach Müller benannt mit den Begriffen Rechtspflege, Götzendienst, Gotteslästerung, Unzucht, Blutvergießen, Raub und Ein Glied vom Lebenden,43 in ihrer Bezogenheit auf den Mitmenschen und auf Gott stellenweise mit den Themenbereichen der Bergpredigt. Damit ist Mt 23,2–3a noch nicht vollends umgesetzt: Über diesen Anspruch hinaus nun fordert Matthäus die Schüler Jesu immer wieder neu auf und heraus, einen Platz vor dem Stuhl des Mose einzunehmen.44 Hier kann die Kirche eine verpasste Gelegenheit wieder wettmachen!45
Literatur BEUKEN, Willem A. M., Jesaja 1–12 (HThKAT), Freiburg u. a. 2003. CRÜSEMANN, Frank, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011. EBACH, Jürgen, Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Genesis 37–50 und Matthäus 1–2 (BWANT 187), Stuttgart 2009. 43 44
45
Vgl. dazu Müller, Tora, 87–136. Alle gegenwärtigen systematisch-theologischen Konzeptionen zur Möglichkeit der nichtjüdischen Teilhabe an jüdischen Verheißungen haben ihren Nukleus im Matthäusevangelium, auch wenn es oft nicht sichtbar wird: Müller, Tora, 248–253 resümiert unter Rückgriff auf Marquardt, interessanterweise aber ohne Bezugnahme auf die kanonisch verbindliche Aufforderung in Mt 23,2–3a, dass „sich christliche Weg-Weisung nicht mehr anders gewinnen lassen [wird] als im Wahrnehmen und Befragen der jüdischen Vorstellung universaler mitsvot“. Marquardt, Eschatologie I, 330 verbindet seine von den noachidischen Geboten ausgehenden Überlegungen dezidiert mit der Zionswallfahrt aus Jes 2,2–4, die als strukturbildend für das Matthäusevangelium gelten kann. Über Mt 23,2–3a nun kann das Matthäusevangelium eine radikal neue Rolle in der Auslegungsgeschichte einnehmen: Statt wie in der Vergangenheit als Steinbruch für antijudaistische Polemik der Kirche und auch als ein Wegbereiter der Shoah (vgl. dazu Fiedler, Israel, 73) zu fungieren, wird nun der Blick auf das besondere Lehrkonzept gerichtet. Vgl. Crüsemann, Wahrheitsraum, 101 zu Mt 23,2: „Das geht weit über die Schrift selbst hinaus und tief in die jüdische, pharisäische, die sich anbahnende rabbinische Auslegung, Aktualisierung und Weiterschreibung der Tora hinein, kurz, in die mündliche Tora. Man sieht, was doch die Hauptlinie der Kirchengeschichte für eine ungeheure verpasste Gelegenheit war!“
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FIEDLER, Peter, Das Matthäusevangelium (THKNT 1), Stuttgart 2006. FIEDLER, Peter, Israel bleibt Israel. Überlegungen zum Kirchenverständnis des Matthäus, in: Kampling, Rainer (Hg.), „Dies ist das Buch…“. Das Matthäusevangelium. Interpretationen – Rezeption – Rezeptionsgeschichte. FS Hubert Frankemölle, Paderborn u. a. 2004, 49–73. FRANKEMÖLLE, Hubert, Jüdische Wurzeln christlicher Theologie. Studien zum biblischen Kontext neutestamentlicher Texte (BBB 116), Bodenheim 1998. FRANKEMÖLLE, Hubert, Matthäus. Kommentar 2, Düsseldorf 1997. KONRADT, Matthias, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015. KOSCH, Daniel, Das Gesetz der Freiheit. Zum Toraverständnis von Jesus und Matthäus, in: PZB 6 (1997), 47–71. LEIBOLD, Steffen, Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in Mk 3,1–6parr., in: Söding, Thomas / Wick, Peter (Hg.), Würde und Last der Arbeit. Beiträge zur neutestamentlichen Sozialethik (BWANT 209), Stuttgart 2016, 137–151. LEIBOLD, Steffen, Raum für Konvivenz. Die Genesis als nachexilische Erinnerungsfigur (HBS 77), Freiburg u. a. 2014. MAIER, Michael P., Völkerwallfahrt im Jesajabuch (BZAW 474), Berlin/Boston 2016. MÜLLER, Klaus, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze ihrer Rezeption im Christentum (SKI 15), Berlin 1994. MARQUARDT, Friedrich Wilhelm, Warum mich als Christen der Talmud interessiert, in: Stöhr, Martin (Hg.), Auf einem Weg ins Lehrhaus. Leben und Denken mit Israel, Frankfurt am Main 2009, 212–226. MARQUARDT, Friedrich Wilhelm, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie. Band 1, Gütersloh 1993. SCHMIDT, Karl Matthias, Abkehr von der Rückkehr: Aufbau und Theologie der Apostelgeschichte im Kontext des lukanischen Diasporaverständnisses, in: NTS 53 (2007), 406– 424. VAHRENHORST, Martin, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs (WMANT 95), Neukirchen-Vluyn 2002. WENGST, Klaus, Das Regierungsprogramm des Himmelreiches. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010. WICK, Peter, Bibelkunde des Neuen Testaments, Stuttgart 2004.
Missionierende Migranten? Migrierende Missionare? – Ein perspektivischer Blick auf die Apostelgeschichte und ihre Figuren (Priszilla und Aquila) Rita Müller-Fieberg
„Haben Sie schon einmal einen Menschen mit Wurzeln gesehen? Die Menschen, die ich kenne, haben Beine.“1 In dieser Aussage des Philosophen Hans Saner – einer Antwort auf die Frage nach der Verwurzelung des Menschen in seiner Herkunftskultur – klingt die archetypische Dimension dessen an, was wir ‚Migration‘ nennen: Von allen Anfängen an, sowohl menschheits- als auch individualgeschichtlich, ist der Mensch ein homo migrans2. Auch in die jüdisch-christliche Identität haben sich Bilder aus dem Bereich der Migration fest eingeschrieben. Die Bibel setzt die Geschichte der Menschheit in den großen kanonischen Bogen von Schöpfung, Vertreibung und Ankommen in einer endgültigen Heimat. Die Entstehung des Volkes Israel wie auch seine Gottesbegegnungen und -reflexionen sind von den Erzelternerzählungen an bis hin zum Exodus und darüber hinaus gebunden an verschiedenste Migrationserfahrungen.3 Lässt sich Vergleichbares auch von der Entstehung der christlichen Ekklesia sagen? Und wie verbindet sich das vielgestaltige Phänomen von Migration(en) mit dem neuen Impetus der Mission? Inwieweit werden Migrationsvorgänge eingebunden in theologische Konzeptualisierungen, inwieweit wird Migration selbst zu einem locus theologicus4 mit innovativem Potenzial und zum integralen Bestandteil religiöser Identität auch unter den Christusgläubigen? 1 2
3 4
Zitiert nach: Vogel, Migration, 206. Vgl. Rivinius, Migration, 15: „Migration war stets ein primäres Element der Anpassung des Menschen an Umweltbedingungen und gesellschaftliche Herausforderungen.“ Zur Multiperspektivität des alttestamentlichen Migrationsdiskurses vgl. Gärtner, Fremde. Polak, Migration, 106. Dort wird auch die Entstehung der Bibel in einen Migrationskontext gesetzt: „Die Heilige Schrift und die Vielfalt ihrer Theologien verdanken sich nahezu umfassend Migrationsphänomenen. Die Mehrheit der Texte entsteht in einem Kontext von Exil, Flucht, Vertreibung, Wanderschaft und Diasporasituationen. Judentum und Christentum entstehen in einem spannungsvollen Zusammenspiel von Erfahrungen der Sesshaftigkeit wie der Migration, die Anlass zur Entstehung von Theologie(n) wurde.“
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Solche sehr grundsätzlichen Fragen werden verstärkt aufgeworfen angesichts der gegenwärtigen Wahrnehmung globaler Migration, welche wiederum oft im Sinne von Gaudium et Spes 4 als eines „der großen Zeichen der Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts“5 gedeutet wird. Sie zu beantworten übersteigt die Möglichkeiten dieses Artikels. Sie stellen aber den größeren Rahmen dar für die nachstehenden Überlegungen zur Apostelgeschichte im Allgemeinen und Priszilla und Aquila im Besonderen, jenem prominenten missionierenden Ehepaar, das die Apostelgeschichte in Kap. 18 als Figuren mit ‚Migrationshintergrund‘ präsentiert. Im Anschluss an eine kurze Thematisierung der Begriffe ‚Migration‘ und ‚Mission‘ erfolgen zunächst einige auf die gesamte Apostelgeschichte bezogene Beobachtungen, die in den Ausführungen zu Priszilla und Aquila (Apg 18,1–3; 18f; 24–28) konkretisiert und vertieft werden.
1.
Migration – Mission: Eine Vorbemerkung
Die Begriffe ‚Migration‘ und ‚Mission‘ – als die beiden Termini, die hier zueinander in Relation gesetzt werden – sind gleichermaßen schillernd und vielschichtig. Die Definition von ‚Migration‘ erfolgt gemeinhin aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, so z. B. als eine „dauerhafte Ortsveränderung […], die mit einer Grenzüberschreitung verbunden sein kann und mit einem Wechsel des sozialen und kulturellen Bezugssystems einhergeht“6. Verschiedene Dimensionen werden in dieser Definition miteinander verschränkt: Raum und Zeit, Grenzen sowie Faktoren der Sozialstruktur. Je nach Blickwinkel ergeben sich zur Strukturierung und Klassifizierung der vieldimensionalen Migrationsphänomene diverse, oft in Dyaden gefasste Grundelemente:7 Die Unterscheidung zwischen Binnenmigration und internationaler bzw. interkontinentaler Migration erfolgt nach räumlichen wie auch politischen Kategorien. Bezüglich des Zeitfaktors lassen sich zeitlich beschränkte und dauerhaft erfolgende Migration unterscheiden. Ging die klassische Migrationsforschung eher von einer einmaligen, uni- oder (im Falle der Rückkehr) bidirektionalen Wanderbewegung aus, nehmen neuere Ansätze auch z. B. stärker die sogenannten ‚Transmigranten‘ als Wanderer zwischen mehreren Orten in den Blick, für die Migration keine Übergangsphase, sondern eine dauerhafte Lebensform darstellt.8 5
6 7 8
Eckholt, Reise, 190. Zu den Grenzen und Stolpersteinen eines Verständnisses von Migration als „Zeichen der Zeit“ und „locus theologicus“ aus methodologischer Perspektive vgl. Nagy, Methodology, 40f. Reinprecht, Migration, 15. Vgl. zum Folgenden: Vogel, Migration, 206. Vergleichbare Klassifizierungen finden sich auch bei Phan, Migration, 16. Vgl. Reuter, Migration, 1216.
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Was die Beweggründe angeht, so kann man (mit Grauzonen und Übergängen) unterscheiden zwischen erzwungener oder aus freien Stücken erfolgter Migration, zwischen intentional angelegter Migration und Flucht sowie zwischen illegalen und legalen Formen. Solche modernen sozialwissenschaftlich geprägten Kategorien mögen ein Orientierungsraster bieten für die folgenden Ausführungen, wenn auch in dem Wissen um die Schwierigkeit jeglicher generalisierender Beschreibung angesichts je partikularer Erfahrungen9 und in dem Bewusstsein, dass man beim Versuch einer Übertragung auf spätantike Gegebenheiten immer wieder an Grenzen stößt.10 Auch der Terminus ‚Mission‘ (‚Sendung‘) ist kein biblischer, sondern vielmehr begrifflich mit seiner Entstehung im Zuge der Jesuitenmission des 16. Jahrhunderts noch eine recht neue Erscheinung. Der Sache nach ist er dem Neuen Testament zutiefst inhärent und in Wortfeldern wie ‚verkündigen‘ oder ‚senden‘ präsent.11 Entgegen der diskreditierenden Verengungen und Verzerrungen, die das Missionsverständnis im Laufe der Geschichte erfahren hat,12 steht heute wieder die missionarische Grunddisposition als Wesenszug der gesamten Kirche im Vordergrund (vgl. AG 2).13
2.
‚Migration des Wortes‘: Beobachtungen zur Apostelgeschichte
Schon des Öfteren als „universale Missionsgeschichte“14 bezeichnet, weist gerade die Apostelgeschichte zum Thema ‚Mission‘ eine besondere Affinität
9
10
11 12
13 14
H.-J. Heimbrock schreibt zutreffend auch mit Blick auf die heutige Situation: „Trotz globaler Horizonte lässt sich das Phänomen gleichwohl in verallgemeinernder Weise kaum sinnvoll beschreiben. Denn dabei sind stets die je partikularen Erfahrungen und Standorte der Betroffenen wie der Beschreibenden mit zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere auch für eine Darstellung aus der Position eines Mitteleuropäers in gesicherten Verhältnissen.“ Heimbrock, „Migration“. M. Frederiks verweist zudem darauf, dass bei einer unreflektiert erfolgenden Übernahme sozialwissenschaftlicher Kategorien oft gerade die für eine theologische Deutung bedeutsame Dimension des persönlichen Erfahrungsbezugs ausgeklammert bleibt. Vgl. Frederiks, Religion, 12. Vgl. Frankemölle, Mission, 1273f. „Das klassische Verständnis von Mission ist geprägt durch eine antiökumenische Spitze, die Verbindung von Religion und Gewalt, die Deklaration von geografischen Territorien zu ‚Missionen‘ und eine Engführung auf ein Konzept einer territorial definierten ‚Erstverkündigung‘ als Auftrag der Kirche.“ Bünker, Mission(en), 37. Vgl. Bünker, Mission(en), 34. Vgl. Schnelle, Theologie, 439.
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auf.15 Auch wenn man sicher nicht gleichermaßen ungebrochen in Übernahme moderner Terminologie von der Apostelgeschichte als einer ‚Migrationsgeschichte‘ sprechen kann, sticht die Zentralität des Motivs der Reise ins Auge und wirft die Frage auf, inwieweit paradigmatische Erfahrungen des Unterwegsseins sich strukturell-strategisch eingebunden finden in die narrative Theologie dieses zweiten Teils des lukanischen Doppelwerkes16 und ggf. auch in den Augen des Autors zum essentiellen Bestandteil des Selbstbildes christlicher Gemeinde werden. Vier Beobachtungsversuche seien diesbezüglich unternommen, gerichtet auf die Makrostruktur der Apostelgeschichte, auf terminologische Verknüpfungen von Unterwegssein und Mission, auf die geschilderten Anstöße und Beweggründe von Aufbrüchen sowie schließlich auf die theologische Dimension des missionierenden Unterwegsseins.
2.1
„[…] bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8): Notizen zur Makrostruktur
„Welcome to the journey!“17 Mit diesen Worten leitet Loveday Alexander ihren für Andacht und Predigt gedachten Kommentar von 2006 zur Apostelgeschichte ein. Wie ein „road movie“ mute dieses so kosmopolitische Buch an, das mit Leichtigkeit von den engen Gassen Jerusalems über die Agora von Athen bis hin zu den Straßen der Hauptstadt des Imperium Romanum schreite.18 Der programmatische Vers Apg 1,8 bringt die geo-theologische Leitidee einer universalen geistgewirkten Ausbreitung des christlichen Zeugnisses auf den Punkt: Was in Jerusalem beginnt (Apg 1,4–8,3), findet mit der gewaltsamen Zerstreuung der Christusgläubigen in die Gegenden von Judäa und Samarien und der daraufhin einsetzenden dortigen Missionierung eine erste Horizonterweiterung (Apg 8,4–11,18). Sich anschließende Ausweitungen erfolgen im Kontext der antiochenischen Gemeinde und Mission (Apg 11,19– 15,35), mit den Missionsreisen nach Kleinasien und Griechenland (Apg 15,36–21,17) und schließlich mit der Reise von Jerusalem nach Rom im Kontext von Verhaftung und Prozess des Paulus (Apg 21,18–28,31). So realisiert sich die Verheißung Jesu in Apg 1,8 (die ihre Bedeutung auch daraus gewinnt, 15
16 17
18
Sicher nicht zufällig wählt P. F. Penner bei seiner Verhältnisbestimmung von biblischem Text und biblischer Hermeneutik der Mission die Apostelgeschichte als „Testtext“. Vgl. Penner, Hermeneutik, 307. Zur Diskussion um das Genre der Apostelgeschichte vgl. z. B. Bale, Genre. Alexander, Acts, 11: „Acts is the story of a journey. It tells the story of the birth of the Church, and its journey outwards and across the world from where it all began, in an upstairs room in Jerusalem. Woven into this story are the journeys of a whole host of individual travellers, apostles and others, moving back and forth across that Mediterranean world and spreading the word wherever they go.“ Vgl. Alexander, Acts, 12.
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dass sie die letzten Worte Jesu innerhalb des lukanischen Doppelwerkes enthält) zumindest anfanghaft in der narrativen Struktur der Apostelgeschichte. Sie weist zugleich weit über das Werk hinaus. Der Prozess einer Verkündigung „bis an die Grenzen der Erde“ überschreitet die letzten Zeilen des offen endenden Buches bis hinein in die Gegenwart der Rezipienten.19 In die Erzählung eingebettet finden sich, beginnend bereits mit der Aufzählung der Herkunftsregionen der Diasporajuden zu Pfingsten (Apg 2,5.8– 11), zahlreiche Namen von Städten, Orten, Landschaften, Provinzen. Von Jerusalemer Zeiten an zeichnet sich christliche Gemeinde durch Multikulturalität und (durchaus auch konfliktträchtige)20 Diversität aus.21 Auch wenn man in Bezug auf das Imperium Romanum als einem relativ einheitlichen Kultur- und Politikraum nicht von nationalen Grenzen im heutigen Sinn sprechen kann und gerade in dieser Einheitlichkeit „eine entscheidende Voraussetzung für die Erfolge des frühen Christentums“22 liegt, so handelt es sich bei den in der Apostelgeschichte erzählten Vorgängen dennoch um die Überschreitung von geographischen und ethnischen, damit auch religiösen Grenzen.23 Sozialwissenschaftliche Definitionsmerkmale von ‚Migration‘ wie Ortsveränderung, Grenzüberschreitung und Wechsel des sozialen und kulturellen Bezugssystems können hier in einem weiteren Sinne also durchaus Anwendung finden. Das räumlich-geographisch orientierte, narratologische Konzept der Apostelgeschichte, das neben der horizontalen Dimension mit der Erhöhung des Auferstandenen (Apg 1,9) auch eine vertikale Dimension besitzt,24 schildert dabei aber keinesfalls eine nur zentrifugale Bewegung. Die Ausbreitung der neuen Botschaft geschieht auch ab Apg 8,4 in stetiger Rückbindung an die Stadt Jerusalem, die weiterhin Aufenthaltsort der Apostel und Ort grundlegender Richtungsentscheidungen bleibt (vgl. z. B. Apg 11,1–8; 15,1–29). Nicht nur Petrus und Johannes (Apg 8,14) oder Barnabas (Apg 11,22), Judas und Silas (Apg 15,22.32f.) kehren nach Missionierungen hierher zurück. Diese Jerusalemzentrierung durchzieht selbst die Reisetätigkeit des Paulus, von dem insgesamt fünf Jerusalemaufenthalte nach seiner Berufung berichtet werden (Apg 9,26–30; 11,30–12,25; 15,4–29; 18,22;25 21,15–23,30).26 Die Stadt ist so nicht nur Ausgangspunkt der völkerübergreifenden Mission, sondern stellt geographisch wie theologisch für das gesamte lukanische Doppelwerk eine „räumliche Klammer“27 dar. Neben der in der Makrostruktur 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Wolter, Doppelwerk, 268f. Vgl. z. B. den Konflikt zwischen Hebräern und Hellenisten in Apg 6,1–7. Vgl. Fumagalli, Interpretation, 81f. Schnelle, Jahre, 560. Vgl. Eisen, Poetik, 165. Vgl. Eisen, Poetik, 161. Hier bleibt die Stadt selbst unbenannt, lässt sich aber aus ἀναβάς erschließen. Vgl. das Schaubild bei: Alexander, Journeyings, 89. Dormeyer, Apostelgeschichte, 18.
192
Rita Müller-Fieberg
der Erzählung angelegten Tendenz vielfältiger ‚Migrationsbewegungen‘ gibt es demnach gleichzeitig die gegenläufige Tendenz eines bleibenden Bezugspunktes, der die Kontinuität zu den Ursprüngen gewährleistet.28
2.2
Unterwegs sein – verkündigen: Begriffskombinationen im Horizont von ‚Migration‘ und ‚Mission‘
Auch innerhalb der einzelnen Episoden der Apostelgeschichte verbinden sich – angesichts der großen Anzahl ortsbeständiger Christusanhänger auch nicht verwunderlich – Momente der Sesshaftigkeit und des Bleibens mit solchen des Unterwegsseins. Verkündigung und Mission geschieht hier wie dort. Und dennoch ist die mehrfache dichte Verwebung von Termini der ‚Migration‘ und ‚Mission‘ einer Betrachtung wert. In den ersten Kapiteln überwiegt die Perspektive des Bleibens und Ausharrens in Jerusalem. Ausdrücklich fordert vor Pfingsten der Auferstandene dazu auf (Apg 1,4), und auch weitere Passagen (Apg 1,14; 2,46) zeugen von der Jerusalem- und Tempelzentriertheit der von Lukas gezeichneten Ursprungszeit. ‚Wanderbewegungen‘ sind eher in Richtung Jerusalem selbst zu konstatieren, wenn beispielsweise Kranke aus den Nachbarstädten in der Hoffnung auf Heilung herbeigebracht werden (Apg 5,16). Verben der Bewegung finden wir in gehäufter Form ab Kap. 8 und in besonderer Dichte dann ab Kap. 13 mit dem Beginn der Reisen des Paulus, der dadurch „den Weg für eine kulturell pluralistische Christenheit“29 in besonderer Weise ebnete. Oft in knappe Aussagen über Aufbruch und Ankunft eingebunden, die als Einleitungsmotive Erzählepisoden verknüpfen,30 stehen sie mehrfach in unmittelbarer Verbindung mit Ausdrücken der Verkündigung. Einige Beispiele seien angeführt: Die im Kontext der Steinigung des Stephanus stehende Verfolgung und Zerstreuung führt in Apg 8,4f. unmittelbar zu einem Sich-in-BewegungSetzen und damit verbundener Verkündigung (Οἱ μὲν οὖν διασπαρέντες διῆλθον εὐαγγελιζόμενοι τὸν λόγον. Φίλιππος δὲ κατελθὼν εἰς [τὴν] πόλιν τῆς Σαμαρείας ἐκήρυσσεν αὐτοῖς τὸν Χριστόν).31 Die Erzählung von der Belehrung und Taufe des Äthiopiers ist gerahmt von der Aufforderung des Engels aufzustehen und loszugehen (Apg 8,26: ἀνάστηθι καὶ πορεύου) zur Verkündigung des Evangeliums (Apg 8,35) und von einer Verbindung von Fortbewegung und ‚Evangelisierung‘ in Apg 8,40 28
29 30 31
Vgl. Strecker, Logistik, 268. Strecker bezeichnet auch das Konzept dreier großer Missionsreisen als letztlich literarisch-theologisches Konstrukt mit dem Ziel, „vorliegende Einzeltraditionen erzählerisch zu verschmelzen und die Ausbreitung der Christusbotschaft als systematisch fortlaufenden heilsgeschichtlichen Prozess auszuweisen“. Küster, Einführung, 32. Vgl. Tischler, Diener, 10. Vgl. auch den diesbezüglichen Rückverweis in Apg 11,19f.
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([…] καὶ διερχόμενος εὐηγγελίζετο τὰς πόλεις πάσας ἕως τοῦ ἐλθεῖν αὐτὸν εἰς Καισάρειαν). In besonderer Intensität, unter Anführung verschiedenster Fortbewegungsformen (Wandern, Fahren, Segeln, […]) und auch unter Schilderung der Risiken des Reisens32 verknüpft der Verfasser Termini des Unterwegsseins und Missionierens bei den Schilderungen der paulinischen Reisen. Mit einer diesbezüglichen Notiz wird z. B. die erste Missionsreise eingeleitet (Apg 13,4f: Αὐτοὶ μὲν οὖν ἐκπεμφθέντες ὑπὸ τοῦ ἁγίου πνεύματος κατῆλθον εἰς Σελεύκειαν, ἐκεῖθέν τε ἀπέπλευσαν εἰς Κύπρον καὶ γενόμενοι ἐν Σαλαμῖνι κατήγγελλον τὸν λόγον τοῦ θεοῦ ἐν ταῖς συναγωγαῖς τῶν Ἰουδαίων). Vergleichbares ist u. a. auch in Apg 14,20f. zu beobachten. Die ebenfalls an Verben der Bewegung und der Verkündigung reiche Passage Apg 14,24–28 verweist in V. 28 (διέτριβον δὲ χρόνον οὐκ ὀλίγον σὺν τοῖς μαθηταῖς) gleichzeitig auf den Gegenpol des Verweilens und Bleibens.33 Ohnehin kennt die Apostelgeschichte bekanntlich mehrere solcher kürzeren oder längeren Verweilzeiten v. a. in ihrer Paulusbiographie – mit teils sogar mehrjährigen Aufenthalten namentlich in Korinth (Apg 18,11), Ephesus (Apg 19,10; 20,31), in der Haft von Cäsarea (Apg 24,27) und in Rom (Apg 28,30). Unterwegssein bedeutet für den ‚transmigrantisch‘ lebenden Paulus und für seine Mitarbeiter somit nicht generell, dass sie bloß auf ‚Durchreise‘ sind; auch mehr oder weniger zeitlich beschränkte ‚Bleibestationen‘ gehören zu ihrer Lebensform.
2.3
„Das Wort des Herrn aber wuchs und breitete sich aus.“ (Apg 12,24) – Ursachen einer ‚Migration des Wortes‘
Liest man die Apostelgeschichte mit R. Maddox als „a story of purposeful movement“34, so stellt sich die Frage nach den geschilderten Anstößen und Beweggründen: Was treibt Menschen fort von ihrem Ausgangsort und was zieht sie hin an einen neuen Ort? In ökonomisch motivierten Migrationstheorien wird diesbezüglich oft von ‚Push- und Pullfaktoren‘ gesprochen, die eingangs erwähnten sozialwissenschaftliche Definition unterscheidet zwischen erzwungener, ungeplanter Migraton (einschließlich Flucht) und einer Migra-
32 33
34
Man denke nur an die lebensgefährliche Überfahrt nach Italien mit Seesturm und Schiffbruch vor Malta (Apg 27,1–44). Vgl. diesbezüglich auch den dreimonatigen Griechenland-Aufenthalt (Apg 20,3) im Kontext von Apg 20,1–7 oder den Kurzaufenthalt in Tyrus (Apg 21,4) und das Verweilen im Haus des Philippus (Apg 21,8) im Kontext von Apg 21,1–8. Maddox, Purpose, 11.
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tion aus freien Stücken, die gegebenenfalls geplant erfolgt. In vielen individuellen Spielarten lassen die Einzelerzählungen der Apostelgeschichte diesbezüglich immer wieder das Zusammenspiel zweier großer Tendenzen erkennen: Zum einen zieht sich der rote Faden der Bedrängnis und Verfolgung durch alle drei Teile des Buches. Schon zu Jerusalemer Zeiten lesen wir von Festnahmen und Haft der Apostel (Apg 4,3; 5,18), von Verhören (Apg 5,27), von Strafen und Predigtverbot (Apg 5,40). Die Konsequenz eines Fortgehens wird daraus freilich nicht gezogen; zumindest die Apostel bleiben in Jerusalem (selbst noch in Apg 8,1). Das Martyrium des Stephanus und die damit zeitlich synchronisierte „schwere Verfolgung“35 (Apg 8,1: διωγμὸς μέγας) bilden einen deutlichen Einschnitt. Hervorgehoben wird die auf „alle“ ausgedehnte „Zerstreuung“ nach Judäa und Samarien (Apg 8,1: πάντες δὲ διεσπάρησαν […]). Auch wenn hier realistisch an den Kreis der Hellenisten zu denken ist, die als aus der Diaspora Zurückgekehrte ja selbst „Immigranten“ in Jerusalem sind36 – motivisch scheinen vielleicht auch hier die traumatischen Exilierungen in der Geschichte Israels durch. Dieser gänzlich unfreiwillige Ortswechsel jedoch wird zum Anlass für die Mission außerhalb Jerusalems (Apg 8,4) und schließlich auch zu einer vorbereitenden Schneise der Völkermission (Apg 11,19f). Auch die (lukanische) Biographie des Paulus, der im gleichen Kontext sehr anschaulich als Verfolger der jungen Gemeinde eingeführt wird (Apg 8,1.3), ist geprägt von Bedrohung und Flucht. Sehr bald nach seiner Berufung wird aus dem Verfolger selbst ein Verfolgter, der vor den Tötungsabsichten zunächst auf abenteuerliche Weise aus Damaskus (Apg 9,23–25) und wenig später aus Jerusalem (Apg 9,29f.) fliehen muss. Wie seine christusgläubigen Brüder und Schwestern (z. B. Apg 23,2) stößt auch Paulus immer wieder auf Ablehnung und Bedrängnis. Seine Gefährten und er werden ausgewiesen (Apg 13,50f.), vor Behörden geführt, geschlagen, ins Gefängnis geworfen und gebeten, die Stadt zu verlassen (Apg 16,19–39). Aus Sorge vor Anschlägen muss er Routen ändern (Apg 20,3) und ist auch nach Komplott und Verhaftung in Jerusalem mehrfach in Gefahr (u. a. Apg 21,32; 22,22–29). Selbst den Weg nach Rom, den er ja durchaus intendierte (Apg 19,21), tritt Paulus schließlich nicht aus freien Stücken, sondern als Gefangener an. Im Horizont klassischer moderner ‚Push-Faktoren‘ ließe sich in diesem Zusammenhang (höchstens) der politische Faktor der Diskriminierung und Verfolgung anführen. Dieser freilich hat paradoxerweise für die Gegner zumindest unerwünschte Nebenwirkungen: „Die[se] Verfolgungen führen ironischerweise zur weiteren Ausbreitung der Botschaft. Nach diesem Erzählmuster dienen also auch die GegnerInnen der Botschaft letztlich ihrer weiteren Ausbreitung.“37 35 36 37
Zur Betrachtung des Martyriums des Stephanus aus der Perspektive von Flucht und Migration vgl. Vorholt, Flucht, 175–190. Vgl. Schnelle, Jahre, 143. Eisen, Poetik, 224.
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Zum anderen ist es der in Apg 1,8 vom Auferstandenen verheißene und zu Pfingsten empfangene Geist, der die Geschicke und Wege der Beteiligten lenkt. Besonders offensichtlich wird dies bei den paulinischen Missionsreisen: Paulus und Barnabas werden vom Heiligen Geist zu Beginn der ersten Reise erwählt (Apg 13,2) und ausgesendet (Apg 13,4). Reiseplanänderungen kommen vor, weil Wege vom Heiligen Geist verwehrt werden (doppelt in Apg 16,6f.). Ebenso aber können nächtliche Visionen Paulus an bestimmte Orte rufen (Apg 16,9; 23,11). Zwar kommt der Ruf zum Aufbruch auch schon einmal von Paulus selbst (so zu Beginn der zweiten Missionsreise in Apg 15,36) oder Gemeindemitglieder werden als sendende Akteure geschildert (Apg 17,10.14). In keinem Fall aber geht es um individuelle Autonomie, wie das die sozialwissenschaftlich genannten Faktoren nahelegen. Sowohl die Fremdbestimmtheit durch die Verfolgungserfahrungen als auch die Führung durch den Heiligen Geist kommen letztlich der Expansion des Glaubens, man ist fast versucht zu sagen: der ‚Migration des Wortes‘ zugute: Ὁ δὲ λόγος τοῦ θεοῦ ηὔξανεν καὶ ἐπληθύνετο (Apg 12,24).38
2.4
Christsein als Wegexistenz
Will man in Bezug auf die Narration der Apostelgeschichte also von ‚Migration‘ sprechen, so geht dies nicht ohne Berücksichtigung dieses pneumatologischen Fundaments: Die Motivation jeglichen Sich-auf-den-Weg-Machens liegt letztlich in der eschatologischen Geistausgießung begründet. Der Horizont der Völkermission eröffnet dabei von Anfang an einen Raum der Multikulturalität und Diversität, der angesichts der verschiedenen religiösen und soziokulturellen Ausgangslagen immer wieder auch Kompetenzen in interkulturellen Problemsituationen und Konflikten erfordert.39 Gleichzeitig stellt der Verfasser, wie er generell die Kontinuität zum Gottesvolk Israel betont,40 das Geschick der Christusanhänger in den Horizont der ‚Migrationsgeschichte‘ Israels. Schon die „Zerstreuung“ in Apg 8,1 lässt vielleicht eine Korrelation mit der Exilerfahrung Israels zu. Besonders deutlich wird diese Akzentuierung jedoch in den Israel-Anamnesen der das Geschehen 38
39 40
Den Vorrang dieser ekklesiologisch-kollektiven Dimension vor jeder Heraushebung einzelner Figuren betont auch Alexander, Journeyings, 73: „The hero of this relentless expansion is not any single individual, but ,the church‘ (8.1) or perhaps ,the Word‘.” Vgl. z. B. die Missverständnisse in Lystra (Apg 14,11–13) und auf Malta (Apg 28,6) oder auch den Aufruhr der Silberschmiede in Ephesus (Apg 19,23–40). Denn das lukanische Doppelwerk erzählt die Geschichte des jüdisch-christlichen Trennungsprozesses und verleiht den Christusanhängern durch die Verankerung in der Geschichte Israels heilsgeschichtliche Sicherheit und Identität. Vgl. Rusam, Apostelgeschichte, 246f. Vgl. auch Eisen, Poetik, 222: „Es wird die Geschichte des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs erzählt (Act 3,13), die erst eine Geschichte Gottes mit Israel ist und schließlich eine Geschichte Gottes mit Israel zusammen mit allen anderen Völkern wird.“
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ausdeutenden Reden. Neben der Evokation der Exoduserfahrung in der Rede des Paulus im pisidischen Antiochia (Apg 13,16–18) ist es v. a. die Rede des Stephanus, die mit wörtlichen Reminiszenzen die Migrationserfahrungen der Erzeltern (Apg 7,2–16)41 wie auch der Exodusgeneration (Apg 7,17–44) ausführlich aufgreift. Auch Christusnachfolge also ist Wegexistenz. Die Vieldeutigkeit der Weg-Metapher aufgreifend, bezeichnen sich die Christusgläubigen als Anhänger des neuen Weges (Apg 9,2; vgl. 19,9; 22,4; 24,14.22) – eine Selbstbezeichnung, die in der Apostelgeschichte erstmals im Kontext der Verfolgung erwähnt wird. Die Apostelgeschichte zeigt missionarische Gestalten, die unterwegs berufen werden (so Paulus auf dem Weg nach Damaskus in Apg 9,1– 9) und unterwegs verkündigen (so Philippus im Wagen des äthiopischen Kämmerers in Apg 8,26–40). Missionarische Tätigkeit bedeutet demnach wohl auch – angelehnt an die Frage des äthiopischen Kämmerers in Apg 8,31: πῶς γὰρ ἂν δυναίμην ἐὰν μή τις ὁδηγήσει με; – für andere zum Wegbegleiter und zum Wegführer zu werden.
3.
Priszilla und Aquila: ein Ehepaar und sein „mobiles Missionszentrum“42
„In der Apg geht es primär um die Ausbreitung der christlichen Botschaft und erst sekundär um das Schicksal einzelner Personen bzw. Missionare.“43 Diese Aussage trifft in ihrer Grundausrichtung sicherlich zu. Und doch ist es lohnend, auch jenseits der beiden großen Protagonisten Petrus und Paulus einen Blick auf die vielen Zeugen zu werfen, die manchmal auch nur scheinbar in der zweiten Reihe im Dienst der ‚Migration des Wortes‘ stehen. Das Migrantenpaar Priszilla und Aquila zählt zu diesen gewichtigen Zeugen – ein Ehepaar, das eigenständig vor, neben, mit und nach Paulus missionierte und dabei auch andere geographische Bahnen zieht als er. Priszilla und Aquila werden hier als Erzählfiguren im Rahmen der Apostelgeschichte betrachtet. Aufgrund dieser Schwerpunktsetzung wird der Diminutivform „Priszilla“ (Πρίσκιλλα) gegenüber dem in der Briefliteratur verwendeten Namen Πρίσκα (die „Ehrwürdige“) der Vorzug gegeben. Terminologisch und methodisch stehen im Hintergrund – zugeschnitten auf die Fragestellung des Beitrags – die narratologischen Analysekategorien, wie sie S. Finnern formuliert.44 Das episodische Auftreten des Ehepaares in Apg 18,1–3; 18f.; 24–28 wird also im Vordergrund stehen. Nichtsdestotrotz 41 42 43 44
Vgl. die Aufnahmen von Gen 12,1 in Apg 7,3. Klauck, Gemeinde, 28. Rusam, Apostelgeschichte, 230. Vgl. Finnern, Narratologie, 125–164. Vgl. ferner Finnern, Methoden, 195–210.
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sei zu Beginn mit einem Seitenblick in die (deutero-)paulinische Tradition an die Prominenz Priskas/Priszillas und Aquilas in weiteren frühchristlichen Überlieferungskreisen erinnert. So nennt Paulus selbst Priska und Aquila zweifach. In 1 Kor 16,19 grüßen sie die korinthischen Adressaten gemeinsam mit ihrer Hausgemeinde aus Ephesus. Ihre Nennung in der Grußliste des Römerbriefes (Röm 16,3–5) lässt vermuten, dass sie nach dem Tod des Kaisers Claudius im Oktober 54 n. Chr. nach Rom zurückgekehrt sind und auch dort wiederum einer Hausgemeinde vorstehen.45 Auffällig ist die große Hochachtung, mit der Paulus in Röm 16,3– 5 von den beiden spricht. Er bezeichnet sie als συνεργοί, die für ihn mit ihrem eigenen Leben einstehen und denen er, wie auch alle heidenchristlichen Gemeinden, zu tiefem Dank verpflichtet sind – eine Wertschätzung, die sich im Zeugnis der Tradition fortsetzt.46 Zeugnis dieser Wirkungsgeschichte ist ferner die Erwähnung in der Grußliste des deuteropaulinischen zweiten Timotheusbriefes (2 Tim 4,19), auch wenn der Rückschluss daraus auf eine erneute (sehr) späte Umsiedlung des Paares nach Ephesus verfehlt wäre.47 Die paulinischen und deuteropaulinischen Notizen zeigen deutlich, dass die Apostelgeschichte lediglich einen Ausschnitt aus der mobilen Missionstätigkeit des Ehepaares bietet.48
3.1
Neuanfänge wagen (müssen): Ortswechsel und ihre Beweggründe
Hinsichtlich des Figureninventars und der bedeutsamen Figurenkonstellationen in den relevanten Passagen aus Apg 18 zeigt sich, dass der Verfasser das Paar ganz in das paulinische Wirken einordnet. In einem Kapitel, dessen Einzelepisoden durch Reiseroute und Erlebnisse des Paulus zusammengehalten
45 46
47
48
So sollten sie vermutlich das Wirken des Paulus in Rom vorbereiten und eine Art Brückenkopf für die Spanienmission bilden. Vgl. Müller, Ehepaare, 31. Müller, Ehepaare, 36 verweist diesbezüglich auf die Homilie im Römerbriefkommentar des Johannes Chrysostomos (PG 60,664): „Sieh, auch Aquila und Priscilla waren verheiratet und leuchteten doch gewaltig hervor, obzwar ihr Beruf nicht gerade ein glänzender war, sie waren nämlich Zeltmacher. Aber ihre Tugend verdeckte alles und machte sie glänzender als die Sonne.“ So aber vanThanh Ngyuyen, der Priszilla und Aquila mit Bezug auf 1 Tim 1,3 als Mitarbeiter des Timotheus in Ephesus sieht: „From this seemingly insignificant reference, we are informed that by late first century or early second century […] the missionary couple had once again immigrated to Ephesus.“ Nguyen, Migrants, 72. W. Walker geht hinsichtlich der Quellenfrage davon aus, dass der Verfasser der (von ihm spätdatierten) Apostelgeschichte einige paulinische Briefe kannte, die Rolle der Priska, aber u. a. auch durch die Wahl der Diminutivform ‚Priszilla‘ insgesamt bewusst herabsetzt. Vgl. Walker, Portrayal, 490; 495.
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werden, werden auch Aquila und seine Frau Priszilla von Paulus „vorgefunden“ (Apg 18,2: εὑρών). Das Subjekt der Handlung ist zunächst Paulus, während die Namen des Ehepaares im Akkusativ stehen. Nur bei der Erstvorstellung in Apg 18,2 wird Aquila an erster Stelle genannt (vgl. auch 1 Kor 16,19), während die Vorstellung seiner Frau (καὶ Πρίσκιλλαν γυναῖκα αὐτοῦ) hier „wie nachgetragen mitgeteilt“49 erscheint. Ansonsten wird entgegen der antiken Konventionen der (in der Diminutivform auch stärker affektiv konnotierte?)50 Name Priszillas immer vorangestellt. Dies verleiht ihr als Erzählfigur Individualität51 und ließ darüber hinaus schon oft vermuten, dass sie von den beiden Ehepartnern die bedeutendere Rolle in der urchristlichen Missionsgeschichte spielte.52 Als missionierendes Ehepaar sind Priszilla und Aquila keine singuläre Erscheinung53 und treten immer in Handlungseinheit auf. Gemeinsam54 üben sie auch den gleichen Beruf wie Paulus aus: Mit dem neutestamentlichen Hapaxlegomenon σκηνοποιοί bezeichnet (Apg 18,3), sind sie im leder- bzw. leinenverarbeitenden Handwerk tätig und vermutlich mit der Herstellung von Sonnensegeln beschäftigt.55 Als „selbständige freie Gewerbetreibende, die möglicherweise abhängige Arbeitskräfte und Sklaven beschäftigten“56, arbeiten sie in einer Sparte, die harte Arbeit bei relativ geringer sozialer Anerkennung und wohl auch nur bescheidenem ökonomischen Erfolg57 mit sich bringt. In der insgesamt mehrdimensional angelegten Figurenzeichnung Priszillas und Aquilas fällt an erster Stelle ihre rege Reisetätigkeit ins Auge.58 Während Priszillas Herkunft nicht explizit genannt wird, stammt Aquila aus der römischen Schwarzmeer-Provinz Pontus (Apg 18,2: τῷ γένει). Vor der Nennung aller anderen Attribute wird auf seine Zugehörigkeit zum Judentum verwiesen
49 50 51 52
53
54 55 56 57
58
Pesch, Apostelgeschichte, 147. Vgl. Nguyen, Migrants, 68. Vgl. hierzu die Analysekategorie „Konventionalität“ in Finnern, Methoden, 204. Vgl. z. B. Weiser, Rolle, 173. Generell zur Rolle der Frauen v. a. im Osten des römischen Reiches (wenn auch mit Schwerpunkt auf den Gestalten der Lydia und der Tabitha) vgl. Calpino, Women. Man denke an Andronikus und Junia in der Grußliste des Römerbriefes (Röm 16,7), aber auch an die anderen Paarkonstellationen in der urchristlichen Mission. Vgl. insgesamt zu diesem Themenkomplex Müller, Ehepaare. Anders und skeptisch gegenüber einer solchen Berufstätigkeit in Bezug auf Priszilla: Marguerat, Actes, 172. Vgl. Lampe, Christen, 156f. Schnelle, Jahre, 189. Hinsichtlich des sozialen Status und der ökonomischen Situation des Ehepaares besteht Uneinigkeit. Zur Argumentation gegen die These eines relativen Wohlstands (vertreten z. B. von Pesch, Apostelgeschichte, 147) vgl. Lampe, Christen, 160, u. a. mittels Verweis auf die Aussage in 2 Kor 11,9, Paulus habe in Korinth Mangel gelitten. C. G. Müller spricht von Aquila (dessen Name Ἀκύλας die griechische Form des lateinischen Wortes „Aquilius“ für „Adler“ darstellt) als einem weitreisenden Vogel, dessen Name Programm geworden sei. Vgl. Müller, Ehepaare, 18.
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(Apg 18,2: καὶ εὑρών τινα Ἰουδαῖον). Für Pontus ist die Existenz einer jüdischen Diasporagemeinde bekannt, auch fällt der Name der Provinz in der Apostelgeschichte bereits in der Völkerliste der Pfingsterzählung (Apg 2,9). Aquila ist also in Rom schon ein Zuwanderer und ursprünglich Fremder. Die Beweggründe für diesen Migrationsschritt bleiben im Dunkeln. Ungewöhnlich ist es freilich im 1. Jh. n. Chr. nicht, dass sich Händler oder Gewerbetreibende von der Attraktivität der Reichshauptstadt angezogen fühlten und dort ihr Glück versuchten.59 Der Jude Aquila traf dort zudem auf eine etablierte Zahl jüdischer Bewohner und Gemeinden.60 Auch christusgläubige Gruppierungen waren in Rom schon vorpaulinisch präsent. Aquila und Priszilla, deren Hinwendung zum Christusbekenntnis nirgendwo thematisiert wird, werden – dafür spricht auch ihre Ausweisung – zu ihnen gehört haben. Wenn in Apg 18,2 anlässlich des Aufeinandertreffens mit Paulus in Korinth davon die Rede ist, dass sie „erst seit kurzem“ (προσφάτως) Rom verlassen haben, so kommt das Ehepaar somit geographisch bereits aus der Stadt, die den (vorläufigen) Zielpunkt der Apostelgeschichte darstellen wird. Die in Apg 18,2 befindliche älteste Erwähnung des Claudius-Ediktes (49 n. Chr.), in der der Verfasser übersteigernd von der kaiserlichen Anordnung einer Ausweisung aller Juden aus Rom berichtet, ist nicht nur hinsichtlich des quantitativen Ausmaßes zu hinterfragen.61 Vielmehr mussten aufgrund der die Synagogengemeinden destabilisierenden Erfolge der frühchristlichen Mission wohl führende Juden wie auch Judenchristen Rom verlassen – und zu letzteren zählten auch Priszilla und Aquila. Jedenfalls kommen Priszilla und Aquila als Vertriebene62 von Italien aus nach Korinth, dem ersten Ort des Geschehens in Apg 18. Noch vor der Ankunft des Paulus63 bezeugen sie damit den Christusglauben in dieser griechischen Handels- und Hafenstadt. Ein erneuter Standortwechsel erfolgt in Apg 18,18f., als das Ehepaar mit Paulus gemeinsam über den Hafen Kenchreä nach Syrien aufbricht. Explizit wird in dieser Passage kein Beweggrund genannt. Priszilla und Aquila werden als eingebunden in das paulinische Missionswerk geschildert (Apg 18,18: σὺν αὐτῷ) und sind offenkundig nach immerhin achtzehn Monaten gemeinsamem Aufenthalt mit Paulus in Korinth (Apg 18,11) bereit zu einer ‚Selbstentwurzelung‘ aus freien Stücken.64 Die gemeinsame Reise endet freilich schon in der 59 60
61 62 63 64
Vgl. Schnelle, Jahre, 169f. Vgl. hierzu Barclay, Jews, 282–319. Die Schätzungen hinsichtlich der Anzahl der Juden in Rom liegen für die Zeitenwende bei ca. 30.000 bis 40.000 Bewohnern. Vgl. Noethlichs, Judentum, 10. Vgl. Barclay, Jews, 306. „Refugees in exile“ nennt sie Ngyen, Migrants, 72. Zum paulinischen Anspruch auf die Gründung der Gemeinde von Korinth vgl. 1 Kor 3,6.10 u. ö. Nguyen, Migrants, 70: „[…] the couple uprooted themselves again. Priscilla an Aquila sacrificed everything they had built up in Corinth to accompany Paul […].“ Lampe, Christen, 161 sieht dagegen den Wegzug nach nur achtzehn Monaten als Indiz dafür, „dass sie in Korinth keinen immobilen Besitz ihr eigen nannten, der sie festhielt“.
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kleinasiatischen Weltstadt Ephesus. Dass Paulus sie dort „zurücklässt“ (Apg 18,19: κἀκείνους κατέλιπεν αὐτοῦ), erfährt wiederum keine Begründung. Mit der Weiterreise des Paulus jedoch beginnt für Priszilla und Aquila eine weitere Phase eigenständiger Missionsarbeit. Resümierend lässt sich sagen, dass die Linie der ‚Migration‘ in der Figurenkonzeption des Ehepaares Priszilla und Aquila eine tragende Rolle spielt und die beiden als dynamisch agierende Figuren erscheinen lässt. Die diversen Ortswechsel in mehrere Metropolen des Römischen Reiches, die aus verschiedenen Gründen erfolgen – erzwungen oder aus freien Stücken – sind immer wieder mit dem Aufbau einer neuen beruflichen und sozialen Existenz verbunden. Damit werden sie als Menschen gekennzeichnet, die erfahren haben, was es bedeutet, alles hinter sich zu lassen, die aber gleichzeitig mehrfach bereit sind, einen Neuanfang zu wagen und diesen Neuanfang in den Dienst ihrer Missionstätigkeit zu stellen. Ihre Namen haben sich so in die Geschichte dreier großer Gemeinden – Rom, Korinth und Ephesus – eingetragen.
3.2
Gastfreundschaft und Kommunikation: Grundlagen einer von Diversität und Interkulturalität geprägten Gemeinschaft
Als ein weiteres herausragendes Figurenmerkmal ist die Gastfreundschaft des Ehepaares zu nennen – eine Schlüsseltugend, die Priszilla und Aquila als Diasporajuden sicher schon internalisiert hatten65 und auf die die Anhänger des ‚neuen Weges‘ ohnehin rein logistisch dringend angewiesen waren (vgl. z. B. Hebr 13,2). Sowohl in Korinth als auch in Ephesus stellen sie ihr Haus und ihren Betrieb zur Verfügung66 und schaffen so einen Kommunikationsund Versammlungsort für die entstehenden christlichen Gemeinden. Auch Paulus wird während seines Aufenthalts in Korinth in ihre Hausgemeinschaft integriert und findet bei seinen Berufsgenossen Broterwerb und Unterkunft (Apg 18,3) wie auch eine Basis für seine eigene Missionsarbeit. Eingerahmt von der Notiz des gemeinsamen Wohnens und Arbeitens (Apg 18,1–3) und des gemeinsamen Abschieds von Korinth (Apg 18,18), finden sich in Apg 18,4–17 verschriftlichte Erfahrungen der Ablehnung (Apg 18,4–6) und des Wachsens der Gemeinde (Apg 18,f.), der Vision (Apg 18,9f.) und der Auseinandersetzung (vgl. die Szene vor dem Richterstuhl des Prokonsuls 65 66
Barclay, Jews, 423 verweist diesbezüglich auf die gegenseitige Verwiesenheit der Diasporajuden aufeinander sowohl bei Reisen als auch beim Handel. Müller, Ehepaare, 32f., konstatiert, dass es mit Hananias und Saphira, die sich der Gütergemeinschaft der Jerusalemer Gemeinde zu entziehen versuchen (Apg 5,1–11), nur ein weiteres explizit angeführtes Ehepaar in der Apostelgeschichte gibt. Eventuell habe Lukas die beiden Ehepaare bewusst als Kontrastfiguren entworfen: „Die einen hängen an ihrem Besitz, die anderen stellen ihn anderen zur Verfügung – oder öffnen ihn jedenfalls für andere.“
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Gallio in Apg 18,12–17). So werden die Ehepartner zu nächsten Zeugen des ereignisreichen paulinischen Wirkens. In der Figurenkonstellation mit Paulus, wie Lukas sie darstellt, schaffen sie die Grundlagen für die paulinische Mission und spielen eine Wegbereiterrolle. So sehr sich der Verfasser freilich darum bemüht, das Handeln des Ehepaares in Kooperation mit Paulus aufzuzeigen, so sehr scheint doch auch immer wieder durch, dass Priszilla und Aquila als eigenständige Akteure in der christlichen Mission wirken:67 „Es wäre völlig falsch, die Aktivitäten von Prisca und Aquila auf Hilfeleistungen für Paulus zu reduzieren. Sie waren ein hochmobiles Ehepaar, das völlig eigenständig agierte, zeitweilig mit Paulus zusammenarbeitete, mehrere Hausgemeinden gründete und für die Kommunikation unter den Gemeinden in Kleinasien, Griechenland und Rom sorgte.“68
Diese Eigenständigkeit zeigt sich in der Apostelgeschichte in besonderer Weise in der Begegnung des Ehepaars mit Apollos (Apg 18,24–28), der ebenfalls ein lebendiges Beispiel für die Diversität und Interkulturalität urchristlicher Mission darstellt. Erstmals seit Kap. 13 wird Paulus hier zur abwesenden Hintergrundfigur.69 Mit dem Reisesummarium in Apg 18,22f. ebenso wie mit der Schilderung eines Aneinander-vorbei-Missionierens von Paulus und Apollos in Apg 19,1 vermeidet der Verfasser eine direkte Begegnung beider.70 Er verhindert so auch eine spannungsreiche Gegenüberstellung, wie sie der Erste Korintherbrief widerspiegelt (1 Kor 1,12; 3,5f.22; 4,6; 16,12). So aber werden Priszilla und Aquila zu den Figuren, die den weiteren Fortgang der Erzählhandlung erst ermöglichen. Eine Verbindung zwischen Paulus und Apollos besteht nur über das Ehepaar, dem damit auch eine ausgleichende Vermittlungs- und Eingliederungsfunktion zukommt.71 Der unabhängige Missionar Apollos behält auch nach dieser Begegnung eine gewisse Autonomie, wird aber von dem an einer harmonisierenden Darstellung interessierten Verfasser in die Gesamtentwicklung der einen Kirche integriert.72 Eingeführt wird Apollos in Apg 18,24 (Ἰουδαῖος δέ τις Ἀπολλῶς ὀνόματι, Ἀλεξανδρεὺς τῷ γένει) zunächst mit einer ähnlichen Wendung wie Aquila in Apg 18,2. Die Blockcharakterisierung in Apg 18,24f. zeichnet ihn als jüdischalexandrinischen Wandermissionar auf der Durchreise, von der Persönlichkeit 67
68 69 70
71 72
Formal sind sie für das Gesamtwerk der Apostelgeschichte sicherlich als „Episodenfiguren“ zu bezeichnen (vgl. Finnern, Methoden, 206) – in den jeweiligen Episoden ihres Auftretens freilich scheint durch, dass sie kraftvolle Protagonisten der Mission waren. Schnelle, Jahre, 170. Vgl. Marguerat, Actes, 188. M. Wolter nennt dies die „gezielte Schilderung einer Nicht-Begegnung“ mit der Absicht, die ihm wohlbekannte Konfliktlage zugunsten einer idealisierten Darstellung der Vergangenheit der Kirche zu entschärfen. Wolter, Apollos, 412. Vgl. Müller, Ehepaare, 29. Vgl. diesbezüglich auch die Eingliederung des Apollos in den Pauluskreis in Tit 3,13.
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her rhetorisch gebildet (λόγιος), schriftmächtig (δυνατὸς […] ἐν ταῖς γραφαῖς) und charismatisch (ζέων τῷ πνεύματι ἐλάλει). Priszilla und Aquila begegnen ihm bei seiner Predigt in der Synagoge von Ephesus (Apg 18,26), die die beiden offenkundig besuchen. Ungeachtet seiner Vorzüge werden seine Lehre und sein Kenntnisstand als defizitär geschildert. Er ist zwar unterwiesen im Weg des Herrn (Apg 18,25), d. h. in die christliche Lehre selbst eingeführt, dies jedoch nur in einer eingeschränkten Form: Als Initiationsritus sei ihm lediglich die Umkehrtaufe Johannes des Täufers bekannt (vgl. auch Apg 19,1–7).73 Die Interaktion zwischen Priszilla, Aquila und Apollos findet genau in diesem Manko ihren Ausgangspunkt. Keinen der Beteiligten lässt der Verfasser in der direkten Rede kommunizieren. Dieser Verzicht auf jegliche direkte Wortäußerung der drei Figuren wie auch auf andere figurale Charakterisierungen sichert dem Erzähler die alleinige Deutungshoheit im Rahmen seines idealisierenden Gesamtprogramms der Apostelgeschichte. Auch die „Lernschule des Glaubens“74, die Apollos bei dem Handwerkerehepaar und den Gemeindemitgliedern durchläuft, bietet in diesem Sinne ein idealisierendes Modell gemeindlicher Kommunikation. In diesem Kommunikationsprozess erscheinen Priszilla und Aquila quasi als Mentoren des Apollos. An erster Stelle steht das Hören des Gesprächspartners (Apg 18,26: ἀκούσαντες δὲ αὐτοῦ) und seine Aufnahme als Gast (Apg 18,26: προσελάβοντο αὐτóν). Priszilla und Aquila verzichten nicht auf Korrekturen, wo es um die Sache geht, und legen ihm den christlichen Weg noch genauer dar, als es ihm bislang bekannt war (vgl. den Komparativ ἀκριβέστερον in Apg 18,26 gegenüber ἀκριβῶς in Apg 18,25). Der gelehrte und rhetorisch brillante Apollos seinerseits scheut sich dem Duktus der Erzählung nach nicht, auf der Seite des Lernenden zu stehen und diese Belehrung anzunehmen.75 Und so kommt die ‚konstruktive Kritik‘ des Handwerkerehepaares dem weiteren Aufbau der Gemeinde(n) zugute. Apg 18,27 zeigt Apollos integriert in positivem Verhältnis sowohl zu den „Brüdern“ von Ephesus als auch zu den Jüngern der Provinz Achaia. Die Erstgenannten ermutigen und empfehlen ihn, so dass er auch in Achaia gastfreundliche Aufnahme findet. Und dort wird er als „große Hilfe“ empfunden. Er, der schon in Apg 18,24 als Schriftkundiger eingeführt wurde, belegt nun mit der ihm eigenen Überzeugungskraft und Freimütigkeit im Streitgespräch mit den Juden öffentlich die Schriftgemäßheit der Messianität Jesu. Das ‚Migrantenehepaar‘ Priszilla und Aquila beweist in dieser lukanischen Erzählung auch mittels seiner Gastgeberrolle die Fähigkeit zu kom-
73 74 75
Weithin wird diese Aussage in der neueren Exegese als lukanischer Eintrag gewertet. Vgl. Wolter, Apollos, 415f. Müller, Ehepaare, 28. Rein sprachlich zeigt sich seine annehmende, empfangende Rolle auch darin, dass er in Apg 18,26b–27 überwiegend als Objekt in Form des Personalpronomens auftritt.
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munikativer Vermittlung und Vernetzung – eine Kompetenz, die für die christliche Mission ebenso wichtig ist wie für die Suche nach christlicher Identität76 in Gründungszeiten.77
4.
Rückblick und Ausblick
In der Apostelgeschichte des Lukas als der ‚Geburtsgeschichte‘ der Kirche spielt von Anfang an der Faktor ‚Migration‘ bei der Weitergabe und Ausbreitung des Christusglaubens eine bedeutende Rolle und trägt sich tief in die christliche Identität ein. Sowohl Verfolgung und Bedrängnis als auch die Führung durch den Heiligen Geist tragen zur Ausbreitung des Wortes bei. In Kontinuität zur ‚Migrationsgeschichte‘ Israels wird auch Christsein als Wegexistenz dargestellt. Migration ist in der frühen Kirche jedoch „nicht nur ein Gruppenphänomen, sondern prägt die Aktivität einzelner Persönlichkeiten“78. Erzählfiguren wie das Ehepaar Priszilla und Aquila, ihrerseits ein Beispiel für die Diversität des frühen Christentums und ein Paradigma für das Ineinandergreifen von Migration und Mission,79 gewinnen ihr missionarisches Profil und ihre Kompetenzen, Neuanfänge zu wagen und zu gestalten, Gastfreundschaft zu üben und innerhalb der Gemeinde für Vernetzung und Kommunikation zu sorgen, auch und gerade auf der Basis ihrer (zumindest zeitweisen) migrantischen Lebensweise. Für das frühe Christentum, wie es sich in der Erzählwelt der Apostelgeschichte präsentiert, kann man mit R. Polak konstatieren: „Das missionarische Selbstverständnis des Christentums hängt ebenso wie seine Verbreitung untrennbar mit Migrationserfahrungen zusammen. Diese wurden im Sinne der Verwirklichung des universalen Sendungsauftrages der Kirche gedeutet, sind also loci theologici für christliche Missionstheologie.“80
In den ersten Jahrhunderten trug dazu sicherlich auch das Fehlen einer politischen Beheimatung im Römischen Reich bei: „Christians were, for the first several centuries, without a homeland, without a place they could politically call their own.“81 P. C. Phan zeichnet in seinen Ausführungen zum Thema 76 77
78 79 80 81
Marguerat, Actes, 183, nennt als Hauptthema der Mission in Ephesus „la démarcation de l´identité chrétienne“. Schnelle, Jahre, 561, bezeichnet diese Vernetzungskompetenz als einen der Erfolgsfaktoren des frühen Christentums und fügt in gewagter Definition hinzu: „Insgesamt war die Infrastruktur der Christen neu und sehr effektiv. Die Herstellung von Kommunikation und die Bildung von Netzwerken nennt man mit einem etwas altmodischen Wort ‚Mission‘.“ Kirchschläger, Westen, 97. Vgl. Nguyen, Migrants, 73. Polak, Migration, 108. Irvin, Theology, 13.
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„Migration in the Early Church“ den Weg bis ins 5. Jahrhundert nach. Er sieht darüber hinaus aber in dem Phänomen, das er mit dem Neologismus „migrantness“ bezeichnet, einen bleibenden Wesenszug des Christentums: „Finally, migration is a permanent feature of the church, and not just a historical phenomenon of the early church or of any other period of church history.“82 Was den Zusammenhang von ‚Migration‘ und ‚Mission‘ betrifft, so sollte man bei der Übertragung der Perspektiven einer idealisierenden und harmonisierenden ‚Expansionserzählung‘ aus der Anfangszeit der Kirche auf die heutigen Verhältnisse große Vorsicht walten lassen.83 Wohl aber kann die im Kontext von Mission regelmäßig genannte Aufforderung aus 1 Petr 3,15 („Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt!“) sich verbinden mit dem Bewusstsein der tiefen Verankerung von Migrationserfahrungen in Gedächtnis und Identität christlicher Kirche und zum Handlungsimpuls gelebter Hoffnung werden.
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82 83
Phan, Migration, 41. Enthusiastischer diesbezüglich äußert sich Nguyen, Migrants, 75 der von christlichen Migranten auch heute als „a key factor in the expansion of the church“ spricht. Nguyen, Migrants, 63 äußert: „[…] every Christian migrant is a potential missionary.“ Vgl. auch den Versuch einer Eins-zu-Eins-Übertragung aus evangelikaler Sicht von Prill, Migration, 332–346.
Missionierende Migranten?
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Fremdheit als Chance. Von der Identitätskonstruktion einer frühchristlichen Gemeinde im Spiegel des ersten Petrusbriefes1 Uta Poplutz
„Fremder: erstickte Wut tief unten in meiner Kehle, schwarzer Engel, der die Transparenz trübt, dunkle, unergründliche Spur. Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens Verantwortung trägt. Er ist weder die kommende Offenbarung noch der direkte Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden. Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die Zeit, in der das Einverständnis und die Sympathie zugrunde gehen.“2
Mit diesen Eingangszeilen eröffnet die französische Literaturtheoretikerin, Psychoanalytikerin und Philosophin Julia Kristeva ihr 1990 verfasstes Büchlein „Fremde sind wir uns selbst“, das aktueller scheint denn je. Sie verneint darin die Auffassung, dass der ‚Fremde‘, der in den frühen Kulturen und Gesellschaften wie selbstverständlich der ‚Feind‘ war, in den modernen Gesellschaften verschwunden ist, und begründet dies mit der psychoanalytischen Interpretation, dass wir Menschen uns stets selbst zutiefst Fremde sind. Um dies zu ertragen, unterlägen wir immer wieder der Versuchung, die eigene Fremdheit nach außen zu projizieren: Auf Randgruppen, auf ethnisch, sozial oder religiös andere.3 Noch einmal Kristeva: „Mit dem anderen, mit dem Fremden leben konfrontiert uns mit der Frage, ob es möglich ist, ein anderer zu sein. Es geht nicht einfach – im humanistischen Sinn – um unsere Fähigkeit, den anderen zu akzeptieren, sondern darum, an seiner Stelle zu sein und das heißt, sich als anderer zu sich selbst zu denken und zu verhalten.“4
Was unter anderem aus Kristevas vielschichtigen Beobachtungen und Analysen zu lernen ist, ist die unlösbare Verknüpfung der beiden Themenkreise 1
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Ergänzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung meines Habilitationsvortrags vom 7. April 2009 an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Ich widme diesen Beitrag meinem damaligen Betreuer Prof. em. Dr. Walter Kirchschläger in dankbarer Verbundenheit. Kristeva, Fremde, 11. Vgl. auch Berger, Fremdheit, 207f., der die Beobachtung formuliert, dass besonders „nahe Fremde“ im Neuen Testament dämonisiert werden, womit der Boden für machtvolle Exorzismen bereitet werde. Kristeva, Fremde, 23.
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‚Fremdheit‘ und ‚Identität‘. Das Fremde ist, so Kristeva, eine verborgene Seite der Identität, und gerade in der Konfrontation mit dem äußerlich anderen wird man auf seine eigene Identitätskonstruktion zurückgeworfen, so dass diese entweder gefestigt oder in Frage gestellt wird. Der von Kristeva formulierte Zusammenhang zwischen ‚Fremdheit‘ und ‚Identität‘ soll nun im Kontext der Fremdheitserfahrung von Christinnen und Christen dargestellt werden. Exemplarisch bietet sich dazu die Situation einer frühchristlichen Gemeinde an, wie sie im ersten Petrusbrief aufscheint: Die Selbsterfahrung als „Fremde“ in einer feindlich gesinnten Umgebung ist die Basis, auf der der pseudepigraphe Verfasser5 in seinem Rundschreiben6 (1 Petr 1,1) die Christinnen und Christen in der Diaspora Kleinasiens7 ermutigt, ihr Verhältnis zur Welt zu gestalten und die massive Leiderfahrung, die mit dem Fremdlingsstatus konkret und unmittelbar erfahrbar einhergeht, in eine positive Richtung zu lenken. Das dezidiert seelsorglich-pastoral ausgerichtete Schreiben,8 das als Trost- und Ermahnungsschreiben an bedrängte 5
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Die pseudonyme Abfassung wird mit guten Argumenten von der Mehrheit der Exegetinnen und Exegeten vertreten, vgl. exemplarisch Doering, Apostle, bes. 646f. Anm. 9; Vahrenhorst, 1 Petr, 10; Feldmeier, Christen, 193–198; Holloway, Prejudice, 15–20. Wo der Absender des Schreibens, der sich selbst als πρεσβύτερος bezeichnet (1 Petr 5,1), zu lokalisieren ist, kann nur erschlossen werden. Aufgrund des Beziehungsgeflechts zwischen dem Jakobusbrief, dem ersten Petrusbrief und dem Matthäusevangelium ist an den syrischen Raum denken, vgl. ausführlich Metzner, Rezeption, passim. Konradt, Jakobusbrief, 41f. deutet vorsichtig eine mögliche Abfassung in Antiochien an. Dass es sich um ein Rundschreiben handelt, ist aus der Beobachtung zu schließen, dass der Verfasser nirgends auf eine individuelle Gemeindesituation eingeht und man auch nichts über das persönliche Verhältnis zwischen Absender und Empfänger des Schreibens erfährt, vgl. Feldmeier, 1 Petr, 22; Goppelt, 1 Petr, 45. In der adscriptio werden Pontus, Galatien, Kappadokien, Asien und Bithynien genannt, wo die Adressatinnen und Adressaten als „Fremdlinge der Diaspora“ lebten; aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Angeschriebenen im städtischen Milieu zu verorten, vgl. etwa (mit weiterer Diskussion und Literaturhinweisen) Müller, Auserwählte, 11f. Anm. 10; Williams, Persecution, 69–71; anders etwa Elliott, Home, 63. Zur Diskussion über die Frage, ob der Verfasser mit den Ortsbezeichnungen römische Provinzen oder Landschaften im Blick hatte, vgl. nur Elliott, 1 Peter, 84–93; Achtemeier, 1 Peter, 83–86; Brox, 1 Petr, 25. Mit der Mehrheit der Kommentatoren gehe ich davon aus, dass sich die Ortsangaben in 1 Petr 1,1 auf die römischen Provinzen beziehen; damit würden sie das ganze Gebiet Kleinasiens nördlich des Taurus abdecken, vgl. Klein, Bewährung, 261. Schmidt, Mahnung, 193–195 zieht jedoch mit differenzierten Argumenten auch die Landschaftshypothese in Erwägung. Guttenberger, Passio, 76 bilanziert: „[Es ist] wahrscheinlich, dass der Vf. beabsichtigte[,] Provinzen zu nennen, jedoch nur einen begrenzten Einblick in die tatsächlichen politischen Verhältnisse hatte, also sich z. T. im Irrtum befand.“ Brox, 1 Petr, 37: „,Disponiert‘ ist der 1Petr allein von seiner pastoralen Absicht her, in bestimmter schwieriger Situation die Form christlicher Existenz theologisch zu begründen und paränetisch einzuüben.“ Der pastorale Charakter bedeutet jedoch nicht, dass der erste Petrusbrief als ‚homiletischer Aufsatz‘ erst nachträglich mit einem brief-
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Christinnen und Christen verstanden werden will (1 Petr 5,12),9 zeigt dabei zugleich eine Perspektive auf, die eben nicht nur zur eigenen Identitätsvergewisserung beiträgt, sondern auch auf die Außenwahrnehmung positiv abfärben kann und – folgt man der Intention des Verfassers – abfärben sollte. Dass eine solche Konzeption auch für die christlichen Gemeinden in unserer Zeit interessant sein könnte, zeigt sich an den analogen „diasporalen Erfahrungen“10, denen die traditionellen Volkskirchen in einer säkularer werdenden Gesellschaft zunehmend ausgesetzt sind. Vielleicht kann die Lektüre des ersten Petrusbriefes auch für die Identitätsfindung gegenwärtiger Gemeinden anregend sein.
1.
Das semantische Feld: Fremdheit
Der pseudonyme Verfasser des ersten Petrusbriefes intoniert das zentrale Thema seines Schreibens bereits im ersten Vers, indem er die Adressatinnen und Adressaten als „erwählte Fremde/Ausländer in der Zerstreuung“ (ἐκλεκτοῖς παρεπιδήμοις διασπορᾶς, 1 Petr 1,1) anspricht. Mit dem im christlichen Schrifttum erstmals hier begegnenden Doppelausdruck wird akzentuiert, dass sich christliche Existenz zwischen Aussonderung durch Gott (Erwählung) und Ausgrenzung durch die Gesellschaft (Fremdheit) in der Zerstreuung (Diaspora) konstituiert – und zwar in Form der Sozialgestalt des neuen Gottesvolkes.11 Die Anrede verdeutlicht, dass die Fremdheit der Christinnen und Christen, ihre Bindung an Gott sowie ihre Einbeziehung in die neue Gemeinschaft einander bedingen.12 1 Petr 1,1 führt auf diese Weise die zentrale Kategorie der Fremdheit wie eine identitätsklärende Überschrift ein13 und formuliert zugleich, in welcher Weise der Verfasser die Situation der Angeschriebenen und die Funktion des ersten Petrusbriefes wahrnimmt: Das Schreiben stellt „ein Identifikationsangebot für bedrängte und angefochtene
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12 13
lichen Rahmen versehen wurde, wie es etwa von Harnack, Chronologie, 451 formulierte. Der erste Petrusbrief ist der Gattung nach ein Brief und weist eine „Familienähnlichkeit“ zu den jüdischen Diasporabriefen auf, vgl. Vahrenhorst, 1 Petr, 57f. Vgl. Sigismund, Identität, 179. Vgl. Müller, Diaspora, 67f. Vgl. Feldmeier, 1 Petr, 34f. Bezeichnenderweise fehlt im ersten Petrusbrief der Begriff ἐκκλεσία; die Ergänzungen in 1 Petr 5,13 in einigen Handschriften ( )אund Versionen (vg, syp) sind textgeschichtlich sekundär, vgl. Doering, Gottes Volk, 102 Anm. 98. Feldmeier, 1 Petr, 35. Vgl. Breytenbach, Rezeption, 449: „Bereits das Präskript will den Adressaten dazu verhelfen, ihre eigene Identität zu definieren.“
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Christen“14 dar, die sich als Fremde in der Diaspora in einer extrem spannungsvollen sozialen Situation befinden.15 Die Kennzeichnung als παρεπίδημοι („an einem fremden Ort Weilende“, „Ausländer“) wird in 1 Petr 1,17 durch den Terminus παροικία (Fremdlingschaft) variiert aufgenommen und schließlich an hervorgehobener Stelle in der Einleitung zum zweiten Briefteil (2,11–4,11) mit παρεπίδημος zusammengeführt: Die Angesprochenen sind „Beisassen / Fremdlinge und Fremde / Ausländer“ (παροίκοι καὶ παρεπίδημοι, 2,11); diese Charakterisierung impliziert Repressionen und fordert auf Seiten der Adressatinnen und Adressaten Leidensfähigkeit ein. Die Kategorie des Leidens, die ein zweites großes Schlüsselthema des Schreibens ist, korreliert mit der Fremdheitserfahrung und weist ebenfalls deutliche identitätsstiftende Merkmale auf.16 Wie Reinhard Feldmeier in seiner Monografie zur Fremdheitsmetaphorik im ersten Petrusbrief umfassend gezeigt hat, begegnen die beiden Termini παρεπίδημος und πάροικος sowohl im biblisch-jüdischen als auch im paganen Schrifttum.17 Durch die Privationen mit παρα- wird angezeigt, dass sich beide Begriffe an personal ausgerichteten soziologischen Bezugsgrößen orientieren: an den Faktoren δῆμος (Volk, Volksversammlung) und οἰκία (Haus, Familie). Vom Wortursprung her beinhaltet dies bereits einen ersten Hinweis auf eine inhaltliche Unterscheidung beider Begriffe: Der παρεπίδημος ist wörtlich derjenige, der „nebenher zum Staatsvolk hinzukommt“ – das heißt er ist ein Gast, der nicht wirklich dazugehört –, während der πάροικος „bei oder neben jemandem wohnt“, somit der (wenn auch fremde) Nachbar ist. Im paganen Schrifttum wird παρεπιδημεῖν κτλ durchgängig von Fremden ausgesagt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass der Wortstamm häufig mit ξένος verbunden ist18 oder die Subjekte, auf die sich παρεπιδημεῖν bezieht, durch Herkunfts- oder Namensbezeichnungen als Fremde identifizierbar sind.19 Ein παρεπίδημος ist somit eine Person, die sich zumeist kurzfristig an einem Ort aufhält,20 an dem sie nicht beheimatet ist und an dem sie auch nicht vorhat, auf Dauer ansässig zu werden; dies trifft vor allem auf Durchreisende zu.21 Dabei impliziert παρεπίδημος nur selten eine schichtspezifische Aussage und bleibt meist neutral: „In einer ihm fremden Stadt bzw [sic!] in einem fremden Land kann jeder ein 14 15 16
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Feldmeier, 1 Petr, 16. Vgl. Guttenberger, Teilhabe, 118; Holloway, Prejudice, passim. Vgl. Horrell, Leiden, 120–123; Feldmeier, Avantgarde, 163; Sigismund, Identität, 179: „Durchgehendes Thema, welches in drei Hauptteilen (1 Petr 1,3–2,10; 2,11– 4,11; 4,12–5,11) entfaltet wird, ist die Existenz der Christen in einer nichtchristlichen Gesellschaft und die Bewältigung dieser Situation durch die Bereitschaft, Repressionen zu ertragen – mit anderen Worten: zu leiden.“ Vgl. Feldmeier, Christen, 8–22. Allerdings ist παρεπίδημος in der antiken Literatur viel seltener anzutreffen als πάροικος. Belege bei Feldmeier, Christen, 10 Anm. 12. Feldmeier, Christen, 11. Vgl. Polyb. 33,15,2,1; Diod. 1,4,3. Belege bei Feldmeier, Christen, 11.
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παρεπίδημος bzw [sic!] παρεπιδημήσας sein […].“22 Auch im biblischen Schrifttum begegnet παρεπίδημος nur selten. In der LXX finden sich zwei Belege, bei denen παρεπίδημος parallel mit πάροικος verwendet wird (Gen 23,4: πάροικος καὶ παρεπίδημος [Selbstvorstellung Abrahams]; Ψ 38,13: ὅτι πάροικος ἐγώ εἰμι παρὰ σοὶ καὶ παρεπίδημος καθὼς πάντες οἱ πατέρες μου). Der Hebräerbrief nimmt die Terminologie von Gen 23,4 spiritualisierend auf: Abraham und die anderen Erzeltern sind ξένοι καὶ παρεπίδημοι ἐπὶ τῆς γῆς (Hebr 11,13), die ihre eigentliche πατρίς noch nicht erreicht haben (Hebr 11,14), sondern κατὰ πίστιν lebten und starben (Hebr 11,13).23 Mit πάροικος κτλ kann die Situation eines ausländischen oder freigelassenen24 Einwohners und insofern sein Status der „Fremdlingschaft“ bezeichnet werden, weshalb häufig mit „Beisasse“ oder „Halbbürger“ übersetzt wird.25 Welcher genaue politisch-rechtliche Status damit einherging, ist aufgrund der komplizierten Rechtsverhältnisse im Römischen Reich, das ein Flickenteppich von Stadtrepubliken mit unterschiedlichen Verfassungen war, relativ schwer zu bestimmen. Es genügt vielleicht an dieser Stelle festzuhalten, dass πάροικος und seine Derivate das ältere griechische Wort μέτοικος26 sowie in der LXX das hebräische גרübersetzen. In der LXX findet sich der Begriff πάροικος 33 Mal und meint häufig einfach den Ausländer (2 Sam 1,13; 1 Chr 5,10; Zeph 2,5), meistens jedoch den rechtlich, politisch, sozial und religiös Untergeordneten.27 In jedem Fall sind, so Feldmeier, mit diesem Begriff „negative Assoziationen verbunden“28.
Als letzter Begriff des semantischen Feldes ist das Substantiv διασπορά aus dem Präskript in die Überlegungen einzubeziehen.29 Das verbum compositum διασπείρω („zerstreuen“) aus der Wurzel σπείρω („säen“, „streuen“) wurde aus dem landwirtschaftlichen Kontext gelöst und kann sich auf alles beziehen, was sich materiell ‚verstreuen‘ oder im ideellen Sinn ‚verbreiten‘ kann.30 Die 22 23 24 25
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Feldmeier, Christen, 12. Feldmeier, Christen, 9. Vgl. Plümacher, Identitätsverlust, 39 mit Verweis auf die in Inschriften häufig anzutreffende Formel ἀπελεύθερος καὶ πάροικος. Vgl. ausführlich mit Belegen Feldmeier, Christen, 12–19; Schmidt / Schmidt, πάροικος κτλ, 840f.; Kiefer, Exil, 223f.; Obermann, Land, 276: „Mit πάροικος ist […] der permanent nicht zu den Bürgern zu rechnende Bewohner gemeint, der außerhalb der Polis als der zentralen Sozialform der damaligen Gesellschaft lebt.“ Wolff, Christ, 338: „Die Paroikoi sind mit den Metoikoi der klassischen Zeit identisch.“ Feldmeier, Christen, 15; ausführlich zum alttestamentlich-jüdischen Gebrauch Schmidt / Schmidt, πάροικος κτλ, 841–848; vgl. auch Plümacher, Identitätsverlust, 39; Schaefer, Paroikos, 1695–1698 mit zahlreichen Belegen und folgendem Ergebnis zum „Wesen der Paroikie“: „Eine Bevölkerungsschicht, die nicht dem Vollbürgertum zugerechnet wird, aber auch nicht zu den Fremden gehört, sondern zwischen diesen beiden Gegensätzen in der Mitte steht.“ Feldmeier, Christen, 16 (im Original kursiv). Vgl. Schmidt, διασπορά, 98–104; Sänger, διασπορά κτλ, 749–752; Rothenberg / Krüger, διασπορά, 514–516; Feldmeier, Christen, 19f.; ausführlich Klein, Bewährung, 17–64 mit sämtlichen Belegen sowie Kiefer, Exil, 219–221; Martin, Metaphor, 144–161 bezeichnet διασπορά sogar als die „controlling metaphor“ des 1 Petr; zu den neutestamentlichen Belegen kompakt Stenschke, Diaspora, 751–754. Vgl. Kiefer, Exil, 219.
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Nominalableitung διασπορά, die bis auf wenige Ausnahmen31 ausschließlich in jüdischer oder christlicher Literatur begegnet, kann den Vorgang des Zerstreuens32 oder auch resultativ den Zustand der Zerstreuung33 bezeichnen; daraus ergibt sich dann auch die kollektive Bedeutung von διασπορά für „die Zerstreuten“ selbst.34 Ähnlich wie παροικία benennt somit auch διασπορά den Status einer Person oder Gruppierung in der Fremde, wobei jedoch eine entscheidende Differenz in Bezug auf das jeweilige Bezugsfeld einzutragen ist: „In vielem dem Begriff παροικία entsprechend liegt der Schwerpunkt bei διασπορά auf der Beziehung der zerstreuten jüdischen Gemeinschaft zum Mutterland, während παροικία den Aspekt der (vorläufigen) Beziehung zur Umgebung in der Vordergrund rückt.“35
Eine ausführliche Sichtung der Belege36 macht deutlich, dass die Wurzeln von διασπορά im griechischsprachigen Diasporajudentum zu suchen sind und der Ausdruck mehr als die Übersetzung des hebräischen גלהdarstellt: Der Neologismus διασπορά wurde zum terminus technicus für die außerhalb des Kernlandes lebenden Juden.37 Dabei lässt sich feststellen, dass diese διασπορά – mit der einzigen Ausnahme von Dtn 32,8 – durchweg negativ konnotiert ist: Die Zerstreuung ist die letzte Konsequenz des Gerichtshandelns Gottes an Israel.38 Thorsten Klein bringt es in seiner sorgfältigen Studie zusammenfassend auf den Punkt: „Gott selbst führt sein Volk in die Verbannung / Zerstreuung, weil es seinen Bund gebrochen hat, aber hier wie dort besteht die Hoffnung auf Heimführung / Sammlung, wenn man Gottes Weisungen befolgt. Die Übersetzer der LXX haben diesen Motivzusammenhang zwar nicht ,erfunden‘, aber sie haben ihn dort, wo er ihnen im hebr. Text vorgegeben war, auf sich selbst bezogen, ihm einen neuen Namen gegeben und so – indem sie διασπορά / διασπείρω an vielen weiteren Stellen interpretierend in ihr Werk einbrachten – ihre Perspektive auf jüdische Existenz außerhalb des verheißenen Landes zum Ausdruck gebracht. In dieser Verlängerung
31 32 33 34 35 36 37
38
Belege bei Klein, Bewährung, 18–20. Dtn 28,25; 30,4; Jer 41,17 LXX. Jes 49,6; Ψ 146,2. 2 Makk 1,27; vgl. auch PsSal 8,28; vgl. Kiefer, Exil, 219; auch Müller, Diaspora, 70; Schmidt, διασπορά, 99–101. Feldmeier, Christen, 20. S. o. Anm. 29. Klein, Bewährung, 28, Anm. 46: „Abgesehen vom profanen Gebrauch sowie einigen wenigen Stellen in Ez, wo von der Zerstreuung der Ägypter die Rede ist, meint der Begriff immer die Juden.“ Vgl. Klein, Bewährung, 29; ebenso bereits van Unnik, Selbstverständnis, 106: „Die Zerstreuung unter den Völkern ist die letzte Strafe für den Ungehorsam; sie ist ein großes Unglück, das der Vernichtung fast gleich kommt. Nur wenn das Volk, die Übriggebliebenen, sich bekehren, wird der barmherzige Gott, des Bundes eingedenk, sie wieder zurückführen ins gelobte Land, wie er sie einst zerstreut hatte.“
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deuteronomistischer Geschichtstheologie unter veränderten historischen Rahmenbedingungen dokumentiert sich bewusste, theologisch reflektierte Übersetzungsarbeit.“39
Durch die Verwendung des διασπορά-Begriffs – der durch das Stichwort Βαβυλών (1 Petr 5,13) im Briefschluss inhaltlich verstärkt wird40 – sowie der anderen genannten Termini des semantischen Feldes antizipiert der Verfasser eine gesellschaftliche Situation, in der sich die Adressatinnen und Adressaten als Fremde erfahren. Was das genau bedeutet und welches Angebot einer neuen Identitätskonstruktion er dieser Erfahrung positiv entgegenstellt, soll im Folgenden gezeigt werden.
2.
Situationsbeschreibung: Die Leiderfahrung der intendierten Adressatinnen und Adressaten
Wie gesehen, sind die Fremdheitsbegriffe aufgrund ihrer exponierten Stellung am Anfang des Schreibens für den ersten Petrusbrief zentral. Welche Rückschlüsse sie auf die Situation der intendierten Adressatinnen und Adressaten zulassen, wird jedoch kontrovers diskutiert. In einem Punkt herrscht relative Einigkeit: Mit Πόντος, Γαλατία, Καππαδοκία, Ἀσία καὶ Βιθυνία, die wohl als römische Provinzbezeichnungen interpretiert werden können,41 steckt der Verfasser in 1 Petr 1,1 einen geographischen Raum ab, der von Nordosten bis Nordwesten fast das gesamte Gebiet Kleinasiens umfasst.42 Weil der mit der Septuaginta zutiefst vertraute Briefautor mehrfach auf die heidnische Herkunft der Adressatinnen und Adressaten anspielt,43 ist davon auszugehen, dass die Angeschriebenen in der Mehrheit 39 40
41 42
43
Klein, Bewährung, 30. Βαβυλών weckt für alttestamentlich geprägte Leserinnen und Leser Erinnerungen an die Existenz im Exil und kann als Chiffre für das Leben in der Diaspora bzw. in der Fremde verstanden werden, vgl. Baum, Ortsnamenmetapher, bes. 217f.; diese metaphorische Aufladung gilt unabhängig von der viel diskutierten Frage, ob mit Babylon die Ortsgemeinde von Rom gemeint sein könnte; zur Forschungsdiskussion vgl. nur Horn, Petrusschule, 3–20. Zumindest hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang, dass 1 Petr im in Rom verfassten Kanon Muratori fehlt. S. o. Anm. 7. Interpretationen der Reihenfolge der aufgezählten Provinznamen bleiben meines Erachtens unzulänglich, wenn man mit Guttenberger davon ausgeht, dass der Autor nur über begrenzte geographische Kenntnisse verfügte (s. o. Anm. 7); damit bleibt die Einschätzung von von Harnack aktuell, dass die Anordnung eines tieferen Sinns entbehre, vgl. von Harnack, Chronologie, 460; ebenso Klein, Bewährung, 261f.; Schmidt, Mahnung, 196. Dass der Brief tatsächlich in Kleinasien ankam, bestätigt im 2. Jahrhundert Polykarp, der ihn zitiert (Einzelbelege der Zitate bei Feldmeier, 1 Petr, 29 Anm. 156). Vgl. 1 Petr 1,14.18; 2,10; 3,6; 4,3f.
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Heidenchristen waren.44 Die Tatsache nun, dass sich der Verfasser mithilfe eines Rundschreibens an die in ganz Kleinasien verstreuten Christinnen und Christen wendet, legt eine erste Dimension von Fremdheit offen: An ihren jeweiligen Wohnorten45 lebten die Christusgläubigen als kleine Minderheiten in der Majoritätsgesellschaft, wussten sich aber mit den Schwestern und Brüdern in der Ferne verbunden, so dass sich ein beginnender überregionaler Zusammenschluss nahelegt (vgl. 1 Petr 5,9).46 Verstärkt wurde die Selbsterfahrung der Christinnen und Christen als Fremde oder Außenseiter durch negative Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft, die sich im ersten Petrusbrief deutlich spiegeln.47 Dabei stehen vor allem Anfeindungen von Personen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld (οἶκος und πόλις) im Vordergrund, die über das als asozial empfundene Verhalten ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger „befremdet“ (ξενίζομαι) waren, wie es in 1 Petr 4,4 heißt. Waren die Christinnen und Christen früher offenbar ein unauffälliger Teil der paganen Gesellschaft, sagten sie sich mit der Bekehrung (1,12) von ihrem alten Leben los und verfolgten fortan einen „heiligen Lebenswandel“ (1,15).48 Das Befremden der Gesellschaft gegenüber diesem Sinnes- und Verhaltenswechsel äußerte sich in üblen Verleumdungen (καταλαλοῦσιν ὑμῶν ὡς κακοποιῶν, 2,12), Beschimpfungen, Schmähungen (2,23; 3,9; 3,16; 4,14), Lästerungen (4,4) oder dem Versuch der Einschüchterung (3,6). Es handelte sich somit wohl vor allem um soziale Stigmatisierungen, die sich in verbaler Gewalt ausdrückten. Unklar bleibt dabei, ob die Christinnen und Christen diese Schmähungen direkt erdulden mussten oder ob ihnen gleichsam hinter vorgehaltener Hand allerlei üble Dinge nachgesagt wurden.49 Man geht wohl nicht fehl, wenn man beide Varianten als Erfahrungshintergrund annimmt. 44
45
46 47
48 49
Vgl. nur Achtemeier, 1 Peter, 50–58.69–73. Ob sie ehemals Proselyten waren, wie etwa van Unnik, Christianity, 79–83 postulierte, kann nicht mehr abschließend geklärt werden; instruktiv zu dieser Frage auch Seland, Paroikos, 39–78; zur Auseinandersetzung mit der These von Ben Witherington III vgl. Seland, Issues, 45–57. Die Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger vermutet, dass die Christinnen und Christen im städtischen Gebiet zu verorten sind; es gibt aber auch Stimmen, die aufgrund des Fehlens der Erwähnung von Städten und des paulinischen Konzepts der ἐκκλεσία in 1 Petr christliche Landbevölkerung vermuten, vgl. etwa Elliott, 1 Peter, 90: „The predominantly rural feature of the provinces other than Asia and the absence of any mention of cities point to the rural location of the letter’s addressees, who formed pockets of households dispersed across the landscape of Asia Minor. […] This marks 1 Peter as a notable exception to the generalization that early Christianity everywhere constituted an ‘urban’ phenomenon.“ Ähnlich auch van Rensburg, Code, 477 Anm. 651.480f. Vgl. Müller, Diaspora, 11. Vgl. dazu jedoch die Mahnung von Vahrenhorst, 1 Petr, 19: „Dabei muss angemerkt werden, dass die Grenze zwischen gespiegelter und gedeuteter Erfahrung schillernd ist […].“ Vgl. Schmidt, Mahnung, 192. Vgl. Vahrenhorst, 1 Petr, 20; vgl. Vahrenhorst, Leiden, 61f.
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Entscheidender ist aber, dass sie all dies nur erleiden mussten, weil sie Christusgläubige waren (ὡς Χριστιανός, 4,1650; ἐν ὀνόματι Χριστοῦ, 4,1451). 1 Petr 3,14 formuliert es so: Die Adressatinnen und Adressaten des Schreibens müssen leiden „wegen [der] Gerechtigkeit“ (διὰ δικαιοσύνην), was im gegebenen Kontext bedeutet: Sie müssen leiden aufgrund ihrer christlichen Lebensführung.52 Der Aspekt des Leidens spielt eine zentrale Rolle in der Beschreibung der Situation der Angeschriebenen: Sie leiden – im Gegensatz zu den Übeltätern (2,20; 3,17; 4,15) – unverdient (πάσχειν, 2,19) als Täter des Guten (2,20b; 3,17) und als Christusgläubige (4,16) um der Gerechtigkeit willen (3,14) und darin dem Willen Gottes entsprechend (4,19);53 sie ertragen Betrübnisse (λυπεῖσθαι, 1,6; ὑποφέρειν λύπας, 2,19) und geraten in Versuchung (πειρασμός, 1,6; 4,12).54 Die Bedrohungslage bleibt in diesen Beschreibungen allerdings relativ abstrakt. Ob sich darum die skizzierte verbale Gewalt auch in handgreiflichen und/oder gerichtlichen Auseinandersetzungen entlud, ist schwer zu entscheiden. Der stereotype Begriff κακοποιός, der mehrfach und in verschiedenen Formen im ersten Petrusbrief begegnet,55 könnte Letzteres nahelegen.56 Blickt man nämlich weniger auf die Etymologie als auf die antiken Konnotationen, die mit dem Begriff einhergehen, gerät der Terminus in die Nähe von „kriminell“57. Es ist also durchaus damit zu rechnen, dass die Christinnen und Christen gerichtlichen Verfahren ausgesetzt waren: Ihr Leiden „im Namen Christi“ (4,14) wäre dann dem Leiden der ‚Verbrecher‘ gegenübergestellt, für das sie sich – im Gegensatz zu den gewöhnlichen
50 51 52 53 54 55 56 57
Dies ist der früheste Beleg für die Selbstbezeichnung Χριστιανός; vgl. dazu Horrell, Label, 361–381. Vgl. aber auch Apg 11,26. Zur Textkritik vgl. Schmidt, Brief, 85 Anm. 26. Vgl. Holloway, Prejudice, 66; vgl. auch 1 Petr 3,16. Vgl. Vahrenhorst, Leiden, 64. Vgl. Sigismund, Identität, 180. Das Adjektiv κακοποιός begegnet in 1 Petr 2,12.14 und 4,15; das Verb κακοποιέω in 3,17; in 3,13 (vgl. 3,10.11) findet sich κακόω. Ähnliches wird auch für die „Schläge“ (κολαφίζειν) in 1 Petr 2,20 und die „Feuersglut“ (πύρωσις) in 4,12 erwogen, vgl. Holloway, Prejudice, 70f. So Holloway, Prejudice, 67f. gegen die Mehrheitsmeinung; ebenso Molthagen, Lage, bes. 446f. Unterstützt wird diese Lesart durch den Petrusbrief selbst: In 1 Petr 2,13f. ist von den Statthaltern die Rede, die vom Kaiser als Autoritäten ausgesandt wurden, um die κακοποιοί zu bestrafen; in 4,15 steht der κακοποιός unmittelbar neben dem Mörder und dem Dieb. Vgl. auch Brox, 1 Petr, 113: „Die Christen werden, weil sie Christen sind, als Übeltäter […], als Kriminelle diffamiert.“ Dies erinnert an die Bezichtigung der Christinnen und Christen als Verbrecher durch die stadtrömische Bevölkerung unter Nero, wie sie von Tacitus überliefert wird, vgl. Tac. Ann. 15,44,2; vgl. für das frühe 2. Jahrhundert Plin. ep. 10,96,7f., wo es um Diebstahl, Raub, Ehebruch und Betrug als Anklagepunkte gegen die Christusgläubigen ging, für die Plinius jedoch keine Anhaltspunkte finden konnte.
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κακοποιοί – nicht zu schämen brauchten.58 Das von ihnen eingeforderte „Rechenschaft ablegen“ (πρός ἀπολογία […] λόγον αἰτεῖν, 3,15b) könnte ebenfalls auf einen Gerichtskontext verweisen.59 Dass die Christinnen und Christen im Römischen Reich schon im 2. Jahrhundert vor Gericht gebracht wurden, zeigt etwa der bekannte Brief des Statthalters von Bithynien und Pontus, Plinius des Jüngeren, welcher im Jahr 111 oder 112 n. Chr. an Kaiser Trajan schrieb, um sich zu versichern, ob er in der Christenfrage richtig gehandelt habe (Ep. 10,96). Die Korrespondenz (Ep. 10,96f.) belegt, dass es zu dieser Zeit in Kleinasien und damit im Gebiet der Empfänger des ersten Petrusbriefes Prozesse gegen Christusgläubige gegeben hat (Cognitionibus de Christianis interfui numquam, Ep. 10,96,1); es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dies nicht nur für den Zuständigkeitsbereich des Plinius galt.60 Somit hat Feldmeier meines Erachtens nach wie vor mit seiner Analyse Recht, wenn er schreibt: „[…] die Selbstverständlichkeit, mit der etwa Plinius aufgrund der Anzeigen aktiv wird und die Christen (trotz ihrer von ihm selbst festgestellten Unschuld, was die ihnen vorgeworfenen moralischen und politischen Verbrechen anlangt) nach dreimaligem Befragen ohne weiteres hinrichten läßt – dies alles warnt davor, die Rolle der verschiedenen staatlichen Organisationen einschließlich der Stadtmagistrate in diesen Auseinandersetzungen zu verharmlosen.“61
Der Verfasser des ersten Petrusbriefes hat also zumindest mit der Möglichkeit gerechnet, dass es zu einem Vorgehen der römischen Behörden gegen die Angeschriebenen kommen konnte. Von flächendeckenden staatlich organisierten Verfolgungsmaßnahmen oder Pogromen (vgl. 1 Petr 5,9), wird man jedoch kaum ausgehen können, da nicht nur entsprechende termini technici (wie etwa διωγμός / διώκειν, θλῖψις, φυλακή oder δέσμιος) im ersten Petrusbrief fehlen, 58 59
60
61
Vgl. Molthagen, Lage, 446–448. Im formellen Kontext von Gerichtsverfahren begegnet ἀπολογία in Apg 25,16; 2 Tim 4,16; eventuell Phil 1,7.16. Als „Rechenschaft geben“ z. B. in Apg 22,1; 1 Kor 9,3. Da die Christusgläubigen aber jedem, der sie fragt, und zwar immer über den Inhalt ihres Glaubens Rechenschaft geben sollen, erscheint ein gerichtlicher Kontext keineswegs die einzige Stoßrichtung von 1 Petr 3,15 zu sein, vgl. Vahrenhorst, 1 Petr, 149. Vgl. Molthagen, Cognitionibus, 112–140. Auch wenn sich die Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger des ersten Petrusbriefes der These Molthagens nicht anschließt, erscheinen seine Beobachtungen zu Plin. Ep. 10,96f. aufschlussreich. Zwar zeigen sich in der Korrespondenz ein gewisses Nichtwissen und eine Unsicherheit in Bezug auf die Prozessführung gegen die Christusgläubigen, aber alleine, dass er ohne Zusätze die cognitiones de Christianis erwähnt, lässt darauf schließen, dass sie ihm sowie Trajan und seiner Kanzlei geläufig sind, vgl. Molthagen, Cognitionibus, 114. Dabei aber dann anzunehmen, dass die Präfekten nach eigenem Gutdünken Hinrichtungen anordneten, widerspricht den Regeln für die Amtsführung von Provinzstatthaltern. Anders ist die Einschätzung, wenn man die Korrespondenz streng im Hinblick auf ihren literarischen Duktus und ihre Intention hin untersucht, wie es Angelika Reichert vorgeschlagen hat, vgl. Reichert, Konfusion, 227–250. Die Rechtslage bleibt unübersichtlich und kann der Korrespondenz des Plinius nicht alleine entnommen werden, zumal schon länger gesehen wurde, dass sich Plinius bei seiner Darstellung der Christenprozesse an Livius orientierte, vgl. Schmidt, Brief, 84 mit Literatur. Feldmeier, Fremde, 109f.
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sondern sich überregionale Verfolgungen für die ersten beiden Jahrhunderte anhand von Quellen nicht sicher nachweisen lassen – auch nicht unter dem wegen seiner Grausamkeit verhassten Kaiser Domitian.62 Erst seit Decius (Opferedikt) und Valerian (Versammlungsverbot für Christen) in der Mitte des 3. Jahrhunderts können systematische Christenverfolgungen zweifelsfrei belegt werden.63 Der erste Petrusbrief bietet einige Anhaltspunkte für die Gründe der erfahrenen Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft, die im Verhalten der Christinnen und Christen selbst zu suchen sind.64 So betrachteten sie sich etwa als „losgekauft“ aus dem „nichtigen väterüberlieferten Lebenswandel“ (ἐλυτρώθητε ἐκ τῆς ματαίας ὑμῶν ἀναστροφῆς πατροπαραδότου, 1 Petr 1,18). Die Verbindung des Verbs λυτρόειν mit der Präposition ἐκ weckt biblische Assoziationen an den Exodus65 oder an die Errettung aus einer Notlage66 und steht im Profangriechischen für den Loskauf aus Sklaverei oder Gefangenschaft.67 Der Lebenswandel, aus dem die Christinnen und Christen nach 1 Petr 1,18 durch ihre Berufung herausgenommen wurden, wird in einem Atemzug als „nichtig“ (μάταιος) und als „väterüberliefert“ (πατροπαράδοτος) bezeichnet. In dieser Art mit den überlieferten antiken Wertvorstellungen und dem Gesellschaftsvertrag sowohl im paganen wie im religiösen Bereich zu brechen, musste zwangsläufig Unverständnis und Misstrauen nach sich ziehen. In der gesamten antiken Welt hatte die ‚Überlieferung der Väter‘ einen positiven Klang und gehörte zusammen mit der offiziellen Religion im Römischen Reich zur geistigen Grundlage der Gesellschaft und der Staatsidee. Überall dort, wo dem mos maiorum und der Religion der Väter nicht die gebührende 62
63
64 65 66 67
Vgl. Molthagen, Lage, 426: „Geht man Eusebs Verweis auf nichtchristliche Zeugnisse nach und befragt die uns erhaltenen griechisch-römischen Autoren, so findet sich bei ihnen nirgends ein expliziter Hinweis, daß Domitian gegen die Christen vorgegangen sei, und auch indirekt läßt sich dies ihren Angaben nicht entnehmen.“ Molthagen benennt dann allerdings den ersten Petrusbrief als eigenständigen Kronzeugen für die Frage nach der domitianischen Christenverfolgung und beantwortet sie positiv: Er spricht von einer in 1 Petr erkennbaren „allgemeinen Kriminalisierung“ der Christinnen und Christen, die sich nicht auf die zufällige Praxis einzelner Statthalter zurückführen lasse, sondern das Ergebnis einer kaiserlichen Initiative sei, das Christsein unter Strafe zu stellen, vgl. Molthagen, Lage, bes. 454f. Anders allerdings Williams, Persecution, 218–226, der die neronianische Verfolgung als „turning point“ im Umgang mit den Christinnen und Christen ansieht; Williams, Persecution, 221: „Following this event [sc. the Neronian persecution], the confession of Christianity came to be treated as a punishable offense in a Roman court of law.“ Vgl. nur Feldmeier, Fremde, 105–132; Achtemeier, 1 Peter, 33; Brox, 1 Petr, 27f.; Vahrenhorst, 1 Petr. 20; Klein, Bewährung, 357f.; Schmidt, Mahnung, 192f.; Sigismund, Identität, 180f.; Popp, Konvivenz, 108. Vgl. dazu bes. Vahrenhorst, Leiden, 66–69. Dtn 7,8; 1 Chr 17,21 LXX. Ψ 102,4; 106,2. Vgl. den Loskauf der Sklaven durch Gold und Silber bei Jos. Ant. 12,28.33.46; 14,107.317 u. ö.
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Achtung entgegengebracht wurde, hatte jede römische Toleranz ein Ende.68 Die maiores, auf welche alle staatlichen, religiösen und privaten Einrichtungen zurückgeführt wurden, galten als verehrungswürdig und unveränderbar.69 Es war somit erwartbar, dass die Christinnen und Christen aufgrund der im ersten Petrusbrief empfohlenen Verhaltensweise von außen angefeindet wurden. Auch 1 Petr 4,4 weist auf eine starke Distanzierung von der Gesellschaft hin. Während sich die Christinnen und Christen offenbar vor ihrer Bekehrung noch erwartungsgemäß und wie alle anderen verhielten – in Form eines Lasterkatalogs wird dieses ehemalige Verhalten negativ extrem überzeichnet (4,2f.) – „laufen“ sie nun nicht mehr mit „in diesem Strom der Zügellosigkeit“ (μὴ συντρεχόντων ὑμῶν εἰς τὴν αὐτὴν τῆς ἀσωτίας ἀνάχυσιν, 4,4), was nichts anderes heißt, als dass sie fortan nach eigenen Wertvorstellungen lebten. Aufgrund ihres neuen Glaubens hatten sie sich an den Rand der Gesellschaft begeben und von den weltlichen Ordnungen distanziert.70 Es verwundert nicht, dass sie von der Außenwelt als zutiefst Fremde, mehr noch: als fremde Bedrohung wahrgenommen wurden, da für sie der bisherige Gesellschaftsvertrag nicht mehr in allen Teilen gültig war. Sie bildeten eine Kontrastgesellschaft inmitten der sie umgebenden Bevölkerung, womit soziale Konflikte vorprogrammiert waren. In einer für die Antike unverständlichen Exklusivität banden sich die Christinnen und Christen an ihre eigene Religion – auf Kosten der Gemeinschaft und der Stabilität des Reiches. In diesem Sinne – und das ist die Pointe von 1 Petr 1,1 – lebten sie in einer inneren Emigration, obgleich sie sich territorial durchaus noch in ihrer irdischen Heimat aufhielten. Dies korrespondiert mit dem Selbstverständnis der Christusgläubigen in den ersten Jahrhunderten, wie es etwa der Diognetbrief (5,5) formuliert: „Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber wie Fremdlinge (ὡς πάροικοι); sie haben an allem Anteil wie Bürger (ὡς πολῖται), und alles erdulden sie wie Fremde (ὡς ξένοι). Jede Fremde ist für sie Vaterland und jedes Vaterland Fremde.“
3.
Identitätskonstruktion: Bewältigungsstrategien des ersten Petrusbriefes
Die Bestimmung des Lebenskontextes der Adressatinnen und Adressaten des ersten Petrusbriefes ist der Hintergrund, vor dem nun die Bewältigungsstrategien zu erhellen sind, die der Autor des Schreibens für die diskriminierten und angefochtenen Christinnen und Christen entwickelt. Welchen Interpretations68 69 70
Vgl. Feldmeier, Fremde, 116; Feldmeier, Avantgarde, 165. Vgl. Vahrenhorst, Leiden, 67. Vgl. Wolff, Christ, 340; Bieberstein, Überlebensstrategien, 140.
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rahmen bietet der Brief den Angeschriebenen als Ersatz für die verlorene Anerkennung in der Gesellschaft an? Und inwiefern trägt dies zur Identitätskonstuktion der frühchristlichen Gemeinden bei? Folgende Aspekte sind meiner Ansicht nach für die positive Umdeutung der negativen Erfahrungen besonders hervorzuheben.
3.1
Der theologische Grund der Fremdheit: Die neue Identität der christlichen Gemeinden
Zunächst ist festzuhalten, dass der erste Petrusbrief die Leiderfahrung der Angesprochenen nicht als tragischen Sonderfall, sondern als integrativen Bestandteil des christlichen Lebens versteht.71 Dies wird bereits im ersten Vers des Präskripts deutlich, wo die Christusgläubigen nicht einfach nur als παρεπίδημοι, sondern als ἐκλεκτοί παρεπίδημοι bezeichnet werden (1 Petr 1,1; vgl. auch inkludierend 2,9: γένος ἐκλεκτόν und 5,13: συνεκλεκτή). Die Repressalien auslösende Fremdheitserfahrung der Christinnen und Christen wird damit nicht als negatives Differenzkriterium verstanden, sondern positiv als die Kehrseite derselben Medaille: Wer fremd ist, ist dies aufgrund seiner besonderen Gottesbeziehung, die in der Erwählung gründet. Aussonderung durch Gott und Ausgrenzung durch die Gesellschaft bedingen einander.72 Wendet man es auf diese Weise, liegt der Akzent nicht auf der soziologischen Erfassung des Minderheitendaseins, sondern auf deren theologischer Begründung: „Fremde sind die Adressaten nicht erst durch die Reaktion der Bevölkerungsmehrheit, sondern als die von Gott Erwählten.“73 Als „auserwähltes Geschlecht“ (γένος ἐκλεκτόν, 2,9) gehören die Christinnen und Christen zum Volk Gottes (1 Petr 2,4–10), das sich als solches erkennbar anders verhält als andere Völker. Diese Abgrenzung wiederum führt zu den beschriebenen Leiderfahrungen, die als christliches Proprium identitätsstiftend gedeutet werden und eine bleibende Herausforderung darstellen: „Die Verfolgung resultiert aus der Nachfolge; die Nachfolge bewährt sich in der Verfolgung.“74 Reinhard Feldmeier konnte zeigen, dass der erste Petrusbrief mit seiner positiven Deutung der Fremdheit auf eine schmale biblische und frühjüdische Traditionslinie zurückgreift,75 so dass sich die Adressatinnen und Adressaten des Schreibens heilsgeschichtlich in bester Gesellschaft befinden. Indem die aktuelle Fremdheitserfahrung mit den Fremdheitserfahrungen
71 72 73 74 75
Vgl. Sigismund, Identität, 182. Vgl. Feldmeier, 1 Petr, 34. Molthagen, Lage, 440. Sigismund, Identität, 183. Vgl. Feldmeier, Fremde, 39–74; komprimiert in Feldmeier, 1 Petr, 34f. Auch in den Schriften von Qumran (bes. CD 4,4–6; 1QM 1,2f) und besonders intensiv bei Philon (etwa Cher. 121; Conf. 75–82; QGen 4,39) begegnet diese Tradition.
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biblischer Generationen in Beziehung gesetzt wird, erfährt sie eine theologische Deutung. Dadurch kann der auf der Oberfläche als gesellschaftlicher Makel wahrgenommene Fremdlingsstatus zu einem entscheidenden Moment gläubiger Identitätsstiftung werden: Erwählungsgedanke und Fremdheitserfahrung werden reziprok aufeinander bezogen. Es wird vermutlich nicht wenige Neubekehrte gegeben haben, die angesichts der sozialen Entwurzelung und gesellschaftlichen Leiderfahrung ihre Konversion in Frage stellten. Gerade aufgrund der dramatischen und existentiellen Konsequenzen, die der Weg in die Christusnachfolge mit sich brachte, versucht der Verfasser des Briefes ein „alternatives Beheimatungskonzept anzubieten“76. Dies ist nicht zuletzt die Funktion der Textpassage 1 Petr 2,4–10, die aus einer vom Verfasser angereicherten Zitatenkombination (2,6–8 und 2,9f.) besteht, welche um die Motivik von „Stein“ (V. 6–8) und „Volk Gottes“ (V. 9f.) kreist und durch 2,4f. inhaltlich vorbereitet und interpretiert wird.77 Christus ist der „auserwählte, kostbare Eckstein“ (1 Petr 2,6 vgl. Jes 28,16), ein festes Fundament für den Glaubenden, der „nicht beschämt“ wird, wenn er sich an ihn hält; wer jedoch nicht an Christus glaubt, für den wird er zum Stein, den die Bauleute verworfen haben (1 Petr 2,7b vgl. Ψ 117,22), zum Stein des Anstoßes, der sie zu Fall bringt (1 Petr 2,8 vgl. Jes 8,14).78 Die stark christozentrische Fokussierung dieser Verse steht ganz im Dienst der Ekklesiologie des ersten Petrusbriefes: Christus ist sozusagen der Prototyp des Erwählten und sozial Abgelehnten, in dessen Schicksal die christlichen Gemeinden mit hineingenommen werden.79 Den Erwählten werden in 1 Petr 2,9f. in überaus „feierlicher Diktion“80 als kollektive Identität vier ethnische Zuschreibungen attestiert: γένος, ἱεράτευμα, ἔθνος und λάος. Auch wenn die erste Titulierung in dieser Reihe eine Prioritätsstellung einnimmt,81 sind dies allesamt prominente Epitheta Israels, mit deren Hilfe nun die neue ethnisch-kulturelle Identität konstruiert wird.82 Durch diese theologische Neudefinition ihrer Identität werden die Adressatinnen und Adressaten angesichts der zu erleidenden Herabwürdigungen durch die sie umgebende Sozialgemeinschaft aufgewertet und in ihrem Selbstbewusstsein
76 77 78
79 80 81 82
Klein, Bewährung, 400. Vgl. dazu Hotze, Priesterschaft, 115–118; Schmidt, Kult, 246–252. Die Zitatenkombination von Ψ 117 und Jes 28 verknüpft die Exklusionserfahrung mit der Zuschreibung von Erwählung, was für die Frage nach der Identitätskonstruktion entscheidend ist, vgl. Guttenberger, Teilhabe, 116. Zur Übernahme der alttestamentlichen Motive vgl. auch Achtemeier, 1 Peter, 154; Elliott, 1 Peter, 409f.; Herzer, Paulus, 147–149. Vgl. Guttenberger, Passio, 33. Guttenberger, Teilhabe, 116. Vgl. Schmidt, Kult, 251. Guttenberger, Teilhabe, 115; vgl. auch Horrell, Race, 123–143.
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gestärkt;83 zugleich wird die ihnen zugeschriebene Rolle als christliches Volk Gottes in der Welt skizziert.84 Für die Entwicklung frühchristlicher Identität spielt der erste Petrusbrief somit eine herausragende Rolle. Anders als Angehörige des Volkes Israel geraten die Christinnen und Christen nicht aufgrund ihrer Geburt, sondern erst durch Neuzeugung und Wiedergeburt in die oben beschriebene leidvolle Diasporasituation.85 Dabei geschieht die Zeugung durch das lebendige Wort Gottes (1,23) und wird in der Verkündigung des Evangeliums konkretisiert (1,24).86 Auch 1 Petr 2 setzt mit der Metaphorik von Neugeburt, Aufwachsen und Milchtrinken ein (2,2), womit das „Thema der Entwicklung einer neuen Identität“87 schön ins Wort gebracht wird: Aus dem genealogischen ‚Nicht-Volk‘ wird durch Erwählung „Gottes Volk“ (2,10)88. Dies ist zum einen insofern von Bedeutung, als dass die Geburt eine der Möglichkeiten war, in der Gesellschaft Status und Ehre zu erlangen,89 zum anderen, weil die Christusgläubigen auf diese Weise fest in der Heilsgeschichte verankert werden.90 Als „lebendige Steine“ (λίθοι ζῶντες) werden die Angeschriebenen in Form eines „geisterfüllten Hauses zu einer heiligen Priesterschaft“ (vgl. Ex 19,6) erbaut (οἰκοδομεῖσθε91 οἶκος πνευματικὸς εἰς ἱεράτευμα ἅγιον), die „geistliche Opfer“ darbringt (2,5). Es ist mit Lutz Doering wohl kaum zu bestreiten, dass eine einseitige Deutung von 1 Petr 2,5 auf den „Haushalt“, wie sie Norbert Brox und John H. Elliott vorschlagen, zu kurz greift.92 Vielmehr scheint eine Anspielung auf den Jerusalemer Tempel durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen.93 Damit würde 83
84 85
86 87 88 89
90 91 92 93
Das Moment der Aufwertung liegt bereits in der Verwendung von ἐκλεκτός, das auch die Bedeutung von „ausgewählt“ oder „kostbar“ tragen kann, vgl. Jer 3,19; Sir 24,15 u. a., vgl. Klein, Bewährung, 407. Vgl. Klein, Bewährung, 403. Vgl. Doering, Volk, 91; ausführlich zum letztgenannten Aspekt Feldmeier, Wiedergeburt, 75–99; Elliott, 1 Peter, 331–333; Seland, Paroikos, 39–78, zieht zum Vergleich die Proselyten heran. Vgl. Guttenberger, Passio, 27. Guttenberger, Teilhabe, 116. Vgl. Hos 1,6.9; 2,2.25. So Bieberstein, Überlebensstrategien, 141: „Durch die Vorstellung einer Neugeburt werden die überkommenen Statusfestlegungen der Gemeindemitglieder aufgehoben und durch neue ersetzt. Der neue Status aber wird nicht durch Menschen, sondern durch Gott selbst verliehen […].“ Vgl. Söding, Grüße, 42. Zur medialen Übersetzung von οἰκοδομεῖσθε (Imperativ Medium oder Indikativ Präsens) mit „lasst euch erbauen!“ vgl. Schmidt, Kult, 248f. Insbesondere Elliott, Home, macht die οἶκος-Metaphorik zum Zentrum seiner sozialgeschichtlichen Auslegung des ersten Petrusbriefes. Besonders in der Septuaginta steht häufig οἶκος anstelle von ναός für den Tempel, vgl. Doering, Volk, 95 Anm. 67 (mit Belegen). Doering verweist bei seiner Argumentation darauf, dass ein Haushalt eben nicht aus Steinen bestehen würde, weder aus toten noch aus lebendigen, und dass die Rede vom Eckstein (Jes 28,16) einen Bezug zum Zion aufweist; auch die Metaphorik von der Priesterschaft und den Opfern passe bestens
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der Israelbezug nochmals verstärkt; von einer Verdrängung oder Ablösung der Juden durch den ersten Petrusbrief kann somit in keiner Weise gesprochen werden.94 Vielmehr wird der Zuspruch, erwähltes Volk Gottes zu sein, ohne jedwede Verwerfung des ersterwählten Volkes Israel formuliert: die Trennungslinie verläuft zwischen Glaubenden (τοῖς πιστεύουσιν) und Ungläubigen (ἀπιστοῦσιν, 2,7b) – unabhängig von ihrer jeweiligen ethnischen Prägung.95 Die christologischen und ekklesiologischen Aussagen von 1 Petr 2,4–10 fußen, wie gesehen, auf dem Gedanken der Erwählung. Dabei helfen die korporativen Motive von Hausbau und Gottesvolk dabei, die Christinnen und Christen zu einer neuen sozialen Größe zusammenzufügen, so dass sie ein „Alternativmodell zu den brüchig werdenden Bindungen der Polis und des Familienverbandes darstellen“96. Anerkennung empfangen die Berufenen eben nicht durch Menschen, seien sie gesellschaftlich auch noch so hochstehend, oder bedeutend für die bestehende Werteordnung, sondern einzig und allein von Gott.97
3.2
Das Leben in der Fremde: Das Weltverhältnis der christlichen Gemeinden
Zwar werden das elitäre Selbstbewusstsein und die hohe Würde der christlichen Gemeinden durch die Anhäufung von alttestamentlichen Ehrenprädikaten unterstrichen; doch bedeutet dies keineswegs eine Abschottung des „geisterfüllten Hauses“ nach außen.98 Bereits in 1 Petr 1,15f. wird deutlich hervorgehoben, dass die Erwählung nicht nur als Indikativ zu verstehen ist, sondern einen Imperativ beinhaltet: Die Christusgläubigen sollen durch ihren Lebenswandel (ἀναστροφή)99 Zeugnis geben von der Heiligkeit dessen, der sie berufen hat. Abschottung von der Außenwelt und Rückzug in die christliche Binnenwelt der Gemeinden, die ja auch eine mögliche Bewältigungsstrategie angesichts der Repressalien wären, liegen – anders etwa als in den Johannesbriefen – nicht im Fokus des ersten Petrusbriefes. Die innere Fremdheit verschließt somit nicht die Hinwendung zur Welt, sondern erschließt sie: Es gehört gleichsam zur inneren Definition christlicher Existenz, sich in und zur Welt zu verhalten und den eigenen Lebenswandel durch „gute Taten“ (2,12) nach außen hin sichtbar zu machen.
94 95 96 97 98 99
zum Verständnis des Baus als Anspielung auf den Tempel, Doering, Volk, 95f. Ebenso auch Guttenberger, Passio, 32. Vgl. Söding, Grüße, 41f. Vgl. Doering, Volk, 108f.; Klein, Bewährung, 401; Achtemeier, 1 Peter, 72. Klein, Bewährung, 406. So prägnant Bieberstein, Überlebensstrategien, 143; ebenso Popp, Theologie, 199. Klein, Bewährung, 406. Vgl. auch 1 Petr 1,18; 2,12; 3,1f.16.
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Die Forderung, Gutes zu tun, kann dabei als Leitmotiv im Umgang mit der nichtchristlichen Umwelt verstanden werden, was sich durch die Häufung der entsprechenden Lexeme ausdrückt: Das Verb ἀγαθοποιέω (1 Petr 2,15.20; 3,6.17), das Nomen ἀγαθοποιΐα (4,19) sowie das Adjektiv ἀγαθοποιός (2,14) – ein Hapaxlegomenon – begegnen besonders oft. Dazu kommen Wendungen, die mit ἀγαθός formuliert werden (3,11.13.16). Fast alle diese Ausdrücke sind mit Blick auf die Beziehung der christlichen Gemeindemitglieder zu ihren paganen Zeitgenossen formuliert.100 Damit reiht sich der erste Petrusbrief übrigens auch bestens in die Unterweisung griechisch-hellenistischer Moralphilosophie um den Aspekt der καλοκἀγαθία ein und erwies sich in diesem Punkt gerade auch für Außenstehende als anknüpfungsfähig.101
Nachdem im ersten Hauptteil des Briefes (1 Petr 1,3–2,10) als Grund für die Fremdheit der Christinnen und Christen das Verhältnis zwischen Gott und seinen Erwählten genannt wurde, wird im zweiten Teil (1 Petr 2,11–4,11) das Leben in der Fremde, das heißt, das Außenverhältnis der christlichen Gemeinden in den Blick genommen.102 Den konkreten Handlungsanweisungen geht mit 2,11f. eine Art „Grundsatzerklärung“103 oder einfach nur ein „Scharnier“104 voraus, wo der Autor die Adressatinnen und Adressaten wiederholt an ihren Fremdlingsstatus erinnert (παροίκοι καὶ παρεπίδημοι) und sie zugleich ermahnt (Ἀγαπητοί, παρακαλῶ, 2,11), „den fleischlichen Begierden nicht nachzugeben“, das heißt sich der Andersartigkeit ihres bekehrten Lebens gemäß zu verhalten.105 Kommt es aufgrund dieser Andersartigkeit zu Verleumdungen und Anfeindungen, sollen sie diesen mit einem rechtschaffenen Lebenswandel und guten Taten begegnen (2,12). Die Strategie liegt auf der Hand und wirkt in ihrer Einfachheit entwaffnend: Wenn die Christusgläubigen ihrer paganen Umgebung durch deviantes Verhalten negativ auffallen, sollen sie diese Aufmerksamkeit für ein vorbildliches und von der Umwelt als positiv und ehrbar akzeptiertes Verhalten für sich nutzen, um Anerkennung auszulösen.106 Auf geradezu subversive Weise unterlaufen sie so die Anfeindungen und entlarven diese als unbegründet und vorurteilsbehaftet: „Denn so ist es der Wille Gottes“, heißt es in 1 Petr 2,15, „dass ihr durch gute Taten die Unwissenheit der unverständigen Menschen zum Schweigen bringt.“ Dies ist eine Form von missionarischem Engagement, das darauf hinausläuft, im Alltag und ohne viele Worte durch einen überzeugenden („heiligen“) Lebenswandel (1,15; 3,2) auf die Attraktivität des gewählten Lebensentwurfs hinzuweisen. 100 101 102 103 104 105
106
So Münch, Geschwister, 148; Klein, Bewährung, 418. Vgl. Goppelt, 1 Petr, 178. Vgl. Feldmeier, Avantgarde, 173f.; vgl. zur Textpassage Schiefer Ferrari, Suchbewegungen, 155–167. Vahrenhorst, 1 Petr, 110. So Feldmeier, Avantgarde, 174; Schiefer Ferrari, Suchbewegungen, 156. Vahrenhorst, 1 Petr, 111: „Die Begierden repräsentieren alle Lebensbereiche, die nach den Spielregeln der Welt funktionieren. Sie richten sich auf die Werte, die dem mos maiorum entsprechen, also auf alles, was in der Gesellschaft, in der die Glieder der Gemeinden nun Fremde sind, Rang und Namen hat.“ Vgl. Feldmeier, Avantgarde, 175.
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Und es erinnert an die subversive Praxis Jesu, der dazu auffordert, zwei Meilen mit dem zu gehen, der eine verlangt (Mt 5,41), oder dem, der einem den Mantel nimmt, auch noch das Hemd zu lassen (Q 6,29): Das verblüffend provokative Entgegenkommen wird zur Chance, die christliche Fremdheit als positiven Gegenentwurf zu gängigen Wertevorstellungen und Konzepten zu etablieren. Dort, wo das christliche Grundbekenntnis nicht tangiert wird, sollen sich die Gemeindemitglieder akkulturieren, so dass negative Reaktionen der Umwelt nicht unnötig forciert werden. Dies wird in Anlehnung an die griechischrömische Ökonomik-Literatur in tafelartigen Mahnungen (sog. ‚Haustafeln‘) entfaltet. Der Grundtenor der Weisungen ist mit dem Begriff ὑποτάσσομαι gegeben: In 1 Petr 2,13–3,7 ist die Unterordnung die wichtigste Konkretion von ‚Gutes tun‘.107 Die Christusgläubigen sollen sich der geltenden und anerkannten gesellschaftlichen Ordnung unterwerfen (1 Petr 2,13) und sich geradezu durch ein Übermaß an Anpassung auszeichnen.108 Dabei umfasst die Loyalitätsparänese sowohl den Staat als auch das Haus: Auf staatlicher und provinzialer Ebene sollen sich die Christinnen und Christen dem Kaiser bzw. den Statthaltern gegenüber loyal erweisen; im Hauswesen sollen sich die Sklaven ihren Herren und die Ehefrauen den Männern unterordnen (2,18–3,17), das heißt sie sollen die durch den jeweiligen Stand gegebenen Verpflichtungen willentlich erfüllen.109 Dass der Staat ein Unrechtsstaat sein kann, dass der Tatbestand der Sklaverei aus christlicher Sicht zur Reflexion anregen könnte oder für Frauen, die mit nichtchristlichen Männern verheiratet waren, trotz ihrer devoten Haltung eine unerträgliche Spannung zwischen Gemeindeleben und Haushalt entstehen konnte, zieht der erste Petrusbrief nicht in Betracht. Das bestehende Wertesystem hinterfragt er eben nicht, so dass er in der Tat einen schmalen Grat begeht.110 Stattdessen versucht der Verfasser darauf hinzuwirken, dass die Konversion zum Christentum nicht als Verweigerung der bürgerlichen Unterordnungspflicht missverstanden werden kann, was nur zu einer Verschärfung der ohnehin schon prekären gesellschaftlichen Situation geführt hätte. Es geht ihm darum keineswegs um die religiöse Stabilisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sondern um die Möglichkeit des positi-
107 108 109 110
Vgl. Münch, Geschwister, 150f.; auch Wolff, Christ, 339; zum Kontext der Ermahnungen zur Unterordnung vgl. den Exkurs bei Feldmeier, 1 Petr, 102–105. Klaiber, Proexistenz, 140 spricht in Bezug auf die Weisungen des ersten Petrusbriefes von „Strategien konformer Ethik“. Münch, Geschwister, 151. Vgl. Klaiber, Proexistenz, 141: „Der Weg, der so beschritten wurde, war mit Sicherheit nötig, aber er war auch sehr schmal. Denn die Gefahr, daß gesellschaftliche Unterschiede und Herrschaftsstrukturen, die in Christus als überwunden galten, nun doch wieder nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Gemeinde für sakrosankt erklärt werden, lauert als ständige Bedrohung neben ihm.“ Vgl. auch Frankemölle, 1 Petr, 49, der konstatiert: „Eine sozial-ökonomische Revolution lag außerhalb damaliger Denkmöglichkeiten.“
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ven Zeugnisses auch in einer für die Betroffenen unabänderlichen und schwierigen Situation. Im Zentrum steht dabei die missionarische (2,12; 3,1f.) und apologetische (2,15) Wirkung nach außen;111 innerhalb der christlichen Binnengemeinschaft warnt 1 Petr 5,1–4 hingegen vor jedwedem Machtmissbrauch. Eine zentrale Forderung, die das Weltverhältnis der christlichen Gemeinden bestimmen soll, findet sich in 1 Petr 3,9: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, nicht Schmähung mit Schmähung, im Gegenteil: Segnet, denn ihr seid dazu berufen, Segen zu erben.“ Der Verzicht auf Gegenschmähung angesichts der Erfahrung von Bösem ist eine mehr als profilierte Mahnung und greift weisheitliches Spruchgut auf, das sich auch in der Jesustradition und im Corpus Paulinum findet:112 Die Christinnen und Christen sind dazu aufgerufen, die Spirale der Gewalt oder den Teufelskreis der Vergeltung zu durchbrechen. Darin folgen sie dem Vorbild Jesu, der ebenfalls schuld- und sündlos ins Leiden geriet (1 Petr 2,22; 3,18), dieses aber im Gehorsam ertrug (2,23) und auf Widerstand und Vergeltung verzichtete. Nicht zuletzt durch ihr analoges und bewusst gewähltes Verhalten sollen die Christinnen und Christen ihre Fremdheit zum Auslöser werden lassen, der die nichtchristliche Nachbarschaft anregt, nach dem Grund ihres ebenso merkwürdigen wie attraktiven Andersseins zu fragen. In 1 Petr 3,15 liest sich das wie folgt: „Seid immer bereit zur Verteidigung (ἀπολογία) gegenüber jedem, der von euch Rechenschaft (λόγος) über die Hoffnung in euch fordert.“ Dass es überhaupt zu einem solchen verbalen Zeugnis113 kommen kann, ist das Hauptziel der ‚guten Taten‘ im Alltag. Das Anderssein der christlichen Gemeinden wird als Chance verstanden, auf die zugrundeliegenden Motive des eigenen Lebensentwurfes aufmerksam zu machen und dafür zu werben.114 Dabei darf dies nicht als rein taktisches Manöver missverstanden werden; es gehört vielmehr zum Wesen der christlichen Gemeinden, die Praxis des Glaubens als wirksames Zeichen vor den anderen zu begreifen.115 Mit dieser Auskunftsfreudigkeit unterscheiden sie sich übrigens auch elementar von
111 112
113 114 115
Vgl. Feldmeier, 1 Petr, 104. Hier klingen die Mahnungen der jesuanischen Überlieferung aus Mt 5,38–42.44f. (Verzicht auf Vergeltung der 5. Antithese der Bergpredigt) und Lk 6,27f. (Antwort des Segens der Feldrede) an; wörtliche Parallelen gibt es auch im Corpus Paulinum (1 Kor 4,12; Röm 12,14.17; 1 Thess 5,15), vgl. Feldmeier, 1 Petr, 124. Zum Verhältnis von 1 Petr 3,9 zur 5. und 6. Antithese vgl. Metzner, Rezeption, 75–89. Zum möglichen Gerichtskontext s. Anm. 59. Für einen Gerichtskontext plädiert Schmidt, Mahnung, 259. Kritik etwa bei Kampling, Bekenntnisrede, 169f. Anm. 21. Vgl. Feldmeier, Avantgarde, 176. Vgl. Kampling, Bekenntnisrede, 168.
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anderen Geheimbünden wie beispielsweise den Mysterienkulten, in denen die Arkandisziplin zur Selbstverpflichtung und zur inneren Definition gehörte.116 Zieht man diese ausgewählten Beobachtungen zusammen, lässt sich festhalten: Der erste Petrusbrief favorisiert keine spektakuläre Missionsstrategie, die an große charismatische Einzelgestalten gebunden wäre, sondern eine eher leise, individuelle Propaganda von Christinnen und Christen in der Diaspora des Imperium Romanum, die primär durch ihren Lebenswandel überzeugen, darüber hinaus aber stets bereit sind, über die Inhalte ihres Glaubens jedem öffentlich Auskunft zu geben, der sich dafür interessiert.
4.
Schluss
Die Fremdheitserfahrung der christlichen Diasporagemeinden im Kleinasien des ausgehenden ersten Jahrhunderts war von den Christinnen und Christen ebensowenig gezielt gesucht, wie das damit einhergehende Leiden. Dennoch wurde beides zu einer identitätsstiftenden Kategorie, die das Selbst- und Fremdverständnis der Adressatinnen und Adressaten neu prägen sollte. Der Verfasser des Briefes, der sich in einem Rundschreiben an die kleinasiatischen Gemeindemitglieder wendet, schlägt nämlich angesichts der negativen Erfahrungen in und mit der paganen Mehrheitsgesellschaft eine Bewältigungsstrategie vor, die in zwei Richtungen ausstrahlen konnte. Zunächst einmal rät er den Gläubigen, auf die negativen Erfahrungen nicht mit der Abschottung von der Welt und dem Rückzug in den Binnenraum der Gemeinden zu reagieren. Vielmehr verpflichtet er sie dazu, die negative Stigmatisierung, die ursprünglich wohl mit der Fremdbezeichnung Χριστιανοί einherging (vgl. 1 Petr 4,16), zur positiven Selbstcharakterisierung und zum Charisma werden zu lassen (4,10).117 Die Fremdheitserfahrung soll als Chance verstanden werden, das schlechte Image der Christusgläubigen positiv zu wenden, also quasi die „gute Botschaft“ (εὐαγγέλιον) den „üblen Verleumdungen“ (2,12) und Lästerungen (4,4) produktiv entgegenzusetzen. Dies soll nicht nur durch das verkündigte Wort, sondern vorrangig durch die Attraktivität des eigenen Lebensstils geschehen. Die Kehrseite der Medaille ist eine Intensivierung und Akzentuierung der Identität einer Gruppe, die den Titel Χριστιανοί als Ehrentitel trägt. Diese positive Deutung gründet nicht zuletzt darin, dass die Leiderfahrungen nicht aus 116
117
Vgl. Achtemeier, 1 Peter, 234: „Cultural isolation is not to be the route taken by the Christian community. It is to live its life openly in the midst of the unbelieving world, and just as openly to be prepared to explain the reasons for it.“ Vgl. dazu bes. Horrell, Leiden, 127–132; besonders 129: „Die Gläubigen […] sollen den Namen mit Stolz tragen und ihn als ein Mittel ansehen, Gott zu ehren. Sie intensivieren und akzentuieren dadurch ihre Identität als Mitglieder der Gruppe, die diesen Titel ertragen muss.“
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dem Widerspruch zur paganen Mehrheitsgesellschaft abgeleitet werden, sondern aus der Erwählung durch Gott. Das wiederum führt zur Konstruktion und Stärkung einer Identität, die das Leiden positiv als Signum der Nachfolge Jesu und als Teilhabe an seinem Leiden (4,13) zu deuten vermag. Wenn Julia Kristeva, wie eingangs zitiert, das Leben mit dem erkennbar Fremden als Chance begreift, selber ein anderer zu sein,118 öffnet das einen recht klaren Blick auf die Strategien des ersten Petrusbriefes: Die Konfrontation mit den Fremden – in diesem Fall mit den Christinnen und Christen – soll für Außenstehende von Seiten der Christusgläubigen so gesteuert werden, dass die Möglichkeit des Andersseins ernsthaft als positive Möglichkeit in Betracht gezogen werden kann. Damit aber ist die Werbung für den christlichen Glauben zwischen Anpassung und Widerstand ganz konkret im Alltag der Gesellschaft angekommen.
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1.
Verweigerung der verheißenen Ruhe in Hebr 3,7–4,11
Die Jesusanhänger sind Migranten, die wissen, wohin sie ziehen. Dies ist die Kernbotschaft des Hebräerbriefes. Sie sind auf dieser Erde nicht zuhause, sondern ihre Heimat ist im Himmel. Der Verfasser argumentiert diese These anhand einer kunstvollen Auslegung der Hebräischen Bibel. Der Schlüsseltext für die Migration des Volkes Gottes im Hebräerbrief ist Hebr 3,7–4,11. Dies betonte schon Ernst Käsemann 1957 mit seiner programmatischen Schrift „Das wandernde Gottesvolk“.1 Ziel der Glaubenden ist nach Käsemann die himmlische Ruhe und der himmlische Erbteil, doch der Modus, wie dieses Ziel erreicht werden kann, ist die Wanderschaft.2 Das wandernde Gottesvolk wandert als Kultgemeinschaft auf den Himmel und so auf den himmlischen Kult zu. Auf diese Weise verbindet Käsemann das Wanderschaftsmotiv mit der kultischen Perspektive des Hebräerbriefes.3 Parallel zur ausgeprägten Dynamik der Wanderschaft dominieren in Hebr 3,7–4,11 alttestamentliche Zitate zur Ruhe (κατάπαυσις). Käsemann war der Meinung, dass diese „nur den Sinn einer Verankerung“ in der Schrift haben. Die Bedeutung stamme aus anderen Traditionen.4 Im Folgenden wird gezeigt, dass diese Schriftzitate nicht einen oberflächlichen Anker bilden, sondern diesen Text zusammenhalten und das ganze Schreiben semantisch prägen. Sie verweisen in ihrer Verbindung auf Dtn 12 als den zentralen Text der Kultzentralisation und verknüpfen auf diese Weise die Migration und den Himmelskult äußerst eng miteinander. Der Prätext des Hebräerbriefes ist somit die Tora. Diese wird mit Texten aus den Propheten und Schriften verknüpft. Psalm 95 (Ps 94 LXX) spielt dabei eine besonders wichtige Rolle.5 Der Verfasser des Hebräerbriefes braucht die Tora nicht bloß als losen Anknüpfungspunkt für seine Gedanken. Er will auch nicht mit der 1 2 3 4 5
Käsemann, Gottesvolk, 5. Käsemann, Gottesvolk, 18. Käsemann, Gottesvolk, 27–32, bes. 32. Käsemann, Gottesvolk, 44. Zur Entwicklung einer schriftgemäßen Christologie mit Hilfe der Psalmen in Hebr. s. Müller, Funktion, 223–242, bes. 223.241f.
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Tora die Tora überwinden, sondern er schöpft aus dieser eine Auslegung, die für ihn und seine Adressaten normativ ist. In Hebr 3,7–4,11 wird auf der Textoberfläche Ps 95,7–11 und Gen 2,2 zitiert. Nach Psalm 95 verweigert Gott Israel die Ruhe ( )מְנוּחָהals Ziel des Exodus mit einem Schwur. Gen 2,2 bezieht sich auf die große Sabbatruhe, mit der Gott selbst seit der Schöpfung ruht. Die Verbindung beider Zitate suggeriert, dass Gott dem Volk die Teilhabe an seiner großen Sabbatruhe verweigert. Diese Ruhe wäre das eigentliche Ziel des Exodus gewesen. Doch beide Zitate markieren eine Leerstelle: Wenn Gott mit einem Schwur seine Ruhe Israel verweigern muss, dann bedeutet dies, dass diese Ruhe Israel tatsächlich zusteht. Tatsächlich macht der Verfasser deutlich, dass es sich dabei um eine Verheißung Gottes handelt, die immer noch besteht (4,1), da sie sich bis jetzt nicht erfüllt hat (4,6). Diese Argumentation verlangt nach der biblischen Verheißung, in der Gott Israel diese Ruhe garantiert. Diese Verheißung wird nicht explizit zitiert, sondern sie wird mit der Argumentation und den expliziten Schriftzitaten wie eingekreist und grundlegend vorausgesetzt. Anscheinend bildet sie den eigentlichen Hintergrund der Argumentation. Nur in Dtn 12 verheißt Gott selbst dem Volk Gottes die Ruhe ( )מְנוּחָהals Ziel des Exodus. Das Substantiv מְנוּחָהkommt sonst in der Tora nur noch in Gen 49,15 und Num 10,33 vor, jedoch ohne Bezug zur Landnahme und nicht als von Gott zugesprochene Verheißung.6 In Dtn 12,9 findet sich die explizite Verheißung der Ruhe: Dtn 12,9: „Denn ihr seid bis jetzt nicht gekommen zur Ruhe und zum Erbteil, das / die der Herr euch gibt.“
שׁר־י ְהוָה אֱֹלהֶיָך נ ֹתֵ ן ָלְך׃ ֶ ִכּי ֹלא־בָּאתֶ ם עַד־עָתָּ ה אֶל־ ַהמְּנוּ ָחה ְואֶל־ ַהנַּ ֲח ָלה ֲא Der hebräische Satz enthält mehrere Verständnisschwierigkeiten. Wie ist das Partizip נ ֹ ֵת֥ןzu verstehen? Hat Gott ihnen bis jetzt noch nicht Ruhe und Erbteil gegeben, gibt er sie jetzt oder wird er sie in Zukunft geben? Oder hat Gott sie bereits gegeben, aber sie sind bis jetzt noch nicht dorthin gekommen? Bezieht sich ֲאשֶׁרnur auf den Erbteil () ַהנַּ ֲחלָה, wie manche Übersetzungen den Text verstehen oder bezieht es sich sowohl auf die Ruhe ( ) ַהמְּנוּחָהals auch auf den Erbteil? Hat Gott eine oder zwei Gaben versprochen? Wenn er zwei Gaben verheißen hat, stellt sich die Frage, wie sich diese beiden Verheißungen zueinander verhalten? Sind sie deckungsgleich oder können sie zu zwei verschiedenen Zeitpunkten eintreten? Oder mit den Begriffen der Septuaginta gefragt: Wie verhalten sich κατάπαυσις (Ruhe) und κληρονομία (Erbteil) 6
Allen, Numbers, 129–149,142f verweist auf die wichtige Funktion von Dtn 12,8–11 für Hebr 3,7–4,11. Er argumentiert, dass nur in Dtn 12,9 und in Psalm 95 die Ruhe als Substantiv auf das verheißene Land bezogen ist, dass dieses Land hier wie dort mit dem richtigen Kultort unauflöslich verbunden ist, dass im Anschluss an Vanhoye Dtn 12,8–10 tatsächlich schon eine wichtige Quelle für Psalm 95 gewesen ist, und dass hier wie dort die Ruhe Gottes eng mit der von Israel verbunden wird.
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zueinander? Der Hebräerbrief arbeitet mit der Deutungsoffenheit dieses Verses. Der folgende Vers in Dtn blickt auf die Erfüllung dieser Verheißung: Dtn 12,10: „Und ihr werdet hinübergehen über den Jordan und werdet wohnen im Land, das der Herr, euer Gott euch erben lässt, und er wird euch Ruhe schaffen vor all euren Feinden ringsum, und ihr werdet in Sicherheit wohnen.“
Die direkte Folge des Empfangens der Ruhe und des Wohnens im verheißenen Land ist die Kultzentralisation (Dtn 12,11ff). Wenn Gott seine Verheißungen erfüllt hat, dann sollen die Israeliten Gott nur noch an einer einzigen Stätte verehren. Der richtige Kult für die Israeliten ist somit in der Tora unmittelbar mit der Landnahme und der Erfüllung der Ruheverheißung verbunden.
2.
Auslegung von Hebr 3,7–4,11
Ab Hebr 3,7 wird die κατάπαυσις zum Schlüsselwort. Psalm 95,7–11 steht nach der Version der Septuaginta (Ps 94,7–11 LXX) zusammen mit Gen 2,2 im Vordergrund. Damit und durch den weiteren Kontext wird die Verheißung von Dtn 12,9 wachgerufen, obwohl dieser Text nicht zitiert wird. Die Verse von Hebr 3,7–4,117 legen Psalm 95,7–11 und Gen 2,2 mit einer Technik aus, die an rabbinische Midraschim erinnert. Dies wurde immer wieder festgestellt, unter anderem von Jon Laansma und Gerd Schunack.8 In Hebr 3,11 spricht Gott gemäß Ps 95,11: „Wie ich schwor in meinem Zorn: Wenn sie in meine Ruhe hineingehen.“ In Gen 2,2 steht in der LXX anstelle des Substantives κατάπαυσις das Verb καταπαύω: „Und Gott beendete am sechsten Tag sein Werk, welches er machte, und er ruhte am siebenten Tag von allen seinen Werken, welche er machte.“ Beide Stellen (Ps 95,7–11 und Gen 2,2) werden an der Textoberfläche – wie bereits oben kurz erwähnt – über die Worte „Ruhe“ (κατάπαυσις) und „ruhen“ (καταπαύω) miteinander verbunden.9 Hier liegt offensichtlich eine stichwortbasierte Zitatverbindung vor. Eine solche Auslegungstechnik war damals 7 8
9
Die Verse Hebr 3,7–4,11, beziehungsweise 4,13, wenn der ‚Logoshymnus‘ 4,12f. noch dazugerechnet wird, bilden eine argumentative Einheit, s. Löhr, Stimme, 227–228. Laansma, Rest, 357f.; Schunack, Hebräerbrief, 47; Kowalski, Rezeption, 35–62, bes. 55f.; vgl. auch Karrer, Brief, 207, der ebenfalls einen Midrasch vermutet, aber das dazu notwendige Torawort vermisst. Das Torawort ist – wie hier gezeigt – Dtn 12,9, das nicht zitiert, aber auf das vielfach angespielt und das in der ganzen Argumentation vorausgesetzt wird. Zu Karrer s. auch Kraus, Midrash, 289f. Docherty, Old Testament, 189–192 findet neben der Stichwortverbindung weitere textbasierte Gründe für die Legitimation der engen Verbindung beider Zitate. So ist auch in Ps 94 LXX ein deutlicher Schöpfungsbezug vorhanden und das Possessivpronomen „meine“ verbindet die Ruhe Gottes am siebten Schöpfungstag mit der dem Volk verheißenen Ruhe.
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durchaus verbreitet.10 Zwei Schriftstellen dürfen gemäß dieser Regel miteinander direkt zu einer neuen Aussage verbunden werden, wenn sie ein oder mehrere gleiche Wörter aufweisen. Die Ruhe, zu der das Volk in der Wüste nach Ps 95 nicht eingehen wird, wird zur Ruhe, mit der Gott seit der Erschaffung der Welt ruht. Die κατάπαυσις ist die Ruhe, die Gott gewährt, und die Ruhe in und mit der er selber ruht. Das Eingehen in die verheißene Ruhe Gottes bezieht sich so zugleich auf das Eingehen in den Ruhebereich (meine! Ruhe), in dem Gott selber ruht. Ps 95 enthält – synchron gelesen – viele weitere Anspielungen auf die Tora. So kann in Ps 95 zuerst ohne weiteres die Geschichte vom Murren des Volkes zu Massa und Meriba und von dem Wasser, das aus dem Felsen quoll, gehört werden (Ex 17,1–7). Zugleich steht die Geschichte von der Rückkehr der Kundschafter und dem damit verbundenen Murren des Volkes in Num 14 im Hintergrund: Gott wird das Land Kanaan den Israeliten geben. Deshalb soll Mose Kundschafter aussenden (Num 13,2). Aufgrund des Unglaubens der Kundschafter und des Volkes nimmt Gott seine Landzusage in Num 14,23 mit einer hypothetischen Selbstverfluchung zurück. Weil Gott ihnen das Land „zugeschworen“ hat (Niphal von )שׁבע, ist offensichtlich dieser zweite Schwur notwendig, um den ersten aufzuheben (vgl. auch Num 14,30.35). Aber auch die Geschichte vom Haderwasser zu Meriba, in der Mose erneut Wasser aus dem Felsen schlug und daher selber das Land nicht betreten durfte (Num 20,2– 13), schwingt hier mit. Die Ortsangabe Meriba in Ps 95,8 und in Num 20,13 verklammert den Psalm auch mit dieser Geschichte.11 Das Ruhemotiv ist schon durch die biblische Tradition eng mit einem Ort der Ruhe verknüpft (vgl. Gen 49,15; Ruth 1,9; 1 Kön 8,56; 1 Chr 22,9; als „Ort der Ruhe“ besonders eng miteinander verbunden in Jes 66,1 ( )מָקוֹם מְנוּחָתִ יund zitiert in Apg 7,49 τόπος τῆς καταπαύσεώς μου). Es liegt daher die Frage nahe, ob die Verweigerung der Ruhe auch eine Verweigerung der Landnahme impliziert. Und hier spielt der eingangs erwähnte Subtext Dtn 12,9, der über die Ruhe und deren Verheißung im Hintergrund aufgerufen ist, eine zentrale Rolle, denn er verbindet die verheißene Ruhe und den Landbesitz (Erbteil) eng miteinander. Jon Laansma zeigt in seiner Monographie „I Will Give You Rest“, dass im AT die Ruhe beinahe immer mit einer lokalen Konzeption verbunden ist und dass Dtn 12,9 eine programmatische Bedeutung für das deuteronomistische Konzept der Ruhe hat.12 Die Tora legt nahe, dass das Land und die Ruhe einer bestimmten Generation verweigert wurden. Der Verfasser des Hebräerbriefs zitiert Ps 95 und 10
11 12
Solche wurden von Paulus eingesetzt und sind auch aus den Schriften der Qumrangemeinde bekannt. Eine besondere Form davon findet sich später bei den Rabbinen unter dem Begriff Gezera schawa (gleicher Schluss) vgl. Avemarie, Gezera, 347–391, bes. 389–391. Weitere wichtige Bezüge lassen sich zum Deuteronomium finden, s. Allen, Numbers, 129–149, bes. 139–148. Laansma, Rest, 33, 59, 23.
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interpretiert ihn als Schriftbeweis, dass Gott seinem Volk auch nach der Landnahme, die in Dtn 12,9 verheißene Ruhe nicht gewährt hat. Der Hebräerbrief verlängert die Aussagerichtung bis in die Gegenwart, indem er den Psalmtext aktualisiert: Hebr 3,7: „Deshalb, wie der Heilige Geist spricht: Heute, wenn ihr seine Stimme hört [.]“
Für den Autor des Hebräerbriefes ist klar, dass im zitierten Psalm 95,7–11 David dieses „Heute” (Hebr 4,7) gesprochen hat. In der jetzigen Zeit gilt dieses Wort wieder, weil der Heilige Geist es zu den Adressaten des Briefes spricht (Präsens). Der Zeitpunkt des ‚Heute‘ ist das ‚Jetzt‘ der Hörer und Leser. Hebr 3,8: „[V]erhärtet eure Herzen nicht wie in der Verbitterung am Tag der Versuchung in der Wüste.“
Der Text folgt hier eng der Septuaginta, die die explizite Verbindung dieses Ereignisses an die Orte Meriba und Massa in der Hebräischen Bibel in den Hintergrund drängt, indem sie diese aufgrund von etymologischen Traditionen mit „Verbitterung“ und „Versuchung“ übersetzt. Dadurch verallgemeinert sie die Sünden des Volkes und damit den Grund des Zorns Gottes auf das Volk in der ganzen Wüstezeit,13 Hebr 3,9: „wo mich eure Väter versuchten mit einer Prüfung und sie sahen meine Werke [.]“
Der Text verändert die Wendung „sie versuchten und sie prüften“ der uns bekannten Vorlagen (MT: ;נִסוּנִי אֲבוֹתֵ י ֶכם ְבּחָנוּנִיLXX: ἐπείρασαν οἱ πατέρες ὑμῶν ἐδοκίμασαν) in die substantivische Formulierung „sie versuchten mit einer Prüfung“ (ἐπείρασαν οἱ πατέρες ὑμῶν ἐν δοκιμασίᾳ). Das Volk unterzog Gott einer Prüfung. Für Knut Backhaus ist das Ausdruck der Hauptsünde des Volkes: „Die Sünde des Volkes liegt letztlich darin, dass es das Verhältnis zu Gott umkehrt und sich anmaßt, seinen mächtigen Befreier in Versuchung führen und der Prüfung unterwerfen zu können.“14 Hebr 3,10: „[V]ierzig Jahre. Deshalb zürnte ich diesem Geschlecht und sprach: Immer verirren sie sich mit dem Herzen. Sie selbst aber haben meine Wege nicht erkannt. [V.11]: Daher schwor ich in meinem Zorn: ‚Wenn sie in meine Ruhe hineingehen.‘“
13 14
Beyer / Klingler, Ps 95, 22. Backhaus, Hebräerbrief, 151.
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Der Hebräische Text und die Septuaginta machen syntaktisch nicht klar, auf was sich die vierzig Jahre beziehen.15 Sah das Volk vierzig Jahre lang die Werke Gottes oder hat Gott vierzig Jahre lang gezürnt? Die Masora ist eindeutig: Vierzig Jahre lang zürnte Gott dem Volk. Der Hebräerbrief macht die andere Deutung eindeutig, indem er nach vierzig Jahren ein ‚deshalb‘ einschiebt. Hebr 3,10: τεσσεράκοντα ἔτη· διὸ προσώχθισα τῇ γενεᾷ ταύτῃ καὶ εἶπον· ἀεὶ πλανῶνται τῇ καρδίᾳ, αὐτοὶ δὲ οὐκ ἔγνωσαν τὰς ὁδούς μου [.]
Das Volk sieht die Werke Gottes während vierzig Jahren.16 Während dieser vierzig Jahre wandeln sie dennoch nicht auf den Wegen Gottes. Der Zorn Gottes wird vom Verfasser des Hebräerbriefs mit dem Einschub des ‚deshalb‘ eindeutig den vierzig Jahren nachgeordnet. Er hat seinen Grund im Verhalten des Volkes während dieser vierzig Jahre. Das Volk musste nicht aufgrund des Zornes Gottes vierzig Jahre in der Wüste bleiben, sondern weil es Gott vierzig Jahre lang trotz seiner Wunder zum Zorn gereizt hat, darf es nicht in die verheißene Ruhe eingehen. Der Zorn Gottes wird so explizit zeitlich entgrenzt. Dies ist wichtig für die Aussageabsicht des Hebr. Nicht der Zorn Gottes hat vierzig Jahre gedauert, sondern das ‚Sehen der Werke‘. Der Zorn Gottes ist nach vierzig Jahren entbrannt. Er dauert immer noch an. Gott hat sein Volk damals mit der Landnahme unter Josua nicht zur Ruhe gebracht.17 Knut Backhaus ist nicht zuzustimmen, wenn er in seinem wichtigen Kommentar zum Hebr schreibt: „Insgesamt ist der Wortlaut jedoch im Wesentlichen unverändert. Denn nicht der Wortlaut, sondern das Gesamtverständnis ist für den Vf. entscheidend.“18 Der Autor legt den Text sehr genau aus und unterstreicht seine Interpretation mit geringfügigen, aber wichtigen Texteingriffen. Der hebräische Text beschreibt den Ekel, den Gott an einem Geschlecht ( )בְּדוֹרempfunden hat. Die LXX deutet und spricht von jenem bestimmten Geschlecht. Damit greift der Verfasser aktualisierend in den LXX-Text ein. Er macht jene Generation (ἐκείνῃ) zu dieser Generation (ταύτῃ). ‚Diese‘ Generation kann so auch die gegenwärtige sein, die nicht glaubt. Die Adressaten des Briefes sollen erkennen, dass dieses ‚heute‘ eine Warnung an sie, die glauben, sein kann. Denn sogar die Glaubenden könnten zu dieser verstockten Generation werden, über denen der Zorn Gottes immer noch bleibt, wenn sie die-
15 16 17 18
Zu den Unterschieden des Psalmzitats zwischen dem Hebräischen Text und der Septuaginta s. McCullough, Old Testament, 363–379 und Kraus, Midrash, 276–279. So auch Löhr, Stimme, 227–229. So auch Beyer / Klingler, Ps 95, 18. Backhaus, Hebräerbrief, 152. Ähnlich auch Gräßer, Hebräer, 180f., der auf diese Unterschiede nicht eingeht. Hingegen bietet Schunack, Hebräerbrief, 48–50 interessante Ausführungen zur aktualisierenden Auslegung der Schrift durch den Verfasser, weil dieser das ‚deshalb‘ (s. o.) einschiebt. Allerdings beachtet auch er nicht, wie sorgfältig und gezielt der Autor hier seine Textvorlage durch eine kleine Änderung interpretiert.
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ses ‚heute‘ nicht hören und ergreifen. Die ‚Wüstengeneration‘ und die ‚Adressatengeneration‘ werden hier warnend in ein enges Verhältnis zueinander gesetzt. Hebr 3,12: „Seht euch vor, Brüder, dass nicht in jemandem von euch ein böses Herz des Unglaubens sei und dabei abfällt vom lebendigen Gott, [V.13:] sondern ermahnt einander jeden Tag, solange es heute heißt, dass nicht jemand von euch verhärtet werde durch den Betrug der Sünde. [V.14:] Denn wir sind Teilhaber Christi geworden, sofern wir wirklich den Anfang der Grundlegung bis zum Ende festhalten, [V.15:] wenn es heißt: ‚Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verhärtet eure Herzen nicht, wie es bei der Verbitterung geschah.‘ [V.16:] Denn wer hörte und richtete eine Verbitterung an? Nicht alle, die durch Mose aus Ägypten herauszogen? [V.17:] Wem aber zürnte Gott vierzig Jahre lang? Nicht denen, die gesündigt haben, deren Körper in der Wüste fielen? [V.18:] Wem aber schwor er, dass sie nicht in seine Ruhe eingehen sollten, wenn nicht denen, die ungehorsam waren? [V.19:] Und wir sehen, dass sie nicht hineinkommen konnten wegen des Unglaubens.“
Nun greift der Verfasser interpretierend in die Exodusgeschichte selber ein. Nicht die Generation der über zwanzigjährigen (Num 13,1–14,45, bes. 14,29f.), sondern alle, die ausgezogen sind, waren rebellisch und starben in der Wüste (Hebr 3,16–19). An dieser Stelle legt der Verfasser einen anderen Akzent auf den Zorn Gottes und die vierzig Jahre als in Hebr 3,10: Nicht erst nach, sondern schon während dieser vierzig Jahre zürnte Gott,19 um schließlich am Ende dieser Zeit in seinem Zorn zu schwören, dass niemand in seine Ruhe eingehen wird. Diese Verallgemeinerung bedeutet, dass niemand aus dem Volk übrigblieb, um in die Ruhe einzugehen. In der Bibel ist es offensichtlich, dass das Volk in das Land Kanaan hineinzog. Wie kann der Verfasser des Hebräerbriefs so argumentieren, ohne seine biblische Überzeugungskraft zu verlieren? Seine Antwort würde folgendermaßen lauten: Viele sind in das Land hineingegangen, aber niemand in das verheißene Land. Gegenüber dem verheißenen Land blieb auch Kanaan Wüste, zumindest im metaphorischen Sinn. Die Schrift, nämlich Psalm 95, sagt nach dieser Interpretation, dass die in Dtn 12,9 zugesagte Ruhe bis jetzt noch nicht gegeben worden ist. Damit hat aber der Exodus sein Ziel nicht erreicht. Auch Josua konnte das Volk nicht in diese Ruhe führen. Die Verheißung von Dtn 12,9 hat sich bis jetzt nicht erfüllt. 19
Attridge, Commentary, 115 hingegen hält es für möglich, dass Hebr zwei verschiedene Traditionen von vierzig Jahren kennt („one of disobedience and one of punishment“). Löhr, Umkehr, 89–91 vermutet, dass hier die vierzig Jahre des Sehens der Werke Gottes und die vierzig Jahre des Zorns so eng ineinander verwoben werden, dass sie sich zeitlich überlagern. Hier wird angenommen, dass der Verfasser diese Spannung gezielt in Kauf nimmt, um die Sünde des Volkes sowohl auf dem Weg in der Wüste als auch am Ende der vierzig Jahre besonders hervorzuheben. Hebr 3,17 hebt die Aussage nicht auf, dass der Zorn Gottes nach den vierzig Jahren nicht aufgehört hat, denn erst dann hat Gott in seinem Zorn geschworen, dass sie nicht in die Ruhe eingehen werden.
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Denn die Schrift sagt in Psalm 95, dass Gott sie gebunden an einen Schwur nicht zur Ruhe gebracht hat und durch David verheißt er dort ein „Heute“, an dem dies wieder möglich ist (Hebr 4,7). Hebr 4,8: „Denn wenn Josua sie zur Ruhe gebracht hätte, würde er später nicht von einem anderen Tag geredet haben.“
Ohne Ruhe aber wird es auch fragwürdig, ob Josua sie tatsächlich in das verheißene Land hineingeführt hat. Denn wenn Psalm 95,11 über die Wendung „hineingehen in meine Ruhe“ ( )אִם־י ְב ֹאוּן אֶל־מְנוּ ָחתִ יmit dem nicht explizit zitierten, aber wörtlich praktisch übereinstimmenden Dtn 12,9f. „hineingehen in die Ruhe“ ( )לא־בָּאתֶ ם עַד־ ָעתָּ ה ֶאל־ ַהמְּנוּחָהmidraschartig verknüpft wird, problematisiert die Schrift selber die Landnahme Josuas. Seine Landnahme war nicht die Einnahme des verheißenen Landes, denn in diesem Land ist nach Dtn 12,9 zugleich die Ruhe Gottes. Formal sind Ruhe und Erbteil in 12,9 und „erben lassen“ und „Ruhe verschaffen“ in Dtn 12,10 als Parallelismus membrorum miteinander verbunden. Somit hat Josua nicht das wahre Land der Verheißung erreicht, denn dort hätte er die damit verbundene Ruhe erlangt. In Jos ist zwar oft vom Erbteil die Rede, aber nie von der Ruhe als Substantiv ()מְנוּחָה. Allerdings wird das Verb ( נוחzur Ruhe bringen) als Verheißung und dann auch als erfüllte Verheißung oft verwendet (vgl. Jos 1,13–15; 21,44; 22,4; 23,1). Es muss offenbleiben, ob der auctor ad Hebraeos solchen Aussagen der Schrift mit der Schrift (Ps 95) gezielt widerspricht, oder ob es für seine Auslegung keinen Widerspruch gibt, da das Substantiv für Ruhe in Jos fehlt. Jedenfalls gilt für ihn: Das Ziel des Exodus steht noch aus und liegt vor den Gläubigen in der Zukunft. Es ist nicht so, dass Kanaan / Israel keine Rolle spielt im Hebr, sondern Kanaan wird zum Inbegriff dafür, dass es vielleicht das verheißene Land hätte sein können, aber es schließlich nicht sein konnte aufgrund der fehlenden Ruhe. Hebr 4,1: „Darum lasst uns nun uns fürchten, damit nicht etwa, solange die Verheißung, in seine Ruhe einzugehen, noch besteht, jemand von euch als zurückgeblieben erscheint. [V.2]: Denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, wie auch jenen; aber das gehörte Wort nützte jenen nicht, weil sie nicht durch Glauben mit denen verbunden waren, die zuhörten.“
Die Verheißung aus der Tora (Dtn 12,9) hat sich also noch nicht erfüllt. Wenn in der Wüste alle zurückgeblieben sind, obwohl sie das Wort gehört haben, so sollen nun alle, die hören, dass Gott die Erfüllung der Verheißung jetzt von neuem ermöglicht, glauben und aktiv auf diese Ruhe zugehen. Hebr 4,3: „Denn wir, die wir zum Glauben gekommen sind, gehen in die Ruhe ein, wie er gesagt hat: Daher schwor ich in meinem Zorn: ‚Wenn sie in meine Ruhe hineingehen‘– obgleich die Werke von Grundlegung der Welt an geschaffen waren. [V.4:] Denn er hat irgendwo über den siebten Tag so gesprochen: Und Gott
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ruhte am siebten Tag von allen seinen Werken. [V.5]: Und an dieser Stelle wiederum: ‚Wenn sie in meine Ruhe hineingehen.‘“
Die Ruhe, die Gott in der Wüste in Dtn 12 verheißen hat, wird – wie oben angedeutet – durch die Verknüpfung mit Gen 2,2 zur großen Sabbatruhe, mit der Gott am siebenten Tag geruht hat und seither ruht.20 Die Ruhe ist demnach etwas, das seit der Schöpfung existiert. Doch den Menschen und dem Volk Gottes blieb der Zugang verwehrt. Hebr 4,6: „Weil es nun dabei bleibt, dass einige in sie eingehen und die, denen das Evangelium früher verkündigt worden ist, des Ungehorsams wegen nicht hineingegangen sind, [V.7:] setzt er wieder einen Tag fest: ein ‚Heute‘, und spricht durch David nach so langer Zeit, wie schon zuvor gesagt worden ist: Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht. [V.8:] Denn wenn Josua sie zur Ruhe gebracht hätte, würde er später nicht von einem anderen Tag geredet haben. [V.9:] Also bleibt noch eine Sabbatruhe dem Volk Gottes übrig. [V.10:] Denn wer in seine Ruhe eingegangen ist, der ruht auch selbst von seinen Werken geradeso wie Gott von seinen eigenen.“
Der Verfasser folgert und fasst zusammen: Die verheißene Ruhe ist die Sabbatruhe (σαββατισμός21), in der Gott seit dem siebten Schöpfungstag ruht. Jesus Christus ist in diese Ruhe eingegangen.22 Durch ihn können die Glaubenden wieder den Weg des Exodus unter die Füße nehmen. Wenn in der Verheißung von Dtn 12,9f Ruhe und Erbteil / Land so eng verbunden sind, dann gibt es eine zwingende Schlussfolgerung: Der verheißene Erbteil / das Land ist dort, wo die Ruhe ist, also bei Gott selbst. Es ist der Himmel.23 Die Schlussmahnung ist logische Konsequenz: Hebr 4,11: „Laßt uns nun eifrig bemüht sein, in jene Ruhe einzugehen, damit niemand nach demselben Beispiel des Ungehorsams falle!“
Die Gläubigen sollen dieses ‚heute‘ hören. Sie sind wieder in Bewegung, wieder auf dem Exodus, wieder auf dem Weg. Sie sollen ihre Heimat verlassen und auf die himmlische zugehen. Der Autor ist überzeugt, dass seine Bibel dies alles schon immer gesagt hat und noch manches mehr dazu zu sagen hätte. Denn für ihn ist das Wort Gottes ein scharfes, zweischneidiges Schwert, das alles offenlegen kann (Hebr 4,12f).
20 21 22 23
Zur Transformation der Ruhe in Kanaan zur himmlischen Ruhe ausführlich Calaway, Sabbath, 74–80. Zu diesem Begriff und seiner Bedeutung vgl. Hofius, Katapausis, Kap. II, insbesondere 115; Schunack, Hebräerbrief, 58. Zum engen christologischen Bezug von Hebr 4,10 s. ausführlich Moore, Jesus, 383– 400, bes. 389–396. In Hebr 3–4 „the katapausis is construed as a locale, as God´s own testing place, where he celebrates his own Sabbath.“ Laansma, Rest, 334.
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Zusammenfassend kann festgehalten werden: In Hebr 3,7–4,11 liegt eine midraschartige Schriftauslegungstechnik, die auf einer stichwortbasierten Zitatverbindung beruht, vor. Im Zentrum steht Dtn 12,9. Dieser Vers wird nicht zitiert, aber durch das Leitwort ‚Ruhe‘ und das Motiv der Verheißung unverwechselbar aufgerufen.
3.
Migration und Kult im Hebräerbrief
Ab Hebr 10,19 wird nach den langen Erörterungen über den irdischen und himmlischen Kult das Migrationsthema wieder in den Vordergrund gerückt.24 Die Migration der Glaubenden rahmt so strukturell das Kultthema. Die Glaubenden sollen „hinzutreten“ mit wahrhaftigem Herzen zum himmlischen Heiligtum (Hebr 10,22). Ab Kapitel 11 verdichtet sich dieses Thema in vielen Vorbildern, die zur Wolke der Glaubenszeugen (Hebr 12,1) gehören. Besonders Abraham ist für den Autor des Hebräerbriefes das überragende Vorbild für diesen Aufbruch und diese Wanderschaft. Er zog aus seinem Land aus aufgrund der Verheißung eines Erbteils. Durch den Ruf Gottes wurde er zum Migranten. Hebr 11,8: „Durch Glauben gehorchte Abraham, als er gerufen wurde, auszuziehen an einen Ort, den er als Erbteil (κληρονομία) empfangen sollte. Und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er ging. [V.9:] Durch den Glauben übersiedelte er als Fremdling in das verheißene Land, indem er dort wie in einem fremden in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheissung wohnte. [V.10:] Denn er wartete auf die Stadt, die feste Fundamente hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.“
Sogar im verheißenen Land lebte er als Fremdling und als einer, der unterwegs war in Zelten, wie die anderen Miterben der Verheißung. Denn Abraham verstand, dass dieses Land noch nicht die realisierte Erfüllung der Verheißung Gottes war, weil er es offensichtlich nicht als „Erbteil“ empfangen hatte. Er wusste dort im Glauben, dass die Verheißung noch nicht erfüllt ist.25 Wenn aber im Hebräerbrief das Migrationsthema den himmlischen Kult rahmt und vor dem Kult ein indirekter, aber zentraler Bezug auf Dtn 12,9 gemacht wird, stellt sich die Frage, ob es hier nach Abschluss des Kultthemas bloß Zufall ist, dass der κληρονομία eine so wichtige Bedeutung zugemessen wird. In Ps 95 (Ps 94 LXX) findet sich nur die verheißene Ruhe. Hier tritt als zweite Verheißung aus Dtn 12,9 der verheißene Erbteil hinzu. Die verheißene
24 25
So auch Käsemann, Gottesvolk, 8. Das irdische Land wird „sublim vom Ziel der Verheißung disloziert“, so Backhaus, Land, 174.
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Ruhe und der verheißene Erbteil bilden eine Klammer um den zentralen Kultteil dieses Briefes. Wie gemäß Hebr 3,7–4,11 der Exodus nicht zur Ruhe und damit nicht zu seinem verheißenen Ziel geführt hat, so hat der Auszug Abrahams ihn ebenfalls nicht zum verheißenen Erbteil gebracht. Abraham wusste darum. Wie gezielt hier die intentio auctoris Abraham mit Dtn 12,9 und der Kultzentralisation verbindet, kann nicht exakt bestimmt werden. Jedenfalls steht die erwartete himmlische Stadt durch das intertextuelle und semantische Netzwerk dieses Briefes in Analogie zum irdischen Jerusalem für den richtigen und einzigen Ort des himmlischen Kults. In Hebr 9,15 ist den Lesern bereits deutlich gemacht worden, dass durch Jesus Christus der Erbteil nun durch die Berufenen empfangen werden kann. Hebr 11,13: „Voll Glauben sind diese alle gestorben und haben die Verheißungen nicht erlangt, sondern sie nur aus der Ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremde auf Erden sind. [V.14:] Denn die solches sagen, machen sichtbar, dass sie ein Vaterland suchen. […] [V.16:] Nun aber sehnen sie sich nach einem besseren Vaterland, nämlich dem himmlischen. Deshalb schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt bereitet.“
Die Erzväter haben als biblische Glaubensvorbilder erkannt, dass die Erfüllung der Verheißung nicht auf Erden zu finden ist. Sie sind gerade auch Vorbilder in ihrer eschatologischen Ausrichtung. Sie begnügen sich nicht mit einem irdischen Land, sondern sind auf das himmlische Vaterland und auf die himmlische Stadt ausgerichtet.26 Auch Joseph war ganz auf die Zukunft gerichtet. Er glaubte, dass es einen Auszug aus Ägypten geben würde, als er Anordnungen wegen seiner Gebeine traf (Hebr 11,22). Er wusste, zusammen mit seinen Vätern, dass Kanaan nicht das Ziel der Verheißung war. Die ausführliche Darstellung von Glaubensvorbildern hört in Hebr 11,31 mit der Hure Rahab in Jericho auf. Dies zeigt, dass der Verfasser an der Realisierung der Landnahme in der Vergangenheit nicht interessiert ist. Wenn die Kultzentralisation in Dtn 12 als ein primärer Prätext des ganzen Hebr erkannt wird, dann wird sofort evident, wie unauflöslich miteinander verwoben die Migration und der Kult sind. Denn nach den Verheißungen für die Migration (Exodus) in Dtn 12,9f., wird der Kult an das verheißene Ziel gebunden. Wenn Gott das Volk in die Ruhe und das Land gebracht hat, wird er ihnen dort eine einzige Stätte für einen Gott wohlgefälligen Kult erwählen. Dtn 12 zielt auf die Kultzentralisation. Da die Ruhe und damit das Land aber für den auctor ad Hebraeos schon im Himmel existiert, hat Gott dort ebenfalls schon diese Stätte erwählt und zwar mit der radikalsten Kultzentralisation, die denkbar ist. Auf diese Weise strukturiert Dtn 12 den ganzen Hebräerbrief.27 26 27
Zur verbreiteten hellenistisch-jüdischen Vorstellung, dass der Himmel das wahre Vaterland sei, s. Attridge, Commentary, 331. Whitfield, Traditions, 205–265 sieht die Verbindung von Hebr 3 und 4 mit dem Himmelskult darin, dass in Hebr 3 und 4 biblische Josuatraditionen aufgenommen sind.
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Der Himmel ist so im Hebräerbrief nicht nur der verheißene Erbteil und der Ort der Ruhe, die dort seit dem siebten Schöpfungstag herrscht, sondern er bietet auch Raum für die himmlische Kultzentralisation und damit für die himmlische Stiftshütte (Hebr 6,19f.; 9,11), die der Himmel selbst ist (Hebr 9,24).28 Die Kultzentralisation und der Kult nach Dtn 12 waren auf Erden nur ein Schatten der zukünftigen Dinge (Hebr 8,5; vgl. 10,1). Im Himmel aber entfaltet sich ihr wahres Wesen. Auf Erden war die Kultzentralisation nur unvollkommen auf das ‚Eine‘ konzentriert. Die Vereinheitlichung und ‚Eins-Werdung‘ des Kultes in Jerusalem war bloß Abbild und Schatten der wahren himmlischen Kult-Einheit, die die Zentralisierung erst zur Vollkommenheit bringt:29 Wie der Kult auf Erden auf einen einzigen israelitischen Stamm und innerhalb von diesem nur auf die Priester reduziert war, und wie ein einziger von ihnen als Hohepriester einmal jährlich das Allerheiligste betreten konnte (Hebr 9,7), gibt es jetzt einen einzigen Priester im Himmel, den Hohepriester Jesus Christus. Auf Erden durften nur zu bestimmten Zeiten bestimmte Opfer gebracht werden. Im Himmel hat dieser zu einem einzigen Zeitpunkt für immer geltend ein einziges Opfer dargebracht (Hebr 7,27; 9,12; 10,10: ἐφάπαξ). Er hat die vielen Opfer des biblischen Kults auf ein einziges reduziert, auf sich selbst (9,28), auf sein Blut (9,12.14), beziehungsweise auf seinen Leib (Hebr 10,5). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Dtn 12 als Leittext von Hebr 3,7–4,11 auch die anschließende kultzentralistische Argumentation des Hebräerbriefes zu einem großen Zusammenhang verbindet. Ab Hebr 4,14ff. wird der einzige Priester, der wahre Hohepriester Jesus Christus in den Fokus der Argumentation genommen, dann der neue Bund, der durch diesen Priester konstituiert wird und dann sein einziges Opfer, dass er selbst ist und durch das dieser Bund in Kraft gesetzt wird. Dies ist die himmlische Kultzentralisation. Im Himmel sind die Verheißungen von Dtn 12,9 bereits realisiert. Die Ruhe und der Erbteil stehen dort bereit. So ist Dtn 12,9–10 in Verbindung zu explizit genannten Schriftworten als Wort Gottes schärfer als jedes zweischneidige Schwert (Hebr 4,12–13). Die Schrift zeigt, dass der Exodus seine Ziele nicht erreicht hat und dass nun der Weg zu diesen Zielen wieder offensteht.
28 29
Der Josua aus Num 13 und 14 ist auf die Ruhe und das Land ausgerichtet und der Hohepriester Josua ist mit dem Kult verbunden (Sach 3). Beide zusammen werden sie in Hebr von Jesus als drittem Josua miteinander verbunden und übertroffen. Es ist durchaus möglich, dass solche Assoziationsverbindungen auch intendiert sind. Allerdings ist die Verbindung von verheißener Ruhe, Land und zentralisiertem Kult über Dtn 12 viel enger. Dazu ausführlich Löhr, Thronversammlung, 184–205, zum Heiligtum als Himmel und zum Himmel als Heiligtum u. a. 190. Zum mittelplatonischen Hintergrund solcher Vorstellungen s. Backhaus, Hebräerbrief, 54f.; bei Eisele, Reich, werden die mittelplatonischen Vorstellungen beinahe zum alleinigen traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Hebr. Allerdings scheinen sie doch eher nur „Hilfsmittel der Darstellung“ zu sein; so Kraus, Absicht, 259.
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4.
243
Himmlisches Ziel und irdische Wanderexistenz auf Erden
Das Leben der Glaubenden ist für den Autor durch den Himmel bestimmt. Doch ihr Leben ist noch kein himmlisches Leben, sondern ein irdisches, das den Himmel zum Ziel hat. So leben die Glaubenden gerade nicht im Erbteil und nicht in der Ruhe und sie leben auch nicht kultisch. Ganz im Gegensatz dazu leben sie ohne Heimat als Migranten unter Bedrängnissen auf dieser Erde, getrennt von ihrem himmlischen Kultort. Aufgrund ihrer glaubensvollen Ausrichtung auf den Himmel akzeptieren sie, dass sie einerseits noch nicht im Himmel leben und andererseits auf der Erde bedrängter leben als die, die nicht auf den Himmel ausgerichtet sind. Wie Mose durch Glauben Ägypten verließ (Hebr 11,27), sollen nun die Glaubenden ausziehen und zu Migranten werden, deren Wanderschaft ganz auf den Himmel ausgerichtet ist. Jetzt gilt es auszuziehen, um die ausstehenden Verheißungen zu erlangen.30 Die alten Hilfsmittel, die Gott seinem Volk zur Verfügung gestellt hatte, um den Exodus zu seinem Ziel zu bringen, müssen erneuert oder ersetzt werden, weil sie nicht zum Ziel geführt haben: Die aaronitische Priesterschaft wurde – immer mit dem Anspruch des Verfassers, dass dies gemäß den Schriften ist – durch die Priesterschaft nach der Ordnung des Melchizedek ersetzt (5,6; 7,1ff.), der irdische Hohepriester durch den himmlischen Hohepriester Christus (7,26ff.), das Gesetz durch einen Eid (7,28), der erste Bund durch einen neuen Bund (8,6–13), das irdische Zelt durch ein himmlisches Zelt (9,1– 10), die Tieropfer durch das Opfer Christi (9,11–14), die Abbilder von himmlischen Dingen durch diese himmlischen Dinge selbst (9,23), die Opfer, die an die Sünden erinnern sollten (10,3f), durch den Körper Christi, der die Vergebung der Sünden gewährt (10,5–18), Kanaan, das Abraham zugesagt worden war, durch die Stadt Gottes (11,10), der Berg Sinai als ein Ort der Offenbarung Gottes durch den Berg und die Stadt Gottes, das Zusammenkommen der Israeliten dort durch die fröhliche Schar der Engel und der Kirche des Erstgeborenen hier (12,18–24), die Rede auf Erden durch die Rede vom Himmel (12,25) und Himmel und Erde durch das festgegründete Königreich Gottes (12,26–28). Die vielen Arten Gottes durch Propheten oder durch den Engel zu reden, der durch Mose in der Wüste sprach, haben ihren Zweck und ihr Ziel durch den einzigen Sohn Gottes und sein Reden gefunden (Hebr 1,1–3,6). Doch – und das ist wichtig – der Exodus ist nicht durch einen neuen ersetzt worden. Wegen der Auflehnung in der Wüste führte der Auszug in eine Sackgasse. Jetzt ist es Zeit für die Gläubigen, sich wieder auf den Weg zu machen, 30
Es ist für den Verfasser gerade kein Widerspruch, dass die Glaubenden auf die himmlische Stadt zugehen und bereits zu deren Volksversammlung gehören (Hebr 12,22– 24); vgl. Hengel, 270f.
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zur Wüste hinaus zu gehen und wieder von neuem am Exodus des Volkes Gottes teilzunehmen. Im letzten Kapitel finden wir deshalb die Ermahnung, auf die alles zuläuft und in der das Motiv der Wanderschaft ihren Höhepunkt findet31: Hebr 13,13: „So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. [V.14:] Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Die Gläubigen sollen ohne Tempel und Land leben, allein durch Gebet und das Tun des Guten. Opfer und Lobopfer werden metaphorisch auf ihr Gotteslob und ihre guten Taten gedeutet: Hebr 13,15: „So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. [V.16:] Gutes zu tun und mit andern zu teilen, vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.“
Diese Metaphorik zeigt, dass die Glaubenden nicht am real vorgestellten Himmelskult direkt beteiligt sind. Durch ihren hoffenden Glauben (Hebr 11,1) sind sie dem Himmel und dem Kult dort nahe. Ihre Hoffnung reicht als Anker bis zum Hohepriester Jesus Christus in der himmlischen Stiftshütte (Hebr 6,19f). Die größte Zusage der Nähe steht in Hebr 12,22: „Ihr seid gekommen (προσεληλύθατε; Perfekt!) zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem und zu Myriaden von Engeln, zu einer Festversammlung.“ Doch alle Aufforderungen zum Aufbrechen und zur Migration zeigen die große Distanz an. In dieser Dynamik der Nähe und Distanz zum Ziel kommt Hebr 13,10–13 eine besondere Bedeutung zu. Die wahre Stiftshütte steht im Himmel, doch ihr Altar, wo Jesus gelitten hat und wo die Adressaten an seinem Leiden und seiner Schmach teilhaben können, steht auf Erden. So verbindet der heilige Bezirk, der die Stiftshütte umgibt, Himmel und Erde ganz spezifisch miteinander. Dort wo die Glaubenden auf Erden leiden, sind sie am engsten mit dem himmlischen Hohepriester verbunden, der für sie sein Opfer auf Erden dargebracht hat.32 Wenigstens indirekt lässt sich aus all dem etwas über den situativen Kontext der Adressaten ableiten. Wer nicht aufbrechen will, weil er Enttäuschung und Verfolgung nicht erträgt, sondern versucht, sich in einer Stadt dieser Welt bleibend einzurichten, der lehnt sich wie die Israeliten in der Wüste, gegen Gott auf. Die Gläubigen, die von ihrer Umwelt marginalisiert werden, sollen sich nicht Schutz suchend an ihre Umgebung anpassen, sondern, aller Ausgrenzung zum Trotz, fest zu Christus halten. Sie sollen dies tun angesichts der Herrschaft Christi, des himmlischen Gottesdienstes und der himmlischen Stadt. Sie lassen dadurch – als eine Art politischer und kultischer Antityp – 31 32
So Käsemann, Gottesvolk, 9. Dazu ausführlich Wick, Gottesdienste, 325f.
Migration auf Erden und Himmelskult
245
jede Beheimatung in einem irdischen Kult, jeden Götzendienst oder Herrscherkult, jegliche irdische und damit auch römische Herrschaft und sogar das irdische Jerusalem hinter sich zurück, denn Gott führt zu dieser Ruhe, die jegliche Pax Romana in den Schatten stellt. Der konkrete soziale Hintergrund der Adressatengemeinden dieses Schreibens wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Allerdings wird es sich dabei nicht nur um ein „Leiden an der ausstehenden Vollendung der Erlösung“33 handeln, sondern die Gemeinden, die noch nicht bis auf das Blut widerstanden haben (Hebr 12,4), wissen sich Bedrohungen ausgesetzt, die durchaus Todesfurcht auslösen konnten.34 Durch ihren Glauben an Jesus Christus konnten sie ihr Leiden nicht überwinden, sondern ihr Glaube hat sie in Leiden hineingeführt. Sie werden in diesem Brief mit der Metapher der Migration und des Exodus getröstet und ermahnt. Doch die Situation der Adressaten scheint so zu sein, dass die Metapher jederzeit durch eine gefährliche Zuspitzung der Situation ihren metaphorischen Charakter verlieren kann. Dann sind die Glaubenden wirkliche Migranten.
5.
Schlussfolgerung
Die Adressaten des Hebräerbriefes sind mit einer hohen, himmlischen Theologie angehalten, auf Erden in allen politischen Bedrängnissen sich nicht irgendwo einzurichten, sondern auf die Ruhe, das Land und den Himmel hin ausgerichtet weiter zu migrieren. Migration in Richtung Himmel soll ihre Reaktion sein auf ihre irdische Bedrängnis und ihre Heimatlosigkeit auf Erden. Migration ist nicht die existentiale, innere Befindlichkeit der Glaubenden, die das Wort empfangen haben, wie Käsemann meinte,35 sondern der Glaube verunmöglicht eine Rückkehr in die materiellen und physischen Sicherheiten der irdischen Polisgemeinschaften. Der Glaube kann Bedrängnis und Verfolgung auf Erden zeitigen, die auch eine physische Migration auf Erden erzwingen können. Er tröstet Jesusanhänger kraftvoll in solchen Situationen. Die in Dtn 12,9 verheißene Ruhe und der verheißene Erbteil sind jetzt durch Jesus Christus bereitgestellt und schon realisiert, und zwar dort, wo sie ihren vollkommenen Ort haben, im Himmel. Dort hat die in Dtn 12 angekündigte und gebotene Kultzentralisation durch Jesus Christus ihre Erfüllung gefunden. Christusglauben und Hoffnung bedeuten, sich nicht wieder mit der Welt zu arrangieren, sondern den Weg auf den Himmel hin unter die Füße zu nehmen. 33 34 35
So Kraus, Absicht, 269. Backhaus, Hebräerbrief, 27 rechnet mit Ausgrenzungen, Ausschreitungen und Gefährdungen von Besitz, Freiheit und Leben. Für Käsemann gilt ganz existential fern von jeglicher historischer Einbindung: „[…] daß die dem Offenbarungsempfänger gemäße Existenzform in der Zeit einzig die Wanderschaft sein kann.“ (Käsemann, Gottesvolk, 6; vgl. 10, 30, 156).
246
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Glauben heißt, jetzt wieder zum Exodus aufzubrechen. Denn jetzt ist es möglich, seine Ziele zu erreichen. Mit der Aufforderung „Heute, wenn ihr seine Stimme hört“ predigt der auctor ad Hebraeos seinen Adressaten. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt sich von allen irdischen Verhaftungen des Unglaubens zu lösen, zum Exodus aufzubrechen und sich wieder auf den Weg zu machen. Sein Schreiben bildet so eine besonders eindringliche Predigt und zugleich eine besonders durchsystematisierte Schrift des Neuen Testaments.
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Die wandernde Schechina Dagmar Börner-Klein
1.
Einleitung
Die Zeit, in der das frühe Christentum entsteht, entspricht der Zeit des formativen Judentums. Der verlorene Krieg gegen Rom, der im Jahre 70 mit der Zerstörung des Tempels und der Eroberung Jerusalems endete, hatte zu immensen Verlusten in der Bevölkerung geführt. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, mussten sich in jeglicher Hinsicht neu orientieren und sich auf ein Leben ohne eigenen Staat und ohne Tempel einstellen. Die Hoffnung, vorherige Strukturen wiederzubeleben, erstarb spätestens nach den gescheiterten Bar Kochba Aufständen, die 135 n. Chr. endgültig von den Römern niedergeschlagen worden waren.1 Viele Bewohner Jerusalems und Judäas flohen aus dem Land,2 was die rabbinische Tradition aus der späten Sicht des babylonischen Talmuds im Traktat Rosch ha-Schana 31b sehr verhalten thematisiert: Der Sanhedrin wanderte zehn Mal ()עשר מסעות נעסה, nach der Überlieferung: Aus der Quaderhalle [des Tempels] zu den Läden [der Priester], von den Läden nach Jerusalem, von Jerusalem nach Jabne, von Jabne nach Uscha, von Uscha nach Jabne, und von Jabne nach Schefar-Am3, und von Schefar-Am nach Bet Schearim, und von Bet Schearim nach Sepphoris, und von Sepphoris nach Tiberias. Und Tiberias [liegt] am tiefsten von ihnen allen, denn es heißt: Dann wirst du erniedert von der Erde her reden. (Jes 29,4)4
Diesen zehn Wanderungen des Sanhedrins entsprechen zehn Wanderungen der Schechina, der göttlichen Gegenwart, die der gerade zitierten Stelle vorangestellt sind: In zehn Wanderungen bewegte sich die Schechina von Ort zu Ort: Von der Deckplatte zum Cherub, und vom Cherub zur Schwelle des Hauses. Und von der Schwelle des Hauses zu den beiden Cheruben. Und von den beiden Cheruben zum Dach des Tempels. Und vom Dach des Tempels zur Mauer des Vorhofes. Und von der Mauer des Vorhofes zum Altar. Und vom Altar zur Stadt. Und von der Stadt zum [Tempel]berg. Und vom [Tempel]berg zur Wüste.5
Jede einzelne dieser Stationen wird biblisch belegt: 1 2 3 4 5
Zu den rabbinischen Texten über den Bar-Kochba Aufstand siehe Schäfer, Bar Kokhba-Aufstand. Vgl. Schäfer, Geschichte, 174. Jastrow, Dictionary, 1620: nordwestlich von Sepphoris, in der Nähe von Uscha. Vgl. Goldberg, Untersuchungen, 126‒127 und Cohen, Shekhinta, 147‒159. Vgl. Goldberg, Untersuchungen, 125‒195, 486‒511 und 522‒530.
250
Dagmar Börner-Klein „Von der Deckplatte zum Cherub“, denn es ist geschrieben: Er ritt auf einem Cherub und flog. (2 Sam 22,11) „Vom Cherub zur Schwelle“, denn es ist geschrieben: Da hob sich die Herrlichkeit des Herrn auf vom Cherub zur Schwelle des Hauses. (Ez 10,4) „Und von der Schwelle des Hauses zu den beiden Cheruben“, denn es ist geschrieben: Und es zog aus die Herrlichkeit des Herrn von der Schwelle des Hauses und stellte sich auf die Cheruben. (Ez 10,18) „Und von den beiden Cheruben zum Dach des Tempels“, denn es ist geschrieben: Besser ist es auf der Zinne eines Daches zu wohnen. (Spr 21,9) „Und vom Dach [des Tempels] zur Mauer des Vorhofes“, denn es ist geschrieben: Und da: Der Herr stand auf einer nach dem Bleilot gebauten Mauer. (Am 7,7) „Und von der Mauer des Vorhofes zum Altar“, denn es ist geschrieben: Ich sah den Herrn auf dem Altar stehen. (Am 9,1) „Und vom Altar zur Stadt“, denn es ist geschrieben: Die Stimme des Herrn ruft der Stadt zu. (Mi 6,9) „Und von der Stadt zum [Tempel]berg“, denn es ist geschrieben: Da erhob sich die Herrlichkeit des Herrn und stellte sich auf den Berg [der östlich der Stadt liegt]. (Ez 11,23) „Und vom [Tempel]berg zur Wüste“, denn es ist geschrieben: Besser ist es, im Wüstenland zu wohnen. (Spr 21,19) Und ein [Aufstieg], mit dem sie sich nach oben hinweg begab, denn es ist geschrieben: Ich gehe und kehre an meinen Ort zurück. (Hos 5,15)
Nach bRosch ha-Schana 31a-b hebt sich die Schechina in Stufen aus dem Tempel hinweg, hinein nach Jerusalem, hinauf zum Tempelberg, und von da in die Wüste, um von dort an „ihren Ort“ zurückzukehren. Zu demselben Zeitpunkt, an dem der Sanhedrin sich an der tiefsten Stelle befindet, zieht sich die Schechina an einen Ort zurück, zu dem kein Mensch Zugang hat.
1.1
Forschungsüberblick
Im März 2010 fand an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der EberhardKarls-Universität Tübingen ein Symposium zum Thema „Das Geheimnis der Gegenwart Gottes“ statt, das auch der biblisch-theologischen Dimension der Schechina-Vorstellung gewidmet war.6 In einem ersten Teil ging es um die Schechina-Vorstellungen im Judentum, in einem zweiten Teil um die Schechina-Vorstellungen im Christentum. In seinem damaligen Beitrag weist Bernd Janowski7 darauf hin, dass der Begriff Schechina erst bei den Rabbinen auftaucht. Allerdings sei die Gegenwart Gottes im Volk Israel, insbesondere im Tempel, breites Thema in der hebräischen Bibel,8 vor allem in der EzechielSchule und der Priesterschrift.9 Er unterscheidet folgende Entwicklungsstufen:10 In vorexilischer Zeit sei die Schechina-Theologie immer „Tempeltheologie“ gewesen, die 587 v. Chr. durch die Vorstellung modifiziert worden sei, Gott wohne „inmitten von Israel“ (Ez 43,7.9; Ex 25,8 u. a.). Dennoch sei nach der Zerstörung des Tempels an dieser Theologie als Hoffnungsträger auf das 6 7 8 9 10
Vgl. Janowski / Popkes (Hg.), Geheimnis. Vgl. Janowski, Einwohnung, 4‒40. Janowski, Einwohnung, 4. Janowski, Einwohnung, 19. Janowski, Einwohnung, 37‒39.
Die wandernde Schechina
251
Kommen Gottes festgehalten worden. In der frühjüdischen Weisheitstheologie (Sir 24,1–22)11 bestehe der „tiefste Sinn des Wegs der göttlichen Weisheit in der Zuwendung zur Schöpfung“.12 Peter Schäfer fragte in einem weiteren Beitrag nach dem Ort der Schechina, nach Gestalt und Geschlecht der Schechina sowie nach der Personifikation der Schechina.13 In seiner Dissertationsschrift von 1970, „Die Vorstellung vom heiligen Geist in der rabbinischen Literatur“, hatte Schäfer bereits unter der Überschrift „Schechinah und hl. Geist unterscheiden Israel von den Völkern der Welt“ zwei Textstellen aus der rabbinischen Literatur (Targum Pseudo Jonathan zu Ex 33,16 und bBerachot 7a), in der die Schechina zusammen mit dem heiligen Geist erwähnt wird, kommentiert.14 In beiden Stellen wird hervorgehoben, dass, wenn die Schechina mit Israel unterwegs ist, Gott den „heiligen Geist“, den Geist des Heiligen,15 von den Völkern der Welt nimmt. Befindet sich die Gegenwart Gottes im Tempel, wird dies von den Rabbinen mit dem Terminus „Schechina“ bezeichnet.16 Der „Geist des Heiligen“ aber sei von der Gegenwart der Schechina abhängig.17 In seiner Habilitationsschrift „Untersuchungen über die Vorstellung von der Schechinah in der frühen rabbinischen Literatur“, hatte Arnold Goldberg 432 rabbinische Texte zum Thema zusammengestellt,18 die er in Bezug auf Überlieferung, Motive und Aussagen analysierte. Dabei fasste er die Texte aus unterschiedlichen rabbinischen Schriften jeweils unter einem Thema zusammen. In einem zweiten Teil präsentierte er seine Ergebnisse zu: – Entstehung und Sprachgebrauch zur Gottesbezeichnung ‚Schechina‘,19 – der Differenzierung der Vorstellungen von der Schechina,20 – den konkurrierenden Termini und Vorstellungen (wie Schechina, Heiliger Geist, Herrlichkeit, Engel und Gebura),21 – der Vorstellung von der Schechina in der heilsgeschichtlichen Vergangenheit (Schechina im Heiligtum),22 – der Vorstellung der Rabbinen von der Schechina23 sowie 11 12 13 14 15
16 17 18 19 20 21 22 23
Vgl. Leuenberger, Weisheit, 84. Janowski, Einwohnung, 38. Schäfer, Schechina, 119‒138, hier 121. Schäfer, Vorstellung, 75. Siehe Schäfer, Vorstellung, 137: „ רוח הקדשwäre demnach entweder mit ‚Geist der Heiligkeit‘ oder mit ‚Geist des Heiligtums‘ zu übersetzen.“ Siehe auch Schäfer, Vorstellung, 139: „ רוח הקדשkann sowohl ‚Geist des Heiligtums‘ bedeuten als auch […] ‚Geist des Heiligen‘, nämlich Geist des im Heiligtum anwesenden und sich offenbarenden Gottes.“ Schäfer, Vorstellung, 140. Schäfer, Vorstellung, 141. Vgl. Goldberg, Untersuchungen. Goldberg, Untersuchungen, 439‒452. Goldberg, Untersuchungen, 453‒464. Goldberg, Untersuchungen, 465‒470. Goldberg, Untersuchungen, 471‒485. Goldberg, Untersuchungen, 86‒521.
252 –
Dagmar Börner-Klein der Vorstellung von der Schechina in der Zukunftserwartung.24
Goldberg beschließt seine Auswertung mit folgendem Ergebnis: „Die Gesamtheit der Vorstellungen läßt eine bestimmte Struktur der SchechinaVorstellungen erkennen, deren fast unbewußte Ordnung von der Unterscheidung nach Zeit und Umständen bestimmt wird: In der heilsgeschichtlichen Vergangenheit die Gegenwart der Schechina im Heiligtum und ihre Offenbarungen; in der Exilssituation die verborgene und unbestimmbare Gegenwart im Volke, die täglich verwirklichte Gemeinschaft in der Betergemeinde, die erleuchtende Gegenwart bei den Richtern und die beschützende Gegenwart beim Einzelnen; in der Zukunftserwartung die Erlösung des Volkes durch die Schechina, die offenbare Wiederkehr nach Jerusalem und die endgültig wiederhergestellte Gemeinschaft von Gott und Volk.“25
1.2
Zur Wortbedeutung ‚Schechina‘
Ingo Baldermann hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Wort ‚Schechina‘ aus „der Erfahrung der Deportation“ geboren sei: Dem Wortsinn nach meint Schechina, ein Verbalabstraktum, das Wohnen, die Anwesenheit, doch mit Konnotationen, die es nicht bei einer abstrakten Gegenwärtigkeit belassen, sondern es zu einem Wort tiefer Sehnsucht werden lassen: Gemeint ist die verborgene, doch spürbare Anwesenheit Gottes, nicht irgendeines Gottes in einem religiösen Gefühl, sondern es ist Adonaj, der unfassbar doch spürbar gegenwärtig ist wie in dem Geheimnis seines Namens.26
Diese Definition entspricht der Interpretation von Isaac Safrin aus Komarno (1806–1874), einem chassidischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts: Derjenige, der freiwillig sein Heim verlässt und als Bettler umherwandert, ein beschwerliches Leben wählt, aber immer in Gott vertraut, wird ein Mitglied des Exils der Schechina. Seine Sünden werden vergeben und er wird die Geheimnisse der Tora verstehen. Glücklich ist das Los derjenigen, die ins Exil einziehen.27
Im Folgenden soll es um die Frage gehen, wie dieses „Exil der Schechina“ in der rabbinischen Literatur beschrieben wird. Im Gegensatz zur Vorgehensweise von Arnold Goldberg werden dabei nur zwei rabbinische Schriften, nämlich die Mechilta de-Rabbi Jischmael und Sifre Numeri auf diese Thematik hin gesichtet, da beide Werke sich mit der Auswanderung der Israeliten aus 24 25 26 27
Goldberg, Untersuchungen, 522‒530. Goldberg, Untersuchungen, 538. Baldermann, Gott, 60. Übersetzt ins Deutsche aus Nigal, Hasidic Tale, 18 und Newmann/Spitz, Hasidic Anthology, 502: „He who voluntarily leaves his home and wanders about as a beggar, living a life of discomfort, but trusting always in the Lord, becomes a partner in the ʽExile of the Shekinahʼ. His sins are forgiven and he understands the secrets of the Torah. Happy is the lot of those who go into exile.“
Die wandernde Schechina
253
Ägypten bis zum Einzug in das von Gott verheißene Land ausführlich auseinandersetzen.
2.
Mechilta de-Rabbi Jischmael
Bereits zu Beginn der Mechilta findet sich der folgende aussagekräftige Text über die Wanderungen der Schechina: Bevor das Land Israel erwählt wurde, waren alle Länder für die göttliche Anrede geeignet. Sobald das Land Israel erwählt wurde, schieden alle übrigen Länder aus. Bevor Jerusalem erwählt wurde, war das ganze Land Israel für Altäre geeignet; sobald Jerusalem erwählt war, schied das ganze Land Israel aus. Es heißt ja: Nimm dich in Acht! Verbrenne deine Brandopfertiere nicht an irgendeiner Stätte […] sondern nur an der Stätte[, die der Herr … erwählt]. (Dtn 12,13–14) Bevor der Tempel erwählt wurde, war Jerusalem der Schechina würdig; sobald der Tempel erwählt war, schied Jerusalem aus. Es heißt ja: Denn der Herr hat Zion erwählt, […] das ist für immer der Ort meiner Ruhe. (Ps 132,13–14)28
Weiter unten im Text heißt es dann: „Wisse, dass die Schechina sich nicht außerhalb des Landes offenbart.“29 Und wenig später fügt die Mechilta hinzu: Wann immer Israel verknechtet ist, ist die Schechina mit ihnen verknechtet. […] Und so heißt es: In all ihren Nöten ist er in Not. (Jes 63,9) Hier habe ich nur die Not der Gemeinschaft [ausgesagt]. Woher ist die Not des einzelnen [zu belegen]? Die Schrift lehrt: Wenn er mich anruft, dann will ich ihn erhören. [Ich bin bei ihm in der Not.] (Ps 91,15) Und es heißt: Der Herr Josefs ließ ihn ergreifen und in den Kerker bringen. (Gen 29,20) Und was sagt die Schrift dann? Aber der Herr war mit Josef. (Gen 29,21) Ebenso heißt es: Vor dem Volk, das du dir in Ägypten erlöst hast [das Volk und seinen Gott]. (2 Sam 7,23) […] Und so findest du: Überall, wohin Israel ins Exil ging, ging, wenn man es so sagen kann, die Schechina mit ihnen ins Exil. Sie gingen nach Ägypten ins Exil, und die Schechina ging mit ihnen. Es heißt ja: Bin ich denn nicht auch ins Exil gegangen, zum Haus deines Vaters[, als deine Vorfahren in Ägypten dem Pharao gehörten]? (1 Sam 2,27) Sie gingen nach Babylonien ins Exil und die Schechina war mit ihnen, denn es heißt: Euretwegen wurde ich nach Babel geschickt. (Jes 43,14) Sie gingen nach Elam ins Exil und die Schechina war mit ihnen, denn es heißt: Ich habe meinen Thron in Elam aufgestellt. (Jer 49,38) Sie gingen nach Edom ins Exil und die Schechina war mit ihnen, denn es heißt: Wer kommt da von Edom her? (Jes 63,1) Und wenn sie zurückkehren, kehrt die Schechina mit ihnen zurück, denn es heißt: Und JHWH, dein Gott, wird zurückkehren mit deinen Gefangenen, er wird sich deiner erbarmen. (Dtn 30,3)30
Diese Sinneinheit über die Wanderungen der Schechina wird am Ende der Mechilta noch einmal in Variation wiederholt. Damit umklammert dieses 28 29 30
Übersetzung: Stemberger, Mekhilta, 10‒11. Stemberger, Mekhilta, 11. Stemberger, Mekhilta, 68‒69.
254
Dagmar Börner-Klein
Thema den gesamten Midrasch und muss als ein Hauptthema interpretiert werden.31 Der Aspekt des Wanderns wird schließlich in der Mechilta als spezifisches Merkmal hervorgehoben: [Wenn die Völker der Welt sagen:] Siehe, ihr seid schön, siehe, ihr seid Helden. Kommt und vermischt euch mit uns, dann antworten die Israeliten den Völkern der Welt: Kennt ihr ihn? Wir wollen euch ein wenig von seinem Lob verkünden: Mein Geliebter ist weiß und rot. (Hld 5,10) Und wenn die Völker der Welt das Lob dessen hören, der sprach und die Welt war, sagen sie zu Israel: Wir wollen mit euch gehen. Es heißt ja: Wohin ist dein Geliebter gegangen [… wir wollen ihn mit dir suchen]. (Hld 6,1) Doch Israel antwortet den Völkern der Welt: Ihr habt keinen Anteil an ihm; vielmehr ist Mein Geliebter mein, und ich bin sein. (Hld 2,16) Meinem Geliebten gehöre ich, und mir gehört der Geliebte. (Hld 6,3) Die Weisen sagen: Ich will ihn begleiten, bis ich mit ihm zu seinem Tempel komme.
Zusätzlich finden sich innerhalb der Mechilta Verweise auf die Thematik. Zu Ex 18,12 (Und Aaron und alle Ältesten Israels kamen, um mit dem Schwiegervater Moses vor dem Angesicht Gottes ein Mahl zu halten) zieht die Mechilta einen Vergleich aus der biblischen in die rabbinische Zeit: Und Aaron und alle Ältesten Israels kamen. (Ex 18,12) Und was lehrt die Schrift mit den Worten: Vor dem Angesicht Gottes? (Ex 18,12) Sie lehrt, dass jeder, der seinen Nächsten aufnimmt, gleichsam die Schechina aufnimmt.32
Eine weitere Stelle aus der Mechilta erklärt aber, ein Entschwinden der Schechina werde durch das schlechte Handeln der Israeliten verursacht: Und die Schrift sagt, dass jeder, der demütig ist, schließlich bewirkt, dass die Schechina mit den Menschen auf Erden wohnt. Es heißt ja: Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig Thronende, dessen Name „der Heilige“ ist: Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei den Zerschlagenen und Bedrückten. (Jes 57,15) […] Doch jeder, der hochmütig ist, verunreinigt die Erde und bewirkt, dass sich die Schechina entfernt. Es heißt ja: Stolze Augen und hochmütiges Herz kann ich nicht ertragen. (Ps 101,5) […] So wie ein Götze das Land verunreinigt und bewirkt, dass sich die Schechina entfernt, so verunreinigt jeder, der hochmütig ist, die Erde und bewirkt, dass sich die Schechina entfernt.33
Goldberg verweist darauf, dass das Verdienst des Einzelnen der Gesamtheit zugutekomme, seine Schuld schädige sie.34 Auch der Kommentar zu Ex 20,21 (An jedem Ort, an dem ich meinem Namen ein Gedächtnis stifte, werde ich zu dir kommen und dich segnen) bezieht den Vers im Kommentar auf die Zeit der Rabbinen: [An jedem Ort,] an dem ich mich über dir offenbare – im Tempel. Von hier sagten sie: Es ist verboten, den expliziten Gottesnamen außerhalb des Tempels auszusprechen. Rabbi Elieser ben Jakob sagt: Wenn du in mein Haus kommst, komme ich in dein Haus, wenn du aber nicht in mein Haus kommst, komme auch ich nicht 31 32 33 34
Stemberger, Mekhilta, 160. Stemberger, Mekhilta, 240‒241. Stemberger, Mekhilta, 291‒292. Vgl. auch Goldberg, Untersuchungen, 154‒156. Goldberg, Untersuchungen, 156.
Die wandernde Schechina
255
in dein Haus. Zum Ort, den mein Herz liebt, dorthin führen mich meine Füße. Von hier sagten sie: Wo immer zehn Menschen in die Synagoge kommen, ist die Schechina mit ihnen. Es heißt ja: Gott steht in der Versammlung Gottes. (Ps 82,1) Und woher [ist zu belegen], sogar bei dreien, die richten? Es heißt ja: Im Kreis der Götter hält er Gericht. (Ps 82,1) Und woher [ist zu belegen], sogar bei zweien? Es heißt ja: Darüber reden die miteinander, die den Herrn fürchten. (Mal 3,16) Und woher [ist zu belegen], sogar bei einem? Es heißt ja: An jedem Ort, an dem ich meinem Namen ein Gedächtnis stifte, werde ich zu dir kommen und dich segnen. (Ex 20,21)35
Die Mechilta de-Rabbi Jischmael präsentiert die Wanderungen der Schechina als ein zentrales Thema der biblischen und rabbinischen Zeit. Solange Israel im Stämmeverbund mit Gott unterwegs war, erwies sich dieser gegenwärtig und ortsungebunden. Er zog mit den Israeliten von Exil zu Exil. Nach Errichtung des Tempels in Jerusalem nimmt die Schechina im Tempel Wohnung. Nach der Zerstörung des Tempels ruht die Schechina dort, wo es Demut gibt und dort, wo Gottes gedacht wird, insbesondere in der Synagoge.
3.
Sifre Numeri
Anders als die Mechilta betont der Midrasch Sifre Numeri gleich in seinem ersten Paragraphen, dass die Schechina auch dann, wenn Israel unrein sei, bei ihnen wohne: In deren Mitte ich wohne. (Num 5,3) Geliebte sind die Israeliten. Denn selbst wenn sie unrein sind, ist die Schechina bei ihnen. Und in diesem Sinne heißt es: Die bei ihnen wohnt inmitten ihrer Unreinheit. (Lev 16,16)36
Wenn Gott selbst bei Israel in Unreinheit wohnt, wird er auch bei Israel weilen, wenn dieses in Not ist. Daher heißt es in Sifre Numeri § 84: Und ebenso findest du, wann immer Israel geknechtet ist, verknechtet sich die Schechina sozusagen mit ihnen, denn es heißt: Und sie sahen den Gott Israels, und unter seinen Füßen war [etwas] wie ein Werk von Ziegeln aus Saphir. (Ex 24,10) Und in diesem Sinne heißt es: Bei all ihrer Not leidet [auch] er Not. (Jes 63,9) Ich habe [hier] nur: Die Not der Gemeinde. Woher [ist zu belegen, auch] die Not des einzelnen? Die Bibel lehrt: Ruft er mich, so werde ich ihn erhören. Ich bin bei ihm in der Not. (Ps 91,15)
An diese Auslegung schließt sich die bereits aus der Mechilta bekannte Aussage an, die Schechina sei mit Israel in das Exil gegangen, nach Ägypten, nach Babel, nach Elam und nach Edom. Dann heißt es:
35 36
Stemberger, Mekhilta, 299. Übersetzung: Börner-Klein, Sifre Numeri.
256
Dagmar Börner-Klein Und wenn sie zurückkehren, kehrt die Schechina mit ihnen zurück, denn es heißt: Und der Herr, dein Gott, wird zurückkehren mit deinen Gefangenen. (Dtn 30,3) Es heißt nicht „er lässt zurückkehren“, sondern „der Herr wird zurückkehren“.
Mit der Mechilta stimmt Sifre Numeri darin überein, dass aber Sünden die Anwesenheit der Schechina vertreibt. In Sifre Numeri § 160 heißt es: Ein Mörder verunreinigt das Land und vertreibt die Schechina, aber der Hohepriester bewirkt, dass die Schechina im Land auf dem Menschen weilt.
Auffällig ist schließlich, dass auch Sifre Numeri mit einer Schechina-Auslegung schließt, in der die Kernaussage, die Schechina weile auch dann in Israel, wenn dieses unrein ist, wiederholt wird. In Sifre Numeri § 161, dem letzten Paragraphen des Midrasch, wiederholt sich die Auslegung zu Num 5,3, wenn Num 35,34 kommentiert wird: In dessen Mitte ich wohne. (Num 35,34) Geliebte sind die Israeliten. Denn selbst wenn sie unrein sind, ist die Schechina bei ihnen, denn es heißt: Die bei ihnen wohnt, inmitten ihrer Unreinheit. (Lev 16,16)
Wiederholt wird nun auch wieder das Motiv der Wanderungen der Schechina: Rabbi Natan sagt: Geliebte sind die Israeliten. Denn überall, wohin sie in das Exil gingen, war die Schechina mit ihnen. Sie gingen nach Ägypten in das Exil; die Schechina war mit ihnen, denn es heißt: Ich bin doch in das Exil, zum Hause deines Vaters, gegangen, als ihr in Ägypten wart, zum Hause Pharaos. (1 Sam 2,27)
Auch hier wandert dann die Schechina nach Babel, nach Elam und Edom. Und wenn sie zurückkehren, kehrt die Schechina mit ihnen zurück, denn es heißt: Der Herr, dein Gott, wird [mit] deinem Gefangenen zurückkehren ( )ושבund sich deiner erbarmen. (Dtn 30,3) Es heißt nicht „er lässt zurückkehren“ ()השיב, sondern: Der Herr, dein Gott, wird zurückkehren ()ושב.
Beide Midraschim, die Mechilta und Sifre Numeri, weisen dieselbe Textkomposition in Bezug auf die Einarbeitung des Themas ‚Wanderung der Schechina‘ auf. Beide benutzen die Aussage, die Schechina begleite Israel von Exil zu Exil als Klammer, die den gesamten Midrasch umfasst. Nur Israel selbst kann Gott davon abhalten, Israel auf seinen Wanderungen zu begleiten, indem es sündigt. Nicht Unreinheit hält Gott ab, sich bei Israel aufzuhalten, sondern Mord, wenn das Leben eines Menschen genommen wird.
Die wandernde Schechina
4.
Die Schechina in der späteren rabbinischen Literatur
4.1
Jalkut Schimoni Numeri
257
Auch in dem spätmittelalterlichen Jalkut Schimoni, einem fortlaufenden Kommentar zur hebräischen Bibel aus tausenden von Textstellen aus Midrasch und Talmud, wurden Texte zur wandernden Schechina mit aufgenommen wie folgende Kommentierung aus Midrasch Tanchuma zu Num 3,15 (Mustere die Söhne Levis): Und auch, als die Israeliten aus dem Exil heraufzogen, fanden sie niemanden von ihnen,37 weil es so wenige waren, denn es heißt: Da bemerkte ich das Volk und die Priester, aber von den Söhnen Levis fand ich dort niemanden. (Esr 8,15) Der Heilige sagte: In dieser Welt sind sie vertilgt worden, weil sie meine Herrlichkeit gesehen haben, denn es heißt: Denn kein Mensch kann mich sehen und leben. (Ex 33,20) Aber in der kommenden Welt, wenn ich meine Schechina nach Zion zurückkehren lasse, offenbare ich von meiner Herrlichkeit über ganz Israel, und sie sehen mich und leben ewig, denn es heißt: Denn Auge in Auge werden sie sehen. (Jes 52,8) Und nicht nur das, sondern sie zeigen einander [auf] meine Herrlichkeit mit dem Finger und sagen: Denn dieser ist Gott, unser Gott [für immer und ewig], er wird uns auf immer führen. (Ps 48,15) Und es heißt: An jenem Tag wird man sagen: Siehe, dies ist unser Gott. (Jes 25,9)38
Dieser Text betont, dass die Schechina in der künftigen Welt nach Zion zurückkehrt und dann von allen gesehen werden kann. Ex 33,20, wo Gott von sich selbst sagt „Denn kein Mensch kann mich sehen und leben“, wird künftig keine Gültigkeit mehr besitzen. In der kommenden Welt wird die Schechina bei den Menschen wohnen und Gott damit sichtbar sein. Bis zum Anbruch dieser künftigen Welt ist Gottes Gegenwart aber durch das Studium der Tora erlebbar. Daher betont der Jalkut Schimoni mehrfach in seiner Kommentierung zum Buch Numeri, dass der Tora-Lehrer eine autoritative Gestalt und Mittler ist, um jemanden „unter die Fittiche der Schechina“ zu führen. So heißt es zu Num 16,25 (Da erhob sich Mose und ging zu Datan und Abiram): Rab Chisda sagte: Jeder, der seinem Lehrer widerspricht, ist, als ob er der Schechina widerspreche, denn es heißt: Als sie mit dem Herrn haderten. (Num 26,9)39
Dass die Tora aber mit frohem Herzen und sogar mit Musik im Ohr studiert werden soll, betont der Jalkut Schimoni zu Numeri 31,21 (Da sprach Eleasar der Priester) mit einem Zitat aus dem babylonischen Talmud Traktat Pesachim 66b und 117a: 37 38 39
Die Leviten sind gemeint. Hyman / Schiloni, Jalkut Schimoni, 15; Börner-Klein, Jalkut Schimoni, Bd. 1, 140. Hyman / Schiloni, Jalkut Schimoni, 353; das Zitat stammt aus bSanh 110a.
258
Dagmar Börner-Klein Schimon ben Lakisch sagte: Jeder, der zornig wird, verliert, wenn er ein Weiser ist, seine Weisheit. Wenn er ein Prophet ist, verliert er seine Prophetie. Woher [ist zu belegen], dass er seine Weisheit verliert, wenn er ein Weiser ist?40 Von Mose, denn es steht geschrieben: Da zürnte Mose über die Anführer des Heeres. (Num 31,14) Und am Ende steht geschrieben: Da sprach Eleasar der Priester zu den Kriegsleuten[, die in den Kampf gezogen waren: Das ist die Gesetzesbestimmung, die der Herr Mose befohlen hat]. (Num 31,21) Daraus ist zu schließen, dass Mose sie vergessen hatte.41 Ist er ein Prophet, verliert er seine Prophetie. Von Elischa [ist es zu belegen], denn es steht geschrieben: Denn wenn ich auf Jehoschafat [den König von Juda] nicht Rücksicht nähme, ich wollte nicht auf dich blicken, noch dich ansehen. (2 Kön 3,14) Und es steht geschrieben: Jetzt holt mir einen Saitenspieler. Wenn der Saitenspieler spielte, kam der Geist Gottes über ihn. (2 Kön 3,15) Das lehrt, dass die Schechina nicht bei Trägheit, nicht bei Traurigkeit auf einem [ruht].42
4.2
Mose ben Nachman zu Lev 26,12
Dass das Wandern mit der Schechina niemals aufhören wird, erklärt schließlich Nachmanides (1194–1270) zu Lev 26,12 (ich will in eurer Mitte wandeln – )והתהלכתי43: So “I will walk among youˮ alludes to that aspect of God that our Sages named the Shekhinah, a name they derived precisely from v. 11: “I will establish My abode [mishkani] in your midst.ˮ They say that the Shekhinah “restsˮ upon Israel, and even that the essence of the Shekhinah is its presence here in the sublunar world. The cognoscenti therefore understand that our passage alludes both to the Garden of Eden and to the World to Come. But these blessings are not to be entirely fulfilled until all Israel does the will of their Father, when heaven and earth achieve their perfect, original form. […] You will thus find, that our Sages apply the promises on our chapter to the messianic future, when a child will be able to thrust his hand into the mouth of a viper and extract the venom. The Holy One will indeed stroll among the righteous in that ultimate future, for it has not yet been fulfilled, but it will eventually be fulfilled for us, in the time of completion.44
Die Wanderung der Schechina wird auch in der kommenden Welt kein Ende haben, da die Schechina auch dann in Bewegung bleibt, um bei den Gerechten zu sein, um mit ihnen zu wandeln.
40 41 42 43 44
Vgl. Raschi zu Num 31,21. Denn Eleasar, der Priester musste ihm sagen, was zu tun ist. Hyman / Schiloni, Jalkut Schilmoni, 629. Börner-Klein, Jalkut Schimoni, 1201‒1202. Übersetzung: Carasik, Mikraot Gedolot Leviticus, 221f. Vgl. Nachmanidesʼ Kommentar zu Ex 17,16.
Die wandernde Schechina
259
Literatur BALDERMANN, Ingo, Der Gott der Lebenden. Die Einzigartigkeit der biblischen Gotteserfahrung, Neukirchen-Vluyn 2013. BÖRNER-KLEIN, Dagmar, Der Midrasch Sifre zu Numeri. Rabbinische Texte. (Zweite Reihe Tannaitische Midraschim 3), Stuttgart 1997. BÖRNER-KLEIN, Dagmar, Jalkut Schimoni zu Numeri. Teilband 1 und 2 (Jüdische Bibelauslegung im Mittelalter), Berlin/Boston 2017. CARASIK, Michael (Hg.), Mikraot Gedolot. Commentators´ Bible Leviticus, Philadelphia 2009. COHEN, Norman J., Shekhinta ba-Galuta: A Midrashic Response to Destruction and Persecution, in: JJS 13 (1982), 147‒159. ERNST, Hans Peter, Die Schechina in den rabbinischen Gleichnissen, Frankfurt a. M. 1994. GOLDBERG, Arnold, Untersuchungen über die Vorstellung von der Schechina in der frühen rabbinischen Literatur, Berlin 1969. HYMAN, Arthur B. / SCHILONI, Jitzchak, Jalkut Schimoni al ha-Tora. Sefer bemidbar, Jerusalem 1986. JASTROW, Marcus, A Dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature, London 1903. JANOWSKI, Bernd / POPPKES, Enno Edzard (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014. JANOWSKI, Bernd, Die Einwohnung Gottes in Israel. Eine religions- und theologiegeschichtliche Skizze zur biblischen Schechina-Theologie, in: Janowski, Bernd / Poppkes, Enno Edzard (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur SchechinaVorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014, 3‒40. LEUENBERGER, Martin, Die personifizierte Weisheit als Erbin der atl. „Schechina“, in: Janowski Bernd / Poppkes Enno Edzard (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014, 65‒84. NEWMANN, Louis I. / SPITZ, Samuel (Hg.), The Hasidic Anthology. Tales of Teachings of the Hasidim. Translated from the Hebrew, Yiddish, and German, Selected, Compiled and Arrangend, New York 1963. NIGAL, Gedalyah, translated by Edward Levin, The Hasidic Tale, Oxford 2008. PARZEN, Herbert, The Ruach Hakodesch in Tannaitic Literature. JQR 20 (1929‒30), 51‒ 76. SCHÄFER, Peter, „Denn ich will unter ihnen wohnen“: Die Schechina der Rabbinen, in: Janowski, Bernd / Poppkes, Enno Edzard (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014, 119‒138. SCHÄFER, Peter, Der Bar Kokhba-Aufstand. Studien zum zweiten jüdischen Krieg gegen Rom (TSAJ 1), Tübingen 1981. SCHÄFER, Peter, Die Vorstellung vom Heiligen Geist in der rabbinischen Literatur, München 1972. SCHÄFER, Peter, Geschichte der Juden in der Antike. Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, Tübingen 22010. SCHOLEM, Gershom, Zur Entwicklungsgeschichte der kabbalistischen Konzeption der Schechina (Eranos Jahrbuch 21), Frankfurt a. M. 1952, 43‒107. STEMBERGER, Günter, Mekhilta de-Rabbi Jischmael. Ein früher Midrasch zu Exodus, Berlin 2010.
260
Dagmar Börner-Klein
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Kulturelle Spuren von Migration in frühchristlichen Inschriften aus Galatien1 Jennifer Krumm
1.
Einleitung
Die Region Galatien in Zentralanatolien hat in ihrer Geschichte eine Reihe von Eroberungs- und Migrationsbewegungen erlebt. Das phrygische Großreich und die makedonischen Eroberungen hinterließen ihre Spuren. Nach den Galatern, keltischen Einwanderern, die das Gebiet ab dem 3. Jh. v. Chr. regierten, wurde die Region dauerhaft benannt. Schließlich wurde sie 25 v. Chr. in eine römische Provinz überführt. Welche Rolle spielten diese unterschiedlichen kulturellen Einflüsse für die frühen Christinnen und Christen in Galatien? Von allen Quellen, die man daraufhin befragen könnte, stehen hier die christlichen Inschriften der Region im Mittelpunkt. Sie werden der Reihe nach auf indigene bzw. phrygische, keltische, griechisch-hellenistische und römische Spuren untersucht. Im Anschluss wird ein kurzer Blick auf spezifisch christliche Personendarstellungen geworfen, um zu diskutieren, ob und inwiefern sie neue Arten der Identifizierung einbrachten, die bestehende ablösten. Bei den rund 450 wahrscheinlich christlichen Inschriften, die wir aus Galatien kennen, handelt es sich vornehmlich um Grabinschriften.2 Sie stammen aus der Zeit zwischen dem 3. und dem 6. Jh. n. Chr., also aus dem Übergang zwischen Spätantike und frühbyzantinischer Zeit. Leider tragen nur die wenigsten dieser Inschriften ein Datum, die weitaus meisten können nur ungefähr innerhalb des genannten Zeitraums eingeordnet werden. Des Weiteren ist gerade bei den älteren (und damit interessanteren) Inschriften die Identifikation als christlich nicht immer eindeutig und oft genug auch gar nicht möglich. Christliche Formulare brauchten eine Weile, bis sie sich herausbildeten. Trotz dieser Schwierigkeiten können die Inschriften einiges über verschiedene kulturelle und ethnische Einflüsse verraten: Vor allem bieten sie eine
1
2
Die hier präsentierten Forschungsergebnisse wurden gefördert durch den Exzellenzcluster TOPOI. Sie sind Teil meines Dissertationsprojektes zum Thema „Early Christianity in Galatia“ im Rahmen der TOPOI-Forschergruppe B-5-3-1 (siehe dazu den Link: http://www.topoi.org/project/b-5-3/, 29.09.2017). Die Inschriften sind online zugänglich in der Datenbank Inscriptiones Christianae Graecae (ICG), die sukzessiv erweitert wird: Breytenbach / Halloff / Huttner / Krumm / Mitchell / Ogereau / Sironen / Veksina / Zimmermann, Inscriptiones.
262
Jennifer Krumm
große Zahl an Personennamen, die sich auf ihre sprachliche Herkunft hin auswerten lassen. Aber auch besondere Monumentformen und Verzierungen sowie literarische Vorbilder einer Inschrift oder schlicht der Gebrauch einer bestimmten Sprache, vornehmlich des Griechischen, aber auch des Lateinischen oder sogar des Phrygischen, können in dieser Hinsicht aufschlussreich sein. Bei der Untersuchung solcher kulturellen Spuren zeigen sich auch innerhalb Galatiens regionale Unterschiede. Daher empfiehlt es sich, auch das onomastische Material regional differenziert zu betrachten. In diesem Rahmen werden die Eigennamen aus den christlichen Inschriften zweier Gegenden ausgewertet: Für Ankyra, die bedeutendste Stadt Galatiens, und für das Territorium im Südwesten, im südlichen Teil des Haymana-Hochlandes, das die kleine Stadt Kinna umfasste, ansonsten aber sehr ländlich geprägt war. Dies ermöglicht einen Vergleich zwischen Stadt und Land (s. u. Tabellen 1 und 2). Allerdings unterscheidet sich das epigraphic habit in beiden Gegenden: Aus dem ländlichen Gebiet stammen christliche Inschriften, die bereits ins 3. Jh. zu datieren sind.3 Dagegen sind erkennbar christliche Inschriften in der Stadt Ankyra in der Regel erst ab dem 4. Jh. zu registrieren, ein großer Teil sogar später. Dieser Unterschied muss bei der Auswertung mitbedacht werden. Inschriften können einen Einblick in den Alltag und die Wertvorstellungen von Menschen geben. Grabinschriften zeigen besonders, wie Menschen gesehen bzw. erinnert werden wollten, bzw. welche Form der Selbstdarstellung und Erinnerung gesellschaftlich als adäquat angesehen wurde. Insofern können sie auch daraufhin befragt werden, welche Spuren verschiedener kultureller Prägungen dort zu finden sind und inwiefern diese für die Identifizierung der Bestatteten und ihrer Familien eine Rolle gespielt haben. Natürlich sind die unterschiedlichen kulturellen Spuren, die sich dabei nachweisen lassen, nicht in jedem Fall entscheidend für das individuelle Selbstverständnis der betreffenden Personen. Gerade im Falle von Personennamen ist dies evident: Vor allem populäre und weit verbreitete Namen können von Eltern aus sehr unterschiedlichen Gründen vergeben worden sein, von denen die etymologisch zu erschließende Bedeutung des jeweiligen Namens sicher nicht der stärkste war. Dennoch sagt der Namensschatz einer Gegend auch etwas über ihre kulturelle Zugehörigkeit aus.4 Dabei können Namen allerdings in einem neuen Kontext auch neu interpretiert und konnotiert werden.5 Dementsprechend können die kulturellen Spuren nur in einem recht weiten Sinne auf Migrationsbewegungen bezogen werden. Ob die Personen, die auf den Inschriften genannt werden, persönlich oder familiär mit einer 3
4 5
Besonders wichtig ist hier die Inschrift für die Ziehkinder des Antigonos aus dem modernen Ort Yurtbeyli, die ins Jahr 272 nach der Provinzgründung, also 247/48 n. Chr. zu datieren ist, ICG 2404 = RECAM 2.325. Strobel, Galater, 382–385. Vgl. das Konzept der ‚interkulturellen Onomastik‘ bei Coşkun, Anthroponomy, 54– 58.
Kulturelle Spuren von Migration
263
bestimmten kulturellen Prägung verbunden waren oder ob sie nur aufgenommen haben, was ‚in der Luft lag‘, lässt sich meist nicht mehr sagen. Es geht also weniger um Menschen, die wandern, als vielmehr um die kulturellen Spuren dieser Wanderungen, die nach mehr oder weniger langer Zeit noch erkennbar waren, oder sich verloren hatten.
2.
Kulturelle Spuren in den christlichen Inschriften
2.1
Anatolische und phrygische Elemente
Kulturelle Spuren, die sich als kleinasiatisch indigen bezeichnen lassen, finden sich in Form von Personennamen, v.a. der in ganz Anatolien verbreiteten sog. ‚Lallnamen‘ oder ähnlichen zweisilbigen Namen. Namen wie Papas, Ninna, Mouna, Dada oder Douda finden sich im ländlichen Gebiet im Südwesten Galatiens auch in christlichen oder zumindest wahrscheinlich christlichen Inschriften immerhin sieben Mal.6 In den christlichen Inschriften aus Ankyra spielen sie dagegen kaum eine Rolle. Das mag daran liegen, dass letztere im Schnitt jünger sind (s. Tabelle 1).
6
7 8 9
Südl. HaymanaHochland und Kinna
Ankyra
Gesamt
83 (100%)
133 (100%)
Griechisch
51 (61,5%)
92 (69%)
Lateinisch
18 (22%)
24 (18%)
Kleinasiatisch
11 (13%)7
5 (4%)8
Keltisch
2 (2,5%)9
Papas: ICG 2417 = RECAM 2.365 (Ende 4./5. Jh.); ICG 334 = MAMA 7.450 (3. Jh., christlicher Kontext unsicher); Ninna: ICG 2415 = RECAM 2.354 (Ende 4. /5. Jh.); Mouna: ICG 2408 = RECAM 2.333 (3./4. Jh.); Dada: ICG 2401 = RECAM 2.307 (3./4. Jh., christlicher Kontext unsicher); Douda: ICG 332 = MAMA 7.439 (3./4. Jh., christlicher Kontext unsicher); ICG 335 = MAMA 7.451 (3./4. Jh.?). Domnos (2×), 7 ‚Lallnamen‘ (s. Anm. 6), Ge, Nas. 1 ‚Lallname‘ (Dadas), Loulia/Loulianos, Tarasis (isaurisch), Orogenes. Vellanos, Kepouastes.
264
Jennifer Krumm Semitisch
1 (1%)10
Iranisch
11 (8%)11 1 (1%)12
Tabelle 1: Sprachliche Zuordnung der Personennamen in wahrscheinlich christlichen Inschriften.
Allerdings gibt es im Südwesten auch ‚Lallnamen‘ auf solchen Inschriften, die vermutlich spät (also um das 5. Jh.) zu datieren sind. So errichtete bspw. ein Presbyter namens Papas einen Grabstein für seine Tochter Paule, den wohl einmal ein großes Tatzenkreuz im Kreis geziert hat. + Παπας ἐλέη θεοῦ | πρεσβύτερος ἀνέσ|τησα τέκνου μου | Παύλης μνή|| μης χάριν. +13 Ich, Papas, durch das Erbarmen Gottes Presbyter, errichtete (das Grab) meines Kindes Paule, zum Gedenken.
Sowohl die Dekoration des Steins als auch die Formulierung ἐλέη θεοῦ πρεσβύτερος (wohl: „durch das Erbarmen Gottes Presbyter“) legen eine späte Datierung gegen Ende des 4. oder im 5. Jh. nahe. Während seine Tochter den unter Christinnen häufigen Namen Paule trug, hörte der Presbyter auf den indigenen Namen Papas.14 Es scheint also, dass sich solche Namen im ländlichen Bereich länger hielten. Die sogenannten ‚Lallnamen‘ waren in Kleinasien fast überall vertreten und daher kulturell ein recht unspezifisches Phänomen.15 Kulturell spezifischer sind dagegen Spuren phrygischer Kultur. Ein großer Teil des galatischen Siedlungsgebiets, das Gebiet westlich des Halys, gehörte ursprünglich zu Großphrygien. Es umfasste unter anderem das phrygische Zentrum Gordion in der Nähe von Ankyra.16 Spätestens mit der Gründung der römischen Provinz 25 v. Chr. kamen mit dem ehemaligen Tempelstaat Pessinus und der Region nordwestlich des Tatta-Sees (um die spätere Stadt Kinna) weitere phrygisch geprägte Gebiete zu Galatien hinzu.17 Eine phrygische Prägung in christlichen Inschriften ist vor allem bei Steinen aus diesen letztgenannten Gebieten zu erkennen.
10 11 12 13 14 15 16 17
Maria. Martha, Maria (4×), Johannes (3×), Joannia, Ananias (2×). Sisinnos. ICG 2417 = RECAM 2.365. Zgusta, Personennamen, § 1199 –1. Parker, Introduction, 5. Strobel, Galater, 367–369 sowie Strobel, Galater I, 252–257. Vgl. Strobel, Galater, 375–378.
Kulturelle Spuren von Migration
265
Am auffälligsten sind hier wohl zweisprachige Inschriften, die neben einem griechischen Text auch eine neuphrygische Formel zum Schutz des Grabes enthalten.18 Einige von ihnen lassen sich ins 3. Jh. n. Chr. oder später datieren.19 Sie zeigen somit, dass das Phrygische noch mindestens bis in diese Zeit eine Rolle gespielt hat. Aus dem Katalog, den Haas anführt, stammen mindestens 14 der 110 Inschriften von Fundorten im Südwesten Galatiens, an der Grenze zu Lykaonien.20 Allerdings ist keine von ihnen als christlich zu identifizieren. Lediglich eine Inschrift bietet ein allerdings schwaches Indiz für einen christlichen Kontext: Die Bestattete wird als Jungfrau bezeichnet. Eventuell war sie eine (christliche) Asketin, vielleicht aber auch einfach eine unverheiratete Frau. Der Stein stammt aus dem modernen Ort Kozanlı, der wohl auf dem Territorium der antiken Stadt Kinna liegt. Bei dem mittlerweile verschollenen Grabstein handelte es sich um eine Stele mit dem Porträt einer Frau sowie Spindel und Spinnrocken im Giebel. Σασας καὶ Ὀας | καὶ Πρειουεις γυ|νὴ αὐτῶ Δι[. .]|δι τῇ ἰδείᾳ θυ||γατρὶ γλυκυ|τάτῇ παρθέν[ῳ] |ἀνέστησαν | μνήμης χάριν·| ιος σεμιν κνο (vacat).21 Sasas, der auch Oas heißt, und seine Frau Preioueis errichteten (dies) für Di[…], ihre Tochter, die liebste Jungfrau, zum Gedenken. (Beginn phrygischer Fluchformel)
Die Betonung der Jungfräulichkeit der Tochter könnte zwar auf einen christlichen Kontext hinweisen, ein sicheres Indiz ist dies aber nicht. Weitere Hinweise darauf, dass die Familie christlich gewesen sein könnte, bietet die Inschrift leider auch nicht. Auch der rätselhafte Umstand, dass die phrygische Formel am Ende in der Mitte des dritten Wortes abbricht, entbehrt einer Erklärung.22 Steine mit deutlich christlichem Charakter zeigen zumindest in bildlicher Form Hinweise auf einen phrygischen Hintergrund. Auf Grabsteinen aus ländlichen Regionen Phrygiens sind Darstellungen von landwirtschaftlichem Gerät, Ochsengespannen, Haushaltsgeräten und auf den Gräbern von Frauen von Spindeln und Spinnrocken sehr häufig. Vermutlich stellten sie das bäuerliche Leben und den Wohlstand der Bestatteten dar.23 Grabsteine mit solchen Motiven finden sich auch im Südwesten Galatiens, in den Gebieten von Pessinus, im Haymana-Hochland und in Kinna. Unter diesen Steinen gibt es auch einige christliche. 18 19 20 21 22
23
Die klassische Sammlung und Interpretation dieser Inschriften bietet Haas, Sprachdenkmäler. Haas, Sprachdenkmäler, 71. Vgl. Haas, Sprachdenkmäler, 113–129, wohl zu Galatien zu zählen sind die Nummern 32; 33; 34; 35; 36; 47; 59; 60; 78; 79; 100; 105; 106; 107. MAMA 7.437. Vgl. als vollständiges Beispiel aus derselben Gegend MAMA 7.436 = Haas, Sprachdenkmäler, Nr. 106: ιος νι σεμουν κνουμανει κακουν αδοκετ | ζειρα ιτιτετικμενος Ατ|τι αδειτου γεγρειμενον || κ(ε) εγεδου ορουενος ουτον. Waelkens, Votive, 277–315.
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Jennifer Krumm
Aus Pessinus stammen zwei sogenannte ‚Türsteine‘, breite Grabsteine mit Scheintüren im Relief, die in ganz Phrygien verbreitet waren.24 Beide lassen relativ deutlich einen christlichen Kontext erkennen. Im einen Fall macht es die Bezeichnung κοιμητήριον (Schlafstätte) für das Grab, der in einer der drei Inschriften auf dem Stein verwendet wird, sehr wahrscheinlich, dass es einer christlichen Familie gehörte. Bei dem Zweitnamen Kyrilla, den die Bestattete trug, könnte es sich zudem um einen christlichen Taufnamen handeln. [— — — κὴ] | Φιλομήλα ἡ | κὴ Κύριλλα | ζῶντες ἀν||έστησαν τ|ὸ κοιμητή|ριν ἑαυτοῖς, | εἰδ[ότε]ς τὴν ἐπιλη|[σμοσύν]ην τῶν κλ||[ηρονό]μων.25 […] und Philomela, die auch Kyrilla heißt, errichteten zu Lebzeiten das Grab (die Schlafstätte) für sich selbst; denn sie erkannten die Vergesslichkeit der Erben.
Der Stein ist mit Weinranken verziert und auf den Feldern der beiden Türen finden sich jeweils Motive, die den beiden Ehepartnern entsprechen: Auf der Seite des Mannes Winzermesser, Spaten und Pflug, auf der der Frau u. a. Spindel und Spinnrocken sowie ein Spiegel. Der zweite christliche Türstein aus Pessinus gehörte einem Epiktetos, der vor einer Störung seines Grabes mit Verweis auf das Jüngste Gericht warnte: δώσε[ι λ]όον τῷ θ[ε]ῷ ἐν ἡμέρᾳ κρίσεως.26 Leider ist dieser Stein zwischenzeitlich verschollen, und über seine bildlichen Motive ist nichts bekannt.27 Bei weiteren christlichen Grabsteinen aus dem Südwesten handelt es sich zwar um relativ einfache Stelen, die aber kleinere Motive aus dem genannten Bildprogramm zeigen: Der Stein eines Bischofs ist mit Weinranken verziert, unter der Inschrift sind ein Tisch mit geschweiften Beinen sowie zwei Gefäße zu sehen.28 Ein solcher Tisch findet sich auch auf zumindest zwei weiteren Stelen.29 Auf einem weiteren Stein sind unter anderem eine Kornschwinge und zwei Rinder zu sehen.30 Unter der Inschrift für einen Presbyter ist wohl ein Pflug abgebildet.31 Diese Beispiele zeigen, dass in den phrygischen Gebieten Galatiens phrygische Einflüsse auch in der Form oder den Verzierungen christlicher Grabmonumente zu finden sind. Allerdings besteht die Mehrzahl von ihnen aus sehr schlichten Grabstelen, die höchstens abstrakte Verzierungen zeigen.
24 25 26 27
28 29 30 31
Waelkens, Türsteine. ICG 2322 = IK 66.127, Waelkens, Türsteine, Nr. 768. ICG 2317 = IK 66.85, Waelkens, Türsteine, Nr. 772. Bei dem Grabstein für den Presbyter Platon, gefunden beim modernen Ort Bağici, ICG 2390 = RECAM 2.237, handelte es sich dagegen wohl nicht um einen Türstein, sondern um eine Stele, vgl. Waelkens, Türsteine, Nr. 789. ICG 2408 = RECAM 2.333. ICG 1510 = MAMA 11.230; ICG 2411 = RECAM 2.345. ICG 2418 = RECAM 2.371. ICG 2405 = RECAM 2.328.
Kulturelle Spuren von Migration
2.2
267
Keltische Spuren
Obwohl die keltischen Einwanderer, die sich im 3. Jh. v. Chr. in Galatien ansiedelten, kulturprägend wirkten und der Region immerhin ihren Namen gaben, sind sie in den christlichen Inschriften schwerer wahrnehmbar. Im Gegensatz zum Phrygischen schlug sich die keltische Sprache in Galatien nicht in Inschriften nieder. Aus literarischen Quellen geht zwar hervor, dass zu der Zeit, aus der die christlichen Inschriften stammen, in Galatien noch Keltisch gesprochen wurde:32 Lukian von Samosata lässt im 2. Jh. n. Chr. galatisch sprechende Barbaren Orakelanfragen an Alexander von Abonuteichos stellen.33 Im 4. Jh. stellt Hieronymus in seinem Galaterkommentar fest, dass die Galater neben dem Griechischen eine eigene Sprache haben.34 Noch im 6. Jh. berichtet Kyrill von Skythopolis von einem Mönch, der von einem Dämon besessen, nur noch seine Muttersprache Galatisch sprechen konnte, bis er durch ein posthumes Wunder des Heiligen Euthymios geheilt wurde.35 Keltische Namen waren in der Ober- und Mittelschicht neben solchen römischer und griechischer Herkunft zumindest bis ins 2. Jh. n. Chr. noch relativ stark vertreten.36 Auch im allgemeinen epigraphischen Befund finden sie sich mindestens bis ins 3. Jh. n. Chr., allerdings nicht in sehr großer Zahl.37 Auch in den christlichen Inschriften sind nur wenige Personen mit keltischen Namen zu finden. Zudem lassen sich die Inschriften, in denen sie genannt werden, nicht zweifelsfrei als christlich erweisen. Eine dieser Inschriften stammt aus der Gegend von Germia im Westen Galatiens und ist wohl ins 3. oder 4. Jh. zu datieren.
32 33
34 35
36 37
Vgl. Mitchell, Anatolia, 50; Strobel, Galater, 365–366. Strobel zufolge war die Bewahrung der eigenen Sprache zentral für die Bewahrung einer galatischen Identität. Ἀλλὰ καὶ βαρβάροις πολλάκις ἔχρησεν, εἴ τις τῇ πατρίῳ ἔροιτο φωνῇ, Συριστὶ ἢ Κελτιστί, ῥᾳδίως ἐξευρίσκων τινὰς ἐπιδημοῦντας ὁμοεθνεῖς τοῖς δεδωκόσιν, Luc. Alex. 51. Galatas excepto sermone graeco, quo omnis Oriens loquitur, propriam linguam eamdem pene habere quam Trevuros, Hier. Comm. ad. Gal. II (CChr. SL 77, 83). Καὶ ὁ Προκόπιος ἐφανερώθη δαιμονιῶν. καὶ ἐρρίπτετο πυκνῶς καὶ ἐδεσμεῖτο τὴν γλῶσσαν καὶ οὐ συνεχωρεῖτο λαλεῖν ἡμῖν·εἰ δὲ πάνυ ἐβιάζετο, Γαλατιστὶ ἐφθέγγετο, Vita S. Euthymii 55, Schwartz, Kyrillos, 77. Vgl. z. B. Coşkun, Romanisierung, 171–184. Strobel, Galater, 383 (mit Anm. 132), der für Pessinus 13 Personen mit keltischen Namen identifiziert. In RECAM 2 finden sich in den 528 Inschriften mindestens 26 Trägerinnen und Träger keltischer Namen: Akka (118, 206, 300), Amyntas (498, 413?), Amyntiane (202, 229), Anteseikompos/Antessikopos (115, 170), Artiknos (115), Beitama (258), Bella (230, 298), Bellas (296), Bitognatos (214), Brogoris (19), Gaudatos (113), Deiotaros (498), Dobedon (105), Epatorigos (85), Katomaros (209), Leitognaos (103), Meliginna (29), Olorix (85), Rossomara (28), Tektomaros (218). Eventuell keltisch sind auch die Namen Tephouastes (286), Kepouastes (342), Barbollas Vastex (41) und Konklados (139).
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Jennifer Krumm Δήταρος Γαει|ανοῦ ἔνθα κα|τάκιτε ᾧ κὲ Ἀ|μια μνήμης || χάριν ἀνέστη|σα.38 Detaros, der Sohn des Gaianos, liegt hier, dem ich, Amia, zum Gedenken (das Grab) errichtete.
Der hier Bestattete hörte auf den keltischen Dynastienamen Deiotaros, den u. a. einer der letzten galatischen Könige trug. Hier ist der Name vermutlich in einer verkürzten Form wiedergegeben. Sein Vater Gaianos dagegen hatte einen aus dem Lateinischen stammenden Namen und Amia, vermutlich seine Frau, einen anatolischen ‚Lallnamen‘. In dieser Familie waren also Namen unterschiedlicher etymologischer Herkunft nebeneinander vertreten, wie es häufig der Fall war. Auf einen christlichen Kontext gibt es hier allerdings nur einen schwachen Hinweis, die Formulierung ἔνθα κατάκιτε, die sich besonders in christlichen Grabformularen findet. Die Formel war in Galatien typisch für christliche Gräber, insbesondere in Tavium. Dort findet sie sich allerdings meist am Anfang der Inschrift. Besonders in der nachgestellten Form war sie nicht unbedingt exklusiv christlich.39 Eine zweite Inschrift stammt aus der Gegend der Stadt Kinna im Süden der Region. Αὐρήλι|ος Ουελ|λανος | ἀνέστη||σεν τῇ | γλυχιτά|τῃ συν|βίῳ Νον|νῃ μν||ήμης | χάριν.40 Aurelios Vellanos errichtete (das Grab) für seine liebste Frau Nonne, zum Gedenken.
Der Name Vellanos geht wahrscheinlich auf eine keltische Wurzel zurück.41 Die Frau des Aurelios Vellanos dagegen trug wie im vorigen Beispiel einen anatolischen ‚Lallnamen‘. Die Art der Inschrift und der Vergleich mit anderen Steinen aus derselben Gegend legen eine Datierung um das 5. Jh. nahe. Eine Reihe ähnlicher Inschriften vom selben Ort sind durch Kreuze eindeutig als christlich identifizierbar. Ein solches Indiz fehlt bei diesem Stein, der allerdings an der Oberseite, wo sich ein Kreuz befunden haben könnte, beschädigt ist. Insofern lässt sich auch hier ein christlicher Kontext nicht mehr eindeutig nachweisen, auch wenn er wegen der späten Datierung sehr wahrscheinlich ist. Eine weitere Inschrift, die eventuell einen keltischen Namen enthält, stammt aus dem Dorf Büyükyağcı im Südwesten Galatiens. Sie befindet sich auf einer Stele aus weißem Kalkstein. Sie gehört vermutlich ins 3. Jh. n. Chr. Αὐρ. Φλαβί|ος Κυριακ|οῦ μετὰ τ|έκνων Αὐρ. || Θεοδώρῳ | καὶ Ἀλεξάν|δρῳ κὲ Ἀν|εικήτῳ | τῇ γλυκυ||τάτι μου σ|υμβίῳ Αὐρ. | Ῥουφφι|νῇ Κεπου|αστου ἀ||νέστησα | μνήμης χάριν.42
38 39 40 41 42
ICG 2362 = Walser, 527–619, Nr. 39. Vgl. Walser, Inschriften, 592–593, der nichtchristliche Parallelen aus Thrakien anführt. ICG 1513 = MAMA 11.239. MAMA 11.239, Kommentar. ICG 2410 = RECAM 2.342.
Kulturelle Spuren von Migration
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Ich, Aur(elios) Flavios, Sohn des Kyriakos, errichtete (das Grab) zusammen mit den Kindern, den Aur(elioi) Theodoros und Alexandros und Aneiketos für meine liebste Frau Aur(elia) Roufine, Tochter des Kepouastes, zum Gedenken.
Hier sind die beiden Patronyme der Eltern von besonderem Interesse. Der Vater des Flavius hieß Kyriakos, ein beinahe exklusiv von Christen getragener Name, der hier auch das wichtigste Indiz für einen christlichen Kontext darstellt. Allerdings war auch der Name des ersten Sohnes, Theodoros, unter Christen weit verbreitet. Der Vater der Rufine war Kepouastes, ein Name, der keltisch sein könnte.43 Auch in dieser Familie zeigt sich über die Generationen eine charakteristische Mischung von Namen unterschiedlicher Herkunft: Die drei Söhne haben griechische Namen, beide Eltern solche lateinischer Herkunft. Bei den Schwiegervätern findet sich sowohl ein typisch christlicher Name, als auch ein indigener und eventuell keltischer Name. Bei allen drei Inschriften fällt auf, dass der christliche Kontext nicht ganz sicher ist. Eindeutig christliche Beispiele für Inschriften mit keltischen Namen sind mir aus Galatien nicht bekannt. Dies beweist natürlich nicht, dass Christinnen und Christen keltische Namen bewusst mieden. Es legt aber nahe, dass solche Namen zu der Zeit, als eindeutig als christlich identifizierbare Grabinschriften gesetzt wurden, nur noch sehr schwach vertreten waren. Es gibt allerdings eine christliche Inschrift, in der zumindest die Größe ‚Galatien‘ thematisiert wird. Sie stammt aus dem Haymana-Hochland im Südwesten der Region. Μακεδό|νιος πρε|σβύτερο|ς τὸν ἀρι||στο(ν) Γα|λατίας, | ὁ λίψας | βίον κατ|έλιπεν Ολ||πον διάδ|οχον. | ἔπος λό|γος. μνή|μης χά||ριν.44 Makedonios, der Presbyter, der aus dem Leben schied und Olpos, den Besten Galatiens, als Nachfolger (Erben) zurückließ. Episches Wort zum Gedenken.
Die Inschrift ist höchstwahrscheinlich in Versform verfasst, auch wenn die Identifikation des Metrums schwierig ist. Sie gehört wohl in eine Reihe von Versinschriften für kirchliche Amtsträger. Interessant ist, dass hier wohl nicht dem bestatteten Presbyter, sondern seinem Nachfolger Lob zuteil wird (zumindest wenn der Akkusativ τὸν ἀριστο(ν) Γαλατίας richtig zugeordnet ist). Ob es sich bei dem Nachfolger um den Amtsnachfolger oder den persönlichen Erben handelt, ist nicht ganz klar. Ersteres ist aber nicht unwahrscheinlich. Dieser Nachfolger, Olpos,45 wird als „Bester Galatiens“ bezeichnet. Dahinter steht vermutlich nicht nur eine Auszeichnung in Bezug auf eine geographische oder politische Größe, sondern seine Identifikation als ‚Galater‘. In diesem 43 44 45
Mitchell vermutet eine keltische Wurzel, vgl. RECAM 2.286, Kommentar zu Aurelius Tephouastes. ICG 2399 = RECAM 2.287. Der Name Olpos ist m. W. ohne genaue Parallele, vgl. RECAM 2.287, Kommentar. Allerdings erscheint ein [Ο]λπος (oder [Α]λπος) Γαλάτης Προυσιεύς auf einer Inschrift aus Athen (Arch. Delt. 1890, 82, Nr. 4 = IG II2 4850), vgl. Zgusta, Personennamen, § 55 mit Anm. 70. Es wäre zu prüfen, ob sich dieser Name als keltisch erweisen ließe.
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Zusammenhang ist interessant, dass sein Vorgänger Makedonios einen Herkunftsnamen trägt, der ihn als ‚Makedonier‘ darstellt. Eventuell führte sich seine Familie auf makedonische Einwanderer zurück. Dann wäre es besonders interessant, dass Olpos (vielleicht im Gegensatz dazu) hier als Galater dargestellt wird.
2.3
Hellenisierung und griechische Kultur
Im Gegensatz zu indigenen und keltischen Einflüssen ist die Prägung durch die griechische Sprache und Kultur unübersehbar. Die galatische Oberschicht übernahm ab dem 3. Jh. v. Chr. den Lebensstil ihrer hellenistischen Umwelt. Die einfache Bevölkerung auf dem Land erreichte die Hellenisierung vermutlich erst im Laufe des 2. und 3. Jhs. n. Chr.46 Hiervon zeugen besonders die Inschriften, die zum größten Teil in dieser Zeit einsetzen und deren Sprache, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Griechisch ist. Gerade in den ländlichen Gebieten weichen sie zwar in Grammatik und Schreibweise oft von der Normalform ab. Es ist auch durchaus denkbar, dass in Regionen, in denen noch Phrygisch oder auch Keltisch gesprochen wurde, das Griechische noch in der späten Kaiserzeit für einige Personen nur Zweitsprache war. Dennoch setzte es sich hier, wie überall im Osten des römischen Reichs, als Schriftsprache durch. Die Tatsache, dass die Praxis des Setzens von Inschriften selbst ein Element der Hellenisierung war, bringt allerdings auch eine Einschränkung in deren Aussagegehalt mit sich. Über eventuelle Bevölkerungsgruppen, die am Trend zur Hellenisierung keinen Anteil hatten oder sich ihm sogar bewusst widersetzten, sagen sie uns somit nichts. Die in diesen Inschriften zu findenden Personennamen zeigen eine starke Verbreitung griechischer Namen in Galatien. Dieser allgemeine Befund spiegelt sich auch in den christlichen Inschriften: Hier stammen im ländlichen Südwesten 61% der erhaltenen Namen aus dem Griechischen, in Ankyra sind es sogar 69% (s. o. Tabelle 1). Namenstrends, die allgemein in Galatien erkennbar sind, spiegeln sich auch in den christlichen Inschriften. So finden sich dort Namen, die auf einen makedonischen Einfluss hinweisen, wie der in der gesamten Region sehr populäre Name Alexandros,47 Antigonos48 oder der schon erwähnte Herkunftsname Makedonios. Die Nachbarschaft zu seleukidisch und attalidisch beherrschten Gebieten und Siedlungen wird sich besonders im Westen Galatiens prägend ausgewirkt haben.49 46 47 48 49
Vgl. Strobel, Galater, 373–374. ICG 1516 = MAMA 11.243; ICG 2312 = IK 66.50; ICG 2349 = Walser, Kaiserzeitliche und frühbyzantinische Inschriften, Nr. 24, ICG 2406 = RECAM 2.329 u. ö. ICG 2404 = RECAM 2.325. Vgl. z. B. Thonemann, Pessinus, 117–128 der die makedonische katoikia Kleonneaeion sogar mit Pessinus selbst identifiziert. In jedem Fall wird sie in einer Inschrift erwähnt, die in der Nähe von Pessinus gefunden wurde.
Kulturelle Spuren von Migration
271
Eine weitere wichtige Gruppe griechischer Namen in Galatien sind solche, die vom Namen einer Gottheit abgeleitet sind.50 Hier zeigt sich allerdings eine Besonderheit der christlichen Inschriften. Während solche pagan-theophoren Namen wie Dionysios oder Asklepios in den nicht-christlichen Inschriften sehr häufig belegt sind,51 finden sie sich in den christlichen Texten relativ selten. Dagegen waren ‚neutrale‘ theophore Namen wie Theodoros christlich sehr gut anschlussfähig und daher auch unter Christinnen und Christen weiterhin populär, insbesondere in Ankyra (s. Tabelle 2, hier als theophor aufgeführt). Eventuell kam es in dieser Namenskategorie auch zu christlichen Neuschöpfungen, wie Theodoulos und Theodoule.52
exklusiv christlich typisch christlich theophor pagan-theophor lokale Heilige
Südl. Haymana-Hochland und Kinna 6 (7%)53 10 (12%)55 4 (5%) 2 (2%)57 1 (1%)59
Ankyra 23 (17%)54 20 (15%)56 14 (11%) 5 (4%)58 10 (8%)60
Tabelle 2: Religiöse Zuordnung der Personennamen in wahrscheinlich christlichen Inschriften.
Abgesehen von den Namen begegnet man griechischer Bildung v. a. in Form von Versinschriften. Solche Texte finden sich in Galatien erwartungsgemäß im städtischen Kontext in Ankyra, aber auch im ländlichen Südwesten. Hier bilden sie einen nördlichen Ausläufer des Phänomens der Versepigramme aus dem Axylon. In den Dörfern dieser baumlosen Ebene im Norden Lykaoniens entstanden teilweise umfangreiche Grabepigramme in homerischer Sprache und Metrik.61 Auch Christinnen und Christen übernahmen diese Form der
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61
Coşkun, Histoire, 89; Coşkun, Anthroponomy, 59; vgl. auch Coşkun, Theophore, 153– 162. S. z. B. RECAM 2, Index, zu Asklepios und seinen Derivaten finden sich dort 26 Einträge, zu Dionysios und Derivaten immerhin acht. ICG 1511 = MAMA 11.237; ICG 1514 = MAMA 11.240; ICG 2367 = RECAM 2.87 u. ö. Kyriakos/e (je 2×), Petros, Maria. Alypios (2×), Anastasia/os (6×), Kyriakos (2×), Makaria, Sankta, Martha, Maria, Johannes, Joannia, Ananias. Paulos/le/la (5×), Eirenaios, Eirenikos, Elpidios, Elpidianos, Kyrille. Eirenaios, Elpidios, Georgios/a, Stephanos/ia, Andreas, Kyrilos, Paulos. Hermes, Isklepios. Eudemon, Heraklidas, Isidoros, Olympios, Aphrodite. Palladie. Platon (und Derivate), Theodotos (und Derivate), Sisinnos. Thonemann, Poets, 191–231.
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Grabinschrift. Hierfür finden sich auch Beispiele auf galatischem Gebiet.62 Ein Grabepigramm auf einen Presbyter wurde im modernen Büyükyağcı gefunden. Σαβεῖνος | ὄχ’ ἄριστος | Χρειστοῦ | ἱερεὺς με||γάλοιο ζωὸς ἐὼν | τόδ’ ἐτεύ|ξεν ἑῇ ἐνὶ | πατρίδι γ||[αίῃ].63 Sabinos, bei weitem der beste Priester des großen Christus, errichtete dies (Grab) zu Lebzeiten in seinem Heimatland.
Die Inschrift, die der Presbyter Sabinos zu Lebzeiten für sich selber setzen ließ, ist nicht nur stilistisch von den Epigrammen aus dem Axylon inspiriert, sondern greift wörtlich auf ein Epigramm aus dem lykaonischen Kongoustus zurück.64 Der Einfluss aus der südlichen Nachbarregion ist hier also sehr deutlich. Deutlich umfangreicher ist eine christliche Versinschrift aus Ankyra. Sie bedient sich der klassischen Form zweier Parallelepigramme, die auf unterschiedliche Art und Weise den gleichen Gedanken ausdrücken. Sie bilden die Grabinschrift für einen Lollianos. + ἡλικίης γεραὸν πινυτῇ {η} γεραρώτερον αἶα Λολ(λ)ιανὸν λαγόνων ἔνδον ἑλοῦσα πύθει· ἄνδρα τὸν ἐν φθιμένοις καταρίθμιον, ἀλλὰ κὲ ἔμπης ἀθανάτου ζώης εὑράμενον βίοτον. ἄλλως· + σῶμ᾽ ἀρετῆς τόδε ἀνδρὸς ἀμύμονος ἔνδον ἑλοῦσα γῆ κατέχει ψυχῆς πρὸς Θεὸν ἱπταμένης, ἔργα σαοφροσύνης ἀρετῆς βίον ἤθεα κεδνά Λολλιανοῦ προτέρου πάντα ἀπομαξαμένου.65 Von Lebensalter alt, durch Klugheit noch ehrwürdiger, hat die Erde Lollianos in ihre Eingeweide aufgenommen und lässt ihn verwesen; einen Mann, der zu den Dahinschwindenden zählte, aber gleichwohl das Mittel des ewigen Lebens fand. Anders: Diesen Leib eines tadellosen Mannes der Tugend hat die Erde in sich aufgenommen und behält ihn; während die Seele zu Gott geflogen ist, nachdem der vorige Lollianos alle Werke der Besonnenheit und Tugend vollbracht und ein Leben voller sorgsamer Gewohnheiten geführt hat.
Der christliche Kontext dieser Gedichte wird schon allein dadurch deutlich gemacht, dass sie auf dem Stein um die Arme eines großen lateinischen Kreu-
62 63 64
65
Vgl. auch ICG 2403 = RECAM 2.323; ICG 2396 = RECAM 2.271. ICG 2412 = RECAM 2.347 = Merkelbach/Stauber, Steinepigramme. ICG 97 = MAMA 1.232: + ἀνέρα κυδάλιμον ἀγανόφρονος ἠδ’ ἀγαθοῖο | ὀλβίου πατέρος γαίης τ’ ἐριβώλου ἀρούρης | σῆμα τόδε κεύθι φιλίῃ ἐνὶ πατρίδι γαίῃ | Οὐαρελιανὸν κλυτὸν ἄνδρα βροτῶν ἀγαθῶν τε τοκήων || εἱερέων ὄχ’ ἄριστον ἑῆς ἐνὶ πατρίδι γαίῃ. ICG 3717 = French/Günel, Inscriptions, Nr. 81 = Merkelbach/Stauber, Steinepigramme 3, Nr. 15/02/07.
Kulturelle Spuren von Migration
273
zes herum angeordnet sind. Aber auch die Verbindung der Elemente der Vergänglichkeit menschlichen Lebens und der Hoffnung auf das ewige Leben zeigen eine christliche Aufnahme der Form griechischer Grabepigramme.
2.4
Romanisierung
Spätestens mit der Überführung in eine römische Provinz setzte in Galatien ein Prozess der Romanisierung ein. In den Inschriften zeigt sich dies zunächst durch die Übernahme von Namen, die aus dem Lateinischen stammen. In den christlichen Inschriften aus dem Südwesten Galatiens machen sie 22% aus, in Ankyra 19% (s. o. Tabelle 1). Dabei konnten sowohl römische Praenomina als auch Gentil- und Cognomina übernommen werden (vgl. oben unter 2.2 Aur. Flavios, sowie unter 2.3 Sabinos und Lollianos). Darüber hinaus hatte der Erwerb des römischen Bürgerrechts einen Einfluss auf das Namenssystem durch die Übernahme von Gentilnomina, die als Ausweis dieser rechtlichen Privilegierung auch oft auf Inschriften genannt wurden. Mit der Constitutio Antoniniana im Jahre 212 n. Chr. wurde das Bürgerrecht auf alle freien Bewohner des Reiches ausgeweitet. Alle neuen römischen Bürger erhielten das Gentiliz Aurelius/a. Aufgrund seiner weiten Verbreitung und geringen Distinktionskraft verlor dieser Name in den meisten Gegenden spätestens nach zwei bis drei Generationen seine Attraktivität und wurde nicht mehr geführt.66 Umso auffälliger sind einige christliche Inschriften aus dem Südwesten Galatiens. Ihre Gestaltung, insbesondere die Dekoration der Stelen mit großen Tatzenkreuzen, legen eine Datierung nicht vor dem 5. Jh. n. Chr. nahe. Trotzdem tragen einige der auf ihnen genannten Personen noch ihr Aureliergentiliz. So Aurelia Hypatia auf der Grabinschrift für ihren Mann. + Αὐριλλίᾳ Ὑπατίᾳ | ἀνέστησα τοῦ γλυκ[υ]|τάτου μου ἀνδρὶ Δό|μνου μνήμης χάριν. +67 Ich, Aurillia (Aurelia) Hypatia, errichtete (das Grab) für meinen liebsten Mann Domnos, zum Gedenken.
Oberhalb der Inschrift ist hier zwar kein Kreuz, sondern ein blattförmiges Ornament zu sehen, die Buchstabenformen und die Kreuze an Anfang und Ende der Inschrift sprechen aber für eine späte Datierung. Auffällig ist, dass der Aureliername hier, wie auch in anderen ähnlichen Inschriften, ausgeschrieben wird, und zwar in einer etwas eigentümlichen Schreibweise. Bei älteren Inschriften wurde er dagegen oft abgekürzt (vgl. z. B. oben unter 2.2 die Inschrift für Aur. Roufine, die Tochter des Kepouastes). Wenn in dieser ländlichen Gegend das Aureliergentiliz länger geführt wurde als anderswo, mag das mit einem gewissen Konservatismus in formalen Fragen zusammenhängen. Es 66 67
Mitchell, History, 191–192. ICG 2413 = RECAM 2.352.
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könnte aber auch sein, dass das Aureliergentiliz hier auch nach längerer Zeit noch als Ausdruck der Zugehörigkeit zum Römischen Reich geschätzt wurde.68 Die Sprache der galatischen Inschriften ist Griechisch. Lateinische Inschriften wurden in der Regel nur von römischen Beamten und (kaiserlichen) Freigelassenen gesetzt. Unter ihnen findet sich nur eine einzige, die eventuell christlich ist. Sie stammt aus Ankyra und wurde von einem kaiserlichen Freigelassenen gesetzt. D M | Repentina hoc | tumulo requi|escit ab uman||nis sollicitu|dinibus. Eucha|ristus Aug. lib. | coniugi et Re|[pentinus fil. matri]69 Den Manen. Repentina ruht in diesem tumulus von menschlichen Sorgen. Eucharistus, kaiserlicher Freigelassener, für seine Frau und [sein Sohn Repentinus für seine Mutter].
Die Inschrift könnte aus dem 3. Jh. n. Chr. stammen, also aus einer Zeit, für die sonst keine erkennbar christlichen Inschriften aus Ankyra bekannt sind. Für einen christlichen Kontext spricht hier die Vorstellung des Todes als Ruhe von irdischen Sorgen. Die Hoffnung auf eine Auferstehung nach der Ruhe klingt zumindest implizit an. Der griechische Name, den der Freigelassene trägt, Eucharistus, ließ sich sehr gut christlich auf die Eucharistie interpretieren. Es handelte sich aber keineswegs um einen typisch christlichen Namen. Er ist in Griechenland und Kleinasien schon vorchristlich relativ breit belegt und erlebte anscheinend keinen Popularitätsschub durch das Christentum.70 Ob Eucharistus und Repentina Christen waren, lässt sich also nicht mit Sicherheit sagen. Die pagane Formel D(is) M(anibus) spricht nicht dagegen. Diese formelhafte Wendung konnte auch von Christen in lateinischen Inschriften verwendet werden.
3.
Transformationen durch das Christentum
Natürlich ist auch die zunehmende Christianisierung an den Grabinschriften ablesbar. Sie hatte Einfluss sowohl auf die verbreiteten Namen, als auch auf die Formulare der Inschriften. Typisch christliche Namen etablierten sich neben den alt hergebrachten. Christinnen und Christen gaben ihren Kindern oft Namen, die zumindest in dieser Gegend nur von ihnen getragen wurden, wie 68 69 70
Ähnliches lässt sich für Ägypten feststellen, wo in den Papyri v. a. Handwerker und Bauern bis ins 7. Jh. n. Chr. als Aurelii auftreten, vgl. Keenan, Names, 51–56. ICG 4016 = Mitchell / French, Inscriptions, Nr. 68. In den bisher erschienenen Bänden des Lexicon of Greek Personal Names finden sich in der Online-Datenbank des LGPN 62 Belege, von denen nur zwei ins 4. Jh. n. Chr. oder später datiert werden, s. http://clas-lgpn2.classics.ox.ac.uk/name/Εὐχάριστος (30.09.2017).
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wahrscheinlich Kyriakos/e oder biblische Namen hebräischen oder aramäischen Ursprungs wie Johannes oder Martha. Weiterhin griffen sie auf Namen zurück, die schon verbreitet, aber christlich gut anschlussfähig waren, wie Paulus oder Elpidios. Schließlich spielten vermutlich lokale Heilige bei der Namengebung eine Rolle. So erklärt sich wohl die Popularität des Namens Platon und seiner Derivate in Ankyra. In den Inschriften aus dem Südwesten beträgt der Anteil solcher Namen mit christlichem Hintergrund zusammengenommen 20%, in Ankyra, wo die Inschriften im Schnitt jünger sind, sogar 40% (s. o. Tabelle 2). Ein Beispiel solcher christlicher Namengebungspraxis bietet eine Inschrift aus dem Südwesten. Αὐρ. Ῥωμανὰ | σὶν τῶν τέ[κ]|νω μου Αὐρ. | Ἐλπιδιαν[ῷ] || καὶ Πέτρῳ [τ]|ῷ γλυκι[τάτ]|ῳ μου ἀ[νδρὶ] || Αὐρ. Πα[πιρί(?)]|ωνι ς[……]71 Ich, Aur(elia) Romana, zusammen mit meinen Kindern, den Aur(elioi) Elpidianos und Petros, für meinen liebsten Mann Aur(elios) Pa[…].
Dass die Familie höchstwahrscheinlich christlich war, zeigt der Name des zweiten Sohnes, Petros. Zumindest in dieser Gegend lässt sich dieser Name nur über den Apostel erklären. Der Name des Bruders, Elpidianos, war zwar auch unter Nichtchristen verbreitet, war für eine christliche Interpretation aber wegen des Hoffnungsthemas anschlussfähig. Die Mutter hatte den in Galatien populären Namen Romana, der wohl eine Verbundenheit mit Rom und eventuell damit verbundenes Prestige ausdrücken sollte. Wann die Familie christlich wurde, wissen wir natürlich nicht. Es ist aber auffällig, dass beide Söhne christlich konnotierte Namen tragen. In einigen Gegenden veränderte sich mit dem Christentum auch das Formular von Grabinschriften. Dies lässt sich gut am Beispiel der Stadt Ankyra zeigen. Während in der ländlichen Region im Südwesten in den christlichen Grabinschriften dasselbe Formular verwendet wurde wie in den nichtchristlichen, entwickelte sich in der Stadt ein typisch christliches Formular. Hier wurde neben der Eingangsformulierung „hier liegt“ (ἐνθάδε κατάκειται) oder „hier hat sich zur Ruhe gelegt" (ἐνθάδε κεκοίμηται) auch die Bezeichnung der Bestatteten als „Diener Gottes“ (δοῦλος/δούλη τοῦ θεοῦ) üblich. Ein Beispiel dafür ist die Inschrift für Arsinous, die wohl ins 5. oder 6. Jh. zu datieren ist. Die Grabplatte des Arsinous ziert ein ähnliches Kreuz wie die des Lollianos mit den Parallelepigrammen (s. o. unter 2.3). Die Inschrift aber ist deutlich knapper: + ἐνθάδε κεκοίμητε | ὁ δοῦλος τοῦ Θεοῦ | Ἀρσίνους †72 Hier hat sich der Diener Gottes Arsinous zur Ruhe gelegt.
Das Attribut ‚Diener Gottes‘ diente nicht der individuellen Charakterisierung des Verstorbenen oder seiner Identifizierung. Diese Bezeichnung findet sich in beinahe der Hälfte aller christlichen Inschriften aus Ankyra. Das einzige 71 72
ICG 2414 = MAMA 7.426. ICG 3742 = French / Günel, Inscriptions, Nr. 83.
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Jennifer Krumm
Wort der Inschrift, das Arsinous individuell identifizierbar macht, ist sein Name. Auch weitere Familienmitglieder werden nicht genannt. Wichtiger scheint seine Zugehörigkeit zu Gott zu sein. Dabei geht es zu dieser Zeit vermutlich nicht mehr um eine Abgrenzung gegenüber Nichtchristen, sondern vielleicht eher um Fragen des ewigen Lebens.
4.
Fazit
Die Untersuchung der christlichen Inschriften aus Galatien auf ihre kulturellen Hintergründe ergibt zunächst ein wenig überraschendes Ergebnis: Es sind griechisch-hellenistische und römische Einflüsse, die für die späte Kaiserzeit und die frühbyzantinische Zeit prägend waren und die sich entsprechend vornehmlich in den Inschriften niederschlagen. Wie auch in anderen Teilen des Ostteils des Reiches etablierte sich das frühe Christentum hier in einem Umfeld, in dem Kultur und Bildung v. a. griechisch geprägt waren. Anatolische Personennamen und phrygische Sprach- und Gestaltungselemente hielten sich daneben zumindest in der ländlichen Region im Südwesten auch noch in christlicher Zeit. Die keltische Kultur dagegen tritt in den Inschriften kaum in Erscheinung. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass in Galatien generell keine keltischsprachigen Inschriften gesetzt wurden. Aber auch der Einfluss auf den Namensschatz war relativ gering, insbesondere unter Christinnen und Christen: Kein Träger eines keltischen Namens auf einer Inschrift kann eindeutig als christlich identifiziert werden. Dass Galatien aber dennoch auch in christlichen Kreisen eine Identifikationsgröße sein konnte, zeigt die Inschrift für den Presbyter Makedonios, dessen Nachfolger als „Bester Galatiens“ und somit als vorbildlicher Galater dargestellt werden konnte. Die schwache Präsenz anatolischer und keltischer Elemente in den christlichen Inschriften mag in erster Linie damit zusammenhängen, dass diese Inschriften relativ spät zu datieren sind und weniger damit, dass das Christentum solche Elemente verdrängt hätte. Die Christianisierung hatte allerdings in Galatien deutliche Auswirkungen sowohl auf den Namensschatz als auch auf die Art und Weise, wie Personen auf ihren Grabinschriften dargestellt wurden.
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Migration als locus theologicus Überlegungen und Anstöße aus interkulturelltheologischer Perspektive Franz Gmainer-Pranzl
Migration fordert nicht nur die Politik ernsthaft heraus, sondern beschäftigt auch viele wissenschaftliche Disziplinen, nicht zuletzt die Theologie. Neben der Bibelwissenschaft, die in diesem Band prominent vertreten ist, sowie historischen und praktischen Fächern sind es auch die systematisch-theologischen Disziplinen, denen aktuelle Migrationsprozesse im wahrsten Sinn des Wortes zu denken geben. In besonderer Weise wurde die Herausforderung ‚Migration‘ für die ‚interkulturelle Theologie‘ relevant – ein Fach, das gegenwärtig vor allem an evangelisch-theologischen Fakultäten in Deutschland einen starken Aufschwung erlebt, aber auch an katholisch-theologischen Fakultäten präsent ist.1 Interkulturelle Theologie versteht sich als systematisch-theologisches sowie als interdisziplinäres Fach. Fragen des christlichen Glaubens werden zum einen erkenntnistheologisch und methodisch analysiert und im Gesamtzusammenhang biblischer Überlieferung und kirchlichen Lebens reflektiert, zum anderen in Bezug auf unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen verhandelt. Trotz dieser starken interdisziplinären Ausrichtung stellt interkulturelle Theologie keine Mischung aus Human- bzw. Sozialwissenschaften und Glaubensreflexion dar; sie ist voll und ganz als systematisch-theologisches Fach zu verstehen, das explizit interdisziplinär ausgerichtet ist und sich vor allem vier Arbeitsbereichen bzw. Forschungsfeldern widmet: a) der interkulturellen Vermittlung der christlichen Tradition („kontextuelle Theologie“), b) den Grundlagen, Kategorien und Methoden christlicher Glaubensverantwortung in unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungskontexten („interkulturell-theologische Erkenntnislehre“), c) dem Vergleich verschiedener religiöser Traditionen bzw. bestimmter Aspekte solcher Traditionen („komparative Theologie“) und d) den Prinzipien und erkenntnistheologischen Konsequenzen interreligiöser Herausforderungen („Religionstheologie“).2 Migration bildet im Kontext interkulturell-theologischer Forschung einen aktuellen Schwerpunkt, insofern Fragen interkultureller Begegnung und Konflikte, interreligiöser Dialoge so-
1 2
Vgl. Reppenhagen, Fach, 85–98; Richebächer, 207–214. Vgl. meinen Versuch, einen Überblick über das vielfältige Feld dieses Faches zu geben: Gmainer-Pranzl, Theologie, 11–32.
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Franz Gmainer-Pranzl
wie der Zusammenhang von Religion und Gesellschaft bei Flüchtlingsbewegungen und ihren gesellschaftlichen Folgen eine besondere Dringlichkeit erlangen; zugleich stellt sie eine Querschnittmaterie dar, die sich durch viele Themenbereiche interkultureller Theologie zieht. Mit Blick auf die gesellschaftspolitische Sensibilität und Brisanz der Asyl- und Einwanderungspolitik stellt der neue Ansatz einer ‚Theologie der Migration‘ eines der spannendsten und zugleich konfliktträchtigsten Forschungsgebiete gegenwärtiger Theologie dar. Kaum eine Frage im Spannungsfeld von gesellschaftspolitischen Kontroversen, kirchlichem Handeln und theologischer Analyse erscheint so brisant, weil es bei der Konfrontation mit geflüchteten Menschen immer auch um die Infragestellung von Identitäten und Sicherheiten, Traditionen und sozialen Ordnungen geht.3 Insgesamt ist die Thematik Migration für die gegenwärtige Theologie aber nicht deshalb von so großem Interesse, weil sich dadurch politische und mediale Aufmerksamkeit erzeugen lässt (das sicherlich auch), sondern vor allem deshalb, weil diese Auseinandersetzung für die Theologie eine enorme Lernerfahrung und eine entscheidende Erkenntnis bedeutet: die Zumutung von Migration lässt den Anspruch des christlichen Glaubens besser verstehen. Mit einem Wort: Migration ist ein locus theologicus. Von daher möchte dieser Beitrag nach einem (1) Blick auf aktuelle Kontexte von Migration danach fragen, inwiefern (2) die Kirche aus solchen Migrationserfahrungen lernen kann und (3) auf welche Weise solche Anstöße die (katholische) Theologie verändern bzw. ureigene Einsichten neu erschließen.
1.
Migration in der „Welt dieser Zeit“
‚Interkulturelle Theologie‘4 ist nicht am grünen Tisch entstanden und resultiert nicht aus einer Vorliebe für ‚exotische‘ Themen und Regionen,5 sondern ist die Konsequenz einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der (post-) kolonialen Missionsgeschichte des Christentums6 und der Ausbildung einer „selbstreflexiven Globalität“7. Globale, interkulturelle und interreligiöse Dy-
3 4
5
6 7
Vgl. Polak, Perspektiven, 195–214. An den Universitäten Frankfurt und Salzburg wird der Begriff adverbiell gebraucht: „Theologie interkulturell bzw. Interkulturell“, um noch deutlicher darauf aufmerksam zu machen, dass Theologie als solche je schon in interkulturellen Vermittlungszusammenhängen steht. Was als ‚exotisch‘ angesehen wird, hängt von der Perspektive der Betrachtung sowie von den wissenschaftlichen Machtverhältnissen ab; vgl. etwa die Kritik an der Zuschreibung von „Typik“ und „Exotik“ bei Jahnel, Theologie. Vgl. Gruber, Theologie nach, 17–33. Vgl. Gmainer-Pranzl, Theologie, 55–89.
Migration als locus theologicus
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namiken und Wechselbeziehungen haben den theologischen Diskurs sensibilisert und die Implikationen der – manchmal etwas leichtfertigen – Rede über ‚Weltkirche‘ bewusst gemacht. Diese ‚Weltkirche‘ ist massiv in Migrationsbewegungen involviert; Menschen, die flüchten, stellen eine unausweichliche Realität der Weltkirche dar.8 Kirche und Theologie sind hier nicht nur Beobachter einer politischen Entwicklung, sondern unmittelbar Betroffene; Migration – im zugespitzten Sinn als Flucht vor Krieg, Terror, Gewalt und unsäglichen Lebensbedingungen, nicht im allgemeinen Sinn einer Ein- und Auswanderung, wie sie die Menschheitsgeschichte seit jeher prägte – ist Realität des kirchlichen Lebens – das kann die Theologie nicht kalt lassen. Vor allem an drei Brennpunkten entzündet sich gegenwärtig der Diskurs einer ‚Theologie der Migration‘: (a) Die Lebensbedingungen im globalen Süden sind deutlich belastender und prekärer als jene in Europa oder Nordamerika. Auch wenn es zwischen den einzelnen Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der pazifischen Region zum Teil erhebliche Unterschiede im Lebensstandard gibt, leiden viele Menschen unter Armut, instabilen politischen Verhältnissen und – eine besonders aktuelle und dramatische Herausforderung – unter den Folgen des Klimawandels.9 Was wird in einigen Jahren und Jahrzehnten sein, wenn der Meeresspiegel infolge der Erderwärmung zum Beispiel in Bangladesh oder Vietnam so ansteigt, dass Millionenstädte unter Wasser stehen? Und was bedeutet es, wenn die Rechte zur Ausbeutung von Bodenschätzen und Ressourcen in lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern internationalen Konzernen überlassen werden, deren Prinzip der Gewinnorientierung den Menschen im Land keine Verbesserung der Lebenssituation, sondern sogar noch Armut und schwere gesundheitliche und ökologische Schäden beschert? Dass solche Fragestellungen mit Blick auf die Lebensbedingungen in den Ländern des globalen Südens sehr wohl auch theologisch relevant sind, hat bereits die Schlusserklärung der Konferenz von Dar-es-Salam (Tansania)10 im Jahr 1976 deutlich herausgearbeitet: „Wie verhält sich die christliche Theologie zur heutigen fortdauernden Ausbeutung in der Welt? Was ist ihr Beitrag zum Aufbau einer gerechten Weltgesellschaft?“11 Mit diesen Fragen skizziert dieser Text eine Grammatik interkultureller Theologie, die Fragen des Glaubens nicht in einer ‚spirituellen Nische‘ neben der politischen Realität der gegenwärtigen Welt abhandelt, sondern die „Welt dieser Zeit“12 als Ort des Glaubens wahrnimmt. Ungerechtigkeit und Armut, Klimawandel und Migration sind demnach Herausforderungen, zu denen die Theologie Stellung nehmen 8 9 10 11 12
Vgl. als beklemmendes Beispiel den Beitrag von Knapp, Christen. Vgl. Spilker, Umweltveränderungen, 115–122. Bei dieser Konferenz wurde die Organisation EATWOT (Ecumenical Association of Third World Theologians) gegründet. Schlusserklärung der Konferenz von Daressalam 1976, 38. Dieser Ausdruck steht bekanntlich in der Überschrift der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums.
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muss, will sie sich selbst als Verantwortung christlicher Hoffnung ernstnehmen. (b) Noch konkreter stellen Flüchtlingsbewegungen in Europa, also die Ankunft von Migrantinnen und Migranten, die Theologie vor die Frage, wie sie dazu Stellung nimmt – und zwar nicht nur caritativ (im Sinn der Anforderung, wie Verpflegung, Bekleidung, Gesundheitsversorgung und Unterkunft zu bewerkstelligen sind) oder sozialethisch (im Sinn der Frage, welche Flüchtlingspolitik verantwortbar ist)13 – so wichtig und unersetzlich diese beiden Aspekte auch sind –, sondern erkenntnistheologisch (im Sinn der Wahrnehmung des Anspruchs, der von geflüchteten Menschen ausgeht bzw. der Autorität, die sie repräsentieren). Damit soll die konkrete Not von Menschen, die auf der Flucht oft Furchtbares erleben und schwersten körperlichen Strapazen sowie psychischen Belastungen ausgesetzt sind, nicht theologisch überhöht werden, aber als „Ort“ der Glaubenserkenntnis gewürdigt werden.14 Die Flüchtlingsbewegungen im Spätsommer 2015 haben viele Menschen in Mitteleuropa, die das Thema Migration nur aus dem Fernsehen kannten, ziemlich unvermittelt mit den Konsequenzen von Krieg und Gewalt (vor allem in Syrien) konfrontiert und das Leben in mitteleuropäischen Dörfern und Städten gleichsam in den Sog globaler Dynamiken hineingezogen. Wie auch immer verschiedene Menschen zur Flüchtlingspolitik standen – vielen wurde bewusst, dass es in Zeiten der Globalisierung nicht mehr möglich ist, sich der Realität von Migration zu entziehen. Auch eine Politik der Abgrenzung vor MigrantInnen ist Ausdruck der Unmöglichkeit, sich der Realität flüchtender Menschen zu entziehen. Jüngste politische Vorschläge zur Eindämmung von Fluchtrouten sowie zur Verlegung von Asylzentren in nordafrikanische Länder sind von der Absicht geprägt, MigrantInnen vor der Gier von Schleppern und lebensgefährlichen Risiken zu bewahren, nehmen aber nicht die wirklich entscheidenden Gründe für Migration in den Blick, die in lebensunwürdigen, ja lebensunmöglichen Verhältnissen in den Heimatländern der MigrantInnen sowie in global ungleichen und ungerechten Machtverhältnissen und Wirtschaftsbeziehungen bestehen.15 Genau diese Situation global ungleicher Machtverhältnisse ist aber der Ort des Glaubens in der „Welt dieser Zeit“, wie interkulturelle Theologie betont.16 (c) Schließlich geraten kirchliche Praxis und theologische Reflexion seit geraumer Zeit immer mehr in politische Debatten und Auseinandersetzungen, wie sie zwischen den Vertretern einer Haltung der Solidarität oder Identität, der Pluralität oder des Rechtspopulismus geführt werden. Hatten erste Vorboten einer ‚Neuen Rechten‘ in den 1980er Jahren die theologische Forschung
13 14 15 16
Vgl. Heimbach-Steins, Positionen; Grundmann, Flüchtlinge; Spieß, Sozialethik. Vgl. Polak, Migration, 87–114. Zur aktuellen Migrationspolitik der EU gegenüber Afrika vgl. Asserate, Völkerwanderung, sowie Jakob / Schlindwein, Diktatoren. Vgl. Eckholt, Glaube, 117–142.
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noch kaum beschäftigt, kommt christliche Theologie in einer Zeit, in der identitäres, nationalistisches und xenophobes Denken großen Anklang findet, nicht umhin, sich mit diesen gesellschaftlichen Strömungen auseinanderzusetzen. Migration und die Begegnung mit dem Fremden können Angst hervorrufen – diese grundmenschliche Reaktion wird von rechten politischen Bewegungen nicht nur ausgenützt, sondern regelrecht erzeugt. Zygmunt Bauman hat in einer seiner letzten Veröffentlichungen eindrücklich aufgezeigt, wie sehr rechtspopulistische Politik drei gesellschaftspolitische Ziele islamistischer Gruppen fördert. Sie will (1) „überzeugen, dass die Kluft (der Abgrund?) zwischen den Immigranten und ihren Gastgebern unüberbrückbar bleiben wird“17; sie intendiert, „die Aussicht auf eine kulturübergreifende Kommunikation und Interaktion zwischen Ethnien oder Religionen als abwegig oder gar unvorstellbar erscheinen zu lassen“18; und nützt die „Dynamik des Stigmas“19 aus, bezieht sich also auf „ein (mutmaßlich unabänderliches) Merkmal eines Menschen oder einer Gruppe (ihrer Absonderlichkeit, ihrer Andersartigkeit, ihrer Seltsamkeit und letztlich ihrer Anomalität, die dafür sorgen, dass ihre Träger anders sind als ‚wir‘, die ‚Normalen‘ […]“20. Diese Ziele eines identitären, letztlich rassistischen Diskurses fordern das theologische Denken auf besondere Weise heraus, geht doch die biblisch-christliche Tradition von der Überzeugung der Einheit der Menschheit und der Möglichkeit einer grenzüberwindenden Kommunikation (‚Pfingsten‘) aus. Eine ekklesiale Logik, die eine Berufung von Menschen ‚aus allen Völkern und Sprachen‘ voraussetzt, ist mit einer nationalistischen Logik, die dem Konzept ethnischer Essentialismen folgt, unvereinbar. Diese fundamentaltheologische Einsicht bewährt sich je neu in den Debatten und Konflikten einer Gesellschaft, die aufs Neue anfällig geworden ist für die Versuchung, mittels Ausgrenzung, Homogenisierung und Identitätspolitiken die Problemstellungen einer pluralen und globalisierten Migrationsgesellschaft zu ‚lösen‘.21
2.
Migration als kirchliche Lernerfahrung
Migration als Geschehen, das Kirche und Theologie bewegt und verändert, wird in den Gesellschaften des globalen Südens und ihren schwierigen Lebensbedingungen, in der Begegnung mit Flüchtlingen in Europa sowie in der Auseinandersetzung mit xenophoben und identitären Tendenzen in der öffent-
17 18 19 20 21
Bauman, Angst, 41. Bauman, Angst, 42. Bauman, Angst, 42. Bauman, Angst, 43. Vgl. die aktuellen Analysen von Castro Varela / Mecheril, Dämonisierung.
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lichen Debatte in besonderer Weise ‚akut‘. Die Beanspruchung durch Menschen, die auf der Flucht sind, hat in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltige Lernprozesse ausgelöst, was die pastorale Praxis, das kirchliche Selbstverständnis sowie die theologische Arbeit betrifft.22 Wenn im Folgenden sieben Aspekte einer solchen Lernerfahrung zur Sprache kommen, ist dies nur eine Skizze einer möglichen interkulturell-theologischen Verantwortung des Christlichen angesichts globaler Entgrenzungen. Migration bildet einen Stachel im Leib der Kirche und ihrer Theologie, der dazu nötigt, die Hoffnung des christlichen Glaubens in jenem Lebenszusammenhang zu bedenken, den Ulrich Beck die „wahrgenommene, reflexive Weltgesellschaft“23 nannte. Erstens lernt die Kirche in der Auseinandersetzung mit Migration, sich selbst aufs Neue als Welt-Kirche zu begreifen. Gemeint ist hier nicht eine Analogie zu internationalen Konzernen, die global expandieren und Niederlassungen und Filialen in aller Welt gründen, sondern das, was der Begriff ‚WeltKirche‘ in seinem doppelten Sinn meint: Eine Kirche aus der Welt, aus allen Völkern und Nationen (und nicht nur aus einigen wenigen Lebenskontexten), sowie eine Kirche für die Welt, also eine Kirche, die nicht Selbstzweck ist. Die Perspektive ‚auf die Welt‘ ist kein souveräner, vereinnahmender oder gar herrschender Blick, sondern ein In-Anspruch-genommen-werden von der Größe, Vielfalt und Kreativität dieser Welt, in der unterschiedlichste Menschen und Völker um ein Miteinander ringen. „Alle Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft“ (Nostra aetate 1), betont die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen – und für diese Gemeinschaft der Völker will die Kirche ein „Zeichen und Werkzeug“ der Einheit (vgl. Lumen Gentium 1) sein. Dieses Zeichen, dieses „allumfassende Heilssakrament“ (Lumen Gentium 48), kann die Kirche aber nur sein, wenn in ihr die Realität und Vielfalt der Menschheit präsent ist: kulturelle Differenzen, sprachliche Vielfalt sowie die Erfahrung von „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (Gaudium et Spes 1), Zugehörigkeit und Beheimatung, aber auch Fremdheit und Migration – all das sind Kennzeichen einer ‚Welt-Kirche‘, durch die sich eben auch die Spannungen und Risse einer globalen Gesellschaft ziehen. Entsprechend dieser ekklesiologischen Globalisierung entdeckt die Kirche zweitens ihre ‚Katholizität‘ neu. Das, was ‚katholisch‘ sein bedeutet – jenes Attribut, das jahrhundertelang als konfessioneller Identitätsmarker galt, als Kategorie der Ausgrenzung sowie der apologetischen Selbstbestätigung –, lernt die Kirche aufs Neue von den Migrantinnen und Migranten, wie dies das Dokument Erga migrantes caritas Christi (2004) hervorhebt: „Die Fremden“,
22
23
Es ist hier nicht gemeint, dass Flüchtlinge bloß eine Gelegenheit darstellen, um Lernprozesse zu ermöglichen; es geht – entsprechend der These dieses Beitrags – darum, das Geschehen von Migration als locus theologicus, als Anstoß für theologische Erkenntnis, wahrzunehmen. Beck, Globalisierung, 28.
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so heißt es in diesem bemerkenswerten Lehrschreiben, „sind […] ein sichtbares Zeichen und ein wirksamer Aufruf jenes Universalismus, der ein grundlegendes Element der katholischen Kirche ist“24. Auch der Seelsorger und Begleiter der Migrantinnen und Migranten, der selbst aus einem anderen Land kommt, „kann […] für die Ortskirche in all ihren Teilen eine lebendige Erinnerung an ihr Merkmal der Katholizität sein“25. Die Kirche tritt hier nicht nur als helfende Institution in Erscheinung, die mit ihrer Kompetenz und ihrer Erfahrung flüchtenden Menschen beisteht – das natürlich auch –, sondern als Glaubensgemeinschaft, die von den Migrantinnen und Migranten lernt, was es heißt, ‚katholisch‘ zu sein; die ihre ‚Identität‘ in der Begegnung mit der Fremdheit anderer entdeckt; die ihre Einheit in der Vielheit der kulturellen Prägungen von Migrierenden findet; die erst dann, wenn sie sich an die Peripherie begibt, „allumfassend“ wird.26 Das Konfrontiertwerden mit Menschen, die flüchten, wird so zum Anstoß einer wichtigen Erkenntnis: dass das Leben der Kirche nicht national, ethnisch oder ständisch strukturiert ist, sondern katholisch: bezogen auf die gesamte Menschheit. Diese „Wiederentdeckung von Katholizität“ – als fundamentales Prinzip, nicht als konfessionelles Merkmal – gehört zu den zentralen Impulsen der jüngeren Kirchen- und Theologiegeschichte.27 Eine weitere Entdeckung und Lernerfahrung besteht drittens darin, dass sich die Kirche selbst als Migrantin wahrnimmt – in theologisch traditioneller Sprache: als Pilgerin. „Solange aber die Kirche hier auf Erden in Pilgerschaft fern vom Herrn lebt (vgl. 2 Kor 5,6), weiß sie sich in der Fremde, so dass sie sucht und sinnt nach dem, was oben ist […]“ (Lumen Gentium 6), heißt es etwa in der Kirchenkonstitution; in verschiedenen anderen Dokumenten des Konzils ist ebenfalls von der Pilgerschaft der Kirche die Rede.28 Dieses Motiv, das im nachkonziliaren Bild vom ‚wandernden Volk Gottes‘ – vielleicht etwas zu harmonisch – zur Geltung kam, greift die Erfahrung des Unterwegsseins auf, blieb aber eher als Bild in Erinnerung, als dass es ekklesiologische Konsequenzen gezeitigt hätte. Wenn etwa jüngere Studien den weiteren Rückgang von Mitgliedern der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland und Österreich prognostizieren,29 ist in kirchlichen Medien Betroffenheit und Verunsicherung wahrzunehmen, weil ein gewohnter volkskirchlicher Status offenbar im Schwinden begriffen ist und die Kirche ‚fremd‘ 24 25 26 27 28 29
Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs, Instruktion, Nr. 17. Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs, Instruktion, Nr. 98. Vgl. Lussi, Mobilität, 551–562. Vgl. Schultheis, Katholizität, 519–560; Vechtel, Katholische, 60–82. Zum Beispiel: Lumen Gentium 8, 9, 14, 21; Unitatis redintegratio 2, 6; Dei Verbum 7; Gaudium et Spes 1, 45; AG 2. Vgl. etwa jüngst die Studie von Goujon u.a., Demographie, der in mehreren Migrationszenarien von einem zum Teil beträchtlichen Rückgang der christlichen Bevölkerung (auf unter 50%) ausgeht.
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im eigenen Land wird, neu aufbrechen muss und sich auf einen ungewissen Weg macht. Wie auch immer der Anteil von Christen an der Gesamtbevölkerung sein wird – die Kirche sorgt nicht nur für Migrantinnen und Migranten, sie migriert selbst; sie erfährt wie die Menschen, die sie betreut, was es heißt, ‚keinen Ort zu haben‘ (vgl. Lk 9,58), an dem sie ‚sicher‘ ist. Lernerfahrungen mit dem ‚Pilgern‘ hat die Kirche durchaus gemacht;30 der ekklesiologische Problemstand hält damit allerdings noch nicht Schritt. Das Unterwegssein stellt die ureigene Lebensform der Kirche dar; sie bricht immer wieder neu auf, weil sie zu anderen unterwegs ist, weil sie – und das ist der vierte Punkt der kirchlichen Lernerfahrungen – missionarisch ist. Dieser Begriff ist bekanntlich im Gedächtnis vieler Menschen mit der Kolonialgeschichte Europas verknüpft und als Strategie der ‚Mitgliederrekrutierung‘ abgespeichert. Weniger bewusst ist, dass es seit geraumer Zeit ambitionierte Ansätze einer kritischen Rekonstruktion christlicher Missionstheologie gibt – gerade auch in Auseinandersetzung mit dem globalen Wiederaufleben missionarischer Aktivitäten.31 Eine der wichtigsten Erkenntnisse interkulturelltheologischer Forschung schließlich besteht darin, dass „Mission“ eine Form der „Entäußerung“ (Kenosis) ist,32 eine der radikalsten Lernerfahrungen, die überhaupt möglich ist. Missionarinnen und Missionare sind migriert, sie setzen sich einer fremden Gesellschaft aus, in der sie erst ‚ankommen‘ müssen. Auch wenn natürlich Missionaren häufig eine institutionelle Infrastruktur zur Verfügung steht, die weit mehr Sicherheit bietet als die ungeschützte, verletzliche Situation von Flüchtlingen, ist doch die kulturelle Befremdung vergleichbar, die auch Berufsmissionare manchmal an ihre Grenzen führt. Doch genau diese Erfahrung ist eine heilsame Warnung an die Kirche, nur für sich selbst da zu sein – die ekklesiologische ‚Häresie‘ schlechthin. Der ‚missionarische Charakter‘ der Kirche, der nicht zuletzt in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten bewusst wird, zeigt sich darin, „dass die Kirche die einzige Gesellschaft ist, die in erster Linie für ihre Nicht-Mitglieder existiert“33, so der südafrikanische Theologe Desmond Lambrechts. Wenn die Kirche und ihre Theologie in der Auseinandersetzung mit Migration diese missionarische ‚Zumutung‘ erfährt, hat sie eine entscheidende Lektion gelernt, die auch für die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils von zentraler Bedeutung war, insofern sie sowohl die Kirchen- als auch die Pastoralkonstitution mit dieser missionarischen Logik eröffneten.34 30 31
32 33 34
Vgl. Höhn, Fremde, 157–167. Vgl. „Challenging Missions“: Religiöse Ausbreitungsstrategien bei Muslimen, Hindus, Buddhisten und Christen, Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38 (2012), Themenheft. Vgl. Egiguren, Mission, 299–317; bes. 315–317. Lambrechts, HIV / AIDS, 17. Vgl. das Motiv des Sakraments (d. h. des Heilszeichens für das Reich Gottes) in Lumen Gentium 1 bzw. den Gedanken, dass die Kirche mit der „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ der Menschen zutiefst verbunden ist (Gaudium et Spes 1) – beides sind
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Eine anspruchsvolle Herausforderung der Begegnung und Arbeit mit Migrantinnen und Migranten bildet fünftens der interreligiöse Dialog, der in diesem Zusammenhang in seiner Konkretheit und Dringlichkeit erfahrbar wird. Wer mit Menschen zu tun hat, die aus ihrem sozialen Umfeld, ihrem kulturellen Lebenszusammenhang und ihrer religiösen Verwurzelung herausgerissen wurden, unter Existenzängsten und Krisen leiden und in eine völlig neue soziokulturelle Lebenskonstellation hineingeworfen wurden, wird lernen, interreligiöse Dialoge im Kontext sozialer, politischer und kultureller Zusammenhänge zu führen. Damit ist nicht nur die praktische Kompetenz angesprochen, verschiedene Ebenen und Dimensionen der Lebenserfahrung anzusprechen und Religion nicht isoliert zu betrachten, sondern auch die theologischsystematische Lernerfahrung, von einem ‚religionistischen‘ Verständnis des Dialogs zu einer kontextuell-gesellschaftsbezogenen Perspektive zu wechseln.35 Religionen sind keine in sich unabhängigen, essentiellen Größen, von denen Menschen exklusiv bestimmt wären, sondern Prägungen, die mit vielen Faktoren in Wechselwirkung stehen. Was in der Extremismusforschung auf besondere Weise deutlich geworden ist – dass etwa Menschen, die auf der Flucht sind, aufgrund ihrer spezifischen (Krisen-) Situation für Radikalisierungen anfällig sein können (wobei Religion nicht selten für politische Ziele instrumentalisiert wird)36 –, gilt für den Forschungsbereich ‚Religion und Migration‘ insgesamt: der Dialog mit geflüchteten Menschen, die einer anderen Religion angehören, muss immer auch die biographischen und gesellschaftlichen Bedingungen, das spezifische kulturelle Umfeld sowie ökonomische Einflüsse berücksichtigen, soll ein interreligiöser Dialog nicht völlig abstrakt geführt werden. Die Begegnung mit Migrantinnen und Migranten verändert von daher auch den religionstheologischen Diskurs, der manchmal ‚Religion(en)‘ als ideale Größe voraussetzt, ohne ihren gesellschaftlichen und politischen Kontext wahrzunehmen. In ihrem Einsatz für Menschen, die um Asyl ansuchen, arbeiten kirchliche Institutionen vielfach mit NGOs, sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen zusammen, woraus sich neue Formen der Kooperation ergeben – ein sechster Aspekt kirchlicher Lernerfahrungen. Diese Zusammenarbeit ist zum einen für die pastorale Arbeit relevant, weil es dadurch zwischen VertreterInnen der Kirche und Mitgliedern sozialer Bewegungen zu einem interessanten Austausch kommt, was Voraussetzungen und Methoden eines gesellschaftspolitischen Engagements betrifft,37 und zum anderen auch theologisch inspirierend, weil sich hier – wie in der Befreiungstheologie – die Frage
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Ansätze einer missionarischen Ekklesiologie, also einer Sicht von Kirche, die im Dienst an anderen Menschen steht. Vgl. den Hinweis auf „religionistische Fehlwahrnehmung“ bei Wrogemann, Theologie, 214. Vgl. Gabriel / Spieß / Winkler, Religion. Vgl. die Beispiele und Vergleiche in Gomes / Maral-Hanak / Schicho, Entwicklungszusammenarbeit.
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nach dem Verhältnis von Glaubenszeugnis und politischem Einsatz, von religiöser Überzeugung und säkularem Humanismus stellt. Wenn die Kirche im Engagement für Flüchtlinge eine Allianz mit engagierten Menschen bildet, die einer anderen religiösen Orientierung folgen oder auch kein religiöses Bekenntnis haben, können sich daraus wichtige Lernerfahrungen für das eigene Selbstverständnis ergeben; die christliche Glaubensüberzeugung kann in Kontakt mit anderen Perspektiven auf Welt und Menschen kommen und dadurch auch das Potential der eigenen Tradition besser erkennen. Auf jeden Fall ist es für eine Kirche, die sich nicht als Sekte versteht, sondern als „Zeichen und Werkzeug der Einheit“ (vgl. Lumen Gentium 1), bereichernd und herausfordernd, ihre am Konzil so deutlich hervorgehobene Lebensform der Partizipation (vgl. Gaudium et Spes 1) durch eine Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zu konkretisieren. Dass Papst Franziskus seit dem Jahr 2014 „Welttreffen der Sozialen Bewegungen“ einberuft,38 ist ein politisch hoffnungsvolles Zeichen, dessen ekklesiologische Relevanz bisher noch nicht entsprechend gewürdigt wurde. Ein siebter Aspekt einer kirchlichen und theologischen Lernerfahrung im Umgang mit Migrantinnen und Migranten besteht schließlich in der Entdeckung, dass Europa in besonderer Weise als Ort gelebter Katholizität in Erscheinung treten kann. Diese These mag angesichts einer fortgeschrittenen Entkirchlichung und offenkundigen Säkularisierung in vielen Ländern Europas paradox klingen; gemeint ist jedenfalls nicht eine Strategie der ‚Wiederverkirchlichung‘ des europäischen Kontinents, sondern ein neues Bewusstsein dessen, dass gerade dieses säkulare Europa echte Chancen bieten könnte, Offenheit, Vielsprachigkeit und Übersetzungsfähigkeit auszubilden, also genau das, was ‚Katholizität‘ im qualifizierten Sinn ausmacht. Die Herausforderung Migration und Integration ist kein ‚Problem‘, das die Entwicklung Europas beeinträchtigt, sondern eine enorme Chance, genau dadurch das europäische Projekt zu verwirklichen. „Wenn man ‚Europa‘ sagt, soll das ‚Öffnung‘ heißen“39, so Johannes Paul II. in seinem Schreiben Ecclesia in Europa, das gerade angesichts des grassierenden Rechtspopulismus in Europa als zukunftsweisend, ja als prophetisch angesehen werden kann. Die hier angesprochene ‚Öffnung‘ markiert die Chance, Katholizität als christliches Lebens-, Glaubens- und Gesellschaftsprojekt in einem Europa der Vielfalt und Freiheit umzusetzen; sie meint kein naives Übergehen realer Probleme in der Flüchtlingsarbeit,40 sondern eine Haltung der Lernbereitschaft, die in einer lebendigen Auseinandersetzung mit kultureller/religiöser Pluralität und Alterität eine Chance der Erneuerung sieht. Zugleich eröffnen Migrationsprozesse den christlichen Kirchen neue Möglichkeiten des Engagements, der Präsenz und der kritischen Rekonstruktion ihres Selbstverständnisses: Europa ist nicht der 38 39 40
Vgl. Institut für Theologie und Politik, Leben, 13. Johannes Paul II., Ecclesia, Nr. 111. Vgl. Heimbach-Steins, Zerreißprobe.
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‚säkulare Widersacher‘ der Kirchen, sondern der Ort einer spannenden, neu gelebten Katholizität.41 Dass sich diese ekklesiologische Perspektive eröffnet hat, ist Folge der Migration nach Europa, die das kirchliche Handeln und das theologische Denken im wahrsten Sinn des Wortes auf neue Wege gebracht hat. Migration ist nicht nur eine sozialethische, gesellschaftliche und pastorale Herausforderung (was an sich schon anspruchsvoll genug ist), sondern ein (interkulturell-)theologisches Erkenntniskriterium, so die These dieses Beitrags. Die angeführten Beispiele und Aspekte einer kirchlichen Lernerfahrung, die zweifellos zu den wichtigsten Impulsen der jüngeren Kirchengeschichte gehört, explizieren diese Einsicht, die mit dem klassischen erkenntnistheologischen Begriff des locus theologicus markiert wird. Prominent gemacht durch Melchior Cano OP (1509–1560), der in seinem Werk De locis theologicis (1563 erstmals postum veröffentlicht) sieben für die Theologie spezifische Erkenntnisorte (loci proprii: 1. Heilige Schrift, 2. mündliche Überlieferungen Christi und der Apostel, 3. katholische Kirche, 4. Konzilien, 5. römische Kirche, 6. Kirchenväter, 7. Theologen) und drei äußere Orte (loci alieni: 8. Vernunft, 9. Philosophen, 10. Geschichte) herausarbeitet,42 findet die Lehre von den loci theologici seit geraumer Zeit neues Interesse,43 auch wenn die theologische Forschung die strikte Trennung von loci proprii und alieni nicht mehr in dieser Weise vertritt, wie dies für Cano noch selbstverständlich war. Theologische Erkenntnislehre, die im Kontext weltkirchlicher Verantwortung weiterentwickelt wird, versteht den Ansatz von Cano nicht als abgeschlossenes System, sondern als offenen Entwurf. Von daher wurden in jüngster Zeit Überlegungen sowohl zur materialen Ergänzung der loci alieni als auch zu einem dialektischen (und nicht dichotomischen) Verständnis des Verhältnisses von ‚eigenen‘ und ‚fremden‘ Erkenntnisorten in der Theologie vorgelegt.44 Bei all dem ist entscheidend: Ein locus theologicus ist eine Fundstelle, eine Bezeugungsinstanz, ein Erschließungsort der Wahrheit des christlichen Glaubens. So hat etwa die Befreiungstheologie den Erfahrungskontext von Armut als ‚Ort‘ der Christologie wahrgenommen,45 und für die interkulturelle Theologie stellt die kulturelle Prägung der Menschen ein entscheidendes Kriterium der Glaubenserkenntnis dar.46 Wenn ein solcher ‚Erkenntnisort‘ das Kennzeichen aktueller Dringlichkeit und Unausweichlichkeit aufweist
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45 46
Dazu liegen eigentlich schon seit längerer Zeit Überlegungen vor; vgl. Siebenrock, Glauben, 25–44; Joas, Glaube. Vgl. die umfassende Studie von Körner / Cano, locis. Vgl. Sander, Fundamentaltheologie, 39–57. Vgl. etwa den Vorschlag von Hünermann, Prinzipienlehre, 207–251, ausgehend von den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils neue loci alieni zu benennen, vor allem: Wissenschaften, Kultur, Gesellschaft und Religionen. Vgl. Sobrino, Christologie, 43–60. Vgl. Eckholt, Poetik.
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(wie dies zum Beispiel bei den Themen Klimawandel, Menschenrechtsverletzungen und eben auch Migration der Fall ist), spricht die Theologie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von „Zeichen der Zeit“; diese sind gesellschaftliche/globale Herausforderungen, die alle Menschen betreffen. Die Kirche und ihre Theologie kommen nicht umhin, diese „Zeichen der Zeit […] im Licht des Evangeliums zu deuten“ (Gaudium et Spes 4), um ihren eigenen Glauben besser zu verstehen. Migration als „Zeichen der Zeit“ – gewissermaßen als „akuter locus theologicus alienus“47 – stellt demnach eine Quelle und Autorität der Glaubenserkenntnis dar; die Begegnung mit Menschen, die fliehen mussten, und die Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Konsequenzen und Konflikten erschließen das Evangelium in einer Weise, die sonst nicht möglich wäre – darum geht es, wenn Migration als locus theologicus im Allgemeinen sowie als „Zeichen der Zeit“ im Besonderen bezeichnet wird. Damit wird Migration weder romantisiert noch theoretisiert, sondern als Anspruch an die Glaubensverantwortung ernstgenommen. Wenn sich die kirchliche Praxis und die theologische Theorie von diesem Anspruch der Migration bewegen und verändern lassen, kommen sie der biblisch bezeugten Wahrheit näher – so die These dieses interkulturell-theologischen Zugangs.
3.
Anstöße für Theorie und Praxis der Theologie
Um es nochmals zu betonen: Flucht und Migration sind mit ungeheuren Strapazen und Entbehrungen verbunden, sie erfolgen nicht selten unter Lebensgefahr und haben weithin unterschätzte psychische Folgen.48 Von daher muss jede theologische Überlegung, die sich mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigt, das Leid der betroffenen Menschen vor Augen haben, die nicht ‚Forschungsgegenstand‘, sondern Autorität für die theologische Erkenntnis sind. Nur in diesem Sinn sind die folgenden Anstöße zu verstehen, die einige konkrete Anstöße für Theorie und Praxis einer Theologie geben wollen, die sich von der Herausforderung Migration betreffen lässt. Der erste Anstoß klingt sehr einfach: die gesellschaftspolitischen Aspekte des Theologiestudiums sind ernst(er) zu nehmen – nicht, um die theologische Reflexion durch die Aufmerksamkeit für aktuelle Themen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ‚attraktiver‘ zu gestalten (oder gar zu ersetzen), sondern schlicht und einfach aus dem Anliegen heraus, die „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu lesen“ (vgl. Gaudium et Spes 4). Wenn zum Beispiel Theologiestudierende zu bestimmten Praktika verpflichtet werden, geht es
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Vgl. Sander, Migration. Aus der Fülle der Literatur zitiere ich nur ein Beispiel: Preitler, Seite.
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nicht bloß um ‚praktische Ergänzungen‘ zum Studium, sondern um die Verortung der Theologie als solcher. Ohne den intellektuellen Anspruch des Theologiestudiums in Sozialpraktika aufzulösen, sollte doch bewusst sein, dass der christliche Glaube letztlich eine Praxis und Lebensform in einer konkreten Gesellschaft darstellt; dementsprechend bedeutet eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Fragen wie Armut, Rassismus, Migration usw. letztlich einen Dienst an der Praxis des Glaubens. Zweitens stößt das Geschehen von Migration den global turn der Theologie weiter an, der mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil handlungs- und diskursleitend wurde. Wenn sich das Konzil vor allem in der Pastoralkonstitution „an alle Menschen schlechthin“ (Gaudium et Spes 2) wendet, ist dies keine diplomatische Grußadresse, sondern die Überzeugung, dass das Evangelium soziale, kulturelle und nationale Grenzen überwindet. Eine Theologie, die angesichts globaler Migrationsbewegungen nur nationale Traditionen verteidigt und meint, das ‚christliche Abendland‘ verteidigen zu müssen (statt sich für die Würde aller Menschen einzusetzen), kann nicht ‚katholisch‘ genannt werden, sondern wird zum Vehikel fragwürdiger politischer Interessen. Das umgekehrte Missverständnis besteht in der Meinung, eine globale Ausrichtung des Denkens und Handelns führe zu einer Geringschätzung lokaler Lebenswelten; eine solche Position würde der pastoralen Haltung des Konzils völlig widersprechen. Mit dem global turn der Theologie ist vielmehr gemeint: das, was uns im Leben und Glauben bewegt, sehen wir in einem größeren Zusammenhang; wir sind zwar in konkreten Kontexten verwurzelt, genügen uns selbst aber nicht.49 Es ist das Schicksal der gesamten Menschheit, um das es in christlicher Glaubensverantwortung geht – diese zentrale Perspektive wird durch das Phänomen Migration neu gewonnen. Theologie – auch das lernt sie in Wahrnehmung von Migration – wird drittens Interdisziplinarität als Methode und Haltung einüben, und zwar über den konkreten Anlass von Migrationsbewegungen hinaus, die die Theologie zur Zusammenarbeit mit sozial-, wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Disziplinen bewegen. Zwar steht ‚Interdisziplinarität‘ hoch im Kurs, wenn es um universitätspolitische Leitbilder geht; die tatsächliche Bereitschaft, sich auf reziproke Lernerfahrungen zwischen unterschiedlichen Disziplinen einzulassen, ist dann aber oft doch nicht so hoch. Dennoch: ein theologischer Diskurs über Migration, der nicht interdisziplinär ausgerichtet ist, gerät ins Moralisieren, in Formen des Biblizismus oder in Idealismen. Interdisziplinarität meint nicht die Abwertung der eigenen disziplinären Zugangsweise oder die Vermischung unterschiedlicher Methoden, sondern das Lernen von den Inhalten sowie von der Art und Weise des Forschens anderer Disziplinen. Das Kapitel über die sogenannte „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ in Gaudium et Spes 36 hat hier eine neue Haltung geprägt: die Vielfalt wissenschaftlicher Methodik nicht 49
„Weltweit artikuliert, kontextuell verwurzelt“ – in Anlehnung an einen Buchtitel von Paulo Suess.
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theologisch zu vereinnahmen, sondern als Lernfeld theologischen Denkens ernstzunehmen. Und gerade die Auseinandersetzung mit einem Thema wie Migration zeigt: je ernsthafter die Theologie interdisziplinär arbeitet, desto mehr findet sie zu ihrer eigenen Aufgabe. Diese interdisziplinäre Ausrichtung wird viertens verstärkt den Akzent einer sozialwissenschaftlichen Kompetenz aufweisen. Nach einer intensiven Rezeption sozialwissenschaftlicher Erkenntnis und Methodik im Anschluss an das Konzil (vor allem durch die Befreiungstheologie) zeichnete sich seit den 1990er Jahren eine deutliche Wende zur Kultur ab,50 in der zum einen die einseitige Orientierung der Theologie an sozioökonomischen Strukturen kritisiert wurde, zum anderen die kulturwissenschaftliche Forschung als neue methodologische Leitperspektive wahrgenommen wurde.51 Dieser cultural turn hat nicht zuletzt Ansatz und Methodik interkultureller Theologie verändert und ausdifferenziert, zugleich aber wieder die Frage nach der Relevanz der Sozialwissenschaften hervorgerufen. Eine der Konsequenzen der Auseinandersetzung mit der Migrationsthematik besteht darin, dass die Theologie wieder zu einer neuen Ausgewogenheit kultur- und sozialwissenschaftlicher Methodik findet; die empirische, sozialwissenschaftliche Zugangsweise zu gesellschaftlichen Entwicklungen sollte theologischerseits jedenfalls ernst genommen werden – auch das ist eine unerlässliche Voraussetzung einer Theologie der Migration. Die theologische Aufmerksamkeit für sozialwissenschaftliche Forschung hat fünftens zur Konsequenz, dass die in der Migrationsdebatte allgegenwärtige Kulturalisierung deutlich in Frage zu stellen ist, also die Tendenz, gesellschaftliche Probleme als ‚Kulturkonflikte‘ zu erklären und dadurch von den sozialen und ökonomischen Verhältnissen völlig abzusehen. Eva Maria Bachinger und Martin Schenk sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Kulturalismus-Falle“52, die immer dann zuschnappt, wenn reale Machtverhältnisse offengelegt werden sollen: „Wir reden über Kultur, um über die Verhältnisse zu schweigen.“53 Ein Musterbeispiel einer solchen Kulturalisierung ist die ‚Kopftuchdebatte‘, in der essentialistische Gegensätze zwischen zwei Bevölkerungsgruppen konstruiert werden, anstatt Diskriminierung, Marginalisierung und Exklusion in der Gesellschaft offen zu benennen. Wenn die Theologie in die Kulturalisierungsfalle gerät, verliert sie ihre analytische und kritische Kompetenz und wird zum Anhängsel zeitgeistiger Strömungen. Erforderlich – und das ist eine echte Konsequenz aus der Beschäftigung mit Migration – ist vielmehr die Ausbildung eines Anerkennungsdiskurses. Nicht die
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Exemplarisch für diese Wende steht das selbstkritische Vorwort von Gutiérrez, Zukunft, 17–58, in dem er unter anderem eine stärkere Hinwendung zu kulturellen Fragestellungen einfordert. Vgl. Gruber, Theologie im. Bachinger / Schenk, Integrationslüge, 12. Bachinger / Schenk, Integrationslüge, 13.
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Essentialisierung kultureller Differenzen, sondern die Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse sollte theologische Reflexion charakterisieren. Wenn nicht zwischen Migrantinnen und Migranten einerseits sowie ‚Einheimischen‘ andererseits eine ‚wesenhafte‘ kulturelle Differenz gezogen werden soll, muss Theologie zur Anwältin von Inklusion, Anerkennung und Solidarität werden – was nicht heißt, dass unterschiedliche kulturelle Prägungen ausgeblendet werden, aber sie stellen nicht ‚das exklusive Prinzip‘ der Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Gruppen dar, sondern ein (relatives und veränderliches) Merkmal unter anderen. Wenn sich Theologie von Migration in Anspruch nehmen lässt, also von einer massiven Erfahrung von Not und Ohnmacht, setzt sie sich einer Krise aus, in der es nichts ‚zu gewinnen‘ gibt. Im Kontext einer kompetitiven, von Drittmitteleinwerbung und Exzellenzprogrammen geprägten Wissenschaftskultur wirkt eine Theologie der Migration durchaus befremdlich, weil sie sich gewissermaßen mit dem Gegenteil von ‚Erfolg‘ beschäftigt. Es ist aber nicht nur das Thema, sondern auch die Zugangsweise, die irritieren kann: die Teilnahme an schwierigen, ja erschreckenden Schicksalen und Erfahrungen sowie die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, stellen die Prinzipien und Implikationen einer ökonomisierten Wissenschaftskultur in Frage, die in bestimmten Bereichen der Forschung durchaus erfolgreich sein kann, sich aber die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz bzw. ihrer gesellschaftskritischen Kompetenz stellen lassen muss. Dieser sechste Punkt, was Anstöße der Migration für die Theologie betrifft, begreift Partizipation als wissenschaftsmethodologisches Kriterium. Wenn die Teilnahme an der „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten“ (Gaudium et Spes 1) vom Konzil als Grundprinzip kirchlichen Handelns angesehen wurde, gilt dies auch für die Theologie: das „Leid der Anderen“54 ist diskursleitend – so ließe sich ein Grundprinzip christlicher Theologie formulieren, die Migration als locus theologicus begreift. Und siebtens schließlich stößt Migration auch eine bedenkenswerte christologische Einsicht an: die Bedeutung Jesu Christi erschließt sich in seiner Fremdheit. Nach einer – durchaus berechtigten und vom kolonial-entfremdenden Hintergrund her verständlichen – Phase einer ‚Theologie der Inkulturation‘, die stark von einem Paradigma kultureller Identität geprägt war, entdeckt die Theologie die Bedeutung Jesu Christi, des Fremden, wieder neu. Er kann begegnen wie ein Migrant, der nicht so recht in die vertraute Welt passen will – und gerade deshalb bewegt, fordert, transformiert. Jesus, der irritierende, heimatlose Wanderprediger lässt sich nicht so leicht „integrieren“,55 er 54
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„Anamnetische Vernunft“, so Johann Baptist Metz, lässt sich von der „memoria passionis“ leiten – „und zwar nicht in der Gestalt einer selbstbezüglichen Leidenserinnerung (der Wurzel aller Konflikte!), sondern in der Gestalt der Erinnerung des Leidens der Anderen, in der Gestalt des öffentlichen und in den öffentlichen Vernunftgebrauch prägend eingehenden Eingedenkens fremden Leids“ (Metz, Memoria, 218). Vgl. Purcell, Christus, 562–574.
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gehört nicht einfach „dazu“ – aber seine Gegenwart berührt und verändert,56 so wie die Begegnung mit dem fremden Gast in Emmaus. Von daher trägt die Erfahrung von Migration dazu bei, von einer „Christologie der Inkulturation“, die auf Identität bedacht ist, zu einer „Christologie der Begegnung“ überzugehen,57 die sich vom Anspruch Jesu Christi herausfordern – und vielleicht auch befremden – lässt. Der ‚Fremde und Obdachlose‘ (Mt 25,35) mag durchaus irritieren, aber die Begegnung mit ihm kann entscheidend sein. Eine abschließende Systematik und Methodik kann eine Theologie, die Migration als locus theologicus wahrnimmt, nicht leisten – nur wenn sie selbst auf dem Weg bleibt, wird sie ihrem Auftrag gerecht.
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56
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